Johannes E. Schwarzenberg: Erinnerungen und Gedanken eines Diplomaten im Zeitenwandel 1903-1978 9783205789819, 9783205789154

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Johannes E. Schwarzenberg: Erinnerungen und Gedanken eines Diplomaten im Zeitenwandel 1903-1978
 9783205789819, 9783205789154

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Johannes E. Schwarzenberg

Erinnerungen und Gedanken eines Diplomaten im Zeitenwandel 1903–1978 Herausgegeben von Colienne Meran, Marysia Miller-Aichholz, Erkinger Schwarzenberg Dokumentarteil: Bilder, Briefe und die Auschwitz-Protokolle. Beiträge von Oliver Rathkolb, Maximilian Liebmann, Peter Jankowitsch, Gabriella Dixon und Christoph Meran

2013 böhl au verl ag w ien . köln . weimar

Gedruckt mit der Unterstützung durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Korrektorat: Corinna Salomon Umschlagabbildung: Johannes E. Schwarzenberg; Foto: Archiv der Herausgeber Stammtafeln: Christina Schönborn, www.garnitur.com © 2013 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung: Generaldruckerei Szeged Gedruckt auf chlor- und säurefrei gebleichtem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-205-78915-4

Inhalt

Vorwort der Herausgeber.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     9 Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes E. Schwarzenberg Gedanken und Erinnerungen – Niedergeschrieben für meine Kinder und Enkel .. Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Meine Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Adlerburg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flurwechsel nach Prag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Prag anno 1910 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie wir erzogen wurden und nachher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erzherzog Franz Ferdinand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kaisermanöver. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der 28. Juni 1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Ende der Monarchie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Revolution in Böhmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politische Spannungen am Prager Gymnasium. . . . . . . . . . . . . . . . . . Prag nach 1918 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Jahre an der Wiener Universität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ignaz Seipel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Auf Postensuche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dienst im Polizeikommissariat Wien xx – Brigittenau . . . . . . . . . . . . . Dienst im Polizeikommissariat Wien iv – Wieden . . . . . . . . . . . . . . . Wiener Gauneresperanto anno 1930 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Einstand im Prostitutionsreferat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Übertritt in das Auswärtige Amt und das Beamtentum . . . . . . . . . . . . . Erinnerungen an verdiente österreichische Beamte . . . . . . . . . . . . . . . Die London-Reise des Bundeskanzlers Dr. Dollfuß zur Weltwirtschaftskonferenz im Juni 1933 (in Form meiner Tagebuchaufzeichnungen).. . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mein Einstand in Italien 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mein Einstand in Berlin 1936 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Der Anschluss 1938. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flucht aus Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Als Flüchtling in Belgien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erneute Flucht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Flucht über Paris nach Genf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carl J. Burckhardt und Max Huber .. . . . . . . . . . . . . . . . . Leben in Genf. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz . . . . . . . . . . . . Meine Tätigkeit beim ikrk in Genf . . . . . . . . . . . . . . . . . Anfänge der Rot-Kreuz-Paketaktion für die Konzentrationslager Theresienstadt und Mauthausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besuch im kz Auschwitz des Dr. Maurice Rossel . . . . . . . . . . Die Alliierten und die Judenfrage. . . . . . . . . . . . . . . . . . . ikrk-Einsätze während der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges . Die ikrk-Delegierten Jean Briquet und Victor Maurer – Bericht aus Dachau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ikrk-Delegierten Louis Haefliger und Charles Steffen – Bericht aus Mauthausen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fragen des Gewissens  : Die Fälle Weizsäcker und Saly Mayer . . . . Als Vertreter Neuösterreichs in Paris und Rom . . . . . . . . . . . Gedanken zu Alcide De Gasperi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Warum ich in England das Fuchsjagen aufnahm .. . . . . . . . . .

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Lord Homes Nachruf auf Johannes und Kathleen Schwarzenberg – London 1978.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Johannes and Kathleen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Gedanken im Nachhinein  : Einige persönliche Erinnerungen an unsere Eltern .. 219 Bildtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Dokumentarteil Oliver Rathkolb Johannes Schwarzenberg – Eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251

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Inhalt

Marysia Miller-Aichholz Die Auschwitz-Protokolle in Schwarzenbergs Nachlass. . . . . . . . . . . . . . . 263 Die »Auschwitz-Protokolle« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Peter Jankowitsch Johannes Schwarzenberg – Ein österreichischer Botschafter in London . . . . Neutralität und London . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die europäische Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bruno Kreisky und Johannes E. Schwarzenberg . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Schwarzenberg auf 18 Belgrave Square. . . . . . . . . . . . . . . Schwarzenberg und die neuen Generationen österreichischer Diplomatie. . In seinem Hause war Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Johannes E. Schwarzenberg Politische Berichterstattung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Maximilian Liebmann Johannes E. Schwarzenberg, österreichischer Botschafter beim Hl. Stuhl  : ein besonderer Glücksfall.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Konkordat mangelhaft realisiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Für und Wider »Humanae Vitae«. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Franz Kardinal Königs römische Pressekonferenz und Audienz von Präsident Alfred Maleta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gabriella Dixon Asylwerber in Österreich – eine Kurzbeschreibung . . . . . . . Der harte, lange Weg zum »anerkannten« Flüchtling. . . . . Der harte, lange Weg zum »integrierten« Flüchtling . . . . . Das Projekt »Startwohnungen für asylberechtigte Familien« des Österreichischen Roten Kreuzes in Wien.. . . . . . . .

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Christoph Meran Die österreichische Diplomatie – Hat sie eine große Zukunft hinter sich  ? . . 1. Die Aufgaben der österreichischen Diplomatie im Ausland . . . . . . . 2. Der Multilateralismus – eine Mehrfachrolle der nationalen Diplomatie 3. Die österreichische Nische . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

Anhang Übersetzung der Dankesurkunde Maurice Hechts . . . . . . . . . . . . . . . . . 405 Vom NS-Regime verfolgte Mitglieder des Hauses Schwarzenberg . . . . . . . . 407 Autorinnen und Autoren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 463

Vorwort der Herausgeber Memoiren führen ein Zwitterdasein zwischen subjektivem Faktenbericht und literarischem Kunstwerk. Dem verortenden Nachzeichnen der eigenen Erlebnisse und des eigenen Werdegangs wohnt nicht nur der Wunsch inne, sich selbst der Nachwelt zu überliefern, sondern auch der Versuch, eine rückschauende Perspektive auf historische Ereignisse und interessante Zeitgenossen in einem Epochengemälde zu verdichten – Denkwürdigkeiten eben. Während Winston Churchill, der für seine sechsbändigen Memoiren »The Second World War« den Nobelpreis für Literatur erhielt, behauptete, »die Geschichte wird mich nett in Erinnerung behalten – weil ich sie schreibe«, stellte Henry Kissinger Memoiren als Zeitbomben der Pensionisten hin. Die nun vorliegenden, neu aufgelegten und redigierten Erinnerungen Johannes E. Schwarzenbergs suchen weder zu gefallen noch Bombenangst zu verbreiten. Im Gegenteil – ganz im Sinne Berthold Auerbachs  : »Für ein Kind, dessen Eltern sterben, stirbt die Vergangenheit«1 – suchen sie in aller Bescheidenheit die väterliche Vergangenheit und sein Wirken im Weltengeschehen den nachfolgenden Generationen zu erhellen. Sie wurden den Kindern und Enkelkindern zuliebe verfasst, was die Sprache, den Ton und den schonenden Erzählumgang mit den erlebten zeitgeschichtlichen Herausforderungen und Schrecken bestimmt. Schwarzenberg schrieb schon lange an seinen Erinnerungen. In den späten Sechziger­ jahren, auf einer Reise durch Süditalien, wurde zu allem Überfluss auch der Koffer, in dem sich seine gesamten Jugenderinnerungen befanden, aus dem Auto gestohlen. Mangels Kopien musste er wieder an die Arbeit gehen und fing, gemäß den Erinnerungen seiner Kinder, seufzend von vorne an. Die überarbeiteten Memoiren, in der unnachahmlichen Sprache des Autors, ­bleiben, bis auf einige Kürzungen und ergänzt durch wichtige, in seinem Nachlass neu aufgefundene Kapitel mit seinen Erfahrungen beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ikrk) während des Zweiten Weltkrieges in Genf, unverändert. Ein Dokumentarteil ergänzt die Memoiren, denn Schwarzenbergs persönlicher Nachlass barg ungeahnte Schätze  : Historisch interessante Dokumente veranschaulichen sein Wirkungsfeld beim ikrk. Doch ehe auf diese und den Buchaufbau eingegangen wird, folgt eine kurze biografische Zusammenfassung, welche die zweifelnde Frage entkräften soll, die Schwarzenberg sich selbst stellte, nämlich »[w]ozu den Büchermarkt mit weiteren, unerbetenen Memoiren belasten  ?«. Denn gerade sein persönlicher Werdegang lässt den Leser weniger bekannte Geschichtswendungen unserer recht nahen und teils verstörenden Vergangenheit entdecken.

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Vorwort der Herausgeber

1903 in Prag geboren, erlebt Schwarzenberg den Niedergang der Monarchie und die Entstehung des tschechoslowakischen Staates teils in Wespenau (in Böhmen) und teils in Prag  : Der erste Teil seiner Memoiren bis zu seinem Fortgang aus Böhmen gestaltet sich wie ein großes historisches Gemälde, farbenprächtig und bewegt  : im Vordergrund die Protagonisten, im Hintergrund die leuchtenden böhmischen Schlösser und Wälder seiner Kindheit. Der zweite Teil der Memoiren schildert die dramatischen Verwerfungen der Epoche  : das Attentat in Sarajevo, der Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der unvermeidliche Zusammenbruch der Monarchie, die Revolution und Gründung der Republik in Böhmen. Um 1921 erfolgt Schwarzenbergs endgültiger Umzug nach Österreich, in dem Verzweiflung und Wirtschaftskrise herrschten. In Wien, wo er unter anderen unter Hans Kelsen, Alfred Verdroß-Droßberg und Othmar Spann studiert und 1926 zum Dr. jur. promoviert, erfährt er die grassierende Arbeitslosigkeit und bittere Armut am eigenen Leib und wird Zeuge der Radikalisierung der politischen Kräfte, die an den Grundfesten des Ständestaates rüttelt. 1927 tritt er in den österreichischen Staatsdienst ein und dient zunächst als einfacher Polizeikommissär in den Polizeikommissariaten Brigittenau und Taubstummengasse. 1928 absolviert er die praktisch-politische Prüfung bei der niederösterreichischen Landesregierung und 1930 die Diplomatenprüfung, um im selben Jahr, von Bundeskanzler Dr. Hans Schober vom Innenministerium »mit herübergenommen«, in den Außendienst überzuwechseln. Mit vollzogenem Berufswechsel stellt sich im Herbst 1931 eine weitere Veränderung ein, nämlich die Verehelichung mit Kathleen de Spoelberch. Drei Jahre arbeitet Schwarzenberg als Attaché im Bundeskanzleramt, Auswärtige Angelegenheiten, darunter auch unter Engelbert Dollfuß. Den Kanzlermord in Wien am 25. Juli 1934 und dessen Auswirkungen übersteht er als Legationssekretär unter dem berüchtigten Botschafter Anton Rintelen in Rom. Die sich verstärkenden deutschen Drohgebärden und darauf folgend die Annektierung Österreichs durch das nationalsozialistische Deutschland erlebt er in Berlin. Nach seiner Flucht vor den Nationalsozialisten aus Berlin und dem Ausscheiden aus dem diplomatischen Dienst mit dem Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich (1938) nimmt das Leben als Flüchtling seinen Anfang. Zwei Jahre währt dieses Flüchtlingsdasein in Belgien  ; mit dem Überfall der Wehrmacht in Belgien 1940 muss Schwarzenberg erneut Hals über Kopf vor den Häschern des Dritten Reiches über Paris nach Genf flüchten. In Genf wendet er sich 1940 zuerst als Übersetzer, dann bald als Angestellter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz humanitären Aufgaben zu. Die »Division d’Assistance Spéciale« (das – Sonderhilfsabteilung des ikrk) leitend, organisiert er Hilfsaktionen des Internationalen Roten Kreuzes zugunsten der in die Konzentrationslager verschleppten »rassisch Deportierten« aus den vom Dritten Reich widerrechtlich überrannten Ländern. Nach Beendigung seiner Tätigkeit beim ikrk stellt er sich sofort wieder der neu erstehenden Regierung unter Karl Renner zur Verfügung.

Vorwort der Herausgeber

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Nachdem er 1946 als Beobachter der provisorischen österreichischen Bundesregierung an der letzten Assemblée des Völkerbundes in Genf teilgenommen hat, hält er sich für kurze Zeit (als Legationsrat bei der österreichischen politischen Vertretung) in Paris auf und wird dann nach Rom entsandt. Als österreichischer politischer Vertreter und Gesandter in den Jahren 1947 bis 1952, und sodann als Botschafter von 1952 bis 1955 kann Schwarzenberg herzliche Beziehungen zu Italiens großem Staatsmann Alcide De Gasperi knüpfen, trotz schwieriger Ausgangsposition, vor allem in der Causa Südtirol. Anschließend an diesen langjährigen Aufenthalt im südlichen Nachbarland erfüllt er als Botschafter elf Jahre lang (von 1955 bis 1966) diplomatische Aufgaben in London und tritt 1969, nach dreijährigem Wirken in der gleichen Eigenschaft beim Vatikan, in den Ruhestand. Als Diplomat der Republik Österreich und Funktionär internationaler Organisationen widmet sich Johannes Schwarzenberg der Völkerverständigung im Allgemeinen und karitativen internationalen Hilfsaktionen im Besonderen. Er beschäftigt sich im Ruhestand weiterhin mit humanitären Aufgaben als außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister des Souveränen Malteserritterordens bei der italienischen Regierung. 1978 kommen er und seine Frau Kathleen bei einem Autounfall ums Leben. Er konnte seine Memoiren, die nur bis zu seiner Zeit in London reichen, somit nicht mehr überarbeiten und vollenden. Doch Schwarzenbergs bereits erwähnter Nachlass förderte nicht nur die erweiterten Kapitel seiner »Schweizer und Londoner Zeit«, die in der Privatherausgabe fehlten, zutage. Er enthielt neben den vielen Dokumenten und Korrespondenzen Perlen von großer historischer Relevanz, wie zwei detaillierte Augenzeugenberichte von 1944 über die Vorgänge in Auschwitz, sodass die Herausgeber beschlossen, den Dokumentarteil auszubauen  : Der Wiener Historiker Oliver Rathkolb leitet in seinem Beitrag »Johannes E. Schwarzenberg  – Eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte des 20. Jahrhunderts« den ersten Dokumentarabschnitt ein und rezensiert die Memoiren. Er sucht, Schwarzenbergs Erinnerungen kontextuell auf eine sachliche kritisch-historische Basis zu stellen und geht näher auf die Entwicklungen im Ständestaat unter Dollfuß und Schuschnigg ein. Er untersucht auch die Beziehungen des ikrk zum Dritten Reich sowie Schwarzenbergs Bemühungen um die von den Nationalsozialisten verfolgten Juden im Rahmen seiner Möglichkeiten als Leiter des das beim ikrk. Rathkolb beschließt seinen Beitrag mit Schwarzenbergs diplomatischem Einsatz für das neu erstandene Österreich und kommt zum Schluss, dass höhere Diplomaten zwar brisante und kritische Informationen einholen und an Regierungen vermitteln, jedoch nicht Entscheidungen herbeiführen konnten, um ins politische Geschehen einzugreifen. Der nachfolgende Dokumentarabschnitt enthält eine Auswahl an zeitgeschichtlichen Dokumenten, welche in den Memoiren geschilderte Vorkommnisse illuminieren und die Beiträge Rathkolbs und Jankowitschs stützen. Dazu gehören auch die

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oben erwähnten Augenzeugenberichte von Vrba/Wetzler und Tabeau, Historikern als »Auschwitz-Protokolle« bekannt. Die historische Einzigartigkeit dieser Berichte liegt in dem Umstand, dass sie glaubwürdige Zeugnisse (aus dem Frühsommer 1944) der Vollstreckung der von den Nationalsozialisten furios betriebenen »Endlösung«  – der systematischen Vernichtungspolitik des ns-Regimes zur Ermordung der Juden – im Vernichtungslager Auschwitz darstellen. Marysia Miller-Aichholz bietet einen kurzen Überblick zu deren Entstehungsgeschichte. Der Diplomat Peter Jankowitsch, dessen erster Posten als Jungdiplomat im Ausland London war und der Schwarzenberg als seinen Mentor betrachtet, beleuchtet in seinem Beitrag »Johannes E. Schwarzenberg – Ein österreichischer Botschafter in London« die schwierigen Anfänge der Diplomatie der eben neu erstandenen Zweiten Republik und geht näher auf die außenpolitischen Bemühungen hinsichtlich der Schaffung eines neuen, von Deutschland unabhängigen, demokratischen und neutralen Österreich-Bildes ein, welches österreichische Diplomaten in der Nachkriegswelt zu vertreten und durchzusetzen hatten. Jankowitsch beschreibt, wie es Schwarzenberg mit den geringen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln als diplomatischer Vertreter der Zweiten Republik gelang, England für österreichische Belange im Allgemeinen und die Neutralitätsidee im Speziellen zu gewinnen. Diesem Teil folgt eine Auswahl politischer Berichte, die Schwarzenberg für die jeweiligen Außenminister Gruber, Figl und Kreisky fertigte. Der Grazer Kirchenhistoriker Maximilian Liebmann ergänzt in seinem Beitrag »Johannes E. Schwarzenberg, österreichischer Botschafter beim Hl. Stuhl  : ein besonderer Glücksfall« diese Auswahl um Berichte Schwarzenbergs aus seiner Zeit am Vatikan an die österreichischen Außenminister Lujo Tončić-Sorinj und Kurt Waldheim und reichert diese zum besseren Verständnis des Zeitgeschehens nach dem Zweiten Vaticanum mit aufschlussreichen und umfassenden Anmerkungen an. Liebmanns Auswahl befasst sich mit Fragen des Konkordates, der »Pillenenzyklika« Humanae Vitae und des Vatikans Einschätzung von Kardinal König. Anstelle eines Nachwortes kommen zwei Enkel Schwarzenbergs, die beruflich in seine Fußstapfen traten, zu Wort und bauen gleichzeitig eine Brücke in unsere Gegenwart. Gabriella Dixon, vormals Mitarbeiterin beim Wiener Roten Kreuz im Bereich Integration, schildert in ihrem Beitrag »Asylwerber in Österreich – eine Kurzbeschreibung« den beschwerlichen Hürdenlauf eines in Österreich angelangten Flüchtlings von der Flucht bis zur rechtlichen Anerkennung gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention. Dixon kontrastiert die Erfahrungen heutiger Flüchtlinge und die Integra­ tionsbemühungen seitens des wrk mit den Erfahrungen Schwarzenbergs und stellt das erfolgreiche Projekt »Startwohnungen für Asyl berechtigte Familien« vor. Christoph Meran untersucht in seinem Beitrag »Die österreichische Diplomatie – Hat sie eine große Zukunft hinter sich  ?« die Möglichkeiten und Wirkungsgrade der

Vorwort der Herausgeber

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kontemporären österreichischen Diplomatie jenseits allbekannter kritischer Klischees in einer globalisierten und virtuell vernetzten Welt. Meran führt dem interessierten Laien zuallererst den Aufgaben- und Auftragsbereich des Diplomaten vor Augen, um sich dann über die zukünftigen Möglichkeiten und Einsatzgebiete der österreichischen Diplomatie innerhalb der eu und einer vernetzten Weltgemeinschaft Gedanken zu machen. Er identifiziert Nischen, in denen die österreichische Diplomatie aktiv in das Weltgeschehen eingreifen könnte.

Danksagungen Da das vorliegende Buch nicht ohne das Zutun vieler zustande gekommen wäre, möchten die Herausgeber an dieser Stelle allen, die zur Herausgabe dieses Buches beigetragen haben, herzlichst danken. Unseren Mitautoren Oliver Rathkolb, Peter Jankowitsch, Maximilian Liebmann, Gabriella Dixon und Christoph Meran sei zuallererst wärmstens gedankt  : 1. für ihre Hingabe und Bemühungen trotz heftiger beruflichen Anforderungen, 2. für großzügige und geistreiche Anregungen, 3. für die unendliche Geduld, aufgebracht im Angesicht unzähliger Änderungswünsche und anderer Sekkaturen, sowie 4. für die entgegengebrachte Liebenswürdigkeit im Erledigen eben dieser Wünsche. Großer Dank gebührt auch Dipl.-Dolmetsch Annie Weich und Maximilian Meran für die Übertragung einiger Dokumente vom Französischen ins Deutsche. Maximilian Meran wird hier auch für seine Einsatzfreude beim oftmaligen kritischen Gegenlesen der Beiträge ausdrücklich gedankt. Lori Cornides, Marie und Ernst Waldstein-Wartenberg leisteten Erstaunliches beim Erstellen der vielen genealogischen Fußnoten für die damalige Privatherausgabe von 1982  – die Herausgeber haben ihre Anmerkungen übernommen und erweisen ihnen gerne erneut ihren Dank. Die Herausgeber danken Dr. Anna Maria Freifrau von Haxthausen, Elisabeth und Rüdiger von Pezold und Adam von Pezold für das Zusammentragen und die Erstellung des Beitrages über vom ns-Regime verfolgte Mitglieder des Hauses Schwarzenberg. Die Herausgeber danken Alexander Schwarzenberg für seine tatkräftige Unterstützung beim Überarbeiten und Aktualisieren der Stammtafeln sowie Christina Kammerlander für die aufgebrachte Geduld und Genauigkeit bei der grafischen Ausgestaltung der beiden für dieses Buch erstellten Stammbaumtafeln. Die Herausgeber sind Ruth Linn, Dan Michmann und Dina Porat sehr dankbar für wichtige Hinweise zu den »Auschwitz-Protokollen« sowie Matthew R. Lippman für weiterführende Informationen zum Nürnberger Prozess Ernst von Weizsäckers. Hier sei auch Monsignore Olaf Colerus-Geldern für seinen Einsatz bei der Ersterfassung von Schwarzenbergs Vatikan-Berichterstattung gedankt. Herr Bliem vom Diözesanhaus Klagenfurt kümmerte sich in rührender Weise um die Digitalisierung der Vatikan-Datensätze – die Herausgeber danken ihm an dieser Stelle. Maximilian Meran sei von seiner Ehefrau für die jahrelange Geduld gedankt, mit der er die Unordnung in den eigenen vier Wänden, entstanden durch das Ausbreiten unzähliger Dokumente, Schriften und Pauskopien aus dem Nachlass ihres Vaters, er-

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Danksagungen

tragen hat. Ihre Kinder, Neffen und Nichten sowie die Zeitgenossen und Freunde ihrer Eltern haben stets, wenn nicht mit Ratschlägen, so doch immer mit regem Interesse ihre Bemühungen begleitet. Auch ihnen sei gedankt. Ebenso sei Gabriella Herberstein, Isabella, Hubertus und Markus Reinhard für Anregungen aller Art sowie für beherzte und beflügelnde Ermunterung während der weniger lichtvollen Momente des Zweifels Dank ausgesprochen. Miller-Aichholz dankt an dieser Stelle Catharina Kahane herzlichst für geistreiche Anregungen und dem mehrmaligem kritischen Durchlesen ihres Beitrages. Die Herausgeber möchten an dieser Stelle auch Dr. Kurt Scholz, Prof. Herwig Hösele und Mag. Anita Dumfahrt vom Zukunftsfonds der Republik Österreich für ihre äußerst großzügige Unterstützung beim Zustandekommen dieses Buches herzlichst danken. Wien, am 13. Februar 2012 Colienne Meran, Marysia Miller-Aichholz, Erkinger Schwarzenberg

Johannes E. Schwarzenberg

Gedanken und Erinnerungen – Niedergeschrieben für meine Kinder und Enkel Prolog Wenn das Augenlicht allmählich sich trübt, wenn das Gehör wohl die üblen Geräusche registriert, viel wohl Gemeintes aber mit der aus Enttäuschungen gewachsenen Skepsis übergeht, wenn sachte sich die Sinne aus der Erdverbundenheit lösen, dann zieht es uns an das wärmende Kaminfeuer des Lebensabends. Wir starren in die Flamme und sehen die Scheite zu Asche zerfallen. Wir fragen, ob das Gelebte standhält vor dem Gericht. Wohl dem, der da nicht allein ist, der Freunde hat und sorgende Lieben, Kinder, die mitstarren in das Feuer und nicht wissen, ob das Erzählte sie angeht. Sie haben ein Recht, ihr Erbe zu kennen, auch das geistige  ; doch gehört Reife dazu, dieses zu schätzen. Frommen würde es ihnen zu wissen, was angeboren ist, was durch Zufall, was durch Arbeit eingebracht wurde, was Schein, was echt ist an ihren Eltern und Vorfahren. Soll dem Vorgespürten gefolgt, soll es gemieden werden  ? Dreiundvierzig Dienstjahre sagt der Erlass des Zentralbesoldungsamtes und bemisst mir die Pension. Der Ruhestand wird nicht mehr als ›wohlverdient‹ bezeichnet. Dafür sind der Stern und das Ordensband da, wohl gebettet im Etui aus Pappe. Dort bleibt die Auszeichnung bis zum Leichenbegängnis. Der Grad der Feierlichkeit hängt von der Munifizenz der Hinterbliebenen ab. Fünf Großkreuze zumindest sollten auf einem Samtpolster hinter – oder ist es vor – dem Sarg einhergetragen werden. Aber das ist ja alles Tand, ephemerer Flügelschlag der Eintagsfliege  ! – Habe ich die Rolle, die mir zugewiesen und die auszusuchen mir nicht gestattet war, habe ich sie brav gespielt  ? Gab es Dinge von Dauer, die denen, die nach mir kommen, von Nutzen sein können  ? Die Nutzanwendung – welch grässliches Problem  ! Warum folgen Kinder niemals dem Rat der Eltern  ? Warum müssen sie sich selbst die nämlichen blauen Flecken holen, die sich der Vater in all seinem Beginnen zugezogen hat  ? Nur selbst wird man durch Schaden klug, niemals ein anderer, am allerwenigsten die eigenen Kinder. Besserwisser  ? Mitnichten  ! Es ist der Urtrieb der Schöpfung, dieses selber Machen  ! Das Kaminfeuer prasselt, und die Flamme gibt keine Antwort. Wozu den Büchermarkt mit weiteren, unerbetenen Memoiren belasten  ? Aus Wunden wollen nun einmal Kinder nicht lernen, doch wann horchen sie auf  ? Wenn man von schlechtem Gewissen, von Skrupeln redet  ! Das rührt an das Mitleiden, leicht auch an Schadenfreude. »Wenn sogar er einsieht, dass er hätte anders handeln sollen, so wiegen meine Verirrungen

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leichter  !« Wir sind unvollkommen von Natur  ; mehr noch  : Gerade die Unebenheiten, die Schwächen charakterisieren uns weit besser als die Schablone scheinheiliger Vortrefflichkeiten. Warum bin ich so, wie ich bin  ? Was macht mich zum »Ich«  ? Ist es ein Mosaik von Eigenheiten, Leidenschaften, Untugenden  ? Eine Summierung der von den Vorvätern herab gleitenden Eigenschaften  ? Habe ich während des Erdenaufenthaltes Eigenes hinzugefügt  ? Ja, diese Erzählung soll eine Gewissenserforschung sein, nichts weiter. Vielleicht komme ich drüben glimpflicher davon, wenn ich das Puzzlespiel des Handelns in seine Bestandteile zerlege und aufdecke, wie wenig des Gelebten auf eigenem Tun beruhte. Ob das Feigheit ist oder Schöntuerei, das mögen andere entscheiden. Das, was die Eltern mir zur Erinnerung aufgaben, war einzig in seiner Art, war unvergesslich, wunderschön  ! Ungeeignet war es, die Sintflut zu überdauern. Ist es Sklerose, ist es Sünde, an dem Goldenen dieses Zeitalters mit allen Fibern festzuhalten  ? Alles, was ich in meinem Berufsleben zu reformieren versuchte (und ich war stets ein unausstehlicher Besser-machen-Woller), maß ich gegen den Hintergrund der Rechtlichkeit, die eine christliche Erziehung und ein ideales Elternhaus erfüllte. Im Himmel gewogen, im Himmel gemessen  ! Gewiss  ; doch wie fürchterlich oft wurde der gute Wille von Umständen und vom Sturmwind der Zeit geknickt. Meine Eltern Aurea prima sata est aetas, quae vindice nullo, sponte sua, sine lege fidem rectumque colebat. Poena metusque aberant, nec verba minantia fixo aere legebantur, nec supplex turba timebat iudicis ora sui, sed erant sine vindice tuti.2 Denke ich an meine Eltern3 zurück, so projiziere ich unwillkürlich ihre Traumgestalten in meine böhmische Heimat, dorthin, wo ich höchstes Kinderglück genossen  : in die Adlerburg4 – Geborgenheit, zeitlose Seligkeit, Himmelsnähe. Immer war Sonntag  ! Für uns Kinder gab es weder Sorge noch Furcht. Der Wald und das Flusstal, das Schloss und der Felsen, die Eltern und der große Besitz  : vollkommene Einheit. Nichts wirkte entzweiend. Die Biene gehörte zur Blüte wie der Falter zur Wiese, und die Rehe im Park gehörten zu uns Kindern. Wir kannten sie alle, und sie wussten um uns, flüchteten nicht, wenn wir an ihnen vorbeigingen, glotzten uns an mit runden Augen, vergewissert, dass wir harmlos waren. Die Knechte und Mägde im Hof, die Gärtner und die Weiber, die auf den Parkwegen Laub rechelten, die Dienerschaft, die Heger und Jäger, sie schienen uns alle zu mögen, vielleicht, weil wir noch klein und naiv waren. Die Flößer,

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die Langholz die Moldau flussabwärts schwemmten, riefen freundliche Grüße zum Schloss herauf, harte Gestalten aus dem Böhmerwald. Es hieß, sie flößten die Baumstämme bis Hamburg und weiter ins Meer. Das war gewiss übertrieben. Sie kamen kaum über Aussig hinaus. Aber wir lebten in Illusionen und dachten in Superlativen. Über all diesem Wohlsein, über all dieser Ruhe lag schützend die Decke der Treue von Vater zu Mutter, der Eltern zu ihren Kindern und der geeinten Familie zum Herrn dieser herrlichen Schöpfung. Demut und Dank für das Gute, das der Allmächtige uns beschieden, lag im Vorbild des Vaters, in milden Mahnungen der Mutter. Im Eins-Sein lag der Eltern Macht und Würde  : im gleichen Glauben, im selben Hoffen, im gegenseitigen Vertrauen. Einklang kommt nicht von ungefähr  ! In dynamischer Harmonik beleben sich die Akkorde, wachsen in Jahrhunderten artverwandter Lebensweise. Leben ist Vererben, ist Schenken in Liebe  ; vom Schöpfer kommt es, zum Schöpfer kehrt es wieder. Ein unaufhaltsam Wandern der Seelen, ewiglich. In dieser Schicksalskette von Geben und Nehmen, von Zeugen und Festhalten, von Pflanzen und Pflegen, steht es dem einzelnen Glied schlecht an, zu extemporieren, die Kontinuität zu sprengen. Ist das Glied hierzu überhaupt in der Lage  ? Ist ihm die Rolle im Reigentanz des Lebens nicht vorbestimmt von jeher  ? Dem Menschen steht Willensfreiheit zu, so steht es geschrieben  ! Übt er sie aus, wenn er die Tradition missachtet  ? Im Zerbrechen der Ketten wähnt er sich frei  ; doch ist, gleich der Tat, auch die Untat im voraus bestimmt  ? Wie verhält es sich da mit der Freiheit  ? Zu klein ist der Mensch, das eigene Leben zu lenken, doch möge er stets sein Gewissen befragen und sein Handeln einordnen dem Willen des obersten Lenkers, den einzig die Liebe zu seinen Geschöpfen bewegt. Pflicht geht vor Freiheit  ! Wann immer ich zurückdenke an das Glück, mit dem die Eltern meine Kindheit erfüllt haben, so spüre ich gleichzeitig die Fesseln, die mir Ehrfurcht und Tradition auferlegen. Nicht frei bin ich, vom Wagen des Lebens einfach abzuspringen, verführerische Seitenwege zu gehen, die im Widerspruch stünden zum Willen der Eltern, zum Willen des Schöpfers. Schwer lastet auf mir die Pflicht zur Erfüllung. »Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen  !« Ich soll es bewahren für folgende Glieder, die an mich geschmiedet sind wie ich an jene, die vor mir waren. Und das sind vorab die Eltern, göttlichstes aller Geschenke  ! Von weither stammten die Regeln, nach denen mein Vater lebte und die er, sorgsam gepflegt und gemehrt, von seinen Eltern und Großeltern übernommen hatte, Gleichgefühltes, Gleichbedingtes. Ich trage in mir die Last gespeicherten Stammesbrauches. Werdet ihr, meine Kinder, die Last als zu schwer empfinden, sie abschütteln wollen  ? Ich könnte es euch nicht verargen  ! Gedenket aber des Glücks und des Segens, die meine Eltern genossen, weil sie sich streng an die Regeln gehalten. Und ich selbst  ? Nie fühlt’ ich mich wohl, wenn ich anders als in ihrem Sinne zu handeln gezwungen war. Wie oft habe ich doch mich versündigt an dem übermächti-

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gen Erbe  ! Habe ich jemals dem Nächsten die Liebe gewährt, auch nur annähernd im Ausmaße dessen, was Mutter mir gab  ? Vater, habe ich dich verraten durch Zaudern oder durch Irren, wenn Wege sich spalteten  ? Vater, wen soll ich im Zweifel um Rat fragen  ? Hoffart ist es, den Herrgott einzuschalten, ihn mitverantwortlich zu machen für Unrecht, das die Welt sich selber bereitet. Im Schweiße unseres Angesichts müssen wir das tägliche Brot verdienen. Den rechten Pfad finden, das ist unser aller Kreuzweg  ! Gottes Wege, Gottes Gedanken sind aber nicht die unseren. Wie können wir sie ergründen  ? Glücklich, wer nicht zweifelt, wer genau zu wissen glaubt, wo das Rechte liegt  ; doch auch er darf nicht erwarten, dass auf Münzeinwurf jedesmal die richtige Antwort wohl verpackt und gewichtstreu herausfällt  ! Vater, Du warst gläubig und stark. Ich fühle auch Du hast über diese Fragen mit deinem Gewissen gerungen. Gerade deshalb liebe ich Dich und richte mich, wenn ich wegen des rechten Weges Zweifel habe, nach Deiner vermutlichen Einstellung. Zehn Jahre war ich, als Du von uns gingst. Kann ich Dein Wesen ganz erfassen, erraten, wann Du mich mochtest, wann Du mich vermaledeitest  ? In Deinem Testament versicherst Du Deine Kinder des teuersten Vermächtnisses  : Wir hatten Dich nie gekränkt. Ein Testament gilt über den Tod hinaus und somit auch dies Dein Verzeihen. Vaters herrische Gestalt steht vor mir. Hellgrauer Bratenrock, ein schwarzes Käppchen auf dem kahlenden Scheitel. Ich höre die hohe schneidende Stimme des Mannes, der weiß, was er sagt, und der ausführt was er sich vorgenommen. Vater war streng. Die absolute Rechtlichkeit seines Sinnes, »des Lebens ernstes Führen«5 nach der Art von Goethes Vater, prägte sich den Kindern ein, die auch nicht einen Augenblick die Autorität des Familienhauptes infrage stellten. Vater war ausübender, überzeugter Katholik. Das Bekenntnis zum Papst in Rom und die Treue zum Kaiser in Wien waren die Richtungsweiser seiner Gesinnung. Eine Lüge war in Vaters Mund ebenso undenkbar wie Schmeichelei und Servilität. Seine Kompromissfeindlichkeit hatte etwas Rüdes an sich. Nie hatte er fünf gerade sein lassen, bloß um anderen eine Freude zu machen. Selbst der Mutter, die er mit Ausschluss aller anderen »Frauenzimmer« über alles liebte, hatte er nie Kapricen durchgelassen, wenn diese auch nur einen Anflug von Ichsucht gehabt oder sich zum Nachteil Dritter ausgewirkt hätten. Vater war durch und durch männlich. Es fehlte ihm das subtile Einfühlungsvermögen in die Eigenheiten der Mitmenschen – ein Privileg jener geschmeidigen Gestalten, die gerade die Schwächen der Menschen zu erkennen und oftmals auch zu veredeln verstehen. Wenn Vater etwas missfiel, so schimpfte er weidlich, und zwar in derart taktloser Weise, dass Mutter alle Mühe hatte, seine Taktlosigkeiten zu reparieren. Ob er uns liebte  ? Ich glaube, er hat die Totalität seines Liebesvermögens an unsere Mutter verausgabt. Sie war sein »Engel«, sie war seine »Goldene«. Auf die Kinder wollte er stolz sein, und er war dazu da, ihre Zukunft zu sichern. Papa machte sich Sorgen tagein, tagaus, seine Kinder könnten um ihr reiches Erbe betrogen werden.

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Zeitlebens hatte er für dessen Mehrung geschuftet. Vaters Befürchtungen erwiesen sich als gerechtfertigt. Die mir in dem nach meiner Geburt anno 1903 verfassten Testament zugedachte ansehnliche Summe wurde mir im Jahre 1925 nach dem Prinzip »Krone ist Krone« in entwerteter tschechischer Währung ausbezahlt. Man kann sich vorstellen, was da herauskam  ! Sollte zu diesem Zeitpunkt Vater noch im Fegefeuer aufenthaltlich gewesen sein – und nur Gourmandise und Taktlosigkeit, Vaters einzige Sünden, hatten ihn dahin gebracht –, so dürfte ihm die Kronen-Entwertung Qualen verursacht haben. Im Himmel ist man aber ein reiner Geist, als solcher wird sich Vater sagen  : »Mein Sohn Johannes Nepomuk hat im Grunde vom Währungsverfall in der Tschechei profitiert  : Die Katastrophe zwang ihn, sich nach der Decke zu strecken. Ohne diesen Notstand wäre er ein Nichtsnutz geworden, wie so manches Söhnchen reicher Leute.« War es auch Vorsehung, dass Vater alles so schwer nahm  ? Sein plötzlicher Tod6 vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges lässt mich glauben, dass es zwischen Schicksal gestaltender Vorsehung und menschlicher Vorahnung ein metaphysisches Nachrichtenaustauschsystem gibt. Dem Menschen aber, der im Uhrwerksgang der Sterne aus der Reihe tanzt, der nicht blindlings vor dem Schicksal kapituliert, sondern es zurecht zu kneten sucht, dem stehen Sorge, Ruhelosigkeit und der Tod ins Haus. Vater hatte nun einmal die Neigung alles – auch das Schicksal – korrigieren zu wollen, und ich selbst fürchte, dieses väterliche Erbe zu einem Laster potenziert zu haben – auch die Sorge, meine Kinder könnten mittellos dastehen  ! Ich möchte Euch ersparen, so wie mir dies während meiner Wiener Studienjahre passiert war, kaum genug Geld zu haben, um mir Kartoffeln zum Abendessen kaufen zu können. Auch im öffentlichen Leben erfüllte Vater seine Pflichten mit peinlicher Gewissenhaftigkeit. Als Fraktionsführer der konservativen Rechten im Herrenhaus des Wiener Parlaments und als Präsident der mit dem Budapester Parlament gemeinsamen Delegationen (Reichsfinanzen, Auswärtige Angelegenheiten und Generalstab wurden für die beiden Reichshälften gemeinsam verwaltet) musste er sehr häufig verreisen. Sowohl Kaiser Franz Joseph als auch der Thronfolger schenkten ihm volles Vertrauen – eine Tatsache, die im Hinblick auf das gespannte Verhältnis zwischen Schönbrunn und Belvedere die absolute Integrität meines Vaters beweist. Der Sohn Franz Ferdinands, Herzog Max Hohenberg7, dieser beste, liebste Freund und Studiengenosse, bestätigte mir, was Mutter mir erzählt hatte, dass sein Vater den meinen zum Ministerpräsidenten ausersehen hatte. Vater ging häufig zum Kaiser in Audienz und sagte ihm geradeaus seine Meinung ungeschminkt, rücksichtslos. Zur Audienz hatte der Adel in Uniform zu erscheinen. Zum Unterschied von Großpapa, der Offizier gewesen und in einem der italienischen Feldzüge verwundet worden war, hatte Vater ebensowenig »gedient« wie sein Bruder Onkel Fido.8 Um diesen Schönheitsfehler auszuwischen, waren die beiden Brüder

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vom Kaiser zu Honorarleutnants in der Landwehr  – keiner sehr vornehmen Wehrmachtsformation – ernannt worden. Zur grünen Uniform gehörte ein Hut mit Federbusch. Besonders der hagere Onkel Fido sah darin wie ein Haubentaucher aus. Ich beobachtete vom Lernzimmer im Palais in der Ursulinergasse in Prag, wie Onkel Fido bald nach Kriegsausbruch zum Platzkommandanten fuhr, um sich zum Kriegsdienst zu melden. Beim Einsteigen in den Fiaker schleppte er ein langes Unterhosenbandl hinter sich her. Seine Exzellenz, der Korps- und Platzkommandant, empfahl alsbald der dienstbeflissenen Durchlaucht dem Kaiser und Reich nicht an der Front, sondern lieber als Präsident des Landeskulturrates die wohlerprobten Dienste auch weiterhin zu leisten. Als Vater zum Geheimen Rat befördert wurde, schaffte er sich den goldbestickten Geheimer-Rats-Frack an. In diesem erschien er fürderhin vor dem Kaiser. Dass Papa einer der wichtigsten Männer in der Monarchie war, bezweifelten wir Kinder auch nicht eine Minute. Warum er es war und worin seine Tätigkeit als Stütze des Thrones bestand, auch wie reich er war, das überstieg unser Fassungsvermögen. Der Sekretär Batek, vertrauensvoll befragt, machte nur groß ausholende Armbewegungen, als wollte er den Erdball umfassen. Vater selbst redete niemals zu uns über seine politische Tätigkeit, nicht einmal bei den wenigen Gelegenheiten, da wir mit ihm allein waren, etwa wenn wir ihn zur Pirsch begleiten durften oder seinem Frühstück beiwohnten. Wenn Vater auf der Adlerburg residierte, fanden wir uns zu dieser liturgischen Morgenveranstaltung pünktlich um drei viertel neun im Kabinettszimmer ein. Scheu setzten wir uns auf die Bank vor dem Kachelofen. Ein livrierter Diener brachte das Frühstückstablett  : Tee in einem Glas, das zur Hälfte in einem zierlichen, silbernen Körbchen saß. Eine Scheibe Schwarzbrot, ein Salzstangl von dem aber Vater als erste Frühstückshandlung das Salz und den Kümmel sorgfältig mit dem Messer abschabte. Ein Kipfel oder eine Semmel hätten den Dienst ebenso gut versehen  – aber nein, ein Salzstangl musste es sein  ! Ferner ein kernweiches Ei  – vier Minuten. Es wurde am breiteren Ende mit dem Messer geköpft. Etwas Schmetten9 wurde durch ein silbernes Sieb in den Tee gegossen. Schmetten hat doch keine Haut  ! Alle silbernen Utensilien trugen die Fürstenkrone und auch die leintuchgroße Serviette, die um den Hals geknöpft wurde. Ich vergaß  : Das Servietten-Umbinden war die erste Obliegenheit des Lakaien. Schwarzbrot und das entzweigeschnittene Salzstangl wurden mit Butter bestrichen. Die Töpfchen mit Honig und Marmelade blieben unberührt. Um die Kinder zu beschäftigen – geredet wurde ja bei der Frühstückszeremonie grundsätzlich nicht –, wurden sie zum Aufschneiden der aufliegenden Monatsschriften eingesetzt. Aufschneidemesser aus Elfenbein lagen vom Kammerdiener in Reih und Glied geordnet bereit. Da gab es die schwarz-gelbe »Österreichische Rundschau« und die »Stimmen aus Maria Laach«, vom Vater hoch geschätzt, aber nie gelesen. Nach dem Frühstück formierten wir uns zum Abmarsch, während Vater zum Lakaien auf Tschechisch sagte  : »Es soll der Rentmeister kommen und dann der Zentral-

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direktor und dann der Forstmeister  !« Vater begab sich hinunter in den ersten Stock in das »Schreibzimmer«, um dort zu regieren. Auf dem Weg zur täglichen Arbeit ging Vater immer in die Schlosskapelle, ein kurzes Gebet zu verrichten. Gott spielte für ihn im transzendentalen Bereich eine ähnliche Rolle wie der Kaiser im irdischen. Wie man dem Kaiser zu absoluter Treue verpflichtet ist und die eigene Lebensführung jener des kaiserlichen Hofes anpasst so ist es selbstverständlich, dass man im Sinne des Katechismus Pius X.10 ungefragt all dem nachlebt, was die Kirche zu glauben vorstellt. Wie der Kaiser in Wien die Geschicke seiner Völker zum Besten lenkt, so ist der Papst als Stellvertreter Christi auf Erden absoluter Herr über die Gewissen der Gläubigen. In Rom befindet sich das Tribunal, das über das ethische Verhalten der Christen Gericht hält. Aber leicht machen darf man sich darob das Leben noch lange nicht  ! Das Gewissen darf man nicht einschläfern, indem man sich ausredet auf höheren Auftrag  ! Es ist – so hoffe ich – kein Sakrileg, der Meinung zu sein, dass individuelle Charakterzüge die Verschiedenheit der Vorstellungen bestimmen, die bei den Menschen über das Wesen Gottes bestehen. Ebenso oft diametral differieren die individuellen Reaktionen auf das Eingreifen der Vorsehung in menschliche Handlungen. Vater war ein Gerechter in alttestamentarischem Sinn. Ein Hausvater besitzt Autorität, insofern er es verstanden hat, den Wohlstand zu mehren, die anvertrauten Talente klug zu verwalten. Vater neigte bei aller Frömmigkeit zudem ein wenig zu einer obligationenrechtlichen Auffassung des Verhältnisses zum Himmel. Vater glaubte an einen Gott, der ihn gerechterweise nicht fallen lassen konnte, weil er alles zu tun versucht hatte, was Kirche und Gewissen ihm als göttlichen Willen vorschrieben. Wie selten ist aber der Wille Gottes klar erkennbar  ! Was geschieht, wenn man ohne Absicht dem Willen Gottes zuwiderhandelt  ? Der Gewissenskonflikt ist der unentwegte Begleiter des verantwortungsbewussten Mannes. Diesen Konflikt muss man selbst lösen  – da nützt kein Beichtvater  ! Ich meine, Vater hat nur bedingt die tiefe Bedeutung der Paulinischen Doktrin erkannt, welche die Kriterien unseres ethischen Handelns ins andere Leben verschiebt. Warum bleibt so viel Gutes unbelohnt, geht so viel Böses frei  ? Hat nicht Vater vielmehr der Auffassung zugeneigt, dass der Mechanismus, der alles gestörte Gleichgewicht auf Erden auswiegt, bereits in diesem Leben abläuft  ? Dass es dem Menschen nicht zusteht, Lohn und Strafe vom Jenseits zu erwarten  ? Ist Gerechtigkeit wirklich allem Weltgeschehen inhärent  ? Sind Glück und Unglück bloß Truggestalten  ? Paulus wälzt eine Riesenlast an Qualen und ungelösten Fragen von unserem Gewissen ab, setzt aber die Gnade eines Glaubens voraus, die nicht jedem beschieden ist. Wehe dem Skeptiker, wehe dem Pessimisten  ! »Alle Schuld rächt sich auf Erden«11, sagt Goethe irgendwo  ! Sorgenfalten formten ein dräuendes Fallgitter auf Vaters Stirn, ging es um Belange der Kirche. Die Sonntagspredigt des beflissenen Schlosskaplans, Wert und Wirksamkeit einer Wallfahrt, bestimmte Heilige als Spezialisten für gewisse Nöte

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und Leiden, Bedeutung der Trennung von Kirche und Staat, der Pfarrer als Zivilstandesbeamter – lauter Probleme von grundlegender Wichtigkeit. Und erst die Unfehlbarkeit des Papstes  ! Diese war geradezu eine Probe aufs Exempel, ein Prüfstein für Kirchentreue  – aber auch eine Familienangelegenheit  ! War nicht der OnkelKardinal12 ein Vorbild dafür, wie man sich – trotz dogmatischer Zweifel – als guter Katholik betragen müsse  ? Hatte er nicht im Vaticanum primum13 die Unfehlbarkeitsdoktrin14 offen als absurd bezeichnet, sich aber demütig unterworfen, als die ihm innerlich zuwidere These zum Dogma erhoben wurde  ? In der lateinischen Ansprache, mit welcher der Kardinalerzbischof von Prag seinen Einspruch gegen das Unfehlbarkeitsdogma im Konzil begründete, wiederholte er fünfmal die geflügelten Worte »est absurdum«, womit er mehr wegen seines sehr armseligen Lateins einen Heiterkeitserfolg erntete. Vater beobachtete peinlichst die Gebote der Kirche  : Fasten, Abstinenz, Gang zu den Sakramenten. Einmal im Jahr, wenn der Peterspfennig15 eingehoben wurde – das Datum fiel immer in die Periode des Familienaufenthaltes in Prag –, wurde korporativ in die nahe gelegene Ursulinerkirche marschiert und ein dickes Banknotenpaket dem sich überschlagenden Küster eingehändigt (in den Klingelbeutel wäre das Paket gar nicht hineingegangen). Des Papstes Stellvertreterschaft Christi stand außer Zweifel, er verdiente, unterstützt zu werden. Viel verlangt er zwar von seinen Gläubigen – er muss viel verlangen. Man müsse zu ihm halten, gleichviel ob in der Kirchenverwaltung Dummheit über Dummheit geschieht. Vater war kein Lebenskünstler. Rationell veranlagt, war er gewohnt, allen Problemen auf den Grund zu gehen, die ihm in der Politik und bei der Verwaltung seiner Besitztümer begegneten. Niemals schob er schwere Entscheidungen hinaus. Seine Frömmigkeit, das Beten waren zwar ständige Gewissenshelfer, doch tröstete er sich nicht mit dem von seiner Mutter, Großmama Wilhelmine16, bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit mechanisch wiederholten Leitsatz »Dein Wille geschehe, oh Herr, nicht der meine«. Was mir meinen Vater so nahe bringt, ist das Leiden, das ihm die Treue zur Römischen Kirche verursachte. War das Schweigen Gottes gerade in den schwersten Lebenslagen auch sein größtes Kreuz  ? Mutters Einstellung zu Glaube und Gott war von jener meines Vaters grundverschieden. Sie stellt für mich die triumphierende Kirche dar, Vater die streitende. Mutters Himmelsschau war österreichisch-barock   : Zwiebeltürme, Kuppelkirchen mit prangender Fassade. Drinnen ein himmelaufreißendes Deckenfresko, eine Heiligenapotheose. An der verschnörkelten Kanzel verkünden gipserne Blasengel die Glorie des Herrn. Vaters Kirchenraum gehörte der Renaissance an. Der Blick des Betenden bricht sich an den wuchtenden Deckenkassetten, unsichtbar bleibt der Himmel. Tiefer Ernst der Gestalten und der Formen. Mutters Glaube ließ sie Freude, Liebe und gesicherte Sorglosigkeit finden.

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Folgende Episode illustriert rein äußerlich die Polarisation  : Im Jahre 1908 feierte Pius  X. sein 50-Jahr-Priesterjubiläum. Die katholischen Staatsoberhäupter sandten Sonderdelegationen nach Rom mit Glückwünschen und Geschenken. Mein Vater wurde von Kaiser Franz Joseph dazu ausersehen, als Sonderbotschafter am Festgottesdienst in der Petersbasilika teilzunehmen und dem Heiligen Vater ein Geschenk des apostolischen Kaisers und Königs zu überreichen. Vater ließ die prächtige GeheimerRats-Uniform im blechernen Spezialkoffer verpacken, den Zweispitz in gesonderter Hutschachtel. Mutter ließ sich eigens aus Spanien eine schwarze Spitzenmantilla kommen. Vater freute sich wie ein Schneekönig auf das Ereignis, wollte er ja, einer unwiderstehlichen Gewohnheit entsprechend, dem Papst seine Meinung in einer Reihe von Fragen sagen, die das hinkende Verhältnis zwischen Heiligem Stuhl und der Doppelmonarchie berührten. Das Konkordat war einseitig von einer kaiserlichen Regierung gekündigt worden und man lebte – bei aller Romtreue – staatsrechtlich in einem vertragslosen Zustand. In Rom angelangt, erkrankte Vater an Scharlach und musste ins deutsche Hospital auf dem Kapitol gebracht werden. Vater hatte als höchstrangiger Sonderbotschafter den Einzug des diplomatischen Korps zum Jubiläumsgottesdienst anführen sollen. Da er nun krankheitshalber daran verhindert war, schritt Mutter mit majestätischer Selbstverständlichkeit hoch aufgerichtet und schon an der Spitze des glänzenden Zuges zur Ehrentribüne unter Michelangelos himmelstürmender Kuppel. Der Mutter war eine Ehrung zugefallen, die dem Vater, der sie ersehnt und verdient hatte, verwehrt war  ; wie Moses, der vom Berge Nebo das Gelobte Land, das Land das er namens seines Gottes dem auserwählten Volk verheißen hatte, nur aus der Ferne erblicken und nicht betreten durfte. Das Geschenk des Kaisers, das Vater übergeben sollte und das den Guten Hirten in goldenen Figuren auf schwarzem Marmorblock darstellt, steht heute im Schauraum der Vatikanbibliothek. Vaters Vorfahren waren Offiziere, willige Träger großer Verantwortung, fleißig und alles eher denn leichtlebig – nur schwer kam man mit ihnen aus. Mama erzählte, ihr Vater habe, als sie sich verlobte, zu ihr gesagt  : »Pass auf  ! Die Schwarzenbergs sind gewiss nicht dumm, aber sie haben einen elenden Charakter.« Mama war so verschieden wie die Charakterzüge der beiden Familien, die sich in meinen Eltern vereinigt hatten. Mama entsprach Goethes Mutter  : »Von Mütterchen die Frohnatur, die Lust zu fabulieren.« Mama entstammte einer im gemütvollen Niederösterreich ansässigen Familie. Sie war eine Wiener Schönheit, in der heiteren Hofgesellschaft aufgewachsen, mit all dem unwiderstehlichen Charme, der Wien für begnadete Geister anziehend machte. Wenn Mama sich ans Klavier setzte, dem Gehör nach aus ihren Lieblingsopern und -operetten improvisierte, wenn sie Wiener Lieder und Walzer spielte, wenn sie meinte  : »Seien wir ruhig ein bisserl sentimental  !«, dann gab es keine Wände, dann gab es keine Beengtheit, da war man woanders, vergaß die Ecken des Daseins. Mama brauchte zum Unterschied von Papa Liebe und Wärme. Sie gab aber das Gebotene

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tausendfach zurück, ganz natürlich, unendlich menschlich und unberührt vom Tand einer überzüchteten Gesellschaftsklasse. Mama war nicht besonders gebildet, aber sie hatte Geschmack. Gelesen wurde im Allgemeinen eher Seichtes  : Englische Romane der Tauchnitz Edition. Velhagen & Klasings Monatshefte waren abonniert, um mit der Entwicklung der Bildenden Künste Schritt zu halten. Man ging gern ins Theater, später ins Kino, nicht um zu lernen sondern zur Unterhaltung. Konzerte waren da zum Vergnügen, nicht um zu leiden. In der Makartzeit17 aufgewachsen, hatte Mama Sinn für das Lebensbejahende, aber immer mit Maß und Stil. Ihr gesunder Instinkt ersetzte, wie bei so vielen Österreichern, die Last der Buchweisheit und half ihr, einen natürlichen Mittelweg zu gehen zwischen den Irrungen und Wirrungen der zeitgenössischen Kulturströmungen. Als Mädchen war Mama vom »alten« Burgtheater begeistert gewesen, und sie bewahrte als Reliquie einen Ziegelstein vom abgerissenen Haus, den sie eigenhändig gestohlen und in ein zierliches Messinggestänge hatte fassen lassen. Sonnenthal, Kainz und die Wolters, nie konnte Mama genug von deren Einzigkeit erzählen. Dann überkamen sie Wagner und Bayreuth. Mein unmusikalischer Vater musste stundenlang Opern über sich ergehen lassen, im Haus Wahnfried Frau Cosima den Hof machen und für die Schlosskapelle einen Kelch in der Form des Grals anschaffen, wie ihn der »einmalige« Tenor Dr. Barry als Parsifal hochgehalten hatte. Nach dem ersten Bayreuther Märtyrium täuschte Vater Erntesorgen vor, ließ Mama allein nibelungisieren und zitierte sardonisch  : »Fafner und Fasolt, ach, brächten die beiden sich um.« Als Witwe, im Alter in ihre Heimat nach Wien zurückgekehrt, lebten Mama und ihr Bösendorfer-Flügel bescheiden in der Technikerstraße 5, umsorgt von der allgetreuen Vally Loschitz. Ihr Charme war ungebrochen, und Richard Strauss, Franz Schalk18, Lotte Lehmann, Richard Mayr19, Rudolf Kassner20, Alma Mahler, Albert Mensdorff 21 und dieser unvergesslich anregende Hohe Priester des Wiener Kulturlebens, Onkel Karl Lanckoronski22, fanden sich gern bei uns ein. Furtwängler-Konzert  : Mama kommt zu spät und schreitet, gefolgt von der buckligen Gesellschafterin, zu ihren Plätzen in der zweiten Reihe. Wütend über die Störung, klopft Furtwängler23 nach dem dritten Takt ab und zeigt mit dem Staberl auf die leeren Plätze. Mit verbindlichstem Lächeln nickt Mama dem Dirigenten zu, als wollte sie sagen  : »Das war aber nett von Ihnen, meinetwegen abzuklopfen, aber völlig überflüssig« – und geht majestätisch ohne jede Eile auf ihre Plätze zu. Richard Strauss erzählte gern diesen Zwischenfall – auch weil er Furtwängler nicht mochte, der mit seinem langen Hals und gefiederten Armen wie ein Specht den Takt ins Orchester klopfte. Mama war zu großer Aufopferung bereit. Als mein Halbbruder24, ihr Stiefsohn, an der serbischen Front kurz nach Kriegsbeginn tödlich an Dysenterie erkrankte, erzwang sich Mama durch den Statthalter von Böhmen25 ein Militärauto und fuhr stracks an die Front, den Sohn zu suchen. Sie schaffte ihn in das Schloss nach Vukovar26, harrte

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trotz Ansteckungsgefahr am Krankenbett aus und drückte ihm die Augen zu. Wenn es um ein Kind ging – und Mama liebte Kary wie ihr eigenes Kind –, da gab es kein »unmöglich«, da setzte man sich über alle Verbote hinweg und brach selbst in den Kriegsschauplatz ein. Mutter war ebenso fromm wie Vater  ; aber ihre Einstellung zu Glaube und Gott war völlig verschieden. Mama pflegte, wann immer ein religiöses Problem aufkam, heiter zu sagen  : »Ich hab einen Köhlerglauben  !« Und zu mir, wenn ich eine Gewissensfrage stellte  : »Tu dich nicht zerwuzeln, mein Mupa, der liebe Gott will doch nur dein Glück. Alles Widerwärtige wirkt sich letzten Endes zu deinem Besten aus  !« Gewiss, in diesen Worten steckt Weisheit  : Das Böse ist notwendig im Ablauf des Geschehens, ist ein Teil der ewigen Gerechtigkeit. Mutter hatte keine Schwierigkeit, das Böse zu meiden und das Gute zu tun, weil sie, völlig unkompliziert, das Richtige einfach herausfühlte. Wie die Sonne alles vergoldet, was sie bestrahlt, so war alles, was Mutter in die Hand nahm, schön, was sie sagte, war gut. Mutter, wie wunderschön warst du doch  ! Du besaßest sogar die Einsicht, wunschlos glücklich zu sein. Darin liegt etwas Geheimnisvolles  ! Die Adlerburg Lasst mich nun Euch das Paradies meiner Kindheit vorstellen  : Weiß leuchtend, wie aus Quarz geschnitzt, ruhte die Adlerburg auf dem grünen Samt der Fichtenwälder. Von felsiger Klippe hielt sie Wacht über das Moldautal. Raubritterburg von alters, uneinnehmbar, wandelte sie im Lauf der Jahrhunderte die Gestalt, kleidete sich in mildere Formen und wurde zum Hort von Würde und Ordnung im Böhmerland. Von der Landseite kommend, sieht der Besucher jenseits des Schlossplatzes die Fassade der Burg drei Stockwerke hoch aus dem Wallgraben herauswachsen. Drei Rundtürme, zinnengekrönt, schließen den Bau nach oben ab gegen einen Himmel, der in des Knaben Erinnerung nur blau sein konnte. Blau – weil die Fahne am Turm gehisst, wenn der Vater im Schloss residiert. Dräuend läuft um die Burg die breite Terrasse. Den Kindern ist sie verboten, denn sie gilt als gefährlich  : Beklettern der Zinnen, Sturz in den Graben, eingeklemmt werden in den Scharten, die zum Verstecken einladen  : nicht auszudenken  ! Zwischen den Zinnen lugen Kanonen heraus. Bei Leipzig hat der Ahne sie erobert, dem Korsen abgenommen nebst vielen Fahnen. Alljährlich am 18. Oktober zur Erinnerung an die Völkerschlacht wurde aus den Rohren Salut geschossen. Habt Acht vor dem Feldmarschall  ! Nun rosten die Rohre, dienen allein zum Gedächtnis an ehrwürdige Taten, nutzlos vergeudet. Wer wahrt noch heute die Tradition der Regimenter  ? Wer ehrt die Gefallenen für Kaiser, König und Reich  ? Verwelkt sind die Kränze des Ruhmes, verblasst die Namen auf Tafeln aus Marmor. In vergilbten Blättern modert das Vorbild dahin.

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Für den Knaben war der Kanonendonner von Leipzig noch lang nicht verklungen. Was aus heldischer Vorzeit erzählt wurde über Triumphe der Ahnen, über das Unrecht, das in den Hallen der Burg ertragen wurde, er machte sich alles zu eigen. Sein Werden konnte er nur im Rahmen dieses Geschichtsbilds erkennen, nur messen an dem, was die Vorväter hier zur Regel geformt hatten. Wie nahe die Sintflut bevorstand, konnte der Knabe nicht ahnen. Er schwor sich, den Vorbildern nachzuleben, das zu vollenden, was der früh verstorbene Vater geplant hatte. Doch das Wunder des Noah ist nicht wiederholbar. Kein Gott mahnt rechtzeitig zum Zimmern der Arche. So mussten des Knaben Träume alle zerschellen. Nichts von dem, das heilig ihm schien, wurde hinübergerettet. Eine neue Welt ist erstanden. Antediluvianische Grundsätze können nimmer sich reimen mit dem Zwang und den Formen, die Einzug hielten in die Trümmer der Welt von gestern. Dass es in der Adlerburg geisterte, war ein offenes Geheimnis. Die »Weiße Frau«, die Ahnfrau Rosenberg, wurde nur mit dem Flüsterfinger vor dem Mund erwähnt, denn der Diözesanbischof hatte Beichtzwang für Geisterglauben verhängt. Andererseits durfte es aber nicht heißen, das Schloss sei geisterfrei, denn ein Hausgeist gehörte nun einmal zum Prestige eines böhmischen Schlosses. Einwandfrei stand fest, dass die Weiße Frau eiserne Handschuhe anhatte, wenn sie zur Ankündigung einer Familienkatastrophe erschien. Passierte etwas, die Weiße Frau war aber nicht erschienen, so fehlte damit dem Ereignis der Katastrophencharakter. Als es ruchbar wurde, dass dem Tode von Großmama keine Erscheinung der Weißen Frau vorangegangen war, wurde der Sekretär Batek insgeheim dazu angestiftet, ein Hausmädchen ausfindig zu machen, das den Geist gesehen haben wollte. Mangels eines solchen Zeugnisses wäre das Prestigegefälle gegenüber dem von der Ahnfrau in aller Form angekündigten Tod des Großvaters allzu empfindlich gewesen. Mysterien des Ahnenkultes in Böhmen  ! Wie friedlich lag doch die Adlerburg in ihren Wäldern  ! Stundenlang mochte der Knabe im Gekröse des Zackenturms hocken. Oder er saß auf dem Söller, der in das Flusstal hineinragte, oder am Fenster des »Lernzimmers« im dritten Stock, die Aufgaben vergessend in Tschechisch und der »gotischen« Schrift, gefesselt von den Wipfeln der Tannen, die den südseits liegenden Berghang zerzausten. Das Durcheinander der Äste gestaltete absonderliche Formen und reizte zu Deutung. Da gab es den Greif und den Drachen, die Nelke und den Kreuzschnabel, den Beethoven-Kopf und den Generalshut. Oder ist es der Zweispitz des allgegenwärtigen Feldmarschalls  ? Wolken ziehen über den Waldhorizont, des Himmels Armeen, Regiment auf Regiment in feldgrauer Kleidung, voll beladen, müde vom langen Marschieren. Ach, wie konnte man bloß loswerden die feucht-schwere Last  ! Immer finsterer wird es, schwarzgrau, dann Indigo. Der oberste Kriegsgott schiebt seine Truppen in Stellung. Atem halten und Stille. Gebet vor der Schlacht  ? Dann bricht es los. Grollend prallen die Massen zusam-

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men. Blitze zerbrechen die Wolken, Gewehrgeknatter, Kanonendonner. Es hagelt Geschosse, Feld und Fluren zerstörend. Die Geister sind es der Krieger von Leipzig, die da oben ein Kriegsspiel mimen, zu Ehren ihres Generalissimus, des verewigten Herrn der Adlerburg. Verzogen das Gewitter und auch das Traumbild. Aus den Fichtenwipfeln steigt kühlender Dampf. Wälder und Wiesen tauschen das Antlitz. Gesättigte Erde, freudvolles Wachsen, Schwamm über Vergangenes, Zukunft ist Trumpf  ! Nicht Herr ist der Mensch des Ablaufs der Dinge. Stundenlang lauschte der Knabe den Geräuschen des Waldes. Nächtlings der fröstelnde Schrei des Käuzchens, der warnende Ruf des Unglücksboten, des Uhus. Die spitzen Ohren, darunter unverwandte Glotzaugen wie riesige Kameraobjektive, flüchtiges Vorüberhuschen des Vorhangverschlusses. Sicherer Prophet, zeigte der Uhu laut Waldheger Rameisl den Ausbruch des griechisch-türkischen Krieges27 an. Dieser andere Unglücksmensch, der Heger Psenicka, hatte einen jungen Uhu gefangen, schenkte ihn meinem Vater zum Einsperren im Käfig hinter der Gruft. Von da an ging alles abwärts. Vater starb und ein Jahr darauf mein älterer Bruder. Der Krieg ging verloren, das Geld war entwertet. Im Hause herrschte Schmalhans als Küchenmeister. Mit dem Fabulieren war es aus. Es gab nicht mehr die oberen Zehntausend. Man war wie die anderen. Daran war gewiss der Uhu schuld  ! Doch gibt es auch freudvollere Geräusche im Wald. Die grauen Tauben sind immer verliebt. Sie gurren und locken. Darin sind sie unentwegt, wie der Kuckuck, der unermüdliche Freier. Häher und Elster, Fasan und Rebhuhn, alle haben sie ihre eigene Sprache, dem Jäger vertraut. Erschütternd ist der Liebesruf des Königs des Waldes, vom Hirsch. Urweltlich, großmächtig trollt der Edelhirsch durch das Gestänge, gibt in der Stimme die eigene Kraft zu erkennen. Der Rivale wird höhnend herausgefordert, der dreiste Beihirsch verscheucht, wenn der Sultan den Damen des Harems sein zeugungswilliges Eintreffen ankündet. Im Südflügel der Adlerburg befand sich das im Empirestil gehaltene Prunkappartement. Die Möbel hatten dem Feldmarschall in Paris gedient, als er als Botschafter in freundschaftliche Beziehungen zu Napoleon getreten war. In dem großen Empiresalon hing das Porträt des Feldmarschalls von Gérard28. Onkel Fido, der keine Gelegenheit vorübergehen ließ, um mit seinem universellen Wissen zu prahlen, pflegte den staunenden Gästen auseinanderzusetzen, dass der Maler einen groben Uniformierungsschnitzer begangen habe. Anno 1816, als das Bild in Frauenberg gemalt wurde, hatten die Reitstiefel der österreichischen Kavallerie keine sogenannten Kniekappen wie die französischen. Vielleicht aus Gewohnheit hatte Gérard Kniekappen gemalt. Die korrekten Adjutanten des Feldmarschalls hatten diese Kniekappen ausradiert, was auf dem Gemälde deutlich zu sehen war. Im Empiresalon hing auch ein Ölbild, den Brand auf der Pariser Botschaft darstellend, und zwar im Augenblick, als Napoleon, von dem begreiflicherweise nervös-verlegenen Hausherrn geleitet, seine jung angetraute Kaiserin vor den Flammen rettet. Der Botschafter hatte aus Anlass der kaiser-

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lichen Hochzeit einen Ball gegeben, dessen Kosten seine Einkünfte auf Jahre hinaus belasteten. Zweihunderttausend Festmeter Holz sollen damals zu je einem halben Gulden verkauft worden sein  ! Das Botschaftsgebäude vermochte die große Zahl der Eingeladenen nicht zu fassen, weshalb ein eigener Pavillon im Garten errichtet werden musste. Von einer Kerzenapplique aus geriet ein Vorhang in Brand. Der Holzbau fing im Nu Feuer. Der Brand soll Napoleon Gelegenheit gegeben haben, MarieLouise29 unter angeblichem Einsatz seines Lebens aus der Feuersbrunst zu retten  : Bester Beweis für den persönlichen Mut des Kaisers und Dementi dieses aufgeblasenen, pontifizierenden Herrn Chateaubriand30, der in seinen Memoiren Napoleon zu einem großsprecherischen Feigling stempelt. Über jedes Detail dieses erschütternden Brandes waren wir Kinder informiert. Wir wussten, dass die schnöde Pariser Presse den Botschafter der absichtlichen Brandlegung bezichtigte und, dass es der Urgroßvater gewesen war, der – wie aus diesem Gemälde ersichtlich ist – das Kaiserpaar aus den Flammen herausgeführt hatte. Die Frau des älteren Bruders des Feldmarschalls31 fand den Tod in den Flammen. Man erkannte die Leiche an einer Diamantenrivière. Als 120 Jahre später das Schmuckstück dem Wiener Juwelier Paltscho zum Reinigen gegeben wurde, bemerkte dieser  : »Merkwürdig, diese Steine müssen in einem Feuer gelegen sein  !« Der besagte Brand hatte ein Nachspiel  : Kaiser Napoleon war wütend über das Ausbleiben der Feuerwehr, genau genommen über die festgestellte Nicht­ existenz einer Pariser Feuerwehr, und diktierte in gleicher Nacht das heute noch gültige, minutiöse Statut der Pariser Pompiers. Im gleichen Salon der Adlerburg stand auch eine Marmorbüste Napoleons, die dieser mitsamt selbst-aufgesetztem, goldenem Lorbeerkranz dem Feldmarschall geschenkt hatte. Das wichtigste »Napoleonicum« im großen Empiresalon war ein riesiger Tisch mit einer plastischen Darstellung der Schlacht von Austerlitz. Infanterie und Kavallerie waren mittels winziger Papiermascheefiguren dargestellt  ; die orographischen Verhältnisse, Wäldchen, Teiche, Ackerfelder genauest eingezeichnet. Bleistiftzeichen von der Hand Napoleons bedeckten das in Relief dargestellte Schlachtfeld. Mit Pfeilen und Skizzen von Kanonen, Pferden und Infanteristen hatte Napoleon dem Feldmarschall nach einem Diner in Paris auseinandergesetzt, wie er, anstelle der Alliierten, die Truppen aufgestellt hätte, um die vernichtende Niederlage zu vermeiden  : »Nicht hinter diesem Wald, sondern vor dem Wald hättet Ihr die Artillerie aufstellen sollen  ! Und Eure Kavallerie habt Ihr ganz dumm vor den Teichen gelassen  ; demzufolge musste sie im Sumpf stecken bleiben  !« So ungefähr – folgt man den Bleistiftstrichen – dürften die strategischen Kommentare des großen Taktikers Napoleon gelautet haben. Der Grundstock der Bücher dort in der Bibliothek stammte noch aus Feldmarschalls Zeiten und umfasste so ziemlich alles was auf die Napoleonischen Kriege Bezug hatte  : militärische Fach- und Nachschlagewerke, Almanache und Memoiren. Das Übrige war eine recht armselige Auswahl aus der deutschen und der französischen

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Literatur. Körner, Kleist, Schiller, zum Teil in Schulausgaben, Goethe sehr unvollständig. Grillparzer fehlte, denn alles, was auch nur im entferntesten mit dem Jahr 1848 zu tun hatte, galt als revolutionär. Corneille und Racine wohl, aber kein Molière, denn der war obszön. Immerhin war Shakespeare vorhanden, aber er verdankte seine Existenz nur dem Umstand, dass die sittenstrenge Urgroßmutter, die nach der Feldmarschallin Tod alles Gedruckte im Hause nach Freigeistigem durchstöberte, ebensowenig Englisch verstand wie ihr Beichtvater, der bei der Erstellung ihres Privatindexes zugezogen wurde. In diesem Raum kamen des Feldmarschalls drei Söhne zusammen. Der älteste erzählte seine Abenteuer. Fritz »der letzte Landsknecht«, der in vieler Herren Ländern Händel gesucht und so manches Duell ausgefochten hatte. Sehr oft kam ja Onkel Fritz nicht auf die Adlerburg, denn er mochte seine sittenstrenge, fantasielose Schwägerin nicht. Urgroßmutter missbilligte Onkel Fritzens Weibergeschichten und den Libertinismus des Autors der »Ante- und der Postdiluvianischen Fidibusschnitzel«. Urgroßmutter Josefine tat aber ihrem Schwager unrecht. Der Generation der Söhne des Feldmarschalls folgte jene meines Großvaters. Als Major und Kriegsverletzter in den italienischen Feldzügen unter Radetzky, bewahrte er seinen Kriegskameraden die Freundschaft und lud sie häufig auf die Adlerburg ein. Sie blieben wochenlang zu Gast, konsumierten sehr viel Alkohol und Zigarren mit der Folge, dass die geheiligte Bibliothek nur noch »das Rauchzimmer« genannt wurde. Dass eine Bibliothek zum Lesen da ist, fiel diesen alten Haudegen gar nicht ein. Bücher waren bestenfalls eine Wandzierde. Von dem horror legendi waren bloß die »Gothaischen Taschenbücher« ausgenommen, diese unentbehrliche, dokumentarische Grundlage der sozialen Ordnung in Böhmen. Übersichtlich gebunden, violett die fürstlichen (das sind die regierenden, die reichsunmittelbaren und die mediatisierten Häuser), grün die gräflichen und braun die freiherrlichen Häuser. In diesen Bändchen war sowohl der Verwandtschaftsgrad als auch der für die Tischordnung so wichtige Rang jedes Mitglieds des mitteleuropäischen Adels festzustellen. Störende Großmütter konnten ausgegraben, Messalliancen festgestellt und in ihren besitzrechtlichen Auswirkungen abgeschätzt werden. Ob eine Familie der zweiten oder der dritten Klasse der mediatisierten Häuser angehörte, war von appetitraubender Wichtigkeit. Als, um diese Sorgen zu veranschaulichen, die Tochter aus einer ins Kreuzfahrerzeitalter zurückreichenden Familie Neigung zeigte, einen verdächtig agilen kleinen Kapellmeister zu heiraten, schaltete sich der Herr Papa mit der subtilen Bemerkung ein  : »Je n’aime pas voir un petit singe grimper dans mon arbre généalogique  !« Ein anderer vornehmer Vater beschwor seine Tochter, die Neigung zu einem Bürgerlichen zeigte  : »Du hast vier Jahre Eheglück und vierzig Jahre Tischende zu gewärtigen  !«

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Flurwechsel nach Prag Die mystische Sanduhr, die im vorsintflutlichen Lebensrhythmus unseres Stammes die Stunde für den Aufbruch aus abgegrasten Weideplätzen und Niederlassen zu neuer Fruchtlese diktierte, wurde dreimal im Jahr auf den Kopf gestellt. Im Februar nach Maria Lichtmess, nachdem das Eis aus dem Schlossteich gebrochen und in den Eiskeller eingebracht worden war, zog man aus der Adlerburg ab. Es wurde nach Prag übersiedelt. Die Bereitwilligkeit zur Abreise war teilweise klimatisch, teilweise von einer Reihe relevanter Komponenten bedingt  : Es musste im Januar einige gute »Neue« gegeben haben, d. i. frischer Schnee, der die Verfolgung von Meister Reinekes Pfotenspur zum Bau oder in sein bevorzugtes Fichtendickicht erleichterte. Ein Januar, ohne einige Füchse oder gar einen Dachs zur Strecke gebracht zu haben, bedeutete gleich zu Beginn des Kalenderjahres Missmut vulgo Grant genannt. Zeigte sich aber ein Fischotter am vereisten Moldau-Ufer und vermochte man am ersten Januar den Kozarovitzer Birnbaum vom Schlossplatz aus zu sehen, so gab es ein Glücksjahr. Der Birnbaum war übrigens, genau genommen, eine Linde. Aber die Tradition wollte es anders. Wichtig war, dass vor Antritt der Übersiedlung der Blasius-Segen in der Schlosskapelle entgegengenommen wurde. Der Festtag dieses von Hypochondern hochverehrten, aus dem windigen Armenien stammenden Heiligen fällt auf den Tag nach Lichtmess. Der Schlosskaplan hielt zwei brennende, kreuzweise gebundene Kerzen unter das Kinn der knienden Haushaltsangehörigen und sprach einen Segen, der, wenn würdig entgegengenommen, hundertprozentig sichere Garantie bedeutete gegen Halsweh, Diphtherie, Angina und alle Beschwerden der Atemorgane, sogar gegen Asthma. Gewärtig bevorstehender Luftzüge, überheizter Eisenbahnwaggons, kalter Füße beim Warten auf dem Bahnsteig und als Absicherung gegen Ansteckung seitens des in dieser Jahreszeit regelmäßig unter dem weiblichen Lehrpersonal auftretenden Schnupfens war der Blasius-Segen eine unabdingbare Voraussetzung der Übersiedlung. Die Verpflanzung der Familie samt Tross und Valetei war ein gewaltiges logistisches Unternehmen. Es rollte in drei Phasen ab  : 1. der Vortrupp, 2. die Gepäcksverfrachtung per Ochsenwagen, 3. der Personentransport per Eisenbahn. Diese Aufgliederung des Exodus hatte ihre Bedeutung für das seit Wochen vorausschauend diskutierte Problem, welche Gepäckstücke mit dem Vortrupp, welche mit den Ochsen und welche mit dem Eisenbahntransport expediert werden sollten. Der Vortrupp bestand aus einigen Lakaien und Stallburschen, die dafür zu sorgen hatten, dass das zu beziehende Schloss oder Stadtpalais geheizt, die Zimmer aufgeräumt, der Pferdestall gereinigt seien. Hinsichtlich des Prager Hauses mussten rechtzeitig Abmachungen mit dem gegenüberliegenden Ursulinenkloster getroffen werden wegen Abtransports des Pferde- und Ochsenmists. Das war wichtig, denn die Stallungen befanden sich unter den Wohnräumen, und damals gab es noch keine Müllabfuhr.

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Einige Tage nach Abgang des Voraustrupps fand die Verladung des Großgepäcks in die mindestens zwölf Leiterwagen statt. Die hierzu ausersehenen Ochsengespanne hatten vorher das aus dem Dorfteich in Kubusformen heraus gesägte Eis in ein Schlossverlies eingebracht. Kühlschranke waren ja unbekannt. Auch hatte der Küchenbetrieb auf der Adlerburg eine ganze Sakristei an Eiskasten erheischt, um den Kühlbedarf der zum Verspeisen bestimmten Unmassen an Wildbret, Kälbern, Würsten, Schinken und Fischen zu decken. An diese, im Eiskeller der Adlerburg aufgestapelten Fleisch- und Fischreserven erinnerte ich mich, als meine Frau und ich Jahrzehnte später, über Einladung des Schahs von Iran, über eine der schönsten Kunststraßen der Welt, durch das Elbursgebirge am Sechstausender Demavend vorbei, ans Kaspische Meer fuhren und dort eine Kaviar­ fabrik besuchten. Die nach Entleerung der köstlichen Eiermassen zu Tausenden aufgehäuften Störleichen werden zum Weitervertrieb als beliebtes Volksnahrungsmittel bei 24 Grad unter null eingelagert. Ihre gezähnten offenen Rachen, stieren Augen und erstarrten spitzigen Finnen geben ein Bild, das einen Hieronymus Bosch zu apokalyptischen Szenen inspiriert hätte. Der erbeutete Kaviar wird nach Sortierung der schwarzen, grauen und der – von Störalbinos stammenden – gelben Körner und nach Beimischung von etwas Salz und Borax innerhalb von drei Minuten nach Aufschlitzen des lebenden Fisches in die bekannten Blech- oder Glasdosen abgefüllt. Er dient fürderhin der Erleichterung der Brieftaschen aller verfressenen Weltbürger, gleichviel ob Kapitalisten oder Volksdemokratlern32. Der iranische Konservenfabriksdirektor behauptete hämisch, die Russen praktizierten an ihren nordwärts gelegenen Seeufern eine noch grausamere, aber rationellere Produktionsmethode  : An der hochschwangeren Störin werde ein Kaiserschnitt vorgenommen. Nach Ausweiden des Kaviarlaichs werde der Mutterleib wieder zugenäht und die zappelnde Störin in die Kaspis zurückgeworfen. So würde die gefürchtete Verminderung des Fischbestandes hintangehalten. Das Herabkollern der Eisblöcke von den Leiterwagen in den Eiskeller der Adlerburg durch einen in die Grundmauer alljährlich aufgesprengten meterlangen Schlund gab der Sonntagspredigt Nahrung für den Vergleich mit den Verstößen sündhafter Seelen in das Fegefeuer. Den Begriff des Höllenfeuers lehnte Pater Jakubicka ab. Dieses verzehre und sei daher eine verfehlte, kindische Veranschaulichung. Eineisung sei eine trefflichere Symbolik, namentlich für das der Läuterung dienende Purgatorium. Eisige, geizige Herzen besaßen die Menschen von heute. Wohltun sei außer Mode. So wie der Eisblock das Leben der daraufgelegten Wurst zunächst suspendiere, um an dem von höheren Mächten vorbestimmten Zeitpunkt zu Genusswärme zurückzukehren, so mögen auch wir durch die läuternde Wirkung der Gewissenserforschung die Kälte unseres Herzens auftauen und durch Freigebigkeit und Nächstenliebe zum wärmenden Genuss der Paradiesfreuden gelangen. Der gute Schlosskaplan  ! Er hatte es schwer mit dem Bußpredigen. Bewohnt, bezahlt, beheizt und ausgezeichnet ernährt, befragt in al-

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len Problemen der Dogmatik und Moral – wie sollte er da seine Brotgeber abkanzeln  ? War er nicht, ganz im Allgemeinen, angeheuert worden zur Gewissensrechtfertigung der Dienstgeber und zum Vorbeugen gegen allzu beklagenswerte Sittlichkeitsvergehen unter dem zahllosen kohabitierenden Hauspersonal, allem voran aber zum Abbremsen des atavistischen Drangs der heranwachsenden Söhne des Hauses zu voll bebusten Förstersgattinnen  ? Der Schlosskaplan liebte es keineswegs, wenn seine Brotherren zu ihm zur Beichte gingen. Nachdem also die Ochsenwagen das Eis in den Keller der Adlerburg eingebracht hatten, wurde an das Verladen einer unheimlichen Menge von Koffern und Kisten für den Transport nach Prag geschritten. Die Prozedur stand unter Leitung des Hausdieners Kvasnicka, der hierfür sowohl durch Muskelkraft als auch durch sein auf höchstem Niveau stehendes Fluchvermögen geeignet war. Herr Kvasnicka war nicht nur für die Verstauung und das Zudecken der Gepäckstücke mittels segeltuchener Plachen verantwortlich, er führte auch das Inhaltsverzeichnis der einzelnen Kisten. Es wäre gewiss nicht nötig gewesen, alle fahrbare Habe der Familie dreimal im Jahr zu verpflanzen, denn Vaters Schlösser und Palais waren wohl ausgestattet. Aber es handelte sich um eine in graue Vorzeit zurückreichende Liturgie, die Vorwand zu reichem Trinkgeldregen bot. Nicht zuletzt hatte der Ochsenkutscher ein den Urtrieb der Menschen kitzelndes Interesse an den Übersiedlungen  : Die Gelegenheit, sich zweimal im Jahr in dieses Sodom und Gomorrha von einem Prag stürzen zu dürfen, war für die vornehmlich mit Mistschaufeln betrauten Knechte Anlass zu wüsten Ausschweifungen. Neidvoll bewunderte die männliche Landbevölkerung den Wagemut der Männer, die aus der Geborgenheit der Unterentwicklung sich den Lebensgefahren, nicht nur der sozialen, sondern auch der geschlechtlichen Ansteckung, der fortschrittlichen Großstadt aussetzten. Den Scherben hatte der Dorfpfarrer auf, den am Sonntag nach Absolvierung des Prager Entladeaufenthalts die entsprechenden Gattinnen oder Lebensgefährtinnen bestürmten, ob »er« denn auch seine Prager Versündigungen richtig gebeichtet habe. Der Pfarrer wäre in der Luft zerrissen worden, hätte er nicht auf den allseits verehrten Schutzpatron Böhmens, den heiligen Johannes von Nepomuk, hinweisen können. Wer kennt nicht die Legende vom Märtyrertod dieses mutigen Wahrers des Beichtgeheimnisses  ! Nur diese Bolondisten33, diese Ikonoklasten, wollen nicht an den Nepomuk glauben  ! Johannes von Pomuk wurde über Auftrag des bösen Königs Wenzel in die Moldau geworfen, die genaue Stelle auf der Karlsbrücke ist durch ein Ziergitter gekennzeichnet, weil er sich geweigert hatte, den Verdacht des Königs, seine Königin habe ihm Hörner aufgesetzt, durch Preisgabe des Beichtgeheimnisses zu befriedigen. »Der heilige Johannes wird es Ihnen schon heimzahlen«, so argumentierte der Herr Dechant, »wenn ich Ihretwegen meinen Priestereid verletzte  ! Sollte Ihr Mann gesündigt haben, so ist das durch seine Beicht’ erledigt, und es geht Dich, mein Kind, nichts

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mehr an. Hat er aber nicht gesündigt oder hat er nichts gebeichtet, was für mich aufs Gleiche herauskommt, so existiert überhaupt kein Problem und Grund zur Aufregung. Jetzt aber, mein Kind, verschwinde gefälligst.« Sprach es und setzte einen allen verständlichen, bodenständigen Drohfluch hinzu. Das Weibsbild geht heim, gibt ihrem beruflich Ochsen, semestriell aber Stadthuren treibenden Mann eine Ohrfeige, und damit schließt das Prager Zwischenspiel. Dritte Übersiedlungsphase  : Die Herrschaft verreist mit einem halben Dutzend Erziehungs- und über zwanzig Stück Haus- und Küchenpersonal. Weniger das Verfrachtungsproblem als das Reisefieber der Gouvernanten, letztminütliches Vergessenhaben, Reiseproviant-Sorgen und die allgemeine Aufregung ließen Vater die Teilnahme an der Bahnfahrt grundsätzlich meiden. Auch Mutter drückte sich gern, weil sie es nicht aushielt, wenn die Dienerschaft, vorübergehend der disziplinierten Routine des Schlossbetriebes enthoben, während der Reise sich zu anstößigen Schnurren hinreißen ließ. Die Kinder und das Lehrpersonal fuhren vierspännig, gefolgt von einer langen Reihe zweispänniger Wagen, in denen sich Lakaien  – ausnahmsweise durften sie in Zivilkleidern antreten  –, Dienst- und Küchenmädeln, Hausknechte und unabsehbar viel Handgepäck türmten. Hunde und Kanarienvögel durfte man auf den Schoß nehmen. Die Esspackerln und Regenschirme wurden im nach rückwärts gefalteten Dach verstaut. Kinder und Lehrpersonal trugen richtiggehende Reisekleider. Damenhüte waren mittels Schleiers unter dem Kinn festgebunden. Die Fahrt über die holprige Landstraße zur Station währte 40 bis 45 Minuten  ; man rechnete aber vorsichtshalber mit eineinhalb Stunden. Das mit dem Fahrplan hatte so seine Sache. Der Prager Personenzug traf in Miro­ vice gern um elf Uhr herum ein, aber er hatte auch Verfrühungen, eine höflich gemeinte Unart, die angesichts der selbstverständlich erfolgten Ankündigung der fürstlichen Übersiedlung an die Staatsbahndirektion in Prag nicht auszuschließen war. Ein zusätzlicher Waggon erster und zweiter Klasse wurde zwar zur Bewältigung der ungewöhnlich hohen Passagierzahl angehängt, die Maßnahme rief aber auch Nervosität und deferente Beflissenheit bei Lokomotivführer und Zugpersonal hervor. Die Fahrkarten für die Reisegesellschaft und die Hunde (Hunde-Biglietten waren damals obligat) wurden von dem um eine halbe Stunde vorausgefahrenen Sekretär Batek gelöst. Das bedeutete wesentlichen Zeitgewinn. Andererseits musste mit mindestens zwanzig Minuten für die Aufgabe des Großgepäcks gerechnet werden. Ungeachtet des von Vater an das Lehrpersonal gerichteten Ukas, alle Koffer und Schachteln mit dem Ochsentransport abzufertigen, kamen immer Verstöße vor. »Die Hutschachteln kommen meist zerdrückt an  !«, hieß es  ; oder  : »Ich trenne mich grundsätzlich nicht von meiner Unterwäsche  ! Diese Ochsenfuhren sind ja drei bis vier Tage unterwegs  ! Was da alles passieren kann  !« – »Meine kostbare Käfersammlung  ! Diese Kutscher halten die alle für Wanzen und vertilgen sie am Ende  !« Kurz, bei Eintreffen des Konvois an der Station

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wähnte man sich in einer Karawanserei vor lauter Köfferchen, Säcken, Schachteln, von die selben anpissenden Hunden, betenden und flennenden Weibern. Während sich Lehr- und Küchenpersonal wärmesuchend in den beiden Warteräumen drängt, nehmen wir Kinder, die Hunde an der Leine, Aufstellung längs des Gleises und starren unverwandt in die Einfahrtsrichtung des Zuges. Da kommt er  ! Nunmehr wird der breit ausladende Schornstein und dann der schmale Leib der Lokomotive, Baujahr 1872, sichtbar. Es wird gepfiffen, um den Gaffern am offenen Bahnsteig die gefährliche Majestät des Dampfrosses anzukünden. Die Bremsen kreischen wie tausend Möwen, dann geht ein wildes Pfauchen und Dampfauslassen an. Der Zug steht. Mindestens drei Pinkel, Regenschirm, Reservemantel und sonstiges Zubehör, oft noch einen Hund schleppend, stürzen sich Kinder, Lehrpersonal, Sekretär und einige Beamte aus der Zentralkanzlei auf die Zweite-Klasse-Abteile. Das übrige Volk reist dritter Klasse. Die Zweite ist bald überfüllt. Der Kondukteur macht augenzwinkernd und trinkgeldsüchtig eine Gnadengeste in Richtung erster Klasse  : »Aber bitte, die Hunde haben am Gang zu bleiben.« Das lässt sich Schwester Wilhelmine34 nicht gefallen  : »Wo ich sitze, da sitzt auch mein Hund  !« – »Aber bitte, die Vorschriften  !« – »Werfen Sie mich zum Fenster hinaus, mit samt Ihren Vorschriften. Und wenn mein Vorisek Ihnen zum Trotz ein Lackerl in die Erste macht, so zeigt er nur, was er von Ihnen hält…« Der Schaffner wird puterrot und schickt sich zu richtiger Amtshandlung an. Gottlob hat der Herr Batek mit Blitzesschnelle die Situation durchschaut, zuckt eine Fünf-Gulden-Note und schiebt sie in des Amtsgewaltigen entballte Faust. »No, Jezismarie, habe nur meine Pflicht getan  – aber bitte, Hündchen soll ruhig auch groß machen, wird der Kaiser in Wien schon ein Auge zudrücken – und ich beide  !« Schaffner verschwindet, Gepfeife, Trompetenstoß, neuerliches Pfauchen, Anziehen, dreimaliges Ausrutschen der Räder mit korrespondierendem Geknatter des beschleunigten Auspuffens.  – Die Fahrtdauer bis Prag beträgt dreieinhalb Stunden. Es naht der Franz-Josefs-Bahnhof. Packerln werden gezählt. »Ja, nur nicht die Schirme oben liegen lassen  !« Die Reisegesellschaft wird auf Fiaker aufgeteilt, deren Kutscher zum Zeichen, dass sie das hochfürstliche Haus zu fahren die Ehre haben, blau-weiße Maschen vom Knopfloch hängen haben. Der Einstand im Stadtpalais geht nicht reibungslos vom Stapel. Der Ochsentransport war zwar eingetroffen und war nach Abladung gleich wieder heimgekehrt. Kvasnicka hatte »natürlich« wieder die Kisten und Koffer durcheinandergebracht. Nach glücklicher Vollendung des Übersiedlungsritus und nach Begleichung aller missliebigen Anstände in Prager Stundenhotels aus Vaters Privatschatulle verblieb die Familie über das Frühjahr in der Metropole, bis der wärmebedingte Gestank aus dem mittelalterlichen Kanalsystem als unerträglich und der Landaufenthalt auf Schloss Wespenau mehrheitlich als dringend wünschenswert bezeichnet wurde. Zu den hinter-

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gründigen Motiven für diese zweite Übersiedlung zählten unter anderem die hervorragenden Reitmöglichkeiten auf dieser im Flachland gelegenen Herrschaft meines Vaters. Papa konnte für die Übersiedlung mit der Aussicht auf die bevorstehende »Blattzeit« gewonnen werden. Das ist jene im Juli angehende Jagdperiode, in welcher vom lüsternen Rehbock erwartet wird, dass er auf den mittels eines Pfeifchens vorgetäuschten Lockruf der Rehgeiß hineinfalle. Eine perfide Taktik, gewiss  ! Das Jagen feierte unter dem böhmischen Adel jahraus, jahrein fröhliche Urstände, eine damals durchaus nicht als Laster, vielmehr geradezu als Standespflicht empfundene Passion. Kein Wunder, wenn nicht wenige Sitzungen im Wiener Reichsrat oder im Prager Landtag, in den Verwaltungsräten, in land- und forstwirtschaftlichen Kommissionen, ja sogar Zeremonien bei Hof unter allerhand Ausflüchten geschwänzt wurden, nur weil ein Hahn balzte, ein Schnepf strich, ein Rehbock sprang, ein Hirsch röhrte, Enten schnatterten, Fasanen und Rebhühner lockten. Hatte man den Sommer in der Wespenau wacker durchschwitzt, hatten die Kinder sich von den Wespenstichen und vom Überfressen mit Preiselbeeren, Himbeeren und Stachelbeeren erholt, so ging zunächst en sourdine, dann immer sforzando ein Gemurmel um  : »Wäre es nicht an der Zeit, nach der Adlerburg zu übersiedeln  ?« Für diesen Umzug war der Wenzelstag äußerstes Datum, das ist der 28. September. Man musste unbedingt noch zu diesem Datum auf der Adlerburg oder gar schon in den Jagdhäusern von Pisky oder am Tirolerhaus eingetroffen sein, denn am Wenzelstag beginnt unfehlbar die Hirschbrunft. Ende September wurde also zum dritten Mal die Sanduhr auf den Kopf gestellt, und der Exodus der auserwählten Familie fand statt unter Blöken und Muhen. Ein alljährlicher Skrupel störte den harmonischen Abschluss des Übersiedlungszyklus  : das Problem des Besuchs bei Großmama auf Schloss Cimelic  ! Das war eine vierte Schlossherrschaft meines Vaters mit dem eine halbstündige Wagenfahrt entfernten reizenden Schlössl Gabriellenhof. Aus Gründen des Respekts gegenüber Großmama Wilhelmine hatte es sich gehört, dass die Familie einige Wochen im Sommer bei ihr zubringt. Im Winter wohnte sie in ihrem Stadtpalais in der Brenntegasse in Prag. Aber kam man nicht durch das Cimelicer Interludium in Zeitnot  ? Aus Prag konnte man nicht vor Abschluss der Rennsaison in Kuchelbad weg. Der Hausarzt, Dr. Gassauer, drängte auf eine Kur in Karlsbad  … Auch Mama »zierte« sich, wenn es hieß, man müsse nach Cimelic zu Großmama, weil diese immer allerhand zu kritisieren hatte  : Mamas Zigarettenrauchen, ihre Vorliebe für Rosen- und Dahlienstöcke, die eine Ohrfeige für die von Großmama präkonisierten glatten Rasenflachen darstellten  ; dann werde den Kindern zu viel Lebertran als Kräftigungsmittel gegeben anstelle der gesünderen Kartoffeln etc … Kurz, man suchte nach Ausreden, um nicht nach Cimelic zu müssen, natürlich tendenziöse, denn im Gabriellenhofer Revier gab es Rehböcke, die verliebter waren und besser sprangen als irgendwo.

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Das Erziehungspersonal kam vollzählig mit nach Cimelic. Das Lehrpersonal ging mit gemischten Gefühlen nach Cimelic, denn es musste mit den Kindern im kleinen Schloss wohnen, wo die sanitären Anlagen primitiv waren. Dafür war das Essen von Großmamas berühmtem Küchenchef Stepjen sogar noch besser als das auf der Adlerburg. Auch lud Großmama die Gouvernanten zu sich zum Tee ein – eine Ehrung, deren sie auf der Adlerburg nicht teilhaftig wurden. Für uns Kinder war Cimelic wegen Großmamas wundersamem Schatzkasten unvergesslich. Sonntags nach dem Hochamt wurde auf ein Zeichen mit dem schwarzen Spitzenfächer von Großmamas Kammerdiener Havranek ein Glaskasten aufgesperrt. Eine unwahrscheinliche Zahl von schimmernden Kleinigkeiten war dort aufbewahrt  : Wachsfiguren, Tabatieren, Krippen mit Hirten und Engelchen, Tierfiguren aus Holz oder Pappe, Ordenssterne, Kostümpuppen, Wägelchen, leere Rahmen, Papiermesser, Broschen, Armbänder und Ohrringe, farbige Gläser, Petschaften, Steinchen und Muscheln, illustrierte Postkarten. Pièce de résistance war die mit Wasser gefüllte Glaskugel, drinnen saß Schneewittchen. Schneeflocken trieben, wenn man die Kugel umstürzte. Die Kinder durften sich etwas aussuchen. Dieser großmütterliche Schatzkasten  ! Unwiederbringliches Glück  ! Glitzernder Tand  ! Warum muss man ein Kind sein, um sich am Wert des Unwertes erfreuen zu können  ? Oder ist es noch unverbrauchte Urweisheit im Kinderhirn, sich vor dem Unwert des Wertes abzusichern  ? Prag anno 1910 Vaters Prager Stadtpalais, ein einstöckiger Barockbau, in dem ich geboren wurde, stand in der Ursulinergasse Nr. 6, zwischen Smetanagasse und Ferdinandstraße, benannt nach dem in Prag verstorbenen einfältigen Kaiser Ferdinand35. In der Ursulinergasse befand sich neben uns auf Nr. 4 das kleine Palais Herrn Benjamin Weils, eines weißbärtigen Karolinentaler Fabrikanten. Wann immer wir Kinder dem würdigen Greis auf der Straße begegneten, lüftete er immer als erster den Zylinderhut, ohne den er nie ausging, und verbeugte sich tief, um damit seiner Deferenz vor unserer älteren Eingesessenheit Ausdruck zu verleihen. Wir stellten uns natürlich unter einem Fabrikanten einen Großindustriellen vom Kaliber eines Krupp oder Škoda vor, doch belehrte uns Herr Mraz, unser Portier, dass der Pan Weil sein bedeutendes Vermögen aus einer kleinen Emailwarenhandlung entwickelt habe  : Auf einer Amerikareise hatte er das dort allgemein verbreitete Klosett mit Wasserspülung mittels Zugleine entdeckt. Er stellte daher flugs das von Vater Nathaniel Weil ererbte System der Bedürfnisanstalten mit Spülung durch handbetätigtes Eimerausgießen auf die moderne, automatische Zugtechnik um. Die Fabriksmarke wurde von »Perfecto Orcus« auf »Niagara« abgeändert. Bei uns auf der Adlerburg und in der Wespenau herrschte

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noch das erstere System vor, während sich das Prager Stadtpalais mit drei Niagaras brüsten konnte. Deren Einrichtung war allerdings nicht ohne eine protokollarische Krise verlaufen. Herr Benjamin Weil habe ursprünglich die drei Niagaras seinem fürstlichen Nachbarn, als Unterpfand guter Beziehungen von Haus zu Haus, gratis liefern wollen. Darauf der väterliche Aufschrei  : »Das geht denn doch zu weit  ! Der wird noch behaupten, ich ginge auf seine Kosten scheißen  !« So musste denn der Sekretär Batek alle Diplomatie aufbringen, um den Großindustriellen davon zu überzeugen, dass ein WC keine geeignete Freundschaftsgabe darstelle. Wenn sich aber der Herr Weil beim Klosettankauf auf einen Rabatt einließe, so werde man sich zu Weihnachten, nein, das geht nicht, ist ein christliches Fest, also zu Ostern, nein, das geht auch nicht, dann halt zu Neujahr gern mit einem Rehrücken oder – falls dies der gnädigen Frau Kommer­ zial­rätin lieber ist – mit einigen Fasanen revanchieren. Die uns gegenüberliegende Seite der Ursulinergasse war von dem gleichnamigen Kloster und dessen Gartenmauer eingenommen. Obstbaum-Äste hingen herüber, bevölkert von zahllosen Spatzen. Die Klosterfrauen sah man nie, man hörte bloß ihre Piepsstimmen, wenn sie unter den Zwetschkenbäumen Chorgesang übten. Hinter dem dritten Fenster rechts sah man bisweilen das kahle Haupt des hochwürdigsten Herrn Spirituals aufleuchten. Der kugelrunde Pater Fajtl war ein Produkt der klösterlichen Mast. Nichts stimmt zum Beichthören nachsichtiger als ein fetter Gänsebraten mit Knödeln und Sauerkraut. Pater Fajtl war bei uns wohlgelitten, entledigte er sich ja als Revanche für gelegentliche Tischeinladungen nur allzu willig zu Händen unseres Hauspersonals der vielen gestickten Tüchlein, Decklein und Kamisölchen, mit denen die braven Schwestern ihren Gewissensmentor überhäuften. So ein Seelenhirt im Frauenkloster ist ein rechter coq en pâte  ! Je geduldiger er den Eifersüchteleien und gegenseitigen Unduldsamkeiten seiner Schäflein zuhört, desto weicher das Daunenlager, desto schmackhafter der Kaiserschmarrn.36 Anfang Februar vollzog sich, wie schon gesagt, die Übersiedlung des fürstlichen Hofstaates in die Ursulinergasse. Kaum waren die Leiterwagen, die das Gepäck transportiert hatten, mit ihren Ochsengespannen abgezogen und die beiden Höfe des Palais von den unvermeidlichen Spuren der ländlichen Invasion gereinigt, wandte sich Mama ihren, den Großstadtverhältnissen entsprechenden, gesellschaftlichen Aufgaben zu. Als Erstes fuhr sie in dem mit blauem Satin gepolsterten Landauer aus, um »Karten zu werfen«. Im Coupé befand sich ein eigenes Etui aus Schildpatt ähnlich jenen störenden Gestellen, die man auf Schreibtischen in Gästezimmern zur Aufnahme von Briefpapier und -umschlägen vorfindet. Das Etui enthielt Visitenkarten dreierlei Natur. Mama fuhr bei den Palais aller jener Bekannten und Verwandten vor, mit denen der Verkehr allfrühjährlich aufgenommen werden musste. Handelte es sich um ein Ehepaar, so wurden zwei Visitenkarten, eine mit dem Namen meines Vaters, die andere mit dem Namen beider Eltern, zum Zeichen, dass man persönlich gekommen sei und

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nicht einen Boten gesandt hatte, an der Ecke eingebogen und dem vom Kutschbock herabgesprungenen Lakaien eingehändigt. Dieser eilte zum Portier, gab die Karten ab und sprang wieder auf. Handelte es sich um rangmäßig Gleichgestellte oder um nachgestellte Destinatäre, so wurden die Karten oben links eingebogen  ; war der Empfänger höher gestellt – und das war in Prag nur beim Kardinal-Erzbischof und beim kaiserlichen Statthalter der Fall –, so wurde links unten »eingehakelt«. Einzelpersonen erhielten natürlich nur eine einzige Karte, kaum jemals »eingehakelt«, denn sie standen meist in der Talsohle der sozialen Orografie. Als nächster Punkt des städtischen Aktionsprogramms figurierte eine Serie von Diner-Einladungen. Vater begab sich persönlich zu Lippert am Graben, um das Herbeischaffen von Austern und Hummern für bestimmte Daten zu fixieren. Das war keine Kleinigkeit, lag ja Böhmen verkehrstechnisch für die Belieferung mit Hochseefischen nicht günstig, weder Richtung Adria noch Nordsee. Aber Hummer musste es sein und aus Belgien die großen blauen Trauben. Der Ehrgeiz, die beste Küche und den besten Keller Prags zu besitzen, seine Freunde und Vettern in dieser Beziehung zu »schlagen«, war Vaters wohl einzige Sünde. So ein Diner war glanzvoll. Silberleuchter mit Dutzenden Kerzen, rote Damaststühle, Lakaien in blau-silberner Livree, Abendtoiletten mit Diamantschmuck und Diademen. Vorfahrt der Kaleschen, Stiegenaufgang, Pelzabgabe, Händeküssen, Verneigung und »bras dessus – bras dessous« – Einzug der Paare in den Speisesaal, Tischreden. Unvergesslicher Prunk  ! Beobachtet von den Kindern von der Anrichte aus durch eigens in die chinesische »Spanische Wand« gebohrte Gucklöcher. Nach dem Diner Kartenspiel  : Whist oder das neue Bridge. Nur im Klub, der »Ressource«, spielte man hohe Einsätze  ; bei privaten Veranstaltungen im Hause hielt man es für unfein, allzu »hoch« zu spielen, riskierte man ja ungern, durch Ritterlichkeit verschärfte Notlagen zu schaffen. Im Prager Besuche-Karussell hatten auch die Kinder ihre Rolle. Zuoberst fungierte der Osterbesuch beim Onkel Statthalter. Fürst Thun war ein Schwager meines Vaters und ein viel zu großer Herr, als dass er sein Büro der k. k. Statthalterei bezogen hätte. Er amtierte im eigenen Palais in der Spornergasse. Das ganze Jahr freuten wir Kinder uns auf folgende erbauliche Szene  : Zur Erläuterung muss vorausgeschickt werden, dass die weise Kaiserin Maria Theresia, das Wohl ihrer Untertanen und namentlich ihrer Beamten stets am Herzen, einen Erlass herausgegeben hatte (der im Grunde genommen nie außer Kraft gesetzt worden ist), der den Beamten der drei obersten Dienstklassen, also meist älteren Herren, das Privileg erteilte, im Büro einen Nachttopf aufzubewahren. Die jüngeren Beamten mussten weiterhin ohne Rücksicht auf allfällige urologische Leiden »über den Hof gehen«. An welcher Stelle im Dienstraum der dirigierenden Beamten der emaillierte Nothelfer aufbewahrt werden soll, besagte der Erlass nicht  ; andererseits hatte er in der an sichtbarer Stelle anzubringenden Inventarliste der Amtseinrichtung angeführt zu werden, mit beiläufiger Wertangabe. In Onkel Franz Thuns Arbeitszimmer

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stand nun ein riesiger Maria-Theresia-Kasten. Wenn, geführt von Papa, wir Kinder uns zur Aufwartung beim k. k. Statthalter und Oheim präsentierten, steckte dieser das Monokel in das linke Auge und erklärte feierlich  : »Jetzt werd’s Ihr was erleben  !«, führte uns in sein Büro und drückte auf einen unsichtbaren Knopf. Ein in den Kasten eingebautes Werkel fing an, eine Weise zu spielen. Die gewölbte Tür drehte sich sachte um die eigene Achse, und langsam, würdevoll, lautlos, nur von der Melodie »Heil Dir im Siegeskranz« begleitet, erschien der Nachttopf  ! Vater wusste nach Absolvierung des Besuches im Vertrauen zu berichten, dass das Werkel, als Onkel Franz den Kasten von seinem Vorgänger übernahm und in sein Palais überführen ließ, das »Gott erhalte, Gott beschütze« gespielt habe. Diese Assoziation des Nachtgeschirrs mit der Kaiserhymne schien aber dem Fürsten Thun unangebracht, und da er, wie die meisten böhmischen Granden, die Preußen nicht mochte, ließ er die Walze auf das »Heil Dir im Siegeskranz« umändern. Wie wir erzogen wurden und nachher Zu den atavistischen Konventionen des altösterreichischen Hochadels gehörte die Regel, dass den Eltern die Erziehung der Kinder abgenommen und anderen überlassen werde. Für die Buben wurden Hofmeister bestellt. Man folgte damit, wie in so vielem, dem Vorbild des kaiserlichen und königlichen Hofes. Eines präsumtiven Thronfolgers harrten Regierungsaufgaben von derartiger Komplexität, dass eine entsprechende Ausbildung nur von richtiggehenden Kapazitäten auf allen Gebieten, in die dereinst mit dem Szepter hineingefuchtelt werden sollte, erteilt werden konnte. Prinzenerziehung  ! Selbst von einer kaiserlichen oder königlichen Mutter konnte füglich nicht erwartet werden, dass sie sich eingehend mit der Erziehung ihrer Kinder beschäftige. Schüchterne Versuche etwa der schönen Kaiserin Elisabeth37 sich ihren Kindern zu widmen scheiterten am Widerstand der superbayerischen Schwiegermutter. Allein die unvergleichliche Kaiserin Maria Theresia38 hatte Zeit gefunden, den inneren Kontakt mit ihren Kindern aufrechtzuhalten und an deren Seelenschicksal Anteil zu nehmen. Und wie stand es mit der Freizeit der Monarchen  ? Könige sind immer im Dienst  ! Ebensowenig wie Priester oder Polizisten sich »außer Dienst« erklären und sich damit an Explosionen im Bereich der öffentlichen Moral desinteressieren dürfen, so kann auch eine Majestät ihre Krone nicht einfach unter den Arm nehmen oder in den Koffer packen. Auch die kaiserlich-königliche Freizeit kann nicht vom Pflichtenkreis des Monarchen isoliert werden, mag sie in der Form der Mehrung des Wohles der Untertanen oder in jener der Jagd bestehen. Das edle Waidwerk ist keineswegs nur ein Vergnügen. An Wichtigkeit stand es dem Kriegshandwerk nicht nach, das bekanntlich nicht nur im Mittelalter als Sport betrieben wurde  ; noch im 18. Jahrhundert wurden gewisse Kriege um ihrer selbst willen geführt.

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Die Schlösser und Burgen des Hochadels im Vorkriegseuropa waren dynastische Höfe in Miniatur. Die Erziehung der Sprösslinge wurde einem Lehrkörper überlassen, der zu geradezu parlamentarischen Proportionen anwuchs  ; parlamentsähnlich auch deshalb, weil er mit den wesentlichen Erziehungsproblemen einfach nicht fertig wurde. In meiner vorsintflutlichen Jugend kam selbst für die nichtsnutzigsten Sprösslinge aus adeligem Hause die Erziehung in einer öffentlichen Schule nicht in Betracht. Bestenfalls machte man als »Privatist« die Prüfungen an einem Gymnasium. Die Gefahr des Durchfallens zufolge endemischer Faulheit, zwang zur Bestechung der Prüfungskommission. Papa durfte natürlich davon nicht einmal eine Ahnung bekommen, aber Mama zeigte sich genial im Ausfindigmachen geheimer Wege zum Haushalt der gefürchteten Professoren. Als prätentiös galt die Erziehung bei den Jesuiten in Kalksburg oder in Feldkirch. So wurde beschlossen, den durchlauchtigsten Kindern durch einen spezialisierten Lehrkörper alle jene Disziplinen beizubringen, die den angehenden Stützen des Staates oder der Kirche anstünden. Aus Courtoisie wurde der Vorrang an der Spitze der lehrenden Körperschaft Fräulein Julie Novak aus Lenggries bei Tölz, Oberbayern, eingeräumt. Die redoutable Matrone hatte die Söhne des großherzoglich luxemburgischen Hofmarschalls, des Freiherrn von Sieberg, erzogen. Sie behauptete, das Vertrauen sämtlicher sechs Töchter der verwitweten Großherzogin, geborenen Herzogin von Braganza, genossen zu haben. Wir Geschwister hassten die Söhne Sieberg und die sechs Töchter39, weil sie uns dauernd als charakterlich, ästhetisch und natürlich intellektuell weit überlegen vorgestellt wurden. Eine der sechs Töchter heiratete in der Folge den Vetter Adolph, und ich beuge mich noch heute vor ihrer mir so oft vorgehaltenen, durchaus zutreffenden Vortrefflichkeit. Fräulein Novak sollte meine Schwestern erziehen. Ihre »piefkische« Gründlichkeit reizte meinen Vater. Sie benutzte jede Gelegenheit, die auf der Adlerburg herrschende Atmosphäre abfällig mit jener zu vergleichen, welche die Hohenburg40 der Luxemburger zu einem Hort der Leutseligkeit und göttlichen Einfachheit gestaltet hatte. Wie ihr Name Novak besagte, war Julie natürlich eine enragierte Deutschnationale. Das stach meinem Vater besonders in die Nase. Zufolge ihrer geopolitisch einseitigen Einstellung geriet Fräulein Novak in virulenten Gegensatz zu Herrn Jindrich Kubicek, dem tschechischen Mathematiklehrer meiner Brüder. Arithmetik lag übrigens uns allen so wenig, dass ein eigener Fachlehrer angeheuert werden musste, um uns Addieren, Subtrahieren und, wenn möglich, sogar Multiplizieren beizubringen. Herr Kubicek suchte Verbündete im Kampf gegen die Dynamik des einbrechenden Germanentums. Keine Besseren konnte er sich wünschen als die jeweiligen französischen Mademoiselles, die es nie lange bei uns aushielten. Mit Mademoiselle de Bettigny spielte er vierhändig, und auch Miss Dawson, die Englischlehrerin, war eine willkommene Kampfgenossin. Auf der Adlerburg wurde, dank des deutsch-nationalen Fanatismus Fräulein Novaks, die Entente cordiale längst vorweggenommen  !

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Als würdiger Gegenpol zu Fräulein Novaks Präpotenz, und am Kinderspeisetisch ihr gegenübersitzend, schwieg sich Dr. theol. Frantisek Pekar aus. Er hatte die Erziehung meines ältesten Bruders geleitet und ächzte nunmehr unter dem mangelnden Ernst des anderen Bruders41, noch mehr aber unter meiner Indolenz. Dr. Pekar war klug genug, keine Bündnisse einzugehen, las sein Brevier und rülpste gemütvoll. In seinem Zimmer spielte er Zither und sang dazu mit Fistelstimme. Fragte man ihn, ob es ihm, der die Gesellschaft des übrigen Lehrpersonals mied, nicht langweilig sei, erklärte er sich in der Gesellschaft seiner Gedanken nie zu langweilen, rülpste und ging spazieren. Es war verwunderlich, dass der gelehrte Herr Doktor, der Arabisch und Hebräisch konnte, sich zu der aussichtslosen Karriere des Erziehers einer unerziehbaren Horde hergab. Der Bischofs-, ja vielleicht gar der Kardinalshut sei ihm doch gewiss  ! Ich glaube, Pater Pekar war im Grunde faul, liebte die gute Kost der Schlossküche, pflegte sein Bäuchlein und ließ Sorge und Ambition da draußen vor der Tür … Fräulein Novaks Röcke reichten bis zur Erde. Wie ein ragender Fels harrte sie der Wogen, die sie zu umbranden sich anschickten. Woge, wo weilst du  ? Nur Spatzen bekekeln die erhabene Säule, umschwatzen die sittenstrenge Seherin. Die unwerten Objekte all der erzieherischen Mühe erkannten nicht die Sendung, die die Geschichte ihnen bestimmt und die Julie Novak den Eutern der Sterne entmolken hatte. Dumm und dreist hatten die Fratzen nur Vorliebe für Gemeines. Der eine Zögling hatte die Dirnen des Dorfes im Auge, wenn nicht gar im Munde. Die andere kam aus dem Stall nicht heraus. Immer nur reiten, kutschieren und jagen. Die Form der Mitvergangenheit wird von dieser Mänade gemieden, und sie schreibt »geboren« mit »h«  ! Und erst dieser Jüngste, der aufgeblasene Fant  ! Sieht sich schon als Minister und erwartet die Anrede in der dritten Person  ! Ein Riemen über dieses provozierend breite Gesäß  ! Gewiss, der Jüngste war immer ein Ekel  ! Schon als kleines Kind. Er biss, ins Winkerl gestellt, Löcher in die Seidentapete – ein Sachschaden, der von den Eltern nicht ihm, sondern der Kindsfrau, Anna Flatz aus Mödling, angelastet wurde. Ein anderer Erzieher zerschellte am passiven Widerstand des Bengels, Herr Karl Dreiner aus Bonn, Novize bei den Benediktinern. Von ihm wurde erwartet, dass er den Jüngsten durchs deutsche Gymnasium hindurch steuere. Vater hatte beschlossen, dass sein Jüngster Deutsch studieren solle. Die Brüder hatten die Schulen auf Tschechisch durchlaufen, denn sie sollten im tschechischen Teil Böhmens Grundeigentum erben. Der Jüngste hatte nichts zu erwarten. So sollte er sich die Zukunft ohne heimische Fesseln im weiten Raum der Monarchie suchen. Mit der deutschen Sprache kam man dort weiter. Die Dreiner’sche Ära dauerte nicht lange. Der fromme Seminarist war über das geistige Niveau, das im Kreise der fürstlichen Kinder herrschte, derart entsetzt, dass er zum Gebete Zuflucht nahm. Je seichter die Konversation bei Tisch, desto lauter wurde Herrn Dreiners Beten. Als aber ein unflätiges Mitglied der Tafelrunde, dessen Name der Geschichte vorenthalten bleiben möge, in Karl Dreiners Gebetbuch das Foto einer

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weiblichen Aktstudie legte, da riss ihm der Kragen, und er verschwand über Nacht. Es heißt, er sei bei den Kartäusern gelandet. Mit ehrlicher Rührung möchte ich Miss Mary Dawsons, der geduldigen Irin, gedenken. Sie brachte uns Englisch bei, mit dem unverkennbaren Dubliner Akzent. Da nur eine Katholikin in unserem Hause denkbar war, musste die Auswahl der Lehrerin im katholischen Irland getroffen werden. Miss Dawson lehrte mich das Tischgebet, das ich seit bald 70 Jahren in mich hinein sage. Es kam mir zu Nutzen  : Als Botschafter in London hatten wir den anglikanischen Erzbischof von Canterbury und Primas von England gemeinsam mit dem päpstlichen Delegaten, Monsignore Ighino Cardinale, zu Tisch. Überschäumend vor Höflichkeit, schanzten die beiden mit deferenten Gesten einander das Vorrecht des Tischsegnens zu. Keiner gab nach, und die Suppe erkaltete. So sprang ich ein und sagte Miss Dawsons englischen Spruch. Der anglikanische Erzbischof bemerkte, dass er wörtlich den nämlichen seit 70 Jahren gebrauche. Mit Louise de Bettigny hatten wir eine geschichtliche Heldin im Hause. Sie war hysterisch und hasste Fräulein Novak mit Ingrimm. Das brachte sie uns Kindern näher. Im Weltkrieg trug sie geheime Nachrichten durch die Fronten in Flandern. Sie wurde ertappt und von der Feldgendarmerie verhaftet. Gefesselt marschierte sie mit anderen Gefangenen die Straße entlang, als der Oberstkommandierende der Heeresgruppe, Herzog Albrecht von Württemberg42, vorbeiritt. Louise sprang vor und rief ihm zu, sie habe mit ihm bei meinen Eltern in Böhmen Bridge gespielt. Tatsächlich war Herzog Albrecht als Jagdgast auf der Adlerburg gewesen  ; ob Mademoiselle de Bettigny seine Partnerin gewesen, bleibe dahingestellt. Der Generalfeldmarschall ordnete ihre Befreiung an. Louise war aber unentwegt. Wieder schmuggelte sie Nachrichten durch die Reihen der kämpfenden Armeen, wurde neuerlich festgenommen und zum Tode verurteilt. Aus der Todeszelle erhielt Mama ein Telegramm mit der Bitte um Rettung. Eine Intervention im Wege des österreichisch-ungarischen Botschafters in Berlin, Prinz Hohenlohe43, kam zu spät, und Louise de Bettigny wurde hingerichtet. Ihr Denkmal steht in ihrer Heimatstadt Lille. Die vorstehende Geschichte kann ausführlich in der Schrift »L’Héroine« nachgelesen werden. Eine gemütliche Erscheinung unter den Erziehern war Monsieur le professeur Aristide Oudin, Lehrer an der Prager Handelsakademie und gewesener Sekretär des gewesenen Privatsekretärs des verewigten Grafen von Chambord.44 Vater lud Professor Oudin allsommerlich über die Ferien ein, weniger, um uns ein reineres Französisch als jenes unserer »Maamsels« beizubringen, als vielmehr, um bei den alljährlichen Kostproben des zu bestellenden französischen Weins sein autoritatives Urteil abzugeben. Bei diesem Anlass endete Monsieur Oudin meist unter dem Tisch, was im Hinblick auf seine Korpulenz nicht ungefährlich war  ; aber mit  : »Es war ja nur ein kleines Schlagerl« abgetan wurde. Eine weniger heitere Gestalt war mein Hofmeister der Untergymnasialzeit, Herr Sieghart Janku. Dieser Lausitzer Wende führte sich bei mir mit der Frage ein  : »Man

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sagt mir, Sie hätten blaues Blut. Darf ich da von Ihnen verlangen, dass Sie lateinische Vokabeln auswendig lernen  ?« Herr Janku war sehr arm und besaß auf dieser Welt nichts anderes als einen Zwicker und einen schwarzen Wintermantel, den ihm sein Vater, ein Schneidermeister in Breslau, mit auf den Weg gegeben hatte. Herr Janku bemerkte bald den Wohlstandsabstand zwischen der väterlichen Schneiderei und dem allerdings allmählich erblassenden Glanz eines Schlosses in Böhmen. »Wer wird es schon bemerken, wenn aus den Vitrinen des Schlossganges die eine oder andere Porzellanfigur abgängig ist  ?« Niemand wurde in der Wespenau des Porzellanschwundes gewahr. Erst als Herr Richter, der getreue Rahmenmacher und Antiquar in der Prager Ferdinandstraße, nachfragte, ob denn Mutter wirklich bereits in derart katastrophale finanzielle Nöte verfallen sei, dass sie Porzellan verkaufen ließe, wurde Nachschau gehalten. Niemand im Schloss wusste genau, wie viele Figuren in den Glasschränken gestanden hatten  ; nur aus den Staubrändern auf den Glasplatten konnte gefolgert werden, dass etwas fehle. Es dämmerte  : »Aber da war doch eine Figur des Mädchens mit einem Vogelkäfig gestanden  ! Bestimmt Meissen  ! Ja und wo ist die Marketenderin hingekommen mit dem riesigen Busen  ?« Der Kammerdiener wurde angewiesen, Poli­ zeianzeige zu erstatten. Herr Janku, mein Erzieher, verschwand aber noch, bevor man mit den Handschellen eintraf. Mit Vorstehendem ist die Märtyrerliste unseres Lehrpersonals keineswegs erschöpft, denn es kommen noch dazu  : Zeichen-, Klavier- und Violinlehrer, Tanz-, Turn- und allerhand Aushilfslehrer. Tennis- und Singlehrer bleiben lieber unerwähnt, denn sie waren Eintags- bzw. Einsommerfliegen. Auf diesen Gebieten waren wir allesamt derart unbegabt, dass die Herren nie wieder erschienen. Am kulturpolitischen Ergebnis gemessen, war der Aufwand von so viel Pädagogik reinste Verschwendung  ; eine reich bemessene Aussaat, die keinerlei Früchte trug, weil die Vorsehung sie erst im Postdilu­ vianischen aufgehen ließ. Auf Überlebtes war sie abgestellt. Die Zielsetzung der Erziehung, welche die Eltern uns Kindern angedeihen ließen, kam in einem Satz im Testament unseres Vaters zum Ausdruck  : er erwarte von seinen Söhnen, dass sie entweder der Kirche oder dem Kaiser dienten  ; dem Kaiser im Waffen- oder im Beamtenrock. Also, die Buben sollten Priester, Offiziere oder Hofräte werden. Zieht man die geistige Ausrichtung des väterlichen Hauses in Betracht, so ist dies weiter nicht verwunderlich. Man war eben, was man war  ; und das durch Gottes und Habsburgs Gnaden. Das vom Katechismus einexerzierte Gewissen schrieb in sittlicher Beziehung das Betragen einer streng konservativen römisch-katholischen Familie vor. Die im Habsburgerstaat über die Jahrhunderte gewachsene Rechtsordnung war Garant des ererbten Besitzes. Der Dienst am Kaiser und am Staat trug zur Bewahrung des goldenen Status quo bei. Das Lehrprogramm der Söhne war darauf abgestellt, aus ihnen Beamte und Gutsverwalter zu machen. Den Töchtern aber wurde das eingetrichtert, was sie zu begehrten Frauen von Gutsbesitzern, vielleicht gar von Ministern und Botschaftern machen konnte. Im

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Nichtanbringungsfalle sollten sie Klosterfrauen oder, was weniger asketisch war, Stiftsdamen werden. Dass es andere, sogenannte freie Berufe gibt, dass man sich allenfalls das Leben anders als durch ein Gehalt oder durch eine Rente verdienen konnte, das kam überhaupt nicht zur Erwägung. »Wie wär’s, könnte nicht einer Arzt werden  ?« – »Noch nie vorgekommen  !« – »Ja doch, bei den Thunischen ist einer Chirurg und bei den Schönborns ist einer Augenarzt45 geworden  !« – »Aber die tanzen ja immer gern aus der Reihe  ! Heiraten sogar Portugiesinnen  ! … Kann man davon leben  ?« – »Oder könnte nicht einer Kaufmann werden  ? Der Moritz Lobkowicz46 ist doch, als er abgerüstet wurde, Margarineverkäufer geworden  ! Hat sich nicht geniert  !« – »Nein, kommt nicht in Frage … wir wollen keine Greisler in der Familie  !« – »Oder Bankbeamter  ?« – »Wenn schon, dann natürlich Bankdirektor  ! – Immerhin, der Onkel Adolph war ja der erste Präsident der Creditanstalt – er wurde es aber nur, weil er Hauptaktionär war. Er fuhr einmal alle drei Monate zur Aufsichtsratssitzung nach Wien, hatte aber keine Ahnung vom Bankgeschäft  ! Nein  ! Als kleiner Bankbeamter hinter dem Schalter sitzen, Zinsen berechnen für Einlagegelder, Couponfälligkeiten wahrnehmen, Kurszettel studieren, Kreditwürdigkeiten prüfen  …« – »Geldverleihen ist ja eine Sünde  ! Von der Kirche verboten. Wurden nicht die Geldwechsler aus dem Tempel vertrieben.« – »Wir in der Kompanie von Börsenmaklern … Die landen schließlich alle im Kotter  ; außerdem sind sie ja viel geschickter als wir und hauen uns bestimmt über die Ohren  !« – »Nur keine Geldgeschäfte machen  ! Im Hause überhaupt nicht von Geld reden  ! Das ist unfein  !« So lauteten ungefähr die Gespräche, die im erweiterten Familienkreise über die Berufswahl der Kinder abgehalten wurden. »Wahl« ist ein euphemistischer Ausdruck, denn im Antediluvium wurden die Buben in den Dienst kommandiert, die Mädeln verheiratet. Mutter hatte uns den Rat erteilt  : »Kinder, ihr müsst mit gutem Beispiel vorangehen  !« Eine vornehme Betragensregel  : Andere nachziehen auf der Leiter der Ethik  ! War das Hypokrisie  ? Nur zum Teil, denn man war ja wohltätig, besuchte barmherzig Kranke und Witwen, tat sonntags reichlich in den Klingelbeutel. Aber waren das nicht, zum Teil wenigstens, liturgische Gesten, homöopathische Beschwörungsformeln, mittels derer wir in unserem unterbewussten Unbehagen jedwede Umschichtung, vorab die allseits angekündigte Revolution, aufzuhalten trachteten  ? Die edlen Grundsätze unserer Prinzenerziehung verklangen bald im Überlebten. Dass sie hinsichtlich der Charakterbildung nicht ganz wirkungslos geblieben sind, zeigte sich in der Art des Reagierens auf die neuen, von Energie geladenen Revolu­ tionswellen. Man hatte Würde gelernt und Unvermeidliches mit Mut zu ertragen. Unsere übersättigte Vorkriegserziehung hatte aus uns vielleicht Männer und Frauen gemacht, die sich im Völkerchaos der Monarchie bewährt hatten. Von vornherein zuoberst gestellt hatten wir das Althergebrachte mit Anstand und Unparteilichkeit zu bewahren gewusst. Wir waren aber nicht dazu ausersehen, zuunterst zu stehen, uns von

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unten hochzuarbeiten und überdies wegen unserer Geburt benachteiligt zu werden. Wir waren auf politische und wirtschaftliche Verhältnisse zugeschnitten worden, die verschwunden sind. Unser Unglück war, dass wir Vergangenheit mit Gegenwart vertauschten, dass wir Zukunft im Vergangenen suchten. Erzherzog Franz Ferdinand Das Folgende will keine Lebensbeschreibung des Erzherzogs Franz Ferdinand47 sein. Nichts liegt mir ferner, als seinen Biografen unter die Arme greifen zu wollen. Mit diesen Zeilen will ich bloß eine Lanze brechen für das Erinnerungsbild des Thronfolgers und Euch gewisse Schlaglichter vermitteln, die ich den Erzählungen meiner Mutter, namentlich aber meines Freundes Max Hohenberg, des ältesten Sohnes des Erzherzogs, entnommen habe. Ein menschlicher, sympathischer Charakter erscheint auf der Bildfläche. Eine Menge, von vielen als enigmatisch oder aggressiv betrachteter Charakterzüge findet ihre Erklärung in der Lebensweise, in der Gedanken- und Gewohnheitswelt der Gesellschaftsklasse, innerhalb welcher der Erzherzog sich bewegte, wo er Anregungen und Gegenrede suchte. Mit diesen seinen Freunden teilte er Liebhabereien und Passionen  ; unter ihnen, namentlich im gemächlichen Landleben auf den böhmischen Schlössern, fühlte er sich geborgen. Hier lud er die Batterien, die seinem Handeln und Planen Energie zuführten. Man unterschätzt leicht den Einfluss, den das Privatleben auf die Gestaltung des Charakters eines Menschen und auch auf die Richtung, die an Scheidewegen eingeschlagen wird, ausübt. Andere Richtungen, andere Farbe nimmt das Denken im nichtberuflichen Dasein ein, im täglichen Hin und Her, im Familienkreis, bei Sport, im Klub, im gesellschaftlichen Verkehr. Die Hintergründe eines Wesens sind mächtiger als die Vordergründe. Nicht leicht ist es daher, die Methoden zu ergründen, die zum Erreichen von vorbestimmten Zielen eingesetzt werden. Wollte man ihre Gedanken erraten, ihre Entscheidungen voraussehen, tut man gut daran sich Haus und Hof vorzustellen, in dem sie aufgewachsen waren. Franz Ferdinands Eigenschaften, seine Neigungen und Fehler, waren jene des österreichischen Hochadels, namentlich des böhmischen und nicht jene der Wiener Hof­ gesell­­schaft, die er nicht mochte. Traditionell österreichisch waren sein militärisches Wesen, seine Kunstliebe, die Vornehmheit der Gesinnung  ; gut böhmisch der Familiensinn, die Liebe zu Heim, Wald und Blume, die Passion zur Jagd. Die Geschichtsschreiber dichten ihm eine an Paranoia grenzende Jagdleidenschaft an. Gewiss, er war, was man zu nennen pflegte, ein »Schießer« und er brachte es in diesem Sport zu richtiggehender Virtuosität. Aber die Leidenschaft des Schießsportes war allen böhmischen Granden eigen. Viele taten überhaupt nichts anderes, als tagein, tagaus auf die Jagd zu gehen. Man

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fand in Böhmen diese Vernachlässigung aller Pflichten, nur um sich ganz dem Jagdsport hinzugeben, gar nicht anstößig. Wenn der Thronfolger in diesem Sport es allerdings sehr weit getrieben hatte, so vergaß er darüber nicht, dass er zu Höherem bestimmt war und, dass er sich gründlich für seine künftigen Aufgaben vorbereiten müsse. Franz Ferdinands ganzes politisches Sinnen und Trachten war auf die Erhaltung und den Zusammenhalt der Monarchie gerichtet. Der nationalistische Obstruktionismus, den die Ungarn allen einigenden Bestrebungen des habsburgischen Wien entgegensetzten, mag den Erzherzog bei der Planung künftiger Regierungsmaßnahmen dazu bewogen haben, mit dem Gedanken eines bewaffneten Eingreifens in Ungarn zu spielen. Dieses ihm gewiss unliebsame Spektrum steht in keinem Gegensatz zu seiner zutiefst verwurzelten Überzeugung, dass ein Krieg nach außen unbedingt zu vermeiden sei. Franz Ferdinand war viel zu sehr Realpolitiker, als dass er nicht die Lebensgefahr erkannt hatte, die jede kriegerische Verwicklung für den Bestand der brüchigen Monarchie bedeuten musste. Die Nieten, welche die ererbten Königreiche und Länder zusammenhefteten, waren brüchig. Krieg führen wäre Wahnsinn. In allererster Linie musste in den Augen Franz Ferdinands daheim Ordnung und Festigung geschaffen werden  ; zudem eine verlässliche, wohl disziplinierte Armee, mehr zur Abschreckung als zum Angreifen bestimmt. Ohne Frieden konnte das vom Thronfolger geplante Rekonstruktionswerk am Gesamtgebäude der Monarchie nicht durchgeführt werden. Es ist gänzlich abwegig, Franz Ferdinand als Säbelrassler mit Kaiser Wilhelm II. zusammenspannen zu wollen. Wohl bestanden enge persönliche Beziehungen zwischen den beiden Männern. Der österreichische Thronfolger war sich, angesichts der Kräfteverhältnisse unter den europäischen Staaten, der Unentbehrlichkeit des deutschen Bundesgenossen für den Bestand der Monarchie bewusst, dies hinderte aber Franz Ferdinand keineswegs, gegen den deutschen Kaiser misstrauisch zu sein und ihn im Grunde nicht zu mögen. Er hielt ihn für einen Maulaufreißer und eitlen Abenteurer. Meine Mutter erzählte mir von einem höchst ungemütlichen Jagd-Séjour in Kono­ pist.48 Um aufzutrumpfen, hatte sich Kaiser Wilhelm den Großadmiral Tirpitz49 und den Reichskanzler Bethmann-Hollweg50 mitgebracht. Franz Ferdinand soll verärgert gewesen sein und versäumte keine Gelegenheit, seinen hohen Gast »anrennen« zu lassen  ; man nutzte den Augenblick, um den hohen Gast in Verlegenheit zu bringen. Mein Vater, der selbst leicht bewusste oder unbewusste Gaffen beging, wurde von Franz Ferdinand dazu angestiftet, dem Kaiser solche Gruben zu graben, in die er zum Gaudium der versammelten Jagdgesellschaft prompt hineinfiel. Die Parketten der böhmischen Schlösser waren allerdings besonders glatt. Konventionen unter dem Adel gab es in Hülle und Fülle. Ein »Piefke« – und als solcher galt Wilhelm II. in vollem Ausmaß – konnte einfach nicht wissen, was als »tabu« galt, von welchen Dingen man nicht redete, welches Betragen das korrekte war, von der Haltung des Suppenlöffels angefangen bis zur seitlichen Reichweite des Schwänzelns, zur Schuhform und zum Betonen des

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»Ichs«. Die harte Verurteilung, die Wilhelm II. seitens meiner Mutter erfuhr, legt mir allerdings den begründeten Verdacht nahe, dass Seine Majestät ihr allzu scharf den Hof gemacht hat, eine Anbiederung, für die sie absolut unzugänglich war. Franz Ferdinand hatte einen aufbrausenden Charakter. Ich war zehnjährig Zeuge eines seiner Wutausbrüche, dessen Ursachen ich allerdings erst viel später verstand  : Jahrhundertfeier der Völkerschlacht von Leipzig, 18. Oktober 1913  : Anschließend an die Enthüllung des großen Denkmals fand ein Festakt am Gedenkstein statt, den die Söhne des Feldmarschalls Schwarzenberg ihrem Vater auf dem sogenannten Feldherrnhügel bei Propstheida errichtet hatten, genau an der Stelle, wo der Oberstkommandierende der alliierten Armeen um 3 Uhr Nachmittag den drei Monarchen die Meldung vom Siege überbrachte. Zu dem Festakt bei Propstheida waren sämtliche männlichen Mitglieder der Familie Schwarzenberg aufgeboten worden. Anstelle meines kurz vorher verstorbenen Vaters hielt mein ältester Bruder Kary die Rede. Kaiser Wilhelm gab mir, dem einzigen Zivilisten in der martialischen Versammlung, die Hand  ; der König von Sachsen51 tätschelte mir die Wange, was mich entsprechend empörte. An der eigentlichen Feier am Völkerschlachtdenkmal – dessen Form an südindische Hindutempel gemahnt – nahm ich, weil uneingeladen, nicht teil. Ich verbrachte sie am Kutschbock neben dem Fiaker, der uns beigestellt worden war und der mich mit viel Bier traktierte – mit traurigen Folgen. Eben diese Feier mit einer anmaßenden und, hinsichtlich des Beitrags Österreichs, taktlosen Festrede des Leipziger Bürgermeisters Dr. Thieme als auch das ununterbrochene Bramarbasieren Kaiser Wilhelms, brachten den Thronfolger Franz Ferdinand in Rage. Als ob der Sieg von Leipzig und das Ende der Herrschaft Napoleons ein ausschließlich preußisches Verdienst gewesen wären  ! Weder die Leistungen der österreichischen Armeen noch jene Russlands wurden gelten gelassen. Das verärgerte auch den Führer der unabsehbar zahlreichen russischen Delegation, den Generalstabschef Suchomlinow52. Dieser wohnte im gleichen Hotel wie wir, stolzierte im Vestibül herum und jagte mir mit seiner von lauter Gold, Bändern und Sternen strotzenden Uniform heillosen Respekt ein. Die Russen wollten offenbar die Deutschen beeindrucken, und die Deutschen wollten die Österreicher vom Ruhmesblatt der Völkerschlacht wegradieren. Alles das ließ Franz Ferdinands Kragen platzen (wie das so schön auf berlinerisch heißt). Die gelegentlichen Wutausbrüche des Thronfolgers beeinträchtigen aber keineswegs das Bild, das ich von diesem außergewöhnlichen Menschen im Herzen bewahre  : Ein Mann der Tat und der Ordnung, dem die Erhaltung des Bandes, das die Völker der Monarchie zusammenhielt, über alles ging, »über alles in der Welt …« Nach Königgrätz 1866 war der »Ausgleich« mit Ungarn von 1867 gekommen. Die Ungerechtigkeit in der Verteilung der nationalen Rechte in der Donaumonarchie, namentlich in verwaltungsrechtlicher Beziehung, wurde zu einem andauernden und unerträglichen Übelstand. Franz Ferdinand schwebte ein Traumbild vor, in welchem

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keines der Völker, die zu regieren er bestimmt war, über ein anderes dominieren sollte. Angesichts der faktischen Machtverhältnisse im sozialen wie im wirtschaftlichen Bereich war dies eine Utopie, die durch einen bloßen Machtspruch des Garanten der Einheit des Reiches, nämlich des Kaisers und Königs, schwerlich realisiert werden konnte. Der Natur des impetuosen, aber grundaufrichtigen Thronfolgers lag die Tendenz jener Reichsverfassung nahe, die nach dem ersten Ministerpräsidenten Kaiser Franz Josephs, nach Felix Schwarzenberg53 benannt ist und nach der 1848er Revolution »auf oktroyiert« worden war. Jedem Monarchen dürfte die Idee des Einheitsstaates sympathischer sein als eine fortschreitende Zerfransung des von Gottes Gnaden Ererbten. Die verfassungsrechtliche Stellung des österreichischen Kaisers und Königs war bei Weitem nicht so beschränkt. Dazu kam das große persönliche Prestige des uralten Franz Joseph, das so manchen Revoluzzer verstummen ließ. Franz Ferdinand fehlten aber dieses Prestige und die Popularität. Die Perspektiven für seinen Regierungsantritt waren düster. Mag sein, dass es unvermeidlich zum Weltkrieg gekommen wäre  ! All zu sehr hatte der Weltmachtstraum die Nemesis herausgefordert. Kanonen und Granaten werden nicht zum Rosten gestapelt. Ein anderer Anlass hätte die Lunte entzündet. Nur, weil er »das Fürchten nicht lernen« wollte, weil ihn die Pflicht nach Bosnien gerufen, hörte Franz Ferdinand nicht auf die Warnungen und schob die Vorzeichen als Aberglaube beiseite, die seinen Untergang ankündigten. In Konopist zeigte mir Max Hohenberg einen ausgestopften Gamsbock. Mit diesem habe es folgende Bewandtnis gehabt  : Im Blühnbacher Jagdrevier des Erzherzogs tauchte im Winter 1913/14 eine Albino-Gemse auf. Der Jägerglaube will es nun einmal, dass das Töten jedweden weißen Wildes Unheil nach sich zieht. Der Erzherzog wollte vermeiden, dass diese Gemse sich vermehre. Es erging der Auftrag, den weißen Bock zu erlegen. Kein Jäger fand sich hierzu bereit. Über die Gehorsamsverweigerung aufgebracht, erklärte der Erzherzog, er fürchte sich nicht vor diesem Aberglauben und werde selbst den Bock zur Strecke bringen. Unter den Jägern herrschte Konsternation. Der Jagdherr wurde kniefällig beschworen, ja nicht auf das weiße Tier auszuziehen. Nichts half  : Er erlegte die weiße Gams. Sechs Monate später hielten die gleichen Jäger in Artstetten Totenwache um die Särge der Opfer von Sarajevo. Hinsichtlich des Verhältnisses der Monarchie zu Italien teilte mein Vater die Ansichten des Thronfolgers. Die Einstellung des Kaisers war undurchsichtig. Nie hatte Franz Joseph den Verlust der Lombardei und Venetiens verwunden. Franz Ferdinand hörte auf seine Militärkanzlei, und diese sagte für den Ernstfall das Ausspringen Italiens aus dem Dreibund voraus. Italien habe die Schlachten meist verloren, diplomatisch jedoch die Kriege gewonnen, denn es wusste sich immer geschickt aus der Schlinge zu ziehen. Der Generalstabschef Conrad von Hötzendorf 54, von dem Franz Ferdinand sehr viel hielt, redete einem Präventivkrieg das Wort. Der Kaiser war nicht dafür zu haben. Aber ist ein Präventivkrieg, wenn es sich um eine Existenzfrage handelt, un-

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moralisch  ? Ist heute etwa Israel deshalb zu verdammen, weil es sich wehrt, wenn seine Existenz bedroht wird  ? Soll ein Staat mit offenen Augen lieber den Untergang wählen, als zu einem Zeitpunkt zu den Waffen zu greifen, da ein Selbsterhaltungskrieg noch eine Erfolgschance hätte  ? Wohl war die Donaumonarchie im Jahre 1914 nicht mehr zu retten  ; selbst ein Präventivkrieg gegen Italien hätte ihre Auflösung nicht hintangehalten. Ihn erwogen zu haben, darf aber einem pflichtbewussten Generalstabschef nicht verübelt werden. Solange der Begriff des Angriffskrieges nicht eine befriedigende, von der Staatenfamilie angenommene Definition gefunden hat, so lange vor allem die Ursachen der weltweit bestehenden Ungerechtigkeiten und Feindschaften zwischen den Völkern nicht gründlicher untersucht und auch beseitigt werden, solange dürften weiterhin alle sonoren Verzichte und Verdammungen des Krieges als Mittel zur Lösung von Konflikten wenig fruchten. Wer kräht heute noch nach dem Briand-Kellogg-Pakt  ?55 Hat der Völkerbund bessere Resultate erzielt  ? Hat die Charta der Vereinten Nationen den Krieg zu bannen vermocht  ? Wie sieht es heute aus  ? Alles Morden, Bombardieren, Heckenschießen wird beileibe nicht »Krieg« genannt, denn die Vereinten Nationen ­halten Feigenblatter über die eiternden Wunden am Körper der Menschheit. Die Frage bleibt offen  : Ist ein Präventivkrieg unmoralischer als ein auf Vertragsbruch beruhender Krieg  ? Die Antwort lautet ähnlich wie hinsichtlich des Begriffes »Hochverrat«  : Wenn er Erfolg hat, ist es eine Heldentat. Misslingt er … Zu den häufig an Franz Ferdinands Tafelrunde diskutierten Fragen gehörten der Dreibund und das Verhältnis zu Deutschland. Gefühlsmäßiges spielte da eine große und gefährliche Rolle. Der Adel verdankte seine Existenz dem Hause Habsburg. Er hing am Traditionellen, an vergangener Glorie. Ein objektives, in die Zukunft blickendes Urteil hatten nur wenige. Nein, man konnte die Preußen nicht leiden  ! Und die Großdeutschen im eigenen Land auch nicht. Bismarck war der Inbegriff allen Übels. Großmütig hatte er die Habsburger Monarchie im alten Glanz bestehen lassen, hatte sich sogar mit ihr verbündet, und die beiden Kaiser wurden verbrüdert. Wie sehr es sich um eine Societas Leonina handelte, wurde im Ersten Weltkrieg offenbar  ! Unvergesslich ist für mich ein Jagd-Séjour des Thronfolgers bei meinen Eltern. Die übrigen Gäste waren des Erzherzogs intime Freunde aus Böhmen, die er nach Kono­ pist einlud und mit denen er gern jagte  : Ottokar Czernin, Heinrich Clam-Martinic, Erwein Nostitz56, Ernst Silva-Tarouca57, Alphy Clary-Aldringen58, ein Verwandter sowohl der Herzogin von Hohenberg als auch meines Vaters aus dessen erster Ehe. Mit Freuden kam der Erzherzog auf das Schloss meines Vaters, den er – wie Max Hohenberg mir bestätigt hat – im Falle seines Regierungsantrittes als Ministerpräsidenten in Aussicht genommen hatte. Von langer Hand und minutiös waren die Vorbereitungen für das Herbstereignis getroffen worden. Frischer Hummer und Kabeljau waren über Lippert in Prag bestellt, eine kostspielige und ernste Sache, denn es gab damals keine

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Kühlwaggons, und der Weg von der Nordsee bis zu uns böhmischen Hinterwäldlern war weit. Die besten Jahrgänge von Rhein- und Burgunderweinen waren von Professor Oudin, unserem Prager Französischlehrer, ausgewählt worden. Die Valetei erhielt neue Livreen, die Kutscher bekamen neue Mäntel. Ein eigenes Jagdabzeichen, auf die Hüte aller Schützen und Heger zu stecken, wurde geprägt. Sogar eine Jagdfanfare wurde vom Regens chori der Dekanatskirche in Mirowitz komponiert, vorzutragen im Schlosshof als Weckruf von den Bläsern der Stadtkapelle aus Pisek. Mutter ließ sich zwei neue Abendtoiletten aus Wien kommen, die eine mit, die andere ohne Schleppe. Vater ist besorgt, der »Erzherzog Franz« werde hinsichtlich der Fasanenstrecke nicht auf seine Rechnung kommen. Vater war zwar wie jeder böhmische Gutsherr begeisterter Jäger, doch widmete er als aktiver Politiker und gewissenhafter Verwalter seiner Besitzungen lange nicht so viel Geld und Zeit der Aufzucht des Wildstandes, wie dies gewisse andere Jagdmagnaten in den Kronländern zu tun gewohnt waren. Wenn »bei uns« am ersten Jagdtag im Revier Vrabsko »nur« rund 1.200, am zweiten in Zbenic 1.100 und im Schlossrevier nur 450 Fasanen erlegt wurden, so ließ sich Erzherzog Franz, der an mehrere tausend täglich gewohnt war, nichts anmerken. Er war bei blendender ausgelassener Laune. Mir Neunjährigem steckte er eine Zigarre in den Mund und fragte, ob ich nicht auch fände, dass das Bier aus Vaters Brauerei nach Medizin schmecke. »Und erst Euer Zaluzaner Käse  ! Dein Vater behauptet, es sei Camembert  ! Ich finde, er erinnert an den Geschmack Eurer Karpfen  !« Papa blieb die Antwort nicht schuldig und hänselte Kaiserliche Hoheit mit der Bevorzugung von Seefischen gegen­über den biederen, aber einträglicheren böhmischen Süßwasserfischen  : »Immer Austern, Hummer und Kabeljau  ! Das ist eine Folge der Seemachtsfiktion von ­Eurer Kaiserlichen Hoheit  ! Was braucht denn die Monarchie eine Kriegsmarine  ? Wir sind eine Landmacht und unser Gerstl reicht gerade noch für die Armee. Die Adria hat es Eurer Kaiserlichen Hoheit angetan  !« Im dialektischen Eifer konnte mein Vater schrecklich taktlos werden  : »Und weil Sie die Perlenschnüre der Erzherzogin alljährlich in Miramar59 ins Meer hängen lassen, damit sie die lebendige Farbe behalten – ich glaube natürlich nicht an diesen Schwindel –, gelingt es Ihnen, den ganzen Hof für Ihre Seekriegsspielerei zu gewinnen  !«  – »Davon verstehen Sie nichts, mein Lieber«, replizierte gutmütig der Erzherzog, »wir müssen Triest ausbauen und auch unseren Überseehandel, namentlich in die Levante. Aber das ist ja Chinesisch für Sie. Sie können ja nicht einmal schwimmen und trauen sich kaum auf ein Schinakl60 bei der Entenjagd  ! Wir brauchen nun einmal eine Flotte im Mittelmeer. Tegetthoff 61 hat uns den Weg gezeigt.« – »Aber hören Sie mir auf mit den siegreichen Seeschlachten  ! Am Ende kommen Sie mir noch mit dem Lepanto62 und dem Don Juan.63 Der war doch nicht einmal …« Da zwickte Mama Vater in den Arm. Sie spürte, dass man sich einem delikaten Problem näherte. »No ja, in Gottes Namen, den ›Viribus Unitis‹64 werden wir Ihnen in den Delegationen bewilligen«, brummte Vater einlenkend, »der Kaiser hat es

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mir selbst nahegelegt. Wenn sogar Seine Majestät mir sagt, ich müsse beim Stapellauf in Triest anwesend sein, da darf ich keine Faxen machen. Aber dass mir Kaiserliche Hoheit heute abends zum Diner nicht in Admiralsuniform kommen  !« Lebhaft habe ich dieses Diner vor Augen. Nicht etwa, dass wir Kinder an der Tafel teilnahmen. Aber wir waren vorher im Salon anwesend und durften »zur Bischkote« kommen. Das war eine geheiligte Liturgie  : Wenn die Eisbombe mit den obligaten Biskotten serviert wurde, mussten wir Kinder die Tour des Tisches machen, jeder Dame die Hand küssen, jedem Herrn hübsch »Gute Nacht« sagen. Dafür wurde uns jeweils eine Biskotte in den Mund gesteckt. Bei zwanzig Gästen bedeutete das den Ausweg zu wählen, die Biskotte in die Hosentasche verschwinden zu lassen. Mein Festtagsgewand war ursprünglich ein von Mutter bevorzugter englischer Marineur-Anzug. Da dieser aber Papas Marinegegnerschaft desavouierte, was gerade dem Erzherzog gegenüber zu vermeiden war, andererseits aber Mutters Anglophilie Rechnung getragen werden musste, einigten sich die Eltern auf ein sartorisches Plagiat in der Gestalt eines Spencers, wie einen solchen angeblich die Etonboys trugen. Die Schwestern waren schneeweiß herausgeputzt mit schwarzen Strümpfen und Lackschuhen. Das Thronfolgerpaar wohnte in den sogenannten Empire-Zimmern. Die Möbel repräsentierten für uns Kinder das Schönste, das jemals ein Kunsttischler zustande gebracht hat. Zum Galadiner im Teska-Saal waren die Herren im Frack mit Orden erschienen, Vater mit dem Goldenen Vlies, das zur Bestürzung der Fachexperten nicht am korrekten roten Band hing, sondern an einem »Schuhbandl«. Mutter hatte das Diadem mit den Rubinen auf und sah wundervoll aus. Die Türflügel zum Appartement des Thronfolgerpaares wurden vom Kammerdiener Nipl wortlos geöffnet, ohne das hohe Paar anzukündigen. Nipl ging weniger von der Überlegung »eh’ schon wissen« aus als von der korrekten Meinung, dass ein so hoher Herr grundsätzlich und wo immer er sei, als im eigenen Hause befindlich angesehen werden müsse. Alle Anwesenden einschließlich der Gastgeber hatten ihm eigentlich vorgestellt zu werden  ! Er präsidiert selbstredend bei Tisch. Erzherzog Franz war in weißem Generalsrock erschienen. Die Orden auf der Brust glitzerten wie im Auslagefenster eines Juweliers. Die Herzogin glich einem Staketenzaun im Frühling  : Perlenschnüre, eng übereinander gereiht, würgen den Hals und stülpen das Kinn zu einem Erker, Smaragden pressen ihre Köpfe durch das Geflecht der mit Diamanten gepanzerten Brust. Die Gäste beugen sich ehrfurchtsvoll vor der einherschreitenden Pracht. Im Salon wird Sherry herumgereicht. Auf ein Zeichen von Mama, die als besondere Ehrung den Thronfolger auffordert, ihr seinen linken Arm zu reichen, sucht jeder Herr die ihm zugewiesene Dame. Eine ritterliche Handbewegung in Richtung des Speisesaales, die Dame wedelt beflissen mit der Schleppe, und die Paare ziehen hin zum Kerzenwald der Tischleuchter. Wir Kinder zwangen uns hinter die Spanische Wand. Sie sollte die Chinesische Wand heißen nach den Figuren, mit denen sie bemalt ist. Noch

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heute in meinem Besitz, weist sie Löcher auf, die wir zum besseren Hindurchschauen gebohrt hatten. Wir verfolgen mit Spannung das Auftragen der Speisen, versuchen dem verhassten Kammerdiener das Haxl zu stellen in der Hoffnung, dass er mit der Suppenterrine hinfällt. Vergebens  ! Er kennt uns Schlingel zu genau und macht einen Bogen um unser Versteck. Nach einer endlosen Speisenfolge kommt die geschilderte Biskottenzeremonie, der Rundgang, ein Klaps auf den Hintern von kaiserlich und königlicher Hand – und ab ins Bett. Der Séjour dauerte drei Tage. Franz Ferdinand und Vater schienen mit dem Jagd­ ergeb­nis zufrieden – und mit sich selbst. Kaisermanöver Zum letzten Mal trafen sich mein Vater und der Thronfolger Franz Ferdinand ­ n­­ A fang September 1913 anlässlich der Kaisermanöver bei Tabor. Ein unvergess­ liches S ­ chauspiel  ! Es sollte das letzte friedliche Auftreten der glorreichen, in hundert Schlachten erprobten kaiserlichen und königlichen Armee sein, bevor sie in der universalen Auseinandersetzung des Ersten Weltkrieges zerschlagen wurde. Generalprobe für die Götterdämmerung  ! Die Farbenpracht der Kulissen, die Reichhaltigkeit der Kostüme und Attrappen vermochten aber beim Zuschauer das Gefühl nicht zu bannen, dass die Katastrophe unvermeidlich, dass das Schicksal der altehrwürdigen Monarchie besiegelt war. Die gesamte Militärmacht des Reiches schien aufgeboten, um sich und der Welt die Worte des großen Grillparzer an Radetzky zu beweisen  : »In Deinem Lager ist Österreich  !« Aus den fernsten Ecken und Enden der beiden Reichshälften waren die Divisionen aufmarschiert. Ein babylonisches Durcheinander von Sprachen und Volkstypen, zusammengehalten von der Uniform, den Kommandoworten und dem Schwur auf den obersten Kriegsherrn  : den Kaiser. Knieweich einherschreitende Tiroler Kaiserjäger neben den stramm marschierenden Egerländern  ; baumlange Bosniaken, indolent dreinschauende Ruthenen, fidele Wiener Deutschmeister, flott dahertrabende ungarische Husaren. Wie war es möglich, dass ein so zungenbuntes Soldatenvolk sich untereinander verständigte  ? Eine hybride Sprache hatte sich herausgebildet  : das Armeedeutsch. Dank linguistischer Purzelbäume, unterstützt von der Zeichensprache, vermochten schwierigste strategisch-logistische Probleme gelöst und zwischen den in der k. u. k. Armee vertretenen Nationen ein besseres Einvernehmen hergestellt zu werden als durch Dolmetscher und Instruktionen. Kamen etwa beim Marschieren oder im Biwak nationalistische Gegensätzlichkeiten mit allzu polyglotter Lautstärke zum Ausdruck, so ritt der kommandierende Offizier durch die Reihen und schrie das urindogermanische Wort »Kusch  !«. Das verstanden alle.

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Eine über sechzigjährige Regierung hatte Franz Joseph Verständnis für die Eigenheiten seiner Völker und Toleranz gegenüber den Rassen gelehrt. Auch die Juden genossen allenthalben in der Armee, wie auch sonst in der Monarchie, eine Stellung, um die sie ihre Stammesbrüder in so manchen anderen Ländern beneiden konnten. Chargen als Militärärzte oder im Train wurden zwar bevorzugt, dennoch konnte ein Jude in die vornehmsten Regimenter aufgenommen werden und zu den höchsten Rangen aufrücken. Bei den Manövern in Südböhmen wurde der »rote« – mittels eines roten Bändchens an der Mütze gekennzeichnete  – »Feind« vom Feldzeugmeister Auffenberg65 kommandiert  ; die »blaue«, Österreich repräsentierende Armeegruppe von einem Erzherzog, unterstützt vom General der Kavallerie von Brudermann.66 Die Letztere sollte natürlich gewinnen. Bei der abschließenden Manöverbesprechung musste jedoch dem Juden Auffenberg der Sieg zugesprochen werden, ein Schönheitsfehler, der dem oberstkommandierenden Thronfolger zwar einen offiziellen Wutausbruch erlaubte, ihn jedoch insgeheim belustigte. Vater hatte beschlossen, in Entsprechung einer Einladung des Thronfolgers Franz Ferdinand an der großen, die Manöver abschließenden Kavallerie-Defilierung teilzunehmen. Dies musste natürlich hoch zu Ross geschehen und Vater ließ sich von seinen des Reitens kundigen Kindern begleiten. Tirolerhaus, vom Urgroßvater Feldmarschall als Holzbau in dem der Wildschweinjagd bestimmten Kvetover Revier errichtet, lag rund halben Weges zwischen der Adlerburg und dem Manöverzentrum Tabor. Mama und eine meiner weniger reitbegeisterten Schwestern sollten per Wagen versuchen, möglichst nahe an das Defilierungsterrain heranzukommen und mittels der Feldstecher das Schauspiel zu verfolgen. Vater sollte den Schimmel Lina besteigen. Diese Stute hatte einen Riesenschwanz – »Jako šaty« (»wie ein Kostüm«), so kommentierten die Reitburschen – den sie, wenn entsprechend mit der Reitgerte am Bauch gekitzelt und allgemeiner Aufmerksamkeit gewiss, prächtig zu schwingen und wölben wusste. Da Vater in »Zivil« erscheinen würde, mit kariertem Reitrock, braunen Hosen und ebensolchen Reitstiefeln, während die Suite des Thronfolgers aus lauter uniformierten, ordensbetressten Generälen bestehen würde, wollte Vater wenigstens mit seiner kara­ kollierenden Lina aufstampfen können. Schwester Wilhelmine werde ihren Brown Boy reiten, einen Wallach, der gern bockte, was wiederum meiner Schwester Gelegenheit gab, ein Aufbäumen ihres Streitrosses zu provozieren, ihm eines zwischen die Ohren zu versetzen, die Sporen zu gebrauchen und siegreich aus der Auseinandersetzung mit Brown Boy hervorzugehen  : allgemeiner Applaus erwartet  ! Bruder Erni wurde ein Fuchs bestimmt, und mein »Kiebitz«, ein unermüdliches Doppelpony, sowie einige Reservereittiere beschlossen das zum Treffpunkt nahe Tabor voraus depeschierte Rudel. Abfahrt vierspännig von der Adlerburg nach Tirolerhaus. Vor dem verschlossenen Gattertor des Reviers Kvetov die traditionelle Ansammlung der Dorfjugend, der jeder Wageninsasse eine Handvoll Münzen, Kreuzer und 10-Hel-

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ler-Stücke zuwerfen musste. Große Balgerei um die Münzen, worauf das Tor geöffnet wurde. Der Sekretär Batek hatte dafür zu sorgen, dass jedes von uns Kindern vor der Abreise mit mindestens 30 Stück Kleingeld ausgestattet wurde. Papa warf Einkronenstücke. Da die Balgerei um diese besonders heftig zu entbrennen pflegte, zum Schaden der Bekleidung, weil ferner einmal eine Beschwerde im fürstlichen Rentamt wegen einer zufolge allzu wilder Rauferei völlig zerrissenen Hose einlangte, war der Revierförster von Kvetov ermächtigt, die Kosten beschädigter Kleidungsstücke und allfällig notwendigen Verbandzeugs bis zu einem festgesetzten Höchstbetrag unter der Verrechnungsrubrik »Deputate« zu ersetzen. Übernachtung der Familie im Tirolerhaus  ; morgens frühe Messe in der kleinen Holzkapelle im Wald. Abfahrt, wieder vierspännig, in drei Wagen zum Treffpunkt auf der Straße von Mlinov nach Tabor. Der letzte Manövertag war, wie bestellt, sonnig und heiß. Wir ritten an Truppenund Artilleriekolonnen entlang über Stoppel- und Kartoffelfelder ohne Ende. Am wolkenlosen Himmel kreisten Doppeldecker, mit denen die Armee erstmalig ausgestattet worden war  ; erstes Auftreten der neugeschaffenen österreichisch-ungarischen Luftwaffe. Ohrenbetäubendes Rattern, häufige Fehlzündungen. In kaum tausend Meter Höhe schienen die Flugzeuge nur zu kriechen, Zielscheiben für jeden Kugelschützen. Wir sahen schwitzende Infanteristen in Schwarmlinien vorgehen, wieder zurückgehen und ohne sichtbaren Grund wieder vorrücken. Dann hörte man es von irgendwoher donnern. Das war wohl Geschützfeuer, und den wandernden Infanteristen wurde befohlen, sich niederzulegen. Dann galoppierte ein Détachement Kavallerie herbei, über die am Boden ausgestreckten Infanteristen hinweg, d. h. sorgfältig zwischen den Reglosen hindurch, um ja niemandem wehzutun. Zur Illustration dieses geheimnisvollen Vorgangs zitiere ich aus dem Tagebuch67 von Onkel Felix68, dem nachmaligen Divisionär an der italienischen Front, eines hervorragenden Offiziers und ganz besonders wertvollen Menschen  : »Als ich im Jahre 1905 die Kaisermanöver bei Stekna mitmachte, fand am letzten Tag ein Angriff gegen eine vom Verteidiger besetzte kahle Höhe statt  : Vom Spaten machten natürlich weder Angreifer noch Verteidiger Gebrauch. Mein Vetter Karl Schwarzenberg, der unter den Zuschauern stand, war von dem Anblick des rollenden Massenangriffs hingerissen und sagte zu dem neben ihm stehenden japanischen Militärattaché  : »Na, wie gefällt Ihnen das  ?« – »Wer nicht gräbt, ist tot«, entgegnete der Japaner, dessen deutscher Sprachschatz wohl für eine längere Erklärung nicht hinreichte, der aber damit das Wesentliche gesagt hatte. Bei den Breslauer Kaisermanövern sah ich immerhin den Spaten schon einigermaßen verwendet, bei uns, auch im Jahre 1913 bei den Taborer Kaisermanövern, noch kaum. Freilich sprachen bei uns stark die Rücksichten auf die Feldschäden mit. Im garstigen Winkel des Exerzierplatzes wurden ja alle Jahre ein paar Deckungen ausgehoben, ebenso wie Latrinen und Kochgraben, aber in Fleisch und Blut drang der Truppe die Anwendung des Spatens im Gefecht nicht, und das kostete bei Kriegsbeginn viel Blut.«

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Von der Harmlosigkeit des Kavallerieangriffs erholten sich die überrittenen Krieger, indem sie sich aufsetzten und ratlos herumblickten. Die Entscheidung brachten einige Dorfweiber, die Buchteln und Bier herbeischafften  ; Offiziere riefen zwar strenge Verbote, kapitulierten aber vor der Frische des Bieres. Hin und her flitzende Meldereiter hatten es wichtig und eilig. Feldgendarmen wiesen fluchend die Schlachtenbummler weg, nur damit diese sich wieder hinter der nächsten Hecke aufstellten. Vater erkundigte sich bei einem Polizeioffizier nach dem Standort des Manöverkommandos, erhielt einen Hügel gezeigt und galoppierte auf diesen zu, mit uns hinterdrein. Immer mehr Feldgendarmen und berittene Ordonnanzen, Dienstautos mit Fahnen auf dem Kühler  ; zuoberst auf dem Hügel eine weithin sichtbare Fahne  : die Kaiserstandarte. Vater sah richtig autoritär aus mit seiner Melone und dem eindrucksvollen Gefolge von mindestens vier martialisch livrierten Reitburschen. Kein Polizist getraute sich, uns in die Zügel zu fallen. Die schnaubende Lina voran, vollbewusst ihrer Rolle. Wir galoppierten den Feldherrnhügel hinan. Hoch zu Ross, an der Spitze einer Kohorte blitzender Offiziere und klirrender Leibgardisten, befand sich der Thronfolger in Generalsuniform. Einige zusammengebrochene Lafetten mit schief stehenden Kanonenrohren, eine Trommel und etliche Tornister lagen zerstreut herum, den Fotoreportern ein Schlachtfeld vorzutäuschen. Etwa 50 Meter entfernt, hinter einer Schnur, waren die fremden Militärattachés versammelt, alle in großer Uniform, zum Teil exotisch. Der Perser weiß mit viel Gold, der Russe grün mit viel Gold, der Deutsche schwarz mit viel Gold, der Japaner gezwergt von den umgehängten großen Ferngläsern. Nur der Brite in unscheinbarem Beige, ein rotes Band um die Kappe. Vater ritt stracks an den Erzherzog heran, eine Unterhaltung mit dem zu Fuß neben des Thronfolgers Rappen stehenden Statthalter von Böhmen unterbrechend. Onkel Franz Thun trug die flaschengrüne Redingote des Ministerialbeamten, sah trotz Körperlänge, Monokel und Kaiserbart recht deplatziert aus. Lina wurde mittels Schenkeldrucks zwischen berittenem Thronfolger und stehendem Statthalter eingeschoben, und Vater schüttelte, an dem respektlos verdrängten Schwager vorbei, von Sattel zu Sattel Franz Ferdinand die Hand. Kaiserliche Hoheit winkte uns huldvoll zu, und wir reihten uns in das Gefolge ein. Vor unseren Augen spielte sich die große Kavallerie-Defilierung ab, ein unvergesslich großartiges Schauspiel. Zwölf Kavallerieregimenter zogen, zuerst im Trab, dann ein zweites Mal im Galopp, am Thronfolger vorüber. 12.000 Reiter oder mehr  ! Es war anno 1913, ein Jahr vor Kriegsausbruch  ! Parademonturen, kein Feldgrau. Blaue Waffenröcke, rote Hosen, glitzernde Helme, Czapkas, gezückte Säbel, Staubgewirbel, Hufgedonner, Trompetensignale, »Hurra«-Rufe der zisleithanischen Reiter, »Eljen« der Transleithanier. Kein Film kann die Massenwirkung wiedergeben, die Pracht und die verhaltene Dynamik. Machtlose Pracht  ? Wohin geht der Ritt  ? Ins zwecklose Leere  ? Wen täuscht die Illusion der Manöver  ? Vollends den staunenden Knaben  ! Er sah bloß

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die Farben, den Staub, die dahinrasenden Reiter. Das Bild blieb im Gedächtnis haften, ein unauslöschlicher Eindruck. Erst später, viel später, kommt die Frage nach dem Sinn – und die Trauer, dass so viel Hehres vertan werden musste, für Kaiser und Vaterland. Hurra  ! Eljen  ! Gab es da oben auf dem Feldherrnhügel einen, der das Schicksal dieser herrlichen Armee voraussah  ? Der ahnte, wie bald der Probe auf dem Manöverfeld die Tragödie auf der Weltbühne folgen würde  ? Innerhalb eines Jahres wurden die bunten Waffen­ röcke eingezogen, die kecken Reiter in schmutziges Feldgrau gekleidet und zu Hunderttausenden in Eisenbahnwagen verladen. »Für sechs Pferde oder 20 Mann« stand auf jedem gedeckten Frachtwaggon der k. k. Staatsbahnen. Wie viele von den fröhlichen Kavalleristen, die damals bei Tabor an uns vorbeigaloppierten, sind gefallen  ? Wie wenige sind heimgekehrt, geschlagen, gebrochen, einer Existenz entgegengehend, die aussichtslos war, des Lebens nicht wert  ? Im Zelt des Manöverkommandos herrscht Gewitterstimmung. Nur zwei »Zivilisten« sind anwesend  : der Statthalter im grünen Bratenrock und mein Vater im karierten Reitrock mit braunen Reitstiefeln. Der Erzherzog geht fauchend auf und ab. Was war passiert  ? Warum wurde in der Manöverbesprechung der »Sieg« dem General der Infanterie von Auffenberg (dem späteren Sieger von Komarow) zugesprochen und nicht dem Favoriten Brudermann  ? Der ursprüngliche Manöverplan hatte nach klassischem Muster eine frisch-fröhliche Attacke der Kavallerie gegen die in Verteidigungsstellung haltende Infanterie vorgesehen. Von Auffenberg hatte im Hinblick auf die im russischjapanischen Krieg69 gemachten Erfahrungen seine Infanteristen in Löcher eingraben lassen. Die angreifende Kavallerie fegte wohl über diese nicht übermäßig tiefen Schützengraben hinweg, ohne sich von dem mit blinden Patronen schießenden Karabinerfeuer abschrecken zu lassen. Die Infanterie blieb in Druckstellung unbehelligt und reichlich mit Munition versorgt in ihren Löchern liegen. Die Reiterei war ins Leere gestoßen. Es galt als erwiesen, dass im 20. Jahrhundert die Kavallerie gegen eingegrabene, schnell feuernde Infanterie machtlos sei. Die Professoren in der Kriegsschule waren anzuweisen, ihre Taktiklektionen zu redigieren. Der Brudermann’sche Einwand, die Preußen wären bei Königgrätz dank der mutigen Attacke der österreichischen Kavallerie beinahe um den Sieg geprellt worden, wurde mit dem Hinweis auf die inzwischen erhöhte Feuerkraft der Infanterie abgetan. Die Kaisermanöver bei Tabor besiegelten somit das Ende der Kavallerie als taktischer Kriegswaffe. Hatte der Generalstabschef, der geniale Conrad von Hötzendorf, den ursprünglichen Manöverplan ausgeheckt  ? Absichtlich, um vor den fremden Militärattachés die aus traditionellen und aristokratischen Motiven sinnlos geforderte Kavallerie zu blamieren  ? Sähe ihm ähnlich, diesem mephistophelischen Freigeist  ! Kurz, die Dinge verliefen nicht wie der Thronfolger es haben wollte, und im Zelt der Manöverleitung herrschte dicke Luft, als wolle Franz Ferdinand an Conrad von Hötzendorf sein Müt-

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chen kühlen. Dieser verließ das Manöverfeld, entschlossen, seinen Abschied einzureichen. Der Zwist wurde aber bald darauf wieder verpflastert, und Conrad von Hötzendorf blieb Generalstabschef. Der Erzherzog verabschiedete sich von meinem Vater mit der Bemerkung  : »Also, auf Wiedersehen in Konopist bei den Fasanjagden. Hoffentlich haben Ihre Kinder die Defilierung genossen  ! So was werden sie im Leben kaum wieder erleben  !« Das stimmte. Zwei Tage nach Abschluss der Manöver saß ich im dritten Stock der Adlerburg im »Lernzimmer« und mühte mich mit den für die »Prima« des Gymnasiums verlangten gotischen Schriftzeichen ab. Ich war das einzige in der Adlerburg anwesende männliche Familienmitglied. Ein Lakai stürzte herein und stotterte aufgeregt auf Tschechisch, die ganze österreichische Kavallerie sei auf dem Schlossplatz versammelt – ich solle sie zu Pferd in die Familiengruft führen  ! Was war geschehen  ? Oberst von Bleyleben hatte die nette Idee gehabt, sein Dragonerregiment auf dem Heimmarsch über die Adlerburg zu führen und einen Kranz am Grabe des Siegers von Leipzig niederzulegen. Es goss in Strömen. Auf dem Schlossplatz waren rund eintausend Reiter, griesgrämig, weil triefend, in Reih und Glied aufgestellt. Alles wartete auf einen Lotsen. Mein Kiebitz war rasch gesattelt, und ich trabte neben dem gütigen Oberst durch den Park zu der etwa drei Kilometer entfernten Gruft. Auf dem kreisrunden, genau ein Hektar großen Platz vor der neugotischen Familiengruft formte sich das Regiment in geometrischen Kolonnen. Zwei Reiter brachten einen riesigen Blumenkranz mit Schleifen herbei. Trompetensignale. Blasen der Retraitemelodie. Der Oberst steigt ab. Ich folge ihm. Ein Wachtmeister hält meinen Kiebitz und flüstert mir kritisch zu, ich hätte zu kurze Bügel, wolle wohl Jockey werden  ! Begleitet von einer Offiziersdeputation, ziehen wir in die Gruft ein. Der Oberst lässt einen Kranz neben dem Sarg des Feldmarschalls aufstellen, wo er übrigens noch jahrzehntelang zu sehen war. Die Offiziere nehmen »Habt Acht  !«-Stellung ein, verrichten ein stilles Gebet. In stillem Vaterunser, den Helm auf den Säbelknauf gestützt, neigt Oberst Bleyleben das Haupt in Andacht vor dem Sarg des frommen Feldmarschalls und Siegers über Napoleon. Seinem Regiment und sich selbst gelobend, im unvermeidlichen Endkampf der Tradition der österreichischen Armee würdig zu sein im Sinne des Spruches, der auf seinem Säbel eingeritzt war  : »Für Gott, Kaiser und Vaterland  !« Er zeigte mir den Spruch, als wir wieder aufsaßen. Oberst von Bleyleben fiel im Weltkrieg, irgendwo in Wolhynien. Kein Gedenkstein sorgt für Erinnerung. Mit tausend anderen Helden ist er still von der Walstatt gegangen, pflichtgemäß. Einige Tage nach der Kranzniederlegung kehrt Vater sterbenskrank in die Adlerburg zurück, verscheidet unter schmerzhaftem Leiden. Ich erhalte ein Telegramm von Oberst Bleyleben  : »Eingedenk der Stunde, da es mir vergönnt war, vor der Ruhestätte Ihres großen Ahnen gemeinsam ein stilles Gebet zu verrichten, spreche ich Ihnen namens meines Regimentes und im eigenen Namen …«

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Der 28. Juni 1914 Sommer in böhmischer Landschaft, bukolisches sanftes Idyll  ! Ungestört von allem, was vorgeht, schnattern die Gänse auf dem Dorfteich, fluchen die Bauern auf dem Hof. Aus Stauden und Furchen klingt das Zirpen des Feldhuhns. Um die mächtige Linde schwirren ohrenbetäubend die Bienen. Unter ihrem duftenden Dach erfuhren wir die furchtbare Nachricht. Es war ein schwüler, sengender Tag in unserer Wespenau, der Mutter als Witwensitz zugewiesen war. Morgens war ich ins Feld geritten, das Ernten zu sehen. Die Schnitter fräsen mit rhythmischem Schwung Halbkreise in das Dickicht des Weizens. Ausgefächert liegen die Halme harrend der Lese. Die Arme kräftiger Dirnen bündeln die Garben, die Schnur in den Zähnen. Andere Helfer richten die Strohmänner auf. Am Feldrand steht das rauchende Ungetüm  : die neue Maschine zum Dreschen  ! Misstrauisch betrachten sie die Männer, die aus dem Dorfe gekommen sind – zu alt für die Arbeit, aber lang nicht für Kritik und besseres Wissen  : »Der Dreschflegel hat es doch auch geschafft, hatte vielen zum Taglohn verholfen  !« Noch heute liegt mir im Ohr der Viervierteltakt, in welchem die Dreschflegel über das Korn herfielen  ! Eins, zwei, drei, vier, eins, zwei, drei, vier … die Streu flog durch die Luft, Spatzen umlagerten die Tenne, Biergläser machten die Runde. Der Viertakt der Flegel wird nunmehr ersetzt vom Knattern des Motors, vom Surren des Laufbands. Die Spatzen werden immer dabei sein und pfeifen auf Skepsis und Mode. Vom Ernteritt heimgekehrt erfuhr ich, dass Onkel Franz Thun, Statthalter von Böhmen und Schwager meines im vergangenen Herbst verstorbenen Vaters, sich zum Tee angesagt hatte. Er wolle der Hitze von Prag entfleuchen und ausspannen. Es war je Peter und Paul und ein Feiertag. Unter der großen, schattenspendenden Linde im Park wurde der weißgestrichene Holztisch gerichtet, etliche Stühle wurden herbeigeschafft, und der Kammerdiener Jares bereitete eine ausgiebige Jause mit Kipferln und Semmeln, Mohn- und Topfenkolatschen. Mutters bittere Hollermarmelade durfte nicht fehlen. Auch Tete Westphalen70 war vom Nachbargut herübergekommen mit seinen erstaunten Stengelaugen und mit nichts von Interesse zu sagen. Gegen vier Uhr knatterte der Wagen des k. k. Statthalters herbei. Es war ein Dion-Bouton, der bergabwärts  – so hieß es – bis zu 60 Stundenkilometer erreichte. Der riesenhafte Onkel entstieg dem Sitz neben dem Fahrer, in einen endlosen Mantel gehüllt. Er nahm die Staubbrillen ab und setzte sein schwarz gerändertes Monokel ein. Dann strich er den Backenbart zurecht, küsste Mama und kavaliersmäßig sogar diesen Backfischen von Schwestern die Hand. Nun ging es in Prozession, gefolgt von Dienern, Hunden und Gouvernanten, zur großen Linde. Links lag die lange Laube aus gekrümmten Buchenbäumchen. Onkel Franz machte die obligate Bemerkung, welche die verwandtschaftliche Intimität und Kenntnis aller relevanten Familienereignisse bewies  : »Mein Schwiegervater,

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der alte Knize Pan (das war mein Großvater), nannte die Laube »die Angströhre«. Er fürchtete, die Schwiegermutter könne die Drohung wahrmachen, die sie jedes Mal aussprach, wenn er sie ärgerte, und die Laube beseitigen. »Ja, die gute Schwiegermama  ! Sie hatte die Manie des Bäumefällens  ; hatte das natürlich in Frauenberg gelernt wo die gute Go71 das Schloss und den Park von Windsor kopierte.« – »Du hast recht, Franz«, meinte Mama, »die Go hat es wirklich zu weit getrieben mit ihren englischen Parklandschaften. Am liebsten hätte sie den ganzen Böhmerwald in eine Wiesenlandschaft mit einigen verlassenen Bäumen verwandelt. Knorrige Eichen und vereinzelte Fichten wie Christbäume  !« »Das mag für Parforcejagden passen  ! Mir sind Remisen lieber. Da kann man Fasanen aussetzen und die Rehe finden Deckung  !« »Das war auch die Ansicht meines Karls. Der hat mehrere Remisen gepflanzt, wo die gute Schwiegermutter Wiesenflächen angelegt hatte.« »Meine gute Ida  ! Unsere böhmische Landschaft verträgt nicht das viele Durchforsten. Lassen wir die Bäume wachsen, wie sie eben kommen. Wir brauchen keine englischen Parks und kein Windsor. Findest du nicht auch, dass der Erzherzog Franz es in Konopist zu weit treibt mit Fontänen und Millionen von Rosen  ?« »Er macht das doch der Sopherl72 zulieb  ! Wenn sie in der Hofburg vom Goldfasan (so nannte man den Obersthofmeister Fürst Montenuovo73) auf den letzten Platz gesetzt wird, so soll sie doch wenigstens in Konopist wie eine Kaiserin leben können  !« »Mag sein, aber der Erzherzog macht doch zu viel Extratouren  ! Und jetzt  ! Was braucht er denn nach Bosnien zu den Manövern zu fahren  ? Nur um dem Kaiser zu beweisen, dass er keine Angst hat  ? Wenn das nur gut ausgeht  ! Nicht auszudenken …« »Und noch dazu fährt die arme Sopherl mit«, ergänzte Mama, »wenn mein Karl noch leben würde, so hätte er gewiss diese Reise verhindert. Karl wäre stracks zum Kaiser gegangen und hätte verlangt, dass er sie verbietet. Karl hätte das bestimmt durchgesetzt  !« Die Hitze wurde immer drückender, selbst im Schatten der großen Linde. Onkel Franz bat, den Rock ausziehen zu dürfen. »Nimm dir doch auch den steifen Kragen ab  ! Der ist heute ganz deplaciert.« Das Gespräch, dem Gouvernanten und Kinder andächtig zuhörten, plätscherte dahin, harmlos, gemütlich. Man war bei den Marillen angelangt. Tete West hatte sich zur Bemerkung aufgeschwungen, dass seine Marillen mindestens ebenso gut seien wie die von der Wespenau, als fernes Donnern laut wurde. »Das ist wieder so ein Sommergewitter«, meinte Onkel Franz, »da gibt es immer Blitzeinschläge und brennende Strohscheunen.« Da gab es einen neuerlichen Donnerschlag. Mama sagte zum Kammerdiener  : Jene  ! Halten Sie für alle Fälle paar Regenschirme bereit  ! Und man soll meinen Arbeitskorb holen mit dem angefangenen Jumper  ; ich hab ihn beim Tennisplatz stehen lassen, er

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könnte nass werden. Ja, und sagen Sie dem Zimmerwärter, er soll die Fensterläden zumachen. Es könnte hageln  !« Auf der zum Schloss führenden Landstraße wurde eine Staubwolke sichtbar. Ein Auto raste heran. Ein Herr im grünen Bratenrock und mit Kommisskappe stieg aus, sagte ein Wort zum Lakaien, der den Türschlag geöffnet hatte. Im Stechschritt ging es zur großen Linde. Es fielen einige schwere Regentropfen, Mama stülpte einen Teller über die Kolatschen. »Was kann da nur wieder passiert sein  ?«, brummte Onkel Franz, »nicht einmal hier bei euch lässt man mich in Ruhe.« Der Statthaltereibeamte verneigte sich tief und bat, Seine durchlauchtigste Exzellenz allein sprechen zu dürfen. Die beiden Herren begaben sich in die Laube. Nach wenigen Augenblicken kam Onkel Franz wankend heraus und sagte mit heiserer Stimme  : »Das Unglück ist geschehen  ! Der Thronfolger und die Herzogin sind in Sarajevo Opfer eines Attentates geworden. Ich muss unverzüglich nach Prag zurück.« Im gleichen Augenblick ging ein fürchterliches Unwetter nieder und Mamas geliebte Rosen wurden vom Hagel zerzaust – vielleicht auch jene in Konopist  ! So erlebte der Knabe die Nachricht von den Schüssen, die das Gemetzel des Ersten Weltkrieges auslösten. Blutiger Prolog zum Drama des Unterganges einer Welt, der Welt meiner Eltern. Ende der Zivilisation der Habsburgermonarchie und des Standes, der sie regierte. »Feminis lugere honestum est, viri meminisse«, sagt irgendwo Tacitus.74 Mutter war nach der Abfahrt des Statthalters in Tränen ausgebrochen und heulte die ganze Nacht. Sie fuhr dann zum Begräbnis nach Wien. Wütend griff sie ein, als Fürst Montenuovo, in strikter Anwendung des Spanischen Zeremoniells, der Herzogin von Hohenberg die gleichen letzten Ehren verweigerte, die dem Thronfolger zuteil wurden. Wiegt denn die Pflichterfüllung einer Gattin bis in den Tod weniger als das Opfer des Soldaten, der für Kaiser und Reich sein Leben einsetzt  ? An der Tragik des Begräbnisses nahm selbst der Himmel Anteil  : Als die Särge mit den Leichen des Thronfolgerpaares bei Pöchlarn über die Donau geschafft wurden, ging ein Gewitter nieder, so wie wir es beim Vernehmen der Todesnachricht in der Wespenau erlebt hatten. Beinahe wäre die Fähre von den Wellen umgekippt worden. Jetzt ruht das Paar, das in Liebe so eng verbunden war, in der trauten Gruft von Art­ stetten, erhaben über den Geifer des Protokolls. Zwei Monate nach der Katastrophe von Sarajevo sandte mich Mama nach Chlumec75, wo die verwaisten Kinder des Thronfolgers sich in ihr elternloses Dasein einzuleben anschickten. Max mit seinen zwölf Jahren war sich über die Situation ziemlich im Klaren. Er war immer der Überzeugung, sein Vater hätte, einmal Kaiser geworden, niemals das von ihm anlässlich der morganatischen Eheschließung abgegebene Versprechen gebrochen. Für immer waren die Kinder vom Throne ausgeschlossen. Immerhin hatte Franz Ferdinand seinen Kindern ein reiches Erbe zugedacht. Selbst der Kaiser hatte die Härtefolgen seiner Haltung abzuschwächen versucht und den Kindern die Herrschaft Radmer76 in der Steiermark

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geschenkt. Mit Konopist, Chlumec und einigen Häusern in Wien waren die Kinder zunächst ohne materielle Sorgen. Vier Jahre nach der Ermordung der Eltern vertrieb die tschechische Regierung die Kinder, die sie kurzerhand der verhassten Familie der Habsburger zuzählte. Schlösser und alles Vermögen in Böhmen wurden beschlagnahmt, die Kinder landesverwiesen. Dass sie weder des Namens noch der Rechte der Habsburger teilhaftig waren, wurde ignoriert. In den rohesten Formen erfolgte die Ausweisung. Der für Konopist eingesetzte Sequestrator beließ den Kindern nicht einmal die persönlichen Erinnerungen an die Eltern. Selbst Spielsachen und Bücher mussten zurückbleiben. Hemden und Schuhe wurden abgezählt und geringst bemessen. Der armen Henriette Chotek77, die als Schwester der ermordeten Mutter die Erziehung der Kinder übernommen hatte, wurden – als Beispiel sei dies angeführt – nur drei Höschen bewilligt  : »Pro tu Chotkovou stačejí tři spodky …«78 Max hatte diese Worte überhört. Max wurde mein Studienkollege an der Wiener Universität. Dann kam Adolf Hitler, der Dämon. Für uns beide bedeutete er die Verneinung von allem was wir hochhielten. In seiner Politik der Vergewaltigung und Außerachtlassung der primitivsten moralischen Grundsätze, in seinem verbrecherischen Morden sahen wir das Ende der letzten ethischen Werte, die wir aus der Sintflut des Weltkrieges herübergerettet wähnten. Es ist mir gelungen, der Verfolgung und dem Konzentrationslager zu entgehen, nicht so den Brüdern Hohenberg. Ernst79, dem Jüngeren, waren die Nerven durchgegangen. Er hatte in Wien mit dem Spazierstock die Fensterscheibe einer nazistischen Propagandastelle zerschlagen. Max änderte unter dem neuen Bekenntniszwang seine Gesinnung ebenfalls nicht und hielt Kaiser Otto, dem Erben des Habsburgerthrones, die Treue. So wurden die Brüder Hohenberg ins kz Dachau geschafft. Sogar einem Himmler, der das Lager inspizierte, imponierten die Hohenbergs durch ihre ungebeugte Haltung. Beide wurden physischen und moralischen Martern ausgesetzt und trugen derart schwere körperliche Schäden davon, dass Ernst bald nach der Befreiung, Max einige Jahre später zu jenen versammelt wurden, denen sie auf Erden nachgelebt hatten. Die Katharsis, die Maxens Charakter durchgemacht und zu lichtvollster Vollendung geführt hatte, ist von euripidäischer Tragik  : vom Erleben des Mordes geliebtester Eltern über die Beraubung ererbten Gutes bis zur Knechtung und Demütigung im Kerker. Unfassbare Tragik des Schicksals, gewollt von ungreifbaren Mächten, die den Helden zerstampfen. Das Ende der Monarchie Die besonnten Jahre meiner Kindheit gingen unter im verlorenen Ersten Weltkrieg. Als Folge separatistisch-nationaler Revolutionen löste sich das Habsburger Reich in seine Bestandteile auf. Die Macht ging von den bisher dominierenden Klassen – und zu

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diesen gehörte die unsere – auf neue Herren über. Der Speiseteller wurde umgedreht  : Wir lagen nunmehr zuunterst. Wer bisher getreten wurde, stampfte nun seinerseits. Als führende, beispielgebende Klasse waren wir erledigt. Was haben wir uns vorzuwerfen  ? Wie in allen prärevolutionären Zeiten bestand die Unterlassungssünde der Väter bei den einen in der Unkenntnis, bei den anderen im Ignorieren der Lebensverhältnisse, überhaupt der Gedankenwelt des »Volkes«. Man ahnte wohl, dass es Not gab unter den Massen, übrigens nicht nur Hunger nach dem täglichen Brot, auch nach Grund und Boden, nach Aufstieg in höhere Klassen. Man bedauerte dies, half wohl auch, wenn es ging, machte aber im Grunde dazu einen runden Buckel, wie heute unsere treffliche Wohlstandsgesellschaft gegenüber den Welternährungsverhältnissen.80 Das Problem der Konsumgüterverteilung ließ man lieber gar nicht in die eigene Vorstellungswelt herein, so wie dies in so manchen Ländern und Mentalitäten noch immer der Fall ist, und zwar auf internationaler Ebene. Der mangelnde Wille, sich mit den gefährlich brodelnden Problemen der Massen zu befassen, war und ist verhängnisvoll, denn, so scheint es heute, »bist du nicht willens, so brauch’ ich Gewalt  !«. Das Großbürgertum holte übrigens den Adel in diesem mangelnden Verständnis ein, wurde aber dem Neid der »Besitzlosen« auch deshalb ausgesetzt, weil es sich weigerte, selbst den erarbeiteten, nicht bloß den ererbten Wohlstand zu teilen. Das Bürgertum war vielleicht weniger naiv als wir, es fürchtete die Folgen einer Revolution mit konkreter Einsicht. Waren wir herzlos  ? Ich sage bewusst »wir«, denn als stammesgebunden fühle ich mich mitverantwortlich selbst für längst Vergangenes. Nein, herzlos waren wir nicht, ein goldener Vorhang trennte uns bloß von der Realität. Jene, die den Mut hatten, in die Elendsviertel hinabzusteigen, der eine oder andere Priester, die Damen von der »Caritas«, sie erschauerten und suchten zu helfen, betrachteten aber »ihre« Fälle als ausnahmsweise Kalamitäten, nicht als Symptome einer generellen Krankheit, nicht als ein soziales Problem. Von unten – auch von jenseits der Staatsgrenzen – drang der Ruf nach Freiheit, nach Gleichheit  ! Man horchte und räsonierte  : Freiheit wohl, aber in ethischen Grenzen, nicht unbändig. Gleichheit  ? Vor dem Gesetz ja, aber eine Gleichheit unter den Geschöpfen, ist das nicht Unsinn  ? Die Menschen sind als Ungleiche erschaffen worden. Bei aller angestrebten Gleichheit der Rechte von Männern und Frauen bleibt die Ungleichheit der Funktionen. Immer wird es Gescheite und Dumme geben, Reiche und Arme, Arbeiter der ersten und der neunten Stunde. Die christliche Lehre setzt diese Unterschiedlichkeiten voraus und zielt nicht auf Nivellierung, sondern auf gerechten Ausgleich ab. Die Armen, auch die im Geiste, sind gegenüber den vom Schicksal Bevorzugten in Schutz zu nehmen. Wie ist ferner der »ungerechte Reichtum« des Evangeliums unterzubringen  ? Und die extreme Anschauung vom Kamel, das nicht durchs Nadelöhr kann  ? Wie finden wir uns zurecht, wenn schon das Erworbene an sich als ungerecht betrachtet wird  ?

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Wiederholt habe ich mich gefragt wie mein Vater auf die Fragen geantwortet hätte. Er war ein Gerechter, sagte sich wohl, dass nicht jeder Christ zur Vollkommenheit auserkoren ist und zu einer Nachfolge im Sinne des Nikolaus von Flue81, der in wortgetreuer Befolgung der Worte des Nazareners Weib und Kind verließ. Im richtigen Erkennen was das uns zugedachte Kreuz ist, liegt die Gnade  : Die Erfüllung liegt in der rechten Verwendung des »ungerechten« weil unverdienten Reichtums, nämlich in der werktätigen Caritas. Christus war ein Revolutionär. Die bestehende Ungleichheit ist nicht durch gewaltsame Umschichtung zu bekämpfen  – das war auch Mahatma Gandhis Lehre –, sondern durch Anpassung, durch Schritthalten mit der ständig in Evolution stehenden Menschheit. Es bedarf nicht eines Einsteins, um festzustellen, dass allein das Stehenbleiben Rückschritt bedeutet. Das Überlieferte, Wohlerprobte ist zu bewahren, Rückständigkeiten haben modernisiert zu werden, angestauter Reichtum neu verteilt. Geld ist wie Dünger  : aufgehäuft stinkt es, ausgestreut wirkt es befruchtend. Revolution ist keine Garantie für die Befriedigung der Mehrheit. Durch Revolution werden bloß die Gesättigten ausgewechselt, frische Entrechtete geschaffen. War die Vorkriegsgeneration des Adels blind  ? Nein, sie war bloß naiv und lebte in einem Wolkenkuckucksheim. Niemand sagte uns Jungen, dass die auf Tradition und Vorurteile abgestellte Erziehung, dass der Horror vor dem Geldverdienen uns unfähig machte, im anbrechenden demokratischen »Paradies« einen Platz zu finden. Zu oft bekamen wir von unseren Traditionalisten zu hören, dass Anpassen an die Zeitläufe Felonie bedeutet, ein Sich-selbstAufgeben. Wir begriffen nicht, dass der Traditionsfetisch ein sich selbst isolierender, zusammenschrumpfender Klassendünkel ist. Etliche von uns, die so erzo­gen waren und die sich im Postdiluvium nicht zurechtfanden, retteten sich in die Wahnvorstellung einer glorifizierten Niederlage und hängten dieser den gehaltlosen Krönungsmantel der Treue um. Wir, die wir auf Böhmens fruchtbaren Ländereien das Phäakenleben der »Inhaber«82 führten, waren wir uns des Vulkans bewusst, auf dem wir saßen  ? Die berufsmäßigen Kassandren – sie tarnten sich gern als feinhörig – vermeinten das Grollen angehender Eruption zu erlauschen. Aber gaben sie sich auch die Mühe, die Ursachen zu untersuchen  ? Das, was unter ihren Füßen sich zusammenbraute und was schließlich unser privilegiertes Reich Gottes in Böhmen hinwegfegen sollte, das verkannten die meisten. In kurzsichtigem Drang, das Bestehende unverändert zu bewahren, die Tradition vor Verunstaltung zu retten, missdeuteten sie die warnenden Himmelszeichen. Unsere Väter hatten die Bedeutung des Weichenstellens im Westen als Folge der industriellen Revolution verkannt. Sie unterschätzten die Wirkung der Einführung des Allgemeinen Wahlrechts anno 1908 in Österreich, ferner die als revolutionär oder als anarchisch empfundene sozialistische Bewegung. All das schreckte, aber führte zu keiner Einkehr.

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Das Heranmarschieren der großen Massen  ! Demokratie als Sieg der Quantität über Qualität  ! Wir missachteten den Massenmoloch der uns verschlucken sollte. Als Klasse vom Tode gezeichnet, verkrochen wir uns in das Gehäuse der Würde. Wir isolierten uns durch Einschränkung des persönlichen Verkehrs auf Stammes- und Geschmacksverwandte. Der Herrenklub als Sittentribunal  ! Durch das Sich-Abschließen glaubten wir die Entlarvung einer Fiktion hinauszuzögern, wie jene römischen Senatoren, die sich noch für weltgewaltig hielten, als längst die Macht von Rom nach Byzanz entglitten war. Wie kurz ist doch der Schritt von der Größe zum Lächerlichen  ! Im goldenen Käfig des Gottesgnadentums verkümmert der Sinn für die Wirklichkeit. Oft habe ich mich gefragt, wie mein noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verstorbener Vater mit den dem Adel aus der Auflösung der Donaumonarchie sich stellenden Problemen fertig geworden wäre. Mein Vater konnte einfach die Katastrophe nicht überleben. Er wäre an ihr zerbrochen. Zeit seines Lebens hatte er an der Rettung der Monarchie gearbeitet. Er und seine Gesinnungsgenossen wollten dem drohenden Ende durch weitgehende Verfassungsänderungen und durch die Befriedigung der politischen und sozialen Ansprüche der die Monarchie zusammensetzenden Nationen zuvorkommen. Mein Vater wollte die Revolution durch systematische Evolution des Bestehenden im christlichen Sinn aufhalten. Das schien ihm Pflicht und Inhalt adeliger Gesinnung in Österreich. Die Revolution in Böhmen Der 28. Oktober 1918 hat in meiner Rückschau die Bedeutung einer Sintflut, genauer  : der ersten Sintflut, denn zwanzig Jahre später folgte die zweite. Eine jahrhundertealte Zivilisationsperiode war zu Ende. Auf den Trümmern einer Welt, die das Sinnen und Trachten meiner Familie erfüllt hatte, wuchsen Gebäude empor in denen völlig neue Lebensformen herrschten, wo Loyalitäten gefordert wurden gegenüber Menschen, die zu achten man sich nicht entschließen konnte. Diese sahen ihrerseits im Adel von gestern nichts anderes als Drohnen, überlebte Gestalten, für die in der neuen demokratischen Welt kein Platz war. Wer im vorsintflutlichen Reich an der Sonne gesessen und sich an den Fleischtöpfen der Machthaber gesättigt hatte, der hatte von nun ab im Orkus zu verschwinden, es sei denn, er passte sich an und diente aktiv den neuen Herren. Der 28. Oktober weckt in mir, dem damals Fünfzehnjährigen, Erinnerungen an Ereignisse, deren tieferer Sinn mein Begriffsvermögen überstieg. Ich hatte Angst wie alle um mich herum. Wir zitterten vor dem Terror. Wir spürten wohl, dass es schwer sein werde, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Für meine Mutter schien dies geradezu unmöglich. Wir hatten vier Jahre des Krieges hinter uns. Verwandte und Bekannte waren auf dem Felde der Ehre geblieben, darunter mein Halbbruder. Die Bevölkerung

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Prags und der böhmischen Randgebiete hungerte. Auf dem Lande bei uns ging es noch an. Die schlauen tschechischen Bauern verstanden es die Getreide- und Kartoffelsäcke vor den requirierenden Militärkommandos zu verstecken. Dank unserer landwirtschaftlichen Betriebe gab es im Haushalt ausreichend zu essen. Die Jagd half nach. Wie stand es um die Treue zu Kaiser und Reich in Böhmen  ? Der alte Kaiser Franz Joseph verfügte bis zu seinem Tode anno 1916 über eine nicht zu unterschätzende, zum Teil auf Atavismus beruhende Autorität. Die Masaryks83, Kramář84, Klofáč85 und der noch knospende Edvard Beneš86 trauten sich nicht, das zu einem Kristall erstarrte Symbol der Stabilität im Donauraum herauszufordern. Franz Joseph hatte ja 1908 seinen Völkern das Allgemeine Wahlrecht zugestanden. Man konzedierte ihm auch ein gewisses Verständnis für die Forderungen der Nationalitäten seines Reichs. 28. Oktober 1918. Mutter befand sich auf ihrem Witwensitz, der Wespenau. Ich frequentierte das Kleinseiter Gymnasium in Prag. Mutter ließ mich dringend herauskommen, war ich ja ihre einzige Stütze. Ich traf mit dem Vlàcek, einer Vizinalbahn von unwahrscheinlicher Langsamkeit, aber relativer Verlässlichkeit, ein und stieß auf eine jaulende Menge halbwüchsiger Burschen, die hinter dem Gartenzaun des Schlossparks »Pràpory ven« schrieen, d.  i. »Fahnen heraus  !«. Mamas braver Kammerdiener Jene Jares hisste gerade auf dem Turm eine blau-weiß-rote Fahne. Das waren die Farben der soeben ausgerufenen Tschechoslowakischen Republik. Ich weiß nicht, was mich packte, aber ich ließ den Diener sofort die Fahne einziehen. Ein Wunder, dass ich nicht die schwarz-gelbe Fahne aufziehen ließ  ! Ich hatte offenbar nicht kapiert, dass HabsburgÖsterreich zu Ende und eine neue Republik entstanden war. Das Geheul der ­Burschen wurde immer wilder. Steine flogen über den Zaun. Gendarmen gab es keine, alle ­waren sie zum Kriegsdienst eingezogen worden. Die Ordnung im Dorf wurde merkwürdigerweise von zwei serbischen Kriegsgefangenen aufrechterhalten. Ich bat diese um Intervention und im Handumdrehen waren die Demonstranten vertrieben. Diese Kriegsgefangenen hatte sich unsere Domänenverwaltung im Wege der Bezirkshauptmannschaft zur Bewachung des Küchengartens und des Getreidespeichers »ausgeborgt«. Es waren ehrliche Analphabeten, die keine Ahnung hatten, warum und gegen wen sie in den Krieg ausgezogen waren. Ich hatte mich mit einem gewissen Radko angefreundet. Wir teilten die Vorliebe für einen bestimmten Kirschenbaum. Wir saßen auf dessen Ästen, verzehrten die dunkelroten Beeren und kicherten uns mangels anderer Verständigungsmöglichkeit an. Der nämliche Radko hatte meine Mutter bereits einmal aus einer bösen Lage gerettet  : Vor einigen Monaten war ein Geisteskranker aus der schlecht bewachten Irrenanstalt in Prag entsprungen. Er war von der Wahnvorstellung besessen, mein auf dem serbischen Kriegsschauplatz verstorbener Halbbruder sei noch am Leben und Mutter halte ihn in einem Wandkasten eingesperrt. Eines Samstags fand ich, aus der Schule heimgekehrt, Mutter in arger Aufregung. Kammerdiener Jares blutete aus einer Kopfwunde. Der entsprungene Narr war mit einem Stock auf das Schloss los-

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marschiert, wollte sich auf Mama, die in der Laube an einem Jumper strickte, stürzen. Jares war dazwischengetreten und hatte den Schlag auf den eigenen Kopf bekommen. Der Irre verzog sich in ein Gebüsch. Man hatte sich darauf im Schloss verbarrikadiert. Ich nahm mein Flobertgewehr, setzte mich hinter ein offenes Fenster und wartete. Der Kammerdiener war zum Verbinden nach Hostomic in die Apotheke geschafft worden. Gegen 10 Uhr Abend kam der Mann plötzlich anmarschiert, pumperte mit seinem Stock an das Tor und schrie Verwünschungen gegen meine Mutter. Er müsse sie erschlagen … Dann zog er sich wieder ins Gebüsch zurück ohne mir Gelegenheit zu geben, meine Spatzenflinte abzufeuern. Nächsten Morgen mobilisierten wir die serbischen Kriegsgefangenen. Sie durchsuchten den Park, fanden den Mann, überwältigten ihn und geleiteten ihn gefesselt in die Irrenanstalt zurück. Dank meiner kriegsgefangenen Freunde konnte also die für die Republik demonst­ rierende Meute zerstreut werden. Die Fahne wurde nicht aufgezogen. Nach zwei Tagen kam der Domänendirektor und flehte Mama, an die Fahne auszuhängen, denn es bereite sich im Bezirk eine ernstliche Revolution gegen uns vor. Mutters Hausverstand sagte ihr, dass es nutzlos sei, die Helden zu spielen. Kaiser Karl hatte auf die Regierungsgewalt verzichtet und seinen Völkern das Selbstbestimmungsrecht gegeben. Wollten wir Gewalttätigkeiten vermeiden, so mussten wir – das meinte der Direktor – es sogar dulden, dass vor dem Schloss eine Befreiungsfeier und ein feierlicher Umzug stattfinden. Mama gab nach, und ich wurde delegiert, an der Feier teilzunehmen. Aus der Bezirksstadt Horovic kam ein gefürchteter Kommunist namens Mecnik, der eine blutrünstige Rede hielt und unsere eheste Entfernung aus dem Schloss und Rache für alle unsere Verbrechen forderte. Glücklicherweise hatten wir aus der an den Park grenzenden Brauerei Bier kommen lassen. Dieses beliebte Nationalgetränk vermochte sogar den Nihilismus des wilden Mecnik zu lösen. Er wurde – wie es in den Meistersingern heißt »dumm und ließ mit sich reden«. Sicherheitshalber übersiedelte Mama nach Prag. Nie werde ich einen Ausspruch Jan Masaryks87 vergessen, den ich auf seiner Londoner Botschaft bald nach dem Anschluss besuchte  : »So wenig ich selbst etwas für den Kommunismus übrig habe, so bin ich doch überzeugt, dass meine Regierung sich im Zweifel immer an die Moskauer Linie halten wird. Als Slawen fühlen wir Tschechen uns mit den Russen stammverwandt. Sie sind unsere Brüder. Wir werden nie gegen sie auftreten  !« Politische Spannungen am Prager Gymnasium Es war auf der Schulbank in Prag, dass ich erstmals mit dem Judenproblem konfrontiert wurde. Warum ein Problem  ? Meine jüdischen Klassengefährten und -gefährtinnen waren ja genauso in Prag geboren, sprachen das nämliche seltsame Prager Deutsch,

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ihre Eltern und Voreltern – es war noch vor dem Einschub von Ostjuden als Folge der Kriegsereignisse 1914/18 – waren in Prag ansässig, lebten in der gleichen kulturellen Atmosphäre wie wir. Und doch empfanden wir Nichtjuden den Unterschied. Der Begriff Rasse war noch nicht im Umlauf. Vom Zionismus und von der Sehnsucht Israels nach einer eigenen, unabhängigen Heimstätte war umso weniger die Rede, als unsere Kameraden sich in der österreichisch-ungarischen Monarchie durchaus zu Hause fühlten. Ihre Eltern zahlten brav Steuern, der Vater hatte gar beim Militär gedient, der Onkel war ein hoher Staatsbeamter und brüstete sich mit einem vom Kaiser verliehenen Orden. Der andere war Kommerzialrat, verdiente viel Geld und betrachtete sich damit als ein Mehrer des Nationalproduktes. Sie waren Patrioten. Dennoch waren sie Juden und daher anders als wir. War es am Ende Neid, der uns gegen sie einnahm  ? Grämte uns ihre intellektuelle Überlegenheit, ihre Erfolgsgewissheit  ? Später, als ich in Genf mit Juden und mit internationalen jüdischen Organisationen viel zu tun hatte, da vermochte ich etwas tiefer in die Hintergründe zu blicken. Ich lernte mich über die innere Aufgespaltenheit dieses Volkes zu wundern. Ein fanatischer Individualismus, der aber in bewunderungswürdiger Weise ausgewogen wird durch die einigende Wirkung der Thora, namentlich in der Diaspora durch Mut in der Verbannung, durch Größe in der Verfolgung. Sowohl in Prag als auch später an der Wiener Universität sah ich mich geradezu täglich von den überragenden Geistesgaben meiner jüdischen Kameraden überflügelt. Im Prager Gymnasium waren die Kollegen Grünwald und Skutecky, die Kolleginnen Knobloch und Schmelkes bei Weitem immer die Besten in der Klasse. Unfähig, gegen soviel Überlegenheit aufzukommen, wurde der brave Kollege Schröpfer aus dem Böhmerwald bald Anarchist. Auch auf den kreuzbraven Janka regneten Pintscher auf Pintscher, das sind die ungenügenden Noten, und so brachte er es bloß zum Laienbruder. Dann gab es die vier Wenden, vierschrötig und ehrlich. Sie gehörten zu diesem merkwürdigen slawischen Reststamm im preußischen Schlesien und in der Lausitz  ; sie kamen nach Prag in das Wendenkolleg, eine uralte Stiftung, die in einem baufälligen Barockbau unterhalb der Karlsbrücke vegetierte und Hauslehrer für den Adel stellte. Auch die wendischen Kollegen waren nicht übermäßig begabt und wurden aus Ärger über die sie überflügelnden jüdischen Kollegen ausnahmslos Nationalsozialisten. Das wurden leider auch die anderen »arischen« Kollegen, so wie es die meisten Sudetendeutschen wurden – diese aus Hass gegen die Tschechen, die sie politisch unterdrückten. Auch ich schrieb die mathematischen Schulaufgaben von Grünwald und die lateinischen von der Schmelkes ab. Anstatt ihnen dankbar zu sein, ärgerte ich mich über die eigene Unterlegenheit und trug ihnen ihr überlegenes Talent nach. Unsere Professoren, unter denen es keine Juden gab, hatten einen schweren Stand  : Sie sympathisierten mit den weniger begabten Schülern, mussten aber die größere Tüchtigkeit der Juden bei

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Semesterabschluss berücksichtigen. Als die Matura nahte, brachte nun eine wirklich untragbare Frechheit eines meiner jüdischen Kollegen unseren besonders achtenswerten und auch hochgelehrten Professor für Griechisch, Dr. Dorsch, in Harnisch. Dorsch lag unsere Klasse im Magen. Die feinen Antennen der jüdischen Kollegen sagten ihnen, dass sie es bei der Prüfungskommission, deren Vorsitzender ein bekannter Deutschnationaler sein sollte, nicht so leicht haben würden. Aber auch wir anderen, arischen Schüler hatten eine Mordsangst. So wurde denn ein von Skutecky, dem Zahnarztsohn, ausgeheckter riesiger Schwindel organisiert  : Wir mieteten ein Zimmer in der Nähe des Gymnasiums für die Tage der lateinischen und der griechischen schriftlichen Prüfungsarbeit. Ferner wurde ein Verwandter der Knobloch, ein Philologiestudent der Universität, der bereits vor dem Doktor stand, angeheuert. Jeder Schüler musste einen Verwandten oder Freund zum Abschreiben stellen. Ich brachte Karl Nostitz.88 Philologe und Abschreiber fanden sich um neun Uhr früh in dem angemieteten Zimmer ein. Um acht Uhr hatten wir die Prüfungsaufgabe in Händen. Punkt neun Uhr meldete sich ein Schüler, er müsse aufs Klosett. Dort schob er den abgeschriebenen Text hinter die Klosettpapierschachtel. Um 9.05 Uhr holte ihn ein »Verwandter« von dort ab und brachte ihn dem Philologen. Dieser übersetzte den Text. Hier aber zeigte sich die Genialität unseres Oberschwindlers Skutecky  : Es wäre allzu durchsichtig gewesen, wenn alle Maturanten den gleichen Übersetzungstext abgeliefert hätten. So wurden drei Standardtexte angefertigt, die ungefähr den drei Noten  : »Sehr gut«, »Gut«, »Genügend« entsprachen. Skutecky hatte vorsorglich die Zustimmung seiner Kollegen eingeholt, sich in eine dem Einzelnen entsprechende Kategorie einreihen zu lassen. Um zwölf Uhr meldete sich wieder ein Maturant aufs Klosett, wo er, jedes Exemplar mit Namen versehen, die von den »Verwandten« abgeschriebenen Übersetzungstexte vorfand, ins Prüfungszimmer brachte und unter der Bank der Verteilung zuführte. Jeder von uns Maturanten hatte heilige Eide schwören müssen, dass er den ihm zugedachten Standardtext nicht tel-quel abschreiben werde, sondern lediglich zur Korrektur der von ihm selbst zwischen acht und zwölf Uhr angefertigten Übersetzung verwenden würde, wobei die »sehr guten« Schüler eben bessere Korrekturvorlagen bekamen als etwa jene, die bloß ein »Genügend« erhoffen durften. Es war ein mächtiger Schwindel, aber dank des brillanten Schlachtplans Skuteckys kamen wir alle durch. Die Prager Oktoberrevolution trug ihre Wellen auch in die friedliche Welt des alten Kleinseitner Gymnasiums. Nicht nur die Arbeiter und Angestellten sollten »Räte« schaffen und damit der Petersburger Oktoberrevolution nacheifern. Nein, auch »Schülerräte« sollten gebildet werden. Ein von der roten Hochschülerschaft der Deutschen Universität entsandter Radaubruder hielt vor uns versammelten Gymnasiasten und den Professoren, die mit saurer Miene dem bösen Spiel zusahen, eine flammend aufständische Rede. Dutzende Male wiederholte er  : »Ich grüße euch, deutsche Schüler, ich grüße euch, ich grüße euch, Jugend von morgen, ich grüße euch und bringe euch

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die Freiheit. Ich grüße die Freiheit und die Jugend. Ich grüße die Jugend in der Freiheit  !«, und so ging es weiter. Nichts Gescheiteres wusste der Tropf hervorzubringen, als dass die Revolution uns dazu verpflichte, in jeder Klasse einen Schülerrat zu bilden. Gymnasiast Pinkas aus der Sexta fragte, welche Befugnisse diese Schülerräte haben würden, worauf der Redner auskniff und meinte, wir mögen uns selbst ein Statut geben. »Haben die Professoren ein Mitspracherecht  ?«, insistierte Pinkas. »No ja, die sollen euch dabei helfen.« Hämisches Lachen auf den Gesichtern der Profaxe. »Können wir das Rauchverbot während der zehn Uhr Pause aufheben  ?«, fragte Weinstein aus der Oktava. »Natürlich  !« – »Könnte die elterliche Bestätigung, wenn wir schwänzen wollen, wegfallen  ?« – »Natürlich  !« Nun mischte sich mit betont maßvoller Stimme und lässiger Handbewegung der kluge Pinkas ein  : »Aber, wir wollen doch keine Kindereien  ! Es handelt sich um eine ernste Sache und um eine einmalige Gelegenheit, unsere Reife zu beweisen. Ich schlage vor, dass jede Klasse einen Ternovorschlag macht. Aus diesem Vorschlag wählt der Klassenvorstand einen Schüler aus, der zusammen mit jenen, die in den anderen Klassen bezeichnet werden, den Schülerrat bildet. Somit bestünde der Schülerrat, den acht Klassen entsprechend, aus acht Mann. Da aber die Primaner und Sekundaner wohl noch nicht verantwortungsbewusst sind, schlage ich vor, dass die drei unteren Klassen keine Vertreter in den Schülerrat senden, dafür aber die drei oberen Klassen je zwei. Der Vorsitzende des Schülerrates wird von den Vertretern der drei obersten Klassen gewählt (Pinkas war Sextaner, hatte somit Aussicht, gewählt zu werden). Ferner muss ein Redaktionskomitee eingesetzt werden zur Verfassung eines Statuts und einer Geschäftsordnung. Da es ferner immer gut ist, das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist, schlage ich vor, dass heute und hier, in Gegenwart des ehrenwerten Vorredners, der uns die Ermächtigung gebracht hat, den Schülerrat zu gründen, beschlossen werde, dass ein Vertreter des Schülerrates bei allen Sitzungen des Professorenkollegiums zugegen sei und in Fragen der Erteilung von Sittennoten seine Stimme mit suspendierender Wirkung abgeben könne.« Diese glanzvolle Leistung des Kollegen Pinkas wurde mit Gejohle aller Gymna­ siasten quittiert. Der Erstredner von der Hochschule schüttelte Pinkas die Hand und schrie »Bravo, bravo  !«. Die Professoren standen bleich an der Wand, nur Groschl applaudierte verständnisvoll. Er galt als weit links stehend. Er wusste aber wohl, wohin die Absurdität führen würde, sah vielleicht auch die Wirkung voraus, die diese Revolte der Schule auf den greisen Direktor haben würde, der in diesem euphorischen Augenblick in der Tür erschien. Professor Ullsberger war gefürchtet, aber auch geachtet. Sein weißer Kaiserbart und der Schoßrock ließen auch den frechsten Schüler verstummen. Mit mächtigen Schritten und beschwörend erhobener Rechten, als stürze sich Moses auf die Anbeter des Goldenen Kalbes, rauschte er auf den Sendling der roten Hochschülerschaft zu, der uns die Freiheit und Grüße gebracht hatte. »Wer sind Sie  ?«, krächzte Direktor Ullsberger. Die Aufregung verschlug ihm die gewohnte Donnerstimme. »Wo

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sind Ihre Kredenzialien  ?« Der redegewandte Hochschüler wurde rot und krebste. »Was erlauben Sie sich in meiner Schule  ? Im altehrwürdigen Kleinseitner Gymnasium  ? Sie, der es gewiss noch nicht einmal zum Absolutorium gebracht hat  ! Sie naseweiser Lümmel  ! Sie täten besser, auf Ihrer Bude zu sitzen und etwas zu lernen, als mit meinen Zöglingen Rosa Luxemburg89 zu spielen  ! Wie lautete der wahre Name des Dichters Anastasius Grün  ? Na also, natürlich, Sie wissen es nicht.« Der Hochschüler, sichtlich aus dem Konzept gebracht, suchte seine Position zurückzugewinnen und schrie  : »Ich bin beauftragt, Ihren Schülern das Wählerrecht zu bringen, einen Schülerrat zu gründen  …« Da gewann Direktor Ullsberger seine Stentorstimme wieder  : »Wer ist Anastasius Grün  ? Antworten Sie mir  !« – »Herr Direktor, ich bin nicht gekommen, um bei Ihnen Rigorosum zu machen, ich … ich … die Freiheit …« – »Wer ist Anastasius Grün  ? Antworten Sie mir, Sie Drückeberger, Sie Schwindler  ! In die Tertia gehören Sie  ! Bestenfalls  ! Und nachsitzen lass ich Sie, bis Sie grün werden, abschreiben lassen sechzig Mal »Graf Auersperg«, das war nämlich Anastasius Grün  !« Der gerechte Zorn übermächtigte den greisen Direktor Ullsberger. Er schwankte und fiel auf eine Bank. Das schwarze Seidenkäppchen, das er zum Schutze seiner Glatze immer in der Schule trug, rollte still zur Erde. Das Würdezeichen endete im Staub. Die allgemeine Konsternation wurde vom trefflichen Professor Vanjek, dem Mathematiklehrer der höheren Klassen, rasch ausgenutzt, um den verwirrten Hochschüler bei der Hand zu fassen und mit der Einladung, zur Feier des Wählergebnisses für den Schülerrat wiederzukommen, höflichst hinauszukomplimentieren. Ullsberger wurde hinausgetragen, seine Herzanfälle waren nicht ungewöhnlich und weiter nicht gefährlich. Vor die enttäuschten Gymnasiasten trat aber der ulkige Professor Josef Luger, Lehrer für philosophische Propädeutik, Kristallographie und Gesang. Dieser in Prag wegen seiner Sinnsprüche zu historischer Berühmtheit aufgestiegene Dickbauch mit seinem von Schnupftabak und Speichel gegilbten Spitzbart war ein Till Eulenspiegel, der sich auch gern in der Rolle eines Rattenfängers von Hameln sah. Mit seinen überraschenden Redewendungen und Aphorismen verstand er es, seine Hörerschaft zu faszinieren. Auch diesmal spielte er seine Rolle ausgezeichnet. »Was ist mein bekanntester Leitsatz  ?«, fragte er, verschmitzt uns alle ansprechend. Antwort im Chor  : »Der Hund ist ein Kosmopolit, denn er folgt dem Menschen in alle Zonen.« – »Brav, sehr brav  ; und was ist mein anderer Wahrspruch  ?« – »Die Ursache verhält sich zur Wirkung wie der Grund zur Folge«, tönte es unisono und triumphierend zurück. Nach einer Spannungspause, während der man nur das neidische Grunzen der übrigen Professoren hörte, räusperte sich Professor Luger, zwinkerte mit seinen listigen, in Fettwarzen eingebetteten Äuglein und zum Sextaner Pinkas gewandt  : »Ich habe bemerkt, Sie haben als einziger meine Wahrsprüche nicht mit gesagt. Ich weiß auch warum, denn Sie können schwerlich behaupten, dass Sie sie nicht kennen. Sie sind eben um Ihren ersten dema­ gogischen Erfolg geprellt worden. Dazu mein wärmstes Beileid. Aber seien Sie beru-

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higt, Sie werden es bestimmt noch zum Kommissar bringen und so manchen Aufstand organisieren, aber nicht unter Ihresgleichen, nur unter den Dümmeren  !« Und zu uns gewandt  : »Ihr habt, meine lieben Freunde, gewiss erraten, warum ich Euch die beiden Sentenzen aufsagen ließ. Sowohl die Herzattacke unseres verehrten Herrn Direktors als auch die beschämende Niederlage dieses Windbeutels von einem Revoluzzer von der Universität sind die Folgen von deutlichen Ursachen. Die Gründe waren ein missverstandenes Weltbeglückertum. Wahre Freiheit muss verdient, muss ehrlich erkämpft werden  ! Freiheit ist keine bloße Wirkung von zufälligen Ursachen. Deshalb, weil in Prag eine Revolution ausgebrochen ist, die das ehrwürdige Habsburgerreich weggefegt hat, soll noch lange nicht ein Pack naseweiser Lümmel, wie Kollege Ullsberger so richtig bemerkte  – und zu diesen Lümmeln gehört auch Ihr  –, einen Schülerrat mit Professorenkonferenz beratender Stimme bilden dürfen. Aber weil Ihr so keck wart, will ich Euch auch eine Frage vorlegen, die Euer würdiger ist als jene wegen des Anastasius Grün, der ja nur ein zweitklassiger Dichterling war  : Was heißt »kohabieren«  ? Wo hat kein Geringerer als Goethe diesen Ausdruck gebraucht  ? Keiner weiß es  ? Herr Pinkas, zeigen Sie, dass Sie mehr Kultur haben als Ihr Freund von der Universität  ! Ei, ei, seht mal her  ! Auch der großmögende Herr Pinkas hebt nicht den Zeigefinger, den er doch so gern zum Sich-Melden  – aber auch zum Nasenbohren benutzt  !« Vom Schülerrat war nie mehr die Rede. Prag nach 1918 Gegen den Hintergrund der habsburgischen Götterdämmerung vollzog sich mein Übertritt aus der Gymnasial- in die Universitätsperiode. In Prag hatte sich in den ersten Jahren nach 1918 der spätere »Links«-Kurs noch nicht tief gehend durchgesetzt. Die Monarchie und Habsburg wurden zwar verdammt, alles Österreichische proskribiert, voran die deutsche Sprache. Masaryk sen. galt als Ehrenmann, Vernunftgründen zugänglich, der die gesunde wirtschaftliche Grundlage des neuen Staates nicht aufs Spiel setzen würde. Auch Mutter hielt es für nicht unter ihrer Würde die Einladung zu einem Empfang beim Präsidenten auf dem Hradschin anzunehmen. Erleichtert wurde diese Kontaktnahme durch unsere vormalige Köchin Marenka Vobrázkova, die beste Köchin des Erdballs, dem sie übrigens physisch ähnelte. Die Vobrázkova hatte ihr tschechisches Herz entdeckt, verließ uns und trat auf dem Hradschin beim Staatspräsidenten ein. Die Küche auf der Burg gewann innerhalb weniger Wochen Weltruhm – schließlich ist im Diplomatischen Corps die ganze Welt repräsentiert. Aber die Seligkeit dauerte nicht lange. Die Vobrizek war cholerisch veranlagt und zerbrach eines Tages eine Schüssel mit Gulasch auf Alicens, Masaryks gelehrter Tochter, Schädel. Frau Alice90 wollte zwar im wohlverstandenen Interesse des kulinarischen Hof- und

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Staatsrufes den Schüsselwurf verziehen und vergessen haben. Nichts fruchtete  ! Die Vobrizek schmollte, behauptete Frau Alice hätte ihr hinsichtlich der Herstellung des Gulaschs Ratschläge erteilen wollen, nahm ihren Strohhut und ging. Als sie wieder bei uns in der Ursulinergasse anpochte, traute sich Mutter nicht, die goldeswerte Köchin zurückzunehmen, denn man dürfe doch nicht das allgewaltige Staatsoberhaupt vergrämen. Die Vobrázkova endete schließlich bei diesem Glückspilz, dem Jindrich Kolowrat91, der tschechoslowakischer Gesandter in der Türkei wurde und sich die d ­ icke Köchin mitnahm. Meiner Mutter wurde von der observanten Prager Adelsgesellschaft die gegenüber dem Präsidenten gemachte Geste verübelt. So manche der nächsten Verwandten ließen nicht ab, das Rad der Geschichte zurückdrehen und die Existenz der sogenannten Nachfolgestaaten leugnen zu wollen. Man blickte auf Ungarn, wo zwei Rückkehrversuche des landesverwiesenen Königs zwar fehlgegangen waren, die sozialen Verhältnisse aber noch nicht so weit nach links abgeschwenkt waren wie in den ehemaligen slawischen Kronländern. Der Adel schied sich in zwei Lager  : jenes der Alten, die sich den Tod wünschten, lieber als mit den neuen Machthabern zu »packeln«, und der jungen Generation, die realistischer dachte und schließlich an ein Fortleben für sich und ihre Kinder denken musste. Diesen Zwiespalt gibt es wohl bei allen Revolutionen  : Das Fragen nach dem richtigen Weg, die Desorientierung stellt sich bei jenen ein, die im Epizentrum eines Revolutionssturmes stehen  ; sie wissen nicht, ob sie imstande sind, ihre eigenen Schritte zu lenken, oder ob sie mitgerissen werden, fragen sich  : »Wohin soll das alles führen  ?« Haben wir nicht in der Schule gelernt, dass das Prager Deutsch das reinste auf Erden sei  ? Verwunderlich  ! Denn der böhmisch-deutsche Sprachlaut ist kakophonisch. Historisch ist die Sache erklärlich  : Im 14. Jahrhundert, als der Luxemburger Karl IV. als römisch-deutscher Kaiser in Prag residierte, wurde die deutsche Sprache erstmalig als Amtssprache und in Urkunden verwendet. Als Umgangssprache war sie in Böhmen schon seit Langem in Gebrauch. Wie klang nun dieses Deutsch im Munde des Kaisers und der Höflinge  ? Vermutlich war es, wie bei allen Doppelsprachigen, von beiden Sprach­elementen, dem germanischen und dem slawischen, durchfärbt. Die Muttersprache des Kaisers war Tschechisch. Sein Vater, der Luxemburger Johann92, hatte Elisabeth, die letzte Pržemyslidin, geheiratet und mit ihr die böhmische Krone geerbt. König Johann von Luxemburg und Böhmen war blind. Trotzdem griff er aufseiten des französischen Königs in die Schlacht von Crécy93 ein. Die Schlacht ging schlecht. König Johann koppelte sein Streitross rechts und links an je einen Berittenen und galoppierte selbdritt, das Schwert schwingend, in die Schlacht mit dem Rufe  : »To Boha nebude aby český Král z boje utíkal  !«94 Johann wurde in der Schlacht getötet. Als Böhmenkönig hatte er Tschechisch gelernt, vermutlich mit radebrechendem Erfolg. Der kaiserliche Sohn musste sowohl das elterliche Kauderwelsch als auch das Amts-

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deutsch der Reichskanzlei über sich ergehen lassen. In dieser Atmosphäre entstand das klassische Deutsch, das die zum Teil jüdischen Schriftsteller Böhmens und Mährens der Jahrhundertwende so wunderschön schrieben, aber so grauenhaft aussprachen. Sie waren nicht die Einzigen, die das Böhmischdeutsch in die weite Welt hinaustrugen. Auch die vor Hitler flüchtenden Rassenverfolgten nahmen die heimatliche Sprache mit in die Diaspora. Sie nahmen in die neue Heimat die in der österreichischungarischen Monarchie gewachsene Zivilisation mit, die wiederum von weit nach ­Osten reichenden Weisheiten und Lehrsätzen gespeist worden war. Sie brachten in die atlantische Welt ihre »Muttersprache« mit. Heute kann man »böhmakeln« hören in den jüdischen Gemeinden von London, New York, Chicago, Buenos Aires, Mexiko und Abidjan. Ja, ich weiß von einer Prager Gymnasialkollegin, der Schmelkes von der dritten Bank rechts, die nach Manila floh. Mit den Ihren redet sie dort Prager Deutsch. Und dann der andere, der Prager Arzt. In Wien hatte er praktiziert, flüchtete vor Hitler, weit, weit, so weit es nur ging. In Hanchow wandte er sich um, konstatierte, es sei nun weit genug. Er wollte praktizieren. Nein  ! Das dürfe er nicht, müsse erst den chinesischen Doktor absolvieren. So fing er von vorne zu studieren an. Anatomie  ? Nein  ! Die sei nutzlos. Fingerspitzengefühl sei alles, das müsse ausgebildet werden  : Man tastet sich die Glieder entlang, spürt den Herd der Erkrankung, heilt nach chinesischer Methode  ! Als das Kataklysma vorüber war, kehrte der Dr. med. sinol. nach Europa zurück. Ich litt an einer schmerzhaften Neuritis im Oberarm. Er betastete mich zärtlich  : »Kruzi sakra, das muss Eahn aber scheißlich wäh tun  !« Ich stritt es nicht ab. »Sie sind eine Zyklame  !« und gab mir zyklamenfarbige Pillen zum Schlucken. Ich war gekränkt  : »Warum bin ich keine Rose  ? Oder ein Edelweiß  ?« – »Nix gutt  ! Seins froo  ! Als Rose tats wäh wie Säbelhiep. Zyklame is graziäsrr  !« Dann folgte die Akupunktur mit Silbernadeln. Ich, beleidigt  : »Warum nicht goldene  ?« – »Gäät Sie nix an, abr husten tuns  !« Ich hustete und er stach. Ich spürte nichts. So heilte mich der liebe chinesische Doktor aus Prag. Oh, dieses köstlich disharmonische »Bemmischdaitsch«, ein barocker Singsang voller Verrenkungen. »Er hat sich beleidigt  !«, sagt man und verdreht den Unterarm. »Jezismarne  !« ( Jesus Maria), und duckt sich vor dem himmlischen Rachestrahl ob der Blasphemie. Ein Abgrund trennt das Prager vom Wiener Deutsch. Dennoch gedeihen beide Sprachblüten fröhlich nebeneinander weiter. Wenn in so mancher Wiener Amtsstube noch heute »geböhmakelt« wird, so ist dafür die Überflutung der ehemaligen Reichshauptstadt durch Arbeits- und Wissbegierige aus Böhmen, Mähren und Schlesien verantwortlich. In diesen Ländern schöpfte Wien nebst Dienstmädchen, Köchinnen und Hausmeistern auch seine hohe, vorbildliche Beamtenschaft, seine Minister, Bundeskanzler und Bundespräsidenten (Letztere mit Vorliebe aus Mähren). Die Auserwählten befleißigten sich, je höher sie in die Leuchttürme von Autorität und Ansehen aufstiegen,

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das heimatlich Mundartliche abzustreifen und, je nach Maßgabe der gewählten Berufskategorie, sich entweder eines antiseptisch-wissenschaftlichen Deutschs zu bedienen oder eines möglichst alpenländisch-wienerischen, leutseligen Jargons. Nicht zu übersehen, aber uneinschätzbar ist der Einfluss, den die aus den slawischen Kronländern stammenden Schriftsteller, Dichter und Gelehrten auf das Wiener, auf das gesamte westliche Kulturleben ausgeübt haben  ! Wie viele geniale Köpfe sind nicht aus dem hunderttürmigen Prag, dieser schönsten deutschen Stadt, hervorgegangen  ? Und wie viele, wenn auch nicht buchstäblich, so doch spirituell, aus dem Ghetto  ? Alle waren sie um die Jahrhundertwende über den Graben gebummelt, von der unvergesslichen Spielwarenhandlung Brandeis, am Modegeschäft Buschek und Suda vorbei, bis zum Lippert und dem Pulverturm  ; oder gegenüber, das »Deutsche Haus« ignorierend, zum Hotel de Saxe, Gleichgesinnte gravitätisch grüßend, weltanschauliche und rassische Gegner hart anstarrend. Während die Teutonen und Sudeten zu ihrem Stammtisch pilgerten, zogen zu ihrem Stammkaffee ein Kafka mit seiner Milena, ein Stefan Zweig, Meyrink, Max Brod, Roth, Kisch u. a. m. Der Vers ging um  : »Es zweigelt, es brodelt, es werfelt und kischt  …« Ein Torberg lief, wie ich, noch in kurzen Hosen herum. Der Tradition der böhmischen Phäaken blieb er treu, besingt köstlich in der »Tante Jolesch« den grundgütigen Geist, der diesen zweiten Prager Vormärz erfüllte. Franz Kafka habe ich nicht gekannt, obwohl dies zeitlich möglich, mit Rücksicht auf die vorurteilsbedingten Schranken des gesellschaftlichen Verkehrs von uns Kindern jedoch undenkbar gewesen wäre. Dafür hatte ich das Glück, später mit zwei aus Prag hervorgegangenen Schriftstellern in Kontakt zu kommen. Des einen Freundes aus Prag will ich gedenken  : Johannes Urzidil. Zwei Dinge brachen das anfängliche Eis  : Er war ein Johannes von Nepomuk, wie ich  ; einer seiner Vorfahren war von einem Fürsten Schwarzenberg manumittiert95 worden. Urzidil sandte mir die Ablichtung der Urkunde. Sie stammte aus einer Zeit, da nicht nur die Juden kein Recht auf Freizügigkeit hatten. Es gab noch Leibeigene und die Robot. Nur mit landesherrlicher Genehmigung konnte man die Scholle verlassen. Adam Josef, von Gottes Gnaden Fürst von Schwarzenberg96, hatte ein Einsehen. Dem Auswanderungswunsch wurde willfahren und dem Bittsteller sogar ein Wohlverhaltenszeugnis ausgestellt. Damit leistete der Fürst seinen Beitrag zur späteren Auffahrt Johannes Urzidils in den Olymp der aus Prag stammenden Meister der deutschen Sprache. Die Herzensgüte Urzidils nahm romantische Dimensionen an. Er liebte im Nächsten alles, Fehler und Vorzüge, bilden diese ja eine ebenso wesentliche Rolle in der Gestaltung der Persönlichkeit wie jedes Steinchen im Mosaik. Er vermochte selbst »die Lieb’ zu einer anderen in der richtigen Weise« zu lieben. Dieser Goethe-Forscher, Romancier und Kafka-Getreue (er war sein Testamentsvollstrecker) liebte sein Prag über alles. Die zartesten Schwingungen der böhmischen Seele waren ihm vertraut. In der tiefen Verbundenheit zur böhmischen Heimat fand er inneren Gleichklang mit Gertrud, der

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dichterisch begabten und ebenso warmherzigen Gattin. Ein harmonisches Paar, Philemon und Baucis im New Yorker Exil. Der andere war Franz Werfel. Die Begegnung danke ich einer der großen Wiener Frauengestalten  : Alma Mahler  ! Welch prächtige Erscheinung  ! Mit dem vollen Busen, der rauen Stimme und dem selbstbewussten Auftreten  ! Als schöne Tochter eines Wiener Modemalers hatte Alma das Konservatorium absolviert, als sie der Unwiderstehlichkeit Gustav Mahlers verfiel. Liebevoll pflegte sie ihn bis zum Tode. Zeitlebens vermochte sie als gelernte Musikerin Mahler so manche Übertreibungen oder gar Verirrungen in der Harmonie auszureden. Erbauend, wie eine kluge Frau ihren genialen Gatten beeinflussen kann, nach seiner, nach ihrer Art  ! Alma hatte Mahler glücklich gemacht. Dafür verdient sie historische Notorietät. Als wir, meine Frau und ich, im Hause Werfel-Mahler verkehrten, beherrschte in einer anderen Wiener Villa in der Jacquingasse eine zweite bemerkenswerte Frauengestalt ihren Gatten. Es war Pauline Strauss, geborene von Ahne. Zur Illustration das folgende Intermezzo  : Richard Strauss hatte das Glück – nach einem handgreiflichen Krach  –, sich in München mit der Generalstochter Pauline von Ahne (das »von« war für das künftige Eheverhältnis von großer Wichtigkeit) zu verloben. Richard Strauss hatte  – so pflegte wenigstens sein Paulinchen zu behaupten – schweres Pschorrbier in den Venen. Er gehörte aufgemischt. Paulinchen hatte Grundsätze. Dazu gehörte die Reinlichkeit. War man in die prächtige Strauss-Villa in der oberen Jacquingasse zu Tisch geladen, so wurde man von zwei Dienstmädchen in Empfang genommen. Man musste zunächst einen Fuß heben, durfte sich dabei auf die Schulter der einen Maid stützen  ; die andere wischte ohne Rücksicht auf das Wetter die Schuhsohlen mit einem nassen Fetzen ab. Dann hob man den zweiten Fuß, stützte sich auf die andere Mädchenschulter, und die zweite Schuhsohle wurde abgerieben. Erst dann durfte man eintreten. Paulinchen war eine hervorragende Hausfrau und befriedigte in dieser Beziehung ihren Gatten vollends. Speis und Trank (Moselweine) waren ausgezeichnet  ; Silber und Gläser strahlten, der Parkettboden blitzte. Gab es aber Zank im Hause – und das war nicht selten –, da konnte Paulinchen auf gut bayrisch grob werden. Sogar Ohrfeigen soll es gegeben haben. Wenn es Richardl zu dumm wurde, verließ er das Zimmer, keineswegs schmollend oder ärgerlich, nein, ganz unbewegt schloss er sich ein und komponierte eines seiner herrlichen Lieder, voll Lyrik und Liebe. Hatte aber Paulinchen mal einen Schnupfen, lag im Bett und es gab wegen geminderter Volt-Spannung keine häuslichen Szenen, da ging Richardl mangels Inspiration ins Kaffeehaus oder zu Freunden Skat spielen. Alma Mahler war eine ebenso gute, aber weniger sanguinische Hausfrau. Noch in einem Punkte übertrafen die beiden einander, nämlich im Herausholen der maximalen Leistung aus dem ihnen angetrauten Motor  ; jede auf ihre Art  ; jedem, was er verdient. Die Ohrfeige verhält sich zum Kuss wie der Hass zur Liebe. Alma Mahler verlebte

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beglückende Jahre mit Gropius, bevor sie den verwahrlosten Werfel aus dem Ghetto herausgrub. Ihn einen »Bohemien« zu nennen wäre ein Euphemismus. Alma hatte das Genie Werfels erahnt. Darin besaß sie ein unfehlbares Feingefühl. Sie brachte Ordnung in seine Verworrenheit, gewöhnte ihn allmählich an ein geordnetes Leben, zwang ihn zu einem Maßanzug und zum Tragen einer Krawatte. Werfel sollte salonfähig gemacht werden. Alma war ja reich, hatte zwei Großverdiener beerbt, Mahlers royalties wurden rechtzeitig ins westliche Ausland kanalisiert, und man bezog eine luxuriöse Villa im Wiener Cottage-Viertel. Werfel fand Gefallen an der eleganten Wiener Geselligkeit, vermochte aber trotz Almas kosmetischer Bemühungen seine Deplatziertheit bei den eigenen Empfängen weder sich noch den Geladenen gegenüber vergessen zu lassen. Die große Wienerin überlebte auch Werfel. Zwischendurch hatte sie noch andere Genies entdeckt und beglückt, jeden nach seinem Stil. Almas frauliches Meisterstück war die Erziehung Oskar Kokoschkas. Auch hier war Voraussetzung das Herausfischen aus dem trüben Tümpel des Verkanntseins. Als »Schweinereien« wurden des jungen Kokoschkas Erstlingswerke vermaledeit. Wenn aber aus den köstlichen Fächern, mit denen der mittellose junge Kokoschka sich an Almas Geburtstagen für erbrachte Leistungen revanchierte, wenn aus der »Windsbraut« (1914) die alles verratende Melodie klar erkennbar ist, so singt hier ein an den Gestaden der Donau geborenes, österreichisch-slawisches Genie den Ruhm einer Frau, die zur Bereicherung der gesamten Kulturwelt die Mission des Beglückens zu sublimer Entfaltung gebracht hat. Prag und Wien, zwei Städte, eng benachbart  ; im Spannungsfeld der Geister  : Gegenpole. Warum empfinde ich den Prager Pol positiv, den Wiener negativ geladen  ? Das Licht folgt der Rotationsrichtung der Erde. Südlich liegt an der Donau Wien  ; völlig verschieden in seiner völkischen Zusammensetzung. Wien hat seine besondere östliche Sendung, in der Richtung des Donaustromes. Elektrisch negativ geladen, lässt es sich speisen. Es absorbiert und assimiliert in jeder Beziehung  : Nahrungsmittel, Indust­ rieprodukte, Arbeitskräfte, Talente. Der Adel residierte und repräsentierte in barocken Palästen, verausgabte die bedeutenden Mittel, die seine in den Kronländern gelegenen Forst- und Landwirtschaftsbetriebe erzeugten. Wien ist Gaststätte für Sucher nach einem Platz an der Sonne, auch für Durchzügler. Ist es das Klima Wiens, das so anziehend wirkt  ? Aus Italien kamen Musiker, Schauspieler, Prediger, Deckenmaler und Stukkateure, es kam Metastasio. Aus Salzburg kam Mozart, aus Deutschland Beethoven, aus Ungarn Haydn, aus Hamburg Brahms, aus München Richard Strauss, aus einem böhmischen Marktflecken Gustav Mahler  ; ferner eine Plethora von Gelehrten, Ärzten und Schriftstellern u. a. m. In Wiens milder Atmosphäre fanden sie Inspiration und ein Publikum. Wien flößte ihnen neues Leben ein – eine geistige Bluttransfusion. Was im Vorland gekeimt hatte, schoss hier in die Halme. Wien reichte das Geerntete weiter, versilbert, andere Kulturkreise befruchtend, immer dem Lauf des Lichtes folgend.

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Unter den aus Böhmen, aus Mähren, aus Galizien, Ungarn, Rumänien und der Bukowina einwandernden Talenten gab es Juden, sehr viele Juden. Sie kamen angeschlurft aus den Ghettos, trugen Bibelweisheit aus den Synagogen heran, Geschäftstüchtigkeit und die merkwürdige Sprache, die vom Osten kamen, das »Jiddisch«, die aus Böhmen – und die sind mir ans Herz gewachsen – das köstliche »Böhmisch-Deutsch«. Urgesund, energie- und dialektikgeladen stießen sie auf ein hochzivilisiertes, mehr rück- als vorwärtsschauendes Wien. Spürten sie dort den Neid der Alternden  ? Die Eifersucht des greisen Schoßhundes, der noch bei Lebzeiten ein jüngeres, lebhafteres Hündchen als Nachfolger neben sich dulden muss  ? Ahnten sie die bevorstehende Katastrophe, die sie weiter westwärts verjagen wird  ? Warum waren in der vormärzlichen Atmosphäre meiner Jugend die Juden und ihre Unumgänglichkeit zu einem Anankasmus geworden  ? Gespenstisch, unausweichlich schlich der Geist des Schusters Ahasver97 über die Bühne, wann immer es im Gespräch, bei Beratungen oder Tagungen um das Wesentliche ging, und das ist nun einmal die Finanzierung. In Hof- und Adelskreisen wurde vielleicht die Wichtigkeit der Jagd, der Genealogie, aber auch der Politik in abstracto – übrigens auch das Kriegführen als propädeutische Prinzenerziehung, nicht als Handwerk – deshalb so hochgespielt, weil da der Jude keinen Platz fand. Wenn es aber um die Realisierung eines Projekts ging, gleichviel ob im wirtschaftlichen, im technischen, im kulturellen, ja sogar im kirchlichen Felde, da ging es nicht ohne die Einschaltung eines Juden. Die Jahre an der Wiener Universität Mit achtzehn Jahren stand ich mit nicht viel anderem da als mit einem Maturazeugnis und mit einem Erbanspruch auf eine Barsumme, die mir mein Vater in seinem anno 1903 verfassten Testament zugedacht hatte. Diese Summe wurde mir laut Grundsatz »Krone ist Krone« in tschechischer Währung ausbezahlt. Der Zusammenbruch der Schillingwährung im Jahre 1927  – ich lebte zu diesem Zeitpunkt bereits in Wien  – zerstampfte den Rest des väterlichen Erbes bis auf einen Bechsteinflügel, den ich mir mit meinen letzten Groschen kaufte. Ein sehr bescheidenes Talent zum Klavierspielen und gute Zielsicherheit mit dem Jagdgewehr waren die einzigen Qualifikationen, die mich auf dem Weg nach dem neuen Österreich und zur Wiener Universität begleiteten. Mit achtzehn Jahren beschloss ich – zum Leidwesen meiner Mutter, aber ohne deren Widerstand –, Prag den Rücken zu kehren und meine Zukunft in Wien zu suchen. Als ein gedrückter Greis sage ich mir heute  : »Du hast eine schöne Zukunft hinter dir  !« Es war kein leichter Entschluss meiner Heimat, dem trauten Böhmerland, den Rücken zu kehren. Ein schwerer Schritt, denn er bedeutete, meine Mutter allein zu lassen. Mama harrte zunächst auf ihrem Witwensitz, der Wespenau, aus. Sie konnte sich ein

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Leben weit weg vom Grabe ihres geliebten Mannes nicht vorstellen. Erst später, als der Druck der tschechischen Regierung immer härter und die Lebensbedingungen für eine Altösterreicherin unleidlich wurden, floh sie ebenfalls nach Wien. Aufgrund des Friedensvertrages von St-Germain war ich, weil in Prag geboren, tschechoslowakischer Staatsbürger geworden. Mit dem achtzehnten Lebensjahr wurde ich militärdienstpflichtig. Bald nachdem ich mich in Wien niedergelassen hatte, wurde ich zum Zweck der Assentierung zum Generalkonsulat ins Palais Cumberland vorgeladen. Ich verabscheute die Idee, in der Tschechei dienen zu müssen. Ich nahm eine Handvoll den Herzschlag beschleunigender Pillen ein, raste auf die Rax und präsentierte mich mit wild flatterndem Herzen der Assentierungskommission. Der feiste Arzt mit Zwicker und Schoßrock ließ sich nicht täuschen, wusste genau, wer ich war. Er griff mir in die Hoden und erklärte erstaunt  : »Schopen bez  !«, das heißt  : »Geeignet ohne« (Geschlechtskrankheit, die er offenbar bei einem dekadenten Aristokraten voraussetzte). So wurde ich Soldat und einem Infanterieregiment zugeteilt. Wohlmeinende Beamte im Prager Landesverteidigungsministerium glaubten mir die Härte des Rekrutendiens­ tes versüßen zu sollen und versetzten mich zu einem Dragonerregiment. Mir war bei alledem nicht wohl zumute, so entschloss ich mich, aufgrund des mir zustehenden Optionsrechtes österreichischer Staatsbürger zu werden. Damit beging ich einen Akt der Fahnenflucht. Aber warum sollte ich mein Leben für einen Staat einsetzen, in dessen Pelz meine Familie wie eine Laus wirkte, eine Laus, die zu zerquetschen die Regierung sich mit allen Mitteln befleißigte  ? Glücklicherweise gibt es allenthalben noch einsichtige Menschen, die Vernunftgründen umso mehr zugänglich sind, wenn diese von einem Banknotenpaketchen begleitet sind. Das Dragonerregiment wurde um einen Rekruten ärmer, der österreichische Bundesstaat um einen Postenjäger reicher. Freilich lagen die Dinge, wie meist bei historischen Ereignissen, keineswegs klar. War das neue Österreich wirklich begehrenswert  ? Eine sozialistische Regierung hatte auch dort den Adel abgeschafft, ja das Führen des Adelstitels unter Strafe gestellt. Mein Einstand an der Wiener Universität verlief nicht allzu brillant. Es war mein großes Glück, während der ersten vier Semester den gleichaltrigen Herzog Max von Hohenberg zum Kollegen und Freund zu haben. Wir teilten uns einen Korrepetitor, dessen geschwätzige Pädagogik uns bei der ersten Staatsprüfung durchfallen ließ. Ehrgeizig, wie ich nun einmal bin, wurmte mich diese Schande, und ich steckte von nun ab die Füße in ein Schaffel mit kaltem Wasser, um beim Studieren nicht einzuschlafen. Max ging nach Graz. Ich blieb in Wien, Sängerinnen halber. An der Universität erlebte ich eine weitere Entwicklungsstufe in der anwachsenden Auflehnung der Studenten gegen die Präpotenz ihrer jüdischen Kollegen.98 Unter diesen gab es viele Ostjuden, mit denen man nicht einmal die Heimat und die Sprache gemein hatte, wie seinerzeit in Prag. Nicht alle Studenten machten diese zum Teil in einem Minderwertigkeitskomplex wurzelnde Abneigung gegen die sogenannten

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Nicht-Arier mit. Es gab in Wien glücklicherweise auch talentierte junge Leute aus guten Wiener Kreisen, meist altösterreichischen Beamtenfamilien, die sich über die Vordringlichkeit der aus dem Ausland ›zuagrasten‹ Studenten hinwegsetzten. Es waren vorwiegend die aus den Alpentälern in Lederhosen und »Genagelten« herabwatschelnden Nachfahren des Homo alpinus, deren primitiveres Wesen der Faust den Vortritt vor dem Hirn einzuräumen gewohnt war. Sie besuchten die sogenannten Schnellsiedekurse, weil ihnen das Niveau der Universitätsseminare zu hoch war. Lieber als die langweiligen Lehrbücher unserer Ordinarien studierten sie die zwar konzisen, aber meist verjährten sogenannten ›Skripten‹. Stur wiederholten sie bei den Prüfungen die aus den Skripten eingelernten Sätze, was ihnen mitunter den Durchfall bei der Prüfung eintrug. Auf eine von meinem Lehrer im Römischen Recht, Professor Wlassak, gern gestellte Frage betreffend das Zwölftafelgesetz antwortete der naseweise Kandidat  : »Wie der junge Gelehrte Sickert so richtig sagt …«, worauf Wlassak  : »Ihr ›junger‹ Professor Sickert ist bereits seit 10 Jahren tot  ; holen Sie sich eine à jour gebrachte Antwort in meinen Vorlesungen über denselben Gegenstand im nächsten Semester  !« Hier fällt mir eine andere Reaktion einer Koryphäe der Alma Mater Vindobonensis, des Lehrers für Wechselrecht, Professor Grünhut, ein. Der junge Spross einer der vornehmsten österreichischen Adelsfamilien tritt zur zweiten Staatsprüfung an. Er weiß keine der Antworten. Grünhut  : »Herr Kandidat, ich kann zwar nicht verhindern, dass Sie Minister oder gar Botschafter werden  ; ich kann es aber um ein ganzes Jahr verzögern …« Nicht nur unter den Studenten machte sich diese Spaltung fühlbar. Von den Großen meiner Hochschullehrer glitt der Strafrechtslehrer Graf Gleispach allmählich in das braune Fahrwasser, während der berühmte Hans Kelsen, der Vater der österreichischen Bundesverfassung, Stolz und Stütze der studentischen Elite im nicht-arischen Lager war. Man erwartete von mir, dass ich mich einer der Couleur-Studentenschaften anschließe. Ich habe es aber geflissentlich vermieden, im Parteien- bzw. Rassenstreit Stellung zu nehmen und mich weltanschaulich festzulegen. Alles schien mir damals unausgegoren, unseriös. So wurde ich auch nicht CVler. Das hat mir später viel Scherereien in meiner Beamtenkarriere eingetragen. Rückschauend bedauere ich meine Zurückhaltung keineswegs, denn sie entsprach logisch meinem später bei jeder Gelegenheit, auch in leitender Stellung, zum Ausdruck gebrachten ceterum censeo vom Wert des unpolitischen Beamtentums. Meiner Überzeugung nach sollte es, so wie dies in Großbritannien mit dem bekannten, hervorragenden Erfolg beobachtet wird, einem Beamten verboten sein, während des Aktivdienstes einer politischen Partei anzugehören. Das gilt vor allem für die diplomatischen Beamten  ; andernfalls besteht die Gefahr, dass ein Botschafter im Ausland sowohl gegenüber dem Empfangsstaat als auch vor der eigenen Kolonie eine Partei und nicht die Heimat vertritt – er muss unterschiedslos alle Österreicher vertreten  !

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Wohl ließ ich mich während meiner Wiener Studienzeit nie in ein nationalistisches Fahrwasser hineinmanövrieren  ; dennoch kann ich mir keinen vollkommenen Freispruch erteilen von einer gefühlsmäßigen Auflehnung gegen das damalige Benehmen der Mehrzahl der Juden in Österreich. In den Zwanzigerjahren dominierte in Wien nicht nur an der Universität, sondern so ziemlich im ganzen intellektuellen Leben, in der Tagespresse (Bettauers99 »Die Stunde«  !), im Theater, in der Literatur das jüdische Element, und zwar durchaus nicht immer in einer dieses so hochbegabte Volk ehrenden Weise. Dessen ungeachtet gab es auch wertvollste und liebenswerte Erscheinungen unter den alteingesessenen Wiener Juden. Diese selbst trafen da eine scharfe Trennung. Die Wiener Judenschaft sah nur ungern den starken Zustrom von Flüchtlingen aus Polen und anderen Ostgebieten. Den bodenständigen Kreisen war es alles eher denn willkommen, als die Wiener Gemeindeverwaltung aus rein wahlpolitischen Gründen (Vermehrung der sozialistischen Stimmen) den einwandernden Ostjuden die österreichische Staatsbürgerschaft und damit das Wahlrecht verlieh. Als ich als Referent in der politischen Abteilung des Bundeskanzleramtes, Auswärtige Angelegenheiten, mit kulturpolitischen Fragen betraut war, kam die Frage der Einführung eines Numerus clausus an den Wiener Hochschulen aufs Tapet. Druck aus dem Reich, Demonstrationen auf dem Ring vor der Universität, Zeitungskampagne  : Zum Schutz der einheimischen Studentenschaft sollte die Zahl der jüdischen Hörer mittels Einführung einer zahlenmäßigen Höchstgrenze beschränkt werden. Dafür war Prüfung der Rassenzugehörigkeit Voraussetzung. Die Bevölkerung musste in einem behördlich aufgelegten Formular die eigene Rasse einbekennen. Was heißt Rasse  ? Hitlers Thesen waren noch nicht Gemeingut. Ich schrieb ins Formular nach »Rasse« – »dolychokephaler Orthognate« und weiß heute noch nicht, was das eigentlich bedeutete. Als der erhebende Beamte des Magistratischen Bezirksamtes mich fragte  : »Also deutsch  ?«, antworte ich gleich Pontius Pilatus  : »Was ich geschrieben habe, habe ich geschrieben.« Und damit musste er zufrieden sein. Wegen des Numerus clausus wusste man in den Zentralstellen nicht ein noch aus. Da gab es die Großdeutschen – und wir hatten sogar einen Bundeskanzler, der ihnen nahestand –, die immer meinten, man solle in kleinen Dingen dem Druck aus München bzw. Berlin nachgeben, um in den Lebensfragen umso fester bleiben zu können  ; eine andere Illusion, wie alles was diese alten »Herbstzeitlosen«100 verzapften  ! ­Andere befürworteten den numerus clausus, weil damit die Überfüllung in den Hör- und Seminarsälen, darüber hinaus aber auch der Andrang zu den akademischen Berufen gesteuert werden könne. Zu Beginn der Dreißigerjahre waren über achtzig Prozent der Wiener Advokaten Juden und neunzig Prozent der Spitalsärzte. Die Beschwerden aus den Bundesländern wegen Benachteiligung der heimischen Studentenschaft wuchsen. Ebenso stark stieg die Arbeitslosigkeit und damit die Unzufriedenheit der Hochschulabsolventen, die alle guten Stellen und Posten durch Juden besetzt fanden.

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Hitler sorgte persönlich dafür, dass die Frage der sogenannten Überfremdung an den Wiener Hochschulen radikal und kriminell gelöst wurde. Rückblickend auf mein Wiener Universitätsstudium frage ich mich, wie viel oder, richtiger, wie wenig von dem Gelehrten – und Gelernten mir im späteren Leben von Nutzen war. Die gleiche Frage kann auch hinsichtlich des vorausgegangenen humanistischen Gymnasiums gestellt werden. Die reichlich breitgetretene Antwort betreffend den Wert des Latein- und des Griechischstudiums ist nur teilweise beruhigend. Aber, Hand aufs Herz, abgesehen von jenen Studenten, die wieder Universitätslehrer wurden, durften die späteren Anwälte, Notare, Staats-, Gemeinde- und kaufmännischen Angestellten, die Bankiers, Industriellen, Gewerkschaftsführer, Abgeordneten und Minister in den Hörsälen zwar einiges für die Mechanik des Denkens, wenig aber für ihr jeweiliges Metier gelernt haben. Harold Macmillan101 zitiert in seinen geistvollen Memoiren eine Oxforder Koryphäe, die als einzig praktisch verwertbares Ergebnis des Universitätsstudiums die erworbene Fähigkeit bezeichnete, feststellen zu können, wenn einer dummes Zeug redet. Ich bin undankbar, wenn ich mich kritisch dessen erinnere, dass ich zur ersten Staatsprüfung einen griechischen Pandektentext zur Interpretation erhielt.102 Ich wusste es ferner nicht zu schätzen, dass ich in Baron Josef Schey103 den größten Fachmann auf dem Gebiet des ABGB vor mir hatte. Ich bewunderte seine schneeweißen Gamaschen – in Wien Flohtackerln genannt – und schlief ein. Beim Volkswirtschaftler Othmar Spann104 lernte ich, auf »spannisch«, mehr Philosophie als Nationalökonomie  ; weder einen Zolltarif noch einen Handelsvertragstext bekamen wir zu sehen, doch behauptete der Professor, er lasse sich täglich zum Frühstuck den Kurszettel der Wiener Börse vorlegen  ! Ich glaube das nicht. Bei vielen anderen bärtigen Professoren schlief ich ein, und als die Prüfung herannahte, ging ich eben wie die meisten meiner Kollegen in einen Schnellsiedekurs. Eindruck machte mir Professor Wenzel Graf Gleispach.105 Bei ihm lernte ich etwas Strafrecht und blieb seither ein verkrampfter Kriminalist, professionell deformiert durch spätere Jahre als Polizeikommissär. Einiges verdanke ich dem Rechtsphilosophen Goldmann und natürlich der Leuchte der Staatswissenschaften, Professor Hans Kelsen.106 Selbstverständlich ziehe ich den Hut zutiefst vor diesem bald Hundertjährigen. Österreich verdankt ihm seine Verfassung. Sie ist perfekt, kristallklar, bewunderungswürdig, u. a. in der Behandlung der Polarisation Bund/Länder. Verglichen mit den nebelüberzogenen britischen Verfassungsverhältnissen  – nur ein Josef Redlich, den ich ebenfalls das Privileg hatte zum Lehrer zu haben, brachte es zuwege, sie zusammenzufassen und in verständliche Formen zu zwängen – hatte die Kelsen-Verfassung für mich etwas Retortenhaftes, Antiseptisches. Sehr viel verdanke ich diesem anderen großen Lehrer und guten Menschen, dem Völkerrechtler und Rechtsphilosophen Alfred von Verdroß.107 Kelsen und Verdroß  ! Zwei berühmte Professoren, zwei Puristen  ! Im Paradies sollen zwei Bäume mit myste-

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riös polarisierender Bedeutung gestanden haben  : der Baum des Lebens und der Baum der Erkenntnis. Um ihren Studenten eine Lebensstellung im Paradies dieser Welt zu sichern, suchten meine beiden Professoren sich im akademischen Wienerwald zwei Bäume aus und kletterten behend in die Wipfel des abstrakten Rechtes, Kelsen in jenen des Staats-, Verdroß in jenen des Völkerrechts. Hans Kelsens Rechtsvorstellung wurzelte diesseits, Verdroßens im Jenseits. Kelsens auf reiner Logik aufgebautes Rechtssystem ließ ihn das Naturrecht als eine pseudowissenschaftliche Ideologie ablehnen, deren Adepten zwar präzise, aber faktiöse politische Ansichten vertraten. Maßgebend nach seiner Ansicht ist allein die Norm, das Sollen wichtiger als das Sein. Positives Recht  ! Absolute, unqualifizierte rechtliche Wahrheiten, chemisch gereinigt von aller Ideologie, die menschliche Person streng von der juristischen getrennt, ein Objekt der Norm. Als Kelsen-Schüler geriet ich fünfzig Jahre später in Gegensatz zu meinem in Weltruhm gehüllten Lehrer, und zwar wegen seiner Feindseligkeit gegenüber dem Souveränitätsbegriff. Krampfhaft, in allen Winkeln und Falten der staatsrechtlichen Weltliteratur, suchte und suche ich nach der wissenschaftlich zu rechtfertigenden Souveränität des Malteser Ritterordens. Kelsen würde müde lächeln. Ich aber lasse nicht locker  ! Da kommt mir der andere juristische Baumwipfelkletterer zur Hilfe  : Alfred von Verdroß. Auch er stieß ins Abstrakte vor, in die Walhalla des absoluten Völkerrechts. Ich erinnere mich der Bemerkung eines Kardinals, die der Prosa des Dogmatikers Karl Rahner SJ galt  : Dieser entführe seine Schüler in die stratosphärischen Höhen abstrakter Begriffe. Seine Hörer verlören dabei leicht den Boden unter den Füßen, er, Rahner, bewahre natürlich den Kontakt mit der Realität, aber das merkten seine Schüler nicht. So ging es mir mit Verdroß. Glücklicherweise hat die dilettantische Mittelmäßigkeit meiner Rechtskenntnisse mein Hochklettern in die eisigen Höhen des absoluten Rechts gehemmt  ; nur schüchtern klammere ich mich an die Sohlen der Kletterschuhe meines Lehrers Verdroß, den ich umso mehr liebe, als ich um seine feste Verankerung im katholischen Glauben weiß und seine tief christliche Weltanschauung bewundere. Ignaz Seipel »Ich habe Sie rufen lassen, weil Graf Lanckoronski, bei dem wir uns ja kennengelernt haben, Sie mir ans Herz gelegt hat.« Diese Worte entschieden meinen Lebensweg. Ohne das Eingreifen Ignaz Seipels108, dieses großen Staatsmannes und Priesters, wäre ich nie österreichischer Beamter und Diplomat geworden. Onkel Karl Lanckoronski, Mäzen und ehemaliger k. k. Oberstkämmerer, war mir während meiner Wiener Universitätsjahre ein zweiter Vater. Dieser Hüne mit Bauch, Glatze, Backenbart und Fistelstimme trug immer einen Stock und reduzierte mit diesen Überzeugungsmitteln alle Widersprecher zu Zwergen. Onkel Karl nahm mich zu

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Konzerten und ins Theater mit. Einmal ließ er sich allzu gewichtig im vollbesetzten ersten Rang des Josefstädter Theaters nieder, worauf die gesamte Sitzreihe mitsamt den Draufsassen zusammenbrach. In Konzerten pflegte er einzuschlafen, wachte zeitweise auf, um energisch zu applaudieren, gleichviel ob das Stück zu Ende war. Ähnlich war es bei Vorträgen  : unverhofftes Erwachen gefolgt von Bravo-Rufen oder »Ausgezeichnet  ! Wiederholen Sie das, Herr Vortragender  !«. Des Onkels Gestalt war ebenso stadtbekannt wie sein polterndes Herein- und Unterbrechen. Das war der Exzellenzherr Lanckoronski  ! Und das kulturelle Wien liebte ihn. Ich war regelmäßig in sein mit Kunstschätzen vollgepfropftes Palais in der Jacquingasse geladen, und ich verdanke ihm und seiner ihm an Geist und Kunstverständnis ebenbürtigen Tochter, Univ.-Prof. Karla Lanckoronska109, unendlich viel. Alle bedeutenden Zeitgenossen die nach Wien kamen, fanden im Palais Lanckoronski gastliche Aufnahme. Ich traf dort u. a. erstmalig Carl Jacob Burckhardt110, einen anderen für meine künftige Existenz maßgeblich hilfreichen Freund. Bei einem der immer anregenden Mittagessen im Hause Lanckoronski war einmal der christlichsoziale Parteiführer und mehrfache Bundeskanzler Prälat Ignaz Seipel zugegen. Ich stand vor dem letzten Rigorosum und brüstete mich im Laufe des Tischgesprächs ein Schüler Othmar Spanns zu sein. Es war Mitte der Zwanzigerjahre. Adolf Hitler war noch ein unbekannter Anstreicher. Unsere Großdeutschen gerierten sich als Hüter und Heger des nationalen Kulturgutes und der deutschen Ehre. Der Bolschewismus war der Popanz, den man gern hinter der »roten Gefahr« des Austromarxismus witterte. Wer nicht Sozialist war sah in den Herren Adler111, Seitz112, Tandler113, Bauer114 u. a. m. die Totengräber Österreichs, galten sie ja als Schrittmacher einer materialistischen Weltanschauung, der sich jeder gute Christ verschließen müsse. Die bürgerlichen Elemente suchten nach Patentlösungen. Die Großdeutschen glaubten, durch Anlehnung an das Deutsche Reich dem Radikalismus von links – und damals war die Sozialistische Partei Österreichs sehr radikal – das Handwerk legen zu können. Gerade damit ebneten sie Hitlers Einmarsch die Wege. Othmar Spann predigte die Panacea115 des Ständestaates. Die Ständevertretungen würden das unfähige Parlament ersetzen, ein Gedanke, dem Mussolini mit seinen Korporationen huldigen sollte. Einige träumerische Idealisten folgten Othmar Spann in der Annahme, dass ein vertikaler Aufbau des Staates die horizontale Schichtung und Nivellierung der Gesellschaft, zu welcher der Sozialismus führe, aufzulösen vermochte. Ich hatte Ignaz Seipels »Nation und Staat« gelesen und darin Anhaltspunkte gefunden, die es mir gestatteten, anlässlich des besagten Essens das Gespräch auf den Ständestaat zu bringen. Die Tischgesellschaft hatte weidlich auf die »Roten« geschimpft, die dabei waren, mittels ihrer verrückten Budgetpolitik und der Luxussteuer des Stadtrates Breitner116 Wien und Österreich wirtschaftlich zugrunde zu richten. Seipel war viel zu vorsichtig, um Stellung zu nehmen. Was aber meinen Ständestaat anlangt, so

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fuhr er mir über den Mund  : »Die Stände existieren ja gar nicht … Man müsste sie erst schaffen, das braucht Jahrzehnte. Im Mittelalter waren sie organisch gewachsen, sie wurden obsolet. Keiner Regierung steht heute eine ausreichende Lebensdauer zur Verfügung, um Stände zu kreieren.« Ich gab nicht nach  : »Was können wir aber, ohne mit den Sozialisten zu heulen, dem erstarkenden deutschen Nationalismus entgegenhalten  ?« Seipel, salbungsvoll wie immer  : »Die Österreicher müssten sich endlich bewusst werden, eine Nation zu sein, unterschiedlich von der deutschen  ! Die Österreicher müssen aufhören, sich nur als Tiroler, als Steirer, als Wiener zu fühlen. Das neue Österreich hat in der Geschichte noch nicht einmal zehn Jahre Zeit gehabt, eine Nation zu werden. Solange er diesem Länderpartikularismus huldigt, wird der Österreicher in allen den Gesamtstaat betreffenden Fragen, je nach Neigung oder Erziehung, zwischen der roten Scylla und der schwarz-rot-goldenen Charybdis zerrissen sein. Hinter beiden Verlockungen stehen aber gewaltige Mächte  !« Irgend jemand warf ein  : »Ist also Österreich nicht nur wirtschaftlich – wie die Westmächte meinen –, sondern auch politisch lebensunfähig  ?« Seipel rümpfte ein ganz klein wenig seine lange schiefe Nase und antwortete mit irgendeinem optimistischen Klischee. Obwohl seine Nase scharf nach links abgebogen war und sein linkes Auge nach rechts schielte, war doch Monsignore Seipel eine gradlinige Gestalt. Zu wenig blickte er nach rechts, zu wenig nach links. Er prägte das Wort von der Sanierung der Seelen, die entscheidender sei als die vom Völkerbund eingeleitete Sanierung der Finanzen. Seipels österreichischer Patriotismus trug ihm die Attentäterkugel ein. Monsignore Seipel hatte mich in sein Büro in der christlichsozialen Parteileitung bestellt  : »Hätten Sie Interesse, in den österreichischen Staatsdienst einzutreten  ?«, fragte er völlig unvermittelt. »An sich schon, aber erstens weiß ich nicht, ob man mich nimmt und zweitens stoße ich in meinen Kreisen auf Widerstand.« – »Wen verstehen Sie unter ›Ihren‹ Kreisen, und worin bestehen diese Widerstände  ?« Eintönig, aber ätzend wie eine Säge, stieß der steif vor mir in einem schwarzen Bratenrock sitzende Priester-Politiker die Fragen hervor. Schrecklich einschüchternd  ! »Ich bin vaterlos und habe mein Schicksal schon sehr früh in eigene Hände nehmen müssen. Ich bin aus Prag weggezogen, weil ich mich dort weltanschaulich in die neuen Verhältnisse nicht einzufügen vermochte. In Österreich hoffte ich Voraussetzungen zu finden, die, obwohl ebenfalls republikanisch, einem jungen Menschen auch meines Standes Fortkommensmöglichkeiten bieten. Aber die Herren im Jockeyclub, alle meine Onkeln und Tanten finden, dass der Adel an seiner traditionellen Kaisertreue Verrat übt, wenn er sich der ›roten Republik‹ zur Verfügung stellt.« Lange antwortete Seipel nichts, blieb steinern und kalt. Die weiße Priesterhand stützte das Kinn. Ich hatte Muße, ihn zu beobachten. Wie hässlich war er doch  ! Man wusste nicht, mit welchem Auge er einen anschaute. Es hieß, er selbst hasste sein Gesicht dermaßen, dass er nie in den Spiegel blickte. Da man sich aber schwerlich ohne

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Spiegel rasieren kann, überließ der Monsignore dieses Geschäft einem Friseur. Das war sein einziger täglicher Luxus. Als Seipel merkte, dass ich ihn beobachtete, erhob er sich und verlegte die Unterredung in eine dunkle Ecke des Büros  : »Reden Sie ganz offen zu mir. Schildern Sie mir näher diese Kritiken an unserer Regierungsform. Das interessiert mich. Ich bin Priester. Ein Beichtvater ist nicht zimperlich  ; man ist gewohnt, Unerwartetes zu hören.« Ich raffte mich auf  : »Exzellenz (Seipel hatte als ehemaliger Minister im letzten kaiserlichen Kabinett Lammasch117 Anrecht auf den ExzellenzTitel) werden wissen, dass der Adel sich mit der Republik noch nicht abgefunden hat. Wer nicht an der Fiktion festhält, dass alles beim alten bleiben müsse und, dass man mit den neuen Machthabern nicht packeln dürfe, der gilt als ein Hundsfott.« Seipel ächzte ein wenig, sichtlich bemüht, Verständnis für Ansichten zu finden, die er für dumm hielt. »Wie ich aus Ihrer Anrede ersehe, wissen Sie, dass ich ein Minister des letzten Kaisers war. Kaiser Karl war ein tief religiöser Mann voll der besten Absichten. Ich fühle mich ihm auch heute noch verbunden. Ich habe mich, weil es ein Wunsch der Kirche war, der Republik zur Verfügung gestellt. Der neue Staat ist nun einmal eine Rea­lität, und wir alle, die in ihm leben, tragen eine Verantwortung für dessen Ausgestaltung und Zukunft. Ich fühle mich nun dem letzten Kaiser gegenüber keineswegs als Verräter  ; im Gegenteil, ich halte es für meine Pflicht, der Republik zu dienen  ; gerade weil ich Priester bin  ! Dieses Österreich war immer ein Bollwerk des Christentums und heute sind die höchsten Werte der Christenheit in Gefahr, von links wie von rechts.« Immer salbungsvoller wurde der Redeton, als predigte er. Seipel vermied jedwede Geste. Die Händchen, die steifen, kurzen Finger waren zum Hochheben der Hostie da, nicht zum Herumfuchteln. Man vermeinte, vor einer Grabfigur zu sitzen. »Exzellenz halten es also für unsere Pflicht, der Republik bei ihren wenig verheißungsvollen Gehversuchen unter die Arme zu greifen  ? Sie halten es für die Pflicht des Katholiken, sich einem Prozess anzuschließen, in dem der Marxismus sich anschickt, die erste Geige zu spielen  ?«  – »Seitdem unsere deutschen Brüder den Lenin in versiegeltem Eisenbahnwagen auf das zerfallende Zarenreich losgelassen haben, in der Hoffnung, damit den Krieg zu gewinnen, werden wir von einer Sturzwelle aus dem Osten überflutet, gefährlicher als Attila, als die Mongolen, als die Türken. Eine Irrlehre kommt aus Moskau, die unseren Glauben, unsere Kirche zu zerstören verspricht. Ich bin mit meinen kirchlichen Oberen darin einig, dass wir alles daransetzen müssen, um diese Welle aufzuhalten. Gerade der österreichische Adel soll sich doch seines Starhemberg118 erinnern, der Wien vor dem Erzfeind der Christenheit gerettet hat.« Ich fühlte, dass ich deutlicher sein müsste. »Mein verstorbener Vater stand dem Ministerpräsidenten Kaiser Karls, dem Grafen Heinrich Clam-Martinic, nahe. Die beiden waren erzkonservativ und Landnachbarn. Als es hier in Wien ruchbar wurde, dass ich meine Universitätsstudien mit dem Blick auf den Staatsdienst verfolgte, ließ mir Graf Clam in seiner Entrüstung sagen, er werde mir nie mehr die Hand geben.

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Glauben Sie mir, Exzellenz, so etwas von einem Freund meines Vaters zu hören, ist hart, sehr hart.« Die Mumiengestalt tat nun etwas, was ihr offenbar ungewohnt war. Ungelenk, als zwinge er sich zu etwas Verbotenem, ergriff er meine rechte Hand. Viele Jahre später sollte ein anderer großer Priester in ähnlicher Weise seine Hände wärmend um die meinen schließen. Es war der nachmalige Papst Johannes XXIII. als Nuntius in Paris. Ihm kam allerdings die Geste natürlicher, herzlicher. »Junger Freund«, sagte Seipel, »ich fühle es Ihnen nach. Gewiss, der Graf Clam hat Ihnen den Entschluss nicht leicht gemacht. Ich achte Ihre Rücksicht auf das Vermächtnis Ihres Vaters. Ich kann Ihre Gefühle nur erahnen, denn meinen Vater habe ich nicht gekannt. Aber glauben Sie wirklich, dass Ihr Vater unter den völlig geänderten Umständen, unter denen wir nach verlorenem Kriege zu leben gezwungen sind, weiterhin die Ansichten des Ministerpräsidenten der untergegangenen Monarchie geteilt hätte  ? Sollen wir denn kaiserlicher sein als der Kaiser selbst, der ja seine Völker freigegeben hat  ? Der österreichische Adel wird sich umstellen müssen, will er im neuen Österreich fortbestehen. Für die Alten ist dies schwer  ; aber wenn die Jungen sich nicht aufraffen, dann ist es um den Adel als Faktor im Leben des Staates geschehen  !« Wiederum längere Pause. »Ich soll also mit gutem Gewissen aus der Reihe springen und das Anathema, das diese Schiedsrichter der Adelsmoral gegen mich aussprechen werden, ignorieren  ?« »Die Kirche steht über den Parteien  ; sie muss in erster Linie das hochhalten, was Christus ihr auf den Weg gegeben hat. Die traditionelle Sendung der Kirche in Österreich besteht eindeutig in der Verteidigung des christlichen Glaubensgutes und seiner Morallehre.« (Seipel war Professor für Moraltheologie in Salzburg.) »Ich selbst habe, wie gesagt, keinen Augenblick gezögert, als der Ruf an mich erging, mich in die grause Politik zu stürzen.« Da warf ich eine Frage ein, die mich schon seit Jahren beschäftigte  : »Wenn sich die Kirche mit Politik beschäftigt und durch ihre eigenen Organe in den leidigen Streit um das Alltägliche eingreift, wird sie da nicht mitverantwortlich für alles und jedes, was im Staat geschieht  ? Riskiert sie da nicht, viel von ihrem moralischen Prestige zu verlieren  ?« »Gewiss, mein junger Freund, ohne Haare zu lassen, geht es da nicht ab. Man kann ja in keinem österreichischen Dorf eine neue Feuerwehrspritze in Dienst stellen ohne die Einweihung durch den Pfarrer. Wenn dann die Spritze beim nächsten Feuer versagt, wird dies natürlich der Kirche und dem Papst in die Schuhe geschoben. Der Ausgang des Weltkrieges hat in den besiegten Staaten derart verzweifelte Zustände geschaffen, dass die Kirche einfach nicht abseits stehen und sagen kann  : Das geht mich nichts an  ; ich bin nur für die Sorge um die Seelen da …« Das stimmte, denn auch in Deutschland und in der Tschechoslowakei (Msgr. Tiso119) waren Priester in die parlamentarischen Kämpfe eingetreten und bekleideten

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verantwortliche Staatsämter. Rom hat andererseits recht daran getan, von allzu weitgehendem politischen Engagement der Priester in Zukunft abzuraten. Die Unterredung mit Monsignore Seipel war von bestimmender Wirkung auf mich. Im Augenblick konnte er nichts für mich tun, denn ein anderer war Bundeskanzler, kein Freund des Adels. Ich bewarb mich um Aufnahme in den Staatsdienst, was dank dem Polizeipräsidenten Schober auch gelang. Seipel bewahrte mir aber, zuletzt als Außenminister, seine Huld bis zum Tode. Auf Postensuche Nach Absolvierung der Alma Mater Vindobonensis, nach einem Jahr frucht- und sinnloser Seminararbeit in Völkerrecht bei Professor Hold-Ferneck  – ich hätte besser daran getan, mich gleich Ganymed im Adlerflug vom unvergleichlichen Alfred ­Verdroß in die Gefilde des absoluten Völkerrechts entführen zu lassen  – schließlich, nach Verausgabung des letzten Pfennigs der väterlichen Erbschaft, stand ich vor der Mauer des Nichts. Ich musste einen Beruf wählen, wichtiger  : einen Posten ergattern. Ich war reif genug die Grenzen meines Intellekts zu kennen und einzusehen, dass es gerade noch zu einem Beruf reicht, bei dem man mit ein wenig österreichischem Savoir faire, Anpassungsfähigkeit und richtiger Menschenbehandlung auskommt. Ich wollte also Diplomat werden. Anno 1927 gab es aus staatsbudgetären Gründen eine Aufnahmesperre für Beamte mit akademischer Vorbildung. Ein Appell an den Bundeskanzler Buresch120 war erfolglos. Er soll erklärt haben  : »Lasst’s mich mit diesen böhmischen Krapfen (recte Grafen) in Ruh  !« Monsignore Seipel wusste den Ausweg  : »Allein der Polizeipräsident von Wien, Schober121, hat ein Sonderkontingent  ; er kann Sie als provisorischer Polizeikommissär aufnehmen.« Auch wusste der Priester, dass Schober im Herzen ›schwarz-gelb‹ geblieben war und die Abneigung des Regierungschefs gegen die Aristokratie nicht teilte. Schober ließ mich ins Polizeipräsidium am Schottenring kommen  : »Sie sind wirklich bereit, sich der Republik zur Verfügung zu stellen und von der Pike auf zu dienen  ?« – »Jawohl, Herr Präsident  !« – »Wird man es Ihnen in Ihren Kreisen nicht übelnehmen  ?« – »Das ist mir gleichgültig  !« Schober entschied sich für mich, bedeutete mir aber, ich müsse wie jeder andere »Polkoär« Dienst tun, einen sehr »harten« Dienst. Ich musste die vorgesehenen kriminalpolitischen Sonderkurse absolvieren und zwecks definitiver Bestallung als Konzeptsbeamter die praktisch-politische Prüfung bei der niederösterreichischen Landesregierung ablegen. Das bedeutete über zwei Jahre Tag und Nacht büffeln, neben dem laufenden Journaldienst. Mehr der Not als dem eigenen Drang gehorchend versprach ich, brav zu sein. Zur Belohnung wollte Schober mir etwas Nettes tun. Er zog aus der untersten Schreibtischlade ein dickes Faszikel hervor. »Solange ich Polizeipräsident

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bin, darf kein Mensch diese Akten sehen. Sie sind skandalös und würden, wenn veröffentlicht, das Andenken der alten Monarchie trüben. Es sind die Konfidentenberichte über das Liebesleben des Kronprinzen Rudolf. Dieser Sexmaniak musste jede Nacht eine andere Straßendirne besitzen. Die Polizei musste sie ihm zubringen. Unschön, sehr unschön  ! In dieser Sicht war sein Freitod eine Erlösung.« Sprach es und versperrte das Aktenbündel. Dann übergab mich Schober dem gefürchteten Polizeidirektor Dr. Schulz, bei dem ich in der Folge Vorträge über Kriminaltaktik hörte. »Zeigen Sie unserem jüngsten Polizeikommissär das Geheimarchiv der Staatspolizei  !« Der Polizeidirektor ü ­ bernahm die Führung. »Weil es der Herr Präsident wünscht«, näselte der ekelhafte Schulz, »führe ich Sie ins Archiv. Einsehen dürfen Sie aber dort nichts  !« Ich bewunderte die zahlreichen Regale und deren alphabetische Reihung. Dabei stellte ich fest, dass die Akten betreffend die mazedonische Bewegung sich in Meterhöhe türmten, während die daneben liegende monarchistische Bewegung kaum einiger Berichtsblätter für wert befunden wurde. »Ja, die Mazedonier«, meinte Dr. Schulz, »das sind Kerle  ! Die morden rechts und links, nach oben und unten, jüngst sogar in einer Loge im Burgtheater. Auf die muss man aufpassen  !« – »Und die Monarchisten  ?«, lispelte ich mit allem Respekt. »Völlig uninteressant und staatspolizeilich ungefährlich  !« In diesem Augenblick trat ein Kanzlist an Dr. Schulz heran und rief ihn ans Telefon. Vor mir stand der Karteikasten. Unbemerkt pirschte ich mich an dieses Arkanum heran und zog den Steckzettel »Schwarzenberg« hervor. Alles, was gegen meine Familie vorlag, war folgende auf der Karteikarte vermerkte Denkwürdigkeit  : »Oktober 1917, Anzeige des Bürgermeisters von Wien gegen den Fürsten Schwarzenberg wegen Preistreiberei mit Süßwasser­ fischen.« Also, der gute Onkel Johann hatte die Wittingauer Karpfen den hungernden Wienern zu teuer verkauft. Gegen mich lag staatspolizeilich damals noch nichts vor. Nach zwei bei der Polizei durchgeschwitzten Dienstjahren schenkte mir Schober seine Fotografie und nahm mich, als er Bundeskanzler wurde, »mit«, wiederum unter Umgehung der Aufnahmesperre  : als wohlbestallter Polizeikommissär hing ich dienstrechtlich vom Innenministerium ab. Ich wechselte in dieses Ministerium über, das mich dem Außenamt »ausborgte«. Später konnte der Schwindel saniert werden. Ich wurde also ein sogenannter Schoberhusar. Was ich als solcher in zwei Jahren verbrochen habe, wird im folgenden Kapitel gebeichtet. Dienst im Polizeikommissariat Wien XX – Brigittenau Auf Geheiß des Polizeipräsidenten meldete ich mich beim Stadthauptmann des 20.  Wiener Gemeindebezirks, der Brigittenau, wo ich das Polizistenmetier wirklich von der rohesten Seite kennenlernte. Jenseits der Donau lebten weniger die richti-

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gen Schwerverbrecher  – das war das Privileg von Favoriten und dem Prater  –, aber die Pülcher und die Strizzis, die Fassltippler und Kanaleinbrecher, die Zuhälter und Bauernfänger. Messerstechereien waren an der Tages- und Nachtordnung. Ich lernte die Psyche der bodenständigen Wiener kennen. Wenn ich später im »Koat IV« (Polizeikommissariat) einen gewissen Ruf als Friedensstifter zwischen sich handgreiflich streitenden Ehegatten gewann, so hatte ich die Methoden in der Brigittenau gelernt. Brachte man mir ein blutüberströmtes Ehepaar in den Journaldienst, das sich mit Messern und Teigwalkern leichte bis schwere Körperverletzungen zugefügt hatte (§ 152 ff StGB), so ließ ich den Geifernden zunächst alle festen Gegenstande einschließlich Schuhe, Gürtel und allfällige Haarnadeln abnehmen. Die schweren Verletzungen wurden verbunden und das Pärchen für achtundvierzig Stunden zusammen eingesperrt. Hauptsache  : strengstes Verbot jedweder Abgabe von Speis oder Trank. Für achtundvierzig Stunden ist nämlich der »Polkoär« absoluter Herr. Nach Ablauf dieser Frist muss er Gerichtsanzeige erstatten unter Einlieferung der Häftlinge in das Landesgericht oder Freilassung verfügen, es sei denn, er erwirkt vom Untersuchungsrichter eine Haftverlängerung  : aber das ist zu kompliziert. Resultat der Kur  : Zunächst ging das Paar auch im Kotter aufeinander los. Da es aber über keine körpergefährdenden Werkzeuge verfügt, kann bestenfalls gekratzt und gehaut werden. Es fließt nur wenig Blut  ; blaue Flecke gelten als unwesentlich. Zufolge mangelnder Zuschauerschaft und unterbleibender Intervention der Wachmannschaft flaut allmählich die Rage ab. Nächstes Stadium  : Die Frau reißt Fetzen von ihrer Gewandung ab zum Zubinden schwärender Stich- und Schnittwunden. Drittes Stadium  : Durst. Viertes Stadium  : Mordshunger  ! Achtundvierzig Stunden ohne Wasser, ohne Brot  ! Das wirkt Wunder. Meist bereits am Morgen nach der Einlieferung bittet das Paar dringend dem Kommissär vorgeführt zu werden. »Herr Doktor, wir schwören« (er beim Haupte seiner Mutter, sie beim Leben ihrer Kinder), »wir schwören bei was Sie nur wollen, Herr Oberkommissär, wir werden uns nie wieder streiten, aber geben Sie uns was zu essen.« Ich lasse mich nicht so leicht erweichen. Wenn ich noch vierundzwanzig Stunden Zeit habe, so orakle ich  : »Schwören kann ein jeder  ! Hier im Kotter seid ihr ja hübsch brav, aber kaum seit’s draußen, geht’s doch wieder aufanander los …« – »Aber, Herr Polizeirat« (Wenn ein Lump nämlich was braucht, so ist er mit der Betitulierung sehr großzügig. Die schönste Apostrophierung, die mir je zuteil wurde, war »Herr kaiserlicher Adler«, eine rührende Amtsstubenidiosynkrasie.), »aber Herr Hofrat, wir haben uns ausgesöhnt … nie wieder soll das Messer zwischen uns nicht einmal in den Mund genommen werden  !« – »Mir ist wichtiger, das Messer verschwindet aus der Hosentasche  ! … Also, in Gottes Namen  ! Jeder von euch bekommt einen Kaffee, aber noch nichts zu essen. Ich gebe euch eine Bewährungsfrist von … Stunden  !« Nicht immer lief diese zu völliger Befriedigung ab. Oft neuerliche Rauferei und Haarausreißen. Die Frau wird mit roten Inseln am Scheitel, der Mann mit frischen

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Kratzwunden vorgeführt. Dieselben Schwüre, die Schuld für das Rezidivwerden wird auf den »zum Wahnsinn treibenden« Hunger geschoben. Nach Ablauf meiner achtundvierzig Stunden bleibt, wenn die Hungerkur keinen wasserdichten Ehefrieden herbeigeführt hatte, nur die Drohung mit polizeilicher Überwachung und – wenn Kinder vorhanden  – mit der Fürsorgerin. Diese soziale Erfindung lehnt nämlich der echte Wiener ab. Sie verletzt seine Standesehre. »I brauch ka Polizeispitzel im Haus  ! Mit meine Kinder werd’ i sölba fertig  …«  – »Aber, Sie behandeln Ihre Frau wie einen Schuhfetzen  !« – »No, man wird doch sei’ eigene Frau so olle heilige Zeiten züchtigen derfen  ! Das verlangt die soziale Gerechtigkeit  ! Die Weiber wochsen einem sonst übern Tetz  ! Die wollen alleweil nur kommandieren, nur net kochen  ! Na, so eine Fürsorgerin steht mir nicht ins Haus  ! Da vergiß i liaber, dass mei’ Frau mir am Altar Ghursam g’schworen hat und dass ich sie daher varprügeln kann, wann i nur wüll.« Dienst im Polizeikommissariat Wien IV – Wieden Von der Brigittenau wurde ich dann in den IV. Bezirk versetzt. »Es ist natürlich eine große Ehre für das Polizeikommissariat Wieden, dass man Sie mir zugeteilt hat. Gewiss, Sie werden es hier bequämer haben, Herr Doktor, als auf der Brigittenau  ; aber schonen kann ich Sie nicht, schon wägen der anderen Herren. Also Nacht-JournalDienst. Das werden Sie kaum geweent sein, bei Ihrer feinen Erziehung  ! Haben Sie Telefon zu Hause  ?« »Jawohl, Herr Hofrat.« »Also, das ist gut, dobre, dobre …, da geb’ ich Ihnen guten Rat, Herr Doktor, immer ein Paar wasserdichte Stiefel im Biro halten, und Rägenschirm  ! Das ist für die pletzlichen Todesfälle, wenn Sie pletzlich ausricken missen … sonst verkiehlen Sie sich bei Rägenwetter  !« »Zu Befehl, Herr Hofrat děkují mockrát«, erdreistete ich mich. »Jakpak  ? Mluvíte taky česky  ?« »Za jistě, pane dvorní rada.« »No tak se pěkně doho, díme, pane Doktore  !«122 Und so war die Freundschaft besiegelt zwischen dem Herrn Stadthauptmann Hofrat Jaromír Bastl und dem provisorischen Polizeikommissär Johannes Schwarzenberg. Hofrat Bastl war ein herzensguter Mensch, aus Budweis stammend und daher geografisch und weltanschaulich der Familie Schwarzenberg verbunden. Spitzbauch, weißer Spitzbart und spitzige Schuhe, so wie sie von den Sektionschefs getragen wurden. An Sonntagen trug der Hofrat eine weiße Weste, im Sommerurlaub einen Jagdhut mit Gamsbart, damit die Leute glaubten, er sei Jäger wie jeder richtige hohe Beamte. Bastl war Witwer und kinderlos, kannte nichts anderes im Leben als seinen Beruf. Gern

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wiederholte er das altösterreichische, einem General in den Mund gelegte Diktum »Im Dienst bin ich ein Schwein – und ich bin immer im Dienst«. Er sagte dies, um sich Respekt zu verschaffen und eigentlich um sich zu entschuldigen, wenn er genau war. »Der Chef hat heute seinen Anfall von Vopizei« (Wortspiel mit Polizei und vopice, d. i. auf Tschechisch Affe), so seufzten wir, seine Konzeptler, wenn er wieder einmal tiftelte. Ein räudiger Hund, den er morgens und abends während je einer halben Stunde »oisserln« führte und im Fenster ein Kaktus, das waren seine einzigen Lebensfreuden und -schwächen. Diese Kaktus-Species blühte nur einmal alle 25 Jahre. Im Sommerurlaub fuhr der Hofrat nach Bad Schallerbach seine Gicht pflegen. Seit zehn Jahren wartete er auf die Blüte seines geliebten Kaktus. Im Sommerurlaub nach meiner Einstellung in das Kommissariat Taubstummengasse vertraute mir Bastl seinen Kaktus zur Pflege an, natürlich im Büro. Ausgerechnet diesen Sommer traf die lange erwartete Blüte ein. Ich erstattete Bastl eine telegrafische Meldung, die er mit Postkarte beantwortete  : »Habe Trauerflor angelegt wegen Kaktus. Beste Grüße, Ihr Bastl.« Einer meiner Kollegen fotografierte die Kaktusblüte  ; wir rahmten das Bild ein und stellten es auf seinen Schreibtisch. Ein großer Held war ja unser Bastl gerade nicht. In meine Amtszeit als Polizeikommissär fiel der Brand des Wiener Justizpalastes. Wir hatten Alarmstufe III, d. h. den Säbel angeschnallt, natürlich Uniform, doch durften wir im Büro den Kragen in der Nacht offenhalten. Beim Südbahnhof sammelte sich eine Menge Favoritner Schreihälse, die laut telefonischer Meldung »eine drohende Haltung einnehme und sich anschicke, gegen den Ring zu marschieren«. Bastl hielt es für seine Pflicht, persönlich auszurücken, gegen die sengende und brennende Meute loszugehen und sein und unser Leben teuer zu verkaufen. Ich folgte ihm als sein Adjutant mit der Consigne, die Revolution niederzuschlagen. Beim Losmarsch raunte mir der Hofrat zu  : »Vergewissern Sie sich, Herr Kollege, dass Ihr Säbel sich auch wirklich aus der Scheide he­rausziehen lässt  !« Ich tat wie geheißen. Am Gürtel begegnete uns eine johlende Menge, die Miene machte, auf die eintreffende Schwadron berittener Polizei Pflastersteine zu werfen. »Herr Kollege, besser wir stellen uns hinter diesen Baum, die Berittenen sollen zeigen, was sie können  !« Aber es kam anders, als Bastl vorausgesehen hatte  : Der Gürtel bildete die Grenze zwischen unserem Kommissariat Wieden und dem Kommissariatsbezirk Favoriten. Dort leben hauptsächlich Tschechen, und der Stadthauptmann, Hofrat Pšenička, war ein waschechter »Bem«. Kommt im Geleit seines gesamten Konzeptspersonals feierlich anmarschiert, fängt auf Tschechisch eine richtige Kanzelpredigt an. »Seine« Landsleute mögen doch nicht so blöd sein und sich in eine Auseinandersetzung zwischen Österreichern und ihrer Justiz einmischen. »Haben die Wiener aus den anderen Bezirken ein Gravamen gegen die österreichischen Gerichte und gegen das Justizministerium, so mögen sie sich das gefälligst allein ausmachen. Die sind imstand

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und verbrennen ihre Vorstrafenregister und werden damit, diese Halunken, plötzlich über Nacht unbescholten  ! So gemein benehmen wir Favoritner uns nicht  !« Die drohenden Gesichter beginnen sich aufzuhellen  : »Wir Favoritner«, fährt Pše­ nička fort, »waschen unsere schmutzige Wäsche – und weiß Gott, die ist dreckig – zu Hause und dorthin kehren wir jetzt alle hübsch brav zurück  !« Gelächter, »nazdar«Rufe, »Ten to umí, ten má rozum  ! To je našinec  ! To jsou hloupáci, tívidenači …«123, und damit war der Aufruhr in den Wiener Südbezirken vorüber. Bastl aber brüstete sich zeitlebens, dass die beiden Stadthauptleute von Wieden und Favoriten dank ihrer profunden Kenntnis der Volksseele im gemeinsamen und klugen Zusammenwirken es verstanden haben, den Justizpalastaufstand zu meistern. Bei diesem Anlass machte einer meiner Kollegen, der vor dem Justizpalast Dienst tat, eine typisch wienerische Beobachtung  : Während das Gebäude lichterloh brannte und der blutrünstige Pöbel Hurra rufend zusah, schob ein »Eismann« sein Wagerl durch die Menge, schwang seine Klingel und verkaufte Gefrorenes am laufenden Band. Hofrat Bastl hatte von Polizeipräsident Schober Auftrag erhalten, mich alle Referate des Kommissariats durchlaufen zu lassen. Das einfachste war das Verkehrsreferat  ; das erhielten die wenigst begabten Anfänger. Wir besaßen gewisse Strafbefugnisse und bekämpften eifrig die Schnellfahrer, Rauch- und Lärmentwickler, Fahrer in alkoholisiertem Zustand etc. Die Krux des Polizeirichters ist die Unterschiedlichkeit in der Beurteilung des Schuldausmaßes seitens der einzelnen Verkehrsposten. Es gibt nachsichtige, es gibt faule, es gibt übereifrige Polizeiorgane. Fahrer, die täglich denselben Weg zurücklegen, haben es bald heraus, wo sie ungestraft die Geschwindigkeitsgrenze überschreiten können bzw. welche Posten zu vermeiden sind. Mit der Zeit lernt der Polizeirichter sowohl die Psyche seiner Verkehrsposten als auch die unverbesserlichen Rechtsbrecher kennen. Die gesegnete »Einführungsverordnung zum Verwaltungsstrafgesetz«  – wie viele hunderte Male habe ich sie herangezogen  ! – bot eine wunderbar flexible Unterlage zur Bekämpfung von allerhand in vielen anderen Ländern straffrei bleibendem »grobem Unfug«. Art. VIIIa E.G.V.G. verurteilt »Ungebührliche Erregung störenden Lärms«. Danach war Lärmbelästigung in Privathäusern, sogar nächtliches Klavierspielen, strafbar. Schön der offizielle Kommentar zum zitierten Gesetz  : »Inwiefern eine Ungebühr vorliegt, ist nach Herkommen und Brauch sowie nach örtlichen und zeitlichen Verhältnissen zu beurteilen  !« Selbst wenn beispielsweise die italienische Polizei es wollte, hat sie keine ausreichende Handhabe, das ohrenbetäubende Geknatter der Vespas und Lambrettas, das völlig überflüssige hochtourige Anfahren italienischer Automobilisten, das Randalieren in den Straßen, das Transistorgeschmetter auf Stränden und in Gartenanlagen, das Geschrei in den Gaststätten und das Anrempeln in den Gassen hintanzuhalten. In Österreich kann dies alles als »grober Unfug« vom Polizeirichter bestraft werden. Wenig Glück hatte Hofrat Bastl mit mir im Kriminalreferat. Er hatte mich gewarnt  : »Wir haben zwar auch unsere gemeinen Verbrecher  ; die finden Sie im Gasthaus des

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Kovacz, dieses alten Ladendiebes, in der Führichgasse. Ein sehr heikles Problem sind unsere feinen Betrüger und Kettenhändler in der Prinz-Eugen-Straße. Die leben in den feinsten Palais  ; die Regierung, alle Opernsänger und die Aristokratie verkehrt bei ihnen. Wie soll ich die überführen  ? Hätte unser Schober nicht im Präsidium die Abteilung Wirtschaftspolizei eingeführt, so liefen diese Herren alle und auf ewig ungestraft herum, diese Herren Castiglione124, Bosel125 usw.; da reicht unser § 197 (Betrug) nicht aus, um die zu fassen  ; sie haben auch immer die besten Advokaten in Wien. Ich rate Ihnen, Herr Doktor, wenn gegen einen Juden von der Prinz-Eugen-Straße oder der Argentinierstraße eine Anzeige einlauft, lassen Sie sich gar nicht erst ein  ! Reichen Sie die Sache gleich weiter an die Wirtschaftspolizei. Sie sind ja auch kaum ein Buch­ sachverständiger  ? Nein  ? Also umso eher – Sie blamieren sich nur  !« Die Wahrheit war, dass der gute Bastl selbst weder ein guter Jurist war noch von Finanzen auch nur einen Tau hatte. So wucherten, schwindelten, dienerten und dinierten denn unter unseren Augen diese Aasgeier des altösterreichischen Wirtschaftserbes, bis sie allesamt schließlich verschwanden, teils durch Selbstmord, teils im Kriminal, teils durch rechtzeitige Abwanderung vor Hitlers Einbruch. Fälle von richtigem Mord hatte ich nur wenige  ; hingegen »plötzliche Todesfälle« in Hülle und Fülle. Wenn jemand ohne ärztlichen Beistand stirbt, besteht immer Verdacht äußerer Einwirkung. Nur allzu leicht kann bei einer vorsätzlich getöteten Person Selbstmord durch Aufhängen vorgetäuscht werden, indem der Mörder sein Opfer nach Umhängen einer Schlinge hochzieht. Analoge Tricks mit Revolvereinschüssen sind zur Genüge bekannt. Und erst recht angeblicher Selbstmord durch Gift oder durch Öffnen des Gashahns  ! Nichts einfacher, als ein Verbrechen zu tarnen  ! Mein erster Fall war ein ungefähr vierzigjähriger Mann, laut Strafregister unbescholten, dem die Nachrede der Hausgenossen vorwarf, er habe seine sechzigjährige Mutter aus einem Fenster der im vierten Stock gelegenen Wohnung in den Lichthof gestoßen. Der Polizeiarzt vermochte keine Zeichen von Gewaltanwendung zu finden. Der Sohn behauptete, seine Mutter habe sich aus dem Fenster gestürzt, nachdem sie wiederholt Selbstmordabsichten geäußert hatte. Ich lud mir alle Hausbewohner und die Bekannten der verunglückten Mutter vor. Sie schien wirklich wegen der Rücksichtslosigkeit des Sohnes Selbstmordabsichten geäußert zu haben. Der Sohn war im Hause recht übel beleumundet  ; er habe seine Mutter immer schlechtest behandelt – materielle Interessen hatten den Sohn dazu veranlasst, seine Mutter aus dem Wege zu räumen. Ein einziges konkretes Verdachtsmoment fiel mir auf  : Als ich am Unfallort eintraf, trug der Sohn ein blauseidenes Pyjama. Auf dem linken Ärmel waren Mörtelspuren, die von der Seitenwand des Fensters herstammen konnten. Ich glaubte bereits ein Indiz in Händen zu haben. Zur Rede gestellt antwortete der Sohn, er habe, durch einen Lärm im Lichthof aufmerksam gemacht, sich zum Fenster hinausgelehnt und dabei wohl die Mauer mit dem Arm gestreift. Mir wenig glaubwürdig. So viel Mörtel kann nur im Geleit einer größeren

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Anstrengung abgerieben werden. Wieso haben die anderen Hausbewohner nicht den gleichen Lärm gehört  ? Alle übrigen Fenster, die auf den Lichthof führten, waren geschlossen – also ein Aufschrei musste nicht hörbar gewesen sein. Natürlich fand eine Autopsie statt, auch um festzustellen, ob allenfalls der Mutter ein Betäubungsmittel zugeführt worden wäre  : Ergebnis negativ. Der Staatsanwalt teilte meinen Verdacht namentlich wegen der erwiesenen Lieblosigkeit des Sohnes. Dennoch wurde der Fall nicht weiter verfolgt – ad acta  ! Ein lästiger, plötzlicher Todesfall am Weihnachtstag mitten während des feierlichen Hochamts in der vollgepferchten Elisabethkirche  : Ein Mann war tot umgefallen. Die Sicherheitswache hatte die Leiche mit einem braunen Packpapier zugedeckt. Die Andächtigen mühlten herum. Niemand durfte die Leiche vor Eintreffen der Polizeikommission anrühren. Zu dieser gehört der Polizeiarzt, der sich aber trotz meines dringenden Anrufs weigerte, am Weihnachtstag morgens sein Bett zu verlassen. Ich ging allein in die Kirche, bahnte mir nur mit Mühe einen Weg durch die Menge. Der Geistlichkeit am Altar passte meine Andachtsstörung ebensowenig wie den Neugierigen um die Leiche herum, die fürchteten ich werde sie um das Fest prellen, an der Aufdeckung eines durch tückischen Dolchstoß, verursachten Mordes beteiligt zu sein. Liegen bleiben konnte die Leiche aber nicht, denn, Andacht hin oder her, die Neugierde hatte jemanden zum zugreifenden Detektiv gemacht. Gemeinsam mit einem Sicherheitswachebeamten packten wir die Leiche zusammen und schafften sie aufs Kommissariat und von dort in die nächste Leichenhalle. Der brave Hofrat Bastl war entsetzt über mein verordnungswidriges Vorgehen, gab aber dem Polizeiarzt einen Rüffel, der mit »Fröhliche Weihnachten« quittiert wurde. Ein anderer Mordfall wurde mir weggerissen. Nach komplizierter Nachforschung gelang es mir, im Zusammenwirken mit einem unserer tüchtigsten Kriminalbeamten einen richtiggehenden Meuchelmörder zu fassen. Er war ein Polizist  ! Das war eine allzu heikle Sache gegenüber der Öffentlichkeit, und so zog das Sicherheitsbüro der Polizeidirektion den Fall an sich. Keine Lorbeeren für den jungen Polizeikommissär  ! Mein Jahrgang provisorischer Polizeikommissäre – wir waren rund ein Dutzend – musste die eher einfältigen Vorlesungen des Polizeidirektors Dr. Schulz über Kriminaltaktik besuchen und im kriminalistischen Institut Prof. Türkls allerhand kriminalistische Hilfswissenschaften studieren, als da sind  : Toxikologie, Chemie (z. B. wie unterscheidet man Ochsen- von Menschenblut  ?), gerichtliche Medizin u. a. m. – Unvergesslich ist mir eine Seminarstunde im elektrotechnischen Institut des Universitätsprofessors Jellinek, der uns als »Glücksfall« die Leiche eines erst vor kaum einer Stunde zufolge Kontakts mit einer Hochspannungsleitung getöteten Monteurs vorführte. Die verkohlte Leiche richtete sich vor unseren Augen aus der Liegestellung in eine Sitzstellung auf. Vor unseren Augen hob sie die Arme hoch, wie in Abwehr  : Die im Körper angestaute elektrische Stromenergie rief nämlich Muskelkontraktion

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hervor. Unheimlich anzusehen  ! Auch an Leichenöffnungen mussten wir teilnehmen, um über Möglichkeiten und Grenzen der Obduktion als Mittel zur Feststellung von Todesursachen orientiert zu sein. Einen Schädel aufsägen und ins Hirn schauen, das geht noch an  ; auch das Abziehen der Kopfhaut  ; Lunge und Herz freilegen lasse ich mir auch noch gefallen. Das Aufkippen der Rippen ist nicht viel anders als das Auftranchieren einer Orange. Aber wenn das Messer des Obduzenten sich an Bauch und Gedärm heranmacht, dann … Nase zuhalten  ! Ich vertrug den Gestank nicht, wurde ohnmächtig und von weiteren Leichenöffnungen dispensiert   ! Gewisse Leichen sind ganz abscheulich  ! Einmal wurde ich zur Leiche eines alleinstehenden Mannes gerufen, der im Hochsommer bereits mehrere Tage tot im Bett gelegen hatte. Der Leichnam war weitgehend verwest. Fliegen und Ameisen taten sich am haut goût ihres Opfers gütlich. Mein einziges brillant funktionierendes Sinnesorgan, meine Nase, protestierte und verbot mir näherzutreten. Wieder, ganz gegen die Vorschriften, gab ich die Leiche frei und ließ sie durch den ersten besten Totengräber verscharren. Schauerlich sind Wasserleichen. Nach vier oder mehr Tagen im Wasser bläht sich ein Körper sehr stark auf. Die Farbe ist ein fischfarbenes Lichtgrau. Die Epidermis lässt sich abziehen wie Papier. Glücklicherweise hatten die Wiener Einbrecher und Mörder nicht bei Türkl Kriminalistik studiert, sonst wäre einer auf die Idee gekommen zwecks Irreführung der auf Indizien geilen Polizeiwissenschaftler vor Verübung der Mordtat einer Wasserleiche die Fingerhaut abzuziehen, sie dann über die eigenen Finger zu stülpen und damit am Tatort die Fingerabdrücke der Leiche aus dem Donaukanal zu hinterlassen. Eine besondere Kategorie stellen die Taschendiebe dar. Nie habe ich so geschmeidige, nervöse Finger gesehen wie bei Taschendiebinnen. Es bedarf jahrelanger Schulung, um ein Portefeuille unbemerkt »zu ziehen«. Eine Taschendiebin, die einer unserer Kieberer im Autobus in flagranti ertappte, gestand mir, dass ihr das »Taschlziehen« zur zweiten Natur geworden sei. Bei Ansicht einer gefüllten Handtasche oder des einseitig geschwellten Hinteren eines wohlhabend aussehenden Herrn »juckt« es ihr einfach in den Fingern, und sie kann nicht anders, als ihre Kunst auszuprobieren. Das sind aber Probleme für den Psychiater, nicht für den Polizeikommissär  ! Der nicht nur in Wien verbreiteten Eifersucht zwischen Kriminal- und Wache­ beamten und deren Sucht, einander etwas auszuwischen, verdanke ich folgenden Fall  : Der Wienfluß – er gab zwar der Stadt den Namen, ist aber nur ein schmutziges Rinnsal – stellt wegen seiner unbemerkbaren Zugänglichkeit durch verdeckte Stufen in der gemauerten Eindämmung ein beliebtes Absatzgebiet für Kindesleichen dar. Heutzutage sind wir auf dem besten Wege, Kindesabtreibung zu legalisieren. In meiner Polizeiperiode war die Abtreibung laut § 144 und die Weglegung eines Kindes nach § 149 StGB strafbar. Wollte eine ungewollte Mutter einen Balg loswerden  : schwups nächtlings in den Wienkanal  !

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Eines schönen Maientages schlendert einer meiner Kriminalbeamten die Brüstung der Wienkanalmauer entlang. Unten, an die gegenüberliegende Böschung gelehnt, sichtet er eine Stange. Wozu diese Stange  ? Und siehe da, einige Schritte weiter lehnt gegen die diesseitige Böschung eine weitere Stange  ! Es sind keine Angeln  ! Deren Vorhandensein konnte allenfalls durch die Möglichkeit des Fischens im Kanalwasser gerechtfertigt sein. Aber Stangen  ? Der Kriminalbeamte riecht Lunte und setzt mir seine Verdachtsmomente auseinander. Wir beschließen, der Sache auf den Grund zu gehen. Ob da nicht wieder einmal die Angst der uniformierten Wachebeamten vor der Amtshandlung dahintersteckt  ! Nehmen wir an, so ein schreibfauler Sicherheitswächter stößt auf ein Corpus Delicti. Da muss er eine ganze Reihe von Vorschriften befolgen  : Er muss den Tatbestand aufnehmen, das Corpus Delicti »sicher stellen«. Wie tut man das  ? Er muss schriftliche Meldung erstatten. Das ist langweilig und verfänglich  ! Die üblichen Vorhaltungen des Postenkommandanten wegen mangelhafter Rechtschreibung, wegen Vergessens der genauen Zeitangabe, Unterlassung der Eruierung allfälliger Zeugen etc. etc. Für das Verständnis des Folgenden ist die dem Strafrecht entsprechende Feststellung wesentlich, dass der Tatort die örtliche Zuständigkeit für eine Strafverfolgung bedingt. Zur Einleitung einer Amtshandlung ist somit der Wachebeamte jenes Polizeikommissariats verpflichtet, innerhalb dessen Gebietes der präsumptive Tatort eines Verbrechens liegt. Der Wienfluss bildet die Grenze zwischen zwei Kommissariatsbezirken. Wird eine Leiche – und sei es auch nur jene eines Kindes – gefunden, so ist jenes Kommissariat zuständig, an dessen Kanalufer die Leiche aufgefunden wird. Das Gerinnsel der Wien ist seicht, nicht immer landet der Balg am Ufer, steckt weiter drinnen im Kot, insula in flumine nata (in den Institutionen des römischen Rechts beim großen Prof. Wlassak gelernt), kann angezogen werden  ! Das nächstliegende Ufer entscheidet über die örtliche Zuständigkeit. Wie kann nun – Appell an den gesunden Menschenverstand – die Amtshandlung am simpelsten vermieden werden  ? Indem man den Balg dem Kollegen vom anderen Bezirk zuschiebt  ! – Morgengrauen, niemand sieht es, der Wachebeamte klettert die steinerne Böschung herab, ein Fußtritt und das Corpus Delicti landet am Ufer des Nachbarkommissariats. Der Einfall macht Schule. Es ist wie mit den Handgranaten  : Hat der erste Werfer zu rasch nach Auslösung des Zeitzünders die Granate dem Feind zugeworfen, so hat dieser genug Zeit, das Teufelswerk aufzuheben und an den Erstwerfer zurückzuschleudern  ; sich zur Genugtuung, dem anderen zum Schaden. Der den Wienkanal kontrollierende Polizist erblickt die Kindesleiche. Was kann er schon Gescheiteres tun, als den Empfang dieser potentiellen Ursache einer langwierigen Amtshandlung abzulehnen und das Corpus Delicti zurückzustoßen  ? Das Herunterklettern, vielleicht gar ein Waten im Kot des Kanals ist lästig  ; wie wär’s mit einer Stange  ? Mit der kann man vom Geländer aus gemächlich das Zuschanzen vornehmen (»abschasseln« heißt im Wiener Amtsstubenjargon: eine brevi-manu-Schaffung eines negativen Kompetenzkonfliktes). So kam es also zur Bereithaltung von je einer

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Stange auf den beidseitigen Kanalufern. Eine Eindämmung findet das gegenseitige Zuschiebespiel allein im Tagwerden. Mit dem Einsetzen des Fußgängerverkehrs und zufolge der angeborenen Neugierde der Wiener, besonders der Margaretner126, riskiert man nämlich indiskrete Interessennahme, ja vermutlich sogar eine Mittäterschaft der Bevölkerung an dem aus lokalpatriotischen Motiven gerechtfertigten Vorgehen des »eigenen« Polizeibeamten  ! Im kameradschaftlichen Einvernehmen mit den Kollegen vom »Nachbarkoat« kassierten wir die Stangen. Ob damit auch das »Abschasseln« der Kindesleichen eingestellt werden konnte, blieb dahingestellt  ! Wiener Gauneresperanto anno 1930 Einmal besuchte mich Hofrat Bastl spätabends als ich Nachtjournal hatte. Es war Hochsommer und schrecklich heiß in den niederen Amtsräumen. Er stotterte lange, ein Zeichen, dass er verlegen war. Endlich  : »Herr Doktor, warum schreien Sie so laut  ?« »Aber ich hab’ doch nicht den Mund aufgemacht  !« »Nein, ich meine bei den Einvernahmen  ! Gestern Abend hat sich eine ganze Menschenmenge unter Ihrem Fenster angesammelt. Sie hatten sich den Zuhälter, dieses Schwein vom Naschmarkt, vorgenommen. Sie haben ihn so angebrüllt, dass die Leute unten mit Gusto zuhörten.« Bastl hatte recht  ; ich scheine nun einmal aus meinen Verbrechern nichts herausbekommen zu können, ohne lautstark zu drohen. »Herr Hofrat, die Folter ist abgeschafft  ! Nicht jeder Gauner in Wien ist aus Böhmen  ! Mit denen werde ich ja in ihrer eigenen Sprache fertig. Aber die Wiener  ! Ich kann halt kein Ottakringerisch  ! Wie soll ich mit denen reden  ?« »Nehmen Sie sich halt ein Beispiel an Ihrem Kollegen, dem Dr. Borschke  ! In seinem Büro ist es immer still  !« »Gewiss, Herr Hofrat, ich habe mich auch schon gefragt, wie der es macht. Ich hab’ mich paarmal zu ihm gesetzt bei Einvernahmen. Der macht sich’s leicht  ! Nimmt dem Mann das Nationale ab, fragt ihn  : »Haben Sie das begangen was der Wachebeamte behauptet  ?« Der antwortet »Nein«. »No schön  ! Unterschreiben Sie das ›Ich bin unschuldig‹ und wir liefern Sie morgen ins Landesgericht ein  !« Amtshandlung dauert zwei Minuten und Borschke gilt als ein Beamter, mit dem man nie Anstände hat  !« Bastl, milde gestimmt wegen der Bezugnahme auf die tschechische Sprache, streicht sich den Spitzbart, hebt an und spricht  : »No, ich gab Ihnen guten Rat  ; schließen Sie Fenster, wenn Sie schreien müssen, auch jetzt in Sommer. Aber dann, Herr Kollege, Sie müssen lernen, mit Ihren Arrestanten zu reden  ! Mit den wirklichen Gaunern muss man in ihrer eigenen Sprache reden.« »Sehr wohl, Herr Hofrat, aber ich kenne mich hier oft nicht aus  : Jeder Verbrecher redet in einer anderen Sprache, man müsste Ungarisch für die Burgenländer können,

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Polnisch für die Galizianer und auch Kroatisch und Italienisch  !« – »Schaun’s her, Herr Kollege«, meint Bastl salomonisch, »die Wienerstadt ist eben kosmopolitisch, rekrutiert sich aus den 14 oder mehr Nationen der Monarchie. So sind auch unsere Verbrecher kosmopolitisch. Das ersehen Sie aus der Wiener Gaunersprache  ; mit der kann man sogar mit den Zigeunern sich verständigen. Ein tüchtiger Polizeikommissär sollte dieses Gauneresperanto können.« So setzte ich mich hin und erlernte die Wiener Gaunersprache. Sie ist köstlich  ! Der Wiener Stadtbezirk Prater ist eine Brutstätte übelster Gestalten. Die Nachbarschaft der zu meiner Zeit größtenteils von Juden bewohnten Leopoldstadt erklärt vielleicht die vielen auf das »Jiddisch« zurückgehenden Ausdrücke wie Ganef für Gauner, Dinef für eine wertlose Sache, Macheloike für Betrug, tachinieren für faulenzen, nepp’n für eine unechte Sache für eine echte eintauschen, Petitesmach’r für Betrüger, Kocham’r für schlauer Dieb, Kobr’r für Diebshehler, Kassib’r für geheime Sträflingskorrespondenz, Balmechone für Türwächter, chaddisch für neu, chochem für schlau, baldowr’n für ausspähen, Balmeschei für Richter. Gut tschechisch ist der Gaunerausdruck für Nachschlüssel, nämlich klitsch. Auch abitschinagl’n für sich plagen dürfte auf den slawischen Ausdruck cin – Arbeit – zurückgehen. Auf welchen Sprachursprung tschoch für Wirt in einer Verbrecherkneipe, palisieren für verschwinden, Baggerintauch’n für das Verführen einer Prostituierten zurückgeht, weiß ich nicht. Urwienerisch und anschaulich sind folgende Ausdrücke  : Fotzhobel Mundharmonika Schnall’ndrucker primitiver Dieb Mit’n Blased umgehen wissen Kassenschranker, der einen autogenen Schweißapparat verwendet Flieg’nfanger Einzelhäftling Lapplaushanger Ohrringdieb Abafetz’r Auslagendieb Tschickarretierer Zigarettenstummelsammler Außireißer Entlastungszeuge Abischnappen verhaften Seebach’r Taschendieb Sens’r’r Opferstockdieb an Hund würgen Vorhängeschloss abzwicken G’schmalzener Vorbestrafter an Prinzen scheib’n zechprellen Tiaflinghack’r’r Kellereinbrecher Strichbua Zuhälter

Einstand im Prostitutionsreferat

Scheer’nmach’n a Sandige Grashupferin a link’s Ba Rennstute Abgeilerin

101 Brieftasche mit gekreuztem Zeige- und Mittelfinger herausziehen sehr billige Dirne Dirne, die sich auf Wiesen hergibt wenig vertrauenswürdige Prostituierte besonders tüchtige Prostituierte. Kellnerin, die im Tschocherl (Kneipe) zugänglich ist

Fürs Sterben gibt es viele Ausdrücke  : begetzen, an Bretz’n machen für niedergeschossen werden, an Buckl machen (idem), das Eck machen und o-kratzen. Trotz meiner linguistischen Efforts wurde kein Kriminalist aus mir. Einstand im Prostitutionsreferat Am Ende bekam ich das Prostitutionsreferat zugewiesen. Die Prostitution ist in Wien dank kluger Gesetzgebung (Gesetz vom Jahre 1885) und geschickter Handhabung durch die Polizei ausgezeichnet organisiert. Es ist zwecklos, das Prostitutionsunwesen etwa durch Abschaffung der Freudenhäuser bekämpfen zu wollen. Es wird immer und überall Bedarf nach außerehelichen Ausschweifungen geben. Lieber »normal« als Sodom und Gomorrha  ! Das Wesentliche ist die Gesundheitsgefährdung, um überhaupt die Ausbreitung der Geschlechtskrankheiten hintanzuhalten. Das geschieht am besten durch regelmäßige polizeiärztliche Kontrolle in der Form der Bestätigung der Nichtansteckungsgefahr im »Büchl«. Damit wird die Prostitution eigentlich zu einem konzessionierten Gewerbe. Das bedeutet wiederum »Standesehre« und gewisse streng eingehaltene Regeln seitens eben dieser Gewerbetreibenden. Die Polizei gewinnt aber mittels ihres Kontrollrechtes wertvollste Nachrichtenagentinnen. Gibt ein Einbrecher nach gelungenem »Coup« der Dirne zu wenig, verrät sie ihn der Polizei  ; gibt er zu viel, wird das von der Konkurrenz bemerkt und die Betreffende – oder ihr Besucher – verzapft. Die von der Polizei kontrollierten Straßendirnen sind auf ihre angestammten Rechte, namentlich aber auf ihren genau umgrenzten Aktionsradius, streng bedacht. Die Namen der den einzelnen Gassen und Plätzen zugewiesenen Prostituierten sind verzeichnet, deren Zahl den Marktbedürfnissen entsprechend verhältnismäßig konstant. Traut sich eine Dirne in das Revier der Nachbargruppe, werden ihr schonungslos die Haare ausgerissen. Strikte Beachtung der örtlichen Zuständigkeit  ! Als Prostitu­ tionsreferent des Kommissariats Wieden war ich nicht nur den Freudenmädchen des IV. Bezirks bekannt, sondern auch jenen der benachbarten Bezirke. Zu diesen gehörten auch der 1. Bezirk Innere Stadt und die dort stationierten Dämchen. Als ich heiratete – und dieser Aspekt der Geschichte wird besonders Euch, meine Enkel, interessieren –,

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konnte ich mit meiner jungen Frau nicht über die Kärntner Straße gehen, ohne dass mich von rechts und von links die Mädchen vertrauensvoll grüßten. Deren große Zahl entkräftete jede Verdachtsmöglichkeit aufseiten Eurer Großmutter. Es sei mir aber doch gestattet, ein ernstes Wort zu einem in schmerzlichster Weise vernachlässigten Problem zu sagen. Eine erschütternde Kehrseite der Kriminalitätsbekämpfung ist das Schicksal von Verbrechern nach Abbüßung der Strafe. Die Parlamente aller Länder befassen sich viel zu wenig mit dem Problem der Fürsorge für abgestrafte Rechtsverbrecher. Was soll schon ein Mensch anfangen, wenn er beispielsweise nach zehnjähriger Haft frei geht  ? Während der Gefängniszeit hat sich seine Frau oder Lebensgefährtin von ihm abgewandt  ; seine ehemaligen Bekannten und Freunde haben sich verlaufen, sitzen vielleicht selbst irgendwo im Kerker. Er hat sich während der Haftjahre durch manuelle Arbeit wohl einiges verdient  ; davon kann er ein paar Monate leben. Arbeitssuche  ! Aber wer nimmt schon einen abgestraften Verbrecher auf  ! Oftmals hatte ich Gelegenheit, dieses Drama zu beobachten  : Ein Kieberer (das ist ein Kriminalbeamter) kommt zu mir und meldet  : »›Der g’scherte Toni‹ sitzt wieder beim Kovacz im Gasthaus  ; wir werden bald einen Einbruch haben  !« Der Kriminalbeamte hat recht  ! Was soll denn der »g’scherte Toni« anfangen  ? Er muss essen, um leben zu können. Er ist stellenlos. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als wieder einzubrechen. Er hat ja nichts anderes gelernt  ! Glücklicherweise ist die Polizei nicht nur auf ein Gaunerlokal angewiesen, um die Entlassung eines Verbrechers aus der Strafanstalt festzustellen. Sie weiß meist genau, welche ihrer »Kunden« jeweils nicht im Zuchthaus sind  ; meist allerdings nur vorübergehend. Die abgestraften Verbrecher sind nach Kategorien eingeordnet und karteimäßig erfasst. Der Kriminalist weiß zudem, dass ein Taschendieb nie ein Bankräuber, ein Kassenschranker nie ein Bodeneinbrecher werden wird. Man hat eben sein Metier gelernt und … Schuster, bleib’ bei deinen Leisten  ! Die Kassenschranker gehören übrigens zur Elite der Verbrecher. Niemals wird ein mit der Verwendung der Stichflamme vertrauter Kasseneinbrecher sich zu einem einfachen Ladendiebstahl herabwürdigen  ! Prestigesache  ! Durch diese Klasseneinteilung der Eigentumsverbrecher, ferner durch die Evidenthaltung der haftentlassenen Kriminellen engt sich der Kreis der Verdächtigen ein. Es ist eine Zivilisationsschande, die auf unsere Gesetzgeber, auf die Kirchen und auf alle humanitären Organisationen zurückfällt, wenn heute von Staats wegen so wenig im Problemkomplex der Fürsorge für entlassene Sträflinge geschieht, namentlich für Jugendliche. Man möge sich ein Vorbild an England nehmen  ! Dort nehmen sich mit Erfolg und dank ehrlich praktizierter Moralgrundsätze Verbände von Freiwilligen der Rückführung von abgestraften Delinquenten in die soziale Struktur des Landes viel weitgehender an als bei uns. Aber England hat es verstanden, viele Aufgaben, die an sich der Staatsverwaltung zustehen, auf die private Initiative und auf unbesoldete Werktätigkeit abzuwälzen. In keinem anderen Land habe ich einen so hohen Grad

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an wahrer Nächstenliebe und selbstlosem Patriotismus gefunden. An dieser ethischen Werktätigkeit eines ganzen Volkes hat die reformierte Kirche verdienstvollen Anteil, mit ihrem Bestreben eine erhöhte Übernahme von Selbstverantwortung, auch in Dingen der Moral und des religiösen Glaubens, zu fordern. Übertritt in das Auswärtige Amt und das Beamtentum Polizeipräsident Schober war Bundeskanzler geworden. Er beschloss meinen Übertritt in den Auswärtigen Dienst, wo inzwischen die Aufnahmesperre aufgehoben worden war. Äußerer Anlass meiner Überstellung aus dem Status des Innenministeriums – in dem die österreichische Polizei ressortierte – in jenen des Bundeskanzleramtes, Auswärtige Angelegenheiten, war der Besuch des Bruders des Mikados und damaligen japanischen Thronfolgers, des Prinzen Takamatsu. Mit seiner entzückenden Gattin Kikuko (bedeutet Lotus) verbrachte er seine Flitterwochen in Wien, und man benötigte einen Englisch sprechenden Ehrenkavalier, der auch für die Sicherheit des Paares verantwortlich wäre. Ich hatte wohl die für den Innendienst vorgeschriebene sogenannte praktisch-politische Prüfung schlecht und recht bestanden  ; sie hatte ein langwieriges Studium des gesamten österreichischen Verwaltungsrechts erfordert, eine schwere Belastung neben dem aufreibenden Kommissariatsdienst, hatte man ja bloß in der Nacht während des Journaldienstes Zeit zum Lesen. Schober meinte aber, ich sei doch eher zum Außendienst prädestiniert. Da ich zur Aufnahme in den Außendienst die Diplomatenprüfung ablegen musste, war ich schließlich der so ziemlich meist geprüfte österreichische Staatsbeamte. Ganz recht hatte Schober mit der Bemerkung, ob ich nicht wegen des Dienst­eides und des daraus entspringenden Treueverhältnisses als Beamter der Republik bei meinen Standesgenossen Anstoß erregen würde. Tatsächlich war ich mit Olivier Resseguier127 und einem Thun so gut wie der erste Aristokrat, der Beamter der Polizeidirektion wurde. Sehr, sehr weh tat mir eine Message, die mir kurz nach meiner Dienstaufnahme zuging  : Der ehemalige k. k. Ministerpräsident (unter Kaiser Karl) Heinrich Graf ClamMartinic ließ mir sagen, er betrachte es als Felonie, dass sich ein Standesgenosse, noch dazu der Sohn eines seiner besten Freunde, dieser Republik zur Verfügung stelle – er würde mir nie mehr die Hand geben  ! Irgendwie hat mir dieses Urteil zeitlebens das Gewissen gequält. Die Nichtführung des Adelstitels hatte ferner zur Folge, dass ich in den erwähnten adeligen Kreisen als »roter Prinz« verschrien wurde. Es wurde behauptet, ich sei Mitglied der Sozialdemokratischen Partei. Dies ging so weit, dass ich durch den mir gewogenen Bundespräsidenten Dr. Schärf 128 später einmal sogar ein regelrechtes Dementi dieser Partei provozieren musste, dass ich ihr jemals angehört hatte.

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»Du kommst in ein Haus, das dumm und schlecht ist.« Mit diesen Worten empfing Ministerialrat Glob, ein im diplomatischen Dienst am Wiener Ballhausplatz ergrauter Abteilungschef, den jungen Attaché. Das war nicht gerade erleuchtend, entsprach aber dem griesgrämig nörgelnden Gehaben, hinter dem der gute österreichische Staats­ beamte seine traditionsbewusste Gewissenhaftigkeit verbirgt. Er ist fleißig, sachkundig und gerecht, der österreichische Bürokrat, Eigenschaften, dank deren seine Vorgänger ein zusammengeheiratetes, multinationales und zuletzt zentrifugales Staatengebilde vorbildlich verwaltet haben. Sie waren grantig, kritisch, opfermutig und treu, diese Aktenschieber, treu einem Ideal, das ihnen anerzogen war oder das sie sich selbst gebildet, oft auch nur eingebildet haben. Grillparzer war ein typischer Beamter, der dem Hause Habsburg auf seine kaustische Art gute Dienste leistete. Aber weil er so ein Miesmacher und Pedant ist, braucht der Wiener Beamte ein Gärtchen wohin er flüchten kann, wo er, in sich gekehrt, glücklich und vor allem vom Vorgesetzten verschont bleibt. Vielgestaltig ist der Garten. Meist besteht er aus Musik. Ging man beispielsweise in das Büro des lieben Stockert in der Wirtschaftsabteilung des Außenamtes, so bemerkte man beim Tür-Öffnen, wie er die mittlere Schublade seines Schreibtisches verstohlen zuschob. Auf die Frage, ob er denn dort heimlich ein Schinkenbrot verberge, wie dies der Herr Ministerialrat Mokry tue, der Punkt elf Uhr an geraden Tagen Schinken- und an ungeraden Salamisemmeln verzehrte  : »Nein  ! Während der schlaflosen Bürostunden – sie sind selten – lese ich Partituren«, stammelte der de facto vorbildlich fleißige Kollege und zog ein jüngstes Opus von Josef Marx129 hervor. »Ich war in der Orchesterprobe im Musikvereinssaal und hörte nachher Franz Schalk aufstöhnen  : »Immerfort alle Instrumente eingesetzt  ! Nirgends eine Pause  !« Das hat mich intrigiert, so beschaffte ich mir die Partitur.« Mit diesem Musiknarren von einem Fritz Stockert betrieb ich Kammermusik. Der bluternste Witold Schey  : erste Violine, Elsa Gutmann  : zweite. Katzenmusik natürlich, wenn ich auf dem Klavier mithämmerte. Ja, das muss ich meinen Kindeskindern beichten  : Ich »spielte« in meinen jüngeren Jahren viel Klavier, viel zu viel  ! Ich wollte Konzertpianist werden und verbrachte weit mehr Stunden am Klavier als hinter meinen juridischen Skripten und Gesetzbüchern. So wurde ich ein schlechter Jurist, und aus dem Klaviervirtuosen wurde auch nichts. Mein erstes – und letztes – öffentliches Auftreten im Konzertsaal beendete meine Karriere  : Freund Arbter, ein mäßiger Musiktraditionalist, hatte mich für einen seiner Kompositionsabende engagiert. Die Kritik in der Presse war katastrophal  : »Dieser durchlauchtige Haudegenpianist« wurde ich genannt. Ich hängte das Solospielen an den Nagel und begnügte mich zur eigenen Befriedigung und zum Leiden allfälliger Zuhörer mit Kammermusik. Aber zurück zum musikfreudigen Ballhausplatz. Auf meiner Antrittsbesuchsrunde dienerte ich mich zum Protokollchef Gesandten Junkar vor. Ich hatte gehört, er sei Klarinettist. Durch dicke Gläser durchbohrten mich zwei tückische Rapiere  : »Ich höre, Sie interessieren sich für Musik, junger Mann  ?«

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»Jawohl, Herr Minister  ; ich spiele ein wenig Klavier, ganz amateurisch, nicht so ausgezeichnet wie Sie, Herr Minister, Klarinette.« »Wollen Sie mich nächsten Sonntag in der c-Moll-Messe von Bach die zweite Klarinette spielen hören  ?« »Selbstverständlich, Herr Minister, mit allergrößtem Vergnügen.« »Aha, da hab ich Sie  ! Sie wissen offenbar nicht, dass Bach in der c-Moll-Messe keine Klarinette verwendet  !« Mit dieser vernichtenden Aufdeckung meiner Kultur­ losigkeit, eher triumphierend als ungnädig vorgebracht, war ich entlassen. Ich zog daraus die Lehre, nie wieder das musikalische Können eines Wiener Staatsbeamten zu unterschätzen. Aber ich bin vom österreichischen Staatsbeamten abgekommen. Ich habe unausstehliche, ich habe neurotische, perfide und vexatorische gekannt  ; aber alle haben sie gewissenhaftest mit vorbildlicher Sachkenntnis dem Staat gedient, und ihr Stolz war, »unpolitisch« zu sein. Das war das Geheimnis ihres Prestiges. »Man« hatte in Österreich, zur Zeit als ich in den Staatsdienst eintrat, Achtung vor dem Beamten, der den Mut hatte, keiner politischen Partei anzugehören. Das hat sich wohl seither geändert,

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aber glücklicherweise die hohe fachliche Eignung der Beamten nicht gemindert, zumal so mancher gute Minister aus dem Beamtenstand berufen wurde. Ich bin während meiner rund vierzig Dienstjahre dem Grundsatz treu geblieben  : ein Staatsbeamter soll keiner Partei angehören, nur so wird er Vertrauen erwecken. Insbesondere der im Ausland eingesetzte Beamte, der Diplomat, der Konsul, soll darauf bedacht sein, dem Empfängerstaat, der öffentlichen Meinung und der eigenen Kolonie gegenüber nur seine Heimat, den Staat, zu vertreten und nicht als Exponent einer politischen Partei dazustehen. Jeder Österreicher im Ausland, ob rot ob schwarz, soll zu seinem Botschafter oder Konsul mit seinen Sorgen kommen dürfen und sich ihm anvertrauen können. Wie soll er Vertrauen haben, wenn er befürchten muss, von einem Parteigänger empfangen zu werden  ? Zur Illustration möchte ich eine einschlägige Erfahrung aus meiner Londoner Dienstverwendung nach dem Zweiten Weltkrieg erzählen. Ein heikles Kapitel war das Wiedergutmachungsproblem. In England lebten über 2.000 ehemals österreichische Juden, die Hitler entkommen waren. Sie hatten Hab und Gut in ihrer Heimat, die meisten auch nahe Verwandte in den Gaskammern von Auschwitz verloren. Ihre Stimmung gegenüber dem neuen Österreich und dessen Regierung war voller Ressentiments. Die Erinnerung an die Behandlung, die sie erfahren hatten, der Judenstern, die Verhaftungen, die Deportation ihrer Angehörigen u. a. m. hatte gegen alles, was mit Österreich zu tun hatte, Hassgefühle aufgestapelt, die noch vom Umstand angefacht wurden, dass die Bundesregierung mit der im Staatsvertrag begründeten Entschädigungsverpflichtung im Rückstand war. Als Bundeskanzler Julius Raab130 London besuchte, bombardierten ihn die Vertreter dieser ehemals österreichischen, nunmehr britischen Juden mit dem Vorwurf, die österreichische Regierung zögere deshalb jahrelang mit der Auszahlung der Wiedergutmachungsbeträge, weil sie auf das Absterben der Interessenten spekuliere. Tatsächlich handelte es sich um alte Leute, von denen jährlich eine Reihe ausfiel. Mit ein Grund für die Verzögerungen und die Kompliziertheit des Ermittlungsverfahrens war die Tatsache, dass die Wiener Grundbücher verbrannt waren. Ein Beweis für verlorene Güter, für verbrannte Liegenschaften musste wohl beigebracht werden, denn die Geschädigten hielten es mitunter mit der Wahrheit nicht allzu genau. Der eine mag einen Laden besessen haben, forderte aber Wiedergutmachung für ein mehrstöckiges Haus. Kurz, die begreiflicherweise ungeduldigen Entschädigungswerber kamen zum österreichischen Botschafter sich beschweren. Ich musste die scheinbare Trägheit der Heimatbehörden entschuldigen und gegen Gehässigkeiten auftreten. Da kam mir mein gut jüdischer Name zugute  : »Se geheeren ja zu uns, Exzellenz  ! Se werden begreifen, das viele Blut  ! Gesessen bin ich monatelang, mein Geschäft, das bekannteste Knopfgeschäft in der Mariahilferstraße auf Zimperzamper  ! Millionen hat mir die Flucht gekostet … ich will von Esterreich nichts mehr wissen  ! Aber entscheedigen sollen mich diese … bevor ich abkratze …« Und so ging es weiter. Ich verriet nicht,

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dass ich ein Goi bin, und fragte, wieso der Herr Kohn, nunmehr Campbell, nach so vielen Jahren noch so gut wienerisch rede. »Ja, zu Hause, mit meiner Alten, da reden wir nur deutsch. Bin doch in Wien in die Schule gegangen … und die Theater.« Da hieb ich ein  : »Sie haben ja einmal Wien gern gehabt  ; wollen Sie es sich nicht einmal wieder anschaun  ?« – »Nein  : Um keinen Preis« … die Erinnerungen seien allzu bitter und die Wiener  ! Lauter Nazis  ! »Aber gar nicht, Mr. Campbell, die Nazis sind alle fort. Die heutigen Wiener sind ganz anders  ! So wie früher, Sie werden sich dort wohler fühlen als im nebligen London … und wie wär’s mit der Wiedereröffnung Ihres Knopfgeschäfts  ? Alles wird zu Ihnen strömen, denn Sie hab’ns ja weg, Mr. Campbell, was für Knöpfe die Wiener haben wollen  !« Nach langem Palaver »Und weil Sie es mir raten, der mich verstehen«, einigten wir uns auf einen 48-Stunden-Besuch in Wien. Daraus wurde eine Heimkehr. Viele folgten dem Beispiel  : Aussöhnung mit der Heimat, die verraten hatte. In London, genauso wie vorher in Rom, sprach es sich in der Kolonie herum, dass ich keiner Partei angehörte. Man vertraute mir, weil ich allein Österreich gelten ließ. Das hatte seine Vorteile auch für die Regierung, die ich zu vertreten hatte. Erinnerungen an verdiente österreichische Beamte In Dankbarkeit will ich einiger hervorragender österreichischer Beamter gedenken. Da war mein erster Chef, der Wiener Polizeipräsident und spätere Bundeskanzler Hans Schober. Ihm ist zu verdanken, dass die Wiener Polizei ein Ausarten der Revolution vom Jahre 1918 zu verhindern vermochte. Der Übergang von Monarchie zu Republik gerade in der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt, Schauplatz einer von den zusammengebrochenen Fronten heim- und durchströmenden Soldateska, mit einer verhungernden Bevölkerung und einer linksorientierten neuen Regierung  ; all das hätte allzu leicht zu blutigen Ausschreitungen geführt. Mit eiserner Hand hielt Schober durch seine Polizei Ordnung. Wie er mir einmal sagte, bestand das Geheimnis seines Erfolges darin, dass er für eine ausreichende Ernährung seiner 8.000 Mann starken Polizei sorgte  ; so hielt er die Leute bei der Stange. Im Aufspüren versteckter Lebensmittellager der ehemaligen Armee war er ein Meister. Schober war Initiator der heute bewährten Interpol. Weniger ruhmvoll war das mit dem deutschen Außenminister Curtius131 von Schober als österreichischem Bundeskanzler unterzeichnete Zollunionsabkommen. Schober musste sich den Vorwurf gefallen lassen, dieses übrigens nie in Kraft getretene Projekt bedeute eine ›societas leonina‹132 und führe zum Anschluss. Die Zollunionsidee kostete ihn die politische Karriere. Theodor (Teddy) von Hornbostel verdient ein Denkmal als einer der besten Österreicher überhaupt. Zu seinen Füßen hätte, auch in Bronze oder Marmor, sein getreuer

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deutscher Schäferhund Rough zu liegen. Wie jeder gehörige Wiener Staatsbeamte war Teddy ein hervorragender Musiker, der im Handumdrehen Pianist, Dirigent oder Musikkritiker hätte werden können. Gewiegter Entzifferer auch des kompliziertesten Chiffresystems, Sprachgenie, Stilist und echter Wiener Charmeur, liebte er sein Öster­ reich mit einer Begeisterung und Selbstverleugnung, die ihn schließlich ins Konzentrationslager nach Dachau brachte. Trotz des Dachauer Märtyriums vermochte er noch lange die geistige Spannkraft zu erhalten  ; nach seiner Pensionierung leitete er erfolgreich das Institut für Donauraumforschung. Hornbostel war Leiter der politischen und kulturpolitischen Abteilung im Außen­ amt und ich sein Vorzimmerpintsch. In dieser hehren Position habe ich viel von ihm gelernt. Neben der Initiierung in die neuen Sonoritäten der Symphonien Gustav Mahlers weihte mich Hornbostel in die Mysterien des Metternich’schen Aktenstils ein. Clemens Metternich133 schrieb bekanntlich eigenhändig ausführlichste Memoranden und Instruktionen, die als Vorbilder jedem angehenden Diplomaten dienen können. Metternich war ein gründlicher Kenner der Akten und widmete deren Studium ebensoviel, wenn nicht mehr Zeit als den Damen. Hornbostel litt seelisch, als Bundeskanzler Schober mit dem deutschen Außenminis­ ter den Zollunionsplan schmiedete. Er sah darin einen Ausverkauf Österreichs an das Reich. Von da stammte Teddys antigermanische Einstellung, die mit der Zunahme der nazistischen Propaganda und dem Druck der sprachverwandten und wirtschaftlich übermächtigen Stammesbrüder ins Angewiderte anwuchs. Die Anschlussgefahr ließ ihn nicht zur Ruhe kommen, und er unterstützte die Dollfuß’sche Italienpolitik nur so lange, als in Mussolini ein Verbündeter gegen Hitler erblickt werden durfte  ; eine Hypothese, die bis zu dem Moment gerechtfertigt war, da der Duce noch nicht der hypnotischen Macht des Führers verfallen (und von England in der Person Anthony Edens134 nicht zu schäumender Wut angefacht worden) war. Hornbostel setzte viel zu viel Vertrauen in die in Wien akkreditierten Botschafter der Westmächte. Er war zu kurz auf Auslandsposten gewesen (Vizekonsul in Albanien und Legationsrat in Budapest), als dass ihm das stete Schwinden des Einflusses der Diplomaten auf ihre Heimatregierung – ein Phänomen der letzten Jahrzehnte – zu Bewusstsein gekommen wäre. Er glaubte an deren Versicherung, man werde die österreichische Unabhängigkeit verteidigen. Als Hitler in Österreich einmarschierte, beschwor Hornbostel telefonisch die Außenämter der Westregierungen, die deutsche Invasion mit Waffengewalt aufzuhalten. Seine verzweifelten Appelle, in letzter Minute vorgebracht, verpufften an der damals noch vorherrschenden angstbedingten Abneigung der Westmächte, mit Hitler zu brechen. Dazu kamen Widerwärtigkeiten wie der Umstand, dass in Frankreich wieder einmal Regierungskrise herrschte. Hornbostels verwegenes Vorgehen bei nahender Anschlussgefahr wurde deutscherseits als Volksverrat betrachtet und trug ihm Verhaftung und das kz ein.

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Das Hochhalten der ehrwürdigen altösterreichischen Tradition war Hornbostels heilige Mission. Tradition bedeutete ihm mehr als bloßes Bewahren des Überlieferten, weit mehr als Konvention, Formeln und Gewohnheiten. Es war ein Werten des Besten, das die Monarchie hervorgebracht hatte, ein Eklektizismus höchsten kulturellen ­Niveaus. Tradition war für Hornbostel kein Epigonentum, kein Erstarren im Rückblick, kein Rechtbehalten im Vergleichen mit dem Vergangenen, sondern Ausspinnen der geballten Erfahrung von Generationen, war dynamische Verteidigung der geistigen Güter der Nation. Der Angriff gilt als die beste Verteidigung. Auch beim Hochhalten erlöschender Werte stellt sich die Frage der Taktik. Da scheiden sich die Geister. Die altgetreuen, introvertierten Charaktere trauern im trauten Kämmerlein dem goldenen Zeitalter nach. Mit Gesinnungsfremden das Anvertraute zu teilen, deucht ihnen Entweihung. Das andere Extrem mündet leicht in Propaganda, in Reklame aus für etwas, das in neuem Kleide verkauft werden soll. Das Kriterium dürfte im Grade des Eigeninteresses liegen. Einem Fanatiker, der uneigennützig für eine verlorene Sache trommelt, wird gern verziehen. Hornbostel war ein Fanatiker für Österreich, das nicht mehr sein konnte. Auf ihn passt das Wort der Dichterin135 von der an beiden Enden angezündeten Kerze  : sie wird nicht lange dauern, aber gibt sie nicht ein doppelt Licht  ? Ich möchte eines der gescheitesten und charmantesten Menschen gedenken, denen ich das Glück hatte zu begegnen. Es war mein Meister in handelspolitischen Belangen, Sektionschef Richard Schüller. Ich glaube, ihn das erste Mal im Hause des letzten k. k. Finanzministers, Professor Josef Redlich136, getroffen zu haben. Letzterer schickte mir übrigens einmal eine Seminararbeit wortlos zurück. Ich dürfte eine ungeheuerliche Eselei zusammengeschrieben haben  ! Schüller war als sehr junger ao. Universitätsprofessor im Jahre 1915 in das k. k. Handelsministerium gebeten worden, wo man ihm bedeutete, er könne als einer der besten Fachleute auf dem Gebiet des Zollwesens als Beamter in das Ministerium eintreten, doch riet man ihm, sich vorher taufen zu lassen. Schüller lehnte ab. Er wurde trotzdem ins Ministerium aufgenommen. In der Republik wurde er Leiter der handelspolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt am Ballhausplatz und leitete mit brillantem Erfolg alle Handelsvertragsverhandlungen der jungen Republik mit dem Ausland. Einmal, als ich im selbigen Hohen Haus arbeitete, begegnete ich Schüller auf dem Gang im Hochparterre. Monsignore Seipel war Außenminister geworden. Schüller stöhnt  : »Das ist nun schon mein vierter Außenminister  ; jeder erklärt mir bei der ersten Vorsprache  : Schüller, wir müssen härter arbeiten, wir müssen täglich um eine halbe Stunde früher anfangen  ! – Das sind also vier mal eine halbe Stunde, macht ganze zwei Stunden früher aufstehen  ! Da krieg ich ja noch nicht einmal eine Melange im Kaffeehaus  !« Später erlebte ich Sektionschef Schüller in Rom  : »Semmeringverträge«, d. h. verdeckte Exportprämien. Seipel fährt übers Wochenende nach Monte Cassino. Seipel ist gewohnt, sehr zeitlich Messe zu lesen, jedenfalls zeitiger, als die Mönche in Monte Cassino ihre Zellen verlassen. Seipel geht in die Sakristei,

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findet aber weder Mesner noch Ministranten. Steigt zu Schüllers Zelle hinauf, klopft an die Tür  : »Schüller, Schüller, stehen Sie auf, kommen Sie mir ministrieren  !« Schüller verschlafen und grantig  : »Aber Herr Kanzler  ! Ich bin doch Jude  !« Seipel unverzagt  : »Macht nichts, schaut sowieso niemand zu, Sie können ruhig in Ihrem Pyjama ministrieren  !« Schüller, der mir die Geschichte erzählte, öffnet beide Hände entschuldigend nach außen  : »No, da hab ich eben in Monte Cassino ministriert.« 1933 – Weltwirtschaftskonferenz in London. Schüller ist in seinem Element, geht von Sitzungssaal zu Sitzungssaal, tritt uneingeladen ein, unterbricht sämtliche Kommissionssitzungen mit den Worten  : »I am the old Richard Schüller  ! You boys don’t know how to go about these things. I will show you  !« und lehrte alle Völker, wie Währungsparitäten hergestellt, wie Zolltarife harmonisiert, wie Schutzzölle getarnt werden können usw. Schüller pflegte zu sagen  : »Sich den eigenen Kopf zerbrechen ist keine Kunst, aber leider muss man sich immer den Kopf der anderen zerbrechen  ; das ist viel schwerer  !« Schüllers Wendigkeit sei an folgender Episode illustriert  : Kanzler Dollfuß hatte Sorgen mit seinen Wählern aus der Landwirtschaft. Die Bergbauern vermochten ihr Magervieh, sogenanntes Beinlvieh, nicht zu verkaufen. Dollfuß kam auf die Idee, die unanbringbaren Rinder, 4 000 Stück, der befreundeten italienischen Regierung anzuhängen. Schüller wird nach Rom geschickt, das Geschäft bei Mussolini durchzudrehen. Schüller geht ins Palazzo Venezia  ; ich soll ihn begleiten. Der kleine Sektionschef wird in die riesige Sala del Mappa Mondo eingelassen. Zwanzig Meter sind zu durchschreiten bis zum Schreibtisch des Allgewaltigen am gegenüberliegenden Saalende. Mussolini erhebt sich, verschränkt die Arme, sieht finster drein, ist schlecht gewickelt, will einen wenig entgegenkommenden Eindruck erwecken, weiß ja, um was es geht. Schüller strickt sich vor mit seinen zwei linken Füßen, wie ein Papagei auf dem Fußboden. Kommt endlich an den grantigen Diktator heran, erkennt, dass mit den üblichen Verhandlungsmethoden nichts anzufangen ist, setzt sich unaufgefordert an das Schreibtisch­ende. Mussolini schweigt und stiert. »Eccellenza«, hebt Schüller an auf Italienisch  : »Wie hoch ist Ihr Ministergehalt  ?« Mussolini wirft ärgerlich den Kopf zurück  : »Das hat mich noch niemand gefragt  ! Aber, wenn Sie es wissen wollen  : Ich habe auf alle Dienstbezüge verzichtet.« – »Aber von irgendetwas müssen Sie doch leben  ?«, insistiert Schüller. »Wenn ich ein Geld brauche, schreibe ich einen Artikel im »Popolo« meines Bruders Bruno, und das hilft mir über einige Wochen hinweg.« – »Aber diesen Kaffee, den Sie da eben getrunken haben«, meint listig der Besucher und richtet den Zeigefinger auf eine leere Kaffeetasse, »zahlen Sie den aus eigener Tasche oder lassen Sie ihn auf Staatsrechnung setzen  ?« Mussolini bricht in schallendes Gelächter aus. Innerhalb von zehn Minuten waren die 4 000 Stück alpenländisches Beinlvieh an Italien verkauft. Ein Typus des unerbittlichen Beamten war Gesandter Heinrich Wildner.137 Er zwiebelte mich fürchterlich, obwohl ich nach dem Zweiten Weltkrieg bereits Mis­sionschef

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war. Einmal – er saß als Generalsekretär an dem im Hause berühmten Riesenschreibtisch Metternichs – hatte er mich ordentlich ausgezankt, warum, weiß ich nicht mehr. Dann hub er an und sprach  : »Bevor ein junger Beamter hier in diesem Sessel, auf dem Sie sitzen, nicht zusammenbricht und richtig weint, ist er für mich kein guter Beamter.« Wildner war ein rechter österreichischer Patriot. Natürlich, er stammte ja aus Böhmen  ! Dazu war er gerecht, doch tückisch in seiner Loyalität zum Staat. Sich direkt an ihn zu wenden, war nicht ungefährlich. Der Schuss konnte nach hinten losgehen. Einmal riskierte ich die Sache. Zum Chef hatte ich einen hochkultivierten, ans Geniale reichenden, herzensguten Menschen, den ich ehrlich liebte. Dessen ungeachtet musste ich ihm in den Arm fallen. X. war unter dem Charme eines amerikanischen Gschäftlimachers gefallen, der unter dem in Kriegszeiten so gern ausgeliehenen Deckmantel des Geheimdienstes (cia) sogenanntes Surplus-Material der amerikanischen Armee derart lukrativ an den Mann zu bringen verstand, dass er ein Schloss mit Park und wohl versorgtem Weinkeller erworben hatte. Dieser mit der Sicherheit eines Wohltäters der Menschheit auftretende Yankee wollte uns, d. h. dem wie der Vogel Phönix aus der Asche neugeborenen Österreich, ein halbes Dutzend aus Stahlblech zusammengekitteter Transportschiffe – nach ihrem Erbauer »Kaiserships« genannt – zu sehr vorteilhaften Preisen anhängen. Was hätten wir, ein kontinentaler Kleinstaat, so fragte ich mich, mit einer Flotte ozeangängiger Frachtschiffe angefangen  ? Nicht genug damit. Der Amerikaner wollte uns sogar eine Kolonie zuschanzen. Sie hieß Kabinda und war eine damals herrenlose Landzunge am Kongofluss, eingepfercht zwischen den beiden nunmehr selbstständigen Kongostaaten. Bananen, Ananas, Mangos, Affen und Krokodile gab es dort in Hülle und Fülle  ; insbesondere die Häute der letzteren garantierten dem Besitzer eine interessante Rohstoffversorgung seiner Taschen- und Schuhindustrie. Also  : Mut  ! Lasset Österreich einen Kaufvertrag abschließen  : der Amerikaner garantiert uns die volle Souveränität über Kabinda und verspricht, wir würden Kolonialmacht werden, umflammt vom Glorienschein einer unbestrittenen internationalen Machtstellung, auf gleicher politischer, finanzieller und sozialer Ebene mit den übrigen weißen Kolonialmächten. Der Amerikaner gefiel mir nicht, trotz der Zigarren und Champagnerflaschen, mit denen er mich zu korrumpieren suchte. Ich fuhr heimlich zu Wildner. Er knurrte etwas von Felonie, nahm aber die Sache bluternst. Bald danach wurde unser Kabinda- und Kaiserschiffhändler von der amerikanischen Militärpolizei verhaftet. Das war das Ende unseres Kolonialmachttraumes. Gesandter Wildner hatte seine Karriere noch vor dem Ersten Weltkrieg in St. Petersburg als Konsul begonnen. Der k. u. k. Botschaftsrat Prinz Karl Fürstenberg138 muss nett zu dem einfachen Dr. Wildner gewesen sein. Zeitlebens bewahrte dieser dem an sich eher rüden Amtschef ein dankbares Angedenken und übertrug diese Wohlgesinnung auf die als Aristokraten nur mühsam sich im neuösterreichischen Außendienst hocharbeitenden jungen Beamten. Wildner war ein strenger Lehrer. Seine Verdienste

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um die Erhaltung der traditionellen Korrektheit und Sachkenntnis in der österreichischen Diplomatie sind leider vergessen  ; daran ist seine Zurückgezogenheit und charakterliche Austerität schuld. Er konnte nicht lachen. Das ist fatal in Wien  ! Von der eisernen Unbestechlichkeit Wildners gibt ein Brief Zeugnis, den ich unter verstaubten Papieren fand. Ein Kollege hatte mir während des eisigen Winters 1946/47 aus Wien über die armseligen Zustände unter der Beamtenschaft auf dem Ballhausplatz nach Paris geschrieben und erwähnt, dass unser Generalsekretär friere und richtiggehend hungere. Er koche sich, allein in einem fensterscheibenlosen Zimmer, ein karges Mahl  ; ob ich ihm nicht ein wenig von seinem geliebten Tee mitbringen könne. Ich tat dies. Über die Wildner’sche Reaktion (s. Abb. S. 112) gibt der nachfolgende Brief Aufschluss. Mir tat er weh, denn Wildner zählte mich offenbar nicht zu den »guten Freunden«, die ihm in seiner uneingestandenen, aber tatsächlichen Not helfen durften. Die London-Reise des Bundeskanzlers Dr. Dollfuß zur Weltwirtschaftskonferenz im Juni 1933 (in Form meiner Tagebuchaufzeichnungen) Um 6 Uhr früh Abflug von Aspern. Die Fachmänner der Wetterkunde erklären, es herrsche überall allerbestes Flugwetter und Windstille  ; beim Tulbingerkogel fängt das Sauwetter an  ; um nach Salzburg zu kommen, müssen wir einer Wolkenwand ausweichen und verlieren eine halbe Stunde. In Salzburg wartet bei strömendem Regen ein geistlicher Landeshauptmann-Stellvertreter, dessen Vorderseite Zeugnis von reichlich fettem Fleischgenuss ablegt  ; immerhin leiht er uns eine Pferdedecke. Der Flug nach Basel führt knapp an München vorbei, obwohl es in Wien hieß, wir würden österreichisches Gebiet kaum verlassen. Der Kanzler freut sich hierüber diebisch. In Basel freundlicher Empfang durch Regierungsvertreter und reichliches Pranzo. 20 Minuten nach Abflug stellt sich das Beefsteak in veränderter Form wieder ein  ; wir fliegen bei heftigstem Sturm und Nebel  ; das Flugzeug wird hin und her geworfen  ; der Kanzler reicht mir geduldig ein Papiersäckchen nach dem andern  ; mit knapper Not erreichen wir Paris, denn der Benzinvorrat ging wegen des Gegenwindes zur Neige. Ich habe meine Gedärme bereits bis zum Hals heraufgewürgt. Auf dem Pariser Flugplatz lauter eben gelandete Leichen, bloß der Anblick des geruhsamen Heinz Schmid wirkt belebend. Die erschienenen Regierungsvertreter werden zur Seite geschoben, und es wird gewichtigeren Geschäften nachgegangen. Ankunft in Croydon. Der Kanzler hat seinen Überzieher zerrissen und seine Linke verbirgt krampfhaft das Loch, während er seine Rechte zu den englischen Riesenvertretern MacDonalds und des Äußeren hinaufreicht. Franckenstein139 wird in verschie-

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denen Begrüßungsposen mit dem Kanzler fotografiert. Die erste Dame der Gesandtschaft hat leichte Bekleidung angelegt, die vom Sturm hochgeblasen wird  ; es zeigen sich, besonders für kleinere Leute, etliche Blößen. Im Hotel bereits Presseüberfall. Herr Salzer vom Wiener Journal und zwei konkurrierende Freie Pressler, und zwar der ständige, Dr. Bach, der leicht vertrottelt ist und entsetzlich mauschelt, und der Sonderkorrespondent, der freche Herr Smolka. Sie beklagen sich übereinander beim Kanzler, der schließlich keinem ein Interview gibt. Ich packe die mikroskopischen zwei Gepäckstücke aus und fülle eine Schublade mit dem gesamten Inhalt. Für den sonntagigen Kirchgang hat Wimmer140 bereits Vorkehrungen getroffen. Wir kommen, wie zu allen kommenden Programmpunkten, viel zu spät, und es bleibt in der ersten Bankreihe bloß ein Sitzplatz übrig, der von Maria Wimmer und dem Kanzler gleichzeitig eingenommen wird. Es kann immer nur einer sitzen, während der andere knien muss. Kniet der Kanzler und sitzt Maria, so sieht es aus, als trage eine Känguruhmutter ihr Junges im Beutel – sitzt aber der Kanzler und kniet sie zwischen seinen Beinen, so erinnert das Bild an jene Geschöpfe, bei denen die Weibchen ihr Junges auf dem Rücken tragen. Die stoischen Engländerinnen in der Nachbarschaft konstatieren »Foreigners  !«. Maria Wimmer ist vom Kanzler begeistert. Der Kanzler will unbedingt einen Kranz am Grab des Unbekannten Soldaten niederlegen. Ich wende das Fiasko der Rosenberg’schen Geste141 und die sonntags geschlossenen Blumengeschäfte ein  ; dies wirkt ebensowenig wie das Argument, dass er die übrigen bereits eingetroffenen Delegationsführer durch diesen ersten Schritt blamieren würde. Schließlich lässt er sich bewegen, durch Franckenstein im Foreign Office vorfühlen zu lassen, das natürlich abwinkt. Nach dem Mittagessen fährt der Kanzler als Opfer einer Befürwortung des für die »Wüstenrot«-Bewegung anscheinend begeisterten Präsidiums und über Drängen eines Direktors Platz aus Salzburg Neubauten an der Peripherie besichtigen, die von Bausparkassen errichtet wurden. Platz ist Nazi, was er durch gezwungenes Dialektreden zu verdecken sucht. Der Kanzler fährt im Auto des englischen Bausparkassenobermachers Sir Harold Bellman142, ich mit dem etwas zaghaft chauffierenden Franckenstein hinterher. An der ersten Kreuzung verlieren wir das vorfahrende Auto und finden erst nach einer Stunde den Kanzler in der Wohnung des Engländers, wo sich ein verzweifelter Verständigungskampf abgespielt hat. Abends ist der Kanzler mit Franckenstein beim belgischen Botschafter zum Dinner. Das Personal nennt den Botschafter bloß »le vieux pompier«. Dazu Madame Cartier, eine ehrgeizige Amerikanerin. Ich bin für nachher bestellt, und meine Aufgabe besteht darin, eine morsche Lady, die als einzig deutsch sprechendes Individuum dem Kanzler für den Abend zugewiesen worden war und sich sofort hysterisch in ihn verliebte, niederzuhalten, während Mme. Cartier Colijn mit dem Kanzler zusammenführt. Für die Behandlung Colijns143 hatte Schüller dem Kanzler handgreifliche Lektionen erteilt,

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die auch wirkten. Der Kanzler packt Colijn am Westenknopf und sagt  : »Ich weiß, Sie sind gegen die Anleihe, aber Sie werden es doch machen  !« Worauf Colijn erklärt, in Gottes Namen würde er sie machen. Der belgische Finanzminister Jaspar144 erkundigt sich ebenfalls über die Anleihe  ; der Kanzler sagt, er brauche sie nicht so sehr aus finanziellen Gründen als aus politischen, nämlich als inneren Erfolg  ; dieses leuchtet Jaspar ein. Sonst noch Gelegenheit für ein paar freundliche Worte von Sir Austen Chamberlain145 und Hymans146. Montag vormittag Zusammentreffen mit Gouverneur Norman.147 Zwischendurch Geplänkel mit Reportern  ; Dr. Hans brav und fleißig  ; sein Übersetzen leicht Ottakringerisch und endlos. Kanzler lässt mir ausnahmslos alle Kommuniqués vor Ausgabe bzw. Weitergabe an die amtliche Nachrichtenstelle von Dr. Hans zur Stellungnahme zeigen und nimmt alle Anregungen meinerseits an. Alle Reporter interessieren sich in erster Linie für unser Verhältnis zu Deutschland. Kanzler sehr vorsichtig im Antworten, legt Gewicht darauf, dass auch wir Deutsche sind und dass wir sehr langmütig sind. Beweis  : die immer vom Kanzler entgegen den Anregungen Feys148 hinausgeschobene Auflösung der Nazi-Partei in Österreich trotz Bombenanschlägen. Die Londoner Judenschaft ist Feuer und Flamme für den Kanzler, der durchschnittlich täglich 20 Anerkennungsschreiben nebst anderen Zuschriften erhält. Ich wundere mich, dass er noch nicht zum Ehrenmitglied der Londoner Kultusgemeinde erwählt worden ist. Lunch im Ritz, gegeben vom Gesandten Selby  ; anwesend Sir John Simon149, Austen Chamberlain, Lord Reading150, Leith-Ross, einige Bonzen des Foreign Office, Franckenstein, Schüller, Kienböck151 und ich. Ein Witz Schüllers schlägt ein  ; man spricht davon, ob die Weltwirtschaftskonferenz die Krise beenden würde. Schüller behauptet ja und begründet dies damit  : Bekanntlich setzen sich Regierungen immer viel zu spät zur Abstellung eines Übels in Bewegung. Dies wissen die Völker, die auch jetzt sagen werden  : »Was  ? Weltwirtschaftskonferenz  ? Die Regierungen fangen an, über die Krise zu beraten  ? Ja, da muss sie doch schon vorüber sein  !« Und die Krise könne zum Teil durch Couéismus152 geheilt werden. Feierliche Konferenzeröffnung. Wir alle im Jackett und Zylinder. Nur Schüller im blauen Anzug. Franckenstein erbleicht, denn es kommt ja der König153. Als sich nachher herausstellt, dass in der Garderobe mit unseren Zylindern Fußball gespielt wurde und dass die Amerikaner im grauen Anzug erschienen, erklärt Franckenstein mit Märtyrermiene  : »Jetzt wird der Schüller nicht mehr zu zügeln sein.« S. M. eröffnet sehr würdig. Die Rede MacDonalds154, der über ein prächtiges Organ und ein sehr einnehmendes Äußeres verfügt, besonders eindrucksvoll. Da der Greifenstein der Konferenz ein Wiener ist, natürlich ein Jude, der sich Mr. Hersly nennt, haben wir fünf Sitze wie die Großmächte, während die anderen Staaten sich oft mit zwei Delegiertenplätzen begnügen müssen. Wir sind ganz nahe bei den deutschen Sitzen, und der

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Kanzler spricht mit Neurath und Hösch. Hugenberg155, der höchst lächerlich aussieht, wendet sich ab. Der hat’s nötig  ! Neben Neurath ein wild aussehendes Männchen, das wir für einen Nazispitzel unter der würdevollen deutschen Delegation halten. Er will die Österreicher begrüßen und wird geschnitten. Es stellt sich bald heraus, dass er der harmlose Vertreter Albaniens ist, der neben Allemagne sitzt. Kanzler spricht mit Tewfik Rüstü Bey156, wird Cordell Hull157 und einigen Engländern vorgeführt und wird endlich vom braven General Smuts158 in die zunächst aus unbekannten Gründen offenen Arme geschlossen. Ich glaube, Smuts spielte in Versailles eine für Österreich sehr entgegenkommende Rolle. Nachher Presseempfang auf der Gesandtschaft. Der Chor der Reporter nicht sehr prominent, wenn auch zahlreich. Die Erklärungen Kienböcks interessieren mehr als die des Kanzlers über Fremdenverkehr. Ich nehme mir vor, die Elaborate Dr. Hans’ künftig etwas saftiger umzumodeln, wozu mir der Kanzler bereitwilligst hilft. Abends Regierungsbankett, zu dem ich dem Kanzler alle Orden umhänge und eine neuerworbene Weste anschnalle. Auch zu einer Butterfly-Krawatte vermochte ich ihn zu bekehren. Ich habe ein reizendes Nachtmahl bei Villiers, Bekannten meiner Frau. Alles redet nur vom Kanzler, der bereits populär ist. Die Deutschen sind unten durch und die alte Kriegsantipathie lebt auf. Am 13. Juni nebst Pressekanonade Zusammentreffen mit Simon. Dem Kanzler bläht sich die linke Hosentasche. Auf meine kritische Frage antwortet er verschämt, dies sei das Fey-Telegramm. (Bei allen kommenden Besuchen bei prominenten englischen Staatsmännern geht nunmehr grundsätzlich alles Erhebungsmaterial über die Bombenanschläge etc. mit, meistens in Form der von Fey abgesandten Telegramme, die, wie von ungefähr, den Herren gezeigt werden.) Sir John zeigt sich unwahrscheinlich schlecht informiert über die Verhältnisse in Österreich. Zuerst fragt er, warum der Kanzler keine Koalition mit den Nazis eingehe, und als der Kanzler entsprechend ripostiert, warum er sich nicht mindestens mit den Sozis verbinde oder sich von diesen unterstützen lasse. Letztere Kombination wird übrigens dem Kanzler von schier allen Staatsmännern empfohlen. Kanzler entgegnet immer mit den schlechten Erfahrungen Brünings159 und mit der destruktiven Politik unserer besonders radikalen Sozis  ; auch könnten seine Parteigänger niemals ein Zusammengehen mit den Sozis verstehen, nachdem man ihnen seit Jahren die Sozis als schärfstens zu bekämpfende Staatsfeinde hingestellt hat. Simon erzählt vom Labour-Abgeordneten Citrine160, dem gegenüber die Rathäusler gelegentlich seines Wiener Besuches Dollfuß als ihren besten Sachwalter hingestellt hatten. Die völlige Unorientiertheit Simons erklärt mir die Bemerkung vieler Engländer, die Simon als ein bloß geduldetes Kabinettsmitglied (Liberaler) hinstellten, das nur sehr wenig zu sagen habe. Der eigentlich maßgebende Faktor im Foreign Office sei Vansittart161, dessen Persönlichkeit und an unseren Generalsekretär erinnernde Erfahrung ihm den ausschlaggebenden Einfluss auf die Außenpolitik seines Landes sichere.

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Déjeuner auf der Gesandtschaft mit Simon, Ackerbauminister Elliot, Handelsminister Runciman162, Gesundheitsminister Hilton-Young, Leith-Ross, Selby, Kienböck, Schüller, einigen anderen und mir. Ich komme neben Vansittart zu sitzen, der sehr aus sich herausgeht und in Erinnerung an seinen angeblich besten Freund Edgar Spiegel sich wirklich für die Sache Österreichs einzusetzen beabsichtige. Der großangelegte Plan, wie die englische Presse, die nun schon einmal gegen Deutschland eingenommen sei, für unsere Sache einzuspannen wäre, wird erörtert, und Sir Johns Zustimmung dazu eingeholt, dass das Foreign Office seine Verbindungen uns zur Verfügung stellt. Hiebei müsse aber natürlich der Kanzler herhalten, da ja die Presselords große Herren seien, die gebeten werden wollen. Vansittart glaubt, dass eine kräftige Pressekampagne für Österreich zunächst einmal der englischen Regierung eine entsprechende Rückendeckung in der öffentlichen Meinung geben würde  ; ohne öffentliche Meinung könne bekanntlich England keine außenpolitischen Entschlüsse fassen. Dann aber wäre es auch für Italien leichter, in Berlin vorstellig zu werden, wenn es auf die Stellungnahme der ernsten englischen Presse hinweisen kann. Der Kanzler ist nach dem Essen zunächst nicht zu bestimmen, seine Abreise zu verschieben, da er unbedingt zur Fronleichnamsprozession in Wien sein will und meint, die paar Journalisten könne er zwischen 11 und 12 Uhr vormittag erledigen. Erst als es mir gelingt, Schüller von dem Gewicht der englischerseits eingeleiteten Aktion zu überzeugen – was übrigens nicht schwer ist –, wird der Kanzler von diesem umgestimmt, und zwar durch den Hinweis darauf, dass die Abreise im gegenwärtigen Zeitpunkt wie Angst vor den Bombenattentaten bzw. deren Folgen in Österreich aussehen könnte. Nachmittag sieht Kanzler Suvich163, der durch ein Missverständnis (auf italienischer Seite) eine volle Stunde wartet. Gesprächsinhalt mir ebenso unbekannt wie der der folgenden Aussprache mit Baldwin164 im House of Commons. Das Fey-Telegramm ist schon recht abgegriffen. Anschließend Besuch in den Sitzungssälen, wo die Minister tatsächlich ihre Füße auf den Tisch legen und hörbar schnarchen. Auffallend die vielen blutjungen Abgeordneten. Der Grund liegt darin, dass der Sieg der Konservativen bei den letzten Wahlen derartig groß und unerwartet war, dass die Zahl der Kandidaten nicht hinreichte, um alle Sitze zu besetzen. So wurden denn Abgeordnete von den Zäunen weg und aus den Schulen herausgeholt, nur um das Haus zu füllen. Abends Diner bei Sir Philip Sassoon, Mutter Rothschild, Vater Abkömmling eines persischen Geschlechts, Unterstaatssekretär für Luftschifffahrt und M.P. Auch noch ziemlich jung. Bekannter Kunstsammler. Ich drücke mich und gehe zu Kelly, um einige Bekannte zu treffen. Kanzler soll mit MacDonald einige unwichtige Worte gewechselt haben. Nachher der große Empfang bei Franckenstein. Ein eklatanter gesellschaftlicher Erfolg sowohl des Hausherrn wie des Kanzlers. Alle Geladenen kamen, darunter die sehr überlasteten englischen Minister, die nicht einmal zu den Empfängen der Botschafter gingen. Das von englischen Künstlern bestrittene musikalische Programm viel

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zu lang. Ein Großteil der Gäste geht vor Schluss weg. Der Kanzler schmort im Kreuzfeuer verliebter Blicke der Botschafterinnen und Ladys. Neurath und Hösch kommen und gehen bald wieder. Zuspätkommende finden kaum einen Sessel wie z. B. Grandi.165 Englische Kabinettsminister sitzen auf der Stiege, was aber in London nichts Ungehöriges sein soll. Franckenstein erscheint im besten Lichte, und der Kanzler muss seine exzeptionelle Stellung anerkennen. Beim Buffet, das einfach gehalten ist, entwickelt sich ein lebhaftes Drängen um den Kanzler, der charmant ist und nette Worte für jeden, besonders aber für die Damen, findet. Die Ladys sind außer Rand und Band. Dr. Hans telefoniert mit gebrochener Grabesstimme die Demission Rehrls166  ; er fürchtet, den Kanzler würde darob der Schlag treffen. Ich fürchte, dass, wenn der Allgewaltige von Salzburg wüsste, wie wenig Eindruck seine Demonstration auf den Kanzler machte, er würde schlechterdings Nazi werden. Um halb drei Uhr früh drehe ich das Licht aus. Alsbald bricht die WasserbäckAffäre167 los. Der Kanzler tobt im Pyjama, und es dauert 20 Minuten, bis es mir gelingt, Neurath im Dorchester-Hotel an den Apparat zu bekommen. Neurath168 verspricht, sofort mit Berlin Fühlung zu nehmen. Kanzler will die englische Regierung mitten in der Nacht auf den Plan rufen  ; mit Mühe ist er davon abzubringen. Dann will er Tauschitz169 anweisen, gemeinsam mit Meindl Wasserbäck aus der Wohnung auf die Gesandtschaft zu führen. In meiner Not bringe ich den Kanzler dazu, vorher mit dem Generalsekretär oder Hornbostel zu telefonieren  ; es gelingt dem Generalsekretär, den Kanzler von diesem Vorhaben abzubringen. Während der Verhaftung Wasserbäcks sind wir in Verbindung mit seiner Wohnung bzw. mit einer aufgeregten Haushälterin. Schade, dass kein Tonfilmapparat zur Stelle war  : der Kanzler in kurzem braunseidenem Pyjama im Bett, ich im Nachthemd am Bettrand schreibend. Die Ernennung Wasserbäcks zum Legationsrat um 5 Uhr früh beschließt die Strategie dieser Nacht, nachdem Neurath sich noch geweigert hatte, ein zweites Mal ans Telefon zu kommen. Am nächsten Morgen um 7 Uhr früh fängt die Arbeit für die Kanzlerrede in der Plenarversammlung der Weltwirtschaftskonferenz an. Schüller hat einen Entwurf  ; ein von Rost van Tonningen eingesandter Entwurf wird nicht verwertet. Einer plötzlichen Eingebung folgend, beschließt der Kanzler, den Rasierpinsel in der Hand, den bekannten Schlusssatz »Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt  !«. Ich wimmere, später auch von Schüller sekundiert, er solle den Satz nicht sagen, denn es würde heißen, er sei der Erste, der Politik in die Konferenz hineinträgt. Umsonst. Um 10.15 Uhr soll der Kanzler reden. Um 10 Uhr bekomme ich endlich den Text (samt Schlusssatz) zur Reinschrift. – Gott sei Dank werden wir im letzten Augenblick telefonisch verständigt, dass der Kanzler erst um 10.45 Uhr sprechen möge. Ich werde gerade noch fertig. Wir stürmen ins Geologische Museum (ein Wunder, dass man es noch nicht das Archäologische Museum nennt), der Kanzler springt beinahe direkt auf die Rednertribüne. Eindrucksvoller Applaus, der

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von allen Generalrednern außer dem Kanzler nur Neville Chamberlain170 gezollt wird. Der letzte Satz schlägt sichtbar ein, Neurath lächelt weise, Hugenbergs Schnauzbart zittert, Schacht171 und die übrigen zucken. Unter den Italienern werden Wetten abgeschlossen, ob der Satz vom Kanzler oder von Schüller stammt  ; Suvich gewinnt, der den Kanzler gleich als Autor bezeichnet hatte. Bei der Übersetzung des Wortes »bös« ins Französische sagt der Interpret nach kurzem Zögern »malfaisant«, was wieder hörbares Getuschel erregt. Anschließend die große Rede Neville Chamberlains, der einleitend ein paar nette Worte für den Kanzler und dessen tapferes Bemühen um den wirtschaftlichen Aufbau seines Landes findet. Kanzler quietschfidel, wenn auch abgespannt. Nachmittag Suvich. Neuerliches Missverständnis, da ein Reporter, der sich als Suvich ausgibt, vom Portier heraufgeschickt und von mir prompt hinausgeworfen wird, während Suvich selbst eine Stunde in der Halle wartet. Später besucht Kanzler mit Schüller und Franckenstein Finanzminister Bonnet172 im Savoy. Ich habe Gelegenheit, den Umfang der anderen Delegationen im Vergleich zu der unseren zu studieren. Die Italiener haben 45 Personen mitgebracht, Schreibkräfte und sogar Diener, die auf dem Hotelgang den Anmeldedienst versehen. Hingegen wurde ich einmal von jemandem angerufen  : »Is that the headquarters of the Austrian delegation  ?« Meine Schreibmaschine stand auf meinem Koffer und das Telefon auf dem Nachtkastel. Donnerstag Beschluss, eine Fronleichnamsprozession samt Hochamt zu besuchen. Wir kommen gerade noch zum Kappelaufsetzen zurecht. Kanzler speist mit Frau Kienböck und Baronin Wimmer, was seine erste geistige Entspannung darstellt. Schüller hat es sich nicht nehmen lassen, Neurath im Hinblick auf die WasserbäckAffäre gleich am Morgen nach dem Ereignis mit der gewichtigen Frage »Wos is  ?« in ein politisches Gespräch zu verwickeln. Hiebei hielt er ihn am Westenknopf. Er verleitet auch Neurath, das Vorgehen seiner Regierungskollegen scharf zu desavouieren. Immerhin soll sich Neurath getraut haben, über das zweimalige Aufwecken in der Nacht Schüller gegenüber aufzuseufzen. Nachmittag 3 Uhr Besuch bei Beneš. »Der Wenzel hätte auch zu uns kommen können  !« Das Gespräch auf der tschechischen Gesandtschaft dauert fast zwei Stunden. Während des Wartedienstes mit Gesandten Masaryk ergeht sich dieser in den ihm eigenen Koketterien, indem er fortwährend über diese Schweine, die Tschechen, schimpft. Er ist der zweite ausländische Gesandte in London, der ganz Engländer ist. Die Entrevue mit Beneš muss sehr erfolgreich gewesen sein  ; er soll jedwede Unterstützung auch in puncto Anleihe zugesagt haben. 5 Uhr Besuch bei Captain Eden im House of Commons. Er gibt uns eine Jause auf der unmittelbar an der Themse gelegenen Terrasse mit noch einigen anderen Prominenten des Foreign Office, des Board of Trade (Colville) und des Parlaments. Eden, der ein geradezu lächerlich junger Unterstaatssekretär für Äußeres ist, ist ganz besonders

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nett und liebenswürdig. Kanzler soll zwei von Sektionschef Hecht aufgetischte Forderungen durchsetzen. Hinsichtlich einer sofortigen Bewilligung von Kampfflugzeugen für Österreich ist Eden aus prinzipiellen Gründen durchaus ablehnend. Hinsichtlich der Hinaufsetzung unserer Truppenmacht auf 60.000 Mann meint Eden, es würde leichter gehen. Vansittart hat den Kanzler für 6 Uhr mit dem ausdrücklichen Beifügen gebeten, ausnahmsweise pünktlich zu sein. Der Kanzler ist aber von Eden nicht loszubringen, und wir kommen nach 6.30 Uhr ins Foreign Office. Es herrscht eine auffallende Lautlosigkeit in diesem Hause. Ich wundere mich, dass während unseres halbstündigen Besuches Vansittart nur einmal ans Telefon gerufen wird. Er ist wieder reizend und gibt Zeugnis von seiner Vorliebe für Österreich und von seiner Absicht, effektiv etwas für uns zu machen. Der Kanzler dankt ihm wärmstens für alles, was er in puncto Presse für uns gemacht hat. Vansittart betont, dass wir wirklich auf die Unterstützung seiner Regierung rechnen können, dass aber das Vorschicken der Presse wohl durchdacht und durchaus im Interesse der Sache gelegen war. Er (Vansittart) sei immer bereit, österreichische Wünsche entgegenzunehmen. Um 7 Uhr sieht der Kanzler einen ehemaligen rumänischen und ihm befreundeten Minister Radocanu, hierauf noch einige prominentere Journalisten. Da ihrer mehr warten, als der Kanzler bewältigen kann, speise ich einige mit Romanen über den Entwicklungsgang des Kanzlers ab. Hoffentlich kommt mir der Bundespressedienst auf diese Artikel nicht drauf, denn ich habe vieles erfunden. Abends diniert der Kanzler bei Lady Cholmondeley, der Schwester Philip Sassoons. Ich komme erst nachher hin, da ich bei Leeper war. Ich finde eine höchst angeregte Stimmung vor, und auf Basis der Zuckerrübenpflanzung hat sich zwischen dem Kanzler und der Lady in deutscher Sprache ein Band gesponnen, das die Mitternachtsstunde vergessen lässt und den Kanzler noch lange an den Londoner Aufenthalt mit etwas zarteren Gefühlen als denen der hohen Politik wird denken lassen. Der Abend wäre zum Morgen geworden, wenn ich nicht ostentativ auf einem Kanapee eingeschlafen wäre. Abreisetag. Äußerste Hast bis zum Abflug. Der Kanzler glaubt, dass eine an seinem Balkon vorbeiführende eiserne Feuerleiter zum Zimmer der Kienböcks hinaufführt  ; er will sich rasch verabschieden und klimmt die Leiter hinauf, dringt auf den oberen Balkon ein und sieht sich anstelle von Mme. Kienböck einem sich unbekleidet sonnenden, wütenden Schnauzbart gegenüber, worauf er eiligst wieder heruntertrippelt. Der Kanzler wünscht, dass Schüller unbedingt zum Abschied auf den Flugplatz herauskommt. Schüller, der anscheinend kein begeisterter Flieger ist, wittert Lunte, dass er nach Paris zu Paul-Boncour173 mitgenommen wird, und findet tausend Ausflüchte. Die hilfreiche Maria Wimmer hat tausend Päckchen für des Kanzlers Weib und Kind zusammengestapelt, was ihr eine Blumenspende einträgt.

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Abschied in Croydon. Tonfilmaufnahme. Kanzler hält eine ziemlich lange Rede, die von Franckenstein ins Englische übertragen werden soll. Der Flug nach Paris und das dortige Programm wickeln sich ohne Zwischenfall ab, nachdem es noch gelungen ist, den Kanzler von einem Flugbesuch Herriots174 in Lyon, nachmittags zwischen 3 und 4 Uhr, abzuhalten. Wegen der Rückreiseroute hatte ich noch einen harten Kampf zu bestehen. Ich wollte verhindern, dass der Kanzler über Deutschland fliegt, denn die von den Wiener Fluggelehrten geschilderte Möglichkeit des Gleitfluges nach Österreich im Falle einer Panne glaubte ich schon längst nicht mehr. Mithilfe Schüllers und Elßlers, der beschwören musste, dass man in Innsbruck nicht landen und nicht, wie der Kanzler wollte, um 4 Uhr früh von Basel abfliegen könne, gelang es, den Kanzler zur Fahrt per Bahn zu bewegen. Auch vor Innsbruck fürchteten wir uns, denn nach den englischen Zeitungen zu urteilen, war die Situation dort nicht ganz geheuer  ; deshalb trachtete ich, die Route möglichst geheim zu halten. Dies misslang jedoch. Der Kanzler reist mit Falser nach Innsbruck, während ich nach London zurückkehre, um dem neuen Meister Stockinger zu Diensten zu stehen. Dessen Tempo war doch etwas gemäßigter und jovialer. Er besucht brav die Konferenzsitzungen trotz Unkenntnis der Verhandlungssprachen. Obwohl die Konferenz nun schon über eine Woche dauert, sind die Komitees noch immer nicht über rein organisatorische Fragen hinaus. Ein Nachmittag vergeht im Streit darüber, ob Tabak ein eigenes Subkomitee verdient oder nicht. Schüller gerät in Harnisch und während die übrigen Delegierten ihre wohlgesetzten Reden vom Konzept herunterlesen, springt er mit rotem Kopf auf die Tribüne und harangiert die Versammlung mit den gewichtigen Drohworten  : »Commsaa sa va paa« (»So geht es nicht weiter«). Überhaupt ist Schüller bereits Hans Dampf in allen Sackgassen und weiß Auswege für jede Schwierigkeit. Das Sorgenkind Stockingers sind die Handelsvertragsverhandlungen mit Polen. Er brächte sie gerne unter Dach, doch scheinen von Wien hemmende Instruktionen zu kommen, und Schumy ist ante portas  : »Überhaupt, der Schumy, was braucht der daherzureisen  ! Noch nicht trocken hinter seinem Ministerohr und schon will er in des Kanzlers Londoner Fußstapfen treten  ! Der Buresch meinetwegen, aber der Schumy  !« Stockinger will seinen Aufenthalt doch zu fruchtbarem Ende bringen und dringt auf Einberufung einer Sitzung zur Gründung der vom Bundeskanzler angeregten Gesellschaft zur Belebung des englisch-österreichischen Handelsverkehrs. Generalkonsul Seligmann ist hiebei sehr nützlich. Unter Schüllers Ägide kommt tatsächlich etwas zustande, was in London zu funktionieren verspricht. Bemerkenswert das Verhalten der Engländer bei so einer Sitzung. Sie reden nie durcheinander  ; jeder sagt seine Meinung, der Außenstehende hat den Eindruck, dass nichts Konkretes zustande kommt, aber die Engländer brauchen keine formulierten Beschlüsse. Sie wissen am Schluss genau, worin sie sich einig waren, und das wird ohne viel Aufhebens ausgeführt, wobei

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sie zueinander absolut loyal sind und nie etwas Gesagtes abstreiten oder etwas nicht Gesagtes hineindichten werden. Hiemit ist unsere Tätigkeit eigentlich erschöpft, und es braucht nur noch ein sechs Monate alter Foxl gekauft zu werden für den Filius Stockinger. Die Aufgabe des Reise­ begleiters ist, denselben in allen Stationen zur Erfüllung seiner Pflichten zu verhalten. Ach, es wär’ so schön gewesen, wenn die Reiserechnung nicht wäre  ! Mein Einstand in Italien 1933 Nach kaum dreijähriger Dienstleistung in der Politischen und Kulturabteilung des Bundeskanzleramtes, Auswärtige Angelegenheiten (Österreich besaß damals noch nicht einmal einen Außenminister  ; der Bundeskanzler versah diese Aufgabe), wurde ich 1933 zum Attaché an der Gesandtschaft Rom-Quirinal ernannt. Es war eine freundliche Geste des Kanzlers Dollfuß, ausdrücklich als Anerkennung der braven Dienste gemeint, die ich ihm 1933 als Sekretär und Reisebegleiter zur Weltwirtschaftskonferenz in London anscheinend geleistet hatte. Bei der Abmeldung sagte mir Dollfuß verschmitzt  : »Passen S’ mir auf den Rintelen175 auf  !« In meiner jugendlichen Unerfahrenheit war ich mir der potenziellen Dramatik dieser Worte nicht bewusst. Wie sollte ich als neugebackener, rangletzter diplomatischer Beamter der römischen Gesandtschaft auf einen so geeichten Fuchs wie Anton Rintelen »aufpassen«  ? Als Grazer Ordinarius für Zivilprozess und gewesener Landeshauptmann der Steiermark spielte Rintelen in Österreich eine gewichtige politische Rolle. Weniger die deutschnationale Grundeinstellung als unbändiger, persönlicher Ehrgeiz erwärmte sein eiskaltes Herz für das aufblühende Hitler-Deutschland und für die Attraktion, die es auf alle in Österreich Unterbeschäftigten und Unterentlöhnten ausübte. Das Auslöschen der Schande von Versailles und St-Germain war für ihn ebenfalls ein guter Vorwand, sich nationalpatriotisch zu gerieren. Wichtiger als alles andere war aber der eigene Erfolg, war das Ziel in Österreich an leitende Stelle zu gelangen. In Wien fragte sich Dollfuß, wie er diesem bösartigen, in seinem Ehrgeiz gefährlichen Mann das Handwerk legen könnte. So schickte er ihn nach Rom, ließ aber gleichzeitig seinen Freund Mussolini das Motiv dieser Entfernung wissen, und zwar in der Hoffnung, dass der Duce den Kerl unschädlich machen würde. Wie es sich später herausstellen sollte, hat die erhoffte Kaltstellung in Rom Anton Rintelen keineswegs am Fortspinnen der Beziehungen zu nationalsozialistischen Kreisen gehindert. Rintelen sah man den geborenen Intriganten an. Sein abstoßendes Schielen erlaubte ihm, niemandem in die Augen zu schauen. Man wusste nie, wohin er blickte. Unter dem Vorwand, kein Diplomat zu sein – die Intelligenz dazu besaß er durchaus –, suchte Rintelen Kontakt weder mit dem Diplomatischen Corps noch mit italienischen Politikern, wusste er ja,

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dass zu diesem Zeitpunkt Mussolini noch keinerlei Sympathien für Hitler hatte, dafür aber am Fortbestand Österreichs aufrichtig interessiert war. Das Gebäude der österreichischen Gesandtschaft in der Via Pergolesi besaß keinen Lift. Die Amtsräume im zweiten Stock erreichte man nur über eine Stiege, die an der Wohnung des Amtsleiters und an den Repräsentationsräumen vorbeiführte. Letztere waren  – und sind es heute noch  – direkt von der Straße zugänglich. Die Dunkelgestalten, die bei Rintelen ein und aus gingen, zu kontrollieren wäre auch dann praktisch unmöglich gewesen, wenn wir, in erster Linie mein Vorgesetzter, Legationsrat Rotter, dazu einen amtlichen Auftrag gehabt hätten. Mädi, Rintelens Nichte, führte ihm den Haushalt. Sie war ein zutrauliches Ding, und wir erfuhren nur über sie – und natürlich ohne Namensnennung – von den geselligen Veranstaltungen ihres Onkels. Viel Bier wurde konsumiert. War dieses zu kalt, so musste Mädi einen Bierwärmer zur Hand haben. Nicht viel mehr erfuhren wir oben im zweiten Stock. Eigentlich bin ich illoyal gegenüber meinem damaligen Chef, denn Rintelen war immer freundlich zu mir. Er behauptete, sich meiner als Bub in Prag zu erinnern, als mich mein Hofmeister, cand. jur. Ernst Pilz, ihm, seinem Professor aus Zivilprozess, einmal auf der Gasse vorgestellt habe. Die nachfolgenden Ereignisse gaben meiner inneren Abneigung gegen die zwielichtige Gestalt Rintelens leider recht. Am Tage der Ermordung Dollfuß’ befand er sich im Imperial in Wien, wo er – wie ihm im nachfolgenden Strafprozess vorgeworfen wurde  – auf die Bestellung zum Nachfolger Dollfuß’ wartete. Inwieweit er an der Vorbereitung des Dollfuß-Mordes direkt beteiligt war und ob dies in Rom geschah, dies zu beurteilen, fehlen mir die konkreten Anhaltspunkte. Rintelen endete durch Selbstmord. Für viele war dies ein Schuldbekenntnis. Die Tage des Dollfuß-Mordes stehen lebhaft und schmerzlichst in meiner Erinnerung. Ahnungslos schwitzten wir, Rotter, der Militarattaché Oberst Liebitzky und ich im römischen Sommer. Aus Anrufen von Zeitungsredaktionen und anderen Botschaften erfuhren wir auf der Gesandtschaft zunächst bloß von der Besetzung des Bundeskanzleramtes auf dem Ballhausplatz durch ein in Uniformen des Bundesheeres getarntes Kommando. Was im Gebäude selbst geschah, war geheimnisvoll. Unmöglich, eine telefonische Verbindung mit Wien herzustellen. Es hieß, Blut sei geflossen  ; ob Dollfuß noch lebe  ? Der deutsche Botschafter Hösch stehe auf dem Ballhausplatz und verhandle mit den Putschisten durch ein Fenster. So ging es durcheinander. Mussolini war in seiner Villa in Riccione an der Adria aufenthaltlich, wo, als seine und Donna Racheles Sommergäste, sich auch Frau Dollfuß und ihre zwei kleinen Kinder befanden. Plötzlich, gegen 9 Uhr abends, ruft Mussolini aus Riccione den Geschäftsträger Rotter an – Rintelen war ja in Wien – und ersucht um sofortige Entsendung eines Funktionärs, der Frau Dollfuß die inzwischen bestätigte Nachricht von der Ermordung des Bundeskanzlers eröffnen solle. Er selbst habe nicht den Mut dazu. Mir fiel die Aufgabe zu. Um 10 Uhr abends fuhren wir los, Eure Großmutter und

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ich, in unserem braven Ford Spider, Fabrikationsjahr 1930, einem Hochzeitsgeschenk eures Urgroßvaters Guillaume. Wir nahmen ein Paar Sandwiches mit und eine Thermosflasche mit Tee  ; in der Eile nichts zum Übernachten. Als Route wählten wir die Flaminia über Gualdo Tadino und Fano. Bei Narni raste ich in eine Mauer. Nur ein Ford hält so einen Schock aus. Arg eingedepschter Kühler, leicht verbogene Achse, aber der Motor und die Bremsen funktionierten. Der Thermos war kaputt. Um 6 Uhr früh trafen wir in Riccione ein. Meine Frau nahm Frau Dollfuß in die Arme. Sie ahnte bereits das Fürchterliche, war mutig und gefasst. Die Kinder verstanden wohl noch nichts. Mussolini hatte beschlossen, die Witwe und die Kinder mit seinem Dienstflugzeug sofort nach Wien zu schicken. Wir sollten sie begleiten. Fahrt zum Flugplatz. Nie werde ich den Zustand siedender Wut vergessen, in der sich der Duce befand. Er fauchte wie ein Tiger. Der so fotogene Unterkiefer malmte hin und her. Wäre ihm damals Hitler unter die Hände gekommen, er hätte ihn glatt erwürgt. Ein Fotoreporter hätte bald dieses Schicksal erlitten  : Als er Frau Dollfuß knipsen wollte, stürzte sich Mussolini auf ihn, verboxte ihn und schmiss die Kamera zur Erde. Mit dem Flug nach Wien und der Obsorge um Frau Dollfuß war unsere Mission zu Ende. So erschütternd das Ereignis, so hoffnungslos die in Wien angetroffene Situation war, nicht annähernd war ich mir damals der historischen Tragik und der fürchterlichen Folgen des Dollfuß-Mordes bewusst. Es erinnerte daran, wie 20 Jahre früher meine Mutter und wir Kinder bei einer friedlichen Feiertagsjause in Böhmen vom Statthalter, Onkel Franz Thun, die Nachricht der Tragödie von Sarajevo erfuhren. Die Folgen dieses Mordes, die Entfesselung des Ersten Weltkriegs, das Ende der Donaumonarchie, konnte ich damals genauso wenig erahnen wie die Tatsache, dass dieses abgefeimte Verbrechen an dem mutigsten Verteidiger der Selbstständigkeit Österreichs viel dazu beigetragen hat, den Zweiten Weltkrieg auszulösen und verheerendes Unheil über ganz Deutschland zu bringen. Der Mythos von Blut und Boden, wie grauenhaft hat er doch, selbstzerfleischend, eine ganze Welt zum Untergang gebracht. Mussolini blieb dem Andenken Dollfuß’ so lange treu, als er nicht unter den hypnotischen Einfluss Hitlers geriet. Noch von der ersten persönlichen Begegnung mit Hitler in der für den Anlass kostspieligst ausgestatteten Villa von Strà soll, wie mir erzählt wurde, der Duce mit der abfälligen Bemerkung nach Rom zurückgekehrt sein  : »Questa faccia é una vergogna per l’Italianità.« Eine ganze Reihe von Umständen, aus der Literatur genügsam bekannt, war für den Seelenwandel Mussolinis maßgebend. Das Verhalten Großbritanniens und der Traum einer italienischen Vorherrschaft im Mittelmeerraum waren gewichtige Motive. Eine Episode aus eigenem Erleben  : Mussolini trug sich mit der offenkundigen Absicht, Abessinien zu erobern. Er wollte mittels eines militärischen Sieges der Welt den Anspruch auf die Großmachtstellung Italiens kundtun. Captain Anthony Eden, M.P., Minister für Völkerbundangelegenheiten und Mitglied der Regierung Seiner Majestät, wurde nach Rom entsandt, Mussolini zu

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stoppen. In seiner Aktentasche brachte er als Köder die Aussicht auf Abtretung einiger sandiger Quadratmeilen von British Somaliland mit, dazu ein gerüttelt Maß Illusionen hinsichtlich der tieferen Absichten des Duce. Meine Frau und ich waren mit der Familie des britischen Botschafters in Rom, Sir Eric Drummond176 – dem ehemaligen Generalsekretär des Völkerbundes und Earl of Perth – befreundet. Nachmittag ruft uns eine der Töchter Drummonds an und beschwört uns im Namen ihrer Eltern wir sollen Anthony Eden abends »ausführen«. Er sei übelster Laune und müsse zerstreut werden. So führten wir die jungen Drummonds und den gefürchteten Minister ins Casina delle Rose, das schickste römische Nachtlokal – und tanzten. Eden war grantig und gedrückt, sah wie ein um seinen Kuchen geprellter Junge aus. Nachträglich erfuhren wir von italienischer Seite, Mussolini hätte ihm eine schneidende Abfuhr erteilt und ihm zu verstehen gegeben, dass ein drittrangiges britisches Regierungs- (nicht Kabinetts-)Mitglied mit der Erziehung und dem Gehaben eines Etonboys nicht geeignet sei, ein neues, heroisches Italien auf seinem Siegesmarsch in Richtung eines römischen Imperiums aufzuhalten. Mussolini verzieh diese Zumutung niemals und warf, genau genommen, Anthony Eden hinaus. Eden rächte sich in der Folge an Italien und warf Prügel in die Räder, als dieses sich nach dem Zusammenbruch unter Badoglio177 und anschließend unter Bonomi/Sforza178 bemühte, an der Seite der Sieger aufzutreten. Persönlich bewahre ich ein positives Angedenken an den »Duce«. Dank dieser merkwürdigen und kurzlebigen Achsenkonstruktion Österreich (Dollfuß-Schuschnigg) – Ungarn (Gömbös) – Italien (Mussolini) fanden in der ersten Hälfte der Dreißigerjahre in Rom so manche Konferenzen statt, Anlässe zu gastlicher Verbrüderung. Dies brachte sogar einen Zwerg, wie dies ein Attaché ist, in persönliche Beziehung zu den Allgewaltigen  ; mehr noch die Gattin, denn meine Frau war wiederholt Tischnachbarin Mussolinis. Immer war er affable und, was Frauen betraf, kein Kostverächter. Gern ging er auf die Großleistungen des frühen Faschismus ein, beispielsweise die Trockenlegung und Verwertung der Pontinischen Sümpfe. Schon Julius Cäsar habe sich darum bemüht, später die Päpste  ; immer vergeblich. Das Gebiet zwischen den Albaner Bergen bis zum Kap der Circe und Terracina blieb ein von Malaria verpesteter Dschungel, wo außer ein paar Büffeln nichts Brauchbares gedieh. Die eigentliche Schwierigkeit bestand darin, dass ein Teil dieses Sumpflandes tiefer lag als der Meeresspiegel. Wie sollte man, außer durch Pumpanlagen, das Wasser abziehen  ? Die Trockenlegung erforderte die Arbeit Tausender durch mehrere Jahre. Wegen der Malaria würden, so erklärte Mussolini offen, viele umkommen. Die medizinische Neutralisierung dieser Krankheit war noch in den Kinderschuhen. Mussolini schuf die Opera Nazionale Combattenti, eine paramilitärische Formation, und gab dieser zur Aufgabe für Italien eine neue Provinz zu erobern. »Wie in einem Kriege wird es Tote geben  ! Vielleicht wird jeder Zehnte, jeder Fünfte von Euch im Dienste der Heimat fallen  !« Der Appell wirkte. Über tausend Arbeiter sollen dabei gestorben sein. Aber der Er-

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folg war schlagend  : Auf dem in fruchtbare Ackererde verwandelten Boden entstanden ­einige hundert Poderi, das sind sich selbst erhaltende Hofstätten. Die Regierung baute die Hauser, stellte Inventar, Zugvieh und Betriebskapital zur Verfügung. Bauernfamilien wurden herbeigeholt, meist aus den wegen ihres Fleißes und landwirtschaftlicher Erfahrung bekannten Provinzen der Poebene. Nebst anderer Krankheit litt Mussolini an der Diktatorenkrankheit  : der Megalomanie. Seine Pläne und Träume reichten weit hinaus über die eigenen Fähigkeiten, mehr noch über jene seines Volkes. Die Italiener hatten weder genügend Willen noch Veranlagung, das Erbe der alten Römer aufleben zu lassen. Das Mittelmeer sollte kein Mare nostrum werden. Albion179 hat dies zum Teil zu verhindern gewusst. Nach dem Dollfuß-Drama sollte ich Mussolini noch ein- oder zweimal sehen. Es war anlässlich der Besuche des neuen Kanzlers, des hochverdienten Kämpfers für die Selbstständigkeit Österreichs, Kurt von Schuschnigg.180 Dieser sympathische, kultivierte, in seiner vornehmen Geradlinigkeit der österreichischen Elite angehörende Intellektuelle war vom Duce charakterlich grundverschieden. An Dollfuß liebte Mussolini das Urwüchsige, von Kultur und Konvention Unbelastete. Beide redeten die gleiche Sprache des einfachen Volkes und lästerten über die feinen Leute. Als gewesene Frontsoldaten hielten sie mehr vom Maschinengewehr als von Kanzleistube und Buchweisheit. Schuschnigg wollte Dollfuß’ Politik der Freundschaft mit Italien als Gegengewicht zum expansionistischen Deutschen Reich fortsetzen. In diesem Sinne glaubte er sich mit Mussolini einig. In Letzterem war inzwischen ein Wandel eingetreten. Mussolini begann gegenüber der Wiener Politik Reserven zu hegen. Dies hätte eine gewisse Zurückhaltung oder zumindest Misstrauen auf unserer Seite gerechtfertigt. Schuschnigg ging durchaus folgerichtig und im besten Glauben vor in der Erwartung, Mussolini werde weiterhin und im italienischen Interesse Österreichs Unabhängigkeit schützen. Der Duce begann aber allmählich, beeindruckt vom hemmungslosen Aufstampfen der deutschen Wehrmacht und von der Dynamik nationalsozialistischer Angriffslust, auf die Karte Hitler zu setzen. Obwohl in untergeordneter Stellung, ließ mich meine Spürnase, mehr noch gewisse Warnungen von befreundeter diplomatischer Seite, im Zuge der Schuschnigg-Besuche dunkel vorausahnen, wie schrecklich wir hinsichtlich der Bündnistreue Italiens enttäuscht werden könnten. Ich spürte, dass derselbe Mussolini, der nach dem Dollfuß-Mord Truppen auf den Brenner beordert hatte, nicht mehr bereit war, für dieses Österreich einen einzigen Schuss abfeuern zu lassen. Um nichts geringer ist trotz allem meine Bewunderung für die mutige Zähigkeit und die physischen wie seelischen Leiden Schuschniggs, dieses österreichischen Märtyrers. Wer waren damals meine Informanten  ? Einer der Warner, nicht nur vor Mussolinis Unzuverlässigkeit, sondern vor den wahren Absichten Hitlers gegenüber Österreich, war der deutsche Botschafter Ulrich von Hassell181, dieser prächtige, charakterstarke Mann. Er bewunderte meine Frau, und wir verkehrten viel in seinem und Frau von

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Hassells, der Tochter Großadmirals von Tirpitz182, Haus. Ein schauriges Ende am Fleischerhaken stand dem Tapferen bevor  ! In Rom sprach er bloß andeutungsweise. Später sahen wir ihn in Berlin und dann, zu unserer lebhaften Überraschung, in unserem schweizerischen Exil, in Genf. Da nahm er sich kein Blatt mehr vor den Mund und bekannte sich offen als Regimegegner und -hasser. Seine Unvorsichtigkeit sollte ihn verraten, denn er dürfte nicht nur uns gegenüber so offen geredet haben. In Zusammenhang mit Ulrich von Hassell und der deutschen Botschaft in Rom entsinne ich mich eines eigentümlichen Abends. Irgendwelche Wichtigtuer im Diplomatischen Korps kamen auf die Idee, Mussolini ihre Sympathie zu zeigen. Wie konnte dies in korporativer Form geschehen  ? Hat der Duce eine Schwäche, eine Vorliebe  ? Oh ja  ! Er liebt Musik  ! Flugs erging eine Rundfrage an alle Botschaften, es mögen sich jene Diplomaten melden, die singen können oder ein Instrument zu handhaben wissen. Der brasilianische Botschafter stellte im Palazzo Doria Pamphili an der Piazza Navona die sala Palestrina zur Verfügung, einen gut akustischen Raum, angeblich für Pier Luigi Palestrina geschaffen. Das Programm bestand aus einem Klaviervortrag finnischer Musik durch die Gattin des Gesandten von Finnland  ; die ältere Tochter von Hassells, Almuth, sang neapolitanische Volkslieder auf preußisch  ; irgendwer schob an einer Ziehharmonika, und Frau von Bülow183 von der deutschen Botschaft spielte auf ihrem Cello, von mir begleitet, eine Haydn-Sonate. Das Auditorium, überwiegend Mitglieder des CD, hörte unserer Katzenmusik nicht zu und unterhielt sich lautstark. Nur der vorne sitzende Duce hörte höflich zu und ärgerte sich über das schlechte Benehmen der Gesellschaft. Immer wieder wandte er sich um und zischte. Schließlich verließ er den Saal. Ein anderer Diplomat durchschaute Mussolini. Das war der französische Botschafter Graf de Chambrun, Epikureer und blitzgescheit wie die meisten seiner Landsleute.

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Die Erinnerungen an diese schönste Botschaft auf der Welt, das Palazzo Farnese, erlauben mir, »freudenvollere Töne« anzustimmen. Die Chambruns hielten in der herrlichen Salle des Caracci offene Tafel. Marie Chambrun184 hatte Geist und Geschmack. Ihre Tischdekorationen waren berühmt. Sie würde nach Neapel fahren, dort im Hafen Muscheln, Langusten und anderes exotisches Seegetier aufkaufen und daraus einen fantasiegeladenen Tafelschmuck aufbauen. An dieser Tafel hatte ich ein heiteres Erlebnis. Es war 1934  ; Besuch Lavals185 in Rom. Zwischen ihm und Mussolini sollte das einigermaßen mysteriöse »Mussolini-Laval-Abkommen« geschlossen werden. Juli war’s und heiß. Die Verhandlungen zogen sich länger hin als vorgesehen. Das offizielle Bankett, von Laval auf der französischen Botschaft gegeben, sollte an einem bestimmten Tag stattfinden, musste aber in letzter Minute um 48 Stunden verschoben werden. Ich war eingeladen und kam, als junger Attaché, neben einem jüngeren französischen Botschaftssekretär zu sitzen. Am Menü standen Forellen. Chambrun hatte sie, und zwar der Gästezahl entsprechend, in 60 Exemplaren aus der Haute Savoie kommen lassen. Anno 1934 gab es noch keine elektrischen Kühlschränke. Das Palais Farnese war bloß mit zwei altehrwürdigen Eiskästen ausgestattet, in denen, wie mir mein ortskundiger Nachbar sagte, höchstens zwölf Forellen Platz fanden. Die fürs Bankett bestimmten Fischlein mussten 48 Stunden in der römischen Sommerhitze warten. Mein Nachbar und ich hielten uns also zurück und gehörten – wie sich herausstellen sollte – zu den wenigen, die am nächsten Tag nicht Bauchzwicken hatten. Zwei Tage später  : Das Mussolini-Laval-Abkommen186 war unterzeichnet. Es ent­ hielt angeblich Geheimklauseln. Die unbeteiligten fremden Botschafter waren in Aufregung, musste ja über diese Klauseln etwas an das vorgesetzte Außenamt berichtet werden. Ich hatte den zweiten britischen Botschaftssekretär, Gladwyn Jebb, den späteren Botschafter, und Lord Gladwyn zum Freund. Er hörte gern das Gras wachsen, suchte aber die Ursachen gewissenhaft zu entziffern. So lud er den Botschafter Chambrun zum Abendessen ein, hoffend, etwas aus ihm herauszuquetschen. Die Gourmandise Charles de Chambruns war stadtbekannt, auch dass er Kaviar liebte. Diese Vorliebe teilte er mit Eurem Großvater, der zum Essen gebeten war. Gladwyn stürzte sich in Unkosten  : ganze Dosen von Kaviar und Ströme von Champagner. Chambrun setzte weidlich zu, löffelte Kaviar und soff ein Glas nach dem anderen. Er wurde immer röter im Gesicht, und die Weste des feisten alten Mannes drohte zu platzen. Da hielt Gladwyn den Augenblick für gekommen. In der Annahme, der Botschafter sei reif fürs Auspacken, fragte er ihn über den Tisch hinweg, was denn hinter dem Abkommen stecke. Der junge britische Diplomat hatte jedoch den Franzmann und dessen Trinkfestigkeit unterschätzt. Chambrun witterte die Falle und fing an zu schlucken. Er schluckte, gurgelte und schnurrte. Nichts war aus ihm herauszubringen  ! Chambrun stand auf und fuhr heim. Gladwyn Jebb hatte unnütz investiert. Nur ich hatte von Kaviar und Sekt profitiert  ! Der liebe Gladwyn  ! Eine brillante Karriere stand ihm bevor  :

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Vereinte Nationen, Botschafter in Paris, Mitglied des House of Lords usw. Gelegentlich der Pariser Friedenskonferenz187 benahm er sich hochanständig und kameradschaftlich zu mir. Darin unterschied er sich von so manchem Vertreter der Siegerstaaten. Wie ich an anderer Stelle schildern werde, hatte die nach Paris unter Leitung Karl Grubers188 entsandte Delegation eine wenig beneidenswerte Position. Österreich war besetzt, besaß keine Souveränität und galt für viele noch als ein Bestandteil des vermaledeiten Deutschland. Wir wurden gemieden, wenn nicht gar geflissentlich geschnitten. Was meine Person betraf, gab es zwei Ausnahmen. Die eine war der amerikanische Botschafter James Dunn, der andere Gladwyn Jebb, der mich in Erinnerung an unsere gemeinsame römische Dienstzeit ostentativ zum Mittagessen einlud. Gladwyn war damals erster Mitarbeiter Ernest Bevins189, des gediegenen, aber kuriosen Außenministers der Labour-Regierung190  ; Gladwyns Geste einem Österreicher gegenüber war zu diesem heiklen Zeitpunkt mutig und wurde bemerkt. Mein Einstand in Berlin 1936 Anno 1936 hielt es der österreichische Außenminister Guido Schmidt191 für angezeigt, mich von Rom nach Berlin zu versetzen. Was war der Grund  ? Der Druck des nationalsozialistischen Deutschland auf Österreich verstärkte sich bis an die Grenze des Tragbaren. Wer nicht diese Zeit miterlebt hat, kann nicht die Tiefe der Scheidung der Geister, kann nicht die Angst ermessen, die damals in Österreich herrschte – und Angst ist, laut einem böhmischen Sprichwort, ein mächtig Ding. Überwältigend war die Anziehungskraft, die das von den Folgen des Ersten Weltkriegs sich erstaunlich rasch erholende Reich auf das kleine Nachbarland ausübte. Dort eine aufblühende Wirtschaft, hohe Löhne, Vertrauen in die Zukunft und in die Größe Deutschlands, hier Gedrücktheit, Aussichts- und Arbeitslosigkeit. Dann die geld- und siegesgeladenen Touristen. Aber darüber ist mehr als genug geschrieben worden. Ich will mich auf Erlebtes beschränken. Der österreichische Außenminister bekam es deutscherseits zu hören  : Österreich könne nicht mehr lange selbstständig bleiben, denn es fehle ihm einfach der Wille dazu. Schuschnigg und die Seinen hätten kein Recht mehr, für Österreich zu sprechen. Die weit überwiegende Zahl der Österreicher sei insgeheim nationalsozialistisch oder sympathisiere mit Hitler. Die Zersetzung der österreichischen Abwehrfront sei bereits in das eigentliche Rückgrat des Staates, das ist die Beamtenschaft, selbst in den österreichischen Außendienst, ja in die Gesandtschaft in Berlin, eingedrungen. Auf niemanden könne sich Schuschnigg verlassen. Diesem Berliner Eindruck vom Hinschwinden der Heimattreue in Österreich zu begegnen, entschloss sich der Ballhausplatz  – das sagte mir Guido Schmidt –, einen Beamten nach Berlin zu senden, von dem niemand

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behaupten könne, er sei ein Nazi  ; einen guten Österreicher also, gleichviel ob (oder gar weil) er aus Böhmen stammt. Mein Name, Erziehung und Hintergrund sollten als noch so kleine Steinchen in der Mauer dienen, welche die Regierung Schuschnigg gegen die versteckten und offenen Angriffe auf die Existenz eines selbstständigen Österreichs zu errichten versuchte. Mein unvergesslicher Chef in der politischen Abteilung am Ballhausplatz, Gesandter Theodor von Hornbostel, gab mir den Rat mit auf den Weg, in Berlin nicht leise zu treten, vielmehr den Lebenswillen meiner Mitbürger und deren Einstehen für die überlieferten Werte christlicher Weltanschauung nachdrücklich einzubekennen. Rückdenkend weiß ich nicht zu sagen, ob ich diesem Mandat Teddy von Hornbostels gerecht wurde. Ich nahm mir aber vor, wenigstens in repräsentativer Beziehung mein Licht nicht unter den Scheffel zu stellen. Auf der Gesandtschaft in der Bendlerstraße wurden dem frischgebackenen Legationssekretär zweiter Klasse nebst dem Chiffredienst u. a. die undankbaren Aufgaben der Ausbürgerungen übertragen. Die Bundesregierung hatte beschlossen, allen jenen Österreichern die Staatsbürgerschaft abzuerkennen, die in die Österreichische Legion, einer paramilitärischen Formation im Rahmen der deutschen Wehrmacht, eingetreten waren. Ich hatte das Ermittlungsverfahren einzuleiten und den entsprechenden Bescheid auszufertigen. Nach vollzogenem Anschluss kam auch prompt vonseiten der ausgebürgerten Legionäre die Forderung nach Verhaftung der mit dem Verfahren betraut gewesenen Beamten. Generalkonsul Jordan und Hofrat Pronay, welche die Ausbürgerungen in München vorgenommen hatten, kamen ins Konzentrationslager, mit tödlichem Ausgang. Mir gelang es, zu entkommen. Wir mieteten, dank der großzügigen Freigebigkeit meines lieben Schwiegervaters, eine mein Gehaltsniveau weit übersteigende geräumige Wohnung in der Schlüterstraße, nahe dem Kurfürstendamm. Sogar einen Chauffeur leisteten wir uns, dazu eine Villa am Schwielowsee und ein Ruderboot »Hans im Glück«. Wir rüsteten uns also im Sinne der Hornbostel’schen Weisung auf eine umfassende gesellschaftliche Tätigkeit ein, wenig mit dem Blick auf die unbeholfene Knauserigkeit auf der Gesandtschaft in der Bendlerstraße. Von den Mitgliedern der Gesandtschaft wurde ich im Grunde gut aufgenommen, mit einer Ausnahme, die ich übrigens, in Nachahmung eines analogen, Carl J. Burckhardt in Wien unterlaufenen Wutausbruchs, bei der Gurgel packte und aus meinem Büro hinauswarf. Der Gesandte, Ing. Stefan Tauschitz, gewesener Obmann des Landbundes und Besitzer eines Kärntner Bauernhofes, verhielt sich bis zum Tage von Hitlers triumphalem Einmarsch in Linz und Wien durchaus österreichtreu, sogar mit bäuerlicher Energie. Es hieß, bei einem Gelage seien in Gegenwart Hitlers Bierkrügel geflogen. Tauschitz war immer nett zu mir. Ihm, dem ausgezeichneten Militärattaché Oberst Pohl und dem Kollegen Calice bewahre ich ein warmes Angedenken. In die Berliner Gesellschaft einzudringen, zumal in jenen Sektor, der dem Naziregime feindlich war, bedurfte keiner Anstrengung. Schwieriger war es, mit den noch

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unentschlossenen Sympathisierern, den Mitläufern und Profiteuren Kontakt herzustellen  ; ganz unmöglich mit den Partei- und eigentlichen Regierungskreisen. Eben die Zwischenkategorie war für uns interessant. Sie war mitgefangen, wollte aber nicht mitgehangen sein. Dazu gehörten Industrielle, Finanzmänner, viele Koryphäen der Wissenschaft und Kunst  ; jene, die etwas zu verlieren hatten. An den vorwärtsrasenden Zug wollten diese Leute den Anschluss nicht versäumen. Sie glaubten, das Tempo bremsen, vielleicht die Weichen stellen zu können. Verständlich war die Haltung, insofern sie dem Traum jedes Deutschen von der Größe des Reiches Rechnung trug. In dieser Richtung waren auch die Generäle, die meisten Offiziere und die hohe Beamtenschaft einig  : Ausmerzung der demütigenden Niederlage von 1918, Beteiligung an den Reichtümern der Welt an der Seite der ehemaligen Siegermächte. »Wenn das Hitler zuwege bringt, so folgen wir ihm.« Aber gäbe es nur nicht diesen Quatsch um den Mythos von Blut und Boden, diesen Rassenfummel, überhaupt das Proletenhafte dort oben  ! Könnte man bloß dem Rosenberg192 das Handwerk legen, dem Goebbels193 das Maul stopfen, dem Göring194 die Gier eines Tintenfisches nehmen  ! Und Himmler195  ? Und der Führer  ? Da verstummten sie auch im vertrautesten Kreise. Angst vor dem Klopfen an der Tür, vor der Hypnose  ? Unter dieser Zwischenkategorie hatten wir einige Bekannte, so beispielsweise jenen rheinischen Industriellen, der großes Haus machte und bei dem auch Parteibonzen verkehrten. Sein Parteiopportunismus wurde von seiner Frau, einer Ausländerin, nicht geteilt. Welches Drama muss sich zwischen den beiden zwischen siegreichem Anfang und schließlichem Chaos abgespielt haben  ! Die Frau endete durch Selbstmord. Ähnliche Anomalie herrschte im Hause Horstmann.196 Großer Reichtum, prächtiges Palais voll auserlesener Kunstschätze, ein Hausherr, der es verstand, sich politisch über Wasser zu halten. Nach außen gab er sich als deutschnational, nach innen verhehlte er seine Regimegegnerschaft nicht. Die jüdische Frau, die reizende Lally Horstmann197, litt und litt, hielt loyal zu ihrem flatterhaften Gatten, konnte sich nach dessen Tode dank Schutzes hochgestellter, dankschuldiger Bekannter noch einige Zeit halten, endete aber in Armut und Tragik. Zu den konservativen Kreisen, die bei uns verkehrten, gehörten Generäle wie von Kaupisch198, Botschafter wie von Hassell, Junker wie von Bernstorff 199, liebe Freunde wie die Morgens u. a. m. Sie kamen in unser Haus, weil meine Frau eine warme Atmosphäre der Offenherzigkeit zu schaffen wusste, weil sie sich bei uns »in einer anderen Welt« fühlten, gesondert von Unsicherheit, Bespitzelung, Heimtücke der Schergen des Regimes. Zu den wegen Mutes und Unnachgiebigkeit bewunderungswürdigen Erscheinungen im klassischen Potsdam gehörte Hannah von Bredow200 In ihrem Hause glaubte man sich im wilhelminischen Preußen. Sie machte ihrem Namen als geborene Bismarck und Enkelin des Eisernen Kanzlers alle Ehre. Sie hat durchgehalten. – Ihr Bruder201 saß als Leiter der politischen Abteilung in der Wilhelmstraße. Das bringt

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mich auf die nicht immer angenehmen persönlichen Beziehungen zu den Funktionären des Außenamtes. Mit Ausnahme Bismarcks war mir im Grunde die schroffe, aber korrekte Aufnahme, die ich bei den leitenden Beamten fand, lieber als das SichHerumdrücken der im Herzen Regime feindlichen, zum Teil bloß vorsichtigen, meist aber falschen, im Vorzimmer der Macht Herumsitzenden. Da war Baron von Neurath, der Reichsaußenminister. Im Auftreten durchaus Aristokrat, hatte dieser wortkarge, verbindliche Edelmann weit mehr aus Ehrgeiz als aus innerer Überzeugung sein hohes Amt übernommen.202 Dieser Ehrgeiz ließ ihn auch das Reichsprotektorat in Prag übernehmen. Sein deutschnationales Fühlen ließ ihn eben die Rückkehr Deutschlands zu Macht und Einfluss erhoffen. Hitler schien dies bewerkstelligen zu können. So stellte er sich zur Verfügung. Die harte Bestrafung, die er in Nürnberg erfuhr, hat er aber meines Erachtens nicht verdient. Neurath und seine liebenswerte Frau sahen es offenbar als ihre standesgemäße Pflicht an, meiner Frau und mir gegenüber eine freundliche Geste zu machen. Ungeachtet meines abgrundtiefen Ranges luden sie uns zum Tee ein. Neurath war gnädig, aber ich fühlte etwas wie Mitleid in seiner Freundlichkeit. Sicherlich gab er keinen Deut auf meine und Österreichs Zukunft. Dann gab’s den Ministerialdirigenten Clodius203, Chef der Wirtschaftsabteilung. Parteimitglied und einflussreich, hielt dieser etwas rüde Mann es für anständig, mich wiederholt zu warnen  : »Ich will Ihnen reinen Wein einschenken  ! Sie glauben doch nicht, dass der Führer flunkert. Er ist entschlossen, ›sein‹ Österreich ins Reich heimzuführen. Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf  : Sehen Sie sich vor  !« Nicht viel anders, nur öliger, verhielt sich der politische Österreichreferent, Legationsrat Hartmann. Er spielte den Österreichfreund. Niemand wusste, inwieweit er in der Parteigunst hochgestiegen und aufrichtig war. Er war ein Meister der Verniedlichung der zahllosen deutschen Eingriffe in die österreichische Souveränität, dieses immer heftiger sich anlassenden Schürens und Aufputschens der österreichischen Bevölkerung gegen ihre Regierung. Wir protestierten dagegen, Tauschitz auf Ministerebene, Seemann und ich bei Hartmann. Ergebnis  : eine jeweils mehr oder weniger verbindliche Abfuhr. Als der Anschluss vollzogen war und Hitler, gefolgt von Tauschitz, triumphierend durch das Brandenburger Tor einfuhr – die Gesandtschaftsmitglieder mussten aus einem Fenster in der Reichskanzlei zuschauen  –, da rief mich Hartmann zu sich und gab mir den »freundschaftlichen« Rat, es bliebe für mich nichts anderes übrig, als mich sofort und freiwillig zum deutschen Militärdienst, am besten zur Panzerwaffe, zu melden. Ich dankte für die Wohlmeinung. Später wurde mir klar, dass Hartmann von meiner beschlossenen Verhaftung wusste und mir den »einzigen« Weg andeutete, der mich davor bewahren konnte. Dass Hitler die Schwarzenbergs für »wehrunwürdig« erklärt hat, das konnte damals Hartmann nicht wissen. Bevor ich auf die in Berlin mitgemachten eigentlichen Anschlusstage eingehe, möchte ich Euch Kindern und Enkeln doch auch einige freudvollere Aspekte unse-

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res dortigen Daseins erzählen. Mein erster Berliner Versuch, höflich zu sein und das Richtige zu tun, endete katastrophal. Mein bester Wille ging nach hinten los. Chef des Protokolls im Auswärtigen Amt war Herr von Bülow-Schwante204. Bald nach unserem Eintreffen war ich ihm vorgestellt worden. Das Zeremoniell erwartete von mir einen Höflichkeitsbesuch oder zumindest, um nicht aufdringlich zu erscheinen, die Abgabe von Visitenkarten. So vertraute ich eines Morgens unserem braven, aber wenig intelligenten Fahrer August zwei unserer Besuchskärtchen an, bog sie, wie es sich gehört, am linken unteren Ende ein und wies ihn an, diese in der Wilhelmstraße Nr. 11, 1. Stock, in der Dienstwohnung des Protokollchefs abzugeben. Meine Frau sah nun unseren August bei der Wohnungstür hinausgehen und rief ihn zurück  : »August, hier nehmen Sie diesen Korb mit schmutziger Wäsche, tragen Sie ihn Kurfürstendamm Nr. 87 zur Wäscherei Habsburg und fragen Sie, wann Sie die Wäsche wieder abholen können.« August nickte und ging, fuhr zunächst auf den Kurfürstendamm, gab in der Wäscherei brav die beiden Visitenkarten ab, fuhr weiter in die Wilhelmstraße und überreichte dort einem erstaunten Dienstmädchen feierlich den Korb mit der schmutzigen Wäsche von »Prinz und Prinzessin Schwarzenberg«. Protestanruf bei der Gesandtschaft in der Bendlerstraße. Ich muss mich vor Tauschitz rechtfertigen. Trotz aller Beteuerungen und Entschuldigungen fand Bülow-Schwante die Fehlleitung keineswegs komisch und schmollte fürderhin. Einige Monate nach unserem Eintreffen in Berlin suchten wir in der Nähe ein Häuschen, wo wir das Wochenende zubringen könnten. Bei einem Abendessen kam ich neben einer hübschen jungen Frau zu sitzen. Ich fragte, ob sie von einem Bungalow oder Ähnlichem wüsste. »Freilich, eine entfernte Verwandte von mir will ihr Landhaus vermieten. Ich werde Sie verständigen.« Monate vergingen. Keine Antwort. Da steht Weihnachten bevor. Ich will den Anlass nutzen, schreibe auf einem Kärtchen »Frohe Weihnachten, wie steht es mit dem Weekend-Haus  ?«, gebe meiner Frau den Umschlag mit dem Kärtchen und bitte sie, von einer Blumenhandlung etwas Geeignetes mit dem Kärtchen zustellen zu lassen. Zwei Tage darauf wird mir im Amt ein Rechtsanwalt Dr. Soundso gemeldet. Ein schwarz gekleideter Herr tritt ein, erklärt mit finsterer Miene  :  »Mein Klient, Herr von Irgendwie, sieht sich gezwungen, Sie zum Duell zu fordern. Sie haben seine Frau beleidigt  !« Verstört frage ich  : »Was habe ich angestellt  ?« – »Sie haben Frau von Irgendwie rote Rosen geschickt.« Darauf ich auf wienerisch  : »Und wenn schon  !« »Das ist nun die Höhe  !«, klingt es unwirsch zurück. »Rote Rosen sind eine Beleidigung  !« – »Wieso  ?« – »Ja wissen Sie nicht, was rote Rosen bedeuten  ?« – »Nein, wie soll ich  ?« – »Stellen Sie sich nicht so naiv  !« – »Ich kenne Ihre Berliner Konventionen nicht, bin nur Österreicher  !« Der Anwalt feierlich  : »In Berlin bedeuten rote Rosen eine heimliche, unzüchtige Aufforderung.« – »Wie soll ich das wissen  ? Übrigens habe nicht ich die Blumen aus-

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gesucht, sondern meine Frau.« – »Ach so, das ändert die Sache  !« Es bedurfte einiger Überredung, den Rechtsanwalt umzustimmen und zu erreichen, dass er die Herausforderung zum Zweikampf zurücknahm. Zu den erfreulicheren Seiten unserer Berliner Zeit gehörte das kulturelle Leben. Theater und Konzerte hatten hohes Niveau. In unserem Haus wurde viel musiziert. Gemeinsam mit Graf Berryer von der belgischen Botschaft hatten wir ein Quartett gebildet und hielten Mozart, Beethoven, Schubert, Brahms, Dvořák und sogar einige »Moderne« im Fegefeuer fest. Als härteste Strafe mussten sie dort unser Kammermusizieren anhören. Der Genuss befand sich ausschließlich aufseiten der Spieler. Für die gezwungenen Zuhörer wie Gattinnen, Berufskollegen und gewerbsmäßige Salonwanzen war es eine Marter, die nur die Höflichkeit verdeckte. So bemerkte einmal der berühmte Chirurg Professor Wagner von der Charité  : »Ihr Temperament geht Ihnen doch manchmal durch  !« Die Allgewaltigen des Dritten Reiches, gegenüber denen mir – bis zum Grad des Händereichens  – die zweifelhafte Ehre des Vorgestelltwerdens zuteil wurde, hatten allesamt in physischer Beziehung aber auch gar nichts Eindrucksvolles an sich. Denke ich an andere Große, die mich in gleicher Weise ausgezeichnet haben, Kaiser Wilhelm II., Kaiser Franz Joseph, Ignaz Seipel, der winzige Dollfuß und der kurze Mussolini, Léon Blum205, de Gaulle206, Churchill207, Lord Russell208, Spaak209, Adenauer210, De Gasperi211, Foster Dulles212, Kennedy213, ja selbst ein Molotow214, bei allen war es nicht die Körpergröße oder -fülle, vielmehr eine deutlich fühlbare Ausstrahlung, eine unsichtbare Mandorla, die achtungsgebietende Distanz schuf, die erschauern ließ vor geistiger Übermacht. Hitler  ? Göring  ? Ribbentrop215  ? So teuflisch das Brennen von Hitlers Augen war, hypnotisierend, zerstörend, so waren doch rein äußerlich Gehaben und Gestalt mehr die eines Kasperls als eines Titanen, eines arroganten Kanzlisten mehr als die einer Führergestalt. Auch der Sitzriese Göring flößte wenig Respekt ein, obwohl seine Augen wirkliche Intelligenz zeigten. Kläglich war die Erscheinung, war die kindische Suffisance des Komparsen Ribbentrop. Nicht einmal zum Schauspielern reichte es, und man fragte sich, wie etwas so Dummes überhaupt hochkommen konnte. Allein Himmler – mit ihm kein Händedruck – verbreitete Schrecken. Physisch wirkte er noch unbedeutender als die anderen, konnte ein Aufzugswärter sein oder ein Warenhauskommis. Die seinem Führer entlehnte »Fliege« klebt wie eine Zecke unter der Nase, mehr zum Tarnen von Nasenpopeln geeignet als ästhetischen Zwecken dienstbar, ebenso karikaturträchtig wie die Unzahl der Hakenkreuze, die auf Brüsten, Binden, Schlipsen, Schnallen, Krägen, Kappen und Manschetten die Zugehörigkeit zu einer selbstumschriebenen Elite unter Beweis zu stellen hat. So wenig die Erscheinung eines Göring, Ribbentrop oder Goebbels Furcht einflößte, so schien Himmler doch dafür gesorgt zu haben, dass eine Unterschätzung seiner Bedeutung nicht vorkomme. Ich erlebte es, wie beim Auftreten Himmlers bei einem Empfang alle Blicke sich verschämt senkten. Kaum ein Flüstern, nur ein Zittern ging durch den Raum  : Dieses Männchen,

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zur Seite die anonyme schweigsame Frau, ist eiskalt, zu allem fähig. Es hat sich ein Machtinstrument geschaffen, das, wie es selbst, jedwede Rücksicht außer Acht lassend, einer neugeformten, die überlieferten christlichen Werte negierenden Ethik nachlebt. Das Lächerliche in Himmlers Erscheinung verdrängt er durch gezielte Furchtverbreitung. Der Anschluss 1938 März 1938. Hitler hatte Österreich militärisch besetzt, war triumphal nach Berlin zurückgekehrt. Auf der Gesandtschaft wusste niemand, was mit unserer Heimat, was mit uns geschehen würde. Mit Ausnahme von Tauschitz, der hoffte, mit heiler Haut nach Kärnten auf seinen Bauernhof heimkehren zu können, erwarteten meine Kollegen, in irgendeiner Form im Staatsdienst bleiben zu können, bestenfalls pensioniert zu werden. Diese Erwartung schien auch am Ballhausplatz vorzuherrschen. Ein hochrangiger Kollege schrieb mir aus Wien in der irrigen Meinung, ich hätte in der Wilhelmstraße Einfluss, ob ich ihm ein, wenn anders nicht möglich, sogar rangmäßig viel tiefer liegendes Pöstchen im Auswärtigen Amt verschaffen könnte. Die Hasenfüße unter uns kamen mit Schreckensnachrichten  : Wir würden allesamt eingesperrt werden, wenn wir nicht handgreifliche Beweise der Treue zu Führer und Reich erbrächten. Vom Auswärtigen Amt kam die Aufforderung, ein genaues Inventar aller Möbel und Bilder zwecks Übernahme in das Reichsvermögen zu erstellen. Prompt sandte unser Kanzleidirektor ein erschöpfend genaues Verzeichnis der gesamten Einrichtung in die Wilhelmstraße. Darunter waren einige wertvolle Gemälde aus der Biedermeierzeit. Wie gern hätte ich sie doch »gerettet«, d. h. beiseite geschafft  ! Ich muss eine Bemerkung fallen gelassen haben in dem Sinne, dass ich dieses Gesinnungs-Sauve-qui-peut nicht mitmachen wolle, denn zu später Nachtstunde schlich sich der Amtsdiener Herr Meier, ein aufrechter Berliner, in unsere Wohnung und übergab mir ein Paket aus braunem Packpapier. »Ich bringe Ihnen das Teuerste, das ich besitze  : es ist die Kaiserstandarte, die ich im Jahre 1918 aus der k. u. k. österreichisch-ungarischen Botschaft gerettet habe. Bitte, retten Sie sie nunmehr.« Als wir aus Berlin flüchteten, nahm ich das Paket mit. Die Fahne befindet sich heute dort, wo sie hingehört, in den Händen Otto von Habsburgs. Da ereignete sich ein Interludium. Guido Schmidt, der bisherige österreichische Außenminister, platzte uns in die Wohnung. Ja, dieser Guido Schmidt  ! Zögling der Stella Matutina SJ wie sein Freund, der Bundeskanzler Kurt v. Schuschnigg. Gegen Schmidt wurde bekanntlich nach dem Krieg ein Volksgerichtsprozess angestrengt. Er wurde als ein Quisling216, als ein Verräter, hingestellt und verunglimpft, namentlich weil er als einziger unter den Ministern der letzten österreichischen Regierung seitens des siegreichen Hitlerregimes nicht nur nicht verfolgt wurde, sondern sogar einen lu-

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krativen Posten – die Buna-Werke – erhielt. Das verdankte er Göring, der sich ihm verbunden fühlte. Wofür  ? Da kann ich vielleicht ein wenig dazu beitragen, eine zusätzliche Ehrenrettung vorzunehmen, nicht nur deshalb, weil Guido Schmidt mein Freund war  – wir waren gleichzeitig in den Außendienst eingetreten  ; meine Frau und ich unterhielten herzliche private Beziehungen zu dem gleichaltrigen Ehepaar, von dem die Gattin, Maria geb. Chiari, eine lichtvolle, rührend treue Frauengestalt war  ; nein, weil ich Guido für einen guten Österreicher und anständigen Menschen hielt und noch halte, der das Unglück hatte, mit untauglichen Mitteln das, was er für möglich hielt, anzupeilen. Angesichts der Hitler’schen Übermacht und der Aussichtslosigkeit eines Widerstandes suchte Schmidt auf seine Art zu retten, was zu retten war – und das sollte für Österreich im Rahmen des Dritten Reiches eine gewisse Autonomie sein. Ich erzähle also mein merkwürdiges Erlebnis. Ich sagte in diesem Sinne auch als Zeuge im Schmidt-Prozess aus  : Wenige Tage nach dem Einmarsch Hitlers in Linz und Wien pochte es um 7 Uhr früh an unsere Wohnungstür. Ein zitternder, entgeisterter Guido Schmidt begehrte Einlass. Meine Frau und ich waren ebenso wie die anderen Mitglieder der österreichischen Gesandtschaft über die Vorfälle in Wien völlig im Unklaren. Niemand konnte uns sagen, was mit Österreich geschehen solle, wer die Macht ausübe, ob ein Seyß-Inquart217 oder einer der vielen Parteischergen und Berliner Sendlinge. Unser und des ganzen Gesandtschaftspersonals Schicksal lag im Dunkeln. »Ich bin zu Göring nach Karinhall zitiert worden. In einer Stunde werde ich hier abgeholt. Kann ich einen Kaffee haben  ?« Guido Schmidt befand sich in einem derart zerrütteten Nervenzustand, dass wir unseren Hausarzt kommen ließen, der ihm eine beruhigende Spritze gab. »Ich weiß gar nicht, was Göring von mir will  ; er war mir immer gewogen  ; deshalb folge ich.« Guido schien im Augenblick geradezu unzurechnungsfähig. Seine Zähne klapperten, sein Gesicht war aschgrau. In diesem Zustand konnte ich meinen Freund nicht allein losfahren lassen. So setzte ich mich unaufgefordert und unrasiert zu ihm in den überdimensionalen Mercedes des Reichsmarschalls. Göring übte im Augenblick die volle Regierungsgewalt im Reich aus  ; der Führer hatte ihn für die Dauer seiner Abwesenheit zwecks Eroberung Österreichs zum Reichsbevollmächtigten gemacht. Der militärische Ausgang des Einmarsches in Österreich galt damals als ungewiss. Hitler soll sogar um das eigene Leben gefürchtet haben. Man überschätzte in Berlin den österreichischen Widerstandswillen. Die Fahrt nach der Schorfheide dürfte zwei Stunden gedauert haben. Ich bemühte mich, Guido einzureden, dass alles gut gehen werde und er nichts zu befürchten habe. Karinhall ist ein riesiger, schlossartiger Komplex in ausgedehnten Wäldern gelegen, ein Jagdparadies. Hermann Göring hatte sich hier auf Kosten des Budgets seines Luftwaffenministeriums eine geradezu königliche Residenz geschaffen und das Schloss mit Kunstschätzen vollgepfercht. Ich setzte mich in die Portiersloge und wartete über zwei Stunden auf die Rückkehr Schmidts von seiner Audienz beim Allgewaltigen. Ich hatte Zeit, mich an

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eine Geschichte218 zu erinnern, die der britische Botschafter in Berlin, Sir Eric Phipps, in einem weit zirkulierten Bericht verewigt hatte  : Göring wollte in seiner Eigenschaft als Reichsjägermeister und im Interesse der Förderung des deutschen Waidwerks eine Großleistung erbringen  : Der deutsche Wald sollte mit einem seiner ausgestorbenen Ureinwohner, dem Auerochsen, wieder bevölkert werden. Wotan, Hagen von Tronje, Siegfried trugen auf ihren Helmen ein Auerochsgehörn, Zeichen ihres Heldenmutes. Wo gab es noch Auerochsen  ? Nur der Wisent in den Wäldern und Sümpfen von Bialystok in Polen  ! Ein Kinderspiel, die polnische Regierung zum Einfangen und Abtreten eines Wisentpärchens zu veranlassen  ! Deren erste Paarung sollte in einem deutschen Forst stattfinden, und zwar in Form einer Staatsfeierlichkeit. Das Diplomatische Corps sollte dem Ereignis als Zeuge beiwohnen. Tribünen wurden im Turnierhof von Karinhall errichtet, eine Arena wie für einen Stierkampf in Spanien geschaffen. Am festgesetzten Tag, nachdem die Diplomaten mit ihren Gattinnen Platz genommen hatten, schritt Göring, in ein Lederwams gekleidet, einen Speer in der Faust, in die Arena und hielt eine Ansprache. Den Vertretern der dem neuen Deutschland befreundeten Staaten wurde die Bedeutung des Tages vor Augen geführt  : Erstmals nach Jahrhunderten des Niedergangs und der Ausrottung höchster Werte sollte das Urbild der Kraft, sollte der deutsche Auerochs wieder den deutschen Wald bevölkern. »Sie, meine Herren Botschafter, werden in der Gesellschaft Ihrer reizvollen Gattinnen Zeugen der ersten Befruchtung einer Wisentkuh durch einen kraftvollen Urstier sein. Möge der Samen Früchte bringen, unseren Wäldern viele Öchslein und Kühlein schenken, das Ereignis auch als nachahmenswertes Vorbild wirken  !« Nach seichtem Applaus zog sich der Reichsjägermeister samt Speer, Lederwams und Schlapphut auf die Tribüne zurück. Zwei einander gegenüberliegende Tore gingen auf  ; aus einem brach eine Kuh hervor, aus dem anderen, von zagen Stangen geschoben, wankte der Auerstier hervor, müde, unwillig. Die beiden Tiere starren einander an  : Nichts  ! Sie starren weiter. Ermutigende Rufe werden hinter den Palisaden laut. Immer noch nichts  ! Görings verärgerte Stimme ruft nach erhöhter Stangenarbeit. Knechte schleichen sich vor und beginnen die Tiere zu stoßen. Obszöne Zurufe sollen das Brautpaar aneifern. Alles vergeblich  ! Die beiden wollen nicht  ! Als gar nichts nutzt und das Pärchen weiter streikt, fordert der enttäuschte Reichsjägermeister mit entschuldigender Geste zu einem Cocktail auf. In einem gruftartigen Gebäude, um den Sarkophag seiner ersten Gattin Karin herum, werden die hohen Gäste von einem untröstlichen Göring bewirtet, die geleerten Gläser auf dem Marmorgrab abgestellt. Man hatte ein Fiasko erlebt und trank auf das Wohl eines megalomanen Impotenten. So saß ich in der Portiersloge dieses größenwahnsinnigen, aber schlauen Satrapen  ; wartete und wurde hungrig. Ich hatte nicht gefrühstückt. Gegen halb zwei Uhr erschien ein hochgeschossener Luftwaffensoldat in weißer Servierjacke und erklärte  : »Der Herr Reichsmarschall erwartet Sie zum Mittagessen.« Mein Appetit erleichterte

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mir die Annahme. In einem saalartigen Salon gab mir Göring herablassend die Hand – kein »Heil Hitler« – und stellte mich seiner blonden zweiten Frau vor. Guido Schmidt schien neubelebt und wohlgemut. Man ging zu Tisch. Es gab Wiener Schnitzel und einen ganz hervorragenden Saarwein. Groß war mein Schrecken, als plötzlich von unter dem Esstisch zwischen meinen Knien ein Löwenhaupt sich herauf schob. Kein Löwenkitten, nein, ein ausgewachsener, stinkender Löwe.219 »Haben Sie keine Angst, er beißt nicht, manchmal kratzt er ein wenig, aber er ist zahm.« So sprach Göring  ; mir war aber nicht wohl zumute, und mein Schnitzel verschwand im Rachen des Leu. Gesprächspause. Meine angestammte Redseligkeit, durch Stunden angstvollen Wartens erdrosselt, machte sich Luft, und ich riskierte die Frage  : »Wird Österreich die Autonomie belassen werden  ?« Göring nahm meinen vorwitzigen Einwurf gar nicht übel. »Herr Schmidt hat mir vorhin die gleiche Frage gestellt  ; ich fürchte, er war über meine Antwort enttäuscht. Ich werde Ihnen nun etwas verraten.« Göring erzählte uns, wie es in seiner Sicht zum totalen Anschluss kam  : »Ich hörte am Radio zu, als der Führer seinen Einzug in Linz hielt. Die Begeisterung klang überwältigend. Auch tags darauf in Wien  : Wieder eine begeisterte Bevölkerung, die uns offenbar herbeisehnte. Bevor der Führer an der Spitze der Wehrmacht nach Österreich abgegangen war und mir die Regierungsvollmacht übertragen hatte, redeten wir über die Zukunft Österreichs. Ursprünglich wollten wir Österreich eine Sonderstellung im Rahmen des Reichs einräumen. Wohl ein Anschluss, keine Annexion  ! Als ich die Begeisterung hörte, sandte ich per Flugzeug einen Boten zum Führer nach Wien mit der Meldung, nach meinem Dafürhalten und angesichts der Volksstimmung sollten wir es ›ganz‹ machen und Österreich zum Bestandteil des Reichs erklären. In Wien hatte der Führer denselben Eindruck gewonnen. Er sandte, ebenfalls per Flug, einen Adjutanten zu mir mit der Frage, was ich davon hielte, wenn wir Österreich ganz nähmen. Die beiden Boten kreuzten sich in der Luft.« Guido Schmidt äußerte seinerseits Bedenken wegen der Folgen eines totalen Aufsaugens Österreichs. Die Verschiedenheit des Volkscharakters und der Entwicklungsgeschichte  ; Kleinösterreich, ein von den Siegern des Ersten Weltkriegs als Friedens­ erhalter in Mitteleuropa gedachter Pufferstaat. Ferner die Reaktion der anderen Mächte  ! Würden sie einer derartigen Gleichgewichtsverschiebung und Machtvergrößerung Deutschlands tatenlos zusehen  ? Göring schob namentlich letztere Befürchtung beiseite. Deutschland brauche vor »diesen« keine Angst zu haben  ; »die« hätten alle andere Sorgen  ; Frankreich zum Beispiel  ! Es war klar, dass Schmidt schon vorher in seiner Unterredung mit Göring für die Autonomie Österreichs eine Lanze gebrochen hatte. Uns allen waren aber bereits die Ereignisse über den Kopf gewachsen. Als Schmidt und ich Karinhall verließen, stürmte ein offensichtlich übel gelaunter Ribbentrop die Treppe herauf. Göring hatte ihn aus London zur Berichterstattung kommen lassen. Wie ich später erfuhr, war es weniger, um sich über die Reaktion der britischen

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Regierung zum vollzogenen Anschluss zu orientieren als um dem herzlich gehassten ehemaligen Champagnerhändler die eigene Macht und Glorie zu zeigen. Das verzieh Ribbentrop dem Reichsmarschall nie  ; auch dann nicht, als die beiden in Nürnberg auf der gleichen Bank saßen. Auf der Heimfahrt erzählte mir Schmidt, dass ganz unerwarteterweise Göring von ihm bloß eine genaue Schilderung der Vorgänge in Wien haben wollte. Um den österreichischen Leichnam flatterten viele Aasgeier. Eine ganze Menge Parteigrößen und sonstige Dunkelmänner aus Österreich und aus dem Reich rissen sich um das Verdienst, Hitlers Heimat zunächst kirre gemacht und dann dem Führer zu Füßen gelegt zu haben. Alle erwarteten Belohnung und hohe Posten. Göring wolle »diesen Schweinen« nicht aufsitzen. Es sei aber schwer, die Spreu vom Weizen, Ambition von Verdienst zu scheiden. Dafür, dass Guido Schmidt dem Göring ungeschminkt seine Ansicht über das, was vorging – und vieles war sehr unschön – schilderte, dankte ihm der Reichsmarschall. Hätte Schmidt andere Verdienste gehabt, etwa weiter zurückreichende, so hätte Göring ihn nicht gerade in diesem Augenblick nach der Schorfheide zitiert. Er wäre anders belohnt worden und von anderen Größen des Reichs. Guido kehrte nach Wien zurück und konnte mir und durch mich an die Adresse der österreichischen Gesandtschaft, auch nach der Unterredung mit Göring so gut wie gar nichts über unser kommendes Schicksal sagen. Er wusste im Augenblick wenig mehr als wir in Berlin, was Hitler mit uns vorhabe. Wenige Tage nach dem Blitzbesuch Guido Schmidts erschien aus Wien, vielleicht aufgrund eines insistenten Telefonanrufs meinerseits, Ministerialrat Wolf, der frisch ernannte Unterrichtsminister im Kabinett Seyß-Inquart. Ich war mit diesem braven, kirchlich eingestellten Beamten befreundet und hoffte, er würde uns ermutigende Nachrichten bringen. Dr. Wolf versammelte die gesamte Belegschaft und schwabbelte eine halbe Stunde. Das Wort »deutsch« kam Dutzende Male vor. Keine Andeutung betreffend ein Weiterbestehen Österreichs  ! Nur Versprechungen, dass für uns gesorgt werden würde, wenn wir uns den neuen Verhältnissen anzupassen wüssten. Jetzt begann es uns zu dämmern. Die Sekretärinnen, getreue Österreicherinnen, brachen in Tränen aus. Die Vorsichtigeren verzogen die Miene zu einem »Eh’ schon wissen«. Mir schien die Situation nunmehr klar, d. h. endgültig kompromittiert. Meine Frau und ich beschlossen sicherheitshalber, unsere beiden Kinder, ein und vier Jahre alt, außer Landes zu schaffen. Dies gelang dank des Entgegenkommens der belgischen Botschaft. Freund Berryer, Botschaftsrat und Cellospieler, brachte die Kinder per Auto zu meinem Schwiegervater nach Wespelaer. Mir graute vor der Perspektive eines Flüchtlingsdaseins im Ausland ohne fixe Berufsstellung, ohne Eigenmittel, eine Last für meine Schwiegerfamilie. Zum zweiten Male sollte ich meine Heimat verlieren  ! Lebhaft stellte sich die Erinnerung an die Kritiken und Widerwärtigkeiten ein, denen ich nach dem Zusammenbruch der Donaumonarchie im Jahre 1918 aus-

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gesetzt war  : Die mühsame, oft demütigende Suche nach Erwerbsmöglichkeiten  ; die Umstellung auf fremde Lebensverhältnisse und auf ungewohnte Konventionen, die Verdächtigungen  ! Sollten wir alles liegen und stehen lassen, uns von Bekannten und Verwandten trennen, die unter einem feindseligen Regime zurückblieben  ? Was rieten die Berliner Bekannten  ? Im Diplomatischen Corps hatten wir gute Freunde  : den holländischen Botschaftsrat van Butzelaer tot Oosterhut  ; den nachmaligen britischen Hochkommissär in Bonn und Permanent-Undersecretary, Ivone Kirkpatrick  ; Kit Steel, ebenfalls späterer Hochkommissar in Bonn  ; Botschafter Attolico, Magistratis  ; meinen Freund fürs Leben, Raimondo Giustiniani  ; den polnischen Botschafter Lipski u. a. m. Neben dem geistvollen, uns gewogenen Botschafter François-Poncet220 gab es den später vielumstrittenen britischen Botschafter Sir Nevil Henderson221. Henderson wird in der Geschichtsliteratur beschuldigt, dem Anschluss Österreichs Vorschub geleistet zu haben. Tatsächlich sagte er in einer Tischrede, die britische Regierung würde aus einer Annexion Österreichs keinen Casus Belli machen. Er hatte die Wahrheit gesagt  ; aber musste er sie sagen  ? Wie dem auch sei, während der angsterfüllten Tage nach Hitlers Einmarsch machte Henderson eine nette Geste und lud meine Frau und mich zum Essen ein, um unsere – wie er sagte – von anderen nicht geteilte kompromisslose Haltung in Berlin zu ehren. Hatte er ein wenig schlechtes Gewissen  ? Oft habe ich mich gefragt, ob denn damals, in der Keimperiode von Hitlers Eroberungsplänen, diese brillanten Diplomaten vorausgesehen haben, was sich anbahnte  ? Waren sie blind, als sie, etwa auf den Nürnberger Parteitagen, ein ins Kosmische deutendes Schauspiel von Kraft, Disziplin und jugendlicher Begeisterung vorgesetzt erhielten  ? Lasen sie Rosenberg  ? Lasen sie »Mein Kampf«  ? Da stand doch alles eindeutig angekündigt. Warum revoltierten nur so wenige unter den zivilisierteren Deutschen gegen das Zu-Boden-Treten der traditionellen Werte eines Volkes, das der Menschheit ihre höchsten Kulturgüter geschenkt hatte  ? Dass die Mitarbeiter und das Gefolge Adolf Hitlers seiner hypnotischen Faszination verfielen, kann verstanden werden. Die Aufzeichnungen seines Architekten und Rüstungsleiters Speer sind da lehrreich. Eine Erklärung unter vielen  : Der unter den Spoliationen von Versailles, wirklich oder eingebildet, leidende Durchschnittsdeutsche hoffte, den Traum von Revanche und Wiedererstarkung verwirklicht zu sehen  ; das gilt insbesondere für die Wehrmacht als Hort endemischer Kampfbereitschaft. Wenn Deutsche sich in Hitler geirrt, wenn sie aus den mannigfachsten Motiven ihm in den Steigbügel geholfen und ihren oft blutigen Beitrag zu Deutschlands vermeintlicher Größe geleistet haben, so kann dies erklären, nicht entschuldigen. Aber wie verhält es sich mit den während der Dreißigerjahre verantwortlichen nichtdeutschen Staatsmännern  ? Die Geschichte vom Anschluss und von München ist eine Geschichte der Kurzsichtigkeit, der Unfähigkeit, eine den Weltfrieden bedrohende Gefahr zu erkennen, Kirchturmpolitik von Weltgeschehen zu trennen. Waren die Staatenlenker durch ihre diplomatischen Vertreter über die heranziehenden Ge-

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witter richtig informiert  ? Nach meinen Berliner Beobachtungen – allerdings aus der Maulwurfschau eines Legationssekretärs II. Klasse – dürfte dies hinsichtlich der westlichen Botschaften wohl der Fall gewesen sein. Ein François-Poncet war ebensowenig ein Düpierter wie ein Attolico, ein Phipps, Henderson oder der Belgier Davignon. Von zwei uns befreundeten Militärattachés, General Renondeau222 und dem lieben belgischen Oberst Goethals, hörten wir fortlaufend Klagen, dass sie zwar über die ins Astronomische gehende Aufrüstung der Wehrmacht Bericht über Bericht schrieben, dass sie vor der internationalen Vertrauensseligkeit warnten  ; alles sei aber vergeblich  ! Ihre Generalstäbe, mehr noch ihre Regierungen weigerten sich einfach, das Evidente zu glauben, ja, man bemerke ausstellig ihren Pessimismus. »Tatarennachrichten«, hieß es, wenn sie etwa die unheimlich rasch sich entwickelnde deutsche Luftwaffe und die Panzerwagenproduktion hervorhoben. Seitens der Kollegen im Diplomatischen Corps erklangen die Ratschläge verhalten. Jedes Land hatte ein verschieden geartetes Hühnchen mit dem Dritten Reich zu rupfen. Aber alle Wohlmeinenden empfahlen uns, auf der Hut zu sein. Flucht aus Berlin Auch von zu Hause kamen Mahnungen zur Vorsicht. Meine gute Mutter in Wien, tiefunglücklich und bestürzt, sorgte sich um mein Leben. Dennoch zögerte ich vor dem Sprung ins Ungewisse. Mein Österreich durch die Flucht aufgeben  ? Da war mir wieder einmal das Glück hold und ersparte mir die Entscheidung  : Es waren zwei oder drei Wochen seit dem Anschluss – ich vergesse die Daten, und Aufzeichnungen besitze ich nicht –, als meine Frau und ich urplötzlich einen riesigen Einladungskarton zur Abendtafel bei Reichsminister Lammers223 erhielten  : »Frack und Auszeichnungen, langes Abendkleid«. Ich kannte Lammers, den Chef der Reichskanzlei, nicht persönlich224, bloß sein Töchterchen, Fräulein Lammers. Zusammen mit einem anderen 18-jährigen Mädchen, der Tochter des Chefs der Staatskanzlei, Meißner225, hatten wir Fräulein Lammers ein- oder zweimal zu kleinen Tanzabenden eingeladen. Das war alles. Warum ladet uns gerade zu diesem Zeitpunkt, da meine Zukunftsaktien tief stehen und ich von deutscher Seite gemieden werde, der mächtige Minister ein  ? Meine Frau erklärte  : »Zu dem gehen wir doch bestimmt nicht  !« Ich witterte Lunte  : »Da steckt etwas dahinter. Wir waren nett zu seiner Tochter. Nehmen wir doch lieber an  !« Wir kleideten uns weisungsgemäß und pilgerten in die Reichskanzlei. Riesiges Diner. Ich kam zwischen zwei schwarz uniformierten Generälen zu sitzen, die mir beide während des ganzen Essens den Rücken zuwandten. So früh wir konnten, verdufteten wir. Zu Hause um etwa elf Uhr angelangt, finden wir unser Dienstmädchen in aufgeregtem Zustand an der Tür  : »Vor zwei Stunden war die Gestapo hier, um den gnädigen Herrn

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zu verhaften.«  – »Was haben Sie gesagt  ?«  – »Ich sagte, die Herrschaften seien bei Reichsminister Lammers zum Abendessen.« Mit den Worten »Da muss wohl ein Irrtum vorliegen« seien die Gestapisten abgezogen. Nun ging mir ein Licht auf  ! Lammers hatte erfahren, dass ich verhaftet werden sollte. Er konnte die Absicht nicht verhindern. Er konnte mich aber warnen. So lud er uns zu dem Zeitpunkt zu sich, an dem die Arretierung, die er sich melden ließ, in Aussicht genommen war. Nun gab’s kein Zögern mehr. Die Kinder waren in Sicherheit. Unsere Möbel, Bücher und aller Kram  ? – … tant pis  ! Innerhalb eines Stündchens hatten wir das Allernötigste, den Kanarienvogel, drei rechte und einen linken Schuh, in unseren Ford Spider verladen, das Dienstmädchen großzügig abgefertigt und waren südwärts abgehauen  ! Ich hatte mir in den vergangenen Tagen immerhin einen Fluchtplan zurechtgelegt  : Wo befindet sich die wenigst bewachte Grenze  ? In Konstanz am Bodensee  ! Sie geht dort mitten durch die Stadt. Es gab einige kleine Straßenzollämter. Um Mitternacht waren wir losgetost  ; um 3 Uhr nachmittags des folgenden Tages suchten wir in Kons­ tanz nach einer engen Gasse. Stand da ein feister badischer Zollbeamter  ! Vom Anschluss hatte er offenbar nichts gehört, denn er honorierte unsere österreichischen Diplomatenpässe und salutierte. Oder beneidete er insgeheim die Entfleuchenden  ? »Vier Uhr nachmittags«, stellte ich fest, nachdem wir, ohne uns umzusehen, ein gutes Stück Schweizer Bundesbodens hinter uns wussten. Wir waren in Sicherheit  ! Erst viel später erfuhr ich folgendes  : Am nämlichen Abend des Lammers-Diners, wohl kurz vor dessen Beginn, war die Gestapo in der Bendlerstraße erschienen und pochte an das Gesandtschaftstor. Die brave Portierin öffnete einen Spalt. Einer der Gestiefelten hielt eine Legitimation vor und fragte nach dem Legationssekretär Schwarzenberg, den er abführen solle. Die Portierin will ausgerufen haben  : »Eure Hundemarke kenne ich nicht« und schlug das Tor zu. Selbst rief sie das Auswärtige Amt an und verlangte die Intervention des Protokollchefs von Bülow-Schwante, der am folgenden Morgen herbeigeeilt kam. Was zwischen ihm, Tauschitz und Seemann gesprochen wurde, bleibt der Geschichte verborgen. Vermutlich ärgerten sie sich, jeder nach seinem Geschmack, über den inzwischen entkommenen Vogel. Gegen Ende unseres Berliner Leidensweges, als meine Zukunft immer düsterer aussah, hatten wir den Tibetforscher Professor Filchner226 kennengelernt. Anlässlich eines Essens bei uns fratschelten wir ihn über seine langen Jahre in einem tibetanischen Lamakloster aus. Indiskret wollten wir wissen, ob es ihm gelungen sei, in parapsychische Sphären vorzudringen, ob er sich hellseherische Fakultäten angeeignet habe. Unerwarteterweise und in durchaus bescheidener Form stritt dies der Herr Professor nicht ab. Er könne bis zu einem gewissen Grade erraten, was in einem anderen Menschen vorgeht. Voraussetzung sei, dass durch ein bestimmtes Mittel, etwa anhand eines der betreffenden Person gehörenden Gegenstandes, ein psychischer Kontakt hergestellt werden könne. Ob er mit abwesenden Personen in gedankliche Verbindung treten

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könne  ? Ja  ! Zum Beispiel, wenn ein diese Person direkt betreffendes Ding, etwa ein von ihr beschriebenes Blatt Papier, sich in der Rocktasche eines unmittelbaren Nachbarn befände. Darauf fragte meine Frau, ob er auch etwas Zukünftiges voraussagen könne. Meine Frau war damals begreiflicherweise um mich und meine Zukunft besorgt und hatte eine entsprechende Frage im Sinne. »Wenn ich damit helfen kann und wenn etwas ganz Konkretes auf dem Spiele steht, vielleicht …« Darauf meine Frau  : »Mein Mann wird kaum im Dritten Reich ein Unterkommen finden. Er ist Diplomat und hat sich auf keinen anderen Beruf vorbereitet. Können Sie, Herr Professor, sich einen Beruf oder eine Beschäftigung vorstellen, die er in Zukunft ausüben könnte  ?« Filchner dachte eine Weile nach, ganz ruhig, ohne äußere Anzeichen besonderer Konzentration. »Ich sehe Ihren Mann schwarz gekleidet, ja, wie in einer Uniform, ein besonderes Abzeichen ist darauf. Er trägt etwas wie eine Waffe  ; seine Aufgabe ist eine humanitäre, so etwas wie das Rote Kreuz, ja« – und Filchner wiederholte, »es ist eine Beschäftigung, die mit dem Roten Kreuz zu tun hat  ; dort sehe ich ihn.« Im Augenblick schien uns diese Voraussage bei den Haaren herbeigezogen. Nie, niemals hatte das Rote Kreuz für uns eine Bedeutung gehabt. Nie im Entferntesten hatte ich es im Sinn gehabt. Auf meine Berliner Dienstjahre rückblickend, bleibt mir in übelster Erinnerung das einzige Mal, da ich Hitler in die Augen sehen musste. Es war anlässlich eines Empfangs in der Wilhelmstraße zu Ehren des österreichischen Bundesministers Guido Schmidt. An der Spitze einer großen Delegation war er zu offiziellem Besuch bei Reichsaußenminister von Neurath gekommen. Die Delegationsmitglieder und das österreichische Gesandtschaftspersonal wurden »dem Führer« vorgestellt. Die Fraktion einer Sekunde ruhte Adolf Hitlers Blick auf mir. Nie, nie werde ich das Stechen, das Brennen dieser Augen vergessen. Der Blick eines Fanatikers, geradezu eines Wahnsinnigen, für mich des leibhaftigen Teufels. Ich weiß nicht mehr, wo ich folgende Schilderung von Hitlers hypnotisierender Persönlichkeit gelesen oder gehört habe  : Es war nach der Röhm-Affäre227  : Hitler hatte persönlich eingegriffen und die Röhm-Päderasten zum Teil selbst niedergeschossen. Die sa war in Aufruhr. Hitler beschloss, die gesamte Formation nach Berlin zu beordern und sie Revue passieren zu lassen. Hitlers Umgebung warnte, beschwor ihn, die Herausforderung nicht zu riskieren. Er laufe Gefahr, von einem Röhm-Getreuen niedergeschossen zu werden. Hitler blieb fest. Durch mehrere Stunden durchschritt der Führer die in Reih und Glied aufgestellten Zehntausenden saMänner, blickte jedem einzelnen tief in die Augen. Der Trick gelang. Keiner muckste. Als Flüchtling in Belgien Zweimal habe ich die Heimat verloren. Die Härten des Flüchtlingsschicksals sind mir vertraut. Unterschiedlich von Land zu Land sind die Schwierigkeiten, die den

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Flüchtling im neuen Lebensraum erwarten. Im Vordergrund steht das rein materielle Problem des eigenen – und der Angehörigen – Unterhalts. Es folgt das intimere des Sicheinlebens, des menschlichen Kontaktfindens. Die Wärme des Arme-Öffnens, des seelischen Verstehens steht nur zu oft in umgekehrtem Verhältnis zu Wohlstand und Hilfsbereitschaft. Die Geneigtheit, das tägliche Brot zu teilen, ist bei Armen größer als bei Reichen. Schicksalsverbundenheit  ? Parallelität harter Lebenserfahrung  ? Verständnis für Verzweiflung  ? Wer nie gehungert hat, weiß nicht die Sorge zu ermessen, ob für die Kinder genug zum Essen da ist. Flüchten zwingt zum Suchen von neuem Lebensraum. Flüchtlinge sind lästig, nicht nur, weil sie unterstützungsbedürftig sind, sondern auch als Verbreiter tendenziöser Nachrichten. Was mag wohl Adam über die Motive seiner Vertreibung geglaubt oder erzählt haben  ? Politische Flüchtlinge haben die Tendenz, die Beziehungen des Empfängerstaates zu ihrer Heimat zu vergiften. Opfer einer Revolution, verwandeln sie sich in Konterrevolutionäre. Als unverlässliche Kantonisten gelten sie leicht als Spione. In der Tarnung hilfsbedürftiger Flüchtlinge könnten sie Agenten ihrer Heimatregierung sein oder eines gut zahlenden Drittstaates. »Flüchtling sein gilt leicht als Schande.« Der harte Ausdruck ist in einer Laudatio anlässlich der Überreichung des Schillerpreises an Golo Mann mit Bezug auf dessen Flüchtlingsdasein zu lesen. Golo Mann habe etwas aus der Schande zu machen verstanden. Darauf komme es an. Solange ein Flüchtling sich verbirgt, verschreckt bei Schutzgewährenden unterkriecht, klebt an ihm der Verdacht einer Schuld. Nicht jedem Flüchtling ist es vergönnt, sich durchzusetzen, seinen Mann zu stellen, geschweige denn ein Held zu sein. Die Unsicherheit seiner Lage, das Gefühl des Zur-Last-Fallens, die Verdächtigungen, die Vorbehalte hinsichtlich seiner Herkunft und Art, all das schafft Minderwertigkeitskomplexe. Immer tiefer gerät der Flüchtling in den Sumpf der Verachtung. Das ist Unrecht  ! Hat denn nicht der Flüchtling Anspruch auf Achtung vor seiner aus Leid und Verfolgung geschaffenen Lage  ? Das Schicksal von Flüchtlingen ist ebenso verschiedenartig wie die Motive der Auswanderung und die Wirksamkeit ihrer Charaktere. Grundverschieden das Los der zufolge der Auswirkungen der beiden Weltkriege in oder aus Europa Vertriebenen. Auf Gastfreundschaft, oftmals auf Großmut angewiesen, wird der Emigrant leicht zum eigenen größten Feind  – im Nehmen wie im Geben. Nach mühsamem Suchen öffnet sich ihm eine neue Lebens- und Verdienstmöglichkeit  : Er muss sich umstellen, muss umlernen. Es geht nicht ab ohne Nörgeln seitens des Nehmers wie des Gebers. Mangelnde Flexibilität wird als Stolz empfunden, wenn nicht gar als Undankbarkeit. Tragisch der Missklang im Sich-Anpassen, wenn der Nehmer die guten Absichten des Gebers nicht erkennt und verkehrt interpretiert. So ging es mir. Nach Verlust von Heimat, Beruf und Zukunft als desorientierter Flüchtling 1938 in Belgien gelandet, hatte ich das Glück, warme, großmütige Aufnahme im Hause meines goldigen Schwiegervaters im trauten Wespelaer zu finden. Auch die beiden Schwäger, der herzensgute

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Werner und der später als Militärpilot abgestürzte, heldenhafte Eric, kamen mir mit ihren Frauen freundschaftlichst zu Hilfe, suchten mich zu zerstreuen, neue Interessen zu erwecken. Mein Schwiegervater ging weiter. In der Annahme, ich könnte mir vielleicht auf kommerziellem Gebiet ein Fortkommen schaffen, versuchte er, mir Aufnahme in die von der Familie kontrollierten Industriebetriebe zu verschaffen. Da war die Brauerei »Artois«. Er überredete den Generaldirektor, Prof. Verelst, mir eine Vertreterreise zum Ankauf von Hopfen in Böhmen – der beste Hopfen wächst in der Saazer Gegend – anzuvertrauen. Böhmen war meine erste Heimat gewesen. Ich sprach Tschechisch. Das könnte genützt werden  ! Noch nie war ich kaufmännisch tätig gewesen, nie hatte ich ein Geschäft abgeschlossen  ! In einem einstündigen Kurs in der Brauerei von Löwen lehrte man mich die Qualitätsunterschiede der Hopfenkeime. Das war so alles, was ich auf die Einkaufsreise mitnahm. Ich flog nach Böhmen. Der Prager ständige Vertreter des Brauereiunternehmens durchschaute bald den Mann, den man ihm aus Belgien zwecks Besserung der Einkaufsbedingungen geschickt hatte. Dessen überlegene Fachund Unterhandlungstalente anerkennend, wusste ich eigentlich nicht, inwieweit ich Besonderes auszurichten vermochte. Ich flog unverrichteter Dinge heim. Ich fürchte, in der nachfolgenden Verwaltungsratssitzung fiel der Vergleich der Kosten der Reise mit deren vermünzbarem Ergebnis nicht zu meinen Gunsten aus. Nie wurde ich wieder auf Vertreterreise geschickt. Fortan begnügte ich mich mit dem Trinken des unvergleichlichen Stella Artois. In der Mitgift meiner Frau hatten sich Aktien der Konservenfabrik La Corbeille in Wespelaer befunden. Nach Überwindung des Einspruchs seines Bruders gelang es meinem Schwiegervater, mich zum Verwaltungsrat – mit Tantiemenanspruch – kooptieren zu lassen. Ich bedurfte einer staatlichen Arbeitsbewilligung. Ich wurde einkommenssteuerpflichtig. Meine »Arbeit« bestand in der Teilnahme an den Verwaltungsratssitzungen  : Fragen der Produktions- und Absatzerhöhung, Probleme der Blechverdünnung zwecks leichteren Öffnens der Dosen  ; Erbsengröße nach Verbraucherwunsch  : je ärmer der Einkäufer, desto größer die Erbse, denn er meint, er bekäme mehr für sein Geld  ; je reicher und verwöhnter, desto kleiner, immer bei gleichem Dosengewicht  ! Meine diplomatischen Fachkenntnisse, mögen diese noch so brillant gewesen sein, fanden keine Blechkonservenanerkennung. Meine Interventionsversuche bei den Verwaltungsratssitzungen wurden mit müdem Lächeln ignoriert. Ich unterließ dieselben schlussendlich und beschränkte mich auf den Einkauf – für den eigenen Küchenbetrieb – von Spargelkonserven, die mächtig dicken, lichten flämischen Spargel  ! Meine betagte, aber dynamische Schwiegergroßmutter wollte mich auf ihre Art beschäftigen und damit den um mich so rührend besorgten Schwiegervater entlasten  : »La grandmère Elizabeth« war eine in der Gesellschaft hochangesehene, irgendwie auch gefürchtete Dame. Sie hielt Cercle in ihrem Salon in der Rue des Deux Eglises, alle Dienstage. Sie thronte an der Stirnwand. Ihr gegenüber standen steif-lehnige

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Stühle, drei Reihen tief. Die Familie nannte die Anordnung le tram de grandmaman. Diese vielbesuchten Dienstage waren eine geheiligte Einrichtung des quartier Leopold. Als im Mai 1940 Hitler Belgien besetzte und ein Großteil der Gesellschaft aus Brüssel geflohen war, hielt Bonnemaman Elizabeth weiterhin Cercle  – die Existenz der Deutschen ignorierend aber vor leeren Stuhlreihen. Ich bin undankbar. Auch die Schwiegergroßmutter wollte dem Flüchtling helfen. Sie wusste um meine musikalischen Velleitäten. Unter den vielen »bonnes œuvres«, die sie finanzierte, gab es eine Gruppe junger Musiker, von einem Dominikaner in der frommen Absicht betreut, spirituell auf Abwege gelangte »bohémiens« in die gesitteten Falten von Mutter Kirche zurückzuführen. Der gute Dominikaner war aber denkbarst naiv – wie sich’s für einen Bettelmönch schickt. Weder besserten die langhaarigen Musiker ihr Gehaben noch gelang es, unter denselben ein Minimum an Solidarität herzustellen. Kein einziges Konzert kam zustande. Ich sollte die Sippschaft in Ordnung bringen, das heißt dem Dominikaner unter die Arme greifen. Wie sollte ich das anpacken, ohne den Mönch zu vergrämen  ? Ich stieß auf keinerlei Respekt seitens der refraktären Musiker, und es misslangen Großmutters hochfliegende Pläne, das Musikleben Belgiens zu befruchten und auf eine frommere Ebene empor zu finanzieren. Ich hatte wieder einmal den Zug versäumt. L’Oncle Roger verwaltete sein bedeutendes Vermögen nicht minder gut als sein Bruder, mein Schwiegervater  ; er zeigte aber weniger Herz, hatte auch keinerlei Ursache, den aus dem Osten hereingebrochenen Flüchtling zu fördern. Bald hatte er es heraus, wie wenig ich die wohlgemeinten Unterstützungsgesten meiner Schwiegerfamilie zu nutzen verstand. So sagte er mir eines Tages geradeheraus, ich möge meinem Schwiegervater nicht weiter in der Tasche hängen. Das war leicht gesagt. Wiederum bekam ich die Härte der Flüchtlingsnot zu spüren. Unterstützt vom le Doubs – meines Schwiegervaters Kosenamen  –, zogen wir in eine schönst gelegene Wohnung in der Avenue Demot in Brüssel mit Blick auf die Abbaye de la Cambre. Ich trat als Volontär in die Société Belge de Banque ein. Man war nett und geduldig mit mir. Viel verdanke ich meinem Freund, dem Direktor Roger de Lavelaye, und dem Präsidenten Charles Emile Janssen228, einer der historischen Finanzfiguren Belgiens. Jahre später, glaublich 1944, kam Präsident Janssen nach Genf, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz zu bitten, eine Hilfsaktion zugunsten der Hunger leidenden Zivilbevölkerung in dem von deutschen Truppen besetzten Belgien einzuleiten. Carl J. Burckhardt zog mich den Besprechungen bei. Wir schränkten unsere Bereitwilligkeit zu helfen auf Kinder und Spitäler ein, verlangten aber die zur Verfügungstellung der entsprechenden Barmittel. Wie sollte dies seitens eines besetzten, vom freien Westen hermetisch abgeschlossenen Landes wie Belgien geschehen  ? Nur ein Janssen wusste den Ausweg. In meiner Gegenwart, vom Hotel des Bergues aus, rief er in Stockholm den allgewaltigen Wallenberg229 an. »Içi Janssen  ! Comment-allez vous  ? Bien  ? Écoutez Wallenberg, j’ai besoin,

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içi a Genève, de 3 millions de dollars, et tout de suite  ! Les garanties pour le prêt  ? Aucune  ! Sauf ma parole.« Das Gespräch dauerte kaum fünf Minuten, und wir erhielten den Kredit – ausschließlich auf Grund des internationalen Prestiges des ehemaligen belgischen Finanzministers. Je öfter ich an meinen verewigten Schwiegervater zurückdenke, desto wärmer wird’s mir ums Herz, desto tiefer fühle ich, welch uneingeschränkt guten Menschen da der Herrgott der Welt geschenkt hat. Es fehlte ihm jeder Ehrgeiz. In allen äußerlichen und seelischen Dingen, die seine Person betrafen, war er von entwaffnender Bescheidenheit. Er dachte nur an die anderen, nie an sich. Anderen Freude zu machen, insbesondere den Jungen, war seine größte Lust. Dabei musste es immer heiter zugehen. Er liebte, was die Engländer practical jokes nennen. In Wespelaer ließ er über den Teich ein Kabel spannen, immerhin einhundert Meter lang. Mittels einer mit den Händen zu haltenden Rollvorrichtung musste der Gast sich über den Teich turnen. Es gehörte ein gewisser Schwung dazu, sonst blieb man in der Mitte stecken, und die Füße hingen ins Wasser. Von einem netten Gast wurde erwartet, sich zum Gejohle der Zuschauer in den Teich plumpsen zu lassen. Am Tage vor meiner Hochzeit musste ich die Kabelfahrt unternehmen. Wiederum zeigte sich mein Mangel an Scharfsinn  : Ich begriff nicht, dass man von mir den Sturz in den Teich erwartete. Enttäuschend schwacher Applaus erklang, als ich heil und trocken am anderen Ufer landete. Der Doubs liebte Gymkhanas und treasure hunts, harmlos schlüpfrige Witze, überhaupt Schabernack  ! Alles gegen den Hintergrund unendlicher Liebe zu den Seinen und Nächsten. In seiner von himmlischer Heiterkeit umstrahlten Gewissenhaftigkeit, in diesem in jedem Menschen das Gute ausfindig Machen, es sorgfältig pflegen, in seinem stillen SichVergnügen am Glück der anderen, in dieser lichtvollen Erinnerung fühle ich mich noch heute über die Kleinlichkeiten des Alltags hochgehoben, spüre ich eine Mahnung aus dem Jenseits zur heiteren Friedlichkeit im Zusammenleben mit den anderen und zum Verzeihen menschlicher Widerwärtigkeiten. Nicht alle unsere Bekannten waren mir, dem Eingedrungenen, gewogen. Einmal war ich gezwungen, in die deutsche Botschaft in Brüssel zu gehen im Zusammenhang mit einer administrativen Schwierigkeit, in die meine Mutter in Wien geraten war und die meine Unterschrift erheischte. Susan Lippens, eine dem königlichen Haus nahestehende Dame, Jugendfreundin meiner Mutter, hatte mich seit Langem unbemerkt beschattet und beim Verlassen des Botschaftsgebäudes aus ihrem gegenüber geparkten Auto fotografiert. Sie denunzierte mich als Spion im Innenministerium. Gottlob war der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit ein Freund von Freunden, wusste um mich und legte die Anzeige ad acta. Das hinderte aber nicht, dass mich eine Reihe von Menschen scheel ansah. Eine andere, allerdings weit höher gestellte Familie teilte als Landnachbar unser Emigrantenschicksal  : Kaiserin Zita, eine der großen Frauengestalten der Geschichte,

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und die von ihr zur Vollkommenheit in jeder Beziehung erzogenen Kinder  ! Ungeachtet der von der belgischen Regierung an den Tag gelegten Sorglosigkeit war ich von der Absicht Hitlers überzeugt, in Belgien mit seinen Panzerdivisionen einzufallen. Diese meine Erwartung verdichtete sich Anfang Mai 1940 zur Gewissheit, und ich fuhr hinüber nach Steenockerzeel, um die hohe Familie vor der Gefahr des deutschen Einmarsches zu warnen. Wäre der habsburgische Thronprätendent, den Hitler wie alles mit Altösterreich und mit seinen Wiener Tagen Verbundene hasste, der Gestapo in die Hände gefallen, so hätte keine Gnade Gottes ausgereicht, Kaiser Otto und seine Familie vor dem kz zu retten. Meine Warnung war übrigens kaum nötig  : Man war dabei, Abreisevorbereitungen zu treffen. Die Sorglosigkeit der belgischen Regierung angesichts der deutschen Aufrüstung hatte ans Unwahrscheinliche gegrenzt. Den Versicherungen der Wilhelmstraße, Hitlers Landhunger sei mit der Liquidierung des österreichischen und des Sudetenprob­ lems befriedigt, wurde von den fremden Militärs in Berlin kein Glauben geschenkt. Aber den Regierungen passten die Alarmmeldungen ihrer Berliner Botschaften nicht in den Kram, sie steckten geflissentlich ihre Straußenköpfe mitsamt den Ministerschnäbeln in den Sand. Neville Chamberlain, Daladier230 und Konsorten erhoben die Befriedung zum Dogma, mag sein, um Zeit zu gewinnen  ; sie vermochten aber das Überrennen von halb Europa nicht hintanzuhalten. Im ahnungslosen Brüssel ignorierte man den Umstand, dass die deutsche Wehrmacht ein haargenaues Modell des Sperrforts Eben Emael231 gebaut hatte. Diese belgische Festung war dazu bestimmt, einen Einbruch in die Ardennen zu verhindern. Am 9. Mai 1940 waren wir zu einem dîner dansant beim italienischen Botschaftsrat Mario Pansa in Brüssel eingeladen. Zugegen war ein Offizier, der im erwähnten Fort Eben Emael stationiert war und für den Abend – so unglaublich das klingt – Urlaub erhalten hatte. In der gleichen Nacht wurde das Fort mittels eines am Modell vorher ausexerzierten Handstreichs mit Flammenwerfern232 erobert. Der Neutralitätsbruch wurde durch ein Luftbombardement auf Brüssel komplettiert. Als Hitler am 10. Mai 1940 den flagranten Neutralitätsbruch der Invasion Belgiens und Hollands beging, entschied sich am nämlichen Tag das Schicksal der britischen Regierung. Seit Tagen, zum Teil gegründet auf die ungeschickte Handhabung der Landungen in Norwegen, wuchs im Londoner Parlament die Unzufriedenheit mit der Person des Ministerpräsidenten, Neville Chamberlain, von trüber Münchner Erinnerung. In seinem Kabinett saß auch Winston Churchill als First Lord of the Admirality. Obwohl unschuldig am Misslingen des vorausgegangenen norwegischen Abenteuers, hielt Churchill aus Loyalität seinem Regierungschef die Stange. Am 9. Mai fand eine Abstimmung im Parlament statt, die zwar wenig schmeichelhaft für Chamberlain ausfiel, aber nicht genügte, um ihn definitiv aus dem Sattel zu heben. Die Aktien des von allen Realisten bevorzugten Churchill standen schlecht. Da brach am Morgen des 10. Mai

Erneute Flucht

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die Nachricht von Hitlers neuerlicher Schandtat herein. Das machte Chamberlain den Garaus. Hitler aufzuhalten vermöge, so hieß es nun im ganzen Hause, nur Winston Churchill. Nur er hatte die Energie und Klugheit, das Commonwealth mit sich zu reißen, dank seiner Abstammung in Washington gutes Gehör zu finden und das von allen Mächten verlassene England durch einen sich als blutig und lebensgefährlich anlassenden Krieg hindurchzusteuern. Nach spätnächtlichem Ende des Festes bei Mario Pansa gingen wir ins Haus von meiner Schwägerin, Sissy de Spoelberch, in der rue du Commerce schlafen. Bald nach fünf Uhr früh weckte uns merkwürdiges Getöse aus der Luft. Wir stiegen auf das Flachdach. Ein herrlicher Morgen. Blutroter Sonnenaufgang. Kein Wölkchen hinderte die klare Sicht. Der Lärm stammte von Flugzeugen, die über Brüssel kreuzten  ; wir meinten zunächst, die belgische Luftwaffe hielte Manöver ab. Merkwürdige, leuch­ tende Streifen gingen auf die Häuser nieder. Plötzlich ein Schrei aus dem Lichthof. Sissys Köchin hatte sich, ebenfalls aus Neugierde, aus dem Fenster des dritten Stocks herausgelehnt. Wir fanden sie mit einer blutenden Nackenwunde. Ich schaffte sie mit unserem Ford Spider ins nächstgelegene Ambulatorium  : Verletzung durch Bombensplitter. Brüssel war somit im Schlaf von der deutschen Luftwaffe mit Bomben belegt worden  : krasse Neutralitätsverletzung, denn das deutsche »Ultimatum« war dem belgischen Botschafter in Berlin erst um halb acht Uhr früh überreicht worden  ! Ähnlich ging es Holland und Luxemburg. Erneute Flucht Aus dem Ambulatorium mit der verbundenen Köchin zurück, mussten wir die Entscheidung treffen. Ähnlich wie vor zwei Jahren in Berlin, als meine drohende Verhaftung uns zur Flucht veranlasst hatte. Wie damals hatten wir die beiden Kinder in Sicherheit gebracht, diesmal in die Schweiz. Gottgewollte Vorsichtsmaßnahme  ! In einer ersten, von der Gemeinheit des Luftbombardements eingegebenen Regung wollte ich mich zur belgischen Armee melden und gegen den Eindringling kämpfen. Zufällig war mein Schwager gekommen und stand mit Antoine Allard233, dem rührenden StopWar-Vorkämpfer, vor der Haustür. Ich teilte ihnen meine Absicht mit. Sie wechselten Blicke, und ein vielsagendes Grunzen sagte mir, dass mein Offert kaum auf Gegenliebe stoßen würde  ; durchaus begreiflich, war doch meine Position als heimatloser Flüchtling aus Deutschland keine ausreichende Garantie für politische Verlässlichkeit – ich würde bestenfalls interniert werden. Die Nachrichten von der »Front« lauteten dahin, dass mit der Einnahme Brüssels binnen Kurzem gerechnet werden musste. Also  : auf und davon, so wie im März 1938  ! Wir verstauten am gleichen Vormittag unsere Siebensachen in dem uns vom Schwiegervater zur Verfügung gestellten Wagen, der größer

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war als unser kleiner Ford. Es blieb nicht viel anderes übrig, als sich den in Richtung Frankreich abgehenden Autokolonnen verscheuchter Belgier anzuschließen. Auf Anraten von René Boël behob ich in der Bank unser sofina-Aktienpaket, das uns über unsere ersten Monate in der Schweiz hinweghelfen sollte. Der Schwiegervater gab uns eine Vollmacht über sein Schweizer Bankkonto. Eine vorläufige große Beruhigung  ! Als Flüchtlinge befanden wir uns in bester Gesellschaft  : Ganz Brüssel, mit Ausnahme der wehrfähigen Männer, schien auszuwandern. Frauen und Kinder sollten in Sicherheit gebracht werden. Mit aufwärtsklimmender Sonne wuchs die Zahl der zur Flucht Entschlossenen. Man flüchtete per Auto, per Fahrrad, per Handwägelchen und Schubkarren. Die schmalen, gepflasterten belgischen Straßen waren bald verstopft. Chaotisch wurde der Exodus, als plötzlich französische Panzer und Truppentransportmittel in entgegengesetzter Richtung auftauchten. Gamelin234 kam Belgien zu Hilfe und sandte seine Divisionen, die Deutschen noch auf belgischem Boden aufzuhalten. Welche Illusion  ! Genauso sinnlos und vorbehaltsbelastet wie die Blumen und Kusshändchen, die den vordringenden französischen Soldaten von den fliehenden Belgiern zugeworfen wurden. Es war nicht ganz klar, ob diese Blumen den heroischen Elan der Franzosen feiern oder eher  – zwecks Freigabe des Fluchtweges  – bremsen sollten. Die mit Brüsseler Bekannten, Gepäck, Hunden und Kindern überfüllten Autos zwängten sich, so gut es ging, über Feldwege, Böschungen und Waldschneisen durch die gegeneinander malmenden Flüchtlings- bzw. Retterkolonnen. Anlässlich einer längeren Stauung stiegen wir aus  ; vor uns die schlanke Tilda Boël. Sie wankte mit eigentümlich gespreizten Beinen. Ich fragte, ob ihr nicht wohl sei. »Oh, nein  ! Das ist bloß das Gold  !« Sie hatte in Voraussicht kommenden Notstandes eine Reihe Goldbeutel kunstvoll zwischen ihren Beinen unter dem Rock aufgehängt. Gegen vier Uhr Nachmittag gelangten wir an die französische Grenze jenseits von Mons. Die Zollwächter taten ihre Pflicht und prüften unsere Papiere. Pässe (unsere schweizerischen) und alles andere war in Ordnung, bloß fehlte ein Ausreisevisum für unser Auto. Wir hatten es unterlassen, uns diesen aus unerfindlichen Gründen für Wägen mit belgischen Kennzeichen erforderlichen Sichtvermerk in Brüssel zu verschaffen. So mussten wir zurück zum französischen Konsul nach Mons und verloren den Anschluss an unsere Gruppe einschließlich Schwägerin Sissy. Glücklich kamen wir durch die Grenze und gegen neun Uhr nach Laôn. Strömender Regen war ausgebrochen. Es war stockfinster und die Stadt verdunkelt. Man sah keine fünf Meter weit. Ein vereinzelter Soldat an einer Kreuzung. Ich will mich orientieren. Er warnt uns vor der Weiterfahrt in der eingeschlagenen Richtung  : »Non, pas par la, cela chauffe à la gare  !« Faktisch wurde im gleichen Augenblick der Bahnhof von Laôn zerbombt. Der andere Weg geht bergan. Wir befinden uns auf einer Art Glacis, das um die Ville Haute herumführt. Laôn hat eine merkwürdige Form  : Aus der flachen flandrischen

Flucht über Paris nach Genf

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Ebene ragt allein dieser Kegel heraus. Zuoberst ragt die Zitadelle, um deren Ringmauern eine Aussichtsstraße führt. Ich finde nicht den Weg herunter. Es ist stockfinster, und es gießt in Strömen. Ich schalte die Scheinwerfer ein und umfahre zweimal die Zitadelle, bis ich schließlich die enge Ausfahrt finde. Kein Mensch kümmert sich um uns. Erst später dämmerte es mir  : Ein geradezu unwahrscheinliches Glück hatten wir in Laôn an diesem Schicksalstag des 10. Mai  ! Man stelle sich nur vor  : Mitten in einer entbrennenden Schlacht, die einbrechenden Hitlerischen Panzerdivisionen, Stukas werfen allenthalben ihre Bomben ab und beschießen die mit Flüchtenden angefüllten Straßen  ! Die französische Verteidigung wird überrumpelt, tarnt sich in Dunkelheit. Der Angreifer sucht nach strategischen Zielen. Da ist die aus der flandrischen Ebene herausragende, weithin sichtbare Zitadelle von Laôn  ! Während alles sorgfältig verdunkelt ist, fährt ein von einem verkappten »Deutschen« (weil Altösterreicher) gelenkter Kraftwagen mit voll eingeschalteten Scheinwerfern zweimal um die Zitadelle herum, doch klarerweise, um ein besonderes Bombenziel zu signalisieren  ! Ich verdiente, an Ort und Stelle standrechtlich erschossen zu werden  ; doch ich hatte nur ein Ding im Auge  : rasch und unbemerkt aus dieser Bombenhölle herauszukommen. Gegen Mitternacht waren wir in Soissons, fanden ein Hotel und sogar ein freies Zimmer. Hungrig wollten wir in den Speisesaal, der Hotelier verwehrte uns den Zutritt, sagte, er wolle uns die Schande nicht mit ansehen lassen. Was los sei  ? »Die Herren Offiziere liegen alle besoffen unter den Tischen  !« Ich drang ungeachtet der Warnung ein, um wenigstens ein belegtes Brot zu erhaschen. Da lagen sie, champagnertrunken, siegessicher  : »Morgen geht’s los, und wir werden diese Schweine, diese ›boches‹, zu Paaren treiben  ! An der Maginot-Linie235 werden sie sich die Köpfe einrennen  ! Wir werden sie verdreschen  !« Alles unter Grölen und heldischem Gesang … Später in der Nacht langte ein Teil unserer belgischen Fluchtgenossen ein, darunter Schwägerin Sissy mit ihren Söhnchen. Sie fanden keine Betten frei und erwarteten, in der Hotelhalle hockend, den Morgen. Die Nachrichten, die wir erhielten, waren nebulos und unheilschwanger. Was geschieht mit dem überrannten Belgien  ? Der König236 bleibt, die Regierung flieht nach London  ! Wird die französische Verteidigungslinie halten und das britische Expeditionskorps und insbesondere die R.A.F.237 den Franzosen zur Seite stehen  ? Die Regierung Paul Reynauds238 fällt südwestwärts zurück. Belgien vollständig überrannt, kein Standhalten nach dem Vorbild König Alberts239 im Ersten Weltkrieg. Flucht über Paris nach Genf Unsere Absicht, von Paris in die Schweiz zu unseren Kindern weiterzufahren, scheiterte zunächst daran, dass alle nach Osten führenden Straßen wegen des Vormarsches

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der deutschen Panzerdivisionen für den Privatverkehr gesperrt waren. Man verweigerte uns die erforderlichen Laissez-Passers. Offenbar war ich den französischen Polizeibehörden verdächtig. Als Schweizer Bürger hatte ich Anspruch auf die Unterstützung der Botschaft. Die Wartezeit benutzten wir dazu, uns ein wenig in Paris zu orientieren. Freund André Villebœuf, Maler, Schriftsteller und Gourmet, führte uns im Geleite seiner charmanten rumänischen Frau in die Redaktion des »Figaro«. Dort schwirrte es von falschen, halbfalschen, tendenziösen und bramarbasierenden Informationen  ; auf die wahren wurde schamhaft nicht hingehört. Selbst in einer Redaktion von der Bedeutung des »Figaro« wollte man den Ernst der Lage nicht zur Kenntnis nehmen. Die Maginot-Linie sei uneinnehmbar, die französische Luftwaffe der deutschen weit überlegen. Im Notfall werde sich das Wunder von der Somme wiederholen  ! Stärker als die Armeen Wilhelms II. könne die deutsche Wehrmacht nicht sein. Man habe verlässliche Informationen  : Im Reich wachse die Opposition gegen Hitlers wahnsinnige Großmannssucht. Das eigentliche Deutschland der Dichter, der Gelehrten und Philosophen könne nicht so verblendet sein, als dass es die Aussichtslosigkeit des Kampfes einer unausgegorenen, barbarischen Despotie gegen die verbündeten und wirtschaftlich überlegenen Demokratien nicht erkenne. So ging es weiter. Diese Illusionen, das totale Missverstehen der wahren Situation nicht nur in Regierungskreisen, sondern auch seitens der Informationsmedien, dürften zum Teil auf die sehr einseitigen Kontakte zurückzuführen sein, die alle französischen Vertreter in Deutschland, auch die Journalisten, bisher vorzüglich mit antinazistischen, das sind die konservativen und sozialistischen Kreise, unterhalten hatten. Ähnlich den diplomatischen Vertretern zogen sie, oft aus Bequemlichkeit, den Verkehr mit den ihnen in kultureller Beziehung kongenialeren Milieux vor. Man sprach sich viel leichter mit Leuten, die etwas gesehen, die über die Grenzen des Reiches hinausgeblickt hatten und die zudem mitteilsamer waren. In welch ungeahntem Ausmaß Hitlers hypnotische Kraft die Jugend erfasst hatte, wie sehr der »Führer« dem Durchschnittsdeutschen den Himmel eines Weltreichs vorzugaukeln und den in jedem Deutschen schlummernden Revanchegedanken wachzurufen verstanden hat, davon hörte man freilich nichts in den Berliner, Frankfurter oder Münchner Salons. Dafür hätte man in ganz andere Brutstätten des Dritten Reiches herabsteigen müssen. Auch wir wollten in jenen Pariser Tagen zunächst nicht für wahr halten, dass die glorreiche französische Armee so bald kapitulieren werde. War sie wirklich so unbesiegbar  ? Gamelin, der Oberstkommandierende der französischen Wehrmacht, war wohl kein Napoleon. Von ihm erzählte man uns damals in Paris, er habe, als die drôle de guerre in vollem Gang war, Einladungen zu Cocktails und Empfängen anstelle seiner Gattin akzeptiert, »weil Madame Gamelin für Mondänitäten keine Zeit habe«. Die deutschen Truppen kamen immer näher. Auch die Stukas. Die Pariser wurden nervöser, und der schon in Belgien erlebte Exodus gen Westen setzte ein.

Flucht über Paris nach Genf

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Zum zweiten Mal waren wir Adolf Hitler und der Gestapo entwischt. Zum zweiten Mal flüchteten wir  : in die Schweiz. Das meiner Familie seit über 300 Jahren zustehende Privileg der schweizerischen Staatsbürgerschaft sicherte zwar Leben und Existenz, war aber keineswegs eine Gewähr für eine begeisterte Aufnahme. Nicht verwunderlich  ! Warum soll man einem ehemaligen österreichischen Diplomaten, der nie etwas für die Schweiz geleistet hat, Entgegenkommen zeigen, wenn er, bloß notgedrungen und mangels anderer Zufluchtsstätten, sich urplötzlich seiner Schweizer Staatszugehörigkeit und des Anspruchs auf Schweizer Pässe entsinnt  ? Wie waren wir zu diesen Pässen gekommen  ? In Belgien angelangt, musste ich mich nach neuen Pässen umsehen. Da fiel mir unsere Abstammung von der letzten Landgräfin in Klettgau240 ein. Ihr Zürcher Bürgerrecht war Ende des 17. Jahrhunderts auf den Gatten, den Grafen, später Fürsten Ferdinand Schwarzenberg übergegangen. Meine Vorfahren hatten allesamt seither als getreue Zürcher die Bürgersteuer brav bezahlt, obwohl sie in Deutschland, Böhmen und Österreich lebten und dort wohlbegütert waren. Um mein Bürgerrecht hatte ich mich nie gekümmert. Mein Gewissen war entsprechend schlecht, und ich hielt es für angezeigt, einen Zürcher Anwalt zwecks Passbeschaffung anzuheuern. Er verlangte einen vierstelligen Honorarvorschuss. Nach etlichen Wochen hatte ich die Pässe in Händen. Wir konnten wieder reisen – und im Notfall flüchten. Einige Jahre nachdem ich in Genf Anstellung und Arbeitsmöglichkeit gefunden hatte, sagte ich mir, ich sollte doch einmal den Stadtvätern von Zürich für meine und meiner Familie durch die Bürgerschaftsbestätigung gewährleistete Existenzmöglichkeit danken. Ich sprach beim Sachbearbeiter für Bürgerschaftsangelegenheiten vor, nannte meinen Namen und erhielt, bevor ich überhaupt etwas vorbringen konnte, die Worte entgegengeschleudert  : »Ah, Sie sind der Idiot  !« Etwas befremdet fragte ich, was ich angestellt hätte. »Sie haben dem Rechtsanwalt Soundso tusig Frankli gezahlt für etwas, das Sie gratis haben konnten  ! Wir kennen Sie ja und Ihre Familie. Sie brauchten uns bloß eine Postkarte zu senden, und Sie hätten postwendend Ihre Pässe gehabt  !« Sprach’s, drückte mir mit eidgenössischer Treuherzigkeit die Bundesfaust und ich war beim Tempel draußen. Wir fuhren also los nach Genf. Als wir bei strahlendem Sonnenschein die Grenzposten von Ecluse passiert hatten, sagte ich in unsicherem Vorgefühl zu meiner Frau, unser Aufenthalt in der Schweiz werde entweder wenige Wochen dauern und der Krieg entschieden sein oder viele Jahre, denn leicht werde es nicht sein, das zu allem entschlossene Deutschland niederzukämpfen. Wir beschlossen, uns in Genf niederzulassen. Die Kinder waren vorläufig gut untergebracht im »Marie-José« in Gstaad, von Mademoiselle Racine, einer europäisch ausgerichteten, brillanten Pädagogin zu Schweizer Ehrlichkeit und uncalvinistischer Lebensfreude angeleitet. Leichtsinnig mieteten wir uns eine Villa, zunächst  : »Les Ailes« ob Carouge, nach einigen Wochen »La Soleilette« in Creux de Genthod. Der Umstand, dass wir dort ein bord de lac besa-

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ßen, rangierte uns automatisch unter die Kapitalisten. Dies hatte den Vorteil, dass wir in die in Genf einflussreiche höhere Gesellschaft Eingang fanden. Das sollte noch von großem Nutzen für meine Arbeit werden. Tatsächlich wurden wir von den Residenten der Rue des Granges – boshaft les constipés genannt – mit dem Maximum an Wärme angenommen, deren Calvinisten fähig sind. Die Genfer haute société ist in drei Klassen geteilt  : die Uns, die Deux, die Trois (sprich onss, doss, troiss). Sie waren gastfreundlich und eigentlich rührend zu uns Fremden, die Planta, Turretini, Lombard, Odier, Brot, Pictet, Cramer, Blonay, Dietrich, van Berchem, Boissier, Barbey, Firmenich u. a. m. Calvinisten sind nun einmal ein eigenes Völkchen mit hervorragenden Eigenschaften, aber mit der oft unbewussten Neigung, dem Andersgläubigen ihre Rechtschaffenheit zu verstehen zu geben. Als wäre man von vornherein nur auf Irreführung bedacht  ! Die eingesessenen Genfer erziehen ihre Kinder sehr streng. Ich weiß von einer Mutter, die ihre Söhne mit derartiger Härte aufzog, dass der eine sich eine Kugel durch den Kopf schoss. Die anderen Söhne hingegen stellten ihren Mann und wurden vortreffliche Ärzte, Bankiers oder Geschäftsleute. Ein rechter Calvinist ist stets auf Rückversicherung bedacht, auch dem Schicksal gegenüber. Der Herrgott, ganz im alttestamentarischen Sinn, steht gleich hinter dem Menschen, mit immer erhobener Keule. Beim geringsten Anlass, mag dies eine unverdiente Freude sein, saust die Keule auf das Haupt des Genießers nieder. Daher das Gebot  : Lege dir selbst möglichst viele Bürden auf. Je mehr du gratis leidest, desto weniger Blöße gibst du dir gegenüber dem Schicksal, gegenüber dem Gott der Rache. Zur Illustration  : Wie allsonntäglich im Winter fuhren wir mit dem »M.O.B.« nach Gstaad Schi laufen. Dort hatten die Freunde Bates eine große Villa. Der Familienvater hatte sich, gerade sechzigjährig und wohlbestallt, von der Präsidentschaft des »Bon Marché« zurückgezogen. Madame Bates war eine geborene Brot. In der Villa waren Kinder und Enkel zu Semesterferien versammelt. Es war ein herrlicher Sonntag oben in Gstaad  : Sonne und Firnschnee  ; der Gatte, nunmehr sorgenfrei und entschlossen, sein Alter im Kreise der Familie zu genießen. Ich schicke mich an, um 17.30 Uhr den Zug nach Genf zu nehmen. Renée Bates sagt  : »Ich komme mit, warten Sie auf mich  !« Ich wundere mich  : »Aber um Gottes Willen, warum bleiben Sie nicht heroben in Ihrer Villa  ? Es ist doch alles herrlich  ! Ihr Mann hat keine Geschäftssorgen, ist frei und will seine Enkel genießen  ; der Schnee ist gut  ; es herrscht Sonnenschein, während unten in Genf nur Nebel ist  ; auch bläst die Bise. Warum bleiben Sie nicht bei Ihrer Familie  ?« Darauf Renée  : »Eben deshalb muss ich hinunter  ! Es ist zu schön hier  !« Das war typisch  ! Die brave Calvinistin hatte eine solche Angst, dass das Schicksal sie für den Genuss des Schönen und Angenehmen strafen könnte, dass sie den Nebel und den eisigen Wind vorzog, um ihrem Gott keinen Vorwand zur Rache zu geben  ; vielleicht auch, um für das Glück ihrer Familie auf Kreditkonto zu büßen. Es heißt übrigens, Genf sei die Schweizer Stadt mit der höchsten Zahl an Selbstmorden pro Jahr.

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Ich habe meine eigene Theorie zurechtgelegt, betreffend die Hintergründe der calvinistischen Eigenheiten. Nicht Calvin241 hat den Calvinismus erfunden, sondern die Genfer selbst. Der brave Franzose aus der Picardie fand den Calvinismus bereits fix und fertig vor, als er dort einkehrte. Wieso  ? Das Genfer Sauklima ist die Ursache  ! Während es in dem fünfunddreißig Kilometer entfernten Lausanne vierundsechzig Sonnentage im Jahr gibt, hat Genf ihrer bloß vierzehn. Es bläst die schreckliche Bise, la bise blanche bei heiterem Wetter, la bise noire bei dem häufigeren Nebelwetter. Die Rhône staut sich beim Durchfließen des Sees gegen die Genfer Schleusen. Im Geleit des Flusses stauen sich gegen die Berge des Kessels die mitgeführten Nebelmassen. Das nasskalte Schlechtwetter hat die Charaktere der Genfer geformt. Während der Waadtlander heiter und aufgeschlossen ist, geht der Genfer mit griesgrämiger Miene seinen Geschäften nach, in dicht geschlossenen Räumen, ohne Licht und Freude. Im Tresor ist er zu Hause. Er wird Händler mit Geld, vorzüglich mit Fluchtgeldern aus Frankreich, meisterlich im Achten der Anonymität. Ein Wort Voltaires  : »Si vous voyez un Génévois sauter par la fenêtre, sautez lui après  ! Il a certainement de l’argent sur lui  !« Voltaire mochte die Genfer nicht, obwohl er sich in unmittelbarster Nachbarschaft, in Fernet-Voltaire, niedergelassen hatte. Er verabscheute vor allem eine Patrizierfamilie, die Pictets. Man kann von Fernet aus Genf gut sehen. Voltaire pflanzte eine Reihe Zypressen vor seine Fenster und nannte sie »mes cache-Pictets«. Es ist umso unschöner von mir, so boshaft zu sein, als wir während des ganzen Krieges in privatem Verkehr mit Genfern nur Freundlichkeit, ja Freundschaft genossen haben. Im dienstlichen Verkehr, während meiner sechs Jahre Arbeit beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz, musste ich mir allerdings sagen, dass ich es mit Genfer Patriziern und Calvinisten zu tun habe, mit ihren gediegenen, außerordentlich wertvollen Eigenschaften, aber auch mit ihren rigiden Anforderungen in ethischer Beziehung. Carl J. Burckhardt und Max Huber Wie kam ich zum Internationalen Komitee vom Roten Kreuz  ? Ich muss gestehen, wie niedergedrückt, geradezu verzweifelt ich damals war. Zum zweiten Mal war ich der nationalsozialistischen Furie entkommen. Ich hatte meine Heimat verloren, hatte kein Unterkommen, keine Verdienstmöglichkeit. Meine Situation schien aussichtslos. Das wenige in der diplomatischen Laufbahn Erlernte eignete sich so gut wie gar nicht zu anderen Berufen. In Brüssel hatte ich einige Zeit als Volontär in einer Bank gearbeitet. Ich war aber nicht weitergekommen. In Handel oder Industrie  ? Dazu musste man jung anfangen, aus der Fachschule kommen oder Beziehungen haben. Das war nun nicht der Fall. In meiner Not kam mir das wertvollste Bindeglied zwischen Menschen zur Hilfe  : die Freundschaft. Wieviel verdanke ich doch Carl Jakob Burckhardt  ! Erstma-

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lig war ich ihm während meiner Wiener Studentenzeit bei Onkel Karl Lanckoronski begegnet. Burckhardt war kurze Zeit Attaché an der schweizerischen Gesandtschaft in Wien gewesen. Seine diplomatische Karriere ward unterbrochen, nachdem er den ihm vorgesetzten Legationsrat bei der Gurgel gepackt und aus seinem Büro herausgeworfen hatte, offenbar nicht unverdient, denn das Inzident wurde dem Herrn Attaché nicht nachgetragen  : Später wurde Burckhardt sogar Botschafter in Paris. Als Carl Jakob mir die Geschichte vom Hinauswurf erzählte, gestand ich ihm, dass ich genau dasselbe an einem meiner Vorgesetzten vorgenommen hatte. Carl liebte Wien und die altösterreichische Kultur. Er mietete die reizende Barockvilla einer Gräfin Zichy in Penzing und machte großes Haus. Carl hatte einen nebelspaltenden Humor, konnte auch sardonisch sein. Aus Carls Wiener Junggesellenzeit stammt folgende Geschichte  : Carl Jakob hatte als Wohngäste ein Basler Ehepaar zu Besuch. Der Gatte, ein bekannter Industrieller, Madame ein Blaustrumpf und begierig, in der allerbesten Gesellschaft eine Rolle zu spielen. Carl veranstaltete ein feierliches Abendessen in Frack und Orden, lud dazu als Ehrengast Seine kaiserliche Hoheit Erzherzog Eberhard ein. Dieser »Erzherzog« war nun kein anderer als Carls Diener Wenzel. Madame hatte sich beim Hausherrn genau erkundigt, wie man einen Erzherzog behandelt, was man ihn fragen darf, was man bei ihm in kultureller Beziehung voraussetzen kann. »In letzterer Beziehung dürfen Sie nicht all zu viel von Seiner kaiserlichen Hoheit erwarten, aber Sie dürfen ihn ruhig über seine Liebschaften ausfragen. Wenn Sie ihn da gesprächig machen wollen, erzählen Sie ihm, natürlich strengst vertraulich und in der Ecke des Salons, einiges aus Ihrem Sündenregister. Damit machen Sie ihm große Freude, ja einen Dienst, denn da verfliegen die Komplexe.« Wenzel erscheint in Frack, ein riesiges, rotes Ordensband über die Brust gespannt. Madame hatte einen großen plongeon einstudiert. Er gelang vollendet, und dem Erzherzog wird sogar die Hand geküsst. Wenzel zeigte sich bei bestem Appetit und wich geschickt mit kulinarischen Gutachten allen Intellektualismen aus. Madame war charmant und wagte sich sogar in bewundernden Anzüglichkeiten hinsichtlich des Erzherzogs Männlichkeit vor. »Sie müssen mir von Ihren galanten Abenteuern erzählen, Hoheit« und zieht nach dem Essen den angeheiterten Wenzel in einen Alkoven. Der Abend endete schlecht. Die Konfidenzen im Alkoven währten nur kurz. Wenzel hatte offenbar seine Rolle alkoholhalber nicht zu Ende gespielt, hatte geplauscht. Eine wutschnaubende Madame stürzt heraus, und mit Kriegserklärung an den Hausherrn  : »Das werde ich Ihnen heimzahlen  !« flüchtet sie in ihre Gemächer. Durch Jahre getraute sich Carl nicht nach Basel. Zweimal lud mich Burckhardt zum Mittagessen mit Hugo von Hofmannsthal242 ein. Damals blühte der beiden Freundschaft. Der veröffentlichte Briefwechsel gibt hiervon Zeugnis. Wohlwollend richtete der Dichter den Blick auf mich aus großen, verwunderten Augen. Einige freundliche Worte, stockend hervorgebracht, sollten dem jungen

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Studenten Ermutigung sein, ließen tiefe, aber leicht reizbare Menschlichkeit erkennen. Man spürte die Überempfindlichkeit der Antennen. Es hieß, die bloße Anwesenheit einer ihm unliebsamen Person in einer Gesellschaft genüge, um den Dichter todunglücklich zu machen und zu fluchtartigem Verlassen des Raumes zu veranlassen … Jahre waren vergangen. Ich hatte den Kontakt mit Carl Burckhardt verloren. Ich wusste ihn als Mitglied des Internationalen Komitees (ikrk) in Genf. Die Prophezeiung Professor Filchners, mehr noch die Verzweiflung des stellenlosen Nichtskönners, veranlasste mich, an Burckhardt mit der Frage heranzutreten, ob er eine Beschäftigungsmöglichkeit beim ik sähe. Nein, das ginge nicht, denn da dürfen nur Schweizer Bürger hinein. »Das bin ich aber  !«  – »Wieso  ?«  – »Ja, meine Familie besitzt seit über dreihundert Jahren das Zürcher Bürgerrecht, hat immer brav die Bürgersteuer bezahlt.« – »Das ändert allerdings die Sache. Ich will sehen, was ich tun kann, dich, einen Prinzen und Katholiken, bei den Genfer Calvinisten durchzusetzen.« Es gelang schließlich dank dem Entgegenkommen dieses anderen prachtvollen Menschen, des Präsidenten Max Huber. Carl J. Burckhardt war, obwohl schlichter Basler Bürger, in Gestalt wie im Wesen Aristokrat. Er hätte ein Herzog sein können  : Hoch von Gestalt, gemessenen Auftretens, nie sich verneigend, flößte der »Große Carl« unwillkürlich Beachtung ein. Wenn unter buschigen, schwarzen Brauen wild blitzende Augen den schüchternen Gunstwerber durchdolchten, dann war es Furcht. Die sanfte Stimme, die kugelförmigen Händchen täuschten hinweg über das Qualmen, Brühen und Sprühen in dieser hintergründigen Seele. Ein Vulkan, feuergeladen, ausbruchsreif. Großmütig, außerordentlich hilfsbereit, den Freunden ein mächtiger Freund, den Feinden ein gefährlicher Gegner. Die Schweiz war zu eng für dieses Genie, Genf zu wesensfremd. Wäre er als Proletarier zur Welt gekommen, so wäre er ein Revolutionär, ein Volkstribun, Staatsmann oder Diktator geworden. Die Vorsehung gebar ihn aber als Aristokraten im kleinbürgerlichen Basel. Was es heißt, ein Burckhardt mit »ck« und »dt« zu sein, kann nur beurteilen, wer die schweizerische Demokratie ausgekostet hat. An diesem alemannischen Christbaum, am großen Carl, hingen viele Ketten, Schnüre, Brezeln, Ringelchen, Hampelmänner. Da werkten Teufel und Engel aus mystischer Vorzeit. Angeborene Komplexe, Trübung des Blicks durch all zu viel Eingelerntes, Eingesessenes, zu Lebensform verknaulte Konvention, Unfreiheit des Hoch- und Hineingeborenen, furchterregende Last des Ererbten  : Der Vater, durch Selbstmord geendet, war weder mit sich noch mit der Welt ins Reine gekommen. Vererbt sich das  ? Carl Jakob war ein Genie im klassischen Sinn. Sein Gedächtnis grenzte ans Fabel­ hafte. Wenn er, vernehmlich schnaubend, zur Feder griff, vermochte er in kürzester Frist und ohne einzuhalten die brillantesten Dinge zu Papier zu bringen, dies in fehlerlosem Französisch oder in seinem im Verkehr mit Hofmannsthal aufgesilberten, absichtlich oft mehrsinnigen, immer ergreifenden Deutsch. Gerade darin war Burckhardt

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so bezaubernd, weil er im Leser wie im Mitredner den Eindruck hinterließ, dass seinen Ideen weit Höheres, dem Durchschnittsmenschen Verborgenes zu Pate stünde. Der Gedankenflug eines genialen Menschen reicht in Sphären, die weit über das landläufige Begriffsvermögen hinausreichen. Banausen bleibt dieses Reich verschlossen. Carl Jakob wollte immer mehr, als möglich war. Weil er aber das Außergewöhnliche, das Fantastische begehrte, riss er die auf halbem, auf Viertelwege stapfenden Kleingläubigen, riss er die Widersacher mit, weit hinaus über ihr geistiges Niveau. Wie ein vollblütiger Zelter im Sumpf nicht vorwärts kommt, so kämpfte Carl Jakob an leitender Stelle des ikrk von Widerstand zu Widerstand, von Enttäuschung zu Enttäuschung. Was er trotzdem zustande gebracht hat, gehört zu dem Wertvollsten, das im Zeichen der christlichen Caritas für die leidende Menschheit geleistet worden ist. Einer anderen Genfer Geistesgröße möchte ich an dieser Stelle gedenken  : Max Hubers. Seine menschliche Größe und seine Verdienste um die Neugestaltung des ikrk während des Zweiten Weltkrieges sind nie genügend gewürdigt worden. Einzig sein Nachfolger als Präsident, Botschafter Paul Rugger, hat dies vorbildlich und aus warmem Herzen versucht. Max Huber243 war Zürcher, Jurist und Religionsphilosoph  ; Carl J. Burckhardt war Basler, Historiker und Schriftsteller. Die Unterschiedlichkeit der Denkweise zwischen diesen außergewöhnlichen Menschen, zwischen Präsidenten und Vizepräsidenten des ikrk, ergab eine Polarisation, die dem Roten Kreuz einmalige Energien einflößte und überdies oft unwahrscheinliche Improvisationen gestattete. Carl J. Burckhardt erahnte die neuen, unorthodoxen Aufgaben, die sich dem ik in einem der wüstesten Kriege sowohl der Waffen als der Weltanschauungen aufdrängten. Es lag aber am Präsidenten Huber, die phantasievollen Perspektiven des Idealisten Burckhardt in das realistische Licht der Rotkreuzidee und in eine allen Krieg führenden Regierungen akzeptable Form zu pferchen. Huber fürchtete sich im Grunde vor dem Basiliskenblick des großen Carl und bewunderte dessen Weltmanieren. Carl wiederum hatte einen tiefen Respekt vor der Weisheit des »Alten«, staunte heimlich über die Suprematie der Ethik im Tun und Reden des Präsidenten, bemängelte andererseits die allzu große Diskretion, mit der Huber die naiv seichten Meinungsbeiträge so mancher Mitglieder des Internationalen Komitees zu disziplinieren suchte. Einmal schilderte mir Huber sein Kreuz mit seinen Kollegen  : »Es ist, als müsste ich einen Haufen Heuschrecken in einem Teller zusammenhalten. Alle machen sie Extratouren und springen einem zwischen den Fingern weg.« Dabei hatte der Professor besonders ungeschickte Würstelfinger, mit denen er mir die Gesten des im Teller-Zusammenhaltens von Heuschrecken vormimte. Prof. Max Huber gilt mir als einer der besten Menschen schlechthin. Ehemaliger Richter am Internationalen Haager Schiedsgerichtshof, fromm, schüchtern, ungeschickt im Sich-Ausdrücken, aber ganz groß in der Überzeugungskraft des einmal –

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wenn auch mühseligst  – gefassten Entschlusses. Ein vom Tode gezeichneter Greis  : Kropf, Angina pectoris, erschreckend weiße Gesichtsfarbe, so krächzte und fuchtelte sich der Professor Huber durch die Sitzungen, wobei seine steifen Röllchen mal auch von den Handgelenken abflogen. Meldung beim Präsidenten des ikrk als neuer Rotkreuzrekrut. Steif sitzt er am Schreibtisch, sagt schmunzelnd  : »Aber ich kenne Sie ja  ! Ihr Familienwappen steht auf Seite so und so des Zürcher Wappenbuches. Sie haben Anspruch auf Mitgliedschaft bei den ›Zimmerlut‹. Leider nicht meine Gilde  ! Ich bin bei der ›Meisen‹.« Damit war die Freundschaft besiegelt. In der Folge sollte mir Max Huber sein Vertrauen schenken und sogar auf mich hören. Oft bis spät in die Nacht gingen wir vor seiner Wohnung am Park Bertrand auf und ab. Er schleimte sich aus über die Schwierigkeiten, die er mit den Mitgliedern des ik hatte, wie wenig er eigentlich für den Calvinismus und dessen Erziehungsprodukte übrig habe. Zu Karl Barth244 und C. G. Jung245 hinneigend, schätzte er darüber hinaus die römischkatholische Lehre. In der Scholastik und Mystik, von Thomas von Aquin246 bis hinauf zu Teilhard de Chardin247 gründlich informiert, liebte es Max Huber, über Religion zu reden. Meine Gottesvorstellung korrigiert, meinen eigenen Glauben gefestigt zu haben, verdanke ich seiner Güte und Menschenliebe. Ich schulde ihm beinahe ebenso viel wie dem damaligen Abbé Journet, dem späteren Kardinal. Sukzessive schenkte mir der Professor Huber seine Schriften, darunter einen Schiedsspruch aus dem Haag, durch den der Name des Richters Max Huber in die Völkerrechtsliteratur eingegangen ist. Es handelte sich um einen Streit zwischen Spanien und Holland betreffend die Souveränität über eine Insel im Pazifischen Ozean. Kurz resümiert  : Im klassischen Völkerrecht ist die »Entdeckung« einer der Haupttitel für das Eigentum eines herrenlosen Territoriums. Wessen Staates Flagge als erste (ich erinnere an das Rennen zwischen Amundsen und Captain Scott um den Südpol  ; die Hunde besiegten die Ponys) auf herrenlosem Land aufgepflanzt wird, unter dessen Souveränität fällt das Gebiet. Max Huber unterschied zwischen Entdeckung und dauernder Besitznahme. Ein genaues Studium spanischer und holländischer Archivalien ergab, dass ein spanisches Schiff im 16. Jahrhundert die bewusste Insel zwar erstmalig gesichtet und kartografisch aufgenommen hat, dass aber die Holländer in der Folge die Insel besiedelten und kolonisierten. Über mehrere Jahrhunderte verausgabte Holland bedeutende Summen für die Zivilisierung der Insel, während Spanien sich um das von ihm entdeckte Territorium überhaupt nicht kümmerte. So sprach Huber die Insel dem Königreich Holland zu und versetzte damit einer der klassischen Regeln des Völkerrechtes einen reformierenden Stoß. Das war Max Hubers Art  : Das ethische Element stand zuoberst  ; höher als die Konvention. Ständig von Skrupeln geplagt, unsicher und zögernd, um ja nur niemandem weh zu tun, oft unschlüssig im Finden des rechten Weges durch das Daseinslabyrinth, in das der Mensch unter Duldung des Herrn den Garten Eden umgeschaufelt hat. Max Huber war ein Patriarch der Rechtlichkeit.

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Leben in Genf Als unser Bankguthaben schrumpfte, zogen wir in eine Wohnung in der rue de Lausanne. Schmalhans wurde Küchenmeister, personifiziert allerdings durch die alles eher denn schmale Madame Blumenthal, die – Wunder wirkend – für unsere Ernährung durch die sechs vitaminknappen Kriegsjahre sorgte. Nahrungsmittel waren streng rationiert, aber dank des Planes von Wahlen248, der Kartoffeln selbst in die Blumenbeete vor dem »Bundeshus« pflanzen ließ, gab es immer etwas zu essen. Madame Blumenthal verstand es, für unsere stets hungrigen Kinder irgendwie zusätzliche Rationen zu erschwindeln  ; selbst in der austeren Schweiz gab es gottlob so etwas wie einen schwarzen Markt  ; und dann gab es diese wunderbare Einrichtung der Mahlzeitencoupons, die, wenn eingeladen, man der Hausfrau de rigueur abzuliefern hatte. Bald nachdem wir in die rue de Lausanne eingezogen waren, rief mich der Gesandte Barbey zu sich und erklärte, es sei untragbar für das Prestige des ikrk, dass ich in der ü ­ belbeleumdeten rue de Lausanne wohne  ; die Polizei nähme unter dem dortigen Gesindel häufig Hausdurchsuchungen vor. Ich entgegnete, ich übersiedelte gern in ein respektableres Quartier, wenn mir das Komitee das Gehalt erhöhte  – was allerdings unterblieb. Später fanden wir eine sympathischere Behausung als Mieter von Madame de Stoutz in der rue de l’Évêché, direkt im Schatten von Calvins Kathedrale. Damit gewannen wir an Ansehen. In den calvinistisch-konservativen Kreisen der Genfer Ville Haute mit der frostigen rue des Granges wurden wir durch unsere theologischen Diskussionsabende über religiöse Themen nicht gerade populär. Wir wohnten durch einige Jahre in der rue de l’Évêché, direkt im Schatten der Kathedrale von St-Pierre. In peinlicher Erinnerung bleibt mir ein Zwischenfall mit dem schweizerischen Sicherheitsdienst  ; es dürfte 1943 gewesen sein, als meine finanzielle Lage besonders prekär war. Der Krieg dauerte länger als vorausgesehen, und das bescheidene Kapital, das wir vor unserer Flucht aus Belgien in der Schweiz angelegt hatten, war aufgezehrt. Überweisungen aus dem Ausland wurden uns von der gestrengen Devisenzentrale in Zürich nur tropfenweise bis zu einem minimalen Höchstbetrag bewilligt. Wegen Überschreitung dieses Höchstbetrags anlässlich einer Sonderaushilfe aus Philadelphia seitens der guten »Tante« Sissy de Spoelberch wäre ich beinahe ins Gefängnis gekommen. In meiner damaligen Finanznot – Ernährung und Erziehung der Kinder waren nicht gerade wohlfeil – versuchte ich mir ein Nebeneinkommen durch Übersetzungsarbeiten zu verschaffen. Ich annoncierte entsprechend in der Genfer »La Suisse«. Prompt wurde ich zur Polizei vorgeladen, die mich peinlichstem Verhör unterwarf  : Woher mein Einkommen stamme, worin es bestehe, mit wem ich verkehre, ob mit Ausländern, welche Restaurants und Patisserien ich frequentiere, ob ich Persönlichkeiten kenne, die für meine staatsbürgerliche Verlässlichkeit bürgten, usw. Glücklicherweise beeindruckten die Namen meiner Gönner Max Huber und Carl J. Burckhardt die wulstnacki-

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gen Geheimpolizisten, und ich wurde hinfort nur oberflächlich, d. h. leicht erkennbar, überwacht. Als ehemaliger Polizeikommissär konnte ich mir das kriminalpolitische Vorgehen der Polizei leicht erklären  : Genf war während beider Weltkriege ein Spionagehauptzentrum der kriegführenden Mächte. Die schweizerische Polizei hatte alle Hände voll mit ihrer eigenen Abwehr zu tun. Unauffällige Codemeldungen mittels Zeitungsnotizen sind ein beliebtes Mittel aller Geheimagenten für die Anwerbung von Rekruten, auch, ganz allgemein, um Meldungen unter Vermeidung des Postweges ins Ausland gelangen zu lassen. »Suche Kinderfräulein zu meinen zehnjährigen Zwillingen nach vollzogener Übersiedlung von Basel nach Lausanne Ende des Monats« kann heißen  : »Zehnte Panzerdivision von Ostfront nach Westwall abtransportiert.« Die Polizei verdächtigte mich wohl, unter meinen erhofften lukrativen Übersetzungsarbeiten ein die Schweiz schwerst kompromittierendes Intrigenspiel zu verbergen. Ich konnte ein wichtiges Glied in einer gefährlichen Spionagekette sein  ! Dass ich auch noch mit Allan Dulles249, dem Chef des amerikanischen Geheimdienstes in Europa mit Sitz in Bern, und Bruder Foster Dulles in freundschaftlichen Beziehungen stand, durfte der Genfer Polizei noch nicht bekannt geworden sein, sonst wäre ich damals nicht so glimpflich davongekommen. Flüchtlingsschicksal  : Immer unter Verdacht  ! Trotz allem hatte ich wieder einmal riesiges Glück mit unserer Fluchtheimat Schweiz. Bedenke ich, was meine nächsten Verwandten in Österreich und Böhmen durchmachen mussten, Leiden und Prüfungen, denen ich entkommen war, so erscheint der uns gewährte besondere Schutz des Himmels ebenso unverdient wie schwerlich abzudanken. Ich suchte dies zu tun, indem ich meine ganze Arbeitskraft in den Dienst der vom ikrk mit Umsicht und Erfolg unternommenen Kriegsopferfürsorge stellte. Ich fand Befriedigung in dieser Arbeit und das ermutigende Gefühl, nützlich sein zu können. Aber es gab Hürden und schmerzliche Prüfungen. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz Während für Euch, meine Enkel, nicht nur der Erste, sondern auch der Zweite Weltkrieg ein in grauer Vorzeit stattgefundenes, nur in der Geschichtsstunde auftauchendes Ereignis darstellt, bilden für mich die sechs Genfer Exiljahre so ziemlich den Höhe­ punkt meines Erdendaseins. Warum  ? Weil es mir dank unvoraussehbarer Fügung vergönnt war, an dem bewunderungswürdigen humanitären Hilfswerk des ikrk zugunsten aller Kriegsopfer, ohne Unterschied von Rasse, Stand oder Nationalität, mitzuwirken. Ich konnte Nützliches leisten und mithelfen, Menschenleben zu retten. Für ein besseres Verständnis dieser meiner Genfer Tätigkeit will ich den statutenmäßigen Aufgabenkreis des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz sowie dessen Stellung in den Beziehungen zwischen den Staaten in groben Zügen umschreiben.

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Eine durch Mitleid mit den völlig vernachlässigten Verwundeten auf dem Schlachtfeld von Solferino (anno 1859) bedingte Initiative Henri Dunants führte zur Gründung des ausschließlich aus Schweizer Bürgern zusammengesetzten ikrk als eine streng neutrale, internationale Rechtsperson. Mittels der Unterzeichnung der beiden Genfer Konventionen (1864 und 1906) durch eine Reihe souveräner Staaten fand das ik triumphalen Eingang in das positive Völkerrecht. Es wurde ein Völkerrechtssubjekt. Die Genfer Konventionen übertrugen dem ik spezifische Aufgaben, zunächst zur Pflege der Kranken und Verwundeten im Krieg, später auch zur Betreuung der Kriegsgefangenen. Das ikrk tritt traditionsgemäß nur in Kriegsfällen in Aktion. Werden seine guten Dienste in anderen kriegsähnlichen Konfliktfällen in Anspruch genommen, so interveniert es nur unter der Voraussetzung des Einverständnisses beider in Konflikt geratenen Länder. Absolute Neutralität ist oberster Leitsatz. In dieser Hinsicht ist die örtliche Bindung an Genf, an die neutrale Schweiz, wertvoll, und zwar sowohl für das ik als auch für die Schweiz selbst. Tatsächlich bildete die Präsenz des ik in Genf während des letzten Krieges einen zusätzlichen Schutz für die territoriale Unversehrtheit der Eidgenossenschaft. Hitler hatte ein direktes Interesse an der Existenz und der Arbeit des ik, denn es wahrte die Interessen auch der deutschen Kriegsgefangenen in Händen der Alliierten. Die in den Genfer Konventionen verankerte Fürsorge für Kriegsgefangene wurde durch ein eigenes internationales Abkommen auf die sogenannten Zivilinternierten erstreckt, das sind jene nichtkombattanten Zivilpersonen, die sich bei Ausbruch eines Krieges in Feindesland befinden und in der Regel interniert werden. Als solche genießen sie den gleichen Schutz der Genfer Konventionen und des Internationalen Komitees wie die Kriegsgefangenen. Zum Unterschied vom ik entwickeln die nationalen Rotkreuzgesellschaften in verdienstvollster Weise ihre Tätigkeit sowohl in Kriegs- als auch in Friedenszeiten und unterschiedslos zugunsten aller Kranken und Verletzten. Zu diesem Ende fließen ihnen die nötigen Mittel aus nationalen Quellen zu. Das ik verfügt hingegen über kein eigenes Einkommen. Es ist auf die freiwilligen Beiträge vonseiten der Unterzeichner der Genfer Konventionen oder, richtiger, der jeweils Krieg führenden Staaten angewiesen. Mit dem in Friedenszeiten schwindenden Interesse der Staaten an der Fürsorgetätigkeit des ik vermindern sich entsprechend diese Beiträge. Käme nicht die Schweizer Regierung zu Hilfe, würde der administrative Apparat des Komitees in Genf völlig zusammenschrumpfen. Bricht aber ein Krieg aus, dann sieht sich das Komitee urplötzlich vor sehr komplexe Aufgaben gestellt, die zudem proportional zum Umfang des Konflikts zunehmen. Das Komitee sieht sich gezwungen, seine Büros auszubauen und eine entsprechende Zahl Mitarbeiter anzuwerben. Wenige Wochen nach Entfesselung der Westoffensive durch Hitler-Deutschland im Mai 1940 traf in Genf ein lakonisches Telegramm aus Bordeaux ein  : »Vous confions nos deux millions prisonniers de guerre«, gezeichnet Paul Reynaud. Hunderttausende weitere

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Kriegsgefangene diverser Nationalität folgten. Das ik war urplötzlich gezwungen, eine Riesenaufgabe auf die Schultern zu nehmen. Hierfür war es in keiner Weise, weder in personeller noch in finanzieller Beziehung, vorbereitet. Was bedeutet dieses »Anvertrauen«  ? Die Kriegsgefangenen müssen zunächst erfasst werden  : Es werden Karteikarten angefertigt aufgrund der Namenslisten, welche die Regierungen, in deren Händen sich Kriegsgefangene (und Zivilinternierte) befinden, sowohl dem ikrk als auch der Schutzmacht zu übermitteln verpflichtet sind. Dies gestattet die Verständigung der Angehörigen und dient Nachforschungszwecken. Diese Sucharbeit wurde im Zweiten Weltkrieg zu bisher unerreichter Vollkommenheit ausgebaut. Wunder wirkend kamen die modernen Hollerithmaschinen, ein Geschenk der amerikanischen Erzeugerfirma, zu Hilfe. Diese Vorgänger der nunmehr landläufigen Computer gestatteten, aufgrund oft nur dürftiger Angaben im Handumdrehen die Identität eines Vermissten zu eruieren. Ein Beispiel  : Die Eltern eines auf dem Kriegsschauplatz Vermissten fragen in Genf an, ob irgend etwas über das Schicksal ihres Sohnes François Martin (Alter, Charge, Regiment usw. sind angegeben) erfahren werden könnte. Aus dessen letztem Brief von der Front sei hervorgegangen, dass sein bester Kamerad und Kampfgenosse Georges hieße. Dank des Lochsystems der Hollerithmaschinen und der Kenntnis der Regimentszugehörigkeit wird binnen Sekunden ein Soldat Georges Dupont eruiert, der sich im Stalag Nr. 36 befinden soll. Im Wege der Delegation des ik in Deutschland wird Georges Dupont einvernommen. Es stellt sich heraus, dass François Martin in schwer verletztem Zustand von deutschen Sanitätern vom Schlachtfeld fortgebracht worden ist. Diese Angabe ermöglicht weitere Nachforschungen. François Martin wird schließlich schwerkrank in einem Zivilspital aufgestöbert. Aus Versehen war er nicht in die Kriegsgefangenenlisten aufgenommen worden. Seine Familie wird verständigt. Bei Kriegsende besaß die Kriegsgefangenenagentur in Genf vierzig Millionen Karteikarten. Das dort erprobte Suchsystem wurde in der Folge auf die Zusammenführung versprengter Familienangehöriger (z. B. die Ostflüchtlinge) angewendet. Die Zentralsuchstelle in Arolsen funktioniert noch heute. So auch eine Reihe anderer Dienststellen des ik, deren Nützlichkeit sich auch nach der Beendigung des Zweiten Weltkriegs erwiesen hat. Auch gibt es gegenwärtig eine Reihe von Konflikten, ja von Kriegen, welche das ik und seine Delegierten in Atem halten. Dann die Sprachenfrage. Das ik kümmerte sich um deutsche, russische, polnische, serbische, kroatische, italienische, französische, belgische, holländische, norwegische, griechische, britische, australische, kanadische, neuseeländische, indische, nepalesische, amerikanische und japanische und weiß Gott welche andere aus Afrika und Asien stammende Kriegsopfer. Die Kriegsgefangenenagentur war nach Nationalitäten unterteilt, jede mit einer entsprechenden Zahl freiwilliger, sprachkundiger Mitarbeiter. Der calvinische Geist zeigte sich von der besten Seite  : Gegen Kriegsende verfügte

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das ik über viele hundert Mitarbeiter, in der großen Mehrzahl unbezahlt. Wo in der Welt fände man solche Opferbereitschaft  ! Dem ik fiel unter vielen anderen Aufgaben auch die Beförderung der sogenannten messages civils zu  ; das waren auf 24 Worte beschränkte »Briefe«, die in Feindesland Zivilinternierte auf dem Wege über das ikrk in Genf an ihre Angehörigen in der Heimat senden durften. Die Kriegführenden gestatteten diesen Briefverkehr zwischen einander bekriegenden Staaten unter der Bedingung einer durch das ik vorzunehmenden Zensur. Eine schreckliche Verantwortung  ! Geheime Nachrichtenübermittlung – also Spionage – sollte verhindert werden. Sprachkenntnisse und Geduld waren Voraussetzung. Meine Tätigkeit beim IKRK in Genf Mein erster Posten war »Leiter der Übersetzungsabteilung«. Ich hatte laufend mit rund 14 Sprachen zu tun. Glücklicherweise fand ich aufopferungsbereite Mitarbeiter  ; darunter meinen Vetter Tonio Lanckoronski250 für die polnische Sprache. Meine Frau arbeitete in der britischen Abteilung unter der lieben Madame Morier. Die messages civils machten einen großen Teil des ins Unermessliche angewachsenen Postverkehrs aus. Ich erinnere mich an über 400 000 Briefeingänge an einem einzigen Tag. Das Öffnen und Verteilen der Post geschah folgendermaßen  : An einem langen Tisch saßen vierundzwanzig Personen. Die erste in der Reihe hatte die alleinige Aufgabe, den noch geschlossenen Brief so zu schütteln, dass der Inhalt sich nach einer Seite des Briefumschlages verschob. Dadurch wurde ein schmaler Raum an der anderen Seite frei, den die zweite Person mit einem Scherenschnitt öffnete, ohne den Inhalt des Umschlags zu verletzen. Der Dritte in der Reihe tat nichts anderes, als den Brief herauszuziehen und weiterzureichen. Meist gab es eine Beilage, z. B. eine Banknote oder einen Scheck. Für deren Verwertung sorgte wieder eine andere Person. Der Brief wanderte weiter  : Feststellung der Sprache des Geschriebenen, Reichung an den Sprachkundigen, Prüfung des Meritums, Entscheidung über die Zuständigkeit einer Abteilung, alles durch verschiedene Tischgenossen. Am Schluss der Sitzung wurden die Zehn-, oft über Hunderttausende weggeworfener Umschläge nochmals nach übersehenen Beilagen, wiederum meist Geld, durchsucht. Die letztere Maßnahme wäre nicht getroffen worden, hätte sie sich nicht rentiert. Zu den Aufgaben der ik-Delegierten in den Krieg führenden Ländern gehörten die Organisierung und die Verteilung der Lebensmittel-, Wäsche- und Arzneimittelsendungen an die Kriegsgefangenen. Diese Pakete, hinsichtlich Güte des Inhalts und der Verpackung allerdings sehr unterschiedlich, wurden von den Rotkreuzgesellschaften der Heimatstaaten hergestellt. Die für die Gefangenen in Deutschland bestimmten gingen über Genf. Bedenkt man, dass sich in Deutschland allein zwischen zwei und

Meine Tätigkeit beim IKRK in Genf

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drei Millionen Kriegsgefangene (mit den russischen noch mehr) befanden, so ist die Zahl von 20 bis 40 in Genf täglich transitierenden Frachtwaggons nicht übertrieben. Diese Pakete mussten nun in Deutschland auf die einzelnen Oflags (Offizierslager) und Stalags (Standlager für Unteroffiziere und Mannschaften) sowie die zahlreichen Arbeitskommandos aufgeteilt werden. Die Arbeit unserer Delegierten war durch den Umstand kompliziert, dass es nicht nur keine Einheitlichkeit in der Zusammensetzung der Pakete gab, sondern dass auch Zahl und Inhalt der Pakete mit der Nationalität des Gefangenen variierten. Polen und Serben erhielten, wenn überhaupt, kaum sieben Kilogramm Lebensmittel, Franzosen 14, Briten um die 20, Amerikaner aber 28  ! Kein Mensch kann  – natürlich neben der offiziellen, vom Verwahrerstaat beizustellenden Tagesration – 28 Kilogramm kondensierte Lebensmittel im Monat verzehren. So verlegten sich die bevorzugteren Kriegsgefangenen auf den Schwarzhandel und verdienten viel Geld. Bei Kriegsende wurden alle Kriegsgefangenen repatriiert  ; sie durften ihre Habe mitnehmen. Ein Delegierter erzählte mir  : Ein Amerikaner habe verlangt, dass er auch den von ihm erstandenen Konzertflügel mitnehmen dürfe  ! Die Frage der vom Verwahrerstaat aufgrund der Bestimmungen der Genfer Kriegsgefangenenkonvention jedem Gefangenen auszufolgenden Tagesration bildete ein gesondertes Kopfzerbrechen für einen rk-Delegierten. Die zitierte Konvention stipuliert, dass ein Kriegsgefangener Recht auf die Rationen der »Depottruppen« hat. Diese sind an sich weniger reichlich bedacht als die Frontsoldaten. Ein amerikanischer oder britischer Kriegsgefangener in japanischen Händen hat Anspruch auf die Ration der japanischen Etappentruppe. Man stelle sich bloß einen Texasboy oder einen australischen Farmer vor, der mit der täglichen Reisration eines ihm zur Hüfte reichenden japanischen Trainsoldaten am Leben bleiben soll  ! Eine außerordentliche organisatorische Leistung des ik vollzog sich in der Umstellung der Rotkreuz-Paketverteilung in Deutschland vom Eisenbahn- auf den Lastwagentransport  : Den alliierten Bombern war es im Verlauf des letzten Kriegsjahres gelungen, das deutsche Eisenbahnnetz weitgehend zu zerstören. Die aus Genf abgehenden Lebensmittelwaggons kamen nicht mehr weiter. Das Verteilungssystem musste auf den Straßenverkehr umgestellt werden. Genf benötigte zu diesem Ende 800 Lastkraftwagen mit je zwei bis drei Fahrern. Wo diese hernehmen  ? Und der Treibstoff  ? Das Wunder gelang der von Herrn Feinstein geleiteten Transportabteilung. Einen Teil der Wagen erhielt das ik von der schweizerischen Postverwaltung, den Sprit von den Amerikanern via das befreite Südfrankreich. Und die Fahrer  ? Da ging man einigermaßen unorthodox vor. Von der Schweizer Staatsangehörigkeit wurde abgesehen, und plötzlich wimmelte es in Genf von französischen Chauffeuren – nicht alles einwandfreie Gestalten  ! Ja, diese prächtige Transportabteilung  ! Sie musste Kunststücke aufführen. Die amerikanischen Kriegsgefangenen (waren es ihrer 40.000  ?) erhielten ihre Liebesgaben vom Amerikanischen Roten Kreuz natürlich auf dem Seeweg. Im Atlantik

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tobte der U-Boot-Krieg. Ein Transport unter der Flagge einer Krieg führenden Nation kam nicht infrage. So schuf das ikrk eine eigene Transportflotte unter der Flagge des Roten Kreuzes und der Schweiz. Jede Überfahrt eines dieser sechs Ozeandampfer musste den im Atlantik sich bekriegenden Mächten gemeldet werden, mitsamt den Namen jedes Besatzungsmitglieds und der Beschreibung der Ladung. Die Schiffe mussten deutlich mit dem Roten Kreuz gekennzeichnet und in der Nacht hell beleuchtet sein. Der Kapitän musste die Schweizer Nationalität haben. Erste Schwierigkeit  : Wie findet man in der festländischen Schweiz einen Kapitän der langen Fahrt  ? Ferner, wo gibt es einen Hafen mit geeignetem Transportanschluss zur Schweiz  ? Das wurde schließlich Sète. Die Schiffe mussten Gibraltar passieren und allerhand Minenfelder. Aber die Sache klappte, und die Amerikaner bekamen ihre Pakete. Ich entsinne mich einer Verlegenheit  : Eines Sonntags saß ich allein im Sekretariat  : Journaldienst. Ein Telegramm traf ein von einem gerade über den Atlantik navigierenden Kapitän  : »Soeben einen blinden Passagier entdeckt. Was soll ich mit ihm machen  ?« Meine erste intimere Reaktion war  : »Schmeißen Sie ihn ins Meer.« Ich hielt aber an mich. Das Rätsel, das mir der Kapitän aufgegeben hatte, war kein leichtes. Das ik war verpflichtet, die Besatzungsmitglieder seiner Schiffe taxativ den Krieg Führenden zu melden, und zwar auf die Gefahr hin, bei Feststellung einer Mystifikation das Schiff torpediert zu sehen. Ein nicht gemeldeter Passagier hätte dafür genügt. Der brave Kapitän wurde angewiesen, nach Vormeldung in Gibraltar anzuhalten und den Passagier auszuladen. Wir hätten die Sache eigentlich dem deutschen Flottenkommando melden müssen, taten dies aber vorsichtshalber nicht. Was mit dem Passagier geschah, weiß ich nicht. Der wichtigste und interessanteste Sektor des ikrk war der Service des délégations. Das ik hatte in allen Krieg führenden Staaten einen oder mehrere Delegierte. Das waren ausgesuchte Leute, in der Mehrzahl Ärzte. Ihre Hauptaufgabe war die Kontrolle der genauen Anwendung der Genfer Konventionen auf die Kriegsgefangenen und Zivilinternierten. Das geschah in erster Linie durch ständige Besuche der Kriegsgefangenenlager und Arbeitskommandos, meist gefolgt von der Erhebung entsprechender Vorstellungen bei den Militärbehörden des Verwahrerstaates oder beim Auswärtigen Amt. Mut, Ausdauer und diplomatisches Geschick gehörten dazu. Die Reziprozität, das hieß eigentlich die Androhung von Retorsionen, war das einzige Druckmittel, über das das Internationale Rote Kreuz bzw. dessen Delegierte verfügten. Typisch schweizerische Nüchternheit, gepaart mit Bescheidenheit, hat es verhindert, dass die außerordentlichen Verdienste dieser Delegierten – alles Bürger der neutralen Schweiz – um das Wohl, oft um das Leben von Millionen Kriegsgefangener gehörig bekannt und gewürdigt worden sind. Schweizer Bürger dürfen keine ausländischen Orden annehmen. Analog verschämt waren übrigens alle Mitarbeiter des ikrk hinsichtlich der Anerkennung ihrer Verdienste. Ein Schweizer begnügt sich mit dem Bewusstsein, seine Pflicht getan zu haben  ; erst recht ein Calviner  ! In den Genfer Archiven verstauben die Berichte der

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Delegierten des ikrk. Ihr vorbildliches Vorgehen ist außerhalb e­ ines engen Kreises in Genf heute vergessen, auch beispielsweise die Waghalsigkeit der Versorgung der verhungernden Bevölkerung auf den griechischen Inseln per Kaik. Der mutige Delegierte war Courvoisier. Dann der heldenhafte Entschluss der Delegierten Haefliger, Maurer, Dr. Lehner und Dr. Schirmer, sich zu Kriegsende in Konzentrationslager einsperren zu lassen, um die Endliquidierung der Häftlinge zu verhindern  ! Darüber ist, reichlich spät, ein Buch erschienen  : »Les Ôtages volontaires des ss« von Drago Arsenijević. Darin werden die Versuche des ik, den kz-Häftlingen Hilfe zu bringen, erzählt. Wie eine Satire der Geschichte mutet es an, dass die Rotkreuzdelegierten Dr. Lehner und Albert de Cocatrix, die sich ganz besonders in der Fürsorge für die Deportierten exponiert hatten, von den russischen Truppen gefangen genommen und in Anhaltelagern in Russland eingesperrt wurden. Erst nach vier Monaten gelang ihre Heimreise. Dass sie Schweizer und Delegierte des ikrk waren, nützte ihnen nichts. Sie wurden als Spione verdächtigt, ungeachtet aller Regierungsinterventionen. Anfänge der Rot-Kreuz-Paketaktion für die Konzentrationslager Theresienstadt und Mauthausen Anmerkung der Hg. M.-A.: Teile dieses Kapitels, insbesondere die Paketaktion zugunsten »rassisch Deportierter« in den Konzentrationslagern Theresienstadt und Mauthausen betreffend, halten sich eng an den Bericht »Service de colis aux camps de concentration«, den Schwarzenberg im August 1945 für das Revue Internationale de la Croix-Rouge et Bulletin international des Sociétés de la Croix-Rouge (vol. 27, Nr.320 – August 1945. S. 601–615) verfasst hatte. Siehe auch Abbildungen im Dokumentarteil. Die Leistungen des ikrk im Zweiten Weltkrieg im Rahmen der Kriegsgefangenenfürsorge sind von den interessierten Krieg führenden Mächten sowie von den nachfolgenden internationalen Rotkreuzkonferenzen gewürdigt worden. Das ik hatte seine ihm von den Genfer Konventionen aufgetragene Mission einwandfrei und bei Beachtung striktester Neutralität erfüllt. Die völkerrechtswidrige, rücksichtslose Kriegführung Hitler-Deutschlands hatte unerwartete Situationen und eine neue Kategorie von Kriegsopfern geschaffen. Die öffentliche Meinung und ein reges schweizerisches Gewissen forderten, dass das ik ihnen gegenüber nicht untätig bleiben dürfe. Dem völkerrechtlich anerkannten Mittler zwischen den Krieg Führenden boten sich im Wege seiner Delegierten in Deutschland Interventionsmöglichkeiten, über die sonst keine andere Instanz oder Organisation verfügte. Diese Möglichkeiten waren praktischer Natur, hatten allerdings keinerlei Grundlage in den bestehenden internationalen Konventionen. Es handelte sich um die sogenannten politischen Gefangenen, die

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Hunderttausenden Deportierten und schließlich die von Hitler im Sinne der »Endlösung« zur Liquidierung bestimmten Juden. Während bei den Kriegsgefangenen mit der Reziprozität operiert und damit ein Druck im Sinne einer besseren Behandlung ausgeübt werden konnte – amerikanische, britische u. a. Gefangene in deutschen Lagern, deutsche Kriegsgefangene in Lagern in den usa, in Kanada, Indien usw. – konnten hinsichtlich der Deportierten keine Retorsionsmaßnahmen angedroht werden. Es gab keine deutschen Deportierten in England oder in den Vereinigten Staaten und keine der alliierten Regierungen hatte sich zu solch abscheulichen Maßnahmen herabgewürdigt wie die zwangsweise Deportierung von Zivilpersonen zum Einsatz in der Rüstungsindustrie, von der Ausrottung ganzer Volksgruppen gar nicht zu reden. Es war das Privileg Hitler-Deutschlands und seiner rücksichtslosen, totalen Kriegführung in den besetzten Gebieten, Zivilpersonen nicht etwa wegen ihrer Staatszugehörigkeit, sondern vorwiegend aus Sicherheitsgründen zu verhaften, einzukerkern und zu deportieren. In zunehmendem Maße diente aber die Rassenzugehörigkeit als Motiv für die Verhaftung und Deportierung. Deutscherseits wurde auf diese Kategorie von Zivilpersonen die Nomenklatur »Schutzhäftlinge« angewandt. Für Hitler galten die politischen Gefangenen rechtlich als vogelfrei, und sie genossen keinerlei internationalen Rechtsschutz. Es wurde ihnen vorgeworfen, sie hätten als Heckenschützen aus dem Hinterhalt deutsche Soldaten erschossen oder andere Verbrechen gegen die Wehrmacht begangen. Ohne Anspruch auf Behandlung im Sinne der Genfer Konventionen wurden über zweihunderttausend Franzosen, ferner Belgier, Holländer, Norweger, Polen und andere wie gemeine Verbrecher nach Deutschland verbracht, wo sie in den Konzentrationslagern eingesperrt wurden. Ihren Angehörigen gegenüber galten sie als nn (Nacht und Nebel), das heißt als tot. Der Zweck war einerseits Abschreckung, andererseits Einsatz von fremden Arbeitskräften als Ersatz für die zum Wehrdienst von ihrer Arbeit abberufenen deutschen Arbeiter. Mit zunehmender Intensivierung der Kriegführung mehrten sich die in Genf einlaufenden Informationen betreffend deutscherseits an Zivilpersonen verübte Greueltaten. Zunächst wurden seitens jüdischer Weltorganisationen die Judenverfolgungen angeprangert und oft unglaublich lautende Details berichtet. Man redete von Massenerschießungen und Vergasungen. Das Rote Kreuz dürfe, so hieß es, angesichts der verübten Gräueltaten nicht schweigen. Auch die internationale Presse brachte immer mehr Schauernachrichten. Einzelne aus Deutschland entkommene Juden – der eine oder andere hatte sich durch Überlassung eines Kunstwerks an Göring oder durch Bezahlung eines saftigen Lösegeldes losgekauft  – berichteten, allerdings ohne Zahlenangabe, von Tötungen und Deportationen mit unbekanntem Ziel. Die zwangsweise Verbringung von Arbeitskräften aus Frankreich, Belgien, Holland, Polen und anderen besetzten Ländern zum Einsatz in der deutschen Rüstungsindustrie bildete ein eigenes Kapitel der Proteste.251

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Immer eindringlicher klangen die Appelle an das ik. Schließlich entschloss sich das ik, zu versuchen, dieser neuen Kategorie von Kriegsopfern zu helfen. Es handelte sich darum, Menschenleben zu retten. Dieses Argument trug dazu bei Bedenken hauptsächlich folgender Natur zurückzudrängen  : Zunächst, so wurde argumentiert, fehle dem ik die Rechtsgrundlage. Politische Gefangene seien nicht von den Genfer Konventionen gedeckt. Folgerichtig lehnte es die deutsche Regierung a limine ab, dem ik irgendein Inspektionsrecht oder auch nur die praktische Möglichkeit zu Hilfeleistungen an andere als Kriegsgefangene einzuräumen, und sprach dem ikrk jedwedes Recht ab, sich für die Kategorie »Schutzhäftlinge« zu interessieren. Einige Phasen aus den Anfängen des Service ccc (Colis Camps de Concentration) gehören geschildert, weil sie zu den wenigen nützlichen Perioden meines Lebens gehören. Unter den Mitgliedern des ikrk gab es anfänglich Meinungsverschiedenheiten darüber, ob im strengen Sinne der Genfer Konventionen und angesichts der kaum noch tragbaren Überlastung von Stab und Mitarbeitern durch die Kriegsgefangenenfürsorge eine Hilfsaktion für die Konzentrationslager gerechtfertigt wäre. Max Huber, Carl J. Burckhardt und Maggie Frick-Cramer ließen das Problem nicht ruhen. Sie schenkten mir ein williges Ohr, als ich in dieser Richtung zu bohren begann. Sehr hilfreich waren der nachmalige Vizepräsident des ik, mein Freund Jean Pictet, ferner die Chefdelegierten Dr. Junod und Dr. Marti, in ganz hervorragendem Maße auch dieser wunderbare Mensch Dr. Robert Boehringer von der Commission Mixte. Richtig in Gang kam die Aktion, als die Witwe eines im kz Buchenwald umgekommenen Holländers uns die Liste von sage und schreibe achtzehn Namen mit den – das war wichtig – Häftlingsnummern zugespielt hatte. In Beratung mit C. J. Burckhardt und Robert Boehringer kam die Idee auf, die Absendung von Lebensmittelpaketen an diese achtzehn Schutzhäftlinge zu riskieren. Woher aber die Pakete nehmen  ? Über die für die Kriegsgefangenen bestimmten hatten wir kein freies Verfügungsrecht – sie waren Eigentum der Spender, nämlich das der nationalen Rotkreuzgesellschaften. Das ik war bloß Vermittler und Transporteur. Ich meinte, wir könnten selbst die Pakete in Genf herstellen  ; das ik möge mir einen ersten Kredit von 50.000 Schweizer Franken gewähren zum Anlaufen der Aktion. Mit Robert Boehringer dachten wir uns eine besonders haltbare vitaminreiche Zusammensetzung aus. Die Commission Mixte sorgte für die Herstellung, und wir dachten uns den Trick mit den in den Paketen versteckten Empfangsbestätigungen aus. Niemand in Genf wollte zunächst an ein Gelingen glauben. Ich gestehe, es war – auf ein langes Leben rückblickend – einer meiner schönsten Tage, als nach kaum drei Wochen die an das ikrk in Genf adressierten Empfangskärtchen per Post eintrafen. Sie trugen die Unterschrift der Häftlinge samt ihrer Nummer  ! Wie war das möglich  ? Die Existenz der Schutzhäftlinge durfte uns ja gar nicht bekannt sein und ebensowenig deren Nummern  ! Wieso hat die Lagerleitung einen derartigen Bruch der Geheimhaltung geduldet oder gar begangen  ? Mysterium  !

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Nunmehr mit dem Gedanken einhellig versöhnt, gestattete das ik, ja ermutigte es die Fortsetzung des Unternehmens. Seitens Max Hubers erntete ich ein weites Ausbreiten seiner Arme, ein strahlendes, breites Lächeln und etwas Gestammeltes  ; das war wohl als Aufmunterung gemeint. Carl Jakob erkannte sofort den Umfang der Perspektiven, aber auch die Schwierigkeiten, ferner auch die Notwendigkeit des Ausbaus der Commission Mixte. (Der enigmatische Titel war meine Erfindung  ; er brachte das viel versprechende Zusammenwirken mit der Ligue des Sociétés de Croix Rouge zum Ausdruck.) Ungesäumt wurden Pakete an die Unterzeichner der Empfangsbestätigungen abgefertigt. Durch unsere Delegation in Deutschland erhielten wir, ebenso unerwarteterweise, weitere Namenslisten. Wie sie sich diese verschafft hatte, interessierte mich nicht. Pakete gingen in wachsender Zahl ab. Es ergab sich die Notwendigkeit, den Genfer Apparat in administrativer Beziehung auszubauen. Eine Kartei wurde angelegt  ; Absendung und Empfangsbestätigung jedes Pakets mussten verzeichnet werden. Die Angehörigen sollten verständigt werden, bangten sie ja – mit Recht – um das Leben des Deportierten. Zweck der Massendeportierungen war ja die Einschüchterung der Bevölkerung in den besetzten Gebieten  ; man wollte sie glauben lassen, ihr deportierter Angehöriger sei wegen Geiselhaftung oder zur Strafe für begangene Anschläge hingerichtet worden. Wenn die Verschollenheit des Deportierten nicht notwendigerweise gleichbedeutend mit dem Tod des Deportierten war, so entsprang dieses Manöver doch keineswegs einer humanitären Regung, sondern es diente der Tarnung für den Arbeitseinsatz der ausländischen Deportierten anstelle der zum Wehrdienst einberufenen Deutschen. Hätte nun das ik die Familie eines Deportierten von der erfolgreichen Paketzustellung verständigt, so wäre es unmöglich gewesen, das Bekanntwerden der Anhaltung des Adressaten in einem kz hintanzuhalten. Die ganze ccc-Aktion wäre kompromittiert worden. Wir begnügten uns daher, im Zusammenwirken mit der nach Nationalitäten untergeteilten Agence Centrale des Prisoniers de Guerre – wo alle Suchanfragen zusammenliefen – der nach einem Deportierten suchenden Familie ein Aviso zu senden. Auf einem Kärtchen stand (in der Sprache des Deportierten) lediglich die Mitteilung  : »Ihr (Sohn, Gatte, Vater) … (Name) war am … (Datum der Empfangsbestätigung) am Leben. Mehr können wir Ihnen nicht sagen. Rückfragen sind zwecklos.« Angesichts der großen Sorge der Angehörigen konnten so karg bemessene Trostworte als Härte empfunden werden. Dennoch verfehlten sie nicht die erhoffte beruhigende Wirkung. Später erfuhren wir aus Dankesbriefen, wie hochwillkommen für die zitternden Angehörigen dieser einzige Lichtblick im schaurigen Dunkel des Okkupationsregimes war. Die Paketaktion des ccc hatte Schneeballwirkung. Als Erste erfassten polnische »Schutzhäftlinge« die Möglichkeiten, das strikte nn-System zu umgehen  : Auf unseren Quittungen standen neben dem eigentlichen Empfänger die Namen anderer Mithäftlinge mitsamt ihrer Nummer. Ungesäumt wurden diese in unsere Kartei aufgenom-

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men, je ein Paket abgesandt und, falls eine Suchanfrage vorlag, die Familie mittels des bewussten Kärtchens benachrichtigt. Es kam häufig vor, dass kz-Häftlinge das Lager wechselten. Zu unserer Überraschung wurden ihnen die Pakete nachgeschickt. Offenbar funktionierte die Reichspost. Allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, da zufolge der Bombardierungen durch die Alliierte Luftwaffe das deutsche Eisenbahnnetz weitgehend zerstört wurde. Durch die Paketnachsendungen wurden wir auf bisher unbekannte kz-Lager aufmerksam. Die Aktion sprach sich überdies durch den »Buschtelegraphen« herum. Spontan wurden uns, hinter dem Rücken der kz-Gewaltigen, Häftlingslisten zugesandt mit beschwörenden Bitten um Hilfe. Aber auch in Frankreich, woher die Großzahl der Deportierten stammte, hatte sich die Hilfsaktion des ik herumgesprochen. Das ik wurde nicht nur von Anfragen überschwemmt, sondern auch von Angeboten, die ccc-Aktion mit Geld-, Lebensmittel- und Kleidungsspenden zu unterstützen. Ich erinnere mich an eine Dame, die mir Schmuckstücke auf den Schreibtisch warf  : Jedes Opfer sei ihr recht, wenn ich nur dem deportierten Sohn helfen oder ihn loskaufen könnte. Welche Illusion  ! Langsam kam Ordnung in unser Abenteuer. Auch in finanzieller Beziehung. Die nationalen Rotkreuzgesellschaften stellten Geldmittel für die Herstellung der Pakete zur Verfügung. Trotz der Besetzung seines Landes brachte das Französische Rote Kreuz, ferner unter anderem auch das Belgische, allen voran aber die Schweiz namhafte Summen auf. Das ikrk ist bekanntlich vermögenslos und daher auf Beiträge der an ihren Kriegsgefangenen interessierten Regierungen und Rotkreuzgesellschaften angewiesen. Für gewisse Regierungen und Rotkreuzgesellschaften besetzter Länder war es sehr schwierig, Geld- oder Lebensmittel für ihre Deportierten nach Genf zu senden. Rührend waren die Bemühungen etwa des trefflichen Michel Melas – meines späteren Kollegen als Botschafter in London – um die von ihrer Heimat verlassenen griechischen Deportierten. Ähnlich sorgte Gesandter Jaromir K ­ opecky für seine tschechoslowakischen Schutzhäftlinge. Noch schlechter dran waren die Jugoslawen, die Balten und solche Einzelfälle wie als Saboteure und Spione verhaftete Briten. Die uns für die ccc-Aktion zur Verfügung gestellten Geldbeträge waren allerdings ausschließlich an die Befürsorgung der Schutzhäftlinge jener Nation gebunden, in deren Namen der jeweilige Genfer Delegierte die Spende entrichtet hatte. Konnte das ik zusehen, wie die Deportierten gerade jener Länder, um die sich niemand kümmerte, leer ausgingen  ? Waren sie nicht genauso bedauernswert wie alle anderen  ? Und in gleicher Lebensgefahr  ? Die Opferbereitschaft der Spender, bald auch der amerikanischen, die nach Kriegseintritt der usa großzügig mithalfen, gestatteten uns und den Delegierten des ik in Deutschland, mehr die Not als die Schablone zu berücksichtigen und – soweit es eben ging – die Bedürftigsten unter den Vergessenen zu bedenken. So mancher unter ihnen stand vor dem Hungertod. Die Ausbreitung der Kriegsfronten ließ immer deutlicher die Niederlage HitlerDeutschlands erwarten. Die Lockerung der ursprünglich drakonischen Isolierungs-

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vorschriften für die kz-Häftlinge war die Folge. Der Service ccc konnte zu Sammelsendungen schreiten. Auf diese Weise konnten Häftlinge in einer die Zahl der namentlich Bekannten überschreitenden Menge mit Lebensmitteln versorgt werden. Die ccc-Kartei hatte seit den ursprünglich achtzehn Namen die HunderttausenderGrenze erreicht. Die Hilfsaktion musste also entsprechend ausgebaut werden. Das stellte weitere Probleme. Da war einmal die Frage der Lebensmittelbeschaffung. In der Schweiz herrschte Lebensmittelknappheit verbunden mit einer (allerdings vorbildlichen) Rationierung. Einfuhren aus Übersee waren zufolge der strengen Handhabung der Blockade ausgeschlossen. Die alliierten Economic-Warfare-Instanzen wachten darüber, dass nur die Transporte der für Kriegsgefangene bestimmten Rotkreuzpakete – sie gingen in die Millionen – die Blockade passierten. Der Grund für die Inhibierung von Sendungen, die nicht für Kriegsgefangene bestimmt waren, bestand in der Überlegung der Economic Warfare Commission, dass Deutschland die völkerrechtliche Pflicht habe, die Zivilbevölkerung aller von ihm besetzten Gebiete zu ernähren, gleichviel, ob es sich um Deportierte handelte oder nicht. Sendeten nun humanitäre Institutionen, wie auch das Rote Kreuz, Lebensmittel nach Deutschland und in die besetzten Gebiete, so griffen sie damit Hitler unter die Arme und erleichterten ihm die Kriegsanstrengung. Dementsprechend entwickelte sich die ccc-Aktion zu einem Dorn im Auge der – zunächst britischen – Blockadebehörden. Wenig hätte gefehlt, und das ik wäre zum Komplizen der kz-Verwaltung gemacht worden. Mit dem Anwachsen der Aktion nahm der Argwohn des »trading with the enemy« zu. Der britische Minister für Economic Warfare, Dingle-Foot – wir nannten ihn »tangle-toe« – kam nach Genf und zankte das ik aus. Er behauptete, unsere Pakete erreichten nicht die Adressaten, der Inhalt würde vielmehr von den kz-Wärtern aufgezehrt. Der Sitzung mit Dingle-Foot beigezogen, konnte ich den Wind aus seinen Segeln nehmen  : Ich brachte eine Originalquittung mit. Es war die von meiner aus Lemberg deportierten Cousine Dr.  Karla Lanckoronska unterfertigte und aus dem Lager Ravensbrück abgesandte Empfangsbestätigung. Dingle-Foot bezweifelte die Echtheit. Vor der Türe wartete der Bruder der Genannten, Tonio Lanckoronski. Vorgelassen, beschwor er die Echtheit der Unterschrift seiner Schwester. Der Minister für den Wirtschaftskrieg krebste. Als er dann einen ganzen Haufen Quittungen vorgelegt und Berichte unserer Delegierten vorgelesen erhielt, gab er reichlich de mauvaise grâce seinen Widerstand auf. Die Blockade hatte uns von den Lebensmittel-Exportländern abgeschnitten. Wir mussten uns innerhalb des Machtgebietes Hitler-Deutschlands umsehen. Wiederum zeigten die Commission Mixte und Robert Boehringer viel Fantasie. In der Slowakei gab es Zucker, in der Türkei getrocknete Früchte, in Rumänien Kleidung und – Barzahlung vorausgesetzt  – noch allerhand Lebensmittel. Dem stand aber das von den Blockaderegierungen verhängte Devisenembargo im Wege. Dollars oder gute Schweizer Franken durften unter keinen Umständen der Reichsbank zufließen, am allerwe-

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nigsten der Gestapo oder der ss. Ausgerechnet Hitlers Judenverfolgungen hatten eine Verschärfung des Devisenembargos zur grotesken Folge. Die Möglichkeit Juden durch »Loskaufen« vor der Deportation zu bewahren sowie ferner die Zweckbestimmung bedeutender Beträge, die amerikanische jüdische Organisationen für die Lebensrettung von Juden zur Verfügung stellten, ließen nämlich die Blockadebehörden befürchten, dass der ss große Summen an Auslandsvaluten zuflossen [Anmerkung der Hg.: Siehe auch Editorische Notiz des Kapitels »Frage des Gewissens  : Ernst von Weizsäcker und Saly Mayer«.] Mit diesen könnten dringend benötigte Rohstoffe für die deutsche Kriegsindustrie angekauft, überhaupt Hitlers strategische Ziele gefördert werden. Weil die dem ik für die Zwecke der das frei zur Verfügung stehenden Geldsummen nicht ausreichten, mussten wir andere Wege für die Lebensmittelaufbringung außerhalb der Schweiz ausfindig machen. Einem meiner aus Rumänien stammenden Mitarbeiter fiel im Zusammenwirken mit Saly Mayer (1882–1950) der Trick mit den Dollars après guerre ein. Den Ansporn hatten die aus Transnistrien252 vor den vordringenden Sowjetarmeen nach Rumänien flüchtenden Juden gegeben. Sie litten bitterste Not. Zu ihrer Betreuung standen die vom Joint in die Kassa Saly Mayers geschleusten Dollars in ausreichender Menge bereit. Wir durften aber kein Geld aus Genf nach Rumänien überweisen. So sah sich unser Delegierter in Bukarest nach lokalen Kreditgebern um. Für vorgelegte Lei fertigte unser wendiger Delegierter promissory notes aus, ein Zahlungsversprechen, laut welchem »nach dem Kriege« der Gegenwert der Kreditsumme in Dollar, und zwar in Washington ausbezahlt werden würde. Als die das den Plan dem ik vortrug, lachte man bloß  : »Wer wird dir schon ein Geld borgen gegen einen Fetzen Papier, auf dem ein bloßes Versprechen eines Rotkreuzvertreters steht, laut dem ein angebliches Joint Distribution Committee ›nach dem Krieg‹ (wann wird das sein und worin besteht die Garantie  ?) in Washington dem Reicher des Zettels Dollars auszahlen werde  ?« Aber mein rumänischer Schweizer kannte seine Pappenheimer. Die Möglichkeit einer Kapitalflucht aus Rumänien war allzu verlockend. Weit mehr Kreditofferte liefen ein, als Waren zum Ankauf vorhanden waren. Ich erinnere mich, dass sogar ein Erzbischof und ein Ministerpräsident sich an dem Geschäft heimlich beteiligen wollten. Zu Ehren des Joint sei hier festgehalten, dass die nach dem Krieg in Washington präsentierten promissory notes pünktlich honoriert wurden. So gelang es der das im Zusammenwirken mit der Commission Mixte, innerhalb der Sphäre der damals noch als »Achsenmächte« bezeichneten zentraleuropäischen Länder, einen guten Teil der für ihre Hilfsaktionen nötigen Lebensmittel und Kleider zu beschaffen. Eine andere, nicht minder abenteuerliche »Rohstoffquelle« für unsere Lebensmittelsendungen waren die ungebetenen, uns zwar als Hilfe zugedachten, aber total planlos zusammengestellten Naturalspenden aus Frankreich. Als es dort ruchbar wurde, dass das ik in der Lage war, den Deportierten in Konzentrationslagern Lebensmittel und Wollsachen zuzusenden, rafften ihre noch so armen Angehörigen Entbehrliches

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und Unentbehrliches zusammen und schickten es per Post oder Eisenbahn nach Genf, bestenfalls mit bloßer Angabe des Namens des Deportierten. Um sichere Zustellung wurde aber ersucht. Da trafen auf dem Genfer Güterbahnhof Eisenbahnwagen mit den merkwürdigsten Dingen ein, kunterbunt, schlecht oder gar nicht verpackt. Es kollerten aus den Waggons gerupfte oder ungerupfte Hühner heraus, blutige Kalbsschultern, Kaninchen, Brillen, Stiefel  – nicht einmal nach Paaren geordnet  –, Brotlaibe, faule Äpfel usw. Das musste nun die Commission Mixte sortieren. Zu diesem Behufe waren im Portfranc von Genf Werkstätten eingerichtet worden, wo bis zu sechzehn Arbeitskräfte den Weizen von der Spreu sonderten. Konservenbüchsen, Zucker, Schokolade und ähnliche genießbare Ware wurde unter Zusatz der unsererseits für die Standardpakete vorgesehenen Dinge, darunter Medizinalien, Zigaretten und Vitamine, neu verpackt. Die verderbliche Ware und dazu gehörte auch alles noch Blutende, wurde, wenn verwendbar, über die Genfer Sanitätsbehörde der allgemeinen Versorgung zugeführt. Von nicht verwendbaren Fleischwaren wurden die Knochen ausgeschieden und gewinnbringend der Seifenfabrikation zugeführt. Späterhin haben wir die Seife in unseren Ateliers im Freihafen angeblich selbst hergestellt und in das kz-Paketsortiment aufgenommen. Ich habe dies aber selbst nicht kontrolliert. Merkwürdigste Dinge kamen da in den Sammelsendungen aus Frankreich zum Vorschein, vom Rosenkranz bis zum Revolver, dem Dolch und der Feile fürs Ausbrechen aus vergitterten Gefängniszellen. Alles sorgfältig in Brotlaiben oder Entenbäuchen versteckt. Die Revolver lieferten wir der schweizerischen Armeeverwaltung ab  ; Gebetbücher und Rosenkränze der Kirche. Ein richtiges Warenlager entstand im Freihafen. Wir konnten daraus besondere Wünsche befriedigen. Aus dem Frauen-kz Ravensbrück kam der Ruf der Nichte de Gaulles, Geneviève, nach einem bestimmten sanitären Artikel. Sogar diesen konnten wir auftreiben und ihn, im Namen ihres Vaters der Generalkonsul in Genf war, zusenden. Besuch im KZ Auschwitz des Dr. Maurice Rossel Anmerkung der Hg. M.-A.: Schwarzenberg hält sich in diesem und den neu hinzugefügten, nachfolgenden Kapiteln über die Aktivitäten des ikrk während des nahenden Endes des Zweiten Weltkriegs eng an die damals eingesandten Berichte der ikrkDelegierten. Diese Kapitel muss Schwarzenberg um 1971 auf Anfrage des Historikers Drago Arsenijević hinsichtlich dessen 1974 erscheinenden Buches »Les Ôtages volontaires des ss« in Angriff genommen und vorbereitet haben. Der Schweizer Historiker Jean Claude Favez hat, in seiner Studie »Das Internatio­ nale Rote Kreuz und das Dritte Reich – War der Holocaust aufzuhalten  ?« aus dem

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Jahre 1989 des ikrk Wirken während des Zweiten Weltkriegs gründlich erforscht. Er untersuchte auch die Rolle die Schwarzenberg innerhalb des ikrk spielte – ihn versehentlich als Jean Etienne Schwarzenberg bezeichnend. Favez hatte damals keinen Zugang zu Schwarzenbergs privatem Nachlass, nutzte jedoch eine Kopie der unvollständigen Privatausgabe der Memoiren. Er stellt Schwarzenbergs Wirkungsmöglichkeiten und Bemühungen als Leiter des das innerhalb der Organisation des ikrk deutlich und kritisch in Relation zu den sich überstürzenden geschichtlichen Ereignissen rund um das die europäischen Juden betreffende kataklystische ns-Vernichtungsprogramm. Schwarzenberg selbst reagierte in jener Zeit zuweilen mit Depressionen und mehrmaligen Rücktrittsangeboten auf das Nichteingreifen bzw. die allzu konservative Auslegung des Neutralitätsverständnisses und der Genfer Konventionen des ikrk-Führungsgremiums zugunsten der verfolgten Juden. So schrieb Schwarzenberg am 29. März 1943 an den ikrk-Präsidenten Max Huber  : »[…] Mit den Motiven möchte ich Sie, Herr Präsident, weiter nicht belasten  ; Sie haben der Sorgen genug. Nur soviel muss ich zu meiner Rechtfertigung sagen, dass ich stets bemüht war, auch in kleinen Dingen mein Bestes herzugeben. Wenn die Arbeit oft nicht besser ausfiel, so deshalb, weil ich es eben nicht besser verstand. Ferner diente ich zeitlebens der Sache und nicht den Tendenzen. Wenn es mir erst in den letzten Monaten meiner 3½-jährigen Tätigkeit in Genf möglich war, Greifbares zu leisten, so waren dafür die Umstände maßgebend, die meine Aktionsfreiheit hemmten und die auf mich zermürbend wirkten. Auch werden Sie, Herr Präsident, mir gewiss beipflichten, dass man eine Mission in die Hände des Auftraggebers zurücklegen muss, wenn man zur Einsicht gelangt, die Aufgabe nicht mehr in der bestmöglichen Weise durchführen zu können. Dies ist Gewissenspflicht. Zu dieser absoluten Ehrlichkeit gegenüber der eigenen Überzeugung bin ich aber gerade in Ihrem geistigen Kraftfeld herangereift. […]« Schwarzenberg blieb jedoch dem ikrk erhalten und versuchte im Rahmen des das weitere, verwirklichbare Hilfsaktionen, dann vor allem auch für die immanent von der Auslöschung bedrohten ungarischen Juden, zu organisieren. Aus Favez’ langjährigen Archivstudien geht allerdings hervor, dass das ikrk und seine Führung (Huber, Burckhardt) zumindest seit 1942 über die Vorgänge rund um die Judenverfolgung und -vernichtung im Dritten Reich unterrichtet und in der Lage gewesen war, in aller Öffentlichkeit dagegen aufzutreten. Die Delegierten RenéeMarguerite Frick-Cramer und Suzanne Ferrière, Schwarzenbergs Vorgesetzte, hatten bereits 1942 den Versuch unternommen, das Führungsgremium des ikrk in Richtung eines öffentlich abzugebenden Protestappells zu bewegen, wurden aber in diesem Ansinnen klar überstimmt. Die Unabhängige Expertenkommission Schweiz (ues) hält 1999 in ihrem Bericht »Zweiter Weltkrieg  : Die Schweiz und Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus« an den Schweizer Bundesrat folgendes fest  : »Ganz allgemein wurde der Handlungsspielraum der Genfer Organisation [ikrk] weitgehend

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vom Bund bestimmt. Die bekannteste Episode ist der ›Nicht-Appell‹ von 1942 an die Kriegsparteien. Es handelte sich dabei um einen von den weiblichen Mitgliedern unterbreiteten Text, der zur Einhaltung der ›Kriegsregeln‹ aufrief und zwischen den Zeilen die Deportationen durch die Nationalsozialisten verurteilte, schließlich aber nicht veröffentlicht wurde. Es waren insbesondere die Frauen, die sich bewusst wurden, dass die diskreten Aktionen des ikrk keine angemessene Antwort auf die Vernichtungspolitik des nationalsozialistischen Regimes sein konnten. Erschüttert über die Informationen, die seit 1942 beim ikrk eingingen, bemerkte Marguerite Frick-Cramer Ende 1944  : »Und wenn tatsächlich nichts zu machen ist, dann soll man diesen Unglücklichen wenigstens das Nötige schicken, damit sie ihrem Leid ein Ende setzen können  ; das wäre vielleicht menschlicher, als sie mit Lebensmitteln zu versorgen.« (Favez, Mission, 1988, S. 104 [Orig. franz.]. Zur Rolle der weiblichen Mitglieder des ikrk siehe auch Pavillon, Femmes, 1989, S. 98–99 und S. 104–107.) Für die Mehrzahl der Komiteemitglieder ging 1942 ein öffentlicher Appell jedoch zu weit.«253 Des Weiteren versuchten Frick-Cramer und Schwarzenberg in Folge zu erreichen, dass »rassisch Deportierte« gleich Zivilinternierten gemäß den Bestimmungen der Genfer Konvention behandelt werden sollten, diese Auffassung sollte sich jedoch erst spät im Jahre 1944 durchsetzen. Dass es zu keinem öffentlichen Auftreten des ikrk zu dieser Problematik kam, lag zum Teil auch daran, dass das ikrk, der politischen Linie mancher Schweizer Bundesräte folgend, die an einen Sieg Hitler-Deutschlands glaubten, nicht gewillt war, mit dem nationalsozialistischen Deutschland auf Konfrontationskurs zu gehen. Die Grundzüge der damaligen Schweizer Flüchtlingspolitik, insbesondere vom Bundesrat Eduard de Steiger und dem Chef der Fremdenpolizei Heinrich Rothmund maßgeblich beeinflusst, bargen stark antisemitische Tendenzen und Ängste vor einer »Überfremdung und Verjudung« (Das-Boot-ist-voll-Politik) in sich, die sich in der Umsetzung der Maßnahmen Flüchtlinge betreffend durch Abweisung, Gefühlskälte und Engherzigkeit auszeichneten. So wurden beispielsweise an den Grenzen von der Schweizer Polizei aufgegriffene jüdische Flüchtlinge an das nationalsozialistische Deutschland ausgeliefert und dem sicheren Tod durch Deportation in den Osten überlassen. Favez belegt auch, dass, neben den Alliierten, die damalige Schweizer Regierung sowie das ikrk sich bereits mit der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten abgefunden hatte. Im Frühjahr des zweiten Kriegsjahres gelangten die ersten Hilferufe betreffend die aus den besetzten Gebieten Deportierten nach Genf  ; überdies auch, zunächst im Flüsterton weil schwer überprüfbar, Gräuelmeldungen über Misshandlungen und Exekutionen von Schutzhäftlingen. Das ik versuchte wiederum – und nicht zum ersten mal – zunächst im Wege des Deutschen Roten Kreuzes für diese Schutzhäftlinge eine den Zivilinternierten analoge Behandlung zu erwirken. Es wurde unter anderem um Besuchserlaubnis für die Delegierten des ik ersucht. Am 29. April 1942 erhielt das

Besuch im KZ Auschwitz des Dr. Maurice Rossel

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ikrk vom deutschen Rotkreuz den Bescheid, die zuständigen Reichsbehörden lehnten es ab, Auskünfte betreffend »Nichtarier«, die aus besetzten Gebieten evakuiert worden seien, zu erteilen. Es sollte nicht die erste von Hunderten Abfuhren werden, die das ikrk deutscherseits in Sachen Konzentrationslager erfuhr. Wenn es in der zweiten Kriegshälfte dem ik gelingen sollte, doch Erkleckliches zugunsten der Deportierten und sogar eines wenn auch nur kleinen Teiles der in Hitlers Klauen gefallenen Juden zu leisten, so geschah dies meist durch Hintergehen des Himmler und Kaltenbrunner unterstehenden Sicherheitsdienstes. ik-Delegierte wie z. B. Dr. Rossel, unerschöpflich in Findigkeit, Mut und Ausdauer, verstanden es das vom Reichssicherheitshauptamt für die Konzentrationslager als vollkommen dicht ausgedachte Bewachungssystem zu durchlöchern und die Wachmannschaft wirkungsvoll zu bluffen oder einzuschüchtern. Dr. Maurice Rossel, Delegierter des ikrk, inspizierte Kriegsgefangene in einem Arbeitskommando im schlesischen Kohlenbergwerksgebiet. Der Vertrauensmann der Briten, mit dem er im Sinne der Genfer Konventionen ohne Zeugen reden durfte, macht ihn darauf aufmerksam, dass es in dem berüchtigten, nicht weit entfernten kzLager Auschwitz seit Neuestem geheimnisvolle, unterirdische Betonanlagen gäbe, die als Brausebäder bezeichnet würden, aber der Vergasung von Juden dienten. Die Information habe er Zuflüsterungen von im gleichen Bergwerk arbeitenden Auschwitzer kzler entnommen, könne sie aber nicht überprüfen  ; ihm und seinen britischen Kameraden sei die Unterhaltung mit Schutzhäftlingen strengstens untersagt. Dr. Rossel entschließt sich einen Besuch in Auschwitz zu versuchen. Auf allen Inspektionsreisen sind die ik-Delegierten von einem Offizier der deutschen Wehrmacht begleitet. Im gegebenen Fall ein durchaus korrekter, älterer Berufsoffizier, der zwei Söhne in den Kämpfen in Jugoslawien verloren hat. Er sieht dem Kriegsende umso resignierter entgegen, als er die Untaten des nationalsozialistischen Regimes als eine Schande für das traditionelle deutsche Soldatentum betrachtet. Am 29. September 1944 fährt Dr. Rossel los. Oberstleutnant Röder muss mitkommen, darf ja den Delegierten nicht allein im besetzten Gebiet herumfahren lassen. Von Teschen sind es rund dreißig Kilometer auf staubiger Landstraße. Man begegnet Gruppen von etwa vierzig Männern oder Frauen in den gestreiften Kitteln der kz-Häftlinge. Einige kommen von der Arbeit in Kohlenbergwerken, andere arbeiten auf den Feldern. Alle sind sie ausgemergelt, schleppen sich müde dahin, begleitet von ss-Wachen mit Maschinenpistolen im Anschlag. Vor der äußeren Umzäunung des Lagers lässt der Begleitoffizier halten. Er selbst dürfe das Lager nicht betreten. Rossel erklärt allein vordringen zu wollen. Zu Fuß geht er die Strecke zum Wachgebäude. Ein ss-Mann nimmt ihm den Diplomatenpass ab, lässt ihn auf einer Bank sitzen. Rossel hat Zeit zum Nachdenken. Was für schreckliche Dinge gehen wohl in diesem Geheimnisumflorten Gefängnis vor  ? Riesige Ziegelbauten mit vergitterten Fenstern. Eine zwanzig Meter hohe Zementmauer, oben mit Stacheldraht bewehrt, verliert sich in der

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Ferne. Menschengestalten in gestreifter Kleidung huschen vorüber. Lange dauert das Warten. Der Lagerkommandant telefoniert vermutlich nach Berlin bei Kaltenbrunner oder bei General Müller Weisungen einholen, wie er sich gegenüber diesem hereingeschneiten Schweizer Schnüffler verhalten soll. Rossel erinnert sich, wie schlecht sein Chef Dr. Marti im kz Oranienburg empfangen wurde. Wie kommt man bloß diesen Lagerkommandanten bei  ! Bestechung  ? Womit  ? Die sind viel zu gut versorgt, als dass man mit ein paar Zigarettenpäckchen etwas ausrichtete. Hatte ihm nicht Dr. Marti von der in Berlin lebenden norwegischen Dame, dieser Heldin, erzählt, die sich einem Offizier der Lagerwache von Oranienburg hingegeben habe mit dem Erfolg, dass alle norwegischen Häftlinge am Leben geblieben und bei guter Gesundheit waren  ? Marti hatte darüber nach Genf berichtet, einigermaßen bedrückt, weil er, im Vergleich, so wenig in den kz-Lagern erreiche  : »… nous ne pouvons pas lutter avec les mêmes armes.« Genf hat ihm darauf geantwortet, er unterschätze den Wert seiner Besuche bei den Lagerkommandanten. Das »Geringe«, was er durchzusetzen vermöge, werde auf anderer Ebene und vielleicht erst später gewertet werden. Angesichts der Ungeheuerlichkeit der verübten Verbrechen beweist selbst die schüchternste Reaktion den Primat menschlicher Werte. Das ist ein Sieg des Guten. Im Genfer Schreiben hatte es gelautet  : »… nous sommes d’ailleurs persuadés que votre visite a eu un effet au moins aussi favorable que celui que vous attribuez à la visiteuse norvégienne dont vous faites mention, et cela en dépit du fait que nos délégués n’ont à leur disposition que le modeste moyen de la persuasion.« Rossel erinnerte sich auch, wie er in Ravensbrück versucht hatte in den Karteiraum vorzudringen, um die Häftlingsnummer einer Deportierten, für die er ein Paket mit hatte, zu eruieren. Den Zutritt hatte er sich mittels einiger Zigaretten verschafft. Ein Unteroffizier überraschte ihn beim Öffnen einer Lade. Mittels vorgehaltenen Revolvers wurde Rossel hinausgeworfen. Seit über einer Stunde wartet der Delegierte des ik, ihm gegenüber ein ss-Unteroffizier, den Revolver in der Hand. Wer von den beiden hat mehr Angst  ? Rossel vor der Ungewissheit des Bevorstehenden  ? Der ss-Mann, der weiß, dass der Eindringling schon zu viel gesehen hat  ? Himmlers Sicherheitshauptamt versteht da keinen Spaß. Nichts darf über das, was in den Lagern vorgeht, nach außen dringen. Dafür ist die Wache verantwortlich. Allein die Augen der Häftlinge verraten zu viel, die weit aufgerissenen Augen, aus tiefen Höhlen. Diese Todgeweihten haben sich das Sprechen abgewöhnt, verkehren untereinander mit Zeichen und Blicken, haben nicht mehr die Kraft zum Aufschrei, zum Protest. Gebrochene Menschen. Nur die Augen starren, einzig verbliebenes Ausdrucksmittel, das nicht reglementiert werden kann. Das Abnehmen des Käppchens vor jedem ss-Mann, eckig, hastig, verschreckt. Das Schlürfen in Schuhen mit Holzsohlen, schmerzgewohnt, immer müde, immer hungrig, täglich schwächer werdend, nur die Augen reflektieren, was an Intellekt noch lebt  ; anklagend, beschwörend, ein Glimmen zwischen Hoffen und Verzweifeln. »Ja«, sagt sich Ros-

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sel, »für diese Schatten gewesenen Ichs, zu Nummern degradiert, entpersönlicht, für die ist es das Wagnis wert – vielleicht trägt es zum Überleben Einiger bei«. Da sind die Rotkreuz-Pakete, denen Rossel Eingang verschaffen will. Darüber hinaus das Bewusstwerden, dass es jenseits des Stacheldrahtes eine mitleidende Welt gibt, nicht nur Peiniger und Henker. Endlich wird der Doktor vorgelassen. Ein verbindlich jovialer Offizier spielt den Sohn aus gutem Hause, weltgewandt. Kennt die Schweiz, war in Davos – Bobsleighrennen. Jedes Wort des Lagerkommandanten ist genau überlegt, höherenorts genehm. Pakete  ? Ja  ! Für Franzosen und Belgier, wenn individuell adressiert. Integrale Auslieferung ist garantiert. Der Paketinhalt müsse aber sofort verzehrt werden, um zu vermeiden, dass andere als die Adressaten mitbeteilt werden. Das wäre ja gegen die Intentionen der Spender  ! Rossel riecht die Lunte. Es gibt also noch andere als Belgier und Franzosen  ? Sollen die verhungern  ? Hat nicht eben der Kommandant den Kommentar Himmlers, »… wir werden auf diese Weise die biologische Heilung unseres Planeten erreichen«, zur höheren Sendung der kz-Lager zitiert  ? – Juden  ? Da wird der Kommandant zur Salzsäule, steif und stumm. Die Audienz ist zu Ende. Geleit zum Ausgang. Jenseits der Umzäunung wartet der Geleitoffizier. Auch ihm ist so Manches nicht entgangen. Kein Wort wird die dreißig Kilometer bis Teschen gesprochen, auch kein Blick ausgetauscht. Von den Duschanlagen war natürlich nichts zu sehen gewesen. Was die Paketausteilung anlangt, so brachte Rossel das Gefühl mit, dass der galante Lagerkommandant nicht gelogen hatte. Nach Erhalt von Rossels Bericht verdoppelten wir in Genf die Paketabfertigungen nach Auschwitz. Die Alliierten und die Judenfrage Anmerkung der Hg. M.-A.: Schwarzenberg folgt dem Argumentationsstrang und den Zahlenangaben des Journalisten Arthur Morse, »While Six Million Died«, in diesem Kapitel. In Morses Buch wurde erstmals das Schweigen und die Tatenlosigkeit der Alliierten bezüglich der Ermordung der Juden, allen voran der usa, thematisiert und kritisiert. Während der 1950er- und 1960er-Jahre wurde der Holocaust in den usa und Europa weitgehend verdrängt – und tabuisiert. Nur drei Autoren254 hatten sich in der Zeit des Holocausts in seinem Gesamtgeschehen angenommen  : Léon Poliakovs »Bréviaire de la haine« wurde 1951 in Paris verlegt, Gerald Reitlingers »The Final Solution. The Attempt to Exterminate the Jews of Europe 1939–1945« kam 1953 in England heraus, und Raul Hilbergs Studie »The Destruction of the European Jews« wurde 1961 in den usa herausgebracht. Die Schilderungen des aus Österreich vertriebenen Historikers und bedeutenden Holocaust-Forschers Raul Hilberg in seinem Buch »Unerbetene Erinnerungen« be-

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schreiben sehr anschaulich den Argwohn, die Leugnung und schlichtweg das Desinteresse, welches damals nicht nur vonseiten der Wissenschaften diesem gräulichen Kapitel unserer Gegenwart entgegengebracht wurde. (Hilbergs maßgebliches Werk »The Destruction of the European Jews« aus dem Jahre 1961 musste einige Hindernisse überwinden, ehe es einen Verlag fand, der sich traute, dieses Buch herauszubringen. Nicht nur die Columbia University Press, sondern auch die Princeton University Press wagten sich nicht daran, dieses zu drucken.)255 Erst die spektakuläre Entführung des untergetauchten ns-Verbrechers und Logistikexperten der »Endlösung« Adolf Eichmann, durch den israelischen Geheimdienst sowie der darauffolgende Prozess in Jerusalem 1961 schafften es, die Aufmerksamkeit und das Interesse der Welt(presse) mit einem Mal auf den Holocaust zu lenken. Es ist hier zu beachten, dass die Abfassung dieser Memoiren Ende der Sechziger- und in den frühen Siebzigerjahren anzusiedeln ist, und dass der Verfasser z. B. nicht nur die oben genannten Werke nicht kannte, sondern auch nicht über den damaligen Stand der Holocaust-Forschung durchgehend informiert war. Wir Europäer sind geneigt, bei den Amerikanern im Hinblick auf ihre Abstammung Verständnis, ja Sympathie für die Nöte unseres zerrissenen und zerschlissenen alten Kontinents vorauszusetzen. Die Leute jenseits des Ozeans haben es sich aber abgewöhnt, dunstig-nostalgisch zurückzuschauen. Sie konzentrieren sich auf ihre eigenen Sorgen, weniger auf die Vergangenheit als auf die Zukunft. Das schimpft man gern Isolationismus  ; der ist aber nicht vorgefasste Meinung, sondern eher Folge übler Erfahrung. Man will sich nicht die Finger versengen an einem Herdfeuer, in dem atavistische Brandstoffe nachzüngelnd glühen, ohne sich zu verzehren. Der alte Kontinent, zerborsten in Uneinigkeit, betrachtet es aber als sein Erstgeburtsrecht, periodisch von der Neuen Welt aus Not und Untergang gerettet zu werden  ! Das war die großartige Leistung des Staatsmanns Winston Churchill, die im Isolationismus sich wehrenden Kräfte der Vereinigten Staaten zur Rettung eines kenternden Europas herüberzuziehen, sie zur Verteidigung jener zivilisatorischen Werte zu wecken, die einst ihre Wiege gewesen sind. Franklin D. Roosevelt war ihm dabei ein verständnisvoller Helfer. Wie kein Zweiter durchschaute der Präsident der Vereinigten Staaten die Widerstände, die im eigenen Hause zu überwinden waren  : man musste behutsam vorgehen, vermeiden, dass eingewurzelte Voreingenommenheiten zu Obstruktion ausarten. So ist es zu erklären, warum die Roosevelt’sche Regierung die einflussreichen und weithin populären isolationistischen Kreise schonend, nur zögernd, oft hemmend, den jüdischen Hilferufen um Rettung vor Hitlers »Endlösung« Gehör schenkte. Mit Erstaunen liest man die Geschichte der Hindernisse, die Washington – und zu einem geringeren Teil London – der Aufnahme jüdischer Flüchtlinge in den Weg legten.

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Für die geringe Begeisterung nicht nur der amerikanischen, sondern auch der britischen Regierung für eine Lösung des wachsenden Flüchtlingsproblems einschließlich der Judenverfolgung ist bezeichnend, dass es erst im dritten Kriegsjahr zum Zusammentritt einer den Problemkomplex behandelnden Konferenz auf den Bermudas256 kam. Zeitlich fiel sie im Frühjahr 1943 mit der Einrichtung der ersten großen Vergasungsöfen zusammen. Die der amerikanischen Konferenzdelegation erteilten Instruktionen lassen erkennen, wie wenig man in Washington geneigt war, sich in die verfängliche Materie der Unterbringung und Absorbierung von Tausenden Expatriierten vorzuwagen. Maßgebend waren hauptsächlich innenpolitische Rücksichten, getarnt durch strategische Notwendigkeiten. Unter anderem sollte die amerikanische Delegation keine Anspielung auf Rasse oder religiösen Glauben machen und die Diskussion sich nicht nur auf jüdische Flüchtlinge beschränken. Es durften keine Zusagen hinsichtlich Zurverfügungstellung von Schiffsraum für Flüchtlinge gemacht werden. Keine Flüchtlinge wären nach den Vereinigten Staaten zu bringen, die anderswo untergebracht werden können. Keinerlei Erwartungen auf Änderung der amerikanischen Einwanderungsgesetze dürfen erweckt werden  ; die Erfordernisse der amerikanischen Bevölkerung an Lebensmitteln und Geld müssen im Auge behalten werden  ; man könne jedoch neutralen Staaten Geldmittel für die Evakuierung und den Unterhalt von Flüchtlingen zusagen. Die Ergebnisse der Konferenz waren mehr als enttäuschend. Die vorgetragene Theo­rie Cordell Hulls illustrierte die allgemeine negative Einstellung  : Flüchtlinge  – und dazu zählten eben die verfolgten Juden – sollten möglichst nahe ihrer Heimat untergebracht werden, um ihre spätere Rückkehr zu erleichtern. Hatte der amerikanische Staatssekretär im Jahre 1943 noch immer nicht die volle Reichweite der Hitler’schen Vernichtungstaktik erkannt  ? Zynisch schrieb der stellvertretende amerikanische Staatssekretär Breckinridge Long257, es bestünde die Gefahr, dass ein zu weitgehendes Nachgeben gegenüber dem jüdischerseits ausgeübten Druck vom gegnerischen Deutschland dahingehend propagandistisch ausgewertet werden könnte, dass die Vereinigten Staaten den Krieg auf Veranlassung und unter Leitung ihrer jüdischen Staatsbürger führen. Das könnte Amerika die Sympathien der Araber kosten. Auf diese sei man aber auf dem nordafrikanischen Kriegsschauplatz angewiesen. Einen weiteren Bremsstoß versetzte die britische Delegation der Bermuda-Konferenz mit der Weigerung, die Blockade Europas für Hilfesendungen  – Lebensmittel, Kleidungstücke  – zu lüften. Das größte Hindernis, Juden vor der Deportation zu bewahren, war die Handhabung der amerikanischen Einwanderungspolitik. Die Befürchtung, Spione oder ähnliches Gesindel könnten sich in die Vereinigten Staaten einschmuggeln, dazu noch die strenge Handhabung der Bestimmungen gegen mittellose Einwanderer, die der öffentlichen Hand zur Last fallen könnten, haben es bewirkt, dass nicht einmal die nicht ausgenützten Einwanderungsquoten auf die flüchtenden Juden erstreckt werden durften.

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Der britische Botschafter in Washington, Sir Ronald Lindsay, teilte Washington mit, seine Regierung sei bereit auf 65 000 Einwanderungsbewilligungen der britischen Quote zu verzichten und sie jüdischen Einwanderungswerbern zu überlassen. Die Ablehnung des State Departments gründete sich auf das juristische Argument, dass Einwanderungsquoten nicht das Eigentum einer Regierung seien, über das sie frei verfügen könne. Zur teilweisen Entlastung des State Department sei gesagt, dass – ähnlich, wie dies in Wien nach dem Ersten Weltkrieg bei der eingesessenen Judenschaft gegenüber den aus Osten zuwandernden Juden der Fall war – selbst in gewissen jüdischen Kreisen in den Vereinigten Staaten Bedenken gegen eine verstärkte jüdische Einwanderung vorherrschten  ; man befürchtete ein Anwachsen des Antisemitismus. Viel zu spät entschloss sich die amerikanische Regierung, die Judenverfolgungen des Hitlerregimes öffentlich anzuprangern. Gegen Untaten anderer Regierungen zu protestieren gilt nun einmal im zwischenstaatlichen Verkehr nur allzu leicht als »Einmischung in die inneren Angelegenheiten«. Seit Menschengedenken ist das ein fauler Vorwand, hinter dem sich ein schlechtes Gewissen verbirgt. Immer zimperlicher reagieren in dieser Beziehung die Parlamente und ihre diplomatischen Sprachrohre. Je aggressiver eine Regierung, aber auch je mächtiger sie sein mag, desto weniger getraut man sich, ihr auf die Zehen zu treten. Als solche »Taktlosigkeit« wird heutzutage selbst Entrüstung über verletzte Menschenrechte empfunden und abgelehnt. Nicht immer war Washington so zurückhaltend bei Protesten gegen Judenverfolgungen. Pogrome im zaristischen Russland, beispielsweise jenes von Kischinew anno 1903, veranlassten Theodor Roosevelt zu ernster Verwarnung. Der amerikanische Kongress war aufgebracht, und schließlich kündigten die Vereinigten Staaten den Handelsvertrag mit Russland. Der Gräuel der »Kristallnacht«, November 1938, erregte wohl allenthalben die öffentliche Meinung auch in den Vereinigten Staaten. Sechsunddreißig prominente amerikanische Schriftsteller telegrafierten Roosevelt  : »… vor 35 Jahren erhob sich ein entsetztes Amerika, um gegen das Pogrom von Kischinew zu protestieren. Sind wir gegen menschliches Leiden so gefühllos geworden, dass wir uns heute gegen Pogrome in Nazideutschland nicht zu protestieren getrauen  ? Wir betrachten es als zutiefst unmoralisch für das amerikanische Volk, Handelsbeziehungen mit einem Lande zu unterhalten, das zugestandenermaßen den Massenmord dazu verwendet, seine Wirtschaftsprobleme zu lösen.« Abgesehen von der Einberufung des Berliner Botschafters Wilson zur Berichterstattung und einer eher lahmen Pressekonferenz des Präsidenten geschah nicht viel mehr als eine Abschiebung der Verantwortung auf das – übrigens kaum aktionsfähige -Intergovernmental Committee for Refugees. Zeitweilig gab es Anzeichen, als würden die harten Maßnahmen gegen die Juden deutscherseits gelockert werden. Niemals waren sie jedoch durch humanitäre Rücksichten bedingt, meist der Versuch, ein »Geschäft« zu machen. Da gab es das »Paket-Offert« des Reichsbank-Präsidenten Hjalmar Schacht in einem reichlich frü-

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hen Stadium  : Die Juden würden gegen die Bezahlung von 3 Milliarden Reichsmark freigelassen werden.258 Der Hürden gab es so viele, dass man von der Sache nichts mehr hörte. Dann, 1939, der Vorschlag von Görings Sendling Ministerialdirektor Wohlthat259  : Man würde Juden sukzessive unter der Voraussetzung auswandern lassen, dass für sie entsprechende Aufnahmestätten im Ausland gefunden werden. Zunächst schien das deutsche Anbot zu gut um wahr zu sein. Alsbald kamen die Haken zum Vorschein  : die deutscherseits gestellten finanziellen Vorbedingungen  ! Ferner misslang es dem Intergovernmental Committee for Refugees innerhalb der vorgeschriebenen Fristen seitens der in Aussicht genommenen Einwanderungsstaaten, entsprechende Zusicherungen für die Asylgewährung zu erwirken. Unter allen Beteiligten zeigte sich ein betrüblicher Mangel an humanitärer Solidarität. Sogar die Schaffung eines von amerikanischen und englischen Juden geplanten Fonds zur Stützung des »WohlthatProjekts« scheiterte an Uneinigkeit. Ein von den Quäkern ausgearbeiteter Plan für die Einlassung von 20 000 jüdischen Kindern nach den Vereinigten Staaten scheiterte an parteipolitischen und strategischen Erwägungen Washingtons. Einige den Isolationis­ ten damals gegen die Einlassung von mehr jüdischen Flüchtlingen geläufige Argumente waren, dass die Amerikaner ihren Kindern die verfassungsgemäßen Rechte auf Leben, Freiheit und Glück nicht garantieren könnten, wenn ihre Heimat zur Ablagestätte für verfolgte Minoritäten werden würde. »Flüchtlinge brächten ein Erbe von Hass mit  ; niemals könnten sie loyale amerikanische Bürger werden. Zudem seien sie künftige Anführer einer Revolte gegen die amerikanische Regierungsweise – sie wären potenzielle Kommunisten.« In höchstem Grade unsympathisch war das bis etwa 1942 gängige System des Loskaufens von einzelnen Juden. [Siehe auch nachfolgende, editorische Notiz zu Saly Mayer. Anmerkung der Hg. M.-A.] In eigener Erinnerung verblieb mir, was wir in Genf »die Lausanner Judenbörse« nannten. Börse deshalb, weil der Stückpreis der über die Gestapo einzuhandelnden Lebendware von Tag zu Tag wechselte. Einmal waren es 10.000 Schweizer Franken, einmal 20 000 und noch mehr. Wie viel beispielsweise von den Londoner Rothschilds für die Ausreise der Wiener Rothschilds bezahlt wurde wissen nur die ersteren  ; es war viel. Dieser Handel war von den Alliierten Regierungen strengstens verpönt, bedeuteten ja hohe Summen in Westvaluten für die Gestapo oder die ss Einkaufsmöglichkeiten lebenswichtiger deutscher Mangelware. Es musste vermieden werden, die deutsche Wehrfähigkeit materiell zu unterstützen. Waren es nicht harte Währungen, so taten auch Kunstwerke das Ihre, um einem Juden das Leben zu retten. Göring war in dieser Richtung besonders zugänglich. Dass aber Juden selbst keine Opfer scheuten, um sich oder Angehörige aus Hitlers Fängen loszukaufen, ist natürlich. Wir selbst, meine Frau und ich, beteiligten uns an so einem Lösegeld. Mein Mitarbeiter im Service ccc beim ikrk, Harald Reininghaus, bezahlte 15.000 Schweizer Franken an die bewusste Geheimagentur der Gestapo in Lausanne, um seine in

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Wien zurückgebliebene Schwiegermutter, eine geborene Auspitz aus der bekannten Bankiersfamilie, auszulösen. Solche Sammlungen zwecks Aufbringung von Lösegeld waren auf der Tagesordnung, solange es im eigentlichen Reichsgebiet und in Österreich, wohl auch im Protektorat Böhmen, noch Juden gab, die nicht verhaftet oder deportiert worden waren. IKRK-Einsätze während der Schlussphase des Zweiten Weltkrieges Im vierten Kriegsjahr begann die Schärfe der Kontroll- und Isolierungsmaßnahmen in den Konzentrationslagern nachzulassen. Dies bedeutete nicht etwa eine Abkehr der Kerkermeister vom fanatischen Vernichtungswillen ihrer hochgestellten Auftraggeber  ; der Grund für die zunehmende Duldung der Rotkreuz-Hilfsaktionen ist zum Teil im Zusammenbrechen des Transport- und Versorgungssystems innerhalb Deutschlands zu suchen, vielmehr noch in der Angst vor Rache und Vergeltung. Das Ende der natio­ nalsozialistischen Herrschaft war unaufhaltsam. Die an sich unheilvolle Maxime der Siegermächte von der bedingungslosen Kapitulation und die angedrohte Bestrafung der Kriegsverbrecher machten die intellektuell meist beschränkten ss-Wachen unsicher. Den Delegierten des ik war, als echten Schweizern, forsches Auftreten durchaus geläufig. Es gelang ihnen, so manchen Lagerkommandanten einzuschüchtern oder davon zu überzeugen, dass die Zulassung von Lebensmittelpaketen in dessen eigenem Interesse liege. So konnten wir in Genf vom System der Einzelpaket- auf Sammelsendungen übergehen, und zwar zu Händen der einzelnen Vertrauensmänner der einzelnen Nationalitäten in den Lagern. Deren Empfangsbestätigungen langten verhältnismäßig pünktlich ein. Den Anfang machte glaublich das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück. Im Herbst 1944 gelang es dort dem ik-Delegierten vom Kommandanten die Erlaubnis zur Expedition von Medikamentenpaketen ohne individuelle Adressierung zu erwirken. Gefangene Ärztinnen bestätigten den Empfang. Ab September 1944 konnte ein dauernder Kontakt zwischen ik-Delegierten und den Kommandanten folgender Lager hergestellt werden  : Dachau, Buchenwald-Weimar, Natzweiler, Ravensbrück, Sachsenhausen-Oranienburg. Dabei kamen merkwürdige Dinge ans Licht. – So wurden, beispielsweise, im Sinne der Hitler’schen Rassenbesessenheit die kz-Insassen je nach Nationalität verschieden behandelt. Am besten erging es noch den »nordischen« Rassen. Von den in Sachsenhausen ungefähr 1 800 internierten Norwegern soll kaum einer umgekommen sein. Den Holländern ging es, auch was die Tagesration betraf, verhältnismäßig besser als den Franzosen und Belgiern. Am schlechtesten waren die Polen und Tschechen dran, gar erst die Zigeuner. Letztere wurden einfach umgebracht  – so wie die Juden. Eigens zu diesem Zweck waren die Vernichtungslager bestimmt. Am 2. Oktober 1944 hatte das ikrk zugunsten

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der Schutzhäftlinge einen neuerlichen Appell an die deutsche Regierung in der Form einer Message des Präsidenten Max Huber an Reichsaußenminister von Ribbentrop gerichtet. Mit Datum 1. Februar 1945 kommt die Antwort  : gestattet wird, was bereits seit eineinhalb Jahren gehandhabt wird – die Paketzustellung an namentlich bekannte Häftlinge  ; »aus Gründen der nationalen Verteidigung« wird jedoch der Lagerbesuch durch Rotkreuz-Delegierte nicht zugelassen. Der Bescheid der Reichsregierung ist auch in anderen Punkten  – z. B. Rechtshilfe für Schutzhäftlinge und Heimschaffungen – unbefriedigend. Das ik protestiert unverzüglich und in scharfer Form (15. Februar 1945) – natürlich erfolglos. Am 16. Februar 1945 treffen in Genf alarmierende Meldungen der Berliner ikDelegation ein. Das »Oberkommando der Wehrmacht« hat die Evakuierung der im Osten gelegenen Kriegsgefangenenlager angeordnet. Man muss sich nun die um diese Zeit in Deutschland herrschenden Zustände vor Augen halten. Von Osten und von Westen stürmen siegreiche Armeen gegen die Reichsmitte vor. Bald werden die russischen Truppen Polen, Ostpreußen und Schlesien überrannt haben. Dort befinden sich zahlreiche Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager. Um zu verhindern, dass Schutzhäftlinge in die Gewalt des Feindes fallen, werden die Gasöfen auf Hochtouren gejagt. Was nicht rechtzeitig auf diese Weise zum Verschwinden gebracht werden kann – die Welt soll keine Spuren der Judenausrottung vorfinden  ; mehr als zweitausend Körper kann eine Gaskammer im Tage nicht bewältigen, und der zur Endlösung Verdammten gibt es noch viele – wird »evakuiert«, das heißt möglichst weit weg von der Front fortgejagt. Evakuierung bedeutet Fußmärsche bei eisigem Wetter, für die kzler  : Todesmarsch. Unterernährung, unzulängliche Bekleidung, Zusammenbruch des Versorgungssystems, körperliche Züchtigungen, all’ das stellt an die wandernden Deportierten Anforderungen, denen sie physisch nicht mehr gewachsen sind. Angesichts dieser katastrophalen Situation informiert das ik ungesäumt die Regierungen Großbritanniens und der Vereinigten Staaten in der Person der Herren Eden und Stettinius und erbittet die sofortige Zurverfügungstellung von etlichen hundert Lastwägen und die entsprechende Menge Treibstoff, um die wandernden Kolonnen mit Lebensmitteln aus den ik-Depots (Lübeck, Wagenitz, Moosburg und Uffing) versorgen zu können. Ferner wird um Respektierung bei Luftangriffen der weißen, mit dem Roten Kreuz gekennzeichneten Transportmittel ersucht. Parallel läuft ein Versuch in extremis des Präsidenten (Max Huber hat sich sterbenskrank zurückgezogen) Carl. J. Burckhardt, an den obersten Verantwortlichen für die kz-Lager, Kaltenbrunner, heranzukommen. Am 14. März findet die Begegnung am Arlberg statt. Die alliierten Bomber machen das ganze Reichsgebiet unsicher. Bahnlinien und Straßen sind vielfach unterbrochen. Burckhardt stößt per Wagen bis an den Arlbergtunnel vor. Aus der Führerkabine einer Lokomotive taucht Kaltenbrunner auf. Zwei Männer, jeder markant in der gegensätzlichen Folgerichtigkeit, messen einander

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frostig, voreingenommen. Carl Jakob weiß einen Österreicher zu behandeln, auch ein negatives Kaliber wie den Schlächter Kaltenbrunner  : Er, Kaltenbrunner, Stellvertreter Himmlers, sei im Augenblick der Einzige, der das im Ausland verbreitete Bild seines Führers Adolf Hitler als hemmungsloser Ausbeuter der besetzten Gebiete richtigstellen könne. Das, was man über die Behandlung der Schutzhäftlinge in der Schweiz und den kulturellen Kreisen der neutralen Staaten höre, sei geeignet dem zivilisatorischen Ruf Deutschlands für Generationen einen bösen Stoß zu versetzen. Wollte Kaltenbrunner dem ikrk sein humanitäres Wirken in den kz-Lagern erleichtern, würde er damit dem Ruf Deutschlands vor der Geschichte einen Dienst erweisen. Was Kaltenbrunner an Ort und Stelle antwortete, ist mir nicht bekannt. Er versprach Entgegenkommen auf dem Gebiet der »Zivilinternierten« und machte Zusagen, die er in einem Brief vom 29. März umschrieb. Das von Burckhardt vorgebrachte Problem der Judenverfolgungen wird in völlig unverbindlicher und verlogener Form nur gestreift. Es wird kaum jemals geklärt werden, ob Kaltenbrunner die ihm unterstehenden Kommandanten der kz-Lager im Sinne der Burckhardt gemachten und brieflich bestätigten Versprechungen auch wirklich angewiesen hat, nämlich die Delegierten des ik in die Lager einzulassen unter der Bedingung, dass sie dort bis zu Kriegsende ausharren. Vielleicht hatte er in diesem späten Zeitpunkt, kaum zwei Monate vor dem Zusammenbruch, gar nicht mehr die Autorität oder die praktische Möglichkeit zur Weisungserteilung. Er flüchtete in die Berge, wurde von den alliierten Truppen verhaftet, nach Nürnberg geschafft und dort gehängt. Jedenfalls wollte keiner der Kommandanten der Lager, in die sich die ik-Delegierten einschließen ließen, einen entsprechenden Auftrag von ihrer vorgesetzten Dienststelle erhalten haben. Nur dem mutigen Auftreten der Delegierten ist es zu danken, wenn es zu einer der erstaunlichsten Lebensrettungsaktionen des letzten Krieges kam. Rettung im Chaos  ! Ungesäumt nach der Rückkehr von der Begegnung Burckhardt/Kaltenbrunner am Arlberg beschloss das ikrk, Delegierte zu suchen, die bereit wären, sich in einem kzLager »bis zur Einstellung der Feindseligkeiten« einschließen zu lassen. Der Gedanke auf deutscher Seite war offenbar der, dass nichts über die Vorgänge innerhalb dieser Lager bekannt werden durfte. Demgegenüber hoffte man in Genf, dass die Anwesenheit eines neutralen Zeugen die Liquidierung der noch am Leben befindlichen Häftlinge verhindern würde. Die sich der besagten Aufgabe widmenden Delegierten hatten naturgemäß die Perspektive vor Augen, dass die einfachste Weise, das Bekanntwerden der Vorkommnisse in der Weltöffentlichkeit in den Lagern zu hintertreiben, darin bestünde, sie selbst rechtzeitig umzubringen. Diese Möglichkeit schien ihnen umso wahrscheinlicher, je mehr sie, einmal in das Lager vorgedrungen, dort das Ausmaß der Gräuel wahrnehmen mussten. In Genf war man zunächst skeptisch, dass sich Männer finden würden, bereit, das Wagnis anzutreten. Ohne Schwierigkeiten fand sich das

Die IKRK-Delegierten Jean Briquet und Victor Maurer – Bericht aus Dachau

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gesuchte Dutzend Ärzte und Offiziere. Die Erfahrungen einiger dieser Helden sollen erzählt werden. Die IKRK-Delegierten Jean Briquet und Victor Maurer – Bericht aus Dachau Oberleutnant Jean Briquet wird am 18. April aus Uffing vom Chefdelegierten Dr. Marti nach Dachau abgefertigt. Denkbar schlechtester Empfang seitens des Lagerkommandanten ss-Gruppenführer Weiter. Dieser bestreitet, Instruktionen gemäß der Burckhardt/Kaltenbrunner’schen Abmachungen erhalten zu haben. Briquet bleibt fest, weigert sich, das Lager zu verlassen, erhält schließlich ein Zimmer in der ss-Kaserne angewiesen, wartet auf die versprochenen Lebensmittelpakete. Als diese nach zwei Tagen nicht eintreffen, fährt er die Wagenkolonne suchen. Die Aussicht, die berühmten Pakete zu erhalten, lässt die ss-Wache beim absprachewidrigen Verlassen des Lagers beide Augen zudrücken. Bei der Fahrt nach dem Hauptdepot Moosburg ein Luftbombardement. Auf dem Rückweg mit vollgeladenen Lastwagen begegnet Briquet einer Kolonne von rund achthundert Schutzhäftlingen, die aus dem im Norden gelegenen kz-Lager Buchenwald evakuiert worden sind. Sie wandern bereits drei Wochen, haben seit fünf Tagen nichts zu essen bekommen, sollen in das Lager Dachau, das als Auffanglager für evakuierte Schutzhäftlinge bestimmt ist. Als die verhungernden Häftlinge der Wagenladung ansichtig werden, entsteht ein Tumult. Mit größter Mühe gelingt es, eine Plünderung der Wagen zu vermeiden. Die russischen Häftlinge, mit kaum ein paar Fetzen bekleidet, sind die wildesten, stürzen sich wie Tiere auf die Nahrung. Die Franzosen und Polen, obwohl auch zu Skeletten abgemagert, halten sich abseits, warten mit Würde, bis sie an die Reihe kommen  ; sie erklären, die Russen seien die bedauernswertesten  : Sie seien von ihrer Heimat verlassen worden, Stalin habe ja seinen Soldaten bei Todesstrafe verboten, sich kriegsgefangen zu erklären. Briquet wundert sich, dass so viele unter den Russen nur einen Arm haben. Zum ersten Mal seit fünf Tagen etwas zu essen  ! Die Dankbarkeit ist unbändig. Jean Briquet kehrt am 27. 4. 1945 nach Dachau zurück. Die Amerikaner sind nicht mehr weit entfernt. Die Stimmung in der Lagerleitung hat sich der geänderten Windrichtung angepasst. Die große Angst ist eingekehrt. »Hier die Liste der 15 936 Franzosen, Briten, Belgier, Holländer und Amerikaner, die im Lager bleiben. Die Deutschen, Österreicher, Russen und Italiener werden evakuiert.« So der Adjutant des Lagerkommandanten, Herr Weiter ist verduftet. Briquet fährt den Evakuierten nach. Vor Pasing holt er eine Kolonne von Frauen ein. Achterreihen. Auf beiden Seiten gehen ss-Wachen mit Hunden. Briquet will wissen, ob sich Franzosen in der Kolonne befinden. Eine ss-Wache bestreitet dies. Es seien alles Juden. Das ist genauso eine Lüge wie die

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Antwort auf die Frage, ob die Frauen Lebensmittel mithätten »für drei Tage«. Faktisch haben sie nichts bei sich. Briquet fährt nach Uffing mehr Pakete holen. Er stößt bei Starnberg auf eine endlose Kolonne Gefangener. Sie singen slawische Lieder. Die Kolonne ist viele Kilometer lang, also Zehntausende, vielleicht mehr  ! Die Wachsoldaten mit Gewehren und wieder mit Hunden. Von Zeit zu Zeit hört man einen Schuss. Unmittelbar vor Starnberg ein Haufen von Leichen. Alle jene, die nicht mehr weiter können, werden niedergeschossen. Es regnet in Strömen und ist kalt. Briquet fährt nach Uffing, Pakete für diese große Kolonne holen. Dr. Marti schickt an Briquets Stelle Dr. Victor Maurer nach Dachau, um dort bis zur Einstellung der Feindseligkeiten auszuharren. Briquet kehrt mit fünf beladenen Wagen um, will die große Kolonne suchen, findet sie aber nicht  ; bloß der Straße entlang mehr Leichen und einige völlig entkräftete Häftlinge. Seine Wagenkolonne wird von einer Masse fliehender deutscher Truppen aufgehalten. Ihre Panzer bleiben im Kot stecken. Briquet kommt nicht weiter, kehrt um Weisungen einholen. Dr. Marti sagt ihm ein Zug mit circa 2 500 Juden befände sich in Bernried. Dringende Versorgung sei erforderlich. Diesmal gelingt es. Die Lastwagen fahren bis an den Zug heran. Die Pakete werden durch die Fenster den Insassen zugeworfen. Inzwischen gelangt Dr. Maurer nach Dachau. Wieder ist die Stimmung anders. Entgegen den Briquet gemachten Zusagen wird Maurer der Zutritt in das eigentliche Lager verweigert. Nur Kaltenbrunner könne dies erlauben – und der befinde sich in der Nähe von Linz. Als nichts nützt, spielt Dr. Maurer wieder die gute Karte aus  : die Lebensmittelpakete. Scheinbar steht es mit der Versorgung sogar der Lagerwachen nicht allzu brillant. Ein Leutnant Otto zeigt sich plötzlich entgegenkommend, Maurer wird in das eigentliche Todeslager eingelassen. Die Wirkung bei den Häftlingen ist unbeschreiblich. Sie wissen, dass es die Rettung vor dem erwarteten Tod ist. Euphorie packt sie. Die urplötzliche, unerwartete Öffnung des Kerkers, der ihr Grab werden sollte, entfesselt hemmungslose Gier nach Zerstörung, nach Rache. Der Delegierte Maurer sieht sich vor eine neue Situation gestellt. Er war gekommen, im Lager bis zur Einstellung der Feindseligkeiten auszuharren, um damit die Tötung der überlebenden Häftlinge zu verhindern. Die vorgefundene Situation droht in eine Umkehrung der Rollen auszuarten. Die Häftlinge werden aus Gejagten zu Jägern, aus Beraubten zu Räubern. Das bisher im Lager Vorgefallene ist allerdings so unvorstellbar, dass die Menschen zu allem fähig sind. In einem jüngsten Transport von 5.000 Evakuierten aus Buchenwald waren 2 700 Tote. Dr. Marti und Jean Briquet entdeckten den schrecklichen Zug in einer Entfernung von einem Kilometer von Dachau. Vierzig Viehwaggons, die Leichen teils liegend, teils in sitzender Stellung, ohne sichtbare Wunden. Maurer erfährt, dass im Lager Dachau allein seit 1. Januar 15 000 Häftlinge an Typhus gestorben seien. Wie viele gibt es eigentlich noch in Dachau  ? Die Zahl von angeblich 40 000 erklärt sich aus dem Zustrom der aus anderen Lagern Evakuierten. Maurer konstatiert, dass ein Großteil der Wachen, Offiziere und Mann-

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schaften, das Lager verlassen haben. Es bleiben nur noch 130 Mann und ein Offizier namens Wickert. Maurer befürchtet, dass 40 000 der Hölle von Dachau Entronnene die Wachen überwältigen, die Tore öffnen und sich hungrig, plündernd, vielleicht mordend auf die umliegenden Dörfer und Höfe stürzen. War nicht vor wenigen Tagen der dem kz-Lager Türkheim zugeteilte ik-Delegierte Hort von einer Gruppe von Russen gefangen genommen und in eine Hütte gesteckt worden  ? Die entsprungenen Häftlinge hatten dort hunderte Kilos von geraubtem Schmalz und Butter angehäuft. Maurer veranlasst, dass der Leutnant Wickert mit seinen paar Mann so lange ein Ausbrechen der Häftlinge verhindert, bis es gelingt, mit den bereits in der Nähe befindlichen amerikanischen Truppen Verbindung aufzunehmen. Maurer ergreift einen Besenstiel, knüpft daran ein weißes Tuch und stürmt einer motorisierten Kolonne entgegen. Er veranlasst die Amerikaner das Lager so rasch als möglich zu besetzen. Es fallen einige Schüsse. Viele Häftlinge haben sich Waffen angeeignet, sind gewillt, auszubrechen und an der deutschen Bevölkerung Rache zu nehmen. Wie berechtigt Maurers Furcht vor der entfesselten Wut gewisser kz-Häftlinge war  – darunter gab es ja auch gemeine Verbrecher  –, lernte ich verstehen, als ich selbst bald darauf Mauthausen aufsuchte. [Siehe auch Dokumentarteil. Anmerkung der Hg.] Gruppen von eben erst befreiten kzlern zogen durch die Wälder und überfielen einzelstehende Gehöfte, sich für die in Mauthausen und Gusen erlittenen Grausamkeiten schadlos zu halten. In Linz brachte ich in einer von unserer Delegation aufgestöberten, unverbombten Wohnung eine schlaflose Nacht zu. Etwas Unheimliches lag in der Luft. Ich entdeckte hinter einem Vorhang ein Paar hohe Stiefel, wie sie die ss trug. Sie gehörten dem angeblich verreisten Wohnungsinhaber. Ich spürte aber seine Anwesenheit. Tags darauf erschien ein französischer Verbindungs- und Heimschaffungsoffizier, wollte wissen, dass der Wohnungsinhaber ein berüchtigter Schläger und Mörder des Lagers Mauthausen sei. Französische kzler hätten ihn angezeigt und wollten ihn hängen sehen. Aber nur die Amerikaner als Besetzungsmacht von Oberösterreich seien befugt, Verhaftungen vorzunehmen. Der Mann war natürlich inzwischen verschwunden. Die IKRK-Delegierten Louis Haefliger und Charles Steffen – Bericht aus Mauthausen Es ist das Verdienst des Delegierten Louis Haefliger, wenn die Insassen von Mauthausen gerettet und ferner die benachbarten Lager Gusen I und Gusen II im allerletzten Moment vor dem Tod durch Sprengung der unterirdischen MesserschmittFlugzeugwerke bewahrt wurden. In den beiden Lagern von Gusen allein gab es rund 40 000 Häftlinge. Mit Mauthausen hatte die das die übelsten Erfahrungen gemacht. Wiederholte Versuche mit unseren Paketsendungen scheiterten am Verdacht, dass der

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Inhalt von den ss-Wachen geplündert wurde. In der Folge stellte es sich heraus, dass es in Mauthausen nicht minder blutig zugegangen war wie in den Vernichtungslagern in Schlesien und Polen. Der Kommandant Standartenführer Franz Ziereis ging seinem Regiment von ss-Schlächtern beispielgebend voran. Er hat persönlich 30 bis 40 Häftlinge täglich mit Nackenschuss getötet. Dem ik-Delegierten gegenüber rühmte er sich mit der Behauptung, eigenhändig über 4 000 Personen umgebracht zu haben  ; sein Adlatus Bachmaier habe aber weit mehr Menschen zur Strecke gebracht. Ein anderer, Seidler260, fabrizierte Bucheinbände aus Menschenhäuten. »Das«, fügte Ziereis hinzu, »habe ich dann doch nicht gemacht  !« Der Lagerkommandant öffnete vor dem ik-Delegierten eine Schublade, zog einige Pistolen hervor, dann ein Etui, ebenfalls mit Revolver. Geradezu liebevoll strich er mit der Hand über die Waffe  : »Das war meine liebste, die hat mir die besten Dienste geleistet  !« Mit solchen Leuten hatten es also zunächst Dr. Rübli, dann Charles Steffen und Louis Haefliger zu tun. Wie zu erwarten, wollte Ziereis keine Weisung betreffend das Abkommen mit Kaltenbrunner erhalten haben. Eine erste Konzession wird erwirkt  : 750 Frauen und 67 Schutzhäftlinge, alles Franzosen, sollen aus Mauthausen heimgeschafft werden. Bei der Übergabe im Lager an den Delegierten wird eine Engländerin von der Wache derart misshandelt, dass sie einen Schädelbruch erleidet. Die ausgelieferten Frauen sind zu Skeletten abgemagert, zwei sterben bald nach Abfahrt aus Mauthausen Richtung Schweiz. Sechs werden nach Grenzübertritt auf dem Friedhof von Schulz bestattet. Charles Steffen verhandelt wegen einer weiteren Heimschaffung von 123 französischen Deportierten. Den Köder bilden wieder die Lebensmittelpakete der das. Zwischen Steffen und Ziereis entsteht ein Streit wegen der Empfangsbestätigungen. Während der ik-Delegierte die Unterfertigung durch die nationalen Vertrauensmänner der Deportierten fordert, verweigert der Lagerkommandant jeden Kontakt mit Schutzhäftlingen und betrachtet es als beleidigend, wenn das Rote Kreuz sich nicht mit der Unterschrift seines Adjutanten begnügt. Als schließlich die entlassenen Franzosen anstelle der abgeladenen Pakete verladen werden, haben die Fahrer Gelegenheit, den Feuerschein der Leichenverbrennungen zu sehen. Bald darauf verlässt Louis Haefliger die Schweiz mit neunzehn Lastwagen voll Paketen mit der Bestimmung, sich in Mauthausen definitiv einschließen zu lassen. In Kreuzlingen hatte er erfahren, dass Himmler die Tötung aller Schutzhäftlinge oder die Sprengung der Lager angeordnet habe. Haef­ liger konnte am Zustand der als lebende Kadaver in die Schweiz geretteten Schutzhäftlinge die Gefahr ermessen, die den Zurückgebliebenen droht. Er ist fest entschlossen, alles daranzusetzen, um sich den Eintritt in das eigentliche Mauthausener Lager, in »die Zitadelle«, zu erzwingen und dort zu bleiben. Mit Drohungen und Bluff gelingt es, Ziereis nach einer dreitägigen »Belagerung« zu überrennen. Haefliger wird eingelassen und bewohnt. Er sieht Tag und Nacht den Rauch dem Kamin des Krematoriums entsteigen. Er sieht, wie kzler sich von der Arbeit zurückschleppen und entkräftete

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Die Abbildung zeigt ein Foto aus Mauthausen, welches der Autor zeitlebens in seiner Brieftasche mit sich herumtrug. Genaues Datum und Herkunft des Fotos sind nicht bekannt.

Kameraden tragen. Er hört, wie ss-Wachen diesen leichenähnlichen Gestalten zurufen  : »Beeilt Euch, vorwärts, morgen lebt Ihr ohnedies nicht mehr  !« Es gelingt Haefliger, seinen Zimmergenossen, Obersturmbannführer Reimer, im Zivil Bankbeamter wie er selbst, für sich zu gewinnen. Auf diese Weise erfährt er allerlei, so, wie die Pakete des ik von den ss-Wachen ausgeraubt wurden, aber auch, dass es in den benachbarten Lagern Gusen I und II ungefähr 60 000 Männer, Frauen und Kinder gäbe. Dort befanden sich die unterirdischen Messerschmitt-Flugzeugfabriken. Als Arbeiter sind zum großen Teil Schutzhäftlinge eingesetzt. Es mangelt an Kleidung, Nahrung und an ärztlicher Fürsorge. Bis zu fünf Kranke sollen auf einem Feldbett liegen. Haefliger erfährt auch von Reimer, dass 24 Tonnen Dynamit in den Messer­schmitt-Werken verteilt worden sind. Beim Nahen des Feindes soll der Komplex mitsamt den Häftlingen in die Luft gesprengt werden. Haefliger stürzt zu Ziereis, verlangt eine sofortige Konferenz mit dem Kommandanten der Flugzeugwerke von Gusen. In dessen Gegenwart fährt er Ziereis an  : »Sie müssen unverzüglich den Auftrag zur Sprengung von Gusen zurücknehmen  ! Hier und sofort  !« Wider Erwarten bestreitet Ziereis gar nicht die Sprengungsabsicht, verteidigt sich bloß mit der Behauptung, nicht selbst den Befehl erteilt zu haben  ; er habe deshalb auch nicht die Macht, denselben zurückzunehmen. Der Kom-

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mandant von Gusen bestätigt die Details  : Beim Annähern – sei es der russischen, sei es der amerikanischen Truppen – soll der gesamte Fabrikskomplex im Ausmaß von 50 000 Quadratmetern, einschließlich der Arbeiter in die Luft fliegen. Die Schilderung des Planes erfolgt mit sachlicher Objektivität, als handle es sich um die Abwicklung eines beliebigen Lieferungsvertrags und nicht um das Leben von Zehntausenden. Haef­liger packt Ziereis beim Ehrgefühl des Offiziers. Dieser Sprengungsauftrag sei ein Schandfleck auf dem Ehrenschild der deutschen Armee. Ziereis wird unsicher, will nur nichts Schriftliches hergeben. Haefliger ergreift das Papier mit der vom Leiter des Wirtschaftsamtes der ss, Oswald Pohl, gezeichneten Sprengungsorder und schreibt darauf  : »Von Standartenführer Ziereis mündlich widerrufen, gez. Haefliger«. Gusen wurde nicht gesprengt. Mauthausen wurde von amerikanischen Panzern befreit, die herbeizurufen es Haefliger gelang. Ähnlich wie in Dachau verlief die Übergabe der Lager nicht ohne Zwischenfälle. Ziereis war zwar mit dem Großteil der ss-Wachmannschaft und ss-Offizieren rechtzeitig abgezogen, dennoch wurde geschossen. Häftlinge bemächtigten sich der Waffen der ss, plünderten ihre Wohnungen und die Kommandantur. Haefliger selbst wurde ausgeraubt. Es blieb ihm als Andenken nur das Taschentuch, das er an einen Stecken gebunden und zum Heranwinken der Amerikaner verwendet hatte. Während in Mauthausen die Ordnung halbwegs hergestellt werden konnte, kamen die Amerikaner nicht rechtzeitig nach Gusen. Tausende Häftlinge brachen aus. Durch Wochen wurde die Bevölkerung in der Umgebung terrorisiert. Die Tatsache aber bleibt bestehen, dass rund 60 000 Häftlinge der obigen drei Lager nicht, wie angeordnet, umgebracht worden sind. Haefliger erntete keinen Dank. Er hatte den sehr strengen Grundsätzen des ikrk zuwidergehandelt, als er durch das Heranrufen amerikanischer Truppen sich in eine militärische Operation eingeschaltet hatte. War Haefliger sich dieser Neutralitätswidrigkeit bewusst  ? Die Überzeugung, Zehntausenden das Leben gerettet zu haben mag seinem allfälligen Gewissenskonflikt den Boden entzogen haben. Neue Aufgaben erwarteten die Lebensmittelpakete des ikrk, als die im Norden gelegenen kz-Lager vor den nahenden russischen Armeen evakuiert wurden. Das eigentliche Verdienst für die Aktion im Forst Below gebührt den ik-Delegierten, die in letzter Minute den aus Oranienburg auf den berüchtigten Todesmarsch abeskortierten und verhungernden kzlern zur Hilfe kamen. 19. April 1945. Die Berliner ik-Delegation, unter Leitung Dr. Lehners und mit Sitz in Wagenitz, erfuhr, dass die Gestapo angeordnet hat, die Identitätspapiere und Karteikarten der in Oranienburg-Sachsenhausen angehaltenen Schutzhäftlinge zu vernichten. Das bedeutete höchste Alarmstufe  : Vergasung oder Evakuierung. Lehner schätzte die Zahl der Lagerinsassen auf 30 ooo bis 40 000 Personen ein. Er erzwang sich eine Vorsprache in Berlin beim obersten Kommandanten der kz-Lager, Gruppenführer Müller. Unter Berufung auf das Burckhardt/Kaltenbrunner’sche Abkommen fordert

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er sofortigen Einlass in die Lager. Müller  : »Die Russen sind bereits zehn Kilometer von Oranienburg, wie wollen Sie oder Ihre Delegierten da überhaupt hinkommen  ?« – »Das ist unsere Sache  !« Müller redet sich auf den unerreichbaren Himmler aus. Unverzagt und bewaffnet mit einem Einführungsbrief des Präsidenten Carl J. Burckhardt an Obersturmbannführer Höß261, fährt der Delegierte Willy Pfister nach Oranienburg los. Es handelt sich um den gleichen Höß, der vormals in Auschwitz, zum Kommandanten von Oranienburg avanciert ist. Wegen eines Luftangriffs kann Pfister Wagenitz erst um drei Uhr früh verlassen. Der Exodus der Schutzhäftlinge hat bereits unter strömendem Regen begonnen. Voran 5 853 Frauen  : deutsche, tschechische, polnische und russische in Gruppen von 500. Vor dem Abmarsch haben 26 000 Häftlinge als Wegzehrung ein Kilogramm Brot für fünf Personen erhalten. Für die letzten 6 000 bleibt nichts übrig. Unter der begleitenden Wachmannschaft befinden sich gemeine Verbrecher, denen aus Personalmangel ss-Uniformen angezogen worden waren. Insgesamt wurden 36 687 Häftlinge evakuiert. Woher die genauen Ziffern  ? Ein jugoslawischer Vertrauensmann, dem die Verbrennung aller Lagerdokumente übertragen worden war, hatte das Material in einem bald darauf von russischen Truppen entdeckten Koffer versteckt. Dort war auch festgehalten, dass im letzten Monat allein im Krematorium 4 300 menschliche Kadaver verbrannt worden waren. Dreitausend Häftlinge wurden im Lazarett zurückgelassen. 33 000 wandern also Richtung Wittstock. Die ss warnt  : Wer die Marschkolonne verlässt oder zurückbleibt wird erschossen. Pfister kehrt nach Berlin zurück. Es geschieht etwas Unerwartetes. Im Büro der Delegation läutet das Telefon  : »Hier Obersturmbannführer Höß. Auftrags des Reichsführers Himmler wurden die Schutzhäftlinge von Oranienburg Richtung Wittstock evakuiert. Hundert Kilometer zu Fuß  ! Ich nenne Ihnen die Etappen. Die Rationen sind ungenügend. Wir rechnen mit Ihren Paketen. Ich lege besonderen Wert auf Letzteres  !« – Ausreichend Pakete befinden sich aber weit weg  ; in Lübeck  ! Glücklicherweise gibt es in Wagenitz fünftausend Colis des War Refugee Board und dreitausend amerikanische. Am 21. April verlässt Willy Pfister Wagenitz. Er stößt auf französische Deportierte und beginnt mit der Verteilung. Er hört, dass die ss bereits mit dem Erschießen von ermüdeten Nachzüglern begonnen hat. Der Delegierte wird bestürmt, er möge die Nacht bei den Kolonnen bleiben  – als Schutz  ! Pfister muss, nachdem er seinen Vorrat erschöpft hat, zurück, mehr Pakete holen. Nächsten Morgen ist er wieder bei den wandernden Trecks. Er entdeckt die ersten zwanzig erschossenen Wanderer. Kopfschüsse. Je weiter er fährt, desto zahlreicher werden die Leichen im Straßengraben. Im Walde, wo die Häftlinge gerastet hatten, finden sich Leichen, halb verkohlt im Lagerfeuer. Pfister protestiert bei den Kommandanten der einzelnen Gruppen, weist beschwörend auf das Unmenschliche des Vorgehens der ss hin  ; erhält zur Antwort  : »Wir töten aus Mitleid, wir sind humaner als das Rote Kreuz, das das Leiden dieser Entkräfteten mit seinen Paketen unnütz verlängert  !« In vier Tagen und

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Nächten, die Pfister mit der Versorgung der sich hinschleppenden Häftlinge verbringt, hat er mehrere Hundert Hingeschlachtete gezählt. Ein anderer Delegierter, Albert de Cocatrix, löst Pfister ab. Er stößt auf weitere Trecks in jammervoller Verfassung. Die Leute haben als einzige Nahrung einige rohe Weizenkörner erhalten. Andere hätten einige Kartoffel bekommen, die ihnen aber von russischen Häftlingen gewaltsam fortgenommen worden seien. Cocatrix gerät in eine wilde Kontroverse mit einem ss-Feldwebel, der sogar die Pistole herauszieht. Aber das forsche Auftreten der ik-Delegierten hat doch eine erstaunliche Wirkung  ! … [Die Hg. fanden dieses Kapitel nur als unvollendetes Fragment im Nachlass des Verfassers vor. Anmerkung der Hg.] Fragen des Gewissens  : Die Fälle Weizsäcker und Saly Mayer Anmerkung der Hg. M.-A.: Schwarzenberg verfasste dieses Kapitel unter dem Eindruck des Buches »While Six Million Died« des amerikanischen Journalisten Arthur Morse stehend. Ein überlebendes Opfer des Holocausts und Empfänger jener von Schwarzenberg organisierten Hilfspakete des ikrk für die kzs, Henry Schloss, hatte Schwarzenberg in einem Schreiben Ende 1977 (siehe Dokumentarteil) darauf aufmerksam gemacht. Als Schwarzenberg sich Gedanken zu Weizsäcker machte, war die Frage nach der Verantwortung und dem Mitwirken von Mitgliedern des deutschen Außenamtes an den Verbrechen der Nazis an den Juden noch nicht ausführlich erforscht. Erst Christopher Brownings Dissertation »The Final Solution and the German Foreign Office« aus dem Jahr 1978 (Schwarzenbergs Todesjahr) zeigte deutlich auf, dass das Wissen um die Verbrechen gegen die Juden im deutschen Außenamt relativ weit verbreitet war, und das Amt konkret an diesen Verbrechen in der administrativen Durchführung hinsichtlich der behördlichen Erfassung und Vermittlung mitgewirkt hatte. Die von Eckart Conze et al. 2010 herausgegebene Studie »Das Amt und die Vergangenheit – Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik« führte diese Untersuchungen weiter und räumte mit der Mär des Deutschen Außenamtes als Hort des Nichtwissens und des Widerstandes gehörig auf. Ernst von Weizsäcker wird in Nürnberg am 25. Juli 1947 unter dem Verdacht, sich gegen den Frieden, das Kriegsrecht und die Humanität vergangen zu haben, verhaftet. Die Hauptverhandlung beginnt 1948. Sein Sohn Richard von Weizsäcker beteiligt sich als Assistent an der Verteidigung. Im April 1949 erfolgt die Urteilsverkündigung, und Weizsäcker wird zu nur sieben Jahren Haft verurteilt. Sein Ankläger Robert W. Kempner hatte gar die Todesstrafe für den der »unresisting resistance« schuldigen Weizsä-

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cker im Sinne. Doch das Klima des dräuenden Kalten Krieges setzte die Richter unter Druck, die laufenden Verfahren zu beschleunigen und einem Ende zuzuführen. »Das Gericht betrachtete gerade Weizsäcker als jemanden, der nicht nur aufgrund seiner hohen Stellung, sondern auch wegen seiner Parallelkontakte zu Widerstandskreisen vollauf über die ns-Politik informiert gewesen sei.«262 Schwarzenberg musste jedoch dem Wissensstand der späten Sechziger- und frühen Siebzigerjahre entsprechend annehmen, dass von Weizsäcker gemäß dem Nürnberger Urteil von 1948 als unwissend in der Frage um das Wie der »Mordtechnik«263 zu betrachten war. (Schwarzenberg interessierte sich hier mehr für Weizsäckers persönlichen Gewissenskonflikt hinsichtlich seines Verbleibs im Auswärtigen Amt unter der ns-Herrschaft.) Nach den neueren Forschungserkenntnissen ist der Verteidigungslinie Weizsäckers nicht ganz beizupflichten  : Conze et al. ziehen den Schluss, dass die Spitze des Auswärtigen Amtes, darunter auch Weizsäcker, ab September 1941 »[an] der Entscheidung über die ›Endlösung‹ direkt beteiligt [war]« und sogar »die Initiative zur Lösung der ›Judenfrage‹ auf europäischer Ebene« ergriff (Conze et al. 2010  : 185).264 Auch Weizsäcker war vom Massenmord an der jüdischen Bevölkerung, die zu diesem Zeitpunkt bereits in vollem Gange war, in Kenntnis gesetzt worden und trug die politischen Vorgaben die Juden betreffend in seiner Stellung als Staatssekretär von Anfang an widerstandslos mit (Conze et al. 2010  : 186).265 Als anfänglich, zum Beispiel, Berichte über die von der ss brutalst ausgeführte Deportation der Stettiner Juden im Januar 1940 in der ausländischen Presse auftauchten, wies das Auswärtige Amt an, »dass solche Aktionen ›in geräuschloser und vorsichtiger Form‹ ausgeführt werden sollten, um nicht die Aufmerksamkeit des Auslandes zu erregen«. (Browning 2006  : 106)266 Auch war das Auswärtige Amt – und auch von Weizsäcker – über die Sondereinsätze der ss-Einsatzgruppen bezüglich der Zahlen der von den Einsatzgruppen erschossenen Juden in der udssr in Kenntnis gesetzt worden. Diese rsha-Berichte (Reichssicherheitshauptamt) hatten auch detaillierte Informationen und Zahlenangaben bezüglich der Mordaktionen zum Inhalt. »Insgesamt elf ›Tätigkeits- und Lageberichte der Sicherheitspolizei und des sd in der udssr‹, die im rsha bis April 1942 verfasst und an Parteistellen, an die Wehrmacht und an einzelne Ministerien verteilt wurden, konnten nach dem Krieg in den Akten des Auswärtigen Amtes gefunden werden. […] Die Praxis des systematischen Judenmords war für das Auswärtige Amt von Beginn an kein Geheimnis.« (Conze et al. 2010  : 186)267 Weizsäckers Verteidigung des Nicht-Wissens und des Nicht-handeln-Könnens ist Folgendes von Browning angeführte Beispiel, das Schwarzenberg unbekannt war, entgegenzusetzen  : 2 400 in Paris weilende türkische Juden sollten März 1943 interniert und deportiert werden  ; »gerettet wurden sie jedoch durch den Einsatz eines einzigen Mannes, Wilhelm Melchers vom Nahostreferat der politischen Abteilung. Melcher bewies, was ein Einzelner mit dem richtigen Mut, dem richtigen Einfallsreichtum und der richtigen Entschlusskraft ausrichten konnte.«

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(Browning 2010  : 199)268 Melcher bedrängte seine türkischen Amtskollegen solange, bis die türkische Regierung ihre bedrohten Staatsbürger endlich aus den Fängen der ss und vor dem sicheren Tod evakuierte und in die Türkei verbrachte. Frühjahr 1938, als Hitler den »Anschluss« Österreichs an das Dritte Reich verordnet hatte, stand ich, in Berlin, vor schwerer Entscheidung. Sollte ich ins Ausland fliehen, meiner zweiten Heimat Österreich den Rücken kehren  ? – Einer in jeder Beziehung unsicheren Zukunft entgegen  ? Oder sollte ich dableiben, dem neuen Regime weiter dienen  ? Letzteres war nicht ohne den moralischen Vorbehalt einer mehr oder weniger geheimen Bekämpfung der usurpatorischen Regierung denkbar. Glücklicherweise nahmen mir die Umstände die Entscheidung ab  ; ich entzog mich der Verhaftung durch Flucht ins Ausland. Eine Reihe meiner bisherigen österreichischen Berufskollegen wurde in den deutschen Dienst übernommen  ; andere kamen ins kz. Kaum einer von uns glaubte, dass Österreich wiedererstehen würde. Der aus der Alternative »Dableiben oder Flucht« entstandene Gewissenskonflikt hat mich in allen diesen Jahren nicht in Ruhe gelassen. Der leichtlebige Idealist hat es leichter als der Schwerenöter. Gewissen und Schicksal sind unzertrennliche, oft zerstrittene Weggenossen. Von simpler Pflichterfüllung durch das Kampfgetümmel unerwarteter Widerlichkeiten bis zu den fernen Horizonten der Heldentat führt ein weiter Weg  ; ein herber Weg, immer dann, wenn Weib und Kind nicht alleingelassen werden dürfen. Dem Scheideweg sich nähernd, fragt man nach Schicksalsgenossen, nach Analogien, die der Selbstrechtfertigung dienen könnten. Immer haben mich die Gewissenskonflikte anderer fasziniert  ; fragte mich, wie ich sie gelöst hätte, maß sie an den meinen. Zwei solcher Konflikte will ich, als Beispiele, erzählen. Jeder in seiner Art ist erschütternd. Bloß die Wurzel, das Schicksal der Juden im Dritten Reich, ist ihnen gemein. Als ersten will ich den Fall Weizsäcker behandeln. Der ethische Aspekt verdient die Ausführlichkeit. Ernst Freiherr von Weizsäcker, Staatssekretär im deutschen Auswärtigen Amt von 1938 bis 1943, anschließend bis zum Kriegsende deutscher Botschafter beim Heiligen Stuhl, kam im sogenannten »Wilhelmstraßenprozess« in Nürnberg vor ein aus vier amerikanischen Richtern zusammengesetztes Militärgericht. Schaurig lautete die Anklage  : Weizsäcker »habe teilgenommen an Gräueltaten, einschließlich Mord, Ausrottung, Versklavung, Deportierung, Einkerkerung, Geiseltötungen, Tortur, Verfolgung aus politischen, rassischen und religiösen Gründen und an anderen kriminellen Handlungen gegen Deutsche und Zivilpersonen in den besetzten Gebieten, an Plünderung von öffentlichem und privatem Eigentum, leichtfertiger Zerstörung von Städten und Dörfern u.s.w.« Die Richter machten sich die Anklage nur in sehr eingeschränktem Ausmaß zu eigen. Weizsäcker kam schließlich mit glimpflicher Verurteilung davon. Weizsäcker war im Hitler-Ribbentrop’schen Dienst bis zum bitteren Ende verblieben, obwohl er, wie er in seiner Verteidigung und in seinen Erinnerungen

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ausführlich schildert, ein überzeugter Regimegegner war, die Beseitigung Hitlers anstrebte und nur deshalb auf seinen Posten ausharrte, weil er dem Frieden dienen und größeres Unheil verhindern zu können glaubte. Weizsäcker war sich bewusst, dass er es allein mit seinem Gewissen auszumachen habe, wie sein Weiterverbleib im Dienste eines von ihm verabscheuten, kriminellen Regimes mit der Loyalitätspflicht gegenüber seiner Regierung und mit dem Beamteneid vereinbar sei. Ist das Gewissen, so frage ich mich, alleiniger Richter zwischen Gut und Böse  ? Zwischen Lebenswichtigem und moralisch Vertretbarem   ? Zwischen anerzogener Ethik und zuwiderlaufendem nationalem Interesse  ? Allerdings, nur selten sind die Umrisse der Probleme völlig klar. Niemals sind irdische Dinge ganz schlecht oder ganz gut. Gleich dieser Welt, die zwischen Himmel und Hölle die Brücke bildet, gleich dem Waffenstillstand, der zwischen Krieg und Friede den Übergang schafft, so steht das Gewissen nur zu oft vor der Notwendigkeit, zwischen Ideal und Realität den Mittelweg zu wählen. Da sind wir beim Kompromiss angelangt, beim Tasten im fahlen Grenzraum des gerade noch Tragbaren. Die Frage lautet  : Wie weit darf ich gehen, ohne Drittrechte zu beeinträchtigen, ohne mehr zu verletzen als zu heilen  ? Wo verlaufen übrigens die dem Altruismus gesteckten Grenzen  ? Man bockt, wenn in angeblich karitativem Handeln ein gerüttelt Maß Egoismus entdeckt werden kann. Und wo liegt die Grenze zum Verrat an der Heimat, am eigenen Volk  ? Nicht jedermanns Sache ist es, den Gewissenskonflikt mit der lässigen Gebärde eines Talleyrand abzutun  : »Trahison  ? C’est une question de date  !« Den meisten von uns fehlt die Flexibilität des Geistes, die es dem französischen Staatsmann gestattet hat, als ein Stehaufmännchen unter gegensätzlichsten Regimen seinem Lande zu dienen. So etwas geht in Zeiten totalen Umbruchs. Eine Revolution reißt den Zwiespalt der Loyalitäten auf, zwischen Treue zum Vergangenen und Liebe zum gewandelten Vaterland. Tief ist die Schlucht zwischen dem aus politischen Gründen Ausgewanderten, zwischen dem Hugenotten, dem Royalisten, der seinem Souverän ins Exil folgt, zwischen dem, den Nationalsozialismus oder Faschismus flüchtenden Sozialisten oder Juden einerseits, und anderseits dem in der umgestürzten Heimat Zurückgebliebenen, der ausharrt, der untergetaucht weiterkämpft, seinem Gewissen folgend, um die Heimat gemäß seiner politischen oder religiösen Überzeugung von der oktroyierten Tyrannei zu befreien. Der Expatriierte, der Flüchtling, kann, wie die Geschichte es reichlich aufzeigt, im Ausland eine Restauration vorbereiten, er kann Kräfte sammeln, die den neuerlichen Umsturz in der Heimat herbeiführen und das in seiner Weltsicht hoch und heilig Gehaltene wieder aufrichten sollen. Der in der Heimat zurückgebliebene Kämpfer mag der heldenhaftere sein, riskiert er ja Leib und Leben. Für die erstere Haltung darf als ein Beispiel aus dem Zweiten Weltkrieg Charles de Gaulle angeführt werden. Mit geradezu aufreizender Zähigkeit hat der General aus der Fremde sein Frankreich wiederaufgerichtet. Auf dem anderen Pol stehen die Helden des 20. Juli, des Attentats

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auf Hitler, die Stauffenberg, von Stülpnagel, Schulenburg, von Hassell, Canaris, Stillfried u. a. m. Märtyrer ihrer Gesinnungstreue, beispielgebender Vaterlandsliebe. So schwer mir der Entschluss zum Verlassen meiner Heimat gefallen war, so lag in der Flucht aus Berlin gar nichts Heldenhaftes, vielleicht gar Feigheit. Während ich mich der Verhaftung und dem kz entzog, entschloss sich Herr von Weizsäcker trotz allem Widerstreben, auf seinem Posten auszuharren. Er hatte eines mir voraus  : Seine Heimat war nicht ausgelöscht worden, wie dies mit Österreich der Fall war. Deutschland mit seiner großen Vergangenheit existierte weiter. Dem Tyrannen galt der Weltkrieg, nicht dem Lande. Als Staatssekretär im Auswärtigen Amt war er an wichtigsten Staatsakten Hitler-Deutschlands beteiligt, wie u. a. am Münchner Abkommen, das er mit der Begründung begrüßte, es sei gelungen, territoriale Veränderungen auf dem Verhandlungswege herbeizuführen und damit einen Krieg zu vermeiden. Obwohl sein Chef, Ribbentrop, in allen wichtigen Dingen entscheidend war, so wusste doch der Staatssekretär um die meisten Entschlüsse und Verfügungen. Er wirkte mit an deren administrativer Durchführung. Vom Nürnberger Gericht wurde er, einigermaßen summarisch, wegen Mitwisserschaft, aber auch wegen Mitverantwortung für die Missetaten seiner Regierung verurteilt. Der Umstand, dass er weder zum Tode, wie die Hauptverantwortlichen, noch zu schwerer Kerkerhaft verurteilt wurde, beweist allein schon, dass die Richter ihm die Rechtswohltat der reinen Absicht zugebilligt haben. Das Urteil war nicht einstimmig. Das Sondervotum des dissentierenden amerikanischen Richters Leon W. Powers distanziert sich geflissentlich von der seitens der alliierten Regierungen lancierten Gesamtverdammung des deutschen Volkes. Die Verantwortlichkeit des Beschuldigten Weizsäcker prüfend, erklärt Richter Powers, es gäbe im positiven Strafrecht nur eine individuelle, durch eine bestimmte Handlung verursachte Schuld. Es gäbe keine kollektive Verantwortlichkeit. Diese grundsätzliche Feststellung verdient in meinen Augen umso mehr beherzigt zu werden, als sich durch die Weltgeschichte, wie ein ärgerlicher roter Faden, die menschliche Neigung hindurchzieht, einem ganzen Volk, einem bestimmten Stamm, die Schuld für die Handlungen Einzelner seiner Angehörigen aufzubürden. Es wäre demnach unrecht, wenn der Begriff der Solidarhaftung einer Nation für Verbrechen ihrer Bürger, oder ihrer Regierung, Allgemeingültigkeit gewänne. Unterschiedsloses Stigmatisieren eines Volkes ist ebenso ungerechtfertigt und aufreizend, wie einen Mitmenschen allein wegen seiner Rasse, Farbe oder Glaubenszugehörigkeit anzufeinden. Indem der amerikanische Richter in seinem Sondervotum vom Grundsatz der rein persönlichen Verantwortlichkeit ausgeht, verlangt er, dass zwecks Feststellung eines persönlichen Verschuldens das Gericht vom Ankläger den über allen vernünftigen Zweifel hinausreichenden Schuldbeweis verlangen müsse. Es genüge nicht, dem Gericht bloß die von der Staatsführung verübten Gräuel vor Augen zu führen  ; es müsse die aktive persönliche Mitwirkung des Angeklagten bewiesen

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werden  ; andernfalls werde der Beschuldigte eines Verbrechens halber verurteilt, mit dem er nichts zu tun hatte, ein Verbrechen das von Leuten begangen wurde, über die er selbst keine Kontrolle hatte. Der Freispruch von der Kollektivschuld mindert aber deshalb noch nicht eine mögliche individuelle Mitschuld, die Duldung des Verbrechens. Zu beurteilen, ob oder wann Duldung strafbar ist, das ist Sache des Gerichtshofs  ! Unter anderem wurde Weizsäcker von der Anklage seine angebliche Zustimmung zur Deportation von Juden vorgeworfen. Nach Ansicht des dissentierenden Richters Powers sei dies keineswegs erwiesen. Die Beweislast sei dem Ankläger zugefallen  ; dieser habe sie nicht erbracht. In dieser Richtung sei daher Weizsäcker freizusprechen. Was eine mögliche Mitwisserschaft Weizsäckers an der von Hitler angestrebten »Endlösung« betrifft – das ist die totale Ausrottung der Juden –, so gibt Richter Powers der Überzeugung Ausdruck, dass die zur Vernichtung der Juden führenden Maßnahmen derart gut vor der deutschen Öffentlichkeit geheim gehalten worden seien, dass kaum über einhundert Personen davon Kenntnis gehabt hätten. Zu dieser Annahme des amerikanischen Richters möchte ich einiges bemerken, und zwar aus meinen Erfahrungen beim ikrk in Genf, als Leiter der mit Lebensmittelsendungen an Deportierte und Häftlinge der Konzentrationslager betrauten Abteilung. Es ist richtig, dass es in Deutschland sogar gefährlich war, von der Judenverfolgung überhaupt zu reden. Der Umfang des Massenmordens, die hierbei gebrauchten Methoden wurden, im Inland wie im Ausland, erst nach dem Kriege bekannt. Andererseits konnte die Tatsache von Massendeportationen, nicht nur aus Deutschland, sondern aus Frankreich, Italien, Ungarn, Holland usw., nicht unbekannt bleiben  : Nicht unbeobachtet war die Verladung der in den besetzten Gebieten Verhafteten in Viehwagen, der lange Transport quer durch das Reichsgebiet nach Osten. Man fragte sich, ob denn die vielen Verhaftungen und Verbringungen wirklich nur dem Einsatz als Zwangsarbeiter, nur der Ersetzung der zum Kriegsdienst eingezogenen wehrfähigen Männer diente  ? Wozu aber Frauen, Kinder und Greise verbringen  ? Dann die Erzählungen der von der Ostfront heimkehrenden Soldaten. Offiziere berichteten mitunter im Familienkreis von den Gräueln, wie z. B. von der Liquidierung des Warschauer Ghettos. Daran hatten ja Wehrmachtsangehörige teilgenommen  ! Unter der Judenschaft im Reich wie in den besetzten Gebieten hatte es sich rasch herumgesprochen, dass die Deportierung nach dem Osten den Tod bedeute. Nur über das »wie« wurde gerätselt. Was Weizsäckers angebliche Verantwortlichkeit für die Judenverfolgung betrifft, so kann ihm wohl Mitwisserschaft, nicht aber Mitverantwortung angelastet werden. Wie steht es mit dem anderen Gewissenszwist, jenem der Loyalitätspflicht gegenüber der Regierung, in deren Dienst man steht – und verbleibt  ? Man hatte den Beamteneid geleistet. Mit zunehmender Radikalisierung der nationalsozialistischen Regierungsmethoden verstärkte sich in Weizsäcker der Drang, die nämliche Regierung zu bekämpfen, ja, Hitler als das eigentliche Hindernis des Friedens zu beseitigen. Dieser Wunsch, dem Frieden

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zu dienen und ärgeres Unheil zu vermeiden, veranlasste Weizsäcker, Wege zu beschreiten, die – wenn sie erfolgreich gewesen wären – ihn vielleicht zum Helden und Bewahrer jener ethischen Werte gestempelt hätten, die in der Vergangenheit dem Deutschtum den Ruf hoher Zivilisation eingebracht hatten. Aber Weizsäcker gab sich Illusionen hin  ! Zu den Versuchen des Staatssekretärs, Hitlers Amoklaufen zu bremsen oder, wie er es nannte, »den dämonischen Zug zur Katastrophe« aufzuhalten, gehörte der Kniff, hinter dem Rücken des von ihm verabscheuten Reichsaussenministers Ribbentrop ausländische Regierungen über die geheimen Pläne des »Führers«« zu informieren. Er tat dies in der Hoffnung, die gewarnten Regierungen würden ihrerseits Maßnahmen treffen, die Hitler vor weiteren Herausforderungen des Schicksals zurückschrecken lassen könnten. Dazu gehört Mut, zumal in einem Lande, wo den Offizieren  – und Weiz­ säcker war Marineoffizier – das Axiom vom blinden Gehorsam in den Gliedern steckt. Streng genommen lag Landesverrat vor. Für Charakter und Handlungsweise zweier Franzosen hatte Weizsäcker ein sympathisierendes Interesse  : für Talleyrand und Pétain. Beide waren in den Verruf des Landesverrats geraten. Talleyrand hatte auf dem Wiener Kongress Großartiges für das geschlagene Frankreich und für seinen König geleistet. Er hatte auch Napoleon gedient, an gehobenstem Posten. Weizsäcker distanzierte sich von Talleyrand, dem Opportunisten, weil er, um Napoleon loszuwerden, den Krieg gegen Frankreich herbeigewünscht und gefördert habe. Nie wäre er, Weizsäcker, so weit gegangen, obwohl auch er die Beseitigung Hitlers betrieben habe. Pétain hingegen bewunderte Weizsäcker. Der Maréchal habe im besten Glauben und in der Überzeugung, Frankreich zu retten, das Opfer seiner Person (»le sacrifice de ma personne«) erbracht. Weizsäcker war überzeugt, Pétain werde noch von der Geschichtsforschung die verdiente Rechtfertigung erfahren. Pétain blieb übrigens, zum Unterschied von Weizsäcker, bis zum Lebensende eingekerkert. 1943 ging Weizsäcker nach Rom. Setzte er sich ab, weil ihm der Boden zu heiß geworden war  ? War der Schritt zum Vatikan Defätismus  ? War es die Einsicht, in Berlin nichts erreichen zu können, oder war es einfach der Gewissensdruck des Doppelspiels  ? Indem Weizsäcker dem Papst die Argumente für die zu pflegende Zurückhaltung in Sachen Judendeportationen und Kirchenverfolgung lieferte, diente er den Interessen des Reichs. Zudem beruhigte er sein Gewissen  : Er konnte glauben, er habe den Bruch zwischen Berlin und Vatikan und überdies eine Verschärfung der Judenvernichtung hintangehalten. War er zu diesem illusorischen Glauben berechtigt  ? In Wirklichkeit hat er weder die Judenausrottung bremsen noch einen für Deutschland akzeptablen Kompromissfrieden herbeizuführen vermocht. Auf seinem Posten ausharrend, nährte er sich von Chimären und Hoffnungen. Befreit dies von aller Schuld  ? Voluisse sat est  ! Ist dem wirklich so  ? Mir bleibt die Frage  : Hätte ich wie Weizsäcker gehandelt  ? Ich fürchte, die Last des Gewissenskonfliktes wäre mir zu schwer geworden. Ich hätte es nicht ertragen, mitzumachen. Gern will ich Weizsäcker den Mut zubilli-

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gen, den ich nicht aufgebracht hätte. Er hat dafür gebüßt, dass er das Gewollte nicht erreicht hat und dafür, dass er geblieben war. Anmerkung der Hg. M.-A.: Die hier nachfolgende von Schwarzenberg erinnerte Gewissensfrage Mayers bezieht sich auf Verhandlungen, die der ungarische Jude Rudolf Kasztner mit den ss Männern Adolf Eichmann und Kurt Becher zur Errettung ungarischer Juden führte, denen Saly Mayer, Repräsentant des American Jewish Joint Distribution Committee (ajdc, »Joint«), im Sommer 1944 zugezogen worden ist. Rudolf Kasztner war der geschäftsführende Vizepräsident der Wa’ada (Wa’adat Esra weHazala), einem in Januar 1943 ins Leben gerufenen Hilfs- und Rettungskomitee, dem Dr. Ottó Komoly als Präsident vorstand. Bereits vor der Besetzung Ungarns durch die Deutschen hatte das Komitee jüdischen Flüchtlingen aus der Slowakei und Polen geholfen, nach Ungarn zu gelangen. Aufgrund einer Begegnung mit Oskar Schindler im November 1943 in Budapest – und spätestens seit Erhalt des Berichtes der slowakischen, von Auschwitz entflohenen Juden Rudolf Vrba und Alfréd Wetzler – wusste das Komitee von der systematischen Ermordung der Juden in Auschwitz. Durch Oskar Schindlers Besuch erfuhren Komoly und Kasztner u. a. jedoch, dass man jüdisches Leben durch Bestechung und Lösegeld retten konnte (Löb 2010  : 52–53)269. Dieses Komitee unternahm den »unwahrscheinlichen Versuch, die ›Endlösung‹ durch Bestechung und Irreführung der ss aufzuhalten. Jede der beiden Seiten bemühte sich, die andere mit List, Betrug und Bluff auszumanövrieren – die Juden, um Leben zu retten, die Deutschen, um zu rauben und zu morden. […] Die ss versprach Zugeständnisse und kassierte Lösegeld ein, während die Züge nach Auschwitz fuhren.« (Löb 2010  : 50)270 Der ss-Offizier Kurt Becher bekam im Juli 1944 von Himmler den Auftrag, die Auslöse ungarischer Juden mit Kasztner zu verhandeln. Bald darauf verhandelten die von Himmler auserkorenen ss-Leute auch direkt mit Saly Mayer, dem Vertreter der jüdischen Hilfsorganisation in der Schweiz. 318 ungarische Juden kamen selbst im August 1944 noch auf diese Weise in die Schweiz. Der ursprüngliche Zug erreichte erst im Dezember 1944 die sichere Schweiz mit weiteren 1 670 Passagieren. (Erst am 6. Dezember 1944 gab Adolf Eichmann grünes Licht für die bis dahin in Bergen-Belsen festsitzenden Geiseln zur Weiterfahrt in die Schweiz.) Derweil wurden 437 000 der rund 800 000 ungarischen Juden in Güterzügen unter unmenschlichsten Bedingungen nach Auschwitz deportiert, wo die meisten sofort vergast wurden. Zwischen 21. und 24. August 1944 war der Befehl Himmlers, die weitere Deportation von Juden aus Budapest anzuhalten, ergangen. Dieser Befehl sollte zu Spekulationen über die Rolle der ungarischen Gemeinde bei dem Versuch Himmlers, mit den Alliierten heimlich hinter Hitlers Rücken zu verhandeln, führen. Zu diesem Zeitpunkt befanden sich allerdings nur noch wenige Juden in Budapest, die meisten waren bereits nach Auschwitz deportiert worden. Ein kleinerer Teil wurde in den später bekannt gewordenen Todesmärschen

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nach Österreich gebracht bzw. an der Reichsgrenze zu Ungarn im Bau des sogenannten Südostwalls eingesetzt. Der Historiker Yehuda Bauer zieht den Schluss, dass »Mayers Versuche, die Juden unter den Schutz des Roten Kreuzes zu stellen, den in Skandinavien im Februar und März in der gleichen Absicht unternommenen Schritten und der neuen Einstellung des ikrk entsprachen. Saly Mayer informierte Dr. Carl Burckhardt über den ganzen Verlauf der Verhandlungen und bat ihn um seine Intervention.« (Bauer 1977  : 215)271 Es kam zu einem Treffen Burckhardts mit Kaltenbrunner und einer Intervention des ikrk in Deutschland zugunsten der kz-Häftlinge. Inwieweit dies mit Mayers Verhandlungen zusammenhing, bleibt allerdings offen. »Saly Mayer verstand es sehr gut, die zunehmende Schwäche der Nationalsozialisten im Sommer 1944 auszunützen, indem er die Verhandlungen, die mit [ Joel] Brand als dem Vertreter von Eichmanns Forderung nach Lastwagen begonnen hatten, auf das Thema ›Geld‹ und von der Geldfrage auf die Frage der Versorgung der Juden durch Vermittlung des Roten Kreuzes verlagert hatte. Die Verhandlungen selbst hatten zweifellos zu einer relativen Mäßigung des Verhaltens der ss gegenüber den Juden beigetragen, was zur Einstellung der Massenvergasung führte, wenngleich der Hauptgrund für diesen Wandel sicher die fortschreitende Verschlechterung der deutschen Lage war.« (Bauer 1977  : 217)272 (Siehe auch die Beiträge von Rathkolb und Miller-Aichholz im Dokumentarteil.) Als zweiten Gewissensfall erzähle ich ein Intermezzo aus meiner Genfer Rotkreuzperiode. Der orthodoxe Jude Saly Mayer aus St. Gallen war Vertreter in der Schweiz des Joint Distribution Committee und Treuhänder der von dieser mächtigen amerikanischen Organisation für Judenhilfe und -rettung aufgebrachten Gelder. Ich stand in dauerndem Kontakt mit diesem gütigsten aller Menschen und Freunde. Er reiste mindestens einmal die Woche nach Genf, kam zu uns essen, brachte aber sein koscheres Fleisch mit, denn in Genf gab es keine entsprechende Fleischhauerei. Am Sabbath benutzte er weder Eisen- noch Straßenbahn. Das Internationale Rote Kreuz hatte im Rahmen seiner Hilfsaktionen für Deportierte und kz-Häftlinge dorthin, wo es überhaupt möglich war, Geld oder Lebensmittelpakete gesandt, so zum Beispiel an sich verbergende Juden z. B. in der Slowakei oder an gewisse Konzentrationslager wie Theresienstadt. Auch versuchten wir Lebensrettungsaktionen  ; die wenigsten allerdings mit Erfolg. Eines Tages, es war Spätherbst 1944, kam Saly Mayer zu mir ins Büro. Der schon bejahrte und eher beleibte Mann sah verstört aus. »Was ist denn los, Saly  ? Ist Ihnen nicht wohl  ?« »Ich brauche Ihren Rat. Ich kann mich nicht zu einem Entschluss durchringen. Ich komme von drüben, aus Deutschland.« »Wie ist das möglich  ? Sie, ein Jude, begeben sich aus der sicheren Schweiz in die Fänge ihrer Todfeinde  ?« Da erzählte mir Saly das Vorgefallene  : Er sei von einem Vertreter Himmlers aufgefordert worden, von Basel hinüber auf deutsches Gebiet zu kommen, wo ein hoher

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ss-Offizier ihm wichtigste Vorschläge für die Judenrettung machen werde. Saly zögerte keinen Augenblick – er war Schweizerbürger – und begab sich über den Rhein. In einem großen geschlossenen Auto erwartete ihn ein General in ss-Uniform. Ein Revolver hing am Gurt. Salys erste Bemerkung, bevor er sich in den Wagen setzte  : »Sie sind mit einem Revolver bewaffnet, während ich völlig wehrlos mich in Ihre Hände ausliefere.« Darauf steckte der General den Revolver in die Rocktasche. Der General kam zur Sache  : »Ich bin ermächtigt, Ihnen gegen die Bezahlung von 14 Millionen Schweizer Franken die Zusage zu machen, dass die vom Führer gewollte totale Vernichtung der Juden per sofort eingestellt werde.« Saly fragte nach Garantien. »Mein Wort als General  !« Saly erklärte, er müsse wegen so einer bedeutenden Summe mit seinen Geldgebern Fühlung nehmen, und ersuchte um Bedenkzeit. Der General konzedierte dem Basler Juden eine kurze Frist und entließ ihn »gnädigst«. Meine erste Frage an Saly Mayer lautete  : »Haben Sie das Geld, Saly  ?« »Ja, nicht nur verfüge ich über die nötige Summe  ; ich habe sogar die Bewilligung vom War Refugee Board in Washington dringend eingeholt – und erhalten –, jedem Deutschen das Geld auszuhändigen. Allerdings setzt man voraus, dass ich die feste Überzeugung habe, mit der Bezahlung werde dem Judenmorden wirklich ein Ende bereitet. Was raten Sie mir  ? Soll ich es riskieren  ?« Ich entgegnete, mich meinerseits mit meinen Vorgesetzten beraten zu müssen. Nächsten Tag wolle ich ihm Bescheid geben. Ich ging zu Prof. Max Huber, dem Präsidenten des ikrk, auch er ein Mann skrupulösesten Gewissens und reinen Herzens. Er wollte über das Problem über Nacht nachdenken. Morgens ging ich mir das Verdikt holen. Huber sagte mir  : »Ich habe die ganze Nacht kein Auge zugemacht. Ich kann mich nicht zu einem Entschluss durchringen. Die Pro und die Kontras halten sich die Waage. Lügt der ss-General, so bedeutet das Ganze nur, dass man der ss für ihre Kriegsbedürfnisse – oder gar Nachkriegsfluchtbedürfnisse – 14 Millionen gute Schweizer Franken in den Rachen wirft.« Und mich mit entwaffnender Unbeholfenheit anschauend  : »Sie sind unser Experte für die kz und die Judenaktion, entscheiden Sie selbst. Ich bringe es nicht über mich.« Nun trug ich die Verantwortung. Allerdings nur für einen Rat, nicht die unheimlich schwere Last für Saly Mayers Gewissen. Saly wartete bereits in meinem Büro. Unrasiert, aber gefasst. »Lieber Freund, das ikrk lehnt es ab, zu Ihrer Frage Stellung zu nehmen. Wollen Sie aber meine private Meinung hören, so glaube ich, es ist bereits zu spät. Kann ihr General keine besseren Garantien geben als das Wort seiner – fraglichen  – Ehre  ? Zudem wissen wir nicht, ob er und seine angeblichen Auftraggeber überhaupt noch die Autorität haben, dem Schlachten Einhalt zu tun  !« Darauf Saly  : »Ich bin über Nacht zur gleichen Schlussfolgerung gekommen  : Es ist zu spät  ! Ich lehne ab.« Oft denke ich an die Szene  : Da sitzt vor mir ein rechtgläubiger

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frommer Jude. Er ist sich bewusst, dass er die Mittel in der Hand hält, das Leben zu retten von den Millionen, die Hitler in die Vernichtungslager deportieren ließ und die noch am Leben sind. Nein, die Wahrscheinlichkeit eines neuerlichen, zynischen Tricks, der Judenschaft noch einen letzten Blutzoll herauszulocken, ist zu groß. Warum machte die ss das Offert einem Schweizer Juden und nicht einer neutralen Stelle  ? Mir fiel die Schlussfolgerung nicht schwer. Nicht ich hatte ja über das Leben der Juden zu entscheiden, bloß eine Einschätzung der Lage hatte ich abzugeben. Aber mein Freund Saly Mayer  ? Es ging um seine Stammesgenossen. Er hatte das Geld und die Rückendeckung Washingtons  ! Eines nur weiß ich mit Sicherheit  : Erst der Tod hat Saly Mayer von seiner Gewissensplage befreit. Als Vertreter Neuösterreichs in Paris und Rom Während meiner Pariser Geschäftsträgerzeit wurde auf dem Ballhausplatz über meine künftige Verwendung gewürfelt. Der erste Wurf fiel auf London. Unerwarteterweise reagierte Downing Street eher sauer  : Es sei schwer verständlich, wieso man einen politisch kompromittierten Prinzen als Vertreter Neuösterreichs zur britischen Regierung entsenden wolle. Sogar in Wien war man über diese Haltung Londons überrascht  : Meine seinerzeitige Flucht aus Berlin vor den Nazis, die sechs Jahre Arbeit beim Internationalen Roten Kreuz in Genf sollten mich doch den Alliierten genehm erscheinen lassen. Ich schrieb an meinen alten Freund Phil Nichols, britischer Botschafter bei der tschechoslowakischen Exilregierung in London, nachmals in Prag und im Haag. Phil klärte das Missverständnis auf  : Der schwerhörige Churchill habe Schwarzenberg mit Starhemberg verwechselt und deshalb abgewunken. Es langten plötzlich warme Begrüßungsmessagen aus London ein. Acht Jahre später, als ich als Botschafter zum Hofe vom heiligen Jakob abging, erinnerte man sich dort an diese nachgeholten Willkommenstöne und wiederholte sie mit einiger Verspätung.273 Inzwischen hatte ich mich aber um Brüssel beworben. Von dort klang das Agrément durchaus positiv heraus. Ich freute mich auf den geruhsamen Posten. Doch da funkte einer meiner großen Gönner dazwischen. Es war der Vizekanzler, der spätere Bundespräsident Schärf. Er fand, man dürfe mich nicht vertrocknen lassen, sondern gehörig auswinden  : Ich gehöre auf den heißen Posten von Rom. Mir wurde bei dieser neuen Perspektive bange. Wäre nicht meine Frau gewesen, die Rom und Italien liebte – und noch liebt –, hätte ich mich »geziert«. So sprang ich ins Wasser. Meine Vorbehalte und Befürchtungen bewahrheiteten sich. Rom war anno 1947 für den österreichischen Vertreter in Italien ein verteufelt kitzliger Posten. Der Grund lag auf der Hand  : Zwar sollten die Beziehungen des neuerstandenen Phönix Österreich mit dem in einem verloren-gewonnenen Krieg ebenfalls gemauserten Italien in politischer und

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wirtschaftlicher Hinsicht wiederhergestellt werden. Beide Länder hatten Interesse an gutnachbarlichen Beziehungen. Doch da loderte ein im Herzen und im Blute der Österreicher wurzelndes Problem auf, das in der Vehemenz, mit der es vorgetragen wurde, alle mit demselben nicht in unmittelbarem Zusammenhang stehenden Konsiderationen, Interessen und Perspektiven an die Wand zu drücken drohte  : Südtirol  ! Man hatte vermeint, dass auf der Pariser Friedenskonferenz Österreich als eine Quantité négligeable übergangen und gar nicht zu Wort kommen würde. Österreich war von den vier Siegermächten besetzt. Die Souveränität des von einer Unfreiheit in die andere verfallenden Landes wurde von den Besatzungsmächten ausgeübt. Seine völker- und staatsrechtliche Capitis diminutio war total. Zur allgemeinen Überraschung – anfänglich zur Verlegenheit der Gastgeber – kam dieses Österreich trotz allem in Paris zu Wort, sogar zu einem sehr lautstarken Wort. Das Verdienst fällt zum großen Teil dem österreichischen Außenminister Karl Gruber und Südtirol zu. Mit geradezu indiskreter Virulenz gelang es »Karl dem Großen« – wie wir ihn in der österreichischen Delegation nannten – das Südtirolproblem aufs Tapet zu bringen. Als schließlich unter Ächzen und Stöhnen das sogenannte »Gruber-De Gasperi-Abkommen« zustande kam, wurde es von vielen Seiten als eines der wenigen positiven Ergebnisse der Pariser Konferenz gepriesen. Die österreichische Delegation hatte es anfänglich nicht leicht. So wenig deren Mitglieder auch nur im Entferntesten als Nazikollaborateure angesehen werden konnten, wurden wir  – ich fungierte als eine Art Sekretär derselben  – doch verdächtigt und scheel angesehen. Ich erinnere mich u. a. an die Nervosität der Funktionäre vom französischen Außenministerium, als wir, im Palais du Luxembourg auf Vorlassung harrend, mit der Delegation Albaniens in denselben Warteraum gepfercht wurden. Die unmittelbare Nähe im Alphabet – Albanie/Autriche – entsprach keineswegs einer affektiven Verbundenheit, alles eher  ! Die Albaner, an der Spitze Enver ­Hodscha274, liebten uns nicht, angeblich wegen der aus Österreich stammenden Soldaten, die während des Zweiten Weltkriegs in den Reihen deutscher Divisionen in Albanien gekämpft und »gewütet« hatten. Die Herren vom französischen Protokoll befürchteten, die wilden Albaner würden die österreichischen Delegierten zerfetzen. Die erwarteten Feindseligkeiten erschöpften sich glücklicherweise in durchbohrenden Blicken. Die Südtirol-Kampagne konnte ungestört losbrechen. Nicht nur Karl Gruber wusste sich in Szene zu setzen  ; seine Rede vor der Vollversammlung machte Eindruck. Auch die Arbeit in den Kulissen war geschickt orchestriert. Bald hatten es die österreichischen Unterhändler heraus, wer unter den einflussreichen Gestalten für die Causa Südtirol gewonnen werden konnte. Eingedenk des Umstandes, dass noch während des Krieges Churchill erstmalig unter den Alliierten seine Stimme zugunsten der Wiederherstellung Österreichs erhoben hatte, war sein Freund, der Südafrikaner Feldmarschall Jan Smuts, für die österreichischen Anliegen wohlwollend gestimmt. Südtiroler Patrioten hatten es verstanden, mehr oder weniger heimlich nach Paris zu reisen und

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in der Kulisse zu agieren. Die bildhübsche Innsbruckerin Paula Forcher-Meier, verführerisch in ihrer Tiroler Nationaltracht, personifizierte wirkungsvoll die Südtiroler Hoffnungen auf Anschluss an Österreich. Da steht Johannes xxiii. vor mir, kugelrund und mit den hartfurchigen Gesichtszügen des Bauern. Als Nuntius in Paris lädt er mich und meinen Chef, Botschafter Vollgruber275, zum Mittagessen ein. Januar 1947  : Es ist eiskalt. Gemütlich, als säße man in einer Bauernstube beim wohlverdienten Mahl, setzt man herzhaft einem dampfenden Spaghettiberg zu. Der Hausherr kommentiert genießerisch seine ausgiebig aufgetürmte Portion  ; sie wird mit Hilfe eines Glases Valpolicella gelöscht. Man schimpft auf die Kälte und die ungenügende Versorgung mit Heizmaterial. Es resultierten daraus Verkühlung mit Stimmerlöschung, Verhinderung der Ansprache als Doyen des Diplomatischen Corps anlässlich des Neujahrsempfangs beim Staatspräsidenten – vielleicht ein Glück – Léon Blums Anwesenheit hätte einen ohnedies geniert. Übrigens – dem sehe ja Vollgrubers Vorgänger, Norbert Bischoff, wie ein Ei dem anderen ähnlich, der triefende Schnauzbart  ! Man geht ins Nebenzimmer. Schwarzer Kaffee (echter aus Brasilien  ! Gesegnet sei der diplomatische Kurier  !). Zuerst wird Botschafter Vollgruber angecerclet, gütig-leutselig. Dann komme ich an die Reihe  : Eine unvergessliche Szene. Johannes xxiii. nimmt meine beiden Hände in seine geballten Bauernfäuste, sieht mich, nein, sieht mich nicht an, sieht durch mich hindurch, anderswohin, in die Weite. Ein anderer Mensch steht da vor mir, eine andere Stimme. Es heißt von ihm, er habe Stimmen gehört, von oben, sei ihnen gefolgt wie die Jungfrau von Orléans ihren Stimmen. Ich glaub’s  ! Er lauschte »ganz Ohr«, wie ein Jäger, der sich nach Naturlauten richtet. Das Vernommene wird anders verarbeitet als von uns Hinterbänklern, unkritisch, folgsam  ; Werkzeug des großen Gottes  ! Wenn Johannes xxiii. die Stimme vernahm, alttestamentarisch, so wie Gott zu den Patriarchen sprach aus dem brennenden Busch, aus der Wolke – dann gab es kein Zögern, kein Wanken  : ein Auftrag war’s, zu befolgen, durchzusetzen, wie heftig auch der diplomatisch-nörgelnde Widerspruch laut werden möge. So geschah es, als man den entsetzten Kardinälen die Einberufung des Ökumenischen Konzils ankündigte. Man stellt den Kragen auf an jenem kalten Januarabend in St. Paul und glitt geschwind zum nächsten Programmpunkt hinüber, ehe Proteste erhoben und die Wirkung der geheimnisvollen Stimmen abgeschnitten werden konnte. Über was er mit mir sprach an jenem eisigen Januartag auf der Nuntiatur in Paris  ? Ich weiß es nur unklar  ; so gefesselt war ich von seiner Wandlung, dass ich kein Wort hervorbrachte. Er muss vom Leiden und dem Wiedererstehen des neuen Österreich gesprochen haben, von den Verfolgungen, denen die Österreicher unter dem Dritten Reich ausgesetzt waren, von dem mutigen Verhalten unter der Besatzung – damals hatten wir noch die Russen im Haus  –, von der Kirchentreue der Österreicher und der Befreiung, die nicht ausbleiben werde. Kraft und Wärme gingen von den Fäusten des künftigen Papstes aus. In

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sein Tagebuch schrieb er (ich besitze die mir von seinem Sekretär Msgr. Capovilla276 gegebene Ablichtung)  : »Ebbi a pranzo il nuovo Ambasciatore d’Austria e il Principe Schwarzenberg, brava gente.« Gedanken zu Alcide De Gasperi Unter den Persönlichkeiten, die in unserem Jahrhundert Geschichte machten und denen zu begegnen es mir in einem langen Leben vergönnt war, stand mir Alcide De Gasperi am nächsten. Ich schätzte ihn umso mehr, weil die Kämpfe, die er auf politischer Ebene – meistens an mehreren internen Fronten – auszutragen hatte, von einer dem Außenstehenden unbegreiflichen Komplexität waren, zusätzlich erschwert durch sein überempfindliches Gewissen. Jeder Entscheidung ging eine quälende Auseinandersetzung mit sich selbst voraus  : das Entwirren des ewigen Loyalitätenkonflikts zwischen staatlichen und kirchlichen Interessen. De Gasperi war ein zutiefst gläubiger Jünger. Das Schicksal hatte ihm zudem die verantwortlichste Stelle im Staat anvertraut. Die zweifache Verpflichtung zwang ihn, eine Synthese zu finden, die nicht nur den Menschen, sondern auch den Staaten – im Wege ihrer Parlamente und Regierungen – ein Handeln im christlichen Geist und nach christlicher Ethik gestattet. In einer Welt des Fortschritts und steter Verschiebung der spirituellen und materiellen Schwerpunkte bedeutete es die Quadratur des Kreises, die nach Freiheit und Gleichheit rufenden demokratischen Ideologien mit den sie verurteilenden traditionellen Autoritäten harmonisieren zu wollen. Gebot dann die Stimme des Gewissens Rücksichtnahme auf die Lehre der Kirche im Allgemeinen und auf die Wünsche des Vatikans im Besonderen, so ist der rechte Weg insbesondere dann schwer zu finden, wenn die kirchlichen Organe sich den Zeichen der Zeit und der Notwendigkeit zur Anpassung an die realen Gegebenheiten verschließen. Wie kaum ein Zweiter sollte Alcide De Gasperi mir noch über seinen Tod hinaus richtungweisend werden in so manchem religiösen und politischen Gewissenskonflikt. Wenn ich mich anschicke, Euch Kindern von meinem Erleben dieses großen Menschen und Staatsmannes zu berichten, so rückt in das Blickfeld der Erinnerung eine schmale, scheue Gestalt in lichtgrauem, zu breit geschneidertem Doppelreiher. Abweisende, fahrige Handbewegungen, unharmonische Stimme, verborgener Blick hinter Brillen. Die Kurzsichtigkeit gestattete Verzögerungsmanöver  ; man will ja nicht hart sein, nicht weh tun  ! Aufmerksames Lesen des vom Besucher überreichten Schriftstückes durch die Augengläser, Hochschieben der Brille, starrer Blick aus blauen Augen, die wahren Absichten des Besuchers ergründend  : Nein  ! Persönliche Sympathie oder Antipathie dürfen nicht die Sache, dürfen nicht das Staatsinteresse beeinflussen  ! Das blonde Haar wird aus der Stirn gestrichen  ; damit sind weitere Sekunden zum Überlegen gewonnen.

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Der Bescheid kommt stoßweise. Ist er positiv, so begleitet ihn nicht die Geste der in stärkerer Position Befindlichen, der Politiker und Bankiers, die mit Bonhomie die Anerkennung der gezeigten Großmut erwarten  ; ist er negativ, so wird den Lippen ein charmieren sollendes Lächeln abgerungen  ; eine kaustische Bemerkung soll entwaffnen. Alcide De Gasperi war ein ernster, zufolge schmerzlicher Prüfungen schwermütiger und nicht leicht umgänglicher Mensch. Selbst bei nur flüchtiger Begegnung konnte man sich nicht des Eindrucks erwehren, einen Mann von strengen Grundsätzen vor sich zu haben, der mit sich und mit der Welt rang, um den sittlich rechten Weg zu finden. Sein Leben war ein fortwährendes Leiden um der Gerechtigkeit willen  : »Meglio soffrire ingiustizie che farle soffrire« (»Besser selbst Unrecht erleiden, als es anderen antun«), pflegte er zu sagen. In der peinlichen Auseinandersetzung mit Politikern, die nur zu oft persönliche Interessen vor jene des Staates stellen, hatte sich die Gestalt des Staatsmannes gestählt, nicht jedoch die Seele, die empfindsam blieb, mimosenhaft empfindsam. In dieser Übersensibilität, nebst einem nervösen Zucken, erinnerte mich De Gasperi an Hofmannsthal  : Antennen, die unbemerkbare Aversionen auch seitens entfernter Personen registrierten und viel zu ernst nahmen. Wie ein Heiliger den Stimmen aus dem Jenseits lauscht und ferngesteuert handelt, so lauschte De Gasperi nach der Stimme seines Gewissens. Nicht automatisch nach Münzeinwurf, kommt die Antwort. Demut, Geduld und Nachhilfe von oben sind nötig. Er fand sie im Gebet, im täglichen Andachtsgang zum Sakrament. Der 1881 in der damals zu Österreich-Ungarn gehörigen Provinz Trient geborene Alcide De Gasperi inskribierte Jura an der Wiener Universität. Er wohnte zunächst bei Herrn Hemala, dessen Tochter den Bundeskanzler Leopold Figl277 heiraten sollte  ; eine Tatsache, auf die mich De Gasperi selbst aufmerksam machte. Von der kaiserlichen Regierung wurde er eingesperrt, weil er an irredentistischen Studentendemonstrationen in Innsbruck teilgenommen hatte. Später, als Abgeordneter im Wiener Reichstag, wurde De Gasperi vielfach boykottiert und als Verräter am Staat hingestellt, dessen Bürger er war. In seinem rechtlichen Sinn trug er die im alten Österreich erlittenen Verfolgungen weder dem Kaiser noch der österreichischen Verwaltung nach. Im Gegenteil, immer sprach er zu mir mit Achtung, ja mit einem leichten Unterton von Neid, über die Vorzüglichkeit der österreichischen Verwaltung und die unbestechliche Korrektheit der Beamtenschaft. Als Abgeordneter zum Wiener Reichstag erfuhr De Gasperi eine harte Charakterschulung, musste er ja versuchen, die Gefühle nationaler Zugehörigkeit zur italienischen Volksgruppe mit der Loyalität gegenüber Kaiser und Staat, zu der ihn sein Abgeordnetenschwur verpflichtete, in Einklang zu bringen. In der Praxis hielt er sich an folgende Methode  : Rhetorik und revolutionäre Schlagworte meiden, dafür aber mit Geduld und Zähigkeit der Regierung im Rahmen der verfassungsbedingten Ins­ titutionen die dringendsten Zugeständnisse abringen  ! Der österreichische Reichstag wurde während der ersten Kriegsjahre nicht einberufen. De Gasperi benützte die Zeit

Gedanken zu Alcide De Gasperi

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und seine Stellung dazu, sich um die Tausenden von aus dem Trentino aus militärischen Gründen ausgesiedelten Flüchtlinge zu kümmern. Erst als im Jahre 1917, nach dem Tode Kaiser Franz Josephs, der neue Herrscher das Parlament zusammentreten ließ, öffnete sich für den Trientiner Abgeordneten die Plattform, auf der er in Österreich urbi et orbi für die Sache der italienischen Volksgruppe eintreten konnte. Er tat dies mit so viel Mut, dass nur das Abgeordnetenmandat den »Hochverräter« vor neuerlicher Verhaftung schützte. Späterhin wurde De Gasperi von seinen politischen Gegnern der Vorwurf gemacht, er hätte, anstatt in Wien ohne viel greifbaren Effekt Reden zu halten, ins Ausland flüchten und den Kampf um die Befreiung seiner Volksgenossen vom österreichischen Joch aufnehmen sollen, etwa so wie Tomáš Masaryk. Dieser setzte sich in ein Eisenbahnabteil erster Klasse, wies an der Grenze seinen Abgeordnetenausweis vor, begab sich über die Schweiz nach den Vereinigten Staaten, organisierte dort die Gründung der Tschechoslowakischen Republik, um schließlich als Triumphator über die zerschlagene Monarchie heimzukehren. De Gasperi glaubte, seinen Volksgenossen bessere Dienste zu erweisen, indem er da blieb und die Sache der italienischen Minderheit und der Trientiner Flüchtlinge vor der Kammer und vor den Zentralbehörden vertrat. Für unsere Zwecke ist es von Interesse, einige Leitgedanken wiederzugeben, die damals der Reichstagsabgeordnete De Gasperi seinen Demarchen zur Verteidigung der vitalen Rechte der Italiener in der Monarchie zugrunde legte. De Gasperi entrüstete sich über die vom österreichischen Militär in Südtirol begangenen Geschmacklosigkeiten, wie beispielsweise einen makabren Siegestanz um den Galgen, auf dem Cesare Battisti278 1916 in Trient gehängt worden war. (Battisti, der, obwohl österreichischer Staatsbürger, in der italienischen Armee diente, war von einem Zugsführer des Landesschützenregiments, in dem mein Bruder als Oberleutnant an der Front diente, gefangen genommen und später als Deserteur verurteilt worden.) Nicht genug mit der Vertreibung eines namhaften Teils der Land- und Stadtbevölkerung aus dem Kriegsgebiet, wurden die Verbliebenen bespitzelt und schikaniert. Sogar die Prügelstrafe war eingeführt worden. »Angesichts dieser Gewaltherrschaft«, erklärte De Gasperi, »fragt sich das Volk, ob die Erde, die es mit seiner Hände Arbeit bebaut hat und die es heute kaum betreten darf, überhaupt noch sein Eigen ist. Überall herrscht Friedhofsschweigen. Aber der Geist der Freiheit wird aus den toten Gebeinen erstehen, und diese werden sich wie vor dem Propheten wieder zusammentun zu lebendigen, freien Menschen. Dieser Tag wird kommen als sichere Folge dieses Krieges  !« Leidensweg der Minderheiten  ! Vor dem Wiener Parlament, in der Presse, in Wort und Schrift kämpfte De Gasperi für die Freiheitsrechte der italienischen Minderheit. Er empfand ihre Behandlung als Verknechtung seitens der Behörden. Zwanzig Jahre später lehnte sich die eng benachbarte Südtiroler Minderheit gegen die faschistische Vergewaltigung der gleichen Freiheitsrechte auf. Kaum vergehen wei-

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tere zwanzig Jahre und die nämliche Südtiroler Volksgruppe muss wieder um die Erhaltung ihrer nationalen Existenz kämpfen, unter ähnlich nachteiligen Machtverhältnissen und mit analogen Argumenten  ; die Zentralregierung, in der glücklichen Lage des beatus possidens, hatte bloß das Gewand der Diktatur gegen jenes der Demokratie eingetauscht. Wie oft sollte ich noch Gelegenheit haben, diese Schicksalsanalogie De Gasperi vor Augen zu führen, Argumente zugunsten der Südtiroler Minderheit zu gebrauchen, die er selbst im Wiener Parlament für seine Trienter Volksgruppe eingesetzt hatte  ! Nie verargte er mir mein Insistieren, gab aber nur dann nach, wenn er dies mit dem Staatsinteresse des neuen Italien für vereinbar hielt. Der politische Aufstieg De Gasperis, oftmals ein Leidensweg, begann, nachdem sich die Habsburgermonarchie zu Tode gekämpft hatte und er, nunmehr als italienischer Staatsbürger, ein neues Vaterland besaß. Im Partito Popolare Don Sturzos279 fand er ein seiner Natur und Überzeugung entsprechendes Tätigkeitsfeld. Geradezu automatisch wurde er wieder Abgeordneter. In diesem Beruf sollte ihm sein übersensibles Gewissen zeitlebens jeden Entschluss schwer, jede Widerwärtigkeit niederdrückend erscheinen lassen. Kleinlichkeit, an Dummheit grenzende Kurzsichtigkeit, Eifersucht und rücksichtsloser Ehrgeiz, Intrige, Dinge, welche die besten Absichten und Projekte zu Fall brachten, nagten an Gesundheit und Nerven. Oftmals versucht, verzweifelt aufzugeben, fand der Staatsmann De Gasperi Trost und Hilfe einerseits in seinem feinen Sinn für historische Zusammenhänge, andererseits im Glauben an eine höhere Weisheit. Die Enttäuschung über die Widersprüchlichkeit des Geschehens suchte er abzudämpfen im Aufspüren der geschichtlich bedingten innen- und außenpolitischen Kraftquellen, darüber hinaus aber im vertrauensvollen Erkennen der alle Zeiten und Räume überspannenden Planung des Allmächtigen. Das ist nicht Fatalismus. Das ist Tasten nach dem charismatischen Sinn aller Widerwärtigkeit. Auf diesem Wege erhielt sich De Gasperi den Glauben an eine höhere Gerechtigkeit, mochte sich diese noch so sehr tarnen. In diesem Vertrauen auf einen die Menschheit in ihrer Ganzheit erfassenden, das widersprüchliche Erdengeschehen letztlich harmonisierenden Ausgleich begegneten sich unsere Wege. Göttliches Walten kann nicht zweiarmig sein, und wenn ich im Verlaufe meiner römischen Mission viel von Herrn De Gasperi erwirken musste, so pochte ich dann nicht vergebens an, wenn ich seinen innenpolitischen Rücksichten entsprungenen Argumenten historische Tatsachen, vor allem aber Gebote der christlichen Ethik entgegenhalten konnte. Und als einmal mit Beziehung auf den abgesplitterten, um seine nationale Existenz fechtenden Tiroler Volksteil das Wort »gefesselt« fiel, da strich sich der Regierungschef mit dem Finger um das Handgelenk  : »Ich weiß, was das heißt  ! Die haben auch mir die Handschellen angelegt. Zu zweieinhalb Jahren Gefängnis haben sie mich verurteilt, obwohl ich nichts Gesetzwidriges begangen hatte. Mit gemeinen Verbrechern, die geringere Strafen erhielten als ich, wurde ich abgeführt, hier in Rom. Ich konnte damals die Ungerechtigkeit einfach nicht fassen. Als die Ge-

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fängnistür hinter mir zugesperrt wurde, fühlte ich mich von allem und jedem verlassen  !« – »Und heute«, traute ich mich einzuwerfen, »heute, Herr Ministerpräsident, hat sich der Kreis geschlossen. Ohne die ungerechte Knechtung hätten Sie vielleicht nicht die Genugtuung erlebt, damals den rechten Weg gegangen zu sein.« Die Eingliederung des ehemaligen Abgeordneten zum Wiener Reichsrat in das Parteiengetriebe im römischen Parlament verlief nicht reibungslos. Don Sturzos politische Linie entsprach durchaus De Gasperis Einstellung. Die Lauterkeit seiner Geisteshaltung ließ ihn aber mancherorts anecken. Wie schon in Wien, wurde ihm von den Sozialisten mangelndes soziales Verständnis, von den Liberalen Klerikalismus zum Vorwurf gemacht. Wohl lehnte er die den Sozialisten so teuren sonoren Klischees von Freiheit, Gleichheit und, damals noch, Revolution ab  ; Chimären, die der individuellen Freiheit ins Gesicht schlagen. Und der Vorwurf des Klerikalismus  ? Versteht man unter Klerikalismus den Missbrauch von Kirche und Religion zu politischen Zwecken, so stellt sich die Frage nach dem Grad des Abstands zwischen Missbrauch und Gebrauch. In Staaten, wo die Kirche dank des Vorwiegens des katholischen Bevölkerungsteils sich schwerlich aus der Politik heraushalten kann, ist das Tauziehen unvermeidlich  : In der einen Richtung zerrt die Regierung, weil sie die Kirche zur Meinungsbeeinflussung braucht  ; in der anderen zieht die Kirche, die ihre sozial-ethischen Normen mittels staatlicher Macht angewendet sehen will. Dieses Schauspiel verläuft zwar nicht ohne Misstöne, hat aber auch seine guten Seiten. Es bedarf eines guten Tropfens Realismus, das ist Voraussicht des Tragbaren und Rücksichtnahme auf beidseitige, lebenswichtige Verankerungen, um die Folgen effektiven Missbrauchs zu vermeiden. Überspannt der Staat den Bogen und hindert er die Kirche an der freien Ausübung ihres Hirtenamtes, so stellt er seine christlichen Bürger vor eine böse Pflichtenkollision, wenn er sie nicht gar zu Widerstand treibt  : die Kirche des Schweigens  ! Erwartet die Kirche einen spirituellen Gehorsam, der im Gegensatz steht zu der dem Staat gebührenden Loyalität, so ergeht der Ruf nach Trennung von Kirche und Staat. Sofern dies nicht die Anwendung zweier Moralitäten voraussetzt, kann die Trennung ersprießlich sein. In diesem Sinne ist es Pflicht sowohl der für die kirchliche als auch jener für die staatliche Politik Verantwortlichen, dafür Sorge zu tragen, dass die natürliche Polarisation Staat–Kirche nicht in unvereinbarer Gegensätzlichkeit zum Ausbruch kommt. Niemand empfand diese Notwendigkeit lebhafter als De Gasperi, vorerst als unfreiwilliger Zaungast anlässlich des Abschlusses der Lateranverträge, später als Regierungschef. Warum ich in England das Fuchsjagen aufnahm Zu den seriöseren Aufgaben eines Diplomaten im Ausland gehört das Einholen von Informationen. Der Botschafter, Gesandte oder Geschäftsträger muss seiner Regie-

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rung nicht nur über die wichtigsten politischen Ereignisse, sondern auch über Pläne und geheime Absichten der Regierung, bei der er beglaubigt ist, berichten. Von den Ereignissen im Empfängerstaat überrascht zu werden, kann leicht als Unfähigkeit des Missionschefs ausgelegt werden, den Posten zu bekleiden. In den meisten Hauptstädten sind die Außenministerien die bestgewohnte Auskunftstelle, zu der Botschafter »aux écoutes« zu gehen pflegen. Fortschrittlichere Diplomaten steigen sogar in die Zeitungsredaktionen, wo sie das Gras wachsen zu hören vermeinen. In London muss man die Erfahrung machen, dass das Foreign Office – im Gegensatz etwa zum State Department  – sich hermetisch gegen fremde diplomatische Schnüffler abkapselt. In Downing Street erfährt man bestenfalls Allbekanntes, und selbst das wird ungern verzapft. Journalisten sind schon mitteilsamer, insbesondere, wenn man sie zu einem guten Essen einladet, doch muss man mit den Chefredakteuren und Zeitungsherausgebern sehr vorsichtig umgehen. Es sind oft pitzliche Menschen, die vermeinen, man wolle sie und die Schreibweise ihres Blattes beeinflussen. In dieser Richtung habe ich mir bei einem wohlbekannten Editor der »Times« blaue Flecken und lebenslange Verstimmung geholt. Sehr nützlich habe ich den Verkehr mit Abgeordneten zum Parlament gefunden. Auch hier gibt eine Einladung zum lunch in einen Club den zweckmäßigsten Rahmen ab. Die M.P.s sind in London zum größeren Teil kompetente, hart arbeitende und grundseriöse Menschen, die über das Parteiwohl nicht das Landesinteresse vergessen. Diese loyale Einstellung zur Heimat zeigt sich bei Auslandsreisen britischer Parlamentarier  : Nie wird ein M.P. im Ausland die eigene Regierung kritisieren, selbst wenn diese nicht von der eigenen Partei gestellt worden ist. So heftig die Parteigegensätzlichkeiten im House of Commons zum Ausbruch kommen mögen, gegenüber dem Ausland, gegenüber dem »alien« – und das bleibt ein fremder Diplomat immer – hält man zur Stange des Union Jack  ! Obwohl ich mit einer ganzen Reihe von Abgeordneten befreundet war, fehlte mir nach etwa zweijährigem Aufenthalt in London eine Beziehung zu Major John Morrison M.P. Dieser konservative Abgeordnete war Chairman des sog. 1922-Committee’s, d. h. der Konservativen Kammerfraktion. John Morrison hat in vielen Jahren niemals eine Rede im Plenum gehalten. Er saß, oder besser, lungerte auf der rückwärtigsten Bank mit seinem ewig strahlenden roten Mondgesicht. Seine Stellung in der Kulisse war aber derart gewichtig, dass er als der eigentliche »Königsmacher« bei der Auswahl von Regierungsmitgliedern galt. Wenn es einen Abgeordneten gab, der wusste, wer Ministerpräsident, Schatzkanzler oder Innenminister werden wird, so war es John Morrison. Ich wollte nun an diese graue Eminenz herankommen. Meine Tastversuche verliefen negativ  : »Old John« spreche keine fremde Sprache, reise nie ins Ausland und hasse alle Fremden. Nie würde er mit mir, noch dazu einem Mitglied der verpönten Rasse der Diplomaten, auch nur reden. Beste Freunde weigerten sich, mich mit ihm

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zusammen zu bringen und zwar weil zwecklos. Ich ließ nicht locker  : »Was sind seine Schwächen und Hobbies  ?« Keine, er sei ein family-man, der nie ausgehe, es sei denn zu den Rennen. »Also, ist er Pferdeliebhaber  ? Reitet er selbst  ?« – »Gewiss, er hat seine eigene foxhounds-Meute  ; er ist Master of the Wiltshirehunt«. »Aha, da muss er ja wohlhabend sein  !« – »Wohlhabend  ? Steinreich ist er, mit seinem Schloss Fonthill … und die halbe Insel Islay gehört ihm  ! Ein ererbtes Textilvermögen  ! Aber geben Sie sich keine Mühe, er zeigt ihnen nur verächtlich die kalte Schulter  !« Mich kitzelte die Sache. Ich nehme einige Reitstunden – seit meiner Knabenzeit war ich nicht mehr auf einem Pferd gesessen  – versuche auch das Hürdenspringen, kaufe mir einen schwarzen Jagdfrack – keinen roten, das wäre zu vorwitzig gewesen – einen Zylinder und lasse mir bei Maxwell prächtige Reitstiefel anfertigen. Also, richtig ausstaffiert, reise ich eines Wochenendes nach Salisburg, übernachte dort, miete ein Auto, fahre los und miete mir in einem Jagdpferdestall in Tisbury einen »hunter«. Freunde hatten mir gewisse grundlegende Ratschläge erteilt, wie  : den Master während der Jagd immer vorbeilassen und ihn jeweils grüßen  ; sich möglichst nahe hinter dem Master halten  ; ist man aber Letzter im »Felde«, muss man die Gatter schließen, d. h. dem ewigen Ruf »gate please« Folge leisten  ; selbst wenn man zu diesem Behufe absitzen muss  ; sieht man ein herrenloses Pferd dahingaloppieren, sofort ihm nach und es einfangen, das ist ebenso selbstverständlich wie löblich  ; bricht ein »hound« durch das Eis (nie im Leben habe ich so gefroren wie bei Fuchsjagden), so spring ihm nach und rette ihn  : Das bringt die größten Lorbeeren ein  ! Siehst du aber den Fuchs früher als die anderen, so winke mit dem Hut (Zylinder). Ich breche also zum »meet« in Fonthill auf, zahle meine 10 Shillings, bekomme ein Glas Port von einer feschen Dame heraufgereicht, und es geht unter Hundegekläff und merkwürdigem Trompetengeblase los. Ich reite einfach dem »field«, das waren etwa 30 männliche und weibliche Berittene, nach. Ich verstehe natürlich nichts von den eigentlichen strategischen Jagdmysterien, die da diktieren das Vorwärts, Rückwärts, Seitwärts, Stillstehen, Horchen, Vorpreschen, Springen, Stürzen und das Wiederaufsitzen, Weg und Anschluss verlieren, Auskundschaften, Wiederfinden, Huntsmen als Späher aussenden, Dickichte durchstöbern u.s.w., Hunde spalten sich in Gruppen, Hunde gehen verloren, Trompetensignale, allgemeines Durcheinander  ! Ich reite einfach der erstbesten Dame nach, weil ich diese für barmherziger und rücksichtsvoller halte als die beschnauzten Captains und Colonels, die den Neuling bestenfalls ignorieren. Es wird ein Gatter geöffnet, alle Reiter drängen sich hindurch, Pferde mit einem roten Mascherl am Schwanz (Warnung vor ausschlagenden Tieren  !) schließen die Gruppe ab. Rechts und links vom Gatter eine Hecke, durchaus überspringbar. Ich Idiot denke mir, warum drängen  ? Die roten Mascherln  ! Warum kompliziert, wenn es einfach geht  ? Ich begehe das Verbrechen des Tages  : ich lasse meinen Hunter über die Hecke springen. Warum ein Verbrechen  ? Ich erfahre es später  : In der Hecke war,

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unsichtbar für mich, Stacheldraht gespannt, und das heilige Gebot Nummer 67 verbietet, über Hecken mit Stacheldraht zu springen  ! Nun war ich drüben. Allein befinde ich mich auf einer eingefriedeten Wiese und … ein Fuchs trollt sich gemächlich über den Rasen. Bleibt stehen, blickt mich und mein Streitross an, denkt sich wohl »der ist harmlos« und schleicht geruhsam zu einem Erdloch, wo er verschwindet. Ich lüfte meinen Zylinderhut … das kann nicht schaden … und frage mich  : »Was nun  ?« Mein Hunter streckt den Kopf vor  ; will grasen. Ich warte. Nach fünf Minuten höre ich das Getöse der nahenden Hunde- und Menschenmeute. Als erster hinter den Hounds  : das schwitzende Vollmondgesicht des Masters. John Morrison M.P. reitet auf mich zu  : »What on earth are you doing here  ? Who are you  ?« und verschmitzt lächelnd  : »I suppose you have not seen the fox  ?« – »Yes, Sir«, stammle ich und lüfte den Zylinder, »he has gone down into that hole«. Die Hounds hatten das natürlich inzwischen erschnüffelt und fingen an zu graben. Aus dem Nichts erscheint urplötzlich ein Landrover. Es entsteigt ein Mann mit Schaufel und ein Köter. Letzterer wird in den Bau eingelassen und bald wird von einem livrierten Huntsman der arme Fuchs herausgezogen. Was folgt ist unschön aber traditionsgetreu  : Der Fuchs wird den Hunden zugeworfen, die ihn zerfleischen. Zweck  : Sie mögen Geschmack finden am Fuchsfleisch und -geruch, damit sie das nächste Mal die Fährte nicht wieder verlieren. Nun komme ich an die Reihe. Interessiert hatte ich der Szene, immer noch hoch zu Ross, zugesehen. Da kommt Mary Morrison, die entzückende Tochter des Masters und Hofdame der Königin, auf mich zu  : »The Master wishes to speak to you.« Mein Gott, sage ich mir, jetzt werde ich die Leviten gelesen bekommen wegen irgendeines unbewussten Vergehens. Ich steige ab, nehme den Zylinder in die Hand und wanke dem Mondgesicht zu. Major Morrison ist 1,90 m hoch und wiegt 130 kg. Plötzlich streicht eine riesige Pfote über mein Gesicht  ; ich spüre etwas Warmes, Flüssiges zerrinnen  : der Master hatte seine Hand in Fuchsblut getaucht und bestreicht nunmehr mein Antlitz mit selbigem. Ich war somit zum Fuchsjäger getauft worden, es ist aber verboten, das Blut vor Sonnenuntergang abzuwaschen  ! »Now you have been blooded and welcome to Fonthill«, erklärt der Master unter schallendem Gelächter der ganzen Kumpanei. Damit war alles in Ordnung. John Morrison M.P. hatte durch seine Tochter erfahren, wer ich war. Scheinbar hatte ihn die Unverfrorenheit beeindruckt, mit der ich in sein bukolisch-kynegetisches Privatparadies eingedrungen war. Er lud mich nun regelmäßig zum Foxhunting ein, stellte mir seine Pferde zur Verfügung (die größten Bukephali im Erdenrund, mussten sie ja die 130 kg von John transportieren. Warnung  : Steige oder falle ja nie von einem Fonthiller Gaul  ! Ohne Stiege kommst du nie wieder hinauf  !), nahm mich gastlichst nicht nur in Fonthill, sondern, im Sommer, auch auf seinem Landsitz in Islay auf, und – was schließlich Zweck meiner halsbrecherischen Übung war  – er knöpfte seine verschlossene Politikerseele auf  : Er erzählte mir am Kamin in Fonthill, was im Parlament vorging. Das ist übrigens eine typisch britische

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Eigenheit  : die Bankiers in der City, die Industriellen, die Politiker und höheren Beamten in ihren Büros und während der Amtsstunden, alle verschanzen sie sich hinter dem behaupteten Berufsgeheimnis  ; nichts wird verraten. Beim Wochenende auf dem Lande, wenn der Bankier seinen Rasen mäht, der Abgeordnete Golf spielt, der Sektionsleiter im Strecksessel endlich zum Lesen eines Romans kommt, da verwandeln sich diese Pagoden in zugängliche Menschen. Moral der Geschichte  : Wenn du etwas von einem Engländer haben willst, so versuche zwar nicht, selbst den Engländer zu spielen, gehe aber Wochenendes – und auch bisweilen bei Trinkgelagen – auf seine Eigenarten und Hobbys ein  : mit dem Golfspieler spiele Golf, mit dem Tennisspieler Tennis, mit dem Jäger gehe jagen, mit dem Geiger geigen und mit Majestäten gehe picknicken (wenn du eingeladen bist, was bei mir nicht der Fall war)  : »Da wird er (wie es in den Meistersingern heißt) dumm und lässt mit sich reden.« Aber allzusehr anbiedern darf man sich auch nicht. Mit einem perfekten Ox-bridge-Akzent Englisch zu reden, gilt als indiskret, ja irgendwie heimtückisch. Vom belgischen Botschafter de Marchienne geht die Sage, er, der Jahrzehnte in London Dienst leistete und die englische Sprache zur Perfektion beherrschte, habe geflissentlich Englisch geradebrecht und damit seinen nichtbritischen Status unterstrichen. Leicht ist es gewiss nicht, sich den Weg in das britische Vertrauen zu bahnen. Der Gelegenheiten zum Anecken gibt es Legion. Insbesondere muss der in London neuangekommene Diplomat zum Anknüpfen von Beziehungen keine Hast an den Tag legen. Als ich 1955 bei Antritt des Londoner Postens (den ich durch elf Jahre bekleiden sollte) dem Doyen des Diplomatischen Corps, dem französischen Botschafter Massigli, den obligaten Courtoisiebesuch machte, erteilte er mir folgende treffliche Warnung  : »Ich bin nun seit 14 Jahren auf diesem Posten und es heißt, ich habe mir und Frankreich viele Freunde zu gewinnen verstanden. Aber ich versichere Sie, es hat ganze fünf Jahre gebraucht, bis ich einen einzigen Freund hatte.« Massigli fügte den Rat bei, nichts zu überstürzen und gerade bei der Herstellung von Beziehungen nicht allzu »eager« zu sein. Seine Warnung bestätigte sich buchstäblich  : In London muss, wer auf sich hält, mindestens einem Club angehören. Durch Vermittlung meines unvergesslichen Freundes, Jock McEwen – der nebenbei bemerkt meine erste Liebe (mit 18 Jahren  !) Bridget Lindley geheiratet hatte –, wurde ich in den exklusiven, erzreaktionären »White’s Club« aufgenommen. Ich hasste die Atmosphäre, ging aber hie und da zum Mittagessen hin, denn man durfte sich in den schönen Speisesaal einen Tischgast einladen und – es lebe der Snobismus – so mancher Abgeordnete oder Journalist, der keinerlei Chance hatte, jemals in diesen Club aufgenommen zu werden, war neu- und begierig, einmal in das ihm versperrte Kluballerheiligste einzudringen. Durch fünf Jahre wurde ich von keinem Clubmitglied, das ich nicht von anderwärts kennengelernt hatte, angesprochen. Eines Novembertags jedoch, draußen schüttete es, und selbst mittags blieben die Lampen angezündet, las ich vor dem Essen in der Bibliothek die Zeitung. Aus einem schwarzen Lederfauteuil erhob sich ein Greis, langsam

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und stöhnend, ging auf mich zu, nahm die Brille ab und sagte  : »Fine weather today, is’nt it  ?« Ich darauf beflissen  : »Yes Sir, very fine weather«, und der Greis latschte zurück zum schwarzen Lederfauteuil. Mir war der Wetterkommentar angesichts des andauernden Gussregens rätselhaft. Die Aufklärung brachte Jock McEwen, der nächsten Tag uns auf der Botschaft besuchte  : »Ich höre, das Eis ist gebrochen  ! Du bist nunmehr wirklich in White’s aufgenommen  !« – »Wieso  ?« – »Es hat Dich doch gestern der alte Major Soundso angesprochen  !« – »Ja, allerdings wusste er nichts Gescheiteres zu verzapfen, als das Sauwetter als schön zu bezeichnen  !« – »Es ist ganz gleichgültig, was er gesagt hat, die Hauptsache ist, er hat Dich angeredet und damit Dich für Klub-fähig erklärt.« Das nach vollen fünf Jahren  !

Lord Homes Nachruf auf Johannes und Kathleen Schwarzenberg – London 1978 Johannes and Kathleen We are here this evening in the Church of the Holy Redeemer to give thanks to God for the lives of Prince and Princess Schwarzenberg, and in particular to express our gratitude for the years when he was Ambassador to the Court of St. James. It is twelve years since Johannes and Kathleen left the Austrian Embassy in London, but so vivid are our recollections of these rare people that it could be but yesterday. For Johannes diplomacy was at once a profession, a career and an art, and he brought to its practice the perspective of the historian and a shrewd judgment of the characters and personalities of the actors on the contemporary international stage. One did not go to Johannes for a snap judgment, but for mature wisdom. This easy bridging of time enabled a Prince of one of Austria’s oldest families to serve the new socialist order in his country, and we were privileged to see the skill, dedication and total loyalty with which he served. Out of school he loved music and books and sport – in particular his shooting  ; and being the least inhibited of men he liked to share his enthusiasms with all and sundry. He won a varied host of friends. Kathleen was the ideal partner, companion and foil for such a gregarious and exuberant man endowed with so much vitality. Her personality was more elusive. Modest – although no one had less reason to be so  ; reticent although highly intelligent, and when provoked highly articulate  ; at ease in the crowd, but selective, choosing to reveal her inner self only to the few. Always in search of beauty – a sculptress in her own right. Poised, serene and versatile, I have seen her walking the hills and mountains with the grace of the shepherdess, and then within hours residing in the Embassy in Belgrave Square over a galaxy of all the talents – and doing both as to the manner born. For both Johannes and Kathleen, Rome and Florence were their delight. He, ever the Student Prince teasing from the history books the secrets of civilization. She, never tiring in her search for perfection. Now we say good-bye with affection and with gratitude. I think that we may say that when they left London Johannes and Kathleen kept a corner in their hearts for England, as we most surely will always do for them. Alexander Douglas, Lord Home – London 1978

Gedanken im Nachhinein  : Einige persönliche Erinnerungen an unsere Eltern Colienne  : Das Bearbeiten des Materials für die Neuauflage der Memoiren meines Vaters glich einer Entdeckungsreise. Immer neue, unbekannte Facetten seines Wesens taten sich mir auf  : eine Gefühlswelt, deren Tiefe ich nicht ahnte, eine Verletzbarkeit, die ihn oft in Depressionen stürzte, eine ständige Sorge, den Erwartungen seines früh verstorbenen, hoch geachteten Vaters nicht gerecht zu werden. Mit seinem Gewissen ins Reine zu kommen, war ihm das Wichtigste auf der Welt. Sein Glaube und die Erinnerung an seine heitere, über alles geliebte Mutter halfen ihm, schwere Krisen zu bewältigen. Trotz seines angeborenen Pessimismus ging er zuversichtlich auf jede noch so hoffnungslose Situation ein, suchte nach Lösungen und ersparte sich keine Mühe. Er konnte Menschen führen, weil er sie verstand und ihre Begabungen einzusetzen wusste. Er sprach ihnen Mut zu, teilte Erfolge und Niederlagen mit ihnen. Aus vielen Briefen seiner Mitarbeiter spricht tiefe Dankbarkeit für seine Menschlichkeit und Lauterkeit. Die Liebe zum Schönen erfüllte sein Leben. Er schwärmte für schöne Frauen, für Musik, Kunstwerke und Landschaften.  Erkinger  : Er war außerordentlich beliebt bei seinen Mitarbeitern. Seine Sekretärin rief uns nach seinem Tod jedes Jahr an, um uns unter Tränen zu erklären, dass er ihr »unico ambasciatore« gewesen sei. Bewundernswert waren sein Takt und sein Geschick, mit Angestellten umzugehen. Mit welcher Geduld konnte er unseren Butler in Belgrave Square behandeln, der zu einer denkbar unpassenden Stunde in Vaters Büro zu stürmen pflegte, um sich zu beschweren, »because Madam interfered with my flower arrangments again«  ! Colienne  : Wie war unser Verhältnis zu ihm  ? Meine frühesten Erinnerungen stammen aus der Schweiz. Seiner Meinung nach arbeitete er 25 Stunden am Tag für den ikrk und hatte keine Zeit für seine Familie. Mein Bruder und ich waren in ein Internat im Berner Oberland geschickt worden, so erinnere ich mich nur an Wochenendbesuche, kurze Augenblicke der Entspannung, des Zusammenseins, in seinen geliebten Bergen. Schemenhaft tauchen die von ihm beschriebenen Gestalten aus der Genfer Zeit auf  : Max Huber, Carl Burckhardt, Saly Mayer. Manchen bin ich später wieder begegnet  : der asketische, flüsternde Abbé Journet, den ich 1953 im Grand Séminaire in Fribourg besuchte, und der geistreiche Bonvivant Dom Hilaire Duesberg, der 1961 Max Meran

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und mich traute. Ausländische Diplomaten, Persönlichkeiten aus Kunst, Politik und Wissenschaft kamen zu Besuch in die kleine Wohnung in der Rue de l’Evêché. Ich war wohl zu schlimm und vorlaut, um dabei sein zu dürfen  ! Erkinger  : Unser Vater besaß eine von der Kirche so gut wie kommentarlos aus der Antike übernommene Tugend. Sie wurde von den Griechen »sophrosyne«, von den Römern »prudentia« genannt. Sie lässt sich schwer definieren. Sie gleicht einer Art von Instinkt für all das, worauf man sich nicht einlassen sollte, ein von Gott eingegebener Sinn für Maß, welcher ihm, an den Gefahren und Exzessen des öffentlichen Lebens erfolgreich vorbeiführend, den Weg zur Weisheit wies. Vater fühlte sich gegen Ende seines Lebens zunehmend vom Buddhismus angezogen, zumal er in dieser Bewegung die Toleranz vermutete, die ihm erlauben würde, dem Glauben seiner Väter die Treue zu bewahren. Somit hatte er Verständnis für die Überzeugungen seiner Mitmenschen, ohne dabei die eigenen Prinzipien aufzugeben. Jener »prudentia« verdankte er das Geschick, mit welchem es ihm gelang, beim Anschluss den Dienst als Diplomat zu quittieren, uns ins Ausland zu bringen, ohne dabei seine in Wien zurückgebliebene Mutter in Gefahr zu bringen. Es herrschte damals die von den Nazis eingeführte teuflische Sippenhaft. Der Wunsch, uns zu schonen, hinderte ihn damals, über das Böse, das im Krieg geschah, zu Hause zu sprechen. Aber es muss für ihn und für Saly Mayer, seinen Freund beim Joint, schrecklich gewesen sein, das deutsche Angebot der ss ablehnen zu müssen, die Ausrottung der Juden gegen Barbezahlung einzustellen, obwohl die Mittel dazu vorhanden gewesen wären, ahnend, dass, was hätte verhindert werden sollen, bereits geschehen war. Colienne  : Erst als mein Vater 1949 nach Rom zog, führten wir ein richtiges Familienleben. Büro und Residenz befanden sich im gleichen Haus. Mein Bruder und ich gingen tagsüber in das nahe gelegene französische Lyzeum, wir speisten alle gemeinsam, gingen manchmal ins Kino, und am Sonntag, nach der Kirche, machten wir Ausflüge in der damals noch sehr einsamen, von wilden Hunden und Schlangen bewohnte Campagna Romana. Kulturbeflissen schleppten mich meine Eltern in Kirchen, Museen und Ausgrabungen. Ich hasste es und verschloss mich mit allen Fasern meines Wesens dagegen. Dafür wurde mein Bruder Archäologe. Viel zu spät lernte ich diese ewigste aller Städte kennen und lieben. Die Erinnerung an den sommerlichen, tief blauen, mit Schwalben durchzogenen Himmel, die schrillen Rufe der Mauersegler, die die Dämmerung zerschnitten, erfüllt mich heute noch mit Sehnsucht. Im Unterschied zu seiner »vorsintflutlichen« Erziehung wurden wir sehr liberal erzogen. Mein Vater bestand nie auf striktem Gehorsam. In seiner Bescheidenheit akzeptierte er, etwas traurig gestimmt, dass wir uns für seine Arbeit und seine Bedürfnisse wenig interessierten und ließ uns unsere Wege gehen. Sein Leben war alles andere als einfach  : Die Südtirolfrage spannte

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die Beziehungen zwischen Italien und Österreich aufs Äußerste, es gab hausinterne Probleme, und für die unerlässlichen Repräsentationskosten bekam er nur wenig finanzielle Unterstützung aus Wien. Wir Kinder merkten natürlich nichts  ! Pubertierend, mürrisch, unachtsam … wiederholt sich das nicht in jeder Generation  ? Erkinger  : Sein Einfühlungsvermögen ermöglichte ihm, zwei so verschiedene Länder wie Italien und England zu verstehen und dort dauerhafte Freundschaften zu knüpfen. Er liebte seinen Beruf, und hat sich über seine Erfolge gefreut. Als in der Nachkriegszeit Knappheit an von der österreichischen Industrie dringend benötigtem Schwefel – er wird in Sizilien gewonnen – herrschte, war ihm der Anruf des zuständigen italienischen Ministers eine Genugtuung  : Er würde dem Ansuchen des Handelsattachés einzig ihm zuliebe Folge leisten. Damit konnte unser Vater die Rentabilität von Diners und Empfängen einem, was die Ausgaben betraf, eher skeptischen Rechnungshof vorweisen. Er verstand es, die gute Gelegenheit zu nützen. Colienne  : Als er dann 1955 nach London versetzt wurde, begann eine ganz neue Ära. England befand sich in einer stabileren wirtschaftlichen Lage. Für die Töchter der vornehmen Gesellschaft gab man Bälle in historischen Landhäusern, die seit dem Krieg verwaist dastanden. Gemälde und Möbel höchster Qualität traten unter ihren Staubtüchern hervor, seltenes Wedgewood, silberne Schüsseln, Kristallgläser wurden ausgepackt. Die Damen trugen Perlenketten, Diamant-Tiaren und unbeschreiblich schlecht geschnittene Abendkleider. Auch in den von meinen Eltern exquisit eingerichteten Räumen der Botschaft am Belgrave Square trafen sich, in harmonischer Eintracht, Mitglieder oppositioneller Parteien, scharfzüngige Zeitungsherausgeber, emigrierte österreichische Komponisten, hochdekorierte Kriegshelden, Lebemänner, Herzoginnen und Schauspieler. Fasziniert betrachtete ich einen Laurence Olivier mit seiner schönen Vivian Leigh, einen Rex Harrison, die legendäre Balletttänzerin Margot Fonteyn, Kunsthistoriker wie Kenneth Clark, E. H. Gombrich, Philosophen wie Isiah Berlin, Dirigenten, Solisten, Berühmtheiten wie Henry Moore, Graham Sutherland … Das Essen, die guten Weine, die Musikabende auf der Botschaft waren begehrt. Mein Vater strahlte, er fühlte sich angenommen und geschätzt. Die Integrität der Briten imponierte ihm, auch ihr Sinn für Gerechtigkeit (»fair play«) und ihre Unvoreingenommenheit gegenüber Fremden. Am meisten genoss er, was sich unter dem Decknamen »understatement« verbarg. An seiner Seite, die Gäste empfangend, unsere schöne Mutter, das größte Geheimnis seines Lebens  ! Das gesellschaftliche Leben strengte sie sehr an. Mit angespannter Disziplin ertrug sie das seichte Salongeplänkel und die endlosen Diners. Sie sehnte sich nach der Stille ihres Studios, wo sie mit Ton und Holz arbeitete. Sie hatte schöpferisches Talent, war mit Leib und Seele Bildhauerin. Dank dieser Leidenschaft, die sie als junges Mädchen zur Kunstakademie nach Wien geführt hatte,

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lernte sie im Lauf ihres Lebens, in Genf, Rom und London, eine Reihe großer Künstler kennen, die sie schätzten und sich gern mit ihr unterhielten. Sie stellte hohe Ansprüche an ihre Freunde. Als Gegenleistung schenkte sie ihnen bedingungslose Loyalität. Oberflächlichkeit ertrug sie nicht, und schon gar nicht Heuchelei. Erkinger  : Es ist unmöglich, über unseren Vater zu schreiben, ohne an unsere Mutter zu denken. Sie war Bildhauerin. In London hatte sie ihr Studio in Chelsea. Sie trug Sandalen und lief gerne  – was sie auch tat, gleich einer jagenden Artemis, um rechtzeitig ihre Mittagsgäste zu empfangen, anstatt den schwarzen Botschaftswagen zu benützen, der sie an einen Sarg erinnerte. Am glücklichsten war sie aber, wenn sie fern von mondänen Verpflichtungen einige Tage in ihrem geliebten Ugolino verbringen konnte. Das Licht, das über das Chiantiland noch immer scheint, bekommt ihren Skulpturen. Kathleens Seele ist in der toskanischen Landschaft aufgegangen. Gerade weil unsere Eltern so verschieden waren, haben sie sich so wunderbar ergänzt. Mutters an Genialität grenzende Intelligenz durchdrang der Menschen innersten Kern. Ihr Sinn für Qualität erkannte sofort deren Wert. Sie entdeckte Talente, noch bevor diese die Anerkennung der Öffentlichkeit gewonnen hatten. Es dauerte nicht lange, bis sich in London ein Hof um sie gebildet hatte, der nicht oder nur beiläufig aus der sogenannten Gesellschaft, sondern aus Philosophen und Dichtern, Künstlern und Kunsthistorikern, Politikern und Astronomen bestand. Unser Vater hingegen brauchte länger, um sich in das Gemüt anderer zu vertiefen. Er verstand es aber, die Eroberungen seiner Frau zu schätzen und auszuwerten und damit den Engländern ein glanzvolles Bild von Österreich zu bieten, das sie an die eigene Vergangenheit erinnerte. So schlug sie zum Beispiel dem Minister of Works vor, man solle im Hyde Park Corner den British Nannies ein Denkmal in Form einer einen pram (Kinderwagen) vor sich herschiebenden Statue zu setzen, wegen ihrer Verdienste für die englische Nation, denn diese hätte ihnen viel zu verdanken, indem die Nannies überall dem adeligen Nachwuchs einprägten, wie sich ein Gentleman zu benehmen habe, und somit weltweit der künftigen Führungsschicht Minderwertigkeitskomplexe einimpften, was sich ganz zum Vorteil für das British Empire auswirkte. Colienne  : Unterschiedlicher konnten meine Eltern nicht sein  ! Er blond, blauäugig, den Menschen zugewandt, sie dunkel, scheu, selten lächelnd. 1905 in Brüssel geboren, verlor sie ihre Mutter im Alter von 24 Jahren. Mit ihren zwei Brüdern und ihrem Vater, Guillaume de Spoelberch, lebte sie in einem eher düsteren neugotischen Schloss im flachen Brabant. Der Familie gehörten seit Generationen eine gut gehende Brauerei, die Stella Artois, und eine Konservenfabrik für Gemüse. Ihr Vater war ein gütiger, großzügiger Mensch. Er nahm meine Mutter mit auf Reisen und tat alles, um sie glücklich zu machen. Ihr nebeliges Heimatland gefiel ihr nicht, die konventionelle, wenig an

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Kunst interessierte Gesellschaft langweilte sie zu Tode. Sie strebte nach Höherem, las Gedichte und litt an der Seichtheit der Welt. 1929 setzte sie ihren Wunsch, Kunstgeschichte und Bildhauerei in Wien zu studieren, durch. Ohne Protektion schaffte sie es, an der Akademie aufgenommen zu werden. Untertags zeichnete sie einen Akt nach dem anderen, war von oben bis unten mit Tonerde verschmiert, und am Abend ging sie tanzen, in die Oper und zum Heurigen. Bald hatte sie die Herzen der Jeunesse dorée erobert, darunter das meines Vaters. Sie heirateten in September 1931. Er hatte gerade sein Dienst im Außenamt angetreten und schuftete gehörig. Sie genossen legendäre Konzerte mit Bruno Walter, Franz Schalk, Furtwängler, Theaterstücke von Hofmannsthal, und speisten mit Berühmtheiten wie Richard Strauss, Alma Mahler (damals schon Werfel), Gerhart Hauptmann, Felix Salten, Stefan Zweig und Shalom Asch. In ihren Briefen an Verwandte in Belgien beschreibt meine Mutter mit viel Humor ihre Eindrücke von der Lebensfreude der Wiener, ungeachtet der Finanzkrise und Arbeitslosigkeit. Wie abenteuerlich ihr Leben sich danach gestaltete, schildert mein Vater sehr anschaulich. Ohne meine Mutter hätte er vieles nicht überstanden. Ihre Hellsichtigkeit bewahrte ihn vor Fehlentscheidungen, ihr Urteilsvermögen, ihre Menschenkenntnis war sicherer als seine, sie erkannte schneller den Blender oder den Lügner. Was immer geschah, waren sie sich stets einig, welchen Weg sie zu gehen hatten. Sie meisterten die schwierigen Zeiten, ohne viel darüber zu reden. Der Respekt füreinander, die gegenseitige Toleranz und das Hochhalten ihres Versprechens, in guten und in bösen Tagen füreinander da zu sein, gab uns den festen Boden, auf dem wir uns entfalten konnten. Colienne  : Nach elfjähriger Tätigkeit als österreichischer Botschafter in London wurde mein Vater 1966 Botschafter beim Heiligen Stuhl. Nach seiner Pensionierung 1968 blieb er gleich in Rom und engagierte sich bis zu seinem Tod für den Malteserorden beim Quirinal. Die Liebe meiner Eltern zu Italien hatte dazu geführt, dass sie gleich nach dem Krieg eine von der englischen und amerikanischen Besatzung arg zugerichtete Villa in der Nähe von Florenz gekauft hatten. Sie verliebten sich auf den ersten Blick in die toskanischen Hügel. Damals lebte der betagte Bernard Berenson, Prophet unter den Kunsthistorikern, in Fiesole. Man pilgerte ehrfürchtig zu seinem Haus »I Tatti« und lauschte hingebungsvoll seinen mit Fistelstimme vorgetragenen Weisheiten. Er liebte es, von jungen Mädchen umgeben zu sein, und zitierte oft Proust  : »à l’ombre des jeunes filles en fleur«. Auf jedem florentinischen Hügel herrschte ein Kulturbonze, und die Adabeis hatten Mühe, bei allen anwesend zu sein. Da mein Bruder und ich es vorzogen, zwecks Studium oder Unterhaltung, immer woanders zu sein als unsere Eltern gerade waren, bekam unser Vater uns nicht oft zu sehen. Er nahm aber lebhaften Anteil an unseren Erfolgen und Niederlagen. Erst nach meiner Heirat und der Geburt unserer Kinder wurden die Begegnungen häufiger und inniger. Wenn ihm seine Arbeit Zeit ließ, unternahmen er und meine Mutter weitläufige Reisen. Sie waren von ande-

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ren Kulturen fasziniert, er von ihren Religionen, sie von ihrer Kunst. Er rang um seinen Glauben und arbeitete an seinem Gottesbild. Der tödliche Unfall war, im Rückblick, ein Geschenk der Vorsehung. Die kleinen, demütigenden Erfahrungen des Altwerdens, das Schwinden ihrer Aufnahme- und Begeisterungsfähigkeit blieben ihnen erspart. »Der Gerechte aber, kommt auch sein Ende früh, geht in Gottes Ruhe ein. Denn ehrenvolles Alter besteht nicht in einem langen Leben/ und wird nicht an der Zahl der Jahre gemessen. Mehr als graues Haar bedeutet für die Menschen die Klugheit/ und mehr als Greisenalter wiegt ein Leben ohne Tadel.« (Weisheit 4,7–9)

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Worlik – die Adlerburg – um 1900.

Verlobungsfoto der Eltern J. E. Schwarzenbergs: Prinz Karl IV. von Schwarzenberg (1859–1913) und Gräfin Ida Hoyos (1870–1946), die Hochzeit fand am 24. November 1891 statt.

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Oben links: Fürst Karl IV. Schwarzenberg, ­Großgrundbesitzer und Politiker, im Ornat des ­Goldenen Vlieses. Oben rechts: Fürstin Ida Schwarzenberg. Links: der Verfasser als »Schwarzenberg Ulan«.

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V.l.n.r.: Prinzessin Marie Schwarzenberg, Fürstin Ida Schwarzenberg, Prinzessin Eleonore Schwarzenberg, Gräfin Eleonore Hoyos, geb. Gräfin Paar und Mutter Fürstin Idas, auf ihrem Schoß der Verfasser, am Tisch sitzend Prinz Ernst Schwarzenberg, stehend des Verfassers Halbbruder Prinz (ab 1913 Fürst) Karl V. Schwarzenberg.

Links: der Verfasser als ­Gymnasiast. Rechts: Fürstin Ida Schwarzenberg und der Verfasser als Student in Wien.

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Oben: Jagd in Worlik, 1910. Stehend v.l.n.r.: Prinz Karl (V.) Schwarzenberg, Baron Karl Bronn, Graf Rudolf Hoyos, Graf Leopold Nostitz, Prinz Friedrich (Fido) Schwarzenberg, Graf Ernst Silva-Tarouca, Fürst Karl VI. Schwarzenberg, Fürstin Ida Schwarzenberg, Prinzessin Marie Schwarzenberg, Gräfin Marie Czernin, Prinzessin Christiane Schwarzenberg, Graf Ottokar Czernin; Sitzend v.l.n.r.: Baronin M ­ aria Bronn, Erzherzog Franz Ferdinand, Prinzessin Eleonore Schwarzenberg, Herzogin Sophie von Hohenberg (geb. Gräfin ­Chotek), Gräfin Cara Nostitz, Prinz Johannes Schwarzenberg (der Verfasser).

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Prinzessin Marie (Manie) Schwarzenberg auf Brown Boy, Prinzessin Eleonore (Loka) Schwarzenberg, der Verfasser auf Kiebitz. Der Statthalter von Böhmen, Fürst Franz Thun-Hohenstein, mit Erzherzog Franz Ferdinand anlässlich eines Manövers um 1913.

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Manövereindrücke. Oben: Erzherzog Franz Ferdinand auf Manöver um 1904/5. An des Erzherzogs linker Seite, auf dunklem Pferd, reitet Generalmajor Reichsgraf Felix Orsini-Rosenberg (1846–1905). Dieser war 1890 Mitglied der Militärkommission, die den Waffenstillstand zwischen Serbien und Bulgarien zustande brachte. 1905 wurde er Kommandant des 13. Korps und außerdem Kommandierender General in Agram. Alle Bilder hier wurden von Felix OrsiniRosenberg zur Verfügung gestellt. Familienarchiv F. Orsini-Rosenberg, Damtschach.

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Brief des Verfassers vom 6. Juli 1931 an seinen Freund und Gönner Emmerich von Pflügl (1873–1956), der als Vertreter der österreichischen Regierung beim Generalsekretariat des Völkerbundes wirkte. Der Brief enthält, beiläufig eingestreut, die Ankündigung der Verlobung des Verfassers und seiner bald darauf folgenden Vermählung (1.9.1931) mit der aus Belgien stammenden Kathleen de Spoelberch (19.5.1905–26.5.1978). Kathleen verließ Belgien, um an der Akademie der Bildenden Künste in Wien Bildhauerei und Kunstgeschichte zu studieren.

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Oben, v.l.n.r.: Die belgische Schwiegerfamilie des Verfassers um 1910; Vicomte Guillaume de Spoelberch, Kathleen, ihr Bruder Eric, Vicomtesse Colienne de Spoelberch (geb. Colienne de Neufforge) und Werner. Links: Verlobungsfoto von Kathleen Spoelberch und Johannes E. Schwarzenberg

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Hochzeit von Kathleen und dem Verfasser in Wespelaer, Belgien, am 1. September 1931.

Anlässlich seiner Flitterwochen besucht der ­Bruder des japanischen Kronprinzen Wien im Jahre 1930. Das Bild zeigt Prinz Takamatsu und Prinzessin Kikuko auf Besuch in einem Wiener Kinderheim. Der Verfasser, als »Ehrenkavalier« und Englisch sprechender Sicherheitsbeamter vom Innendienst bereitgestellt, ist ganz rechts außen zu sehen.

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Maria Schmidt-Chiari und Guido Schmidt, der Verfasser (vermutlich von Kathleen Schwarzenberg um 1931 aufgenommen). Links im Bild Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß, rechts außen der Verfasser. Reiseanlass war die Weltwirtschaftskonferenz (12. Juni–27. Juli) 1933 in London. Ziel war es, eine Einigung bezüglich Maßnahmen zur weltweiten Eindämmung der Depression zu erreichen, den internationalen Handel zu beleben und die Wechselkurse zu stabilisieren. Der Verfasser begleitete den Kanzler als Legationssekretär.

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Zeitungsartikel vom 11. Juni 1933 aus der »Neuen Freien Presse« anlässlich der Weltwirtschaftskonferenz in London. Unten: Ausschnitt aus dem »Evening Standard«.

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Mitglieder der österreichischen Gesandtschaft in Rom um 1934. Der Verfasser, Botschafter Dr. Anton ­Rintelen, Militärattaché Libitzky, Delegierter Dr. Adrian Rotter. 1934 Rom.

Der deutsche Botschafter in Rom, Ulrich von Hassell, und Kathleen Schwarzenberg.

Bundeskanzler Dr. Schuschnigg bei Benito Mussolini. August 1934.

Oben: Porträtfoto Benito Mussolinis, Prinzessin Kathleen Schwarzenberg persönlich gewidmet, 1935. Links unten: Dr. Schuschnigg in Genua an Bord der »Conte di Savoia«, der Verfasser befindet sich in der hinteren Reihe mit aufgesetztem Hut. Rechte Seite: Zeitungsausschnitte aus der »Times« vom 22. 8. 1934 anlässlich des Besuchs von Dr. Schuschnigg bei Mussolini. Schuschnigg begab sich nach Rom, um Mussolini zu überzeugen, dass Italien sich weiterhin für Österreich als Schutzmacht einsetze. Indes wandte Mussolini sein Interesse der Eroberung Abessiniens zu und brauchte daher für dieses Abenteuer Hitlers Rückendeckung. Im Gegenzug verabschiedete Mussolini sich aus der Rolle der Schutzmacht Österreichs.

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Oben links v.l.n.r.: Österreichische Gesandtschaft Berlin, 1937. Oberst Pohl, der Verfasser, Gesandter DI Stephan Tauschitz, Presseattaché Lazar, Legationssekretär Heinrich Calice, Legationsrat Rudolf Seemann Mitte rechts: Theodor von Hornbostel (1889-1973), um 1950. Hornbostel war ein sehr enger Freund der Schwarzenbergs, wie auch großer Förderer des Verfassers. Am 1.4.1938 wurde Hornbostel im »Prominententransport« in das KZ Dachau deportiert, wo er sich von Januar bis September 1939 in Einzelhaft befand. Ende September wurde er nach Buchenwald verlegt; er kam 1943 frei, wurde aber von den NSBehörden mit einem Rückkehrverbot nach Österreich belegt. Unten links: Porträtaufnahme Kathleens im Genfer Exil um 1943/44. Diese Aufnahme wurde von der renommierten französischen Künstlerin Georgette Chadourne (1899–1983) angefertigt. Chadournes legendäre Porträts von Künstlern wie Bonnet, Matisse, Monet und Picasso und anderen Kunstgrößen, aufgenommen zwischen 1920 und 1930, waren damals bereits weltbekannt.

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Oben: Botschafter Dr. Norbert Bischoff (1894–1960) und der Verfasser während der Pariser Friedenskonferenz in 1946, auch Konferenz der 21 Nationen genannt. Auf dieser Konferenz handelten die Siegermächte (Sowjetunion, USA, Großbritannien, Frankreich) die Friedensbedingungen mit den Kriegsverlierern (Bulgarien, Finnland, Italien, Ungarn) aus. Die Verträge, die den Verlierern die volle Souveränität

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zurück gaben und die Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen erlaubten, wurden im Februar 1947 unterzeichnet. Unten links: Kathleen Schwarzenberg und Bundeskanzler Dr. Leopold Figl (1902–1965) in Rom an der österreichischen Gesandtschaft 1947. Unten rechts: Johannes und Kathleen Schwarzenberg, Rom 1947.

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Oben links: Dr. Adolf Schärf (1890-1965) und der Verfasser. Mitte rechts, v.l.n.r.: der Verfasser, Senatspräsident Ivanoe Bonomi (1873–1951) und Außenminister (der Bundesregierung FigI), Dr. Karl Gruber (1909–1995) in Rom. (Gruber war bis November 1953 österreichischer Außenminister.) Sein Hauptinteresse galt der Lösung der Südtirolfrage. Selbstbestimmung für Südtirol war politisch nicht durchzusetzen, wohl aber die Autonomie, die am 5. September 1946 im Gruber-De-Gasperi-Abkommen festgelegt wurde. (Dieser Vertrag regelte den Schutz der deutschsprachigen Einwohner der Regionen Südtirol und Trentino.) Oben rechts: Alcide De Gasperi (1881–1954) und Dr. Leopold Figl. Unten rechts: Italiens Präsident (von 1948 bis 1955) Luigi Einaudi (1874-1961) und der Verfasser anlässlich der feierlichen Übergabe des Akkreditierungsschreibens am Quirinal in Rom, am 25.5.1952.

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Oben: der Verfasser mit seiner Tochter Colienne, um 1950 aufgenommen. Colienne sollte später eine Ausbildung zur Pianistin in London und Florenz sowie dann am Pasteur-Institut in Lille ein Studium der Bakteriologie absolvieren. Unten: Die Abbildung zeigt Kathleen in ihrem Atelier an einer tönernen Büste des Fürsten Joseph Schwarzenbergs arbeitend. Unten: Schwarzenbergs ältester Sohn Karl Erkinger bei Ausgrabungen etruskischer Gräber um 1950. Erkinger sollte später Archäologe werden und sich einen Namen in der Alexander-(des Großen)Forschung machen. Rechts: Erkinger, um 1950

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Oben links: London, am 23. März 1955. Johannes Schwarzenberg als österreichischer Botschafter auf dem Weg zur feierlichen Übergabe des Akkreditierungsschreibens an die Königin von England. Oben rechts: Kathleen Schwarzenberg auf dem Weg zur feierlichen Übergabe des Akkreditierungsschreibens ihres Mannes an die Königin von England. Unten links: London, um 1955, Kathleen, von der Künstlerin Lotte Meitner-Graf aufgenommen. ­Unten rechts: der Verfasser Ende der fünfziger Jahre in London.

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Oben: der Verfasser auf der Fuchsjagd in England (um 1960). Unten: Kathleen und Lord Alec Douglas-Home in Schottland auf der Jagd.

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Lord Douglas-Home (1903 bis 1995) war Außenminister und auch Premierminister von England. Die Ehepaare Douglas-Home und Schwarzenberg waren eng befreundet und häufig bei Lord Douglas-Home zu Gast auf Jagden in Schottland. Unten links: der Verfasser und Lady Home, oben mit Lord Douglas-Home nach der Jagd.

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Oben: der Verfasser und Kathleen bei Papst Paul VI. (1897–1978) anlässlich der feierlichen Überreichung des Akkreditierungsschreibens 1964. (Der Verfasser ging nach seiner Amtszeit als österreichischer Botschafter am Vatikan in Pension, wirkte jedoch dann in Rom als Botschafter des Souveränen Malteser Ritterordens in Italien bis zu seinem frühzeitigen, tragischen Tod weiter.) Paul VI. wurde 1963 zum Papst gewählt. Aufgrund seiner tragenden Rolle für den Verlauf des Zweiten Vatikanischen Konzils bezüglich der Beschlussfassung und Umsetzung aller Reformentscheidungen wird er auch »Konzilspapst« genannt. Kein einzelner anderer Papst hat jemals eine so umfassende Reform der kirchlichen Gesetzgebung durchgesetzt (das nach-konziliare Gesetzbuch Codex Iuris Canonici wurde erst 1983 veröffentlicht). Unten rechts: Kathleen in ihrem Atelier in Rom, ein Porträt des Künstlers Milton Gendels bearbeitend, der Künstler selbst fertigte diese Aufnahme an.

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Oben links: Johannes und Kathleen waren sehr eng mit dem britischen Labourführer Hugh Gaitskell (1906–1963) und dessen Frau Dora befreundet. Dora sandte dem Verfasser diese Aufnahme ihres allzu früh verstorbenen Mannes 1972. Widmung Doras auf der Rückseite dieser Aufnahme. »To Kathleen and Johannes – Friendship is all! And love! Dora. February 12th 1972«. Unten eines der letzen Bilder Schwarzenbergs, vor dessen tödlichen Autounfall in Florenz. Oben rechts: eines der letzen Bilder Kathleens, hier mit ihrer Tochter Colienne abgebildet, ehe sie gemeinsam mit ihrem Mann am 26. Mai 1978 tödlich verunglückte.

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Dokumentarteil

Ist’s doch ein Ehrenkleid, das hurtig schrumpft; stückt man nicht Tag für Tag etwas hinzu,

geht gleich die Zeit mit ihrer Schere dran.

Dante, Die Göttliche Komödie, Paradies,

XVI. Gesang Vers 7–9

Tu, o nobiltà di sangue, sei simile a un

mantello che presto si raccorcia: cosi che se non si rattoppa di giorno in giorno

il tempo lo consuma con le sue forbici.

Dante, Divina Commedia, Paradiso, Canto XVI, Vers 7–9

Oliver Rathkolb

Johannes Schwarzenberg – Eine Persönlichkeit der Zeitgeschichte im 20. Jahrhundert Die Lebenserinnerungen von Johannes Schwarzenberg (bis 3. April 1919 Prinz Schwar­zenberg) sind ein rares Beispiel für ungefilterte und persönliche Erinnerungen und Einschätzungen zur Zeitgeschichte Österreichs im 20. Jahrhundert, die eigentlich nur für die Familie verfasst worden sind. Schon als Fünfzehnjähriger erkannte er aufgrund der Nähe seines Vaters und des gesellschaftlichen Umfelds seiner Familie in Böhmen die zentralen politischen Fehler der Herrschaftselite der Monarchie, der es nicht gelang (vergleichbar mit Ungarn), ein Arrangement mit den »böhmischen« Bestrebungen nach nationaler Autonomie durchzusetzen. Bis 1917 wäre diese Option durchaus noch in einem gemeinsamen Staaten-Verbund, in einer gemeinsamen konstitutionellen Monarchie möglich gewesen. Der spätere langjährige österreichische Botschafter Schwarzenberg gehört überdies zu der sehr kleinen Gruppe von Angehörigen der ehemaligen Hocharistokratie, denen es gelang, in der turbulenten Zeit der Ersten Republik eine Beamtenkarriere zu beginnen. In den Augen vieler Adeliger, Freunde und Bekannter sollte dies einem gesellschaftlichen und politischen Hochverrat an der Monarchie gleichkommen, denn die neuen Repräsentanten der Republik hatten nicht nur das imperiale Vermögen verstaatlicht, sondern auch alle Adelstitel abgeschafft. Gleichzeitig überraschen seine offene – heute würde man sagen »coole« – Einstellung zu den Umbrüchen nach 1918 und sein Versuch, mit dem geringen Erbe, das ihm geblieben war und von der Nachkriegsinflation »aufgefressen« wurde, ein Jus-Studium zu finanzieren. Hingegen sollte sich das soziale Kapital, das er aus Böhmen nach Wien mitgebracht hatte, für seine weitere Karriere als Diplomat bezahlt machen, da er bereit war, es im Dienste der Republik Österreich einzusetzen. Seine Memoiren selbst setzen aber den gesamten zeitgeschichtlichen Kontext vo­ raus – vor allem die Jahre bis 1938 sind kaum ohne Zusatzinformationen zu verstehen, weshalb kurz in einigen Sätzen die signifikanten Brüche in der politischen Kultur der Ersten Republik zusammengefasst werden  : Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs befürworteten 1918 die maßgebenden politischen Kräfte in den Sozialdemokratischen, Christlichsozialen und Großdeutschen Parteien in Österreich die parlamentarische Demokratie und die Abschaffung der Monarchie trotz mancher monarchistischer Tendenzen innerhalb der Christlichsozialen  ; der Kleinstaat jedoch stieß auf große Skepsis. Der Satz vom »Staat, den keiner wollte« drückt diese Zweifel an der wirtschaftlichen

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und nationalstaatlichen Lebensfähigkeit eines nach dem Zerfall Österreich-Ungarns von rund fünfzig auf sieben Millionen Einwohner geschrumpften Staatsgebildes präzise aus. Der Wille zum Anschluss an das inzwischen ebenfalls demokratisch organisierte Deutsche Reich ging quer durch die politischen Parteien, besonders deutlich artikuliert von den Großdeutschen und den Sozialdemokraten  : Letztere sahen sich ganz in der Tradition der 1848er-Revolution und plädierten für einen Anschluss an ein demokratisches Deutschland. Bekanntlich akzeptierten die alliierten Siegermächte (Frankreich, Großbritannien und die usa) 1920 den Anschluss aus strategischen Gründen nicht, und die Anschluss-Idee fand auch in Deutschland nur halbherzige Unterstützung. Die nachfolgenden Jahrzehnte waren von der zunehmenden Militarisierung der politischen Auseinandersetzung und der Radikalisierung der Konflikte (Stichwort  : Justizpalastbrand 1927) inmitten sozialer und ökonomischer Dauerkrisen geprägt. Der autoritäre Kurs des christlichsozialen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß mit der Ausschaltung des Parlaments nach dem 4. März 1933 endete im Bürgerkrieg ab dem 12. Februar 1934 und führte zum Verbot der sdAP (Sozialdemokratische Arbeiterpartei). Schon am 7. März 1933 hatte der spätere autoritäre Bürgermeister von Wien Richard Schmitz im Christlichsozialen Klub die strategischen Interessen für den Verfassungsbruch offen angesprochen, da die Christlichsoziale Partei vor schweren Wahlverlusten und dem Ausscheiden aus der Regierungsverantwortung stand  : »Gott hat uns noch einmal eine Gelegenheit geschickt, das Land und die Partei zu retten.«280 Das Ziel, durch eine Kanzlerdiktatur und mittels Imitationsfaschismus den Nationalsozialismus, der seit 1933 in Deutschland an der Macht war, zurückzudrängen, scheiterte. Die Terrorattentate der Nationalsozialisten gingen weiter, Dollfuß selbst wurde im Juli 1934 bei einem missglückten Putschversuch ermordet. Sein Nachfolger Kurt Schuschnigg setzte vorerst auf einen Ausgleich mit Hitler-Deutschland ( JuliAbkommen 1936) und die Fortsetzung der Kanzlerdiktatur. Die vorsichtige Öffnung gegenüber der verbotenen »Linken« und den Gewerkschaften Ende 1937 kam jedoch zu spät und brachte ebenso wenig Erfolg wie eine für den 13. März 1938 anberaumte Volksbefragung »für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich«, die Hitler untersagte. Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht am 12. März 1938, dem kein Widerstand entgegengesetzt wurde, beendete endgültig die Kleinstaatlichkeit. An die 200 000 Menschen jubelten am Heldenplatz Adolf Hitler als »Befreier« zu. Gleichzeitig begannen erste Verhaftungswellen  ; 50 000 Österreicher/-innen, politische Gegner/-innen sowie Juden und Jüdinnen waren Opfer dieser ersten Terroraktionen. Zurück zu Schwarzenbergs autobiografischer Darstellung.  – Bereits in seinen Beschreibungen der Unterrichtssituation an der Universität Wien wird deutlich, welcher Ungeist die Alma Mater Rudolphina nach dem Ende der Monarchie endgültig beherrscht hat. Schon im späten 19. Jahrhundert kam es – dafür stehen bereits nach dem

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letztlich gescheiterten Versuch, die doppelsprachige Amtsführung (deutsch-tschechisch) im gesamten Gebiet von Böhmen und Mähren einzuführen (Badeni-Krise 1897), und den nachfolgenden blutigen Ausschreitungen deutschnationaler, schlagender Burschenschafter gegen jüdische, italienische und katholische Studierende  – zu einer hochgradig aggressiven antisemitischen und auch antislawischen Stimmung bei der akademischen Elite. An manchen Stellen irritiert es, wie Schwarzenberg selbst den relativ hohen Anteil jüdischer Studierender beschreibt, aber es wird rasch deutlich, dass er das nicht aus der Sicht eines katholischen Antisemiten tut, sondern eigentlich in der Retrospektive den Zeitgeist des Mainstreams reproduziert und wiedergibt, ohne diese rassistische Einstellung selbst mitzutragen. Erfrischend ehrlich und offen ist sein Bekenntnis, dass er nicht wirklich exzellente Leistungen erbracht hat, um eine wissenschaftliche Karriere zu machen. Trotz Aufnahmesperre wurde er 1928 als provisorischer Polizeikommissär und ab 1930 definitiv bei der Bundespolizeidirektion Wien aufgenommen. Die Diplomatenprüfung legte er im Juni 1931 mit sehr gutem Erfolg ab. Im Zusammenhang mit einem Abendessen mit Ignaz Seipel, dem ehemaligen Bundeskanzler, späteren Außenminister und ideologischen Führer der Christlichsozialen Partei, berichtet Schwarzenberg offen über den antidemokratischen Diskurs in den Zirkeln um Seipel. Hier überrascht, dass Seipel sich selbst zwar nicht als parlamentarischer Demokrat entpuppt, aber Schwarzenbergs Vorschlag, dass im Zusammenhang mit der Furcht vor einer »bolschewistischen Revolution« der Sozialdemokraten eine »ständestaatliche« Lösung nach Othmar Spann eine Möglichkeit für einen politischen Ausweg sei, heftig widerspricht. Seipel bezeichnet dieses Konstrukt als Fantasie des Mittelalters. Einige Jahre später sollte Seipels Nachfolger Engelbert Dollfuß gemeinsam mit Kurt Schuschnigg und vielen anderen trotzdem versuchen, dieses korporatistische Konzept umzusetzen, ohne dass dies wirklich im Sinne Spanns gelang. Wo Schwarzenberg politisch in dieser Zeit steht, bleibt unklar  ; sicherlich war er schon damals nicht großdeutsch eingestellt und kein »Salonbolschewist« oder Sozial­ demokrat. Er sieht sich sehr stark als »Beamter« auch im Sinne der Traditionen der Monarchie, die zwar häufig Theorie geblieben waren, aber durchaus manche geprägt haben, in dem Versuch, zu allen regierenden politischen Parteien und Strömungen offene und vorurteilslose Kontakte aufrechtzuerhalten und dem Staat loyal zu dienen. Mit einer Ausnahme  : Im Unterschied zu vielen – und ich würde sagen, der Mehrheit der österreichischen Gesellschaft dieser Zeit  – ist Schwarzenberg schon damals ein »offen anti-preußischer Patriot«, der weder mit dem Kulturdeutschnationalismus noch mit dem offenen Anschlussnationalismus etwas anfangen kann. Kontakte zu sozialdemokratischen Parteigängern und Politikern wurden von ihm für diese Phase nicht thematisiert.

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Dieser konservative Patriotismus hängt sicherlich mit seiner Prägung in einem hochadeligen Umfeld zusammen, wobei seine Identitätssozialisation nach 1918 doch sehr stark auf das verbliebene Staatskerngebiet umgelegt wurde, und nicht wie in der Mo­ narchie auf das Herrscherhaus fixiert war. Aussagekräftig sind auch seine Gespräche und Beschreibungen einer Reise mit Bundeskanzler Engelbert Dollfuß zur Weltwirtschaftskonferenz im Juni 1933, wo deutlich wird, in welcher innerlichen Zerrissenheit der Kanzler agierte, vor dem Hintergrund des nationalsozialistischen Drucks und der starken Orientierung seines autoritären Regimes am italienischen Faschismus. Aber kein Wort zum Verfassungsbruch und der Auflösung des Parlaments nach der Geschäftsordnungskrise vom 3. März 1933  : Die Fokussierung auf die antinationalsozialistische Politik von Dollfuß in diesen Monaten verhindert den Blick auf die demokratische politische Kultur und diese Option des antinationalsozialistischen Widerstandes. In dieser Retrospektive folgt ein irritierendes Kapitel, als Schwarzenberg seine Faszination für Benito Mussolini deklariert, aber auch hier fungiert er eher als Sprachrohr eines Teils der Gesellschaft, der sich von einigen propagandistisch hoch aufgezogenen Projekten wie der Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe blenden ließ. Hier würde man sich mehr Reflexion wünschen über eine zeitgeistige Einschätzung, die spätestens nach 1945 aufgrund des Wissens um die Realität der faschistischen Politik Mussolinis, die blutigste Spuren in Italien, in Jugoslawien oder in Abessinien und Nordafrika hinterlassen sollte. In der Darstellung von Engelbert Dollfuß steht bei Schwarzenberg eher die subjektive persönliche Nähe im Vordergrund, und es fehlt eigentlich die Grundeinschätzung seiner antidemokratischen Politik und deren Folgen. Das trifft übrigens auch für die Beschreibung der kurzen Tätigkeit bei dem damaligen Staatssekretär für Äußeres Guido Schmidt zu, wo Schwarzenberg auf der einen Seite zu Recht den Abschluss des Juli-Abkommens 1936 mit dem Deutschen Reich als politischen Fehler und als Aufgabe der nationalen Unabhängigkeitsbestrebungen bezeichnet. Auf der anderen Seite bleibt die sympathische Person des Vorgesetzten Schmidt im Vordergrund seiner Beschreibung, die politische Einschätzung gerät wieder in den Hintergrund. So ganz stimmt Schwarzenbergs beamtete »Unparteilichkeit« nicht, zumindest gibt es keine Einschätzungen und Beurteilungen des Februar 1934, des Bürgerkriegs und des vorangegangenen Verfassungsbruches 1933. Was immer wieder in seinen Erinnerungen durchkommt, ist seine offen antipreußische/antideutsche/antinationalsozialistische Grundgesinnung, die in seiner Arbeit und seinen Aktivitäten in Berlin deutlich wird. Für eine kritische Geschichte der Außenpolitik der Regime von Dollfuß und Schuschnigg mit dem ständigen Lavieren zwischen Anlehnung an Mussolinis Italien und dem Versuch, durch ein Gentlemen’s Agreement mit Hitler-Deutschland und

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die Wiederzulassung von Teilen der nationalsozialistischen illegalen Opposition die staatliche Unabhängigkeit und vor allem den Bestand der Christlichsozialen Partei zu sichern, müsste der Regimecharakter konkreter und umfassender beschrieben werden. Nach dem Anschluss 1938 wurde sich Schwarzenberg rasch bewusst, dass er höchst gefährdet war, weil er sich in der österreichischen Gesandtschaft in Berlin mit den Ausbürgerungen der geflüchteten illegalen Nationalsozialisten, die der »Österreichischen Legion« beitraten, beschäftigte. Andere Diplomaten, wie beispielsweise Erich Bielka, die dies ebenfalls durchführten, wurden sofort ins kz verschleppt. Durch Kontakte und Beziehungen seiner Frau konnte er aus Deutschland fliehen. Als Mitarbeiter einer Konservenfabrik in Belgien wurde er aber nicht wirklich glücklich, entkam den Deutschen Truppen neuerlich, und gelangte über Frankreich 1940 letztlich in die Schweiz. Seine früheren Beziehungen zu dem renommierten Schweizer Diplomaten und Historiker Carl Jacob Burckhardt sollten ihm bei der Bewerbung um eine Position beim Internationalen Komitee des Roten Kreuzes in Genf nützen. Zuerst fungierte er als Leiter des Übersetzungsdienstes, sollte aber dann die Zuständigkeit für Zivilinternierte und ab Ende 1942 für die heikelste Mission des ikrk, die »Jüdischen Frage«, übernehmen, in der Division d’Assistence Spéciale. Im ikrk beeindruckte er sehr mit »… elegantem Auftreten, die feinen Züge durch einen dünnen Schnurrbart unterstrichen« und durch die Tatsache,dass »der ›Fürst‹ aus dem österreichischen Hochadel« stammt. 281 Schon am 18. Mai 1933 diskutierte die Führung des ikrk die massive politische Gewalt in Deutschland nach der Machtergreifung Hitlers, wobei individuelle Nachforschungen nach kz-Häftlingen mit dem Deutschen Roten Kreuz vereinbart wurden. Es folgten Besuche Burckhardts der kzs Lichtenburg, Esterwegen und Dachau, doch schon 1939 weigerte sich das Deutsche Rote Kreuz, nach einer Demarche des ikrk zugunsten der politischen und »rassischen« Häftlinge, zu kooperieren. Im Zweiten Weltkrieg eskalierte die Situation, doch nach wie vor blieb das ikrk zurückhaltend und sah keine Kompetenzen der direkten Intervention zugunsten der deportierten jüdischen Häftlinge – außer in vagen Nachforschungen aus humanitären Gründen. Sowohl Druck seitens Schweizer Politiker, als auch antisemitische Einstellungen mancher Führungsfunktionäre des ikrk sowie die Sorge, die Kontakte zu den Kriegsgefangenen zu verlieren, prolongierten die extrem enge Auslegung der Kompetenzen. Schwarzenberg versuchte daher 1942, als ersten Schritt eine eher pragmatische Vorgehensweise durchzusetzen, da er für Zivilinternierte ausländischer Nationalität – auch in den kzs – zuständig war. Mittels erster Adressenlisten und nach langwierigen Verhandlungen mit seinen Vorgesetzten schickte er einfach Hilfspakete, die gesondert finanziert werden mussten, über die Service Colis Camps de Concentration (ccc) in ns-Konzentrati-

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onslager und stellte dadurch erste Kontakte her. Die Datei wuchs rasch von achtzehn Namen auf fast 100 000, von denen Lebenszeichen auf der Basis der Empfangsbestätigungen ermittelt werden sollten. Bis nach Südafrika reiste Schwarzenberg, um Lebensmittelpakete bzw. Spenden zu organisieren. Aber erst 1944 begann sich das ikrk wirklich offen in der Frage der kz-Häftlinge zu bewegen, wobei Schwarzenberg als zuständiger Experte eine wichtige Rolle spielte, die über punktuelle Hilfslieferungen in Form von Lebensmittelpaketen in kzs, die aber mit großem Engagement betrieben wurden, hinausging. Schwarzenberg schlug Ende September 1944 aufgrund des »vorgerückten Status des Krieges« eine »Überprüfung der klassischen Doktrin« vor, d. h. er plädierte für das Abgehen von der prioritären Intervention zugunsten Kriegsgefangener und Zivilinternierter und für den Versuch, ohne direktes Mandat den jüdischen kz-Häftlingen direkt zu helfen. Ursprünglich hatte auch er die defensive Linie des ikrk verteidigt, die vor allem auf einige einflussreiche Schweizer Bundesräte zurückging, die keine Konfrontation mit dem Deutschen Reich wünschten. Vor allem die usa hatten aber ihren Druck mit der Einrichtung des War Refugee Board ab Jänner 1944 massiv erhöht, und auch das us-amerikanische Rote Kreuz intensivierte diese Initiativen. In Ungarn versuchte Schwarzenberg daher 1944 dann doch den Transfer finanzieller Mittel durchzusetzen, die von us-Organisationen und Saly Mayer, einem erfolgreichen Unternehmer und ehemaligen Präsidenten des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, stammten, obwohl anfangs noch negative deutsche Reaktionen befürchtet wurden. Hier blieb das ikrk skeptisch, da die kriegsverlängernde Finanzierung der ss durch einen derartigen »Freikauf« nicht ausgeschlossen werden konnte. Letztlich scheiterte dieses Vorhaben.282 Auch sandte Schwarzenberg Informationen über die bevorstehende Vernichtung der ungarischen Juden und Hunderttausender Flüchtlinge an das Exekutivkomitee, das sich nach wie vor auf Hilfslieferungen beschränken wollte. Vor dem Hintergrund der ns-Vernichtungsaktionen erscheint diese in dieser Phase der ns-Vernichtungspolitik eine naive und eigentlich lächerliche Aktion zu sein, die zahlreiche Kräfte und Ressourcen blockierte, ohne wirklich etwas an der HolocaustMaschinerie zu ändern.283 In vielen Einzelfällen sicherten derartige Hilfslieferungen aber das individuelle Überleben, wie auch konkrete Dankschreiben an Schwarzenberg dokumentieren. Er war sich aber der insgesamt gesehen viel zu geringen Unterstützung der verfolgten Opfer des ns-Regimes in den Konzentrations- und Vernichtungslagern sehr wohl bewusst. Erst Ende August 1944 schaffte Schwarzenbergs Vorschlag auf der Basis von Informationen jüdischer Organisationen die Hürde des Exekutivkomitees des ikrk  : Lager und Häuser mit internierten ungarischen Juden wurden mit dem Zeichen des Roten Kreuzes und einem mehrsprachigen Text unter »Schutz des ikrk« gestellt284  – eine sehr späte Trendwende. Gleichzeitig sollte die Kontrolle der Lager durch Abgesandte

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des Roten Kreuzes intensiviert werden. Insgesamt gesehen, waren die Aktivitäten des ikrk nur teilweise erfolgreich, 565 000 ungarische Juden und Jüdinnen wurden umgebracht, nur 260 000 überlebten die Verfolgungen. Schwarzenberg verheimlichte seine anti-nationalsozialistische Gesinnung nicht und war in der österreichischen Exilgruppe in der Schweiz aktiv. So gehörte er als Vorstandsmitglied dem am 30. Mai 1944 gegründeten »Hilfskomitee für ehemalige Österreicher« an. Hier wurde er von manchen Konservativen wie dem ehemaligen österreichischen Gesandten Lothar Wimmer, der in Lausanne lebte, kritisiert, da Wimmer und seine konservative Gruppe behauptete, das »Hilfskomitee« sei in »sozial­ demokratischen Händen«. Gegen Kriegsende wurde Schwarzenberg im Umfeld der »Verbindungsstelle Schweiz« von Widerstandsaktivisten um Fritz Molden und Hans Thalberg aktiv, eine Gruppe, die intensive Kontakte zu den Alliierten – und hier vor allem zum Office of Strategic Services – herstellte.285 Schon im April sandte er an die neue Provisorische Staatsregierung ein Telegramm, um sich der neuen Republik zur Verfügung zu stellen – ohne über »materielles oder weltanschauliches zu richten  !«. Fast zur selben Zeit denunzierte Otto von Habsburg die Regierung Renner bei Präsident Harry S. Truman als kommunistisches trojanisches Pferd. Erst Ende Juli erfolgte eine hinhaltende Antwort von der Staatskanzlei an Schwarzenberg (s. Abb. S. 258). Durch die Etablierung einer provisorischen Staatsregierung, die nur in der sowjetischen Zone Ostösterreichs Kompetenzen umsetzen konnte, bestand 1945 die Möglichkeit, dass Österreich geteilt würde. Neben diesen grundsätzlichen Fragen der Etablierung neuer staatlicher Autoritäten vor dem Hintergrund der alliierten Administration nach der Zerschlagung des ns-Regimes prägte der Überlebenskampf den Alltag der Menschen und die Politik. Bis zum Frühjahr 1946 versorgten die Alliierten die Bewohner der jeweiligen Zone, wobei beispielsweise in manchen Industrieregionen Niederösterreichs nur noch 900 Kalorien pro Tag zur Verfügung standen. Insgesamt deckte das inländische Angebot an Nahrungsmitteln offiziell nur 40 Prozent der kargen Lebensmittelrationen, der Schwarzmarkt und die Hamsterfahrten zu Bauern rund um urbane Zentren hingegen boomten. Dazu kamen sechs Millionen Österreicher/innen und 1,65 Millionen Flüchtlinge (davon rund eine Million nicht deutschsprachig), deren Überlebenskampf nur durch gemeinsame Kraftanstrengungen von Alliierten und Österreicher/-innen zu bewältigen war. Rasch begann auch die Frage der geopolitischen Zuordnung Österreichs im beginnenden Kalten Krieg und die Beendigung der alliierten Administration durch einen Staatsvertrag die politische Agenda zu beeinflussen. Erst 1955 sollten mit dem Staatsvertragsabschluss in einer kurzen Phase der Entspannungspolitik und mit der Verabschiedung des Neutralitätsgesetzes stabile und auch international anerkannte Grundlagen für die Zweite Republik und eine souveräne Außenpolitik geschaffen werden.

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Bereits im Juli 1945 gelang Schwarzenberg eine Reise nach Österreich  – zwischen Flüchtlingskolonnen und tief erschüttert nach dem Besuch des Konzentrationslagers Mauthausen merkt er (in einem Artikel für das Morgenblatt der Zeitung »Die Ostschweiz«286) an  : »Nur mit tiefster Erschütterung verlässt man dieses Walhall, wo Hitler ungezählte Legionen seinem Dämon opfern ließ.« Höchst engagiert versuchte er, ehemalige Kollegen zu Hilfslieferungen und Spenden zugunsten von Österreicherinnen und Österreichern zu animieren, so wie er es vor Kriegsende in der Schweiz getan hat. Auch seine guten internationalen Verbindungen  – vor allem nach Großbritannien  – bot er dem Ballhausplatz an. Das ns-Regime hatte Johannes Schwarzenberg vorerst bis 1941 ohne Verwendung in den Wartestand versetzt und am 31. Oktober 1944 endgültig das Beamtenverhältnis gelöst. Es sollte aber bis zum 15. Mai 1946 dauern, ehe Johannes Schwarzenberg wieder in den auswärtigen Dienst der Republik Österreich eintreten konnte. Er wurde gleich zur Verwendung als Legationsrat zweiter Klasse an die österreichische Vertretung in Paris versetzt. Seine erste wichtige Tätigkeit war, an der Pariser Friedenskonferenz als Sekretär mitzuwirken, wo er in die Verhandlungen über eine Südtirol-Lösung am Rande eingebunden war. Wie viele andere nahm er hier einen sehr positiven Eindruck des zentralen italienischen Gegenübers von Außenminister Karl Gruber – Alcide De Gasperi – mit, sollte aber dann vor allem als Botschafter in Rom sehr bald erkennen, dass diese Lösung zu schnell und unpräzise getroffen wurde, sodass die konkrete Umsetzung einer Autonomielösung noch Jahrzehnte auf sich warten lassen sollte. Ursprünglich war er schon als Botschafter in London vorgesehen, wurde aber aufgrund diverser britischer Vorbehalte bei der Sondierung des Agréments in London abgelehnt. Der Generalsekretär in der Staatskanzlei Auswärtige Angelegenheiten Heinrich Wildner wollte Schwarzenberg als Platzhalter für den früheren Vorstand der Politischen Abteilung des Außenamts vor 1938, Theodor Hornbostel, nach London schicken. Wildner schrieb in seinem Tagebuch dazu am 6. November 1945 aber, dass das »englische Außenamt … jemanden möchte, der unscheinbarer ist und der jetzigen Richtung mehr entsprechen würde«.287 Auf Intervention des sozialistischen Vizekanzlers Adolf Schärf wurde der der övp als nahestehend zugeordnete Johannes Schwarzenberg schließlich als Botschafter nach Rom versetzt, wo er bis 1955 die frühen Südtirol-Sondierungen und -Gespräche wesentlich mitgestalten sollte – auch wenn er etwas Distanz zu den emotionalen Interessen der Südtiroler wahrte. Hier sah er sich in der Rolle eines »Beichtvaters für alle Südtiroler Belange«. 1955 übergab er höchst pessimistisch sein »Römisches Testament« an seinen Nachfolger Max Löwenthal-Chlumecky  : »Ich bin oft, sehr oft, allerdings immer nur mündlich (denn schriftlich hätte sich ein untragbares Inzident ergeben), ganz gehörig energisch, ja grob geworden. Ich habe mir namentlich an höchster Stelle kein

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Blatt vor den Mund genommen. Genützt hat es genau so wenig wie die auf juristischen Argumenten basierenden Papierkriege.« Wie all seine Tätigkeiten waren seine Berichte, wie jene nach 1955 aus London, präzise, und er versuchte bei allen diplomatischen Aktivitäten immer wieder, seinen subjektiven Standpunkt zurückzunehmen und die »Staatsinteressen« in den Vordergrund zu stellen. Dies wurde ihm manchmal beispielsweise von Südtirolern vorgehalten. Dass ihm diese Haltung nicht einfach fiel, sieht man an seiner kurzen Darstellung in den Memoiren über die Entschädigungsverhandlungen und die Restitutionsanträge emigrierter Juden in Großbritannien. An diesem Punkt wird deutlich, dass Johannes Schwarzenberg seit 1933 kaum Zeit im Lande selbst verbracht hat und vor allem 1945/1946 die Debatten um die »Opferdoktrin« und den Umgang mit den Überlebenden des Holocausts bis zu der materiellen Entschädigung und Restitution für die ns-Verfolgung und -Beraubung nicht direkt miterlebt hat. Wie manch anderer Exilant reagierte auch Schwarzenberg ganz als Patriot, ohne die Verantwortung der österreichischen Gesellschaft, die er 1938 aber auch nicht direkt miterlebt hatte, mit zu berücksichtigen. Bereits in der Deklaration der Provisorischen Staatsregierung Renner vom 27. April 1945, die eindeutig die Handschrift des Staatskanzlers trägt, wurde jede genaue Benennung der Opfer – im konkreten der Juden – peinlichst vermieden. Der Anteil der Österreicher als Täter wurde hinter der Alleinverantwortung der »Reichsdeutschen« und illegalen österreichischen Nazis der Jahre 1933–1938 versteckt. Auch sollten durch die Opferdoktrin etwaige Reparationsansprüche wie nach 1918 verhindert werden. Eine Sonderstellung der besonders von der ns-Verfolgungs- und Vernichtungspolitik betroffenen jüdischen Opfer sollte vermieden werden, obwohl schon 1945 klar war, dass es hier entsprechenden internationalen Druck geben würde. Hier spielte durchaus ein massiv wirkender Antisemitismus in den Wiener Entscheidungsgremien eine Rolle und das politische Kalkül, die Rückkehr von Juden und Jüdinnen zu verhindern. Ab 1949 wurde jede Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust (und damit verbunden alle Entschädigungsansprüche) auf die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben. Wie die meisten Diplomaten und Beamten dieser Zeit stellte sich Schwarzenberg hinter die Staatsdoktrin und verteidigte die Hinhaltestrategie der österreichischen Bundesregierungen. Zwischen 1946 und 1949 waren insgesamt sieben Rückstellungsgesetze erlassen worden, die konkrete Restitution bzw. Entschädigung für vernichtetes Vermögen gestaltete sich aber extrem schwierig bis unmöglich. Es bedurfte einer Gewaltanstrengung, um in diesem juristischen und politischen Dickicht erfolgreich zu sein, eine Kraft, die vielen Holocaust-Überlebenden und deren Nachkommen begreiflicherweise fehlte. An diesem Beispiel, aber auch in der Analyse seiner Arbeit für das ikrk wird deutlich, dass selbst hohe Beamte und Diplomaten wie Schwarzenberg zwar über viele

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Informationen verfügten, aber letzten Endes zentrale Entscheidungen nicht selbst herbeiführten. In diesem Kontext sah er sich immer als ein Idealtypus des Beamten und Staatsdieners, der möglichst klare und ungefilterte Informationen an seine Vorgesetzten und Entscheidungsträger weitergeben wollte. Schwarzenberg war durchaus angetan von der aktiven Neutralitätspolitik, die Außenminister Kreisky ab 1959 auf Schiene setzte, und konstatierte den Abschied von der »Kirchturmaußenpolitik«, die nur um die Österreich-Frage kreiste. Für den Sozialdemokraten Bruno Kreisky war Außenpolitik Teil der österreichischen Identitätsfindung, auch vor dem Hintergrund der historischen Entwicklungen, jedoch in einem wesentlich größeren Zusammenhang (»Österreich ist das Ergebnis eines mehr als zweitausendjährigen Prozesses der Integration verschiedener großer europäischer Völkerschaften.«288). Sie sollte die »Außenpolitik des österreichischen Volkes«, unter bewusster Abgrenzung von Deutschland, sein mit einer »selbstbewussten Außenpolitik, die in einer vernünftigen Relation zu seinen Möglichkeiten steht, die jedoch dem Land eine Reputation gibt, die über das Maß seiner tatsächlichen wirtschaftlichen und politischen Potenz hinausgeht«. Hier trafen sich Kreiskys Vorstellungen durchaus mit jenen von Schwarzenberg. In diesem Sinne sollte die österreichische Neutralitätspolitik keineswegs zu sehr vom »Strom der Weltpolitik« abweichen, aber eine Politik in alternativen Szenarien entwickeln, um zum Beispiel die Entspannungspolitik im Kalten Krieg in Europa zu fördern oder die Entwicklungspolitik im Nord-Süd-Konflikt zu thematisieren. Die Präzision der diplomatischen Berichte von Schwarzenberg wurde von allen Außenministern geschätzt. Vor allem in Großbritannien setzte er sich für die Anerkennung der österreichischen Neutralitätsdoktrin ein, da das Foreign Office 1955 überzeugt war, Österreich werde bald in die Prokommunistische »Blockfreiheit« abdriften. Botschafter Schwarzenberg hingegen versuchte, die neue Neutralitätspolitik glaubwürdig zu kommunizieren  : »Weil die von Österreich gewählte Neutralität unserem Lande die Verwicklung in militärische Konflikte ersparen soll, andererseits aber dem Österreicher die volle geistige Ungebundenheit und Unabhängigkeit gewährleistet, darf und soll er die volle Freiheit des Kampfes ›mit des Geistes heiteren Waffen‹, mit den unerschöpflichen Kampfesmitteln der Kunst und Wissenschaft, in Anspruch nehmen«. Immer wieder argumentierte er für eine spezielle Position Österreichs zwischen den Blocksystemen im Kalten Krieg.

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Die Auschwitz-Protokolle in Schwarzenbergs Nachlass Als die Herausgeber darangingen, die vielen Schachteln in Schwarzenbergs Nachlass durchzusehen, stießen sie auf die Korrespondenzmappen aus seiner Zeit beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ikrk) in Genf. Unter den zahlreichen Dokumenten und Pauskopien seiner Briefe fanden sich zwei der vier »Auschwitz-Protokolle«. Ehe ganz kursorisch auf die Auschwitz-Protokolle und deren geschichtliche Bedeutung eingegangen wird, möchten wir die historischen Dokumente in der Reihenfolge ihres Aufscheinens aufzählen  : Dokument A  : »Postverkehr mit Einwohnern von Theresienstadt«. Dieses Dokument wurde Schwarzenberg am 28. April 1943 vom Pastor Adolf Freudenberg (1894–1977) übermittelt. Freudenberg leitete den Ökumenischen Ausschuss für Flüchtlingshilfe in Genf und betreute jüdische und regimekritische Flüchtlinge aus Deutschland. Das Dokument stellt eine Aussendung der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland dar, welche den Postverkehr mit in Theresienstadt internierten Juden regelte. Dokument B  : Pauskopie des Briefes Schwarzenbergs an den Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund (1888–1961), vom 26. Juni 1944. Schwarzenberg kündigt Rothmund die Sendung beigelegter Schriftstücke, nämlich die Berichte Tabeaus und Vrba/Wetzlers, an. Dokument C  : Brief Rothmunds an Schwarzenberg vom 27. Juni 1944. Rothmund bestätigt den Erhalt der Schriftstücke. Dokument D  : Faksimile des 16-seitigen Tabeau-Berichtes. Dokument E  : Faksimile des 28-seitigen Vrba/Wetzler-Berichtes inklusive der schematischen Darstellung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. Dokument F  : Abschrift eines Artikels Schwarzenbergs, der am 2. August 1945 teils in der Ausgabe des Morgen- (Seite 2) und teils der des Abendblattes (Seite 2) der Schweizer Tageszeitung »Die Ostschweiz« unter dem Pseudonym »F. S.« erschien und eine Reise im Auftrag des ikrk nach Mauthausen und Westösterreich zum Inhalt hat.

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Dokument G  : Faksimile eines Schreibens des ikrk vom 9. Juni 1945. Das ikrk bittet die amerikanische Militärregierung und die örtlichen Behörden um Hilfestellung bei Feststellung der medizinischen Lage und der Versorgung der Bevölkerung. Dokument H  : Vor- und Rückseite des von der amerikanischen Militärregierung ausgestellten Befreiungsscheins Schwarzenbergs. Dieses Dokument erlaubte Schwarzenberg uneingeschränkte Bewegungsfreiheit. Dokument I  : Brief des Holocaust-Überlebenden Henry Schloss an Schwarzenberg vom 28. September 1977. Schloss war in Günskirchen inhaftiert, dort erhielt er eines der lebensrettenden Rotkreuz-Essenspakete. In diesem Schreiben zitiert er eine Passage aus Arthur Morses Buch »While Six Million Died«, die Schwarzenberg als Initiator dieser Paketmission erwähnt. Schwarzenberg daraufhin für sein Engagement dankend, bittet er um Informationen über seine von den Nazis aus Krakau deportierten Verwandten. Die »Auschwitz-Protokolle« Die »Auschwitz-Protokolle« wurden zwischen November 1943 und Mai 1944 mit dem Ziel verfasst, der Weltöffentlichkeit von dem in Auschwitz industriell und systematisch betriebenen Massenmord an den Juden zu künden. Aus Sicht der Alliierten stellten diese von Opfern verfassten Berichte die ersten zuverlässigen und glaubwürdigen Zeugnisse von der praktischen Umsetzung der von Hitler fanatisch angestrebten »Endlösung der Judenfrage« dar. Die Berichte beschreiben folgende Einrichtungen detailliert  : –– das Lager, dessen Organisationssystem, die Häftlingshierarchien und den Tagesablauf der Häftlinge, –– die Klassifizierung der Gefangenen und das zur lückenlosen Erfassung der Häftlinge von der ss eingeführte Nummerierungssystem, –– die Methoden des Tötungsprozesses in den Gaskammern, die Tötungsmethoden der nicht für die Vergasung infrage kommenden Häftlinge, und –– die sorgfältige Aufzählung der in Auschwitz-Birkenau bereits der Vergasung zugeführten jüdischen Opfer während des Zeitraums April 1942 bis Juni 1944. Nach John S. Conway lag »[…] die Bedeutung der Berichte von 1944 […] darin, dass sie anschauliche und genaue Beschreibungen lieferten, die solche furchtbaren Gerüchte in Tatsachen verwandelten und, selbst für Skeptiker, Details enthielten, die nicht mehr als übertriebenes Gerede weggewischt werden konnten.« (Conway 1979  : 270)289 Diese Berichte, generell als die »Auschwitz-Protokolle« bekannt, stellen sich zusammen aus

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1. dem Bericht des polnischen Offiziers Witold Pilecki (1901–1948). Pilecki ließ sich im September 1940 ins Konzentrationslager einschleusen, um für den polnischen Untergrund Informationen zu den Vorgängen im Lager einzuholen und den Widerstand im Lager zu organisieren. Er brach zwischen dem 26. und 27. April 1943 aus. Dieser Bericht erreichte zunächst Anfang August 1943 das amerikanische Office of Strategic Services (oss) in London. 2. dem Bericht des »polnischen Majors«, der am 24. März 1942 nach Auschwitz deportiert wurde und Ende November 1943 ausbrechen konnte. Der britische Historiker Martin Gilbert konnte 1981 die wahre Identität des »Majors« aufdecken und den französischstämmigen polnischen Medizinstudenten (und Mitglied des polnischen Untergrundes) Jerzy Tabeau als Verfasser dieses Berichtes identifizieren. Tabeau erreichte am 19. März 1943, am selben Tag, als deutsche Truppenverbände Ungarn besetzten, Budapest. 3. den Aufzeichnungen der am 7. April 1944 aus Auschwitz entflohenen slowakischen Juden Rudolf Vrba290 (1924–2006) und Alfréd Wetzler291 (1918–1988). Nach einem zehntägigen, gefahrvollen Fußmarsch erreichten Vrba und Wetzler die Slowakei, wo sie zwischen dem 21. und 25. April 1944 ihre Erlebnisse Dr. Oscar Krasniansky, einem Vertreter des slowakischen Judenrates, diktierten, der zugleich auch die Übersetzung ins Deutsche und die Weiterverteilung besorgte. 4. einem Bericht von Arnošt Rosin und Czeslaw Mordowicz, die ebenfalls, kurz nach Vrba und Wetzler, am 27. Mai 1944 aus Auschwitz entfliehen konnten und vom Schicksal der ersten aus Ungarn im Mai 1944 nach Auschwitz deportierten Juden berichteten. Erhaltene Kopien dieser Berichtkonvolute befinden sich heute in der Nachlass-Bibliothek des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt (Hudson River Valley, New York), im vatikanischen Archiv und in Yad Vashem, Jerusalem. In Schwarzenbergs Nachlass selbst liegen nur die Berichte Tabeaus und Vrba/Wetzlers vor. Dass in Schwarzenbergs Nachlass nur die Berichte Tabeaus und Vrba/Wetzlers ohne Zusatz des Mordowicz/Rosin-Berichtes vorliegen, weist darauf hin, dass Schwarzenberg die Berichte von Gerhard Riegner (1911–2001), dem Repräsentanten des Jüdischen Weltkongresses (jwk) in Genf, erhalten hat. Riegner gehörte zu dem Informationsnetz zwischen dem jwk, der tschechoslowakischen Exilregierung in London, in Genf vertreten durch Jaromír Kopecký (1899–1977), den Jüdischen Gemeinden in der Schweiz und dem ikrk. Er organisierte nicht nur die Finanzierung und Sendung von Hilfspaketen für kz-Häftlinge in Theresienstadt, sondern wirkte zusammen mit Saly Mayer 1944 an Rettungsaktionen für die ungarischen Juden mit. Riegners unermüdliches, von Ideenreichtum gekennzeichnetes Engagement für die verfolgten Juden führte dazu, dass das ikrk sich kritisch mit der Situation in den Konzentrationslagern

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auseinandersetzte. Seinen Verbindungen und seinem Verhandlungsgeschick ist es zuzuschreiben, dass ikrk-Delegierte sich ständig in den Lagern aufhalten konnten, was vielen Inhaftierten in der Endphase des Krieges das Leben rettete. Über Riegner kann der Weg der Berichte weiter zu Jaromír Kopecký, der die Berichte aus der Slowakei erhielt, zurückverfolgt werden.292 Die Nachzeichnung des Weges der Berichte Tabeaus und Vrba/Wetzlers ist insofern von chronologischer Bedeutung, da diese als Alarmsignal und Warnung an die ungarischen Juden gedacht waren. Rudolf Vrba sah in der bevorstehenden Vernichtung der ungarischen Juden einen zwingenden Grund, Anfang 1944 aus Auschwitz auszubrechen.293 Im Januar 1944 wurde damit begonnen, die Bahnschienen an der Rampe des Bahnhofs von Auschwitz direkt zu den Krematorien hin zu verlegen. Die Fluchtmöglichkeit für Vrba und Wetzler ergab sich »mit Bau einer Lagererweiterung, B III genannt«294. In seinen 1963 erstmals erschienenen Memoiren »I cannot forgive« erzählt Vrba, dass der Flucht eine längere Planungsphase voranging, denn das Fluchtversteck befand sich außerhalb der nachtsüber weniger bewachten kleinen Postenkette – die Häftlinge hielten sich ja hinter den Starkstromzäunen und Wachtürmen auf. Nicht nur physische Barrieren setzten einer Flucht Grenzen, sondern vielmehr schob die ablehnende Haltung der verbliebenen Häftlinge, die ja für jeden, auch gescheiterten, Fluchtversuch grausamst zur Rechenschaft gezogen wurden, einer Flucht den Riegel vor. Hätte ein Flüchtling es auch geschafft, die beiden elektrifizierten Stacheldrahtzäune lebend zu überwinden und unbeschadet an den Wachtürmen vorbei zu gelangen, dann hätten die schmetternden Sirenen die ganze Gegend alarmiert, und militärisches als auch ss-Personal hätte dann mit Spürhunden die Verfolgung aufgenommen und die Felder und Wälder durchkämmt. Mit seinem geschorenen Kopf und seiner Häftlingskleidung konnte ein Häftling von der örtlichen Bevölkerung keine Hilfe erwarten, bedeutete für diese doch die geringste Unterstützung eines entsprungenen Häftlings den sicheren Tod. »Es war eine Ironie des Schicksals, dass die Flucht Vrbas möglich gemacht wurde durch die Vorbereitungen der Nazis für die Aufnahme einer großen Zahl von Ungarn im Lager.« (Baron 1994  : 15)295 Während seiner Gefangenschaft im Vernichtungslager Auschwitz begegnete Vrba immer wieder Deportierten aus ganz Europa, die keine Ahnung von der mörderischen Zielsetzung der Nationalsozialisten hatten – sie alle waren der Meinung, in eigens für Juden geschaffenen »Reservaten« im Osten Arbeitsdienste für das Deutsche Reich zu verrichten. Und die ss setzte alles daran, ihre Opfer in diesem Glauben zu lassen, um weiterhin die Erfassung und Deportation der jüdischen Opfer in planmäßiger und effizienter Weise zu bewältigen. Vrba und Wetzler hofften, dass eine rechtzeitige Warnung die ungarischen Juden davon abhalten würde, ruhig und geordnet die Deportationszüge zu besteigen. Sie glaubten, mit ihrem Zeugnis die ungarischen Juden aufrütteln und zu kämpferischer Gegenwehr ermutigen und gleichzeitig die Alliierten zu ihrer Rettung umstimmen zu können.

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Was die beiden nicht wussten, war, dass sich Adolf Eichmann, Mastermind der Deportationslogistik, bereits am 10. März 1944 in Mauthausen mit seinem Planungsstab zum Erstellen adäquater Deportationspläne getroffen hatte. Zu diesem Zwecke hielt er sich schon am 12. März 1944 in Budapest auf und schritt mithilfe des deutschen Sonderbotschafters Veesenmayer zur Tat. Am 19. März marschierten deutsche Truppen in Ungarn ein  ; Döme Sztójay (1883–1946), ein williger Vollstrecker natio­ nalsozialistischer Direktiven, wurde zum Premierminister ernannt und peitschte in Windeseile Gesetze zur Entrechtung der Juden durch. Dank Sztójays energischem Wirken waren die geeigneten Grundbedingungen für die reibungslose Umsetzung von Eichmanns Plan innerhalb kürzester Zeit geschaffen. »Das in der deutschen Politik gegen die Juden zwischen 1933 und 1942 immer wieder spürbare Prinzip von ›Versuch und Irrtum‹ absorbierte zu diesem späten Zeitpunkt kaum noch Kräfte. Jedes Anzeichen für ein mögliches Misslingen konnte auf Grund älterer Erfahrungen sofort korrigiert werden.« (Gerlach/Aly 2004  : 435)296 Trotz der sich abzeichnenden Niederlage des Deutschen Reiches und der sich stetig dem Reich nähernden sowjetischen Truppenverbände im Osten wurden in einer Blitzkampagne, in einem Zeitraum von nur acht Wochen zwischen dem 15. Mai und dem 8. Juli 1944, an die 437 402 ungarische Juden brutalst wie Schlachtvieh in die bereitgestellten Waggons gepfercht und nach Auschwitz in den sicheren Tod verschickt – nach Christian Gerlachs und Götz Alys Berechnungen wurden nur etwa 25 Prozent297 der Deportierten in Auschwitz zur Zwangsarbeit ausgesondert (Gerlach/Aly 2004  : 441). Gleichzeitig ließ die jüdische Führung in diesem Frühjahr nichts unversucht, um den ungeheuren Druck der Regierung zu deflektieren, und mühte sich händeringend nach verwirklichbaren Rettungsmöglichkeiten zugunsten der noch verbliebenen jüdischen Bevölkerung. Dr. Ottó Komoly und Rudolf Kasztner, Begründer der Wa’adat Esra weHazala, einem im Januar 1943 ins Leben gerufenen Hilfs- und Rettungskomitee, unterstützten bereits vor der Besetzung Ungarns jüdische Flüchtlinge aus der Slowakei und Polen. Aus Gesprächen mit Oskar Schindler im November 1943 in Budapest – und mit Erhalt des Vrba/Wetzler-Berichtes Ende Mai – hatte das Hilfskomitee Kenntnis von der systematischen Ermordung der Juden in Auschwitz. Schindlers Besuch machte Komoly und Kasztner klar, dass man jüdisches Leben auch durch Bestechung und Lösegeld retten konnte (Löb 2010  : 52–53)298. Dieses Komitee unternahm nun den »unwahrscheinlichen Versuch, die ›Endlösung‹ durch Bestechung und Irreführung der ss aufzuhalten. Jede der beiden Seiten bemühte sich, die andere mit List, Betrug und Bluff auszumanövrieren – die Juden, um Leben zu retten, die Deutschen, um zu rauben und zu morden. […] Die ss versprach Zugeständnisse und kassierte Lösegeld ein, während die Züge nach Auschwitz fuhren« (Löb 2010  : 50).299 Unter diesen Umständen entschied Kasztner sich dazu, den Vrba/Wetzler-Bericht nicht publik zu machen, um zumindest die wenigen, die er retten konnte, durch sein Schwei-

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gen und weitere Verhandlungen zu retten. Das konsequente Verschweigen der Wahrheit über die Todesfabrik von Auschwitz – und somit der Verrat der eigenen Führung an der in Unwissenheit belassenen ungarischen Juden – wurde nicht nur Kasztner zum Vorwurf gemacht. Dass die Tragödie der ungarischen Juden hätte verhindert werden können, hätte eine breit gestreute Veröffentlichung der Auschwitz-Berichte stattgefunden, lässt sich, nachdem Sztójay und Eichmann im Sinne der Endlösung bereits ein unumstößliches Fait accompli geschaffen hatten, nicht nachvollziehen. Nach dem Krieg erhob nicht nur Vrba den Vorwurf der vorsätzlichen Unterlassung – sprich, einer Mitschuld am Tod vieler hunderttausender durch »Kollaborierende« zugunsten einiger weniger, bevorzugter und wohlhabender Erretteter. Er griff einige renommierte Historiker frontal wegen ihrer Interpretationen zur Vergeblichkeit aller Warnungen im Angesichte des unbedingten Vernichtungswillens und -könnens der Nazis an.300 Ein anderer Vorwurf richtet sich gegen die Alliierten, den Vatikan und das ikrk  : Was haben diese angesichts der unter Lebensgefahr erbrachten Zeugnisse wirklich unternommen, um der Massenermordung der europäischen Juden ein Ende zu setzen  ? Dezidierte Protestappelle blieben aus oder verhallten ungehört  ; politische Maßnahmen zur Rettung der Juden nebst militärischen Aktionen wie einer Bombardierung des kz Auschwitz-Birkenau oder der von Ungarn dorthin führenden Eisenbahntrassen unterblieben.301 Diese Fragen sind jedoch bereits ausführlich von versierteren Autoren und Historikern erforscht und diskutiert worden – an dieser Stelle sollen nun zur Gänze die Erlebnisberichte der aus der Hölle Auschwitz entkommenen Augenzeugen erneut Gehör finden. Mehr als die Zeugnisse der Täter sind es die der Holocaust-Opfer, die das Grau dieser trüben Vergangenheit plastisch ausleuchten und durchdringen. Es sind Zeugnisse dieser Art, die uns heute die gnadenlose Wirklichkeit jenes Gestern verlebendigen  ; in der die Vergangenheit höllische Gegenwart war und deren unmittelbarer – uns zwar bekannter – Ausgang sich den Zeitzeugen in der finalen Ausgestaltung jedoch entzog. Die durchlittenen Erlebnisse der Zeitzeugen jener Gegenwart sind nicht, wie dies üblicherweise der Fall bei Memoiren ist, durch retrospektive Einsichten und angereichertes Wissen bezüglich des geschichtlichen Ausgangs ex post gefärbt. Diese Zeitzeugnisse beschreiben uns nicht nur die unvorstellbar barbarischen Gräuel des Holocausts, sie erinnern uns nicht nur an die tatsächlich begangenen Verbrechen unseres Gestern, sondern sie wollen uns auch allzeit warnend zur Seite stehen, damit wir in Zukunft solche Verbrechen gegen die Menschlichkeit nie wieder zulassen.

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Anmerkung der Hg. M.-A.: Dieser von Schwarzenberg verfasste Artikel erschien am 2. August 1945 teils in der Ausgabe des Morgen- (Seite 2) und teils der des Abendblattes (Seite 2) der Schweizer Tageszeitung »Die Ostschweiz«. Schwarzenberg trat diese Reise im Auftrag des ikrk an und unterlag einer strikten Schweigepflicht, um nicht durch sein Verhalten die Neutralitätsauflagen des ikrk zu kompromittieren  ; daher veröffentlichte er diesen Artikel unter dem Pseudonym Felix Seynsheim (F. S.). Seite 2 Morgenblatt – »Die Ostschweiz«

Donnerstag, der 2. August 1945 Nr. 355.

Österreich westlich der Demarkationslinie (Wir veröffentlichen aus der Feder einer wohlinformierten Persönlichkeit die nachfolgenden, auf einer Reise gemachten Feststellungen. Sie enthalten wesentliche, bisher unbekannte Tatsachen. Red.) Wer heute Gelegenheit hat, durch die österreichischen Bundesländer westlich der Demarkationslinie zu fahren, dem fallen zunächst die zahllosen Wanderer auf, die, nomadenhaft, nach allen Richtungen teils einzeln, teils in Gruppen auf den Überlandstraßen dahinziehen. Bald barfüßig, bald in Holzsandalen, bald wieder in den überheißen Filzstiefeln der Flieger, müde, hungrig, so wandern sie dahin, die entlassenen Kriegsgefangenen, die Ausgebombten, die Flüchtlinge, Obdach suchend, oft ins völlig Ungewisse sich hinschleppend. Je weiter man nach Osten kommt, desto langsamer wird der Tritt des Heimkehrers, als könne er nicht weiter oder als traue er sich nicht weiter. Dieses Hin- und Herfluten zigeunernder Flüchtlingsmassen scheint bisweilen ganz rätselhaft, der Entschluss aber ist bewundernswert, dem völligen Mangel an Verkehrsmitteln zum Trotz, sich auf den Weg zu machen, Hunderte, ja Tausende Kilometer zu Fuß, eines ungewissen Ziel entgegen, mag es eine ausgebrannte Wohnstätte sein oder gar eine ganz neue unbekannte Heimat. Wir fragen, wohin es geht – da antwortet der eine, glücklicher Besitzer eines Fahrrades, auf dem alle irdische Habe verstaut ist  : »Nach Köln, ausgebombt – muss eben von vorne anfangen.« Am Straßenrand kampieren zerlumpte Gestalten, einige zerschlissene Plachenwagen, magere Klepper daneben, die Kinder von Schmutz starrend. Es sind Flüchtlinge, deutschsprachige Bauern aus Südungarn, aus der Baczka, sie sind nun schon seit bald drei Jahren unterwegs, wollen heim zu ihren Feldern und zu ihrem Vieh. Aber sie trauen sich nicht  ; man hat ihnen was von Tito vorgeschwatzt, sie wissen nicht, wer gegen wen dort unten Krieg geführt hat und wer gewonnen hat, – nur dass ihre Dörfer verbrannt sind, wissen sie. (Bleistiftnotiz  : Es sind ihrer 220 000 dieser vertriebenen Schwaben.) Die merkwürdigste Antwort war wohl die eines Einarmigen, der sich stolz als Führer eines »Trecks« vorstellte. Sie stammten aus Schlesien, er führte ursprünglich 2.000 Leute an  ; sie waren vor den Russen geflüchtet. Heute sind es nur mehr zwei

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Wagen mit zwei lahmen Pferdchen, drauf sitzen ein paar Frauen, und sonst noch sind ein alter Mann, fünf Kinder und ein Hund dabei  ; etwas Bettzeug liegt wohl auch noch oben. Ja, zuerst waren sie nach Böhmen gezogen, dort hätten sie die Tschechen hinund hergeschickt und schließlich nach Linz abgeschoben, jetzt zögen sie nach Holstein »denn dort soll es Schlesier geben«. Nach einigen Fragen war uns klar, dass diese armen Teufel das Opfer eines Missverständnisses waren – sie hatten etwas von Schleswig-Holstein gehört und glaubten nun dort Schlesier und eine neue Heimat zu finden. In der Nähe von Linz fragen wir einmal einen amerikanischen MP (Military Police), der die Straßenkontrolle vornimmt (er stammte aus Cincinnati, ein anderer war ein Filipino und ein anderer aus Alaska), warum denn die Leute in beiden Richtungen zögen. Er sagte, dass hier, auf der Straße Salzburg–Wien, die meisten Leute nach Wien wollten  ; sie hätten aber noch von der Hitlerzeit her, eine heillose Angst vor den Russen und erkundigten sich immer, ob die »Bolschewisten« noch dort seien  ; vormittags strömen sie ostwärts, nachmittags kommen die gleichen Leute wieder zurück, jammernd, sie trauten sich nicht heim. An den Gestaden des Donaustroms zogen einst die Krieger der Nibelungen zu Attilas Lager hinunter, um nicht wieder heimzukehren, es sei denn in der Gestalt eines Mythos, dem ein Wahnsinniger sich ergab und der einem ganzen Volke zum Fluche wurde. Heute spielt sich längs dieses Stromes neuerdings ein Drama des Wanderers (des Landflüchtigen) ab, wie selbst Hitler in seiner sadistischen Fantasie es sich kaum verzehrender auszudenken vermochte. Dieses freundliche Ländchen Oberösterreich war dazu ausersehen, die Zufluchtstätte Hunderttausender aus aller Herren Länder zu werden. Hier lag eigentlich geografisch der Schnittpunkt der Rückzugslinien der geschlagenen Achsenheere. Ausgebombte und Angehörige von Parteifunktionären hatten sich hierher und ins Salzburgische zurückgezogen. Schließlich strömten hier Landflüchtige aus Böhmen, aus Ungarn, aus Kroatien und Slowenien zusammen. Die ungarische Wehrmacht, 450 000 Mann stark, mit Generälen, Tross und Wagen, zog über die Enns und hat sich, verstreut über das ganze Land, für längere Dauer einquartiert. Der schmucke ungarische Soldat mag ja den Dorfmädchen nicht gerade missfallen, dennoch sieht die Bevölkerung im Allgemeinen mit größter Besorgnis den Appetit dieser munteren Reiter und insbesondere ihrer Pferdchen, die keine Wiese ungegrast lassen. Die Ungarn – neben der Armee gibt es noch mehrere Hunderttausend flüchtiger Zivilpersonen – wollen aber ebenso wenig heimkehren, wie die Mehrzahl der ungebetenen Gäste aus dem Reich, die überdies eine schwere politische Belastung darstellen. Wenn man in Linz nach einer Straße fragt, so fällt man bestimmt auf einen ortsfremden Deutschen. Die Bevölkerung ist übrigens sehr geduldig  ; Mitleid gegenüber den Ausgebombten drängt meist den Unwillen über diese oft keineswegs kurierten Vertreter totalitärer Weltanschauung zurück.

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Gewaltige Lager mit Kriegsgefangenen sind über das Land verstreut. Hier in Oberösterreich wurden von der Armee Pattons die letzten deutschen Divisionen entwaffnet. Nun warten sie in improvisierten Zeltstädten auf die Entlassung. Aber so rasch, wie die Bevölkerung dies wünschte, geht dies nun mal nicht. Groß ist die Zahl ehemaliger Parteifunktionäre, ja eigentlicher Kriegsverbrecher, die sich unter diese gefangenen Soldaten einzuschmuggeln verstanden. Die Militärpolizei hat alle Hände voll zu tun. Aber auch noch Kriegsgefangene des Dritten Reichs sind vorhanden, deren Heimsendung noch nicht möglich war. Dazu gehören viele Polen, Jugoslawen und auch Russen, die aber jetzt nach und nach abgehen. Wir begegneten einem Bahntransport russischer Zivilpersonen, ehemals deportierte Frauen und Kinder. Sie waren munter und freuten sich auf die Heimfahrt nach Poltava. Ob das Wagenmaterial allerdings die lange Fahrt aushalten wird, scheint fraglich. Der Zug war just auf einem Straßenübergang stecken geblieben, eine Notbremse war in Tätigkeit getreten, wieso, wusste niemand, und kein Eisenbahnfachmann im weiten Umkreis war imstande, dieselbe zu deblockieren. Vielleicht steht der Zug heute noch in dem friedlichen oberösterreichischen Dorf Timelkam  ! (Schluß folgt) Seite 2 Abendblatt – »Die Ostschweiz« Donnerstag, der 2. August 1945 II Österreich westlich der Demarkationslinie (Schluß)

Nr. 356.

Neben den ungezählten Slowenen, Esten, Letten, Rumänen, Polen, Kroaten, Weißrussen, Italienern, Bulgaren, die gegenwärtig auf österreichischem Gebiete sich niedergelassen haben, weil sie in ihre Heimat, oft  ; ohne Lebensgefahr zu laufen, nicht zurück können, gibt es aber noch eine Kategorie unglücklicher, die dem Lande ein besonderes Gepräge geben  : es handelt sich um d i e e h e m a l i g e n H ä f t l i n g e d e r K o n z e n t r a t i o n s l a g e r. Ihr Schicksal und ihre grauenvollen Prüfungen wurden bereits ausgiebig in Presse und Film geschildert. Aber man kann sie, wenn man Eindrücke aus Oberösterreich wiedergeben will, nicht weglassen, begegnet man Ihnen doch jetzt noch auf Schritt und Tritt. Schon auf der Fahrt nach Linz, bei Günskirchen, erhält man einen Vorgeschmack. Ein Ortskundiger weist auf einen Wald hin  : »Dort wurden ungefähr 40 000 Menschen in den letzten Monaten umgebracht. Monatlich wurden bis zu 8 000 neue Häftlinge hingeschickt und die Belegstärke des Lagers blieb sich immer gleich«. Als die Amerikaner an die Erfassung der Konzentrationshäftlinge gingen, mussten sie feststellen, dass es in Linz und Umgebung etwa 80 Lager und Kommandos gab. Mauthausen mit Gusen I und II war das Stammlager, dort regierte Herr Ziereis mit seinem noch berüchtigteren Stellvertreter, Herrn Bachmeyer. Auf ragender Höhe, mit herrlichem Rundblick auf die Donauebene, steht diese Trutzburg. Das Tor aus mächti-

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gen Quadern gefügt von Arbeitssklaven, die ein Talmi-Wotan zum Bau dieser Walhalla zwang. Heute sind diese »Untermenschen« die Herren im Lager  ; der Großteil ist heimgekehrt aber die Polen, die Deutschen, Ungarn und Juden sind noch da. Die Amerikaner pflegen sie auf das Sorgfältigste und tun alles, um sie die Gräuel vergessen zu lassen. Bereitwillig weisen die Häftlinge dem Besucher die Orte ihrer Qual. Hier zerfetzte der Wolfshund den Häftling wegen eines geringfügigen Vergehens, wenn Herrn Ziereis diese Todesart gerade gefiel. Hier die Gaskammer, dann der Hängeraum, anschließend der Verbrennungsofen, der Tag und Nacht brannte, daneben gleich der Verschlag, wo sich der Kommandant höchst persönlich mit Genickschuss seiner Opfer entledigte. Sie wurden unter dem Vorwand einer Röntgendurchleuchtung mit entblößtem Oberkörper gegen die Wand gepresst, worauf durch ein Loch in der Holzwand Herr Ziereis seine Treffsicherheit erprobte. Als kürzlich der zwölfjährige Sohn dieses Unmenschen gefasst wurde, fragte man ihn, ob er denn auch auf Menschen geschossen habe. »Doch, doch«, ihrer dreißig habe er erledigt, und stolz erklärte er dies wie ein Jäger, dem es gelang, dreißig Hasen zu treffen. Schaurig und doch höchster Bewunderung wert klingt die Geschichte vom verzweifelten Ausbruch der 350 Russen und Polen aus dem Block 20, dem Todesblock. Wer in diesen Block (6) kam, wusste dass er nicht mehr lebend herauskam. Allnächtlich starben dort ihrer rund zwölf hungers- oder krankheitswegen. In einer Winternacht beschlossen die Verurteilten, denen die Gaskammer bevorstand, unter Leitung eines russischen Obersten auszubrechen und koste es, was es wolle, sich durch die mit 2 000 Volt geladenen Stacheldrähte durchzuschlagen. Gegen Mitternacht brachen sie die Bretterwände auf und stürzten gegen die erste Mauer, auf der mehrere Reihen Stacheldrähte aufmontiert waren. Sofort schossen von rechts und von links Maschinengewehre aus den Türmen. Kasserollen, Schuhe, Löffel und allerhand Kleinkram wurde auf die Schützen geschleudert, um sie am Zielen zu hindern. In größter Hast schwangen die Ausbrecher sich auf die Schultern der Vormänner, warfen Decken und Stroh auf die Drahtgewinde, um sie niederzureißen. Jenseits aber erwartete sie die furchtbare Enttäuschung  : Noch zwei geladene Zaunsysteme waren zu überwinden. Damit hatten sie nicht gerechnet. Inzwischen hatte es Alarm gegeben, und ein leichter Kampfwagen mit Maschinengewehren war außen vorgefahren und mähte nun die Unglücklichen, die sich an die Stachelzäune häuften, nieder. Menschenleiber, halb verkohlt, wurden in die Drähte gedrückt, um Öffnungen zu erzwingen, nackte Körper schoben sich nach, Fleischfetzen blieben hängen, und zwischen den Zäunen häuften sich die Leichen. Morgens sah man in den Gräben aufgetürmte, blutige Menschenreste, teils an den Stacheldrähten schwingend – nur fünfzehn sollen durchgekommen sein – und auch diese wurden später eingefangen. Nur mit tiefster Erschütterung verlässt man dieses Walhall, wo Hitler ungezählte Legionen seinem Dämon opfern ließ.

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Unweigerlich drängt sich die Frage auf, ob die Bevölkerung der umliegenden Ortschaften zumindest, nichts von den Gräueltaten wussten, die oben auf dem Berge vorgingen. Die Antwort, die man erhält, ist immer die gleiche  : Man ahnte wohl, dass dort Unheimliches vorging und dass die auswärts arbeitenden Häftlinge entsetzlich müde und übel aussahen. Aber was hätte man denn tun sollen  ? Näheres auskundschaften  ? Solche Neugierde wäre übel gelohnt worden. Ein ss-Mann, der aus der Gegend stammte, wurde einmal von seinen Angehörigen befragt, was denn da oben vorgehe. Die Antwort war bündig  : »Todesstrafe für ihn und seine Familie, wenn auch nur ein Sterbenswörtchen über diese Dinge laut würde. Was hätten denn auch die Leute tun sollen  ? Klage führen  ? Aber bei wem  ? Die Gerichte, die Behörden waren doch selbst im Bunde mit den Dunkelmächten, und die Presse  ? Die war doch auch im Dienste der Partei. Es ist daher müßig, der Landbevölkerung, deren Männer übrigens allesamt abgezogen und durch polnische oder russische Landwirtschaftsarbeiter ersetzt waren, Mitwisserschaft oder gar Mitverantwortung vorzuwerfen. Die Schandtaten waren Sache einer Partei, und es bedurfte der äußersten Anstrengung der ganzen Welt, um dieses System in jahrelangem Ringen niederzuwerfen. Einem Lande wie Oberösterreich kann höchstens der Vorwurf gemacht werden, den Führer dieser Henkerbande hervorgebracht und ihn dorthin ziehen gelassen zu haben, wo er groß wurde und seinesgleichen fand. Kann man aber ein Volk für seine Verbrecher haftbar machen  ? Sind die Griechen an einem Herostratos oder die Franzosen an einem Landru schuld  ? Wie dem auch sei, die Länder Österreichs sind hart für alles bestraft worden, was auf ihrem Gebiet geschehen oder geplant worden ist. Der Hunger herrschte dort schon in der letzten Zeit der nationalsozialistischen Wirtschaft und bedroht heute ernstlich alle Schichten. 135 000 ehemalige kz-Häftlinge ergossen sich Anfang Mai über das Land Oberösterreich allein, und, was man ihnen kaum übel nehmen kann, halten sich für all die erlebte Unbill schadlos. Am 4. Mai wurde Linz geplündert  ; kein Geschäft, kein Warenlager blieb verschont. Am Lande fielen Geflügel, Kleinvieh und was an Eiern, Käse und dergleichen greifbar war, den Hungrigen zum Opfer. Auch jetzt sieht man noch so manchen ehemaligen Häftling, an dem ausgeschorenen Streifen im Haar erkenntlich, herumziehen, und es gilt nur als gehörig, ihm zu geben, was er will. Franzosen, Belgier, Holländer, dies sei zu ihrer Ehre gesagt, benahmen sich mit bemerkenswerter Disziplin. Es waren politische Häftlinge, deportiert wegen ihrer pat­ riotischen Haltung, sie achteten das Privateigentum. Aber unter den anderen, vorab den deutschen, Häftlingen gab es viele gemeine Verbrecher, Diebe und Mörder. Diese sorgten dafür, dass der Name kz-Häftling nicht immer den Klang eines Märtyrers hat. So sind es denn die vielen Fremden, die heute die österreichischen Länder buchstäblich kahl essen. 550 000 sogenannte »Displaced Persons« auf eine bodenständige

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Bevölkerung von 1 Million müssen in Oberösterreich allein ernährt werden. Das ist nach den Requisierungen der Kriegszeit und den Plünderungen ein Ding der Unmöglichkeit. Die Bevölkerung ist auf Hungerration gesetzt  ; ein halbes Laib Brot je Woche und dabei gibt es keine Kartoffeln mehr. Milch ist kaum zu sehen, und tausende Kinder, die noch von der Landverschickungsaktion des Dritten Reiches hier von den Eltern getrennt leben, zeigen bedrohliche Gewichtsabnahme. Tuberkulose greift um sich, und wenn nicht bald, besonders für die Kinder, Hilfe aus der Schweiz kommt, so wird die unrra, die die Obsorge für diese Kinder wie für alle »Displaced Persons« in Angriff nimmt, in nur allzu viel Fällen zu spät kommen. Wenn es ein Nachbarland gibt, das in bitterster Notlage sich befindet und das die Opferbereitschaft der Schweiz in der so vorbildlichen Ausdrucksform der Schweizerspende verdient, so ist dies Österreich und ganz speziell das geprüfte Bundesland Oberösterreich. F.S.

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Johannes Schwarzenberg – Ein österreichischer Botschafter in London Die Geschichte österreichischer Außenpolitik im 20. Jahrhundert war mehr als einmal bestimmt von dramatischen Einschnitten und Brüchen, von Wandel und Veränderung nicht nur im Rang und in der Stellung Österreichs selbst, sondern auch in seiner gesamten europäischen Umwelt. Nicht nur mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, der aus einer europäischen Großmacht einen mitteleuropäischen Kleinstaat machte, sondern vor allem mit 1945 setzte eine wahre Stunde Null der österreichischen Außenpolitik ein. In eine ganz andere Welt war die nun entstehende zweite österreichische Repub­lik geworfen  : Das Land war zwar von einer deutschen und nationalsozialistischen Herrschaft befreit, der schon Jahre des Drucks und der Einschüchterung durch das Dritte Reich vorausgegangen waren, 1945 aber noch weit entfernt von wirklicher Unabhängigkeit und Souveränität. Zwar hatten sich in der Moskauer Erklärung von 1943 die alliierten Mächte zur Wiedererrichtung eines freien und unabhängigen Österreich bekannt, der Weg dorthin sollte allerdings sehr bald durch die Krisenfelder des Kalten Krieges führen. Die besondere Rolle, die in einem solchen Umfeld einer neuen österreichischen Außenpolitik zukommen musste, wurde daher sehr bald sichtbar. Gerade in dieser Hinsicht stand die österreichische Außenpolitik von 1945 vor einem völligen Neubeginn  : Anders als andere europäische Nationen, die in diesen Jahren nach einem neuen Platz in der damals entstehenden Nachkriegsordnung zu suchen hatten, gab es für die österreichische Außenpolitik keine Anknüpfungspunkte in der Vergangenheit wie die in Jahrhunderten bewährte Neutralität der Schweiz oder die im Lager des Westens verankerte Politik anderer europäischer Länder. Darüber hinaus war nicht nur in den Jahren, in denen aus Österreich die Alpen- und Donaugaue des Dritten Reiches geworden waren, das Bild Österreichs in der Welt verschwommen und verzerrt worden. Darauf nimmt auch die Moskauer Erklärung Bezug, wenn sie »Österreich […] daran erinnert, dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann«.302 Der neuen Welt von 1945 musste daher auch das Bild eines Landes vermittelt werden, das wieder zu sich gefunden hatte, von dem die Welt aber so wenig wusste wie Österreich von einer Welt, von der es durch viele Jahre der Diktatur und der Fremdherrschaft abgeschnitten gewesen war. Noch vor einer anderen, nicht minder bedeutsamen Aufgabe stand die österreichische Außenpolitik von 1945  : Vor allem mit dem

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Einbruch der nationalsozialistischen Herrschaft in Österreich 1938 war auch zerschlagen worden, was sich an guter Tradition österreichischen Beamtentums, bewährt im selbstlosen Dienst am Gemeinwesen – oft noch seit den Tagen der Doppelmonarchie –, erhalten hatte. Das galt besonders für jene, die bis zuletzt, vor allem in dem kleinen Auswärtigen Dienst, dem österreichischen Gedanken die Treue bewahrt hatten. Unter ihnen befanden sich auch besonders viele Opfer des nationalsozialistischen Regimes und, wie Gertrude Enderle-Burcel in ihrem gemeinsam mit Rudolf Agstner und Michaela Follner herausgegebenen Biographischen Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918–1959 betont, dass »[v]on den 76 Spitzendiplomaten der Ersten Republik hatten 35 Verfolgung erlitten. […] Von den 43 Diplomaten, die 1937 in leitenden Funktionen tätig waren, wurden 31 Opfer des Naziregimes«303. Sehr klein waren daher die ersten Kader, die in diesen frühen Tagen der Zweiten Republik für außenpolitische Aufgaben herangezogen werden konnten. Bei ihrer Auswahl war besondere Umsicht geboten, würde doch von ihrem ersten Auftreten in Hauptstädten, die von österreichischer Diplomatie lange nichts mehr gesehen hatten, das Bild eines neuen Österreich, das sie zu vertreten hatten, sehr wesentlich beeinflusst werden. Dieser Zeitpunkt sollte kommen, sobald der Alliierte Rat Anfang 1946 erstmals die Entsendung »politischer Repräsentanten«, vorerst in die Hauptstädte der vier Besatzungsmächte, bewilligte. Hätte jemand damals am Reißbrett das Idealbild des neuen österreichischen Diplomaten entworfen, hätte es unvermeidlich die Person von Dr. Johannes Schwarzenberg angenommen. In seiner Geschichte  – schon bis 1945  – waren viele jener Elemente enthalten, die sich zu einem Vertrauen und Achtung schaffenden Bild eines neuen Österreich und seiner Diplomatie zusammenfügen ließen. Erstes und vielleicht wichtigstes Element waren seine bedingungslose Hingabe und sein Eintreten für die Idee eines freien und unabhängigen Österreich, der er auch in den schwersten und schwärzesten Tagen österreichischer Geschichte treu geblieben war. Die Orte, an denen er mit Feuereifer als junger Diplomat gewirkt hatte, waren ja gerade die Brennpunkte, an denen sich das Schicksal Österreichs vor 1938 entschieden hatte, nämlich das Rom Benito Mussolinis und das Berlin Adolf Hitlers. Konnte sich ein junger österreichischer Diplomat in diesen Jahren immer wieder den Strömen der Zeit widersetzen, sich sein unabhängiges Urteil erhalten und immer wieder das bösartige Spiel der Mächtigen der Zeit durchschauen, so zeugte das schon damals von ungewöhnlicher Standfestigkeit und einer ohne Zweifel auch durch geschichtliche Erfahrung, geschichtliche Überlieferung abgesicherten Überzeugung in die Richtigkeit des einmal eingeschlagenen Weges. Es war daher mehr noch als eine glückliche Fügung des Schicksals, dass sich ein Mann wie Schwarzenberg – allerdings in letzter Minute – dem Zugriff der Gestapo entziehen und den Weg in die Freiheit finden konnte. Es entspricht seinem Charakter und seinen Neigungen, wenn er dann im schließlichen Schweizer Exil wieder Dienste

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am Gemeinwesen – diesmal dem internationalen Gemeinwesen – im Rahmen wichtiger humanitärer Aufgaben für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz zu übernehmen bereit war. Ausgestattet mit einem solchen Hintergrund wird Schwarzenberg so sehr bald zu einem der wichtigsten Träger und Repräsentanten einer neuen österreichischen Diplomatie und kann – auch begünstigt durch zahlreiche Verbindungen in das Lager der Alliierten, die noch auf die Zeit vor 1938 zurückgehen – das neue Bild Österreichs, dessen die Zweite Republik so dringend bedarf, in die Welt projizieren. Erste Proben seines Talents wird er schon 1946 in Paris ablegen, wo er als eine Art Sekretär einer von der Welt oft noch unsanft behandelten österreichischen Delegation unter Karl Gruber wirkt und viele seiner alten Verbindungen spielen lassen kann, um die Atmosphäre um Österreich herum aufzulockern. Nicht weniger bedeutend wird wenig später Schwarzenbergs Rolle als österreichischer Gesandter und dann erster Botschafter in Rom sein, liegt über dieser Beziehung doch bereits der Schatten der sie dann noch lange begleitenden österreichisch-italienischen Kontroverse über Südtirol. Als er dann 1955 österreichischer Botschafter in London wird, steht sein Platz an der Spitze der österreichischen Diplomatie der Nachkriegsjahre bereits unumstößlich fest. In den Jahren, in denen sich Schwerpunkte der österreichischen Außenpolitik noch nicht zu den Aktionszentren der europäischen Integration oder zu den Vereinten Nationen nach New York verschoben hatten, zählten die Botschaften bei den damaligen »Großen Vier«, aus denen von Besatzungsmächten bald Signatarstaaten des Staatsvertrages werden sollten, zu den wichtigsten Stützpunkten österreichischer Diplomatie. Obwohl Schwarzenberg seinen Dienst in London nur einige Monate vor der Unterzeichnung des Staatsvertrages antrat, stand seine Ernennung ohne Zweifel auch im Zusammenhang mit der Notwendigkeit, die stets so gewichtige Unterstützung Großbritanniens für diesen so lange ersehnten Schritt Österreichs in eine wirkliche Unabhängigkeit weiter zu erhalten. Neutralität und London Ebenso wichtig war es aber, in London vom ersten Moment an Verständnis für den neuen Weg Österreichs im Zeichen seiner nun erklärten immerwährenden Neutralität zu gewinnen und seinen wahren Sinn, nämlich eine neue Form der Wahrung seiner Unabhängigkeit, ohne ideologische Kompromisse einzugehen, zu erklären. Nicht nur in Großbritannien, aber besonders dort wurde ja die neue Neutralität Österreichs anfänglich mit einigem Misstrauen aufgenommen. Sie erschien in vielen westlichen Hauptstädten, London nicht ausgenommen, als ein viel zu weit gehendes Zugeständ-

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nis an den Ostblock, der sich davon weitaus größere Vorteile erwarten konnte als der Westen. So wurde der Umstand, dass in Österreich die UdSSR erstmals besetzte Gebiete aufgab, die ihr nach dem Zweiten Weltkrieg zugefallen waren, wesentlich geringer bewertet als die Tatsache, dass durch die Neutralität Österreichs wichtige Verbindungslinien der nato zwischen Deutschland und Italien unterbrochen wurden. Das geringe Ansehen der Neutralität im Westen hatte, nur wenige Jahre nach dem Ende des opfervollen Zweiten Weltkriegs, auch seine historischen Wurzeln  : Neutrale Staaten hatten keinen Beitrag zum Sieg der Alliierten geleistet und waren oft Vorwürfen des Opportunismus und der Kollaboration mit dem Feind ausgesetzt. Wollte Österreich also nicht in einem solchen zwiespältigen Licht erscheinen, musste die Praxis seiner Neutralitätspolitik immer wieder eindeutige Beweise ihrer Unabhängigkeit – vor allem gegen Versuche des Ostblocks, sie für sich zu vereinnahmen  – erbringen. Österreich musste dabei auch immer wieder betonen, dass es seine Neutralität aus freien Stücken gewählt hatte und sie ihm nicht von Moskau aufgezwungen worden war. Sie war daher auch nicht, wie in London auch immer wieder behauptet wurde, im Staatsvertrag als Verpflichtung besonders gegenüber den Großen Vier verankert, sondern beruhte auf einem vom österreichischen Parlament nach dem Abzug aller Besatzungstruppen verabschiedeten Verfassungsgesetz vom 26. Oktober 1955. Gerade im Verhältnis zu Großbritannien erschien es also wichtig, um Verständnis für diese neue österreichische Politik zu werben, hatte doch gerade dieses Land immer zu den Verfechtern österreichischer Unabhängigkeit gehört und dieser Politik auch stets konkreten Ausdruck gegeben. So wurde es zu einem der wichtigsten Empfangsländer der österreichischen Emigration und gewährte auch vielen namhaften Künstlern und Wissenschaftlern, beginnend mit Sigmund Freud, Asyl. Auch ein erheblicher und einflussreicher Teil der sozialdemokratischen Emigration sowie die anderer politischer Strömungen fanden in Großbritannien Aufnahme. Die trotz aller drastischen Verbote in Österreich vielgehörten deutschsprachigen Sendungen der BBC und ihr plakativer Aufruf »Österreicher harret aus – wir kommen  !« gaben den Zurückgebliebenen Mut und Hoffnung. In der österreichischen Diplomatie dieser Jahre gab es also sicher keine Persönlichkeit, die besser als Schwarzenberg geeignet gewesen wäre, diesen Neuanfang Österreichs zu verdeutlichen und zu argumentieren, verliehen ihm doch sein makelloser beruflicher Weg, aber auch sein Zugang zu wichtigen Persönlichkeiten der britischen Politik ein besonderes Maß an Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Die europäische Integration Es ist das Verdienst Schwarzenbergs, in diesen für die Entstehung eines neuen Österreich-Bildes in Großbritannien gesorgt und die Beziehungen zwischen Österreich

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und diesem Land – damals auch weltpolitisch noch viel gewichtiger – auf eine neue, konstruktive Basis gestellt zu haben. In dieser Zeit entstanden auch neue politische und wirtschaftliche Verbindungen zwischen Österreich und Großbritannien im Zeichen einer europäischen Integration, an der beide Länder teilzunehmen wünschten, dazu aber noch Wege außerhalb der eben entstandenen ewg und ihrer Römer Verträge suchten. Österreich wurde daher zusammen mit Großbritannien zu einem der Gründungsmitglieder der efta, in der London für einige Jahre die Rolle der Führungsmacht übernahm. Auf dem Weg in die europäische Integration entstanden damit zwischen Österreich und Großbritannien Gemeinsamkeiten, die zwar verschiedene Wurzeln und Motive hatten, Österreich aber wichtige erste Schritte in seiner integrationspolitischen West­ orientierung ermöglichten. So war Österreich, so wie Großbritannien, stets Wortführer einer »großeuropäischen« Integration unter Einschluss aller damals in der oeec zusammengeschlossenen Staaten und unterstützte daher den darauf abzielenden sogenannten »Maudling plan«, der schon Ende der 1950er-Jahre die Bildung einer großen europäischen Freihandelszone ermöglicht hätte. Auf der Basis dieses Einverständnisses, das in Schwarzenbergs Londoner Jahren entstand und dessen Pflege und Entwicklung zu seinen wichtigsten Aufgaben gehörte, beruhte ein besonderes Verhältnis Großbritanniens zu den integrationspolitischen Anliegen Österreichs, das sich auch noch bewährte, nachdem dieses Land dann schlussendlich selbst Mitglied der ewg bzw. der aus ihr hervorgegangenen eg geworden war.  – So konnte etwa 1972 Bruno Kreisky, jetzt schon Bundeskanzler, Edward Heath zur Unterstützung eines ersten Brückenschlages zwischen ewg und efta gewinnen. Bruno Kreisky und Johannes E. Schwarzenberg Als Bruno Kreisky, längst führender und ideenreicher Außenpolitiker seiner Partei, 1959 für sieben Jahre das Amt des Außenministers übernahm, konnte er sich zur Verwirklichung seiner Ideen und Vorstellungen über die Rolle Österreichs nicht nur auf ein wiedererrichtetes, eigenes Außenministerium – bis dahin Teil des Bundeskanzleramtes – stützen, sondern auch auf einen noch kleinen, aber bereits oftmals bewährten Diplomatischen Dienst. Selbst aus dessen Reihen hervorgegangen, konnte er sich fast unbeschränkt auf seine Loyalität und Mitarbeit verlassen. Seine erste und wichtigste Aufgabe sah Kreisky darin, der neuen Existenzform Österreichs, seiner immerwährenden Neutralität, Form und Inhalt zu geben und dem Land damit eine international klar erkennbare Identität zu vermitteln, dadurch aber auch sein Ansehen zu vermehren. Diese Identität sollte unverwechselbar sein und daher, wie er in einem berühmten Vortrag in Zürich erklärte, einen neuen Weg zwischen den klassischen Neutralitätsmodel-

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len Schwedens oder der Schweiz einschlagen. Fern jedes ideologischen Neutralismus sollte die Hinwendung Österreichs zu den demokratischen Gesellschaftsmodellen des Westens auch durch Teilnahme an der europäischen Integration klar ersichtlich werden. Beziehungen zu den großen westlichen Demokratien erhielten dadurch einen besonderen Stellenwert und sollten auch durch die Form des Dialogs und der Zusammenarbeit mit einer anderen Qualität ausgestattet sein als das korrekte zwischenstaatliche Verhältnis zum Osten. Die Beziehungen zu einem Land wie Großbritannien, die in diesen Jahren Johannes Schwarzenberg anvertraut waren, gewannen dadurch eine besondere Bedeutung, auch weil Großbritanniens führende Stellung im westlichen Bündnis und sein Sonderverhältnis zu den usa damals noch deutlicher sichtbar waren als in späteren Jahren. Mit seinen erfolgreichen Bemühungen zur Verstärkung der österreichisch-britischen Beziehungen unterstützte Schwarzenberg damit ein wichtiges Kapitel der West-Politik Bruno Kreiskys. Johannes Schwarzenberg auf 18 Belgrave Square Schwarzenbergs Persönlichkeit und Ausstrahlung waren es aber auch zu verdanken, dass in diesen Jahren die Adresse 18, Belgrave Square zu einer der wichtigsten und lebendigsten im damaligen diplomatischen Leben Londons wurde. Hausherr an dieser Adresse zu sein, hatte schon dadurch einen besonderen Reiz, dass das prächtige Gebäude, in dem Schwarzenberg viele seiner Kunstschätze zur Schau stellen konnte, schon in den Zeiten der Monarchie österreichische Botschafter beherbergt hatte und nicht wie das Palais Matignon in Paris oder das Palazzo Venezia in Rom in die Hände feindlicher Siegermächte gefallen war. In London blieb ein im 19. Jahrhundert auf 99 Jahre geschlossener Pachtvertrag mit dem Grundbesitzer, dem Herzog von Westminster, auch über zwei Weltkriege gültig. Auch in der Zwischenkriegszeit konnten daher von dort aus glänzende Figuren der alten österreichischen Diplomatie, wie der später in den britischen Adelsstand erhobene Sir George Frankenstein, wirken. Gekennzeichnet war die Ära Schwarzenberg in London aber nicht nur durch he­ rraus­ragende gesellschaftliche Ereignisse, sondern auch durch Besitz und Handhabung einer der wichtigsten Vorzüge auch heutiger Diplomatie  : Zugang, in fast unbeschränktem Ausmaß, zu den höchsten und wichtigsten Entscheidungsträgern der Politik vom Premierminister abwärts und Überblick damit über ein weites Feld von Politik, Wirtschaft, Kultur und – auch damals schon – Medien. Nur ein Diplomat vom Rang und Namen eines Johannes Schwarzenberg besaß in diesen Jahren das Privileg, den ansonsten unnahbaren Chefredakteur der Londoner »Times« (damals noch nicht im Besitz eines australischen Medienzaren), Sir William Haley, der auch das Ohr jedes briti-

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schen Premierministers dieser Zeit hatte, wenigstens einmal im Jahr zum Lunch einzuladen. Jagdpartien mit dem Außenminister und späteren Premierminister Alec Home gehörten ebenso zu den Selbstverständlichkeiten dieser Tage wie ein Nahverhältnis zu Hugh Gaitskell, dem dann leider zu früh verstorbenen Führer der Labour-Opposition. In der Beobachtung dieser für ihn offenen politischen Welt entstanden auch Meisterstücke diplomatischer Prosa, seine heute legendären, mit eigener Hand verfassten politischen Berichte – ein Genre, das heute unter den Sturzfluten von E-Mails, Faxen und eu correus verschwunden ist. Besondere Aufmerksamkeit wandte Schwarzenberg auch der Kulturpolitik zu und ebnete nicht nur alteingesessenen Ensembles von den Wiener Sängerknaben bis zu den Wiener Philharmonikern, sondern besonders auch jungen österreichischen Künstlern wie Alfred Brendel oder Rudolf Buchbinder den Weg in die renommiertesten Londoner Konzertsäle. Ebenso fand er Zugang zu einer von bitteren Jahren grausamster Verfolgung und Diskriminierung gezeichneten österreichischen Emigration in Großbritannien, vor allem der jüdischen Emigration, in der sich nach einer nur zögerlich anlaufenden Wiedergutmachung Enttäuschung und Kritik auch an einem neuen Österreich breitmachte. In Schwarzenberg fanden ihre Vertreter nicht nur einen verständnisvollen, für ihre Anliegen offenen Gesprächspartner, sondern oft auch einen effektvollen Anwalt. Gewiss waren die großen Erfolge der elf Londoner Jahre Schwarzenbergs neben seinen diplomatischen Fähigkeiten, seinem politischen Gespür und seinem nimmermüden Arbeitseifer auch dem Geschichtsbewusstsein des politischen Großbritannien zu verdanken, das mit seinem Namen und seiner Geschichte mehr anzufangen wusste, als dies vielleicht jenseits des Atlantiks der Fall gewesen wäre. Und wenn die Anekdote vielleicht auch apokryph ist, so wäre doch eine Unterhaltung zwischen Schwarzenberg und einem Nachfahren des Herzogs von Wellington, beim Spaziergang im Hyde Park über die Völkerschlacht von Leipzig sinnierend, so unwahrscheinlich nicht. An keinem einzelnen dieser Geschehnisse lässt sich aber die ganze Bedeutung dessen messen, was die Präsenz Schwarzenbergs für die österreichische Außenpolitik nach 1945, insbesondere auch für die so wichtige und zentrale Beziehung mit Großbritannien, bedeutet hat. Schwarzenberg und die neuen Generationen österreichischer Diplomatie Schwarzenberg, ebenso wie so manche andere seiner Generation, darunter herausragende Persönlichkeiten wie Erich Bielka-Karltreu, Martin Fuchs oder Josef Schöner, haben ganze Generationen österreichischer Diplomaten, die von ihnen ausgebildet wurden, durch ihr Vorbild und ihre Arbeit in entscheidendem Maße geprägt. Sie ha-

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ben den jungen Diplomaten vor allem das Bewusstsein der Eigenständigkeit und der Besonderheiten Österreichs vermittelt, das sich nach 1945 endgültig aus dem Schatten Deutschlands gelöst hat und damit auch gegenüber dem großen Nachbarn selbstbewusst und unabhängig auftreten kann. Für sie ist dann Deutschland eben ein Nachbarstaat wie alle anderen und nicht immer die erste Adresse. Rom und Paris, London und Madrid können dann ebenso wichtig sein wie – heute wieder – Berlin. Nur diese Haltung, die auch immer wieder sichtbar gemacht werden muss, kann Österreich davor bewahren, immer wieder nur als »zweiter deutscher Staat« gesehen zu werden, der dann mit Deutschland in einen Topf geworfen wird. Österreich und Deutschland haben zwar die Sprache, keineswegs aber die Kultur gemeinsam, denn es gibt eben vor allem auch eine eigenständige österreichische Literatur, Brauchtum oder andere kulturelle Traditionen. Mit Erfolg hat also Johannes Schwarzenberg in London gegen diese in Großbritannien vielleicht nicht so stark wie in Frankreich vorherrschende Sicht angekämpft und damit ein anderes, von Deutschland nicht gefärbtes Österreich-Bild entstehen lassen. In seinem Hause war Österreich Dass sich Schwarzenberg nach 1945 entschloss, in die Dienste eines neuen, natürlich wieder republikanischen Österreich zu treten, hat unzweifelhaft dazu beigetragen, das Bild dieses Landes neu und positiv zu prägen  : Seine Präsenz, seine Arbeit waren ein Zeichen dafür, wie sehr alle Kräfte, Strömungen dieses Landes, auch die tief in seiner Geschichte verwurzelten, sich jetzt in den Dienst von Neubeginn und Neuaufbau stellen wollten. Diesen Dienst zu leisten, war er aber auch bereit unter den sehr republikanischen ebenso wie spartanischen Bedingungen der Zweiten Österreichischen Republik, einem österreichischen Staat, dem seine ganze Loyalität ohne mentale Reservationen galt. So brachte er ein stolzes Familienerbe, in dem herausragender Dienst am Gemeinwesen, früher auch auf dem Schlachtfeld, später auch in hohen und höchsten Regierungsämtern, Tradition hatte, in die Außenpolitik der Zweiten Republik ein, deren Erfolge, deren anfangs oft auch ungewöhnliche Erfolge damit auch sein Werk sind. Das Vertrauen und die Wertschätzung, die ihm große Staatsmänner der Zweiten Österreichischen Republik, allen voran Bruno Kreisky, entgegenbrachten, lässt sich sehr wesentlich durch seine Auffassung von Loyalität erklären, die jeweils nur dem Staat und dem Staatsgedanken jenseits aller von Parteien, Clans oder auch nur Cliquen gesteuerten Abwegen galt. Die Größe, die ganze Bedeutung einer solchen Leistung wird besonders dann sichtbar, wenn man sie von der Warte heutiger österreichischer Außenpolitik betrachtet, die ja in ein ganz anderes Umfeld – zu denken ist dabei auch an Technik, an Infrastruktur, an Kommunikationsformen – eingebettet ist als die Mög-

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lichkeiten, die Schwarzenberg zur Erfüllung seiner Aufgaben vorfand. Weit weg waren in seinen Tagen nicht nur Computer und eine computergestützte Wissensgesellschaft, weit war vor allem noch der Weg zu den verschiedenen Formen europäischer Integration, die sich erst nach und nach für Österreich öffnen sollten. Je bescheidener die Mittel waren, über die die Außenpolitik, vor allem die österreichische Außenpolitik, damals verfügte, desto bedeutender war die Rolle der Persönlichkeit, um verlorenes Terrain wiederzugewinnen für Österreich. Hier liegt die eigentliche Leistung dieser Pioniere der ersten Stunde, die die Herausforderung annahmen, aus den Trümmern von 1945 Neues zu schaffen. Einzig mit der Kraft ihrer Persönlichkeit gelang es ihnen, eine gegenüber Österreich oft noch skeptisch eingestellte äußere Welt, natürlich besonders die des Westens, zu der Österreich wieder gehören wollte, von der Aufrichtigkeit, von der Verlässlichkeit unserer Absichten zu überzeugen. Vor allem auch an solchen Persönlichkeiten, ihrem Auftreten, ihrer Überzeugungskraft konnte die Welt den Willen Österreichs ablesen, den Weg in eine neue Gemeinschaft demokratischer Nationen zu wählen, am gemeinsamen Werk des Aufbaus in Europa teilzunehmen, totalitären Ideologien ein für alle Male Absage zu erteilen. Dass eine solche Botschaft Gehör finden würde, stand nicht von allem Anfang an fest. Ein Blick in die Welt von damals genügt, um zu verstehen, was Österreich dann erwartet hätte. Nur dadurch, dass diese Botschaft angenommen wurde, blieb Österreich vielleicht das Schicksal anderer europäischer Nationen erspart. Unter denen, die diese Botschaft mit Erfolg vermittelt haben, ragt ein Dr. Johannes Schwarzenberg (der einzige Titel übrigens, dessen er sich als österreichischer Beamter und Diplomat bedienen wollte) heraus, der nicht eine Minute zögerte, besonders eben nach 1945 und auf den großen Stationen seiner Karriere, Namen, Verbindungen, Erfahrungen, oft auch sein persönliches Vermögen und seine Habe in den Dienst dieser Sache Österreich zu stellen. Im besten Sinn des Wortes war daher, zwar vielleicht nicht in seinem Lager, aber dennoch in seinem Haus, in der von ihm immer wieder geschaffenen Umgebung, Österreich.

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Politische Berichterstattung

Anmerkung der Herausgeber   : Die nachfolgende Sammlung politischer Berichte Schwarzenbergs für Bundeskanzler und Außenamt entstammen dem Privatarchiv des Verfassers und sind Pauskopien der zwischen 1945 und 1964 verfassten Originale aus Rom und London. Die vorliegenden Abschriften werden sprachlich unverändert wiedergegeben und sind nicht an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst. Die von den Herausgebern getroffene Auswahl der Schriftstücke bezieht sich auf die in den Beiträgen Peter Jankowitschs und Oliver Rathkolbs zur Sprache gebrachten Themen. Die Berichte über »Churchill in Südtirol« und einer »königlichen Hochzeit am englischen Hofe« dienen mehr der Erheiterung im Sinne Kreiskys (siehe Abb. S. 339). Ergänzende Anmerkungen bezüglich der in diesen Berichten vorkommenden Persönlichkeiten und politischen Gegebenheiten finden sich in den Fußnoten im Anhang. Johannes de Schwarzenberg   2, rue Beauregard   G e n è v e

Genf, den 23. September 1945

Herr Legationsrat Paul W i n t e r s t e i n 304 Personalchef des Amtes für die Auswärtigen Angelegenheiten Ballhausplatz 2 Wien Verehrter, lieber Freund, Erst gestern ist Dein so wohlwollendes, liebes Schreiben vom 23. Juli (Zl. 326-pers./ 45) über Prag in meine Hand gelangt und ich fürchte, dieser mein aufrichtiger Dank wird ebenfalls nicht so bald zu Dir kommen. Die Verzögerung soll aber der Wärme meines Dankes ebensowenig Abbruch tun, wie meiner Freude darüber, dass Du 1.) die schweren Jahre wenigstens bei heiler Haut, wenn auch, wie übrigens wir alle, mit einer unheilbaren Scharbe im Herzen überdauert hast und 2.) das undankbarste aller Ämter übernommen hast  : des beruflich immer Nein sagen müssenden Personalchefs. Da möchte ich gleich Dir sagen, dass ich über die Reaktion des hohen Ballhausplatzes

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auf mein Offert gar nicht erstaunt war, ja diese Einstellung unter den gegenwärtigen Umständen selbstverständlich finde. Mein Telegramm vom April wollte lediglich dem Bedürfnis Ausdruck geben, sofort bei der ersten Nachricht von der Bildung e i n e r österreichischen Regierung mich auf den Boden des neuen, unabhängigen Österreichs zu stellen, vorbehaltlos und ohne über Weltanschauliches oder Materielles zu rechten. Und so ist es auch heute. Gern will ich warten bis Ihr mich braucht, denn es ist mir wirklich nur darum zu tun, dem so geprüften Land irgendwie nützlich zu sein, nicht aber dem mageren Staatssäckel baldmöglichst zur Last zu fallen. Auch will ich mich nur dann Euch verdingen, wenn ich Gewissheit habe, effektiv dem Land zu nützen, denn lieber als zur Last zu fallen, will ich naturgemäss die mühsam aufgebaute Auslandsexistenz und Verdienstmöglichkeit mir erhalten. An das »Ministerratspräsidium« sandte ich meine Message nur, weil ich damals noch nichts von der Bildung von Staatsämtern gehört hatte und ich, wenn gewünscht, mich auch im Innendienst – ich habe mir seinerzeit die Qualifikation fürs Innere erworben – hätte verwenden lassen  ; aber offen gestanden, glaube ich Besseres im Äusseren leisten zu können und warte somit getrost auf Eure Weisungen. Inzwischen suche ich, soweit die kleine Schweiz dies vermag, möglichst viel aus der Spendenbereitschaft hier herauszuholen. So freue ich mich, bei der Absendung verschiedener Medikamenten- und Lebensmittelsendungen nach Österreich mitwirken zu können. Die Vierteilung erschwert uns natürlich die Arbeit, denn man kann nicht einheitlich über den Bedarf und die Verteilung in allen Bundesländern verhandeln. Jede Stadt, ob es jetzt Wien, Graz, Linz oder Innsbruck ist, erklärt natürlich die ärmste zu sein und will das gesamte Insulin oder allen verfügbaren Äther haben. Die so dringend benötigten Lebensmittel sind momentan auch in der Schweiz noch recht knapp, sodass kaum etwas ausgeführt werden kann – hingegen bin ich dabei, etwas Schuhe für Wien aufzutreiben. In diesem Zusammenhang wandte ich mich auch an Gesandten Franckenstein305 mit der Bitte um Mithilfe. Da Bischoff306 seinen Namen in einem Brief antönte, schliesse ich Abschrift seines Briefes bei – vielleicht interessiert Euch sein jetziges Dasein. Ich kann nicht umhin die kleine Geschichte einer wirklich edlen Geste zu erwähnen, die eben nur ein Winterstein zuwege bringt  : Vor einiger Zeit gelang es uns ein kleines Hilfskomitee307 für bedürftige Österreicher ins Leben zu rufen. Es war damals nicht leicht, denn es waren große politische Schwierigkeiten zu überwinden. Wir halfen u. A. auch dem hier lebenden Sohn des in Buchenwald umgekommenen Justizministers Winterstein308 aus. Nach einiger Zeit konnte Dein Namensvetter seine Existenz hier sichern und nun hat er dem Komitee nicht nur den Unterstützungsbetrag zurückbezahlt sondern steuert sogar regelmässig etwas bei – das ist wirklich vorbildlich  ! Ich schliesse übrigens den Bürstenabzug des im Erscheinen begriffenen Rechenschaftsberichts »à toutes fins utiles« bei.

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Zum Schluss möchte ich aber doch eine persönliche Bitte an Dich richten. Ich will gern warten, bis Ihr etwas für mich in Aussicht nehmt  ; solltest Du aber den Eindruck haben, dass Widerstände gegen meine Person wachsen oder derart sind, dass angesichts der gegenwärtigen Machtverhältnisse mit einer entsprechenden Verwendung schwerlich zu rechnen ist, so sag’ es mir bitte ganz offen. Ich muss schliesslich an die Erhaltung meiner Familie denken und – da das Internationale Rote Kreuz eine kriegsbedingte Erscheinung ist – würde ich voraussichtlich in unsere unbenützte Wohnung nach Brüssel definitiv zurückkehren. Also ich bitte bloss um völlige Offenheit, sobald die Anerkennung gewisse Dispositionen gestatten wird. Nun will ich Dir noch persönlich alles alles Gute wünschen, insbesondere, dass Du halbwegs »überwinterst« ohne das Glas von Familienbildern für die Fenster verwenden zu müssen. Nochmals dank’ ich Dir recht vom Herzen für Deine lieben Worte und bleibe, auf baldiges Wiedersehen hoffend, Dein aufrichtig ergebener

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Österreichische Gesandtschaft in Italien ZL. 41-pol/50 vertraulich Die svp (Südtiroler Volkspartei) und C h u r c h i l l

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25. Mai 1950

Herr Bundesminister  !309 Vor einiger Zeit erschienen in der italienischen Presse Nachrichten, wonach Churchill310 seinen vorjährigen Urlaub, den er in Norditalien malend verbrachte, dazu benützt haben soll, um Briefe, die er seinerzeit an Mussolini geschrieben habe und die jetzt in Händen der svp ein Druckmittel darstellen sollen, zurückzuerhalten. Nach übereinstimmenden Angaben Südtiroler Parlamentarier besitzt aber deren Partei, »leider«, wie sie sagen, keine brieflichen Druckmittel. Was war nun vorgefallen  ? Churchill verweilte einige Tage am Karersee bei Bozen. Die, zu seiner Begrüßung herbeigeeilten, ST Abgeordneten konnten nicht zu ihm vordringen. Da entsann man sich des Sarntaler Bauern Wastl. Der betreibt eine Silberfuchsfarm und hatte schon während des Krieges sein schönstes Tier Churchill bestimmt. Diesem wurde nach Kriegsende der Pelz übermittelt, wofür er sich mit seinem Bilde revanchierte. Mit dieser Legitimation fuhr der Wastl in Begleitung der englisch sprechenden Sekretärin der svp in Sarntalertracht zum Karerseehotel. Es gelang ihm, in der Halle von dem ehemaligen Premier empfangen zu werden. Wastl und Winnie unterhielten sich längere Zeit, wobei auch einige Bemerkungen über die schwere Lage der Südtiroler und die Verständnislosigkeit der italienischen Regierung gefallen sein dürften, ohne konkrete Petite. Beim Abschied soll Wastl seinem Freund gewünscht haben, dass er bald wieder Ministerpräsident werde und, dass er »dann halt nicht auf die Südtiroler vergesse«. Churchill habe darauf mit langem Händeschütteln und »I won’t, won’t, won’t« geantwortet. Mrs. Churchill soll gesagt haben, dass ihr Mann schon lange nicht mehr so vergnügt gewesen sei und der Sekretär Churchills lud Wastl zu einem drink, wobei die Wünsche und Beschwerden der Südtiroler ausführlich besprochen wurden. Seither schickt Churchill seine Memoiren an Wastl und versprach ihm einen Besuch im Sarntal. Die Sekretärin, Frl. Calza, soll eingeladen worden sein, eine Stelle im Sekretariat des ehemaligen Premiers anzutreten, die sie aber abgelehnt haben will. Es gelang den Südtirolern, dieses Schnippchen den italienischen Behörden zu schlagen. Weniger erfolgreich sind sie hinsichtlich des, noch immer amtierenden englischen Konsuls in Bozen. Dieser kennt die zungenlösende Kraft eines guten Tropfens nur zu gut und macht sie sich dienstbar. Dabei sollen zuweilen Töne, die allzusehr an den Badenweilermarsch311 erinnern, manchem braven Bozener entschlüpfen (z. B. »An diesem Tisch wird nicht schlecht vom Führer gesprochen  !«). Diese werden dann prompt

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nach London einberichtet und sollen auch den britischen Botschafter anlässlich seines vorjährigen Besuches in Südtirol (siehe h.a. Bericht Zl.78-Pol/49 vom 14. September 1949) etwas beeinflusst haben. Genehmigen Herr Bundesminister die Versicherung meiner vollkommenen Ergebenheit. gez. Dr. Schwarzenberg Herrn Dr. Karl G r u b e r, Bundesminister für die Auswärtigen Angelegenheiten wien

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Amtsvermerk BKA, AA, 18. 3. 1955  : Botschafter Schwarzenbergs »Römisches Testament«312 10. 3. 1955  : Schreiben Johannes Schwarzenberg (London) an BKA, AA (Wien) »Botschafter Dr. M. Löwenthal-Chlumecky  : Briefübermittlung.« Streng vertraulich  ! Anverwahrt beehre ich mich, einen an Botschafter Dr. Max Löwenthal-Chlumecky gerichteten Brief mit der Bitte um Weiterleitung mittels Kurierpost vorzulegen. Der Brief beinhaltet einige Beobachtungen und Erfahrungen genereller Natur, die ich für die Orientierung des neuen römischen Herrn Missionschef zu Papier gebracht habe. Eine Abschrift dieses Briefes liegt zur gen. streng vertraulichen Information des Bundeskanzleramtes, Auswärtige Angelegenheiten, bei. Der Botschafter  : Dr. Schwarzenberg Streng vertraulich Lieber Freund  ! Eine heftige Bronchitis hat mich auf der Fahrt nach London durch einige Tage im Bett festgehalten. Diese erzwungene Ruhe und die Distanzierung von Rom ließen mich einige Rückblicke und Reflexionen über meine achtjährige römische Mission zu Papier bringen  ; vielleicht kann einiges daraus Dir von Nutzen, einiges für Wien von Interesse sein  ; deshalb lege ich unter Einem Abschrift dieses Briefes vor. So sehr auch mein Herz an den unvergleichlichen Schönheiten Italiens hängt, wenn auch die einzigartigen geistigen – und zum Teil geistlichen – Werte, die in Rom konzentriert sind und den Blick in die Vergangenheit zwingen, mir Eindrücke, ja Seligkeiten, vermittelt haben, die zu Dankbarkeit und Verehrung der einstigen Größe Roms verpflichten, so scheide ich – was den politischen Sektor meiner Arbeit betrifft – doch stark enttäuscht. Ich bin mir bewusst, nach einem steten Kampf mit Windmühlen, die österreichisch-italienischen Beziehungen genau in jenem prekären und rein äußerlichen Gleichgewichtszustand zu verlassen, über den die beiden Nachbarstaaten im Grunde nie hinausgewachsen sind. Gewiss, Österreich und Italien sind »befreundet« und die Gefühle der Italiener aller Schichtungen und Parteien sind, gegenüber den Österreichern, tatsächlich freundlich, ja herzlich. Die Österreicher hingegen, die weniger expansiv und bei der Dosierung ihrer Gefühlskundgebungen vielleicht ökonomischer sein mögen, wenden eher der Landschaft und der Kunst zu, was sie dem Menschen vorenthalten. Wenn der Italiener mit der strengen Unterscheidung zwischen Österreich vor und nach 1918 es nicht immer genau nimmt, so hat sich gerade in den nördlichen Provinzen eine weitgehende Revision eingestellt in der Einschätzung der »Austriaci«, die noch im

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vorigen Jahrhundert dort geherrscht und verwaltet haben. Der Vergleich mit den oft fraglichen Qualitäten der heutigen staatlichen Verwaltung fällt allerdings auch allzu augenfällig zugunsten des altösterreichischen Beamten aus. Aus dem Ersten Weltkrieg sind in Italien kaum noch Ressentiments zurückgeblieben  ; auch das ist weiter nicht verwunderlich  : Erinnerungen an den Waffengang der beiden feindlichen Armeen geben Gelegenheit, die eigenen heroischen Taten anzurufen. An »Siege« erinnert man sich nur zu gern. Auch die freundschaftlichen Gefühle von heute gehen zum großen Teil auf Rechnung des braven und harmlosen kleinen Freundes. Dass unsere zweite Republik wohl befugt ist, heute eher als Fordernde aufzutreten, dass sie das Ihre bereits geleistet, ja dass sie zugunsten der westlichen Welt durch ihren Existenzkampf immerfort vorleistet, das wird man in Italien nie zugeben. Selbst wenn Einige sich dies innerlich sagen mögen, so wäre ein Eingeständnis doch ein taktischer Fehler, den man hier nie sehen wird  ; dies widerspräche allzu sehr der advokatischen Intelligenzia. So wird auch nie anerkannt werden, dass Österreich mit, Südtirol ein Riesenopfer gebracht hat, denn Südtirol ist im Ersten Weltkrieg mit dem Blut tausender Italiener »erobert« worden. Die Brennergrenze ist eine strategische und sicherheitspolizeiliche Garantie der Einheit und Integrität Italiens. In dem sind sich alle Italiener einig, daß die Stärkung des deutschen Charakters der Grenzprovinz Bozen eine Kompromittierung der gegen das Deutschtum errichteten Brennergrenze und eine potenzielle Schwächung dieser strategischen Abwehrfront darstellt. Das Erlebnis der Hitlerischen Invasion Italiens, die sich in 3 000 Jahren Geschichte an so und so viele Einbrüche deutscher Wehrmachten anreihte, war eine heilsame Lektion auch dafür, dass man sich an der Staatsgrenze keine Minorität groß ziehen soll, die, sobald es jenseits einen politisch oder wirtschaftlich Stärkeren gibt, hinaus zu schielen beginnt. Auch in der Triester Frage hat Österreich bis heute »vorgeleistet« und dafür weder Dank noch Gegenleistung geerntet. Das sind Tatsachen, die bestenfalls als Argumente zu werten sind. Dieselben in einer stärkeren und wirkungsvolleren Form in die Waagschale zu werfen, ist uns, in unserer gegenwärtigen Machtstellung verwehrt. Die österreichisch-italienische Freundschaft ist einigermaßen eine societas leonina, wobei der Löwe nur das anhört und glaubt, was ihm in seinem Verhältnis zu den anderen Löwen passt. Der Botschafter Österreichs in Italien reitet seinen Schimmel an der Hinterhand. Er ist zwar immer zum Fordern verurteilt, zum Durchsetzen und zum Erwirken  ; er vertritt aber, umständehalber, niemals einen Großmachtfaktor, vor dem allein die ministeriellen Advokaten, was nun einmal alle lateinischen Regierer von heute sind, Respekt haben. Er kann nie etwas bringen, bisher nicht einmal die vielbegehrten Orden, sondern muss versuchen, mit rein Ephemärem Eindruck zu machen. Der Eindruck ist aber südlich der Alpen alleiniger Trumpf. Man darf sich da in der wohlbeliebten österreichischen Bescheidenheit nicht zu sehr hervortun. Das uns Österreichern so fremde

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Auftrumpfen mit Äußerlichkeiten ist leider unentbehrlich  ; das ist eine Lehre, die ich in 8 Jahren gezogen habe. Die meines Erachtens uns gut anstehende und auch wirkungsvolle letzte Waffe, die Österreich geblieben ist, jene der Kultur, ist – das wirst Du bald zu fühlen bekommen – uns Diplomaten ziemlich aus der Hand geschlagen. Ich habe mich über dieses Kapitel an anderem Orte wiederholt ausgelassen und unbeliebt gemacht. Ich kann nur hoffen, dass es Dir gelingt, entweder ohne dieses Druckmittel auszukommen oder dasselbe zurückgewinnen  ; mir gelang dies nicht. Du wirst schließlich sehr viel freundliche Worte zu hören bekommen und noch mehr Versprechungen. Das ist wohl das traurigste Kapitel in den Tagebüchern eines österreichischen Gesandten in Rom. Weil immer wieder das zu Erwirkende in Aussicht gestellt, als unmittelbar bevorstehend versprochen oder, meistens, als noch in Behandlung stehend bezeichnet wird, kann man leicht in der Heimat als depuriert, als zu langmütig, als zu schwach angesehen werden. Ich habe alle Methoden versucht. Ich bin oft, sehr oft, allerdings immer nur mündlich (denn schriftlich hätte sich ein untragbares Inzident ergeben) ganz gehörig energisch, ja grob geworden. Ich habe mir namentlich an höchster Stelle kein Blatt vor den Mund genommen. Genützt hat es genau so wenig wie die auf juristischen Argumenten basierenden Papierkriege. Diese, d. h. die auf wohlredigierten Erlässen beruhenden Verbalnoten, gehen häufig völlig fehl. Da wirst Du eine merkwürdige Erfahrung machen  : die judizielle Erziehung und Konzeption des italienischen Beamten ist so grundverschieden von jener des Österreichers, dass der italienische Fachbearbeiter sich mit Begeisterung in jeden Papier- oder Wortstreit stürzt, denselben mit Enthusiasmus in einen Papierkrieg verwandelt und dies in der klaren Absicht, auf diese Weise um das Meritum, um die Erledigung, herumzukommen. Ich habe dies namentlich bei unseren Südtiroler Petiten wiederholt erlebt. Je mehr wir schreiben, je bessere Argumente wir einsetzen, desto eher kommen wir der italienischen Taktik entgegen, alles auf die lange Bank zu hinauszuschieben und ja nur keine endgültige Entscheidung zu treffen. Eher kommt man da noch weiter in persönlichen Aussprachen mit den wirklich maßgebenden Persönlichkeiten  ; das mag auch ein »zugänglicher« Sektionschef sein. Da ist es vorzuziehen, die Rabulistik der Argumente und die Ausführungen unserer Zentralstellen beiseite zu lassen und lediglich das Petit, konkret und tel quel, herauszustellen. Solange Herr De Gasperi am Ruder war, vermochte man, namentlich unter Berufung auf die freundschaftlichen Beziehungen De Gasperis zu Bundeskanzler Figl, viel zu erreichen. Seitdem De Gasperi nicht mehr ist, geht alles viel schwerer. Ich habe oft ausgeführt, dass mit seinem Tode ein neues und völlig verändertes Kapitel in den österreichisch-italienischen Beziehungen begonnen hat. Es gibt zwar Politiker, die zu Österreich, bzw. eher zur Botschaft, positiv eingestellt sind, wie allen voran Herr Scelba, dann z. B. Herr Martino, Herr Pella, Herr Saragat, auch kleiner wie Merzagora, Rumor, Benvenuti, Carandini, Bettiol, Domenido, Cingolani, Andreotti, Conella  ; aber damit ist auch Schluß  ; wirkliche Freunde, d. h. Po-

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litiker, die ihr Prestige und ihre parteipolitische Stellung für uns einzusetzen oder gar zu riskieren bereit waren, die haben wir seit De Gasperi nicht mehr. Die guten Beziehungen zwischen Volkspartei und Democrazia Cristiana sind sehr wertvoll und verdienen wärmste Förderung  ; sie können aber kaum ein voller Ersatz sein für die Beziehung von Regierung zu Regierung, von Staat zu Staat, und auch kein Ersatz für das, was De Gasperi für uns getan und hinsichtlich seiner eigenen parlamentarischen Stellung riskiert hat. Zum Abschluß ein Wort betreffend des italienischen Außenministeriums. Wie jedes Außenamt ist auch das italienische bestrebt, den ausschließlichen Vermittler zwischen den ausländischen Vertretungsbehörden und den eigenen Zentralstellen zu spielen. Allerdings ist die Durchschlagskraft des Palazzo Chigi höchst relativ und es hängt meist ganz von der Fachkundigkeit und Stärke der Persönlichkeit eines Abteilungsleiters ab, wie viel er bei den inneren Stellen ausrichtet. Dies gilt eigentlich auch für den Außenminister. Herr Piccioni war, beispielsweise, eine Niete und die italienischen Behörden ignorierten ihn völlig  ; dies wurde bald im Diplomatischen Corps ruchbar, das ihn ebenfalls bald ignorierte. Anders Herr Martino, der eine für süditalienische Verhältnisse außergewöhnlich starke Persönlichkeit ist und sich im Kabinett durchzusetzen versteht. Was die Abteilungsleiter betrifft, so wäre es abwegig eine Regel aufzustellen. Ein Grazzi wußte sich durchzusetzen  ; heute ein Magistrati, ebenso ein Grillo. Den gegenwärtigen Generalsekretär, der noch ganz neu ist, konnte ich noch nicht bei der Arbeit beobachten. Eine Folgerung darf ich aber aus meiner Erfahrung ziehen  : Der Souveränitäts- und Exklusivitätsanspruch des Palazzo Chigi ist durch Erfolge und Ergebnisse so wenig gerechtfertigt, dass es unerlässlich ist, sich direkte Verbindungen zu gewissen inneren Stellen zu schaffen. Dies ist leider in Rom derart notwendig, dass man sich eben über allfällige Bemerkungen seitens des Palazzo Chigi – mir haben die Herren übrigens nie einen Vorwurf gemacht, obwohl sie von meinen direkten Beziehungen, etwa zum Ministerpräsidenten, wussten – hinwegsetzen müsste. Sei, lieber Freund, herzlichst gegrüßt

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Zl. 308-res/60 Charakterisierung des Earl of Home313 1 Berichtskopie vertraulich

am 20. August 1960

Herr Bundesminister  ! Darf ich die Bitte vorausschicken, von der allenfalls beabsichtigten Weitergabe dieses Berichtes im Zirkulationswege abzusehen. Soeben war ich wie alljährlich Jagdgast im Schottischen Heim Lord Home’s, des neuen Foreign Secretary. Wie üblich durfte während des Urlaubs mit dem Hausherrn vom »shop« nicht geredet werden, was aber Gespräche allgemeiner, auch politischer Natur nicht ausschloss und Einblick in die Beziehungen des Foreign Secretary zu seinem Amt gestattete. Lord Home besitzt, zur vielfachen Potenz, die meisten der charakteristischen britischen, namentlich schottischen Eigenschaften  : Er vermeidet unnützes Reden und präzise Kritiken  ; wenn er redet, so ist es meist nur in der Form gelinder Andeutung und gleichsam »sotto voce«  ; jede Meinungsäusserung ist ein Understatement, was jeden ausländischen Gesprächspartner zum Verzweifeln bringen muss. Richtig schottisch ist sein unwiderstehlicher Charme, der in einem ständigen Lächeln und sehr herzlichem Gehaben mit Freunden und namentlich mit seiner Familie zum Ausdruck kommt. Alec Homes eigentliches Glück bildet ähnlich wie beim Premier die Jagd, ferner die Verwaltung seines Besitzes (er ist einer der größten schottischen Grundbesitzer)  ; ferner das vorbildliche Familienleben eines wohlhabenden Land-Edelmanns. Diese absolute Unabhängigkeit, ja das Distanzhalten gegenüber dem unholden Alltag der Politik, das Fehlen jedweden Ehrgeizes (weil er doch schon alles war und alles werden könnte, was er nur will) verleiht dem 14ten Earl of Home eine selbstverständliche Sicherheit und unanfechtbare Position im politischen Leben seines Landes, wie sie vor ihm Persönlichkeiten etwa wie Castlereagh, Wellington, Palmerston, Curzon und der riesenhafte Premier Salisbury (der Großvater des als Jagdgast ebenfalls anwesenden dzt Lord Salisbury) innehatten. Bekanntlich hat der Entschluss Herrn Macmillans, Alec Home zum Nachfolger Selwyn Lloyds zu machen, starken Widerstand im Unterhaus und zum Teil in der Presse ausgelöst. Ganz daneben gehen jene Kritiken, die ihn als unfähig für diesen heikelsten der Kabinettsposten hinstellen, ist er doch eminent gescheit und insbesondere in der Menschenbehandlung überaus geschickt  ; auch ist er sehr rasch sowohl im Denken als im Replizieren, eine namentlich im parlamentarischen Leben hier sehr geschätzte Eigenschaft. So manche Kritik seiner Person dürfte auf eine gewisse machtlose Eifersucht unbefriedigter Abgeordneter zurückzuführen sein, die sich da-

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rüber ärgern, dass der neue Foreign Secretary in seiner, gesellschaftlich wie politisch unantastbaren und unerreichbaren Machtsphäre einen Mangel an Ehrgeiz und Rechtbehaltenmüssen an den Tag zu legen in der Lage ist, den sich nur jene Privilegierten erlauben können, welche die unmittelbarste persönliche Gunst und Freundschaft des Souveräns und zudem eine materielle sowie politische Position in einem so unerschütterlichen Ausmass besitzen, dass sie es sich leisten können, in das öffentliche Leben nicht hinaufsteigen zu müssen, sondern vielmehr sich in dasselbe »herab bitten« zu lassen. Lord Salisbury, der Lord Home’s Vorgänger als Commonwealthminister und als Lord President und Führer des Oberhauses war und den ich nach den Gründen fragte, die den Ministerpräsidenten dazu bestimmt haben, Alec Home gegen den oben erwähnten Widerstand im Lande zum Foreign Secretary zu bestellen, sagte, dass seiner Meinung nach die absolute Verlässlichkeit, Loyalität und der »team-spirit«, also gerade die in Eton Generationen von britischen Aristokraten eingeimpften Tugenden, den Genannten in den Augen Macmillans zum Aussenminister prädestinieren. Lord Home hat sich in jahrelanger engster Zusammenarbeit das intimste Vertrauen Herrn Macmillans erworben. Der Ministerpräsident hat ihn wiederholt bei heiklen Sondermissionen ausprobiert und zudem hat er sich bei Verhandlungen und Kontakten mit den Commonwealthpremiers, die oft sehr schwierige Herrn sind, mit seinem Fingerspitzengefühl und persönlicher Liebenswürdigkeit stets bewährt. Andererseits kann heute ein Ministerpräsident sich nicht mehr der Aussenpolitik entziehen, wenn es um Weltprobleme geht  ; wenn die Chrustchoffs, De Gaulles und Adenauers persönlich an Konferenzen teilnehmen und das letzte Wort in aussenpolitischen Dingen reden, kann der britische Premier nicht daheimbleiben. Er muss dann jeweils auch persönlich seine Politik im Unterhaus vertreten  ; ein Aussenminister erübrigt sich bei dieser Funktion. Macmillan ist nun weit davon entfernt, sich an der Aussenpolitik zu desinteressieren. Genau so wie sein Vorgänger, Anthony Eden, hat er höchst persönliche Ansichten und Ideen. Er braucht daher nicht einen eigenwilligen Aussenminister, mit allzu originellen Ideen, sondern einen intimen Freund, mit dem er sich beraten kann und welcher des Ministerpräsidenten Konzepte bei internationalen Konferenzen und Begegnungen entweder, wenn allein, getreulich und loyal verficht oder, wenn den Premier begleitend, diesen in einer selbstverleugnenden Form sekundiert. Dazu ist Alec Home wie kein zweiter geeignet. Ich konnte beobachten, wie gewissenhaft Lord Home, obwohl auf Urlaub, den Kontakt mit dem Foreign Office aufrecht erhielt und alle ihm zugehenden Meldungen eingehend studierte. Ich gewann den Eindruck, er werde sich vornehmlich den großen und aktuellen Problemen der Weltpolitik widmen und alle Details und unwichtigen Fragen von sich fern halten bzw. dem Lord Privy Seal, Eduard Heath, bzw. seinen Sektionschefs überlassen. Dies gilt auch z. B. für die efta-Probleme, deren

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Wichtigkeit für Englands Partner Lord Home zwar nicht unterschätzt, deren wirtschaftliche Aspekte ihm aber etwas fern liegen. Hingegen nahm er sich, beispielsweise, die Ereignisse im Congo und die damit verbundenen Gefahren für den Frieden sehr zu Herzen. Als Commonwealthminister hatte er naturgemäss Gelegenheit, die afrikanischen Probleme gut kennenzulernen, sodass die Kongo-Probleme und die dortigen Dunkelmänner bei ihm einen Kenner finden. In solchen Fragen, oder etwa was Cuba anlangt, zögert Lord Home jedoch nicht, rasche Entscheidungen zu treffen und hiebei den Ministerpräsidenten zu schonen. Er wird nicht mit allem gleich zu diesem laufen, weiss er eben genau, was der Premier von ihm erwartet und scheut er sich nicht im mindesten, Verantwortungen, auch weit tragender Natur zu übernehmen. Ich zweifle daher nicht, dass der kluge Macmillan sich den richtigen Mann für Englands heikelsten Posten ausgesucht hat und dass dieses vollkommene team-Werk sich in den kommenden Jahren bewähren wird. Was Österreich betrifft, so ist Lord Home vorurteilslos. Ich selbst nehme mir aber vor, die Beziehungen zu Lordsiegelbewahrer Ted Heath zu vertiefen, ist er doch für unsere Belange massgebender und als guter Musiker vielleicht auch aufgeschlossener. Genehmigen Sie, Herr Bundesminister, die Versicherung seiner vollkommenen Ergebenheit. Dr. Schwarzenberg m.p. Herrn Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten Dr. Bruno Kreisky Wien

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Johannes E. Schwarzenberg

österreichische botschaft      london ZL. 27-POL/63 29. April 1963 Hochzeit bei Hof 1 Berichtskopie (Banda) vertraulich Herr Bundesminister  ! Zehntausende schaulustige Briten fanden sich ein, um das Spektakel der festlichen Hochzeit der Prinzessin Alexandra mit dem schottischen Edelmann Angus Ogilvy mit an zu sehen. Es herrschte geradezu eine patriotische Psychose. Die Braut verdient allerdings Bewunderung, ist sie doch liebenswert nicht nur wegen ihrer jugendlichen Schönheit sondern auch wegen ihres Charakters. Sie unterscheidet sich in letzterer Beziehung vorteilhaft von ihrer Vorgängerin in der Rolle einer sensationellen Braut, von Prinzessin Margaret, die zwar, wie die Franzosen sagen »du chien« hat, aber auch ein entsprechendes Naturell  ; auch ist Angus Ogilvy ein tüchtiger Geschäftsmann während Tony Armstrong, heute Lord Snowdon, ein vorbildlicher Nichtstuer ist. Aktive und abgesetzte Könige, korrespondierende Königinnen und Königin-Witwen, Herzöge (von Sparta und Asturien), Markgrafen, Thronanwärter aller Schattierung und Bonität, neigten huldvoll ihr Haupt nach rechts und vor allem nach links, als sie das Spalier der enthusiastischen Plebs durchschritten, die, wenn ihr das Applaudieren in der ehrwürdigen Westminster-Abtei verwehrt war, sich doch in Hofknicksen überschlug. Der Großteil der Presse brachte zur Hochzeit durchaus loyale, ja begeisterte Kommentare  ; immerhin gab es auch satyrische Bemerkungen und namentlich der »Daily Mirror« glossierte unfreundlich den Auftrieb so vieler Heimat-vertriebener Majestäten und Hoheiten. Namentlich der Hofball in Windsor, zu dem durch ein Versehen des Oberstkämmereramtes 2 000 Personen an Stelle der geplanten 1 200 geladen wurden, war wegen seiner unerhörten Pracht Zielscheibe so mancher Kritik. Wenn schon die bösen Republiken so vielen gekrönten Häuptern die Kronen raubten, so kann wenigstens den Damen unter den »Ehemaligen« nicht verwehrt werden, sich mit Diademen von Tortengröße zu krönen und das Leid der Verfolgten mit nostalgischem Charme zu verschleiern. Österreich hat aber an Publizität diesmal den Vogel abgeschossen  ; Österreich stand an der Spitze der Schlagzeilen, und das kam so  : Eine Erzherzogin von Österreich, sechsjährig und blond, Elisabeth mit Namen, trug die Schleppe der Braut  ; die entzückende Kleine »arch-Austrian duchess« hat die ganze Hochzeitsgesellschaft bezaubert und die Herzen der Zaungäste erobert.

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Allein das Protokoll goss Essig in den Wein der allgemeinen Hold- und Leutseligkeit. Die Horden gekrönter und entkrönter Häupter bildeten allerdings ein schier unlösbares Problem für die Experten des Vortritts. Es heisst, dass die Beleidigungen die Begeisterungen ausgewogen haben. Da nun einmal meine Kollegen im Diplomatischen Corps viel Freude an der Kritik des Londoner Hofzeremoniells haben, finde auch ich meinen Spass an diesem homerischen Streit ums Protokoll. Für viele der hiesigen Missionschefs waren die, aus ihrer Heimat stammenden Monarchen und Hoheiten ein heikles Problem, für den Einen sogar eine Lebensgefahr  : Michel Melas, der griechische Botschafter, liegt im Spital mit einem Herzinfarkt, den er erlitt, als vor dem Hotel, wo Königin Friederike (in Hofkreisen hier Friedrich der Große genannt) wohnte, wegen der in Griechenland angehaltenen politischen Gefangenen demonstriert wurde. Quaroni, der italienische Botschafter, »hatte« König Umberto hier. Der spanische Botschafter den Thronanwärter, den Prinzen von Asturien mit seiner jungen griechischen Gattin, ferner auch Eugenie, die letzte regierende Königin von Spanien. Der deutsche Botschafter fühlte sich zuständig bzw. in Verlegenheit wegen der zahllosen deutschen Verwandten des Herzogs von Edinburgh und die vielen Urgroßenkel von Königin Victoria, die allenthalben über die Bundesrepublik verstreut sind. Der französische Botschafter wusste nicht recht wie er sich gegenüber dem Comte de Paris (recte Duc de Guise) benehmen soll. Der Belgier war verlegen, weil sein Königshaus nicht vertreten war, nur die skandinavischen Botschafter, der Jugoslawe und der Rumäne waren kontent, die ersteren, weil sie als ständige, persönliche Vertreter ihrer Souveräne eine Existenzberechtigung und entsprechende Tischplätze haben während Herr Prica sich um die Angehörigen der Dynastie Karađorđević überhaupt nicht zu kümmern brauchte, geschweige denn der rumänische Gesandte um seine Ex-Königin. Der Hof hatte die Möglichkeit, die fremden diplomatischen Vertreter entweder zum Hofball nach Windsor oder in die Kirche, zur Trauung, oder zu beiden Funktionen einzuladen. Die größte Ehre war es aber, zu beidem eingeladen zu werden. Die allerhöchste Gunst wurde aber dem Wärmegrad angepasst, der die Beziehungen zwischen der gegenwärtigen Regierung eines Landes und der betreffenden ehemals regierenden Dynastie erfüllt. Dieses Kriterium ist aber viel zu subtil, um tatsächlich und folgerichtig angewendet werden zu können. Die Botschafter von Schweden und Spanien waren sowohl zum Hofball als auch in die Abtei zur Trauung eingeladen, nebst dem Botschafter von Kambodscha, dem Land das Prinzessin Alexandra besucht hatte  ; (den Japaner hatte man vergessen). Der Botschafter von Luxemburg hingegen war erstaunt darüber, dass er zum Hofball nicht geladen war, obwohl der luxemburgische Thronerbe offiziell die Großherzogin bei der Hochzeit vertrat. Der deutsche, italienische und französische Botschafter waren zum Hofball gebeten, weil ihre Regierungen freundliche Beziehungen zu den entsprechenden, ehemals regierenden Häusern unterhalten  : Frankreich hat ja dem Comte de Paris die Repatriierung gestattet, Italien hat die Casa

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Johannes E. Schwarzenberg

Savoia großzügig entschädigt und die zahlreichen deutschen ehemaligen landesherrlichen Familien leben allesamt unter nicht ungünstigen Bedingungen und geachtet in der Bundesrepublik. Der schweizerische Botschafter war zum Hofball eingeladen  ; warum ist nicht klar. Der österreichische Botschafter wäre vermutlich trotz – oder wegen – der Popularität der kleinen Erzherzogin von Österreich zu keiner der Funktio­nen gebeten worden, hätte ihn nicht die Brautmutter, Prinzessin Marina, die ein häufiger Gast auf der österreichischen Botschaft ist, persönlich in die Abtei einladen lassen. Beleidigungen gab es natürlich in Hülle und Fülle unter den ehemaligen Monarchen bzw. Anwärtern. Der Comte de Paris sass nicht mit den Monarchen sondern bloss neben dem Prinzen Paul von Jugoslawien und Fritzi von Preussen, ein Enkel Wilhelms II., sollte doch vor einem Mecklenburg gehen  ! Die Krone der Gaffe wurde aber spanischerseits releviert, denn man hatte eine Infantin, Enkelin Alfons XIII., ohne ihren (italienischen) Gatten eingeladen  ; überhaupt scheinen eine ganze Reihe von verheirateten Persönlichkeiten ohne den Gatten bzw. ohne die Gattin eingeladen worden zu ein  ; ob mit oder ohne Absicht  ? Darüber schweigt der sybillinische Hof. Aber eine grosse Hetz war doch das Ganze  ; beinahe wie ein Fussballmatch oder das Derby  ; bloss Wetten gab es keine und das vermissten die Untertanen. Genehmigen Sie, Herr Bundesminister, die Versicherung meiner vollkommenen Ergebenheit. Dr. Schwarzenberg m.p. Herrn Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten Dr. Bruno K r e i s k y Wien

Maximilian Liebmann

Johannes E. Schwarzenberg, österreichischer Botschafter beim Hl. Stuhl  : ein besonderer Glücksfall Völlig frei von braunen Flecken, konnte Johannes E. Schwarzenberg sich, wo immer er tätig war, sogleich hoher Anerkennung und Hochschätzung erfreuen. Der gleich formvollendete wie intelligent-gewissenhafte Diplomat wirkte für Österreichs Wohl und Ansehen, sei es am Quirinal in Rom, in London auf 18 Belgrave Square oder beim Hl. Stuhl in Rom. Weit verzweigt waren seine Bekanntschaften und zahlreich seine Freunde wie z. B. Bruno Kreisky, als er seinen diplomatischen Dienst beim hl. Stuhl antrat. Hoch angesehen und mühelos konnte er Vertrauen in hohen und höchsten Kreisen des Vatikans und der römischen Kurie finden. Gewissenhaft sandte er seine Berichte über all das, was er Bedeutsames in kurialen und diplomatischen Kreisen gehört und erfahren hatte, an die österreichischen Außenminister Lujo Tončić-Sorinj bzw. Kurt Waldheim. So sehr die Außenminister über die einschlägigen Bemühungen, Sorgen, Überlegungen und Wertungen im Bereich der römischen Kurie informiert wurden, d. h. Bescheid wussten, so wenig sickerte dies ins Bewusstsein der Bevölkerung. Wenn nun diese Berichte dem Kirchenhistoriker zur Verfügung stehen, kann deren dreiteilige Auswahl nur das Informativste und Aussagekräftigste betreffen. Sie bieten weder Geheimnisse noch Sensationen, aber sehr wohl manches Bedenkenswertes, und lassen es in neuem Licht erscheinen. I. Dies gilt für staatskirchliche Belange im Bereich unseres Konkordates, das heißt des so genannten Pacelli-Dollfuß-Konkordates vom Juni 1933, das Österreich bis heute nur unvollkommen realisiert hat und dessen Nichterfüllung in Österreich, zum Unterschied vom Hl. Stuhl, kein öffentliches Thema mehr ist. Heftige, ja heftigste Kritik musste Österreich bzw. seine Regierung einst von Papst Pius XII. darob über sich ergehen lassen. II. Die Enzyklika »Humanae Vitae« von Papst Paul VI. vom 24. Juni 1968, die allgemein »Pillenenzyklika« genannt wurde und wird, hat größtes Aufsehen erregt und stieß weitgehend auf Ablehnung. Manche qualifizierten sie als Unterminierung und fundamentale Infragestellung der päpstlichen Lehrautorität durch die römische Kurie selber. Kirchliche

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Familienämter rieten beim Brautunterricht, »Humanae Vitae« nicht allzu ernst zu nehmen. Mit der international beachteten »Mariatroster Erklärung« der österreichischen Bischöfe unter Vorsitz von Franz Kardinal König vom 22. September 1968 wurde die päpstliche Hoheitsentscheidung auf das Gewissen der Eheleute als letzte Entscheidungsinstanz verschoben. Besonders romhörige neue Bischöfe Österreichs verlangten sogar ihren Widerruf, was Kardinal König strikte verweigerte. Weihbischof Helmut Krätzl erläutert dies in seinem jüngsten Buch »Mein Leben für Kirche, die den Menschen dient« näherhin. III. Am 9. Oktober 1968 empfing Papst Paul VI. den Präsidenten des österreichischen Nationalrates Dr. Alfred Maleta in Privataudienz. Nur ein flüchtiger Händedruck (Handkuss – »baciamento«) war vorgesehen. Nach einem kurzen Gespräch über »Austriaka« mit Präsident Maleta, der hierbei seine umfangreiche Studie »Entscheidung für Morgen, Christliche Demokratie im Herzen Europas« dem Papst überreichte, kam der Papst unter Anwesenheit des österreichischen Botschafters Schwarzenberg eingehend auf Franz Kardinal König zu sprechen. Der Botschafter interpretierte diese Ausführlichkeit an ihn, zwecks Berichterstattung nach Österreich, gerichtet. Kardinal König hatte als Präsident des päpstlichen Sekretariats für die Nichtgläubigen im Pressesaal des Vatikans am 1. Oktober 1968 eine Pressekonferenz abgehalten. Hierbei hatte er den hart erarbeiteten »Leitfaden für den Dialog mit den Nichtgläubigen« veröffentlicht. Eine ungehemmte Pressekampagne italienischer Tageszeitungen und Zeitschriften, punziert vom inneritalienischen Parteienstreit, brach los  ; Kardinal König wurde sogar unterstellt, er trete für Kollaboration mit den Kommunisten ein. Botschafter Schwarzenberg wusste sich verpflichtet, beim besonderen Vertrauten des Papstes im vatikanischen Staatssekretariat nähere Erkundungen einzuholen. Beim bewussten Empfang am 9. Oktober 1968 nahm Papst Paul VI. den Kardinal nicht nur in Schutz, sondern hob vor allem seine hohe Wertschätzung und die Verdienste Kardinal Königs hervor. Dass er aber keinerlei Bedenken, geschweige denn Kritik an der »Mariatroster Erklärung« vom 22. September 1968 verlauten ließ, verdient Beachtung. Sind heute noch Botschafterposten beim Hl. Stuhl vonnöten  ? Die zunehmende Infragestellung des diplomatischen Dienstes wird durch die heutigen Informatik-Systeme einerseits und durch budgetäre Belange anderseits genährt. Was die historisch-wissenschaftlich unschätzbaren Botschafterberichte Schwarzenbergs anlangt, so sind sie letztlich nur gegeben, weil der Botschafterposten beim Hl. Stuhl, nicht zuletzt fußend auf Beschlüssen des Wiener Kongresses 1815, errichtet wurde und etabliert ist. Wenn die Entweltlichung der Kirche, wie sie Papst Benedikt XVI. unlängst bei seiner Deutschlandvisite als Ziel anklingen ließ, realisiert wird, werden wohl die Nuntien des Hl. Stuhles bleiben, aber schwerlich die staatlichen Botschaften beim Hl. Stuhl.

Johannes E. Schwarzenberg, österreichischer Botschafter beim Hl. Stuhl  : ein besonderer Glücksfall

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Das Konkordat mangelhaft realisiert Rom, den 13. Juli 1966 Zl. 102-Res/66 Unterredung mit Erzbischof Samoré314 in Konkordatsfragen Herr Bundesminister  !315 Nachdem mich der im Staatssekretariat mit Ausserordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten betraute, aus der h. o. Berichterstattung in den Konkordatsfragen seit Jahren wohlbekannte Erzbischof Samoré bereits dreimal auf die noch ausstehende Regelung der Eherechtsfragen im Rahmen des Konkordats angesprochen hatte, leistete ich heute seiner Einladung zu einer eingehenderen Aussprache folge. Da mir Monsignore Samoré gestattete ganz unverblümt zu reden, glaubte ich einleitend feststellen zu dürfen, dass der Heilige Vater anlässlich Antrittsaudienz die Wünschbarkeit einer konkordatsgemäßen Regelung des eherechtlichen Sektors nur in zarter Form hat durchblicken lassen, während sowohl der päpstliche Nuntius316 in Wien als auch er selbst, Samoré, sehr insistent auf die Bereinigung der noch offenen Konkordatsfragen dringen. Man dürfe sich also fragen, ob es der Vatikan in dieser Angelegenheit wirklich so eilig habe. Monsignore Samoré entgegnete, dass unter dem Regime Papst Paul VI.317 zweifelsohne eine Veränderung sowohl im Ton wie in der Form bei der Behandlung der aussenpolitischen, wie überhaupt so ziemlich aller vatikanischen Agenden zu verzeichnen ist, und zwar im Sinne einer Milderung in der Ausdrucksweise und einer verständnisvolleren Rücksichtnahme auf Realitäten und auch auf die Möglichkeiten sowohl von Regierungen wie von Persönlichkeiten, mit denen der Heilige Stuhl zu tun hat. Gegenüber Pius XII.318 habe bereits Johannes XXIII.319 durch sein urbanes Wesen und seine innere Wärme abgestochen  ; eine Eigenheit Paul VI. ist sein Bestreben niemand weh zu tun. Das Pastorale gewinnt meist die Überhand und der Papst deutet nur in delikater Weise an, was etwa Pius XII. und sein Staatssekretär Tardini320 in scharfen Worten gegeisselt oder gefordert hätten.321 So habe Paul VI. auch mich, bei meinem Auftreten im Vatikan schonen wollen. Monsignore Samoré meinte, wir sollten uns durch die manchmal als schüchtern anmutende Art des Papstes nicht über die Tatsache täuschen lassen, dass der Heilige Stuhl nach wie vor die Erledigung der Eherechtsfrage von uns erwartet und immer wieder auf diesselbe zurückkommen wird  ; er ist hiezu auch durch den Wortlaut der Erklärung der Bundesregierung (vgl. Bericht Zl. 62-Pol/57 vom 23.XII.1957) vollberechtigt, in welcher wir die Rechtsgültigkeit des Konkordates vom Jahre 1934 grundsätzlich anerkannt haben und in welcher ausdrücklich »Verhandlungen über ein neues

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Konkordat, das alle Fragen wie insbesondere die Ehe- und Schulfrage« regeln soll, in Aussicht genommen.322 Monsignore Samoré ging ziemlich eingehend sowohl auf die Lösungsmöglichkeiten für die Eheschliessungsform als auch auf die Anerkennung kirchengerichtlicher Urteile (Scheidungsfragen) ein, doch glaube ich auf das gegenständliche Gespräch im vorliegenden Bericht noch nicht eingehen zu sollen, folgte ich doch den Ausführungen des Unterstaatssekretärs nur mit dem Vorbehalt meiner vollkommen Unzuständigkeit und nur sehr oberflächlicher kanonischer Kenntnisse. Dennoch darf ich festhalten, dass das Staatssekretariat in der Person seines zuständigen Funktionärs heute viel aufgeschlossener ist und realistischen Argumenten (was das parlamentarisch und innenpolitisch Durchsetzbare betrifft) weit zugänglicher zu sein scheint, als dies etwa im Jahre 1957 der Fall war, und zwar anlässlich der in schärferem Ton geführten Vorverhandlungen, die zur partiellen Revision des Konkordates führten.323 Aus den Darlegungen Erzbischof Samoré’s darf ich seine Zitierung des Konkordates mit Portugal erwähnen, in welchem in der Frage der Anerkennung kirchlicher Urteile eine Form gefunden wurde, zu der sich der Vatikan gegebenenfalls auch Österreich gegenüber bereit finden könnte. Ich kannte die betreffenden Artikel (XIII ff.) und entgegnete, dass nach meiner völlig unmassgeblichen Meinung, dies kaum als ein ausreichendes Zugeständnis zu betrachten sei, impliziere diese Regelung eben doch die Verleihung der Rechtskraft für den staatlichen Bereich an ein kirchliches Urteil. Da führen wir doch besser, wenn gegenüber Österreich der gleiche Ausweg gefunden würde, wie im Konkordat mit Deutschland ex 1933 – und glaublich gewisser Länderkonkordate wie mit Bayern – wo das Kapitel Ehescheidung – Eheungültigkeit ausgeklammert bzw. einer späteren Regelung vorbehalten wurde. Monsignore Samoré widersprach nicht, räumte jedoch ein, dass es wohl am klügsten wäre, schrittweise vorzugehen und lieber mit dem Problem der Eheschließungsform zu beginnen, das leichter zu regeln ist als die Anerkennung kirchlicher Urteile (Ehetrennung). Ich verabschiedete mich mit der neuerlichen Unterstreichung meiner Unzuständigkeit und der Notwendigkeit Kanonisten zu Wort kommen zu lassen. Genehmigen Sie, Herr Bundesminister, den Ausdruck meiner vollkommenen Ergebenheit. Dr. Schwarzenberg e.h.

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Für und Wider »Humanae Vitae« Österreichische Botschaft beim Hl. Stuhl324 den 16. 9. 1968 Zl. 30-POL/ 68 Das päpstliche Staatssekretariat Und die Vertrauenskrise des Geheim  ! Pontifikats Pauls VI. 1 Bandkopie Herr Bundesminister  !325 Obwohl Papst Paul VI.326 erklärtermaßen Widerstand in der Gesamtkirche gegen die Enzyklika »Humanae Vitae«327 erwartete und große Einbuße seiner Popularität voraussah, so ist der Schock doch gewaltig, der im Vatikan durch die, oft recht scharfen Kritiken verursacht wird, die in Theologenkreisen all’ über die Welt laut werden und die Gläubigen erschüttern. Papst Paul hat in der Generalaudienz vom letzten Mittwoch, wo er seinen Gefühlen Luft zu machen pflegt (»sfogarsi« nannte dies ein römisches Blatt), einen geradezu dramatischen Ton angestimmt  ; es heißt, er habe geweint, so tief schmerzt es ihn, dass die außeritalienische Kirche nicht das nötige Verständnis für seine überzeugte Lehrmeinung aufbringt. Obwohl der Hl. Vater auf die im »Osservatore Romano«328 (und eigentlich nur in diesem römischen Blatt), erscheinenden zustimmenden Erklärungen der großen Mehrheit des Weltepiskopat hinweisen kann, so scheint er doch selbst nicht ganz davon überzeugt zu sein, dass seine bewusste Entscheidung in der Frage der Geburtenregelung auch allenthalben befolgt und nicht beiseite geschoben werden wird, anderen falls würde er sich doch nicht vor den Pilgern und der Öffentlichkeit so entsetzt zeigen. Im Vatikan die weltweite Wirkung des Pillenerlasses anschneiden zu wollen, ist ebenso unpopulär wie unergiebig. Mit Rücksicht auf die Abwesenheit des Hl. Vaters in Castel-Gandolfo329 und im Hinblick auf das andauernde Sich-Verleugnen-Lassen des eigentlichen und praktisch ausschliesslichen Hauptes des Staatssekretariates, Monsignor Benelli’s330, getraut sich kein Kurienfunktionär zu diesem aktuellsten und alle Ereignisse überschattenden Problem offen Stellung zu nehmen  ; das von Papst Montini in wachsendem Ausmass angewandte autoritäre System in der Leitung der Gesamtkirche hat mit der Inthronisierung Mons. Belli’s, und dank der Kurienreform auch im Staatssekretariat Eingang gefunden, und zwar zum allgemeinen Leidwesen der Missionschefs, die nicht mehr, etwa wie in den schönen Tagen Kardinal Tardini’s331, donnerstags und samstags »aux écoutes«332 gehen und sogar willkommen aufgenommene Informationen aus der Quelle ihrer Außenämter in den Vatikan zu tragen pflegten. Wenn es mir gelang, dennoch einen sehr hohen Herrn im Vatikan auf den so offenkundigen Schmerz des Hl. Vaters anzusprechen, so vermied ich es selbstverständlich,

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auf das Meritum einzugehen, so beispielsweise auf die meistverbreiteten Einwände gegen die päpstliche These, wie etwa die angebliche Einschränkung gewisser Freiheiten, die durch das II. Vatikanum eingeführt worden waren. Mein hoher Mitredner333 bedauerte, dass die Zeitungen im allgemeinen nur die Schattenseiten brächten und die kritischen Stimmen bekannter Theologen während bisher in der katholischen Presse nur wenig Positives zu lesen ist. Ich wies auf die regelmäßigen Korrespondenzen der Kath-Press334 hin, die zwar die Streitschriften bekannter deutscher Theologen brächte, nicht aber die tiefgründigen Artikel etwa von M.R. Gagnebet o.P. In den Nummern 201, 202, 203, (3ter, 4ter, 5ter September) im Osservatore Romano oder der hervorragende Artikel Kardinal Felici’s335 im gleichen Blatt vom 7. September. Diese sind in den Wind gesprochen, denn wer liest schon den »Osservatore romano« gründlich  ! Mein Mitredner entgegnete zunächst  : »Wir sind zutiefst über die Kathpress enttäuscht – sie bringt viel zu viel absolut Falsches – da lob’ ich mir demgegenüber Ihre ›Presse‹336 (A13). Die ›Presse‹ hat eine vorbildliche Haltung gegenüber der Enzyklika eingenommen  !« Ich erklärte mich beeindruckt davon, dass die »Presse« in so hohen (italienischen) Kurienkreisen bekannt ist. Ich sondierte hinsichtlich der Beschlüsse der Bischofskonferenzen, namentlich der deutschen und holländischen. Mein Mitredner wich aus und resümierte seine Eindrücke dahingehend, dass »man« über die individuellen Reaktionen der Bischöfe erfreut sei und insbesondere die Überzeugung gewonnen habe, dass die Gläubigen im allgemeinen ihre Treue zum Hl. Stuhl bewahren und die Enzyklika hinnehmen werden. »Sehr betrübt sind wir aber hinsichtlich des jungen Klerus.« Dass der niedere Klerus und damit die Großzahl der Beichtväter so heftig revoltieren, das scheint also dem Hl. Vater sehr wehe zu tun. Genehmigen Sie, Herr Bundesminister, den Ausdruck meiner vollkommenen Ergebenheit. Dr. J. E. Schwarzenberg e.h.

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Franz Kardinal Königs römische Pressekonferenz und Audienz von Präsident Alfred Maleta Österreichische Botschaft beim Hl. Stuhl337 den 9. 10. 1968 Zl. 164-RES/ 68 Nationalratspräsident Maleta, Privataudienz beim Hl. Vater 2 Berichtskopien An das Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten338 Wien Heute wurde der Präsident des Nationalrats, Dr. Alfred Maleta339, in Begleitung des gef. Missionschefs von Papst Paul VI. in einer Privataudienz empfangen. Anschliessend begrüsste der Hl. Vater auch Frau Gerda Maleta. Mit Rücksicht auf die gegenwärtige übermäßige Belastung des Hl. Vaters war eigentlich bloss ein sog. »baciamano«340 nach der allgemeinen Generalaudienz des Mittwochs vorgesehen, doch entschied der Papst spontan im Hinblick auf die hohe Stellung eines Präsidenten des Nationalrats und Präsidenten des Arbeiter- und Angestelltenbundes, dass dem Besucher die immer seltener werdende Ehre einer Privataudienz zuteil werden sollte. Der Hl. Vater fand im Gespräch mit Präsident Maleta sehr anerkennende Worte für den österr. Katholizismus im Allgemeinen und hob die wichtige Sendung hervor, die Österreich als altes Kulturzentrum und durch seine besondere Lage im Herzen Europas gegenüber seinen östlichen Nachbarn zufalle. So nannte Seine Heiligkeit in diesem Zusammenhang neben dem Pazmaneum341 die bedeutenden Leistungen der Universitäten von Wien und Innsbruck und lobte die Verdienste der grossen zeitgenössischen Theologen, die aus österr. Lehrstätten hervorgegangen sind, u. a. Karl Rahner342, den Liturgiker Jüngermann343 und andere mehr. Der Papst unterstrich das hohe Niveau und das treue Stehen zum wahren Glauben der österr. Katholiken, eine Tatsache, die seinem Herzen, wenn man gewisse Erscheinungsformen in Holland und Belgien bedenke, eine große Befriedigung sei. Papst Paul VI. hielt sich eingehend bei der Person Kardinal Königs344 auf, den er besonders schätze. Erwähnt wurden geplante Reisen (Vorträge) Seiner Eminenz nach Iran und namentlich nach Jerusalem.345 In der Hervorhebung des Wertes, welcher die Person Kardinal Königs für Ihn, den Papst, darstelle, lag gewiss keine Beiläufigkeit, sondern Absichtlichkeit, die im Hinblick auf die kürzlichen Presseangriffe auf den Kardinal im Zusammenhang mit des-

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sen römischer Pressekonferenz346 in erster Linie an den österr. Botschafter beim Hl. Stuhl347 zum Ausdruck kommen sollte. Präsident Maleta überreichte dem Papst sein jüngstes Buch »Entscheidung für morgen«348, für dessen sozialpolitischen Inhalt Seine Heiligkeit besonderes Interesse zeigte. Das Verhältnis der Kirche zu den modernen Entwicklungsformen der menschlichen Gesellschaft stelle nach Seiner Ansicht das entscheidend wichtigste Problem der Kirche dar.349 Papst Paulus erwähnte mit Befriedigung das eben in Wien unterzeichnete Abkommen über die Schaffung der Diözese Feldkirch350 und sprach, auf Südtirol übergehend, seinen innigen Wunsch aus, dass eine Befriedung dieses entzweienden Problems zwischen Nord- und Südtirol gefunden werden möge. Die Audienz dauerte eine volle halbe Stunde, ging doch der Hl. Vater auch auf persönliche Reminiszenzen ein, die sich auf seine Aufenthalte in Innsbruck und Wien und auf die früheren österr. Missionschefs beim Vatikan erstreckten. Der Botschafter  : Dr. J. E. Schwarzenberg

Gabriella Dixon

Asylwerber in Österreich – eine Kurzbeschreibung

Nach wie vor sehen sich heute weltweit Millionen von Menschen gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und irgendwo in der unbekannten Ferne um Asyl anzusuchen. In einigen Fällen sind sie auch als Binnenflüchtlinge in unterversorgten Zeltstädten auf Schutz und Hilfe angewiesen. Viele werden wegen ihrer politischen Anschauungen, ihres Glaubens oder ihrer ethnischen Zugehörigkeit verfolgt  ; andere wiederum leiden unter den Auswirkungen eines Bürgerkrieges, und wieder andere verzweifeln an den katastrophalen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen ihres Landes. Das un-Flüchtlingskommissariat zählte für 2012 45,2 Millionen Menschen auf der Flucht vor Konflikten, Krieg und Verfolgung  ; gleichzeitig sank die Zahl der freiwilligen Rückkehrer (nur 251.000 sind 2009 in ihre Heimat zurückgekehrt). Die Zahl der Flüchtlinge, die sich außerhalb der Grenzen ihres Heimatlandes befinden, belief sich auf 15,2 Millionen Menschen – von diesen stehen zwei Drittel unter dem Schutz des unhcr und ein Drittel unter dem des un-Hilfswerks unrwa für Palästina-Flüchtlinge. Mehr als die Hälfte aller Flüchtlinge verharrt bereits seit über fünf Jahren oder länger im Exil, da die Konfliktzustände in ihren Ländern andauern, keine Lösung in Sicht scheint und eine Rückkehr unter solchen Umständen undenkbar und unzumutbar ist. Das Mandat des ­u nhcr gebietet nicht nur, Flüchtlinge zu schützen und zu unterstützen, sondern auch nach dauerhaften Lösungen (»durable solutions«) ihrer fluchtbedingten Probleme zu suchen. Leider erschweren und komplizieren anhaltende und sich verschärfende Konflikte in den Heimatländern der Flüchtenden die Möglichkeiten einer freiwilligen Rückkehr. Zu den großen Krisengebieten der Welt zählen Afghanistan, Somalia, die Demokratische Republik Kongo, der Irak und der Sudan. Die Anzahl der Binnenflüchtlinge in einigen dieser Länder wird vom unhcr mit 27,1 Millionen Menschen beziffert. Erschwerend kommt hinzu, dass die unmittelbaren Hauptaufnahmeländer von Flüchtlingen ebenfalls in der Dritten Welt angesiedelt sind und dass diese zumeist ärmeren und nur relativ mehr oder weniger stabilen Staaten mit dieser Aufgabe restlos überfordert sind.351 Die heutigen Flüchtlingsströme haben sich also, verglichen mit Schwarzenbergs Schilderungen im Zuge des Fluchtgeschehens im und unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg, nicht nur globalisiert, sondern auch zur zwischenstaatlichen Konfrontierung mit unterschiedlichsten kulturellen Herkunftsregionen der Flüchtenden geführt. Was sich jedoch nicht geändert hat, ist das Elend des individuellen Flüchtlingsdaseins. »Mir graute vor der Perspektive eines Flüchtlingsdaseins im Ausland, ohne fixe Berufsstellung, ohne Eigenmittel, eine Last für meine Schwiegerfamilie. Zum zweiten

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Male sollte ich meine Heimat verlieren  ! Lebhaft stellte sich die Erinnerung an die Kritiken und Widerwärtigkeiten ein […]  : die mühsame, oft demütigende Suche nach Erwerbsmöglichkeiten  ; die Umstellung auf fremde Lebensverhältnisse und auf ungewohnte Konventionen, die Verdächtigungen  ! Sollten wir alles liegen und stehen lassen, uns von Bekannten und Verwandten trennen, die unter einem feindseligen Regime zurückblieben  ?« Schwarzenbergs Beschreibung seiner persönlichen Flüchtlingserfahrung aus dem Jahre 1938 spiegelt im Wesentlichen die Empfindungen der Flüchtlinge, mit denen wir es heute beim Österreichischen Roten Kreuz in Wien täglich zu tun haben, unverändert wider. Ebenso haben seine Beobachtungen hinsichtlich der Beziehung des Flüchtlings (und Migranten) zur jeweiligen Aufnahmegesellschaft nichts an Aktualität verloren  : »Auf Gastfreundschaft, oftmals auf Großmut angewiesen, wird der Emigrant leicht zum eigenen größten Feind  ; im Nehmen wie im Geben. Nach mühsamem Suchen öffnet sich ihm eine neue Lebens- und Verdienstmöglichkeit  : Er muss sich umstellen, muss umlernen. Es geht nicht ab ohne Nörgeln seitens des Nehmers wie des Gebers. Mangelnde Flexibilität wird als Stolz empfunden, wenn nicht gar als Undankbarkeit. Tragisch der Missklang im Sich-anpassen, wenn der Nehmer die guten Absichten des Gebers nicht erkennt und verkehrt interpretiert.« Nach fast sechzig Jahren des Friedens, der Rechtsstaatlichkeit und des Wohlstandes ist es heute für uns in Österreich ein Schweres, sich vorzustellen und zu verstehen, was es bedeutet, ein Flüchtling zu sein, die Heimat unfreiwillig verlassen zu müssen, die Vertrautheit des Zuhauses für immer zu verlieren und eines vormals gegebenen sozia­ len Status verlustig zu gehen. Leben in einem reichen und sicheren Land wie Österreich erschwert es, sich in das Leben und die Nöte eines Flüchtlings hineinversetzen zu können. Niemand wird hier unterdrückt, mit Waffengewalt bedroht und verjagt oder gar verfolgt. Man ist gewohnt, Rechte zu haben, diese einfordern und im rechtsstaatlichen Rahmen durchsetzen zu können. Man kann seine Meinung frei äußern, seinen Glauben frei ausüben, sich frei bewegen und unbeschränkt an allem teilhaben. Man profitiert von einem vorzüglich funktionierenden und administrierten Staatsapparat und dessen Institutionen, einem Gesundheitswesen und einem noch gesicherten Pensionssystem. Kurz, man ist ein mit unwiderruflichen Rechten versehenes Individuum in einer demokratisch organisierten Gesellschaft. Armut, Not, Aussichtslosigkeit, Entwicklungsrückständigkeit, Vertreibungen, Kriege und gewaltvolle Konflikte aber finden meist in anderen, fernen Teilen der Welt statt. Diese werden über die Medien an uns herangetragen, als Nachrichten, Informationen und Statistiken abstrahiert. Kommen Kriegsflüchtlinge nach Österreich, wird zu Solidarität und dem Geben von Geldspenden und/oder Sachspenden aufgefordert (z. B.

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Nachbar in Not, Caritas et al.). Einrichtungen und Projekte zur Aufnahme und Integration der Flüchtlinge, neben den von Staats wegen dafür vorgesehenen Institutionen, werden ins Leben gerufen, um akute Probleme der Flüchtlinge zu beheben. Österreicher spenden sehr großzügig und anhaltend für allgemeine humanitäre Anliegen, sind aber gegenüber den (Projekt-)Bedürfnissen der Hilfsorganisationen wie z. B. dem Roten Kreuz etc. im Flucht- und Migrationsbereich weniger aufgeschlossen, hilfsbereit und spendabel. Woran es unserer Gesellschaft ein wenig fehlt, ist – zum Glück – das (Erfahrungs-) Wissen um die Lebensumstände und -wirklichkeiten des Flüchtlingsdaseins. Die Flucht, beginnend mit dem Verlust des Zuhauses, ist nicht mit einem Umzug zu vergleichen – vielleicht am ehesten noch mit einer Auswanderung. Auswanderung stellt aber normalerweise eine Situation dar, in der man willentlich und geordnet von A nach B zieht und die Möglichkeit hat, sich geordnet zu verabschieden und sich von dem zu verlassenden Ort zu lösen, sein Hab und Gut mitzunehmen und sich auf das Neue vorbereiten zu können. Normalerweise erfolgt ein Umziehen und Auswandern ohne Trauma, Gewalt, Verfolgung und Verlust  – gegebenenfalls beinhaltet ein freiwilliges Auswandern die Möglichkeit zur Rückkehr. Flüchtende hingegen verlieren nicht nur ihr physisches Zuhause, sondern das ganze dazugehörig gewachsene Beziehungsgeflecht, in das sie eingebettet waren. Dieses Zuhause will ich hier nicht positiv verklären, die meisten Flüchtlinge verlassen ja nicht eine »heile Welt«, sonst würden sie nicht flüchten. Viele Asylwerber planen über Jahre hinweg eine Flucht. Oft legen ganze Dörfer ihr Geld zusammen, damit eine(r) – meist jung, gesund und männlich – den Weg nach Europa versuchen kann.352 Trotzdem findet sich aber auch im hausgemachten Chaos etwas Positives – »zumindest kennt man sich dort aus«. Die Heimat bzw. das Zuhause bleibt als identitätsstiftendes Ideal erhalten, wenn ebendort das Leben zu gefährlich geworden ist und es vor Ort keine Zukunft mehr gibt. »›Home‹, we suggest as a working definition, ›is where one best knows oneself‹  – where ›best‹ means ›most‹, even if not always ›happiest‹. Here, in sum, is an ambiguous and fluid but yet ubiquitous notion, apposite for a charting of the ambiguities and fluidities, migrancies and paradoxes, of identity in the world today.« (Rapport und Dawson  : 1998  : 9 in Dixon 2003  : 38)353 Das Zuhause als Ursprung und Zufluchtsort ist, ob verklärt oder nicht, wichtiger Bestandteil der Erinnerung eines Menschen, und wirkt bestimmend auf seine Wahrnehmung und auf sein Weltbild ein. Als Ruhepol in einer Welt der Veränderungen und Bewegungen in der Wirklichkeit des Alltags und der Fantasie wird es von den meisten Menschen als der Ort der, mitunter auch verlorenen, Geborgenheit und Unschuld gesehen. (Dixon 2003  : 37)354 Durch die Flucht wird das alles unwiederbringlich zurückgelassen  : die Selbstverständlichkeit der Umgebung, Bräuche und Institutionen,

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die Vertrautheit des öffentlichen Raumes, die Sprache, die nach außen gelebte Religion, die menschliche Solidarität. Die Zugehörigkeit zu einer Herkunftsgesellschaft wird durch die Flucht gegen eine nicht immer respektierte Minderheitsposition im Zufluchtsland ausgetauscht. Der Abstieg in die wirtschaftliche und soziale Armut aufgrund der Flucht macht den Flüchtenden gegebenenfalls schwer zu schaffen. Ein älterer Herr, Flüchtling aus Somalia, konstatierte empört in unserer Betreuungsstelle des örk 355  : »I have not received my salary for this month yet  !« Er konnte sich nicht eingestehen – und schon gar nicht seinen Betreuern –, dass er kein Gehalt bekommt, sondern von der Sozialhilfe abhängig ist  : ein ungehöriger Gesichtsverlust für eine Person, die im Herkunftsland ein relativ wohlhabendes Leben geführt und eine sozial angesehene Position bekleidet hatte. Der Flüchtende ist so etwas wie eine menschliche Ausnahme. Flüchtlingen bleibt alsdann oft nur ein Identität bestätigendes, verinnerlichtes Bild vom Zuhause, um den Gefühlen der Entwurzelung, Entfremdung, Einsamkeit und Anonymität etwas entgegensetzen zu können. Eine zusätzliche Erschwernis für Flüchtende ist, dass sie selten als intakte, vollständige Familie flüchten. Oft ist ein Ehepartner zurückgeblieben, verschollen oder gar ermordet worden. Großeltern, Geschwister und Freunde werden in ungewissen Lebensumständen zurückgelassen. Diese infolge äußerer Gewalteinwirkung der Umstände vollzogenen Übergänge im Leben eines Flüchtlings, zusätzlich zum Fluchttrauma, verursachen nicht selten Traurigkeit, Vereinsamung, lähmende Angst und Unsicherheit, Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber den neuen Alltagsanforderungen, Krankheit sowie Depressionsanfälligkeit. Umso wichtiger ist es darum, diese Menschen in ihrem Neuanfang zu unterstützen und sie warmherzig willkommen zu heißen. Hier setzt auch die Arbeit des Österreichischen Roten Kreuzes in Kooperation mit dem Landesverband Wien an, doch mehr hierzu etwas später. Was Flüchtende anlangt, so sind sie in unserer Gesellschaft auffallend mit negativen Assoziationen besetzt. Die Themen »Flüchtling«, »Migration« und »Integration« werden in der Politik und in den Medien meist als »Problem« oder sogar als Bedrohung wahrgenommen und aufgefasst. Allgemein werden in vielen Medien »Ausländer«  – egal ob Flüchtlinge, Migranten, Asylwerber  – undifferenziert in einen Topf geworfen. Es besteht so etwas wie ein Generalverdacht gegen diese Menschen, dass sie sich nicht zu Recht in Österreich aufhalten. Ein Flüchtender genießt nicht aufgrund seines Schicksals einen Vorschuss an Sympathie und Respekt für das, was er durchlebt und überstanden hat. Die gewaltvolle Loslösung einer Person aus ihrer Herkunftsgesellschaft, sei es durch Flucht oder durch Verfolgung  – und der damit verbundene Erhalt des Flüchtlingsstatus –, markiert einen dramatischen Schwellenübergang. Dieser Aspekt wird verstärkt durch die bürokratischen Etappen einer »Asylwerberkarriere«.

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Hierbei erfährt der Flüchtende, was es bedeutet, fremd zu sein, abseits der Aufnahmegesellschaft und am Rande des existentiellen Abgrunds zu stehen – und womöglich in Schubhaft der drohenden Gefahr der Abschiebung entgegenzublicken. Das Ankommen des Flüchtenden im Flüchtlingslager eines »sicheren« Aufnahmelandes sowie das Sich-Akklimatisieren in der neuen Umgebung, das Erlernen der Wirkungsweisen der Institutionen, die Suche nach Sicherheit, Identitätsbestärkung, Orientierung und Anpassung fordern das Ihre an Flexibilität, Geduld sowie ein hohes Maß an Bewältigungs- und Anpassungsarbeit vom Flüchtling. Die Person findet sich hier in einem psychischen Ausnahmezustand wieder  – sie befindet sich außerhalb der Gesellschaft an gesonderter Stelle und ist sich dessen bewusst. Die Flucht nach Österreich kann lebensrettend sein. Das lange Warten auf Asylgewährung – auf die Entscheidung, ob ein Bleiberecht gewährt wird oder die Abschiebung droht – ist eine unerträgliche Belastung, da das Zurückmüssen in der Umkehrung lebensbedrohlich sein kann. Eine Eingliederung mit sozialer Statusaufwertung durch den positiven Asylbescheid und damit die Aufnahme in die neue Aufnahmegesellschaft wären der erhoffte nächste Schritt. Leider ist die Realität oft eine andere. Hier beginnt erst die langsam angehende und alle Kräfte aufzehrende Integrationsarbeit des nicht mit unserer Sprache, unseren Werten, Normen und Gebräuchen vertrauten Flüchtlings in die Aufnahmegesellschaft. Bei Ankunft steht mehr das Bürokratische als das Menschliche im unmittelbaren Vordergrund. Integrationsunterstützungsprojekte zugunsten von Flüchtlingen aus »fremden Kulturen« sollen diese Aufnahme erleichtern, wie auch im Vorhinein Konfliktpotenziale identifizieren. Aus diesem Grund bemühen sich diverse Einrichtungen, vor allem ngos, vermehrt darum, neben Mediatoren zur Konfliktlösung und Sozialarbeiter für die tägliche Begleitung und Betreuung von Flüchtlingsfamilien, auch die Anstellung von Kultur- und Sozialanthropologen zu forcieren, deren Aufgabe darin besteht, bei der Überwindung kultureller Barrieren zu helfen. Kulturelle Unterschiede werden oft nur dann zu einem Problem, wenn sie nicht verstanden werden. Hier ein Beispiel für ein kulturelles Missverständnis  : Eine Flüchtlingsfamilie steht am Zebrastreifen. Ein Auto hält an. Die Flüchtlinge verstehen dies als Aufforderung einzusteigen, denn in ihrem Herkunftsland kommt des Fahrers Anhalten einer Mitfahreinladung gleich, da erstens nicht jeder dort ein Auto besitzt und zweitens solch gebräuchliche Verhaltenssignale zum Teil den öffentlichen Transport ersetzen oder ergänzen. Also steigen sie in das Auto ein. Der hiesige Fahrer weiß nicht, wie ihm geschieht, fürchtet womöglich, ausgeraubt oder gar entführt zu werden, und wirft die Familie umgehend und nicht gerade freundlich aus seinem Auto hinaus. Die erstaunte Flüchtlingsfamilie wiederum versteht die barsche Reaktion des Fahrers nicht  – ihr kommt es anfänglich nicht in den Sinn, dass heimatlich gewohnte und gebräuchliche Verhaltenssignale hier keine

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Gültigkeit mehr besitzen.356 Viele Barrieren entstehen aufgrund von Unwissenheit und nicht aus mangelnder Toleranz für das Fremde. Der harte, lange Weg zum »anerkannten« Flüchtling Der Flüchtende ist Flüchtling und bleibt dies wahrscheinlich ein Leben lang. Doch um auch in Österreich und der Europäischen Union als »Flüchtling« anerkannt zu werden, reicht der Zustand des »auf der Flucht Seins« nicht aus. Laut Artikel 1 der Genfer Flüchtlingskonvention, verbindlich für alle Staaten, die diese Konvention unterschrieben haben, definiert sich ein rechtlich anerkannter Flüchtling als Person, die sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt oder in dem sie ihren ständigen Wohnsitz hat und die wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung hat und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen oder wegen dieser Furcht vor Verfolgung nicht dorthin zurückkehren kann. Mit seiner Unterschrift der Genfer Konvention hat Österreich sich verpflichtet, Asylsuchenden Schutz zu gewähren. Konventionsflüchtlinge sind berechtigt, sich in Österreich permanent niederzulassen, mit allen Rechten und Pflichten, die dies beinhaltet, d. h. sie sind den Österreichern rechtlich gleichgestellt, mit Ausnahme des Rechts, zu wählen. Auch können sie einen Konventionspass beantragen, der überall auf der Welt gültig ist außer in dem Land, aus dem sie geflüchtet sind. Das bedeutet für viele, dass sie ihre Heimat nie wieder sehen, es sei denn, es ändert sich das politische Regime und damit die Flüchtlingssituation. Noch schwieriger gestaltet sich die Situation für subsidiär Schutzberechtigte. Das sind Personen, die um dauerhaften Schutz in Österreich angesucht haben, aus ihrer Heimat auch wegen drohender Gefahr geflüchtet sind, aber nur ein befristetes Aufenthaltsrecht erhalten haben (meistens für ein Jahr, dann kann es verlängert werden). Es ist die Unsicherheit bezüglich des Ausgangs des laufenden Asylverfahrens, die den Betroffenen in dieser Zeit nicht erlaubt, eine konstruktive Lebensplanung in Angriff zu nehmen. Es ist Asylwerbern meistens auch der Zugang zum Arbeitsmarkt verwehrt oder auf saisonale, schlecht bezahlte Beschäftigungsmöglichkeiten reduziert – damit sind sie finanziell gänzlich von einer staatlichen Grundversorgung abhängig, die faktisch nur das alltägliche Überleben im Aufnahmeland Österreich sichern kann. Die Angst vor einer drohenden Abschiebung, oft jahrelang andauernde Asylverfahren – sprich, sich im Zustand eines »offenen Asylverfahrens« zu befinden – und quälende Unsicherheit wirken sich in der Folge zermürbend auf die Psyche der Asylwerbenden aus. Die Schwierigkeit, sich im juristischen Dschungel eines Asylverfahrens zurechtzufinden und die Asylgewährungsvoraussetzungen zu verstehen,

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stellen zusätzlich eine gewaltige psychische Belastung für den Flüchtling dar. Schutzsuchende, die nach einem Asylantrag in Österreich Asyl erhalten (auch als »positiver Bescheid« bezeichnet), werden als Asylberechtigte, als Konventionsflüchtlinge oder anerkannte Flüchtlinge bezeichnet. Der Begriff »Asylant« ist juristisch gesehen nicht korrekt, außerdem in der Öffentlichkeit negativ konnotiert, und sollte daher nicht mehr verwendet werden. Bei Ankunft des Flüchtlings in Österreich muss erst einmal die Zuständigkeit nach der Dublin-Verordnung, d. h. die Regelung von Asyl in der eu, festgestellt werden. Die Dublin-Verordnung trat im September 2003 in Kraft. Sinn dieser Verordnung ist es, zu bestimmen, welcher Staat für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist, und sicherzustellen, dass jeder Asylantrag in einem Mitgliedsstaat fair geprüft wird, was leider in der Praxis nicht funktioniert. Durch die Dublin-Verordnung soll vor allem verhindert werden, dass Personen in mehr als einem Mitgliedsstaat Asyl beantragen. Wenn z. B. ein Asylsuchender nicht in jenem Staat einen Asylantrag stellt, durch den er nach Europa (in den Dublin-Raum) eingereist ist, wird er, gemäß der Dublin-Verordnung, in dieses Ersteinreiseland zurückgeschickt. Das Funktionieren der Vereinbarung setzt voraus, dass die Asylgesetze und -praktiken der teilnehmenden Staaten auf den gleichen gemeinsamen Standards beruhen. In der Realität ist die Harmonisierung der Asylpolitik und -praxis in der eu jedoch noch nicht soweit gediehen. Sowohl die Gesetzgebung als auch ihre praktische Anwendung unterscheiden sich immer noch sehr stark von Land zu Land. Dies bedeutet, dass Asylsuchende in Europa je nach Asylland unterschiedlich behandelt werden.357 Seitdem Österreich keine eu-Außengrenze mehr besitzt, ist eine Einreise Flüchtender zurzeit eigentlich nur mehr mit dem Flugzeug möglich, was selten der Fall ist. Ein Asylantrag ist nur bei einer österreichischen Botschaft zu stellen, die Einreise über ein Drittland ist nicht möglich. Das österreichische Asylrecht gehört damit zu den rest­ riktivsten innerhalb der eu.358 Tatsache ist, dass jene Staaten mit einer europäischen Außengrenze, insbesondere die Länder Italien und Griechenland, viel mehr Flüchtlinge aufnehmen müssen und die Europäische Gesetzgebung nicht rechtzeitig auf die gerade jetzt wieder eskalierende Situation reagiert sowie die Verantwortung allen Staaten nicht gleichmäßig zugeteilt hat. Die Situation für Asylwerber in Griechenland hat sich in den letzten Jahren derart dramatisch verschlechtert, dass der unhcr empfohlen hat, eine Zurückschiebung von Flüchtlingen laut Dublin nach Griechenland auszusetzen. Mittlerweile hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass die Zurückschiebung von Asylwerbern nach Griechenland wegen der dortigen unzulässigen Bedingungen in mehrfacher Hinsicht gegen die Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention verstößt.359 Die griechischen Flüchtlingslager sind hoffnungslos überfüllt, unterversorgt, und viele der Flüchtlinge finden nicht einmal ein Schlafquartier. Der geregelte Zugang zu einem Asylantrags-

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verfahren kann derzeit von den griechischen Asylbehörden unter diesen katastrophalen Umständen nicht gewährleistet und bewältigt werden. Zurück nach Österreich. – Wird also ein Asylantrag in Österreich von der ersten Instanz, dem Bundesasylamt, abgelehnt, dann gibt es noch die Möglichkeit einer Berufung beim Asylgerichtshof. Fällt auch dessen Entscheidung negativ aus, dann soll der Flüchtling laut Gesetz abgeschoben werden  : Um eine Ausweisung oder ein Aufenthaltsverbot durchzuführen bzw. sicherzustellen, dass diese Abschiebung vollzogen wird, ist es rechtlich erlaubt, in manchen Fällen eine Schubhaft zu verhängen. Obwohl es sich nicht um eine Strafhaft handelt, wird der Abzuschiebende in Polizeihaft genommen, bis es zu dieser Ausweisung kommt. Laut Dr. Bernhard Schneider vom örk gestaltet sich die Unterbringung in den für die Schubhaft genutzten »polizeilichen Anhaltezentren« in aller Regel um nichts besser als eine Strafhaft – teilweise sind die Zustände in diesen Schubhafteinrichtungen deutlich weniger komfortabel als in regulären Gefängnissen. Die Interviews im Rahmen der Asylantragstellungen mit den Flüchtenden ähneln oft eher einem Polizeiverhör  : Asylbeamte prüfen die von Flüchtenden erzählte Geschichte ihrer Flucht auf Herz und Nieren, um eventuelle Inkonsistenzen in der »Fluchtanamnese« des Flüchtlings aufzudecken  ; die durchgängige Schlüssigkeit des Erzählten wird analysiert und kritisch geprüft. Der Flüchtling hat in dieser Hinsicht eine »Bringschuld« einzulösen. Dies beruht auf der manchmal nicht unbegründeten Angst, womöglich reinen »Wirtschaftsflüchtlingen« ohne anerkannten Fluchtgrund Einlass ins Land zu gewähren. In der das Klima vergiftenden Propagandasprache mancher Medien und mancher politischen Parteien werden nämlich Flüchtende immer wieder als Sozialschmarotzer, Kriminelle und Drogendealer, die das Land überfluten und Unheil stiften, bezeichnet, um in der Bevölkerung Ängste zu schüren. Diese Ängste werden sodann jeweils für die eigenen politischen Agenden auf dem Rücken der Schwächsten instrumentalisiert. Die Überprüfung der Fluchtgeschichte ist jedoch notwendig und soll sicherstellen, dass der Flüchtende den Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention entspricht und dass sich dahinter nicht ein Wirtschaftsflüchtling verbirgt, denn für Wirtschaftsflüchtlinge gelten die Konventionskriterien nicht. Im Gegensatz zum Flüchtling verlässt der Wirtschaftsmigrant seine Heimat überwiegend freiwillig, meist um seine wirtschaftlichen Lebensbedingungen zu verbessern. Wenn er zurückkehrt, genießt er weiterhin den Schutz seiner Regierung. Flüchtlinge hingegen fliehen vor drohender Gewalt oder Verfolgung und können unter den bestehenden Umständen nicht in ihr Heimatland zurückkehren. Die österreichischen Asylbehörden haben eben die Aufgabe, zwischen diesen Schutzsuchenden zu unterscheiden und jene herauszufiltern, die laut Genfer Konvention auch wirklich Anspruch auf Asyl haben. Nach der Ankunft in einem Asyl-Erstaufnahmezentrum – das größte Österreichs befindet sich im niederösterreichischen Traiskirchen – wird nach einer medizinischen

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Untersuchung auch das Gepäck der Flüchtlinge genauestens untersucht, ob sich nicht auch darin ein Hinweis auf eine Falschinformation bezüglich der Fluchtgeschichte verbirgt. Eine polnische Zigarettenpackung stellt dann z. B. ein belastendes Indiz dafür dar, dass der Flüchtende über Polen nach Österreich eingereist ist – darauf gründend müsste dann laut der Dublin-Verordnung der Asylantrag in Polen gestellt werden, was zu einer Zurückschiebung dieses Flüchtlings nach Polen führt. Dass das Bürokratische in manch einem Fall das Menschliche ausblendet, zeigt sich z. B. in Fällen, die Tschetschenen, in der Asylstatistik als Staatsangehörige der Russischen Förderation geführt, betreffen können  : Diese fühlen sich in Polen, trotz Asyl, vor dem langen Arm der tschetschenischen »Sicherheitskräfte« (vor allem paramilitärische, aus ethnischen Tschetschenen bestehenden Einheiten, die Ramsan Kadyrov, Sohn des von Moskau installierten, ermordeten Achmad Kadyrov, kontrolliert) und des russischen Geheimdienstes nicht sicher und wollen in ein sicheres Drittland weiterreisen, um vor eventuellen Repressalien oder gar Mordanschlägen geschützter zu sein.360 Um diese alles entscheidenden Erstinterviews durchführen zu können, werden Übersetzer eingesetzt, die sich um eine bestmögliche Wiedergabe der Flüchtlingsberichte bemühen. Nicht immer findet sich aber der geeignete Dolmetscher, manchmal passieren Fehler aufgrund von Insensibilitäten, wenn beispielsweise Männer Frauen interviewen. Diese sind dann oft nicht in der Lage, das ganze Ausmaß ihrer Leidensgeschichte (z. B. Vergewaltigungen) zu erzählen. So spielt bei der oben erwähnten medizinischen Erstuntersuchung z. B. das Geschlecht des Übersetzers und Arztes bei der Anamnese eine gewichtige Rolle, wenn die Flüchtende muslimischen Glaubens ist. In einem Zweitinterview kommen dann oft erst entscheidende Details zur Sprache, die aber dann als Inkonsistenz bewertet werden und die Glaubwürdigkeit des Asylwerbers untergraben können. Auch kulturelle Missverständnisse und mangelnde Kenntnisse über die Zustände des Herkunftslandes können zu Falschinterpretationen eines Asylfalles führen. Ein häufiges Problem mit Flüchtlingen aus der russischen Föderation ist, dass automatisch Russisch als Verkehrssprache angewandt wird, auch in den Interviews  ; diese Menschen besitzen aber ihre eigene Sprache, und zum Teil wird das Russische als Kolonialsprache, als die Sprache der Unterdrücker, verachtet  – hinzu kommt, dass Flüchtende aus ländlich rückständigen Gebieten das Russische manchmal nicht ausreichend beherrschen und verstehen. Das übergeordnete Informationsnetzwerk ecoin (European Country of Origin Information Network) und accord (Austrian Center for Country of Origin & Asylum Research and Documentation des Österreichischen Roten Kreuzes) dokumentieren die Menschenrechtslage in den Herkunftsländern und verfolgen laufend die Entwicklungen aus dem Blickwinkel der Genfer Konvention. accord führt spezifische Recherchen über die Flüchtlingsherkunftsländer der in Öster­reich um Asyl Ansuchenden durch, um wichtige Informationen, auch und vor allem von unabhängiger Seite, über Menschenrechtszustände des

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Herkunftslandes zu verifizieren und um damit ein faires Asylverfahren zu ermöglichen. Die aktuellen Berichte von accord helfen allen an den Asylverfahren Beteiligten, eine inhaltlich richtige und faire Entscheidung zu treffen. In jedem Fall ist zu sagen, dass, je fremder die Lebensweisen der Flüchtlinge gegenüber denen des Aufnahmelandes sind, desto größer sind die kulturellen Übersetzungsanstrengungen, die von beiden Seiten zu erbringen sind. Somalische Flüchtlinge beispielsweise kommen aus einem Land, das so gut wie keine funktionierenden staatlichen Strukturen mehr aufweist. (Die uno deklariert Somalia als zu arm und chaotisch, um noch in die Kategorie der very poor states hineinzupassen.) Somalische Flüchtlinge haben meist keine Dokumente bei sich. Geburtsurkunden sind in der Regel in Stammesgesellschaften nicht üblich. Für Visa-Anträge bezüglich einer Familienzusammenführung werden bei der österreichischen Botschaft dna-Analysen gefordert, um eine tatsächliche Blutsverwandtschaft eventuell nachziehender Familienmitglieder nachweisen zu können. Zur Altersbestimmung gibt es jetzt auch die Möglichkeit eines Handknochen-Röntgens – dies gilt aber als nicht hundertprozentig zuverlässig. Diese sind kostspielige und aufwendige Verfahren zum Schutz vor Missbrauch der Familienzusammenführungsverordnung – die Flüchtlinge selbst müssen für die Kosten dieser teuren Untersuchungen aufkommen. Nur Kinder unter achtzehn Jahren dürfen das Familienzusammenführungsgesetz in Anspruch nehmen. Für Flüchtlinge aus Somalia, sind sie einmal als Asylwerber in Österreich aufenthaltsberechtigt, ist es eine gewaltige Umstellung, sich an das österreichische System zu gewöhnen. Die staatliche Ordnung präsentiert sich ihnen anfangs als etwas sehr Fremdes – ein Regelwerk, das ihnen in ihren gewachsenen Denkweisen nicht unbedingt nachvollziehbar und logisch erscheint. Persönliche Sicherheit, Rechtsstaatlichkeit, Privateigentum, bürgerliche Rechte und Pflichten stellen Konzepte dar, die viele dieser Menschen noch nie erfahren und gelebt haben. Die behördliche Willkür, Gewalt und Korruption, die sie in ihren Herkunftsländern zumeist am eigenen Leib erfahren und erlebt haben, erschweren ihnen, ihr Misstrauen gegenüber allem Staatlichen abzulegen. Manche Flüchtlinge haben anfänglich ein Problem damit, die bei uns vorhandene Schulpflicht ihrer Kinder zu akzeptieren. In Somalia hat niemand ein größeres Bestimmungsrecht über die Kinder als die Eltern selbst. So entschieden manche unserer somalischen Klienten nach ihrem kulturell vorgegebenen Dafürhalten und Gutdünken, wann ihre Kinder – wenn überhaupt – zur Schule gehen durften. In Österreich bedarf es bei jeder versäumten Schulstunde einer schriftlichen Entschuldigung der Erziehungsberechtigten. Bei vermehrtem Fernbleiben hat die Schule das Recht und die Pflicht, die Behörden ( Jugendamt) einzuschalten, um die Anwesenheit des Kindes sicherzustellen. Hier sind es die unterschiedlichen kulturellen Lebensweisen und Wertungen, die handfeste Probleme kreieren und Behörden von Rechts wegen zu intervenierenden Amtshandlungen zwingen.

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Der harte, lange Weg zum »integrierten« Flüchtling Wird der Flüchtling sodann der Genfer Konvention gemäß anerkannt, folgt die nächste ebenso schwierige Etappe der Integration. Der Status des anerkannten Flüchtlings bedeutet, dass diese Menschen bereits das Schlimmste hinter sich haben  : eine lange, teure und gefahrenreiche Flucht  ; Abhängigkeit von zuweilen skrupellosen Menschenschleppern  ; nagende Ungewissheit ums eigene und der Familie Schicksal  ; Furcht vor Gewalt und Ausbeutung sowie dann das lange Warten auf Asylgewährung. Vor der Flucht bzw. bei Planung der Flucht wissen die wenigsten Flüchtlinge zum einen, wo sie tatsächlich landen werden, und zum anderen meist auch wenig Genaues über ihr Ankunftsland. Oftmals werden auf der Flucht unfreiwillig mehrere Aufenthalte eingelegt. Manche Familien verbringen mehrere Jahre in verschiedenen Ländern auf der Durchreise und leben als »U-Boote« in unsicheren und ärmsten Verhältnissen, bis sie ihre Odyssee wieder aufnehmen können, um endlich ein sicheres Aufnahmeland zu finden. Vorzugsweise machen sich Flüchtlinge in Länder auf, wo sie bereits Verwandte haben oder Freunde kennen, die schon vor ihnen in dieses Land gekommen sind und ihnen beim Start in ein neues Leben eine Stütze sein können. Denn hat eine Flüchtlingsfamilie endlich einen positiven Asylbescheid erhalten, kann sie maximal vier Monate lang mit der staatlichen Grundversorgung rechnen (wir reden hier von Verpflegung und Lebensmittel im Wert von € 5 pro Tag plus € 40 Taschengeld pro Monat, wenn sie in einem Asyl- oder Wohnheim untergebracht sind)361. Danach wird erwartet, dass sie die Asyl- oder Wohnungslosenheime verlassen, eine eigenfinanzierte Unterkunft finden und ein eigenständiges Leben beginnen. Dieses ist aus eigener Kraft kaum möglich. Zum Glück helfen die Flüchtlinge einander, so gut sie können, und geben einander Unterkunft, wo immer sie können – trotz eigener Armut und beengter Wohnverhältnisse. Abgesehen von den mangelnden finanziellen Mitteln fehlt es auch an Kenntnissen bezüglich der ortsspezifischen Eigenheiten des Wohnungsmarktes. Oft sind sie mit Vorurteilen seitens potenzieller Vermieter konfrontiert, und es kommt leider allzu oft vor, dass an »gewisse Ausländer« ungern vermietet wird. Es ist also für Flüchtlingsfamilien sehr schwer, aus eigener Kraft aus den organisierten Asyl- bzw. Wohnheimen auszuziehen. Das Leben in solch einem Wohnheim ist ein auf die Dauer zermürbendes Erlebnis, da man auf engstem Raum in einzelnen Zimmern mit Gemeinschaftsküchen und -waschräumen lebt, die man mit wildfremden, aus verschiedensten Herkunftsländern bunt zusammengewürfelten Menschen teilen muss. Mangelnde Privatsphäre, erzwungene Nähe und Untätigkeit, Sprachenbabel, Lärm, Enge und beschränkter Ausgang, sowie zum Teil auch strapazierte Nerven ergeben reichlich Konfliktpotenzial. Das Asylheim fördert auch nicht den Integrationsprozess dieser Familien in die Aufnahmegesellschaft, da sie ja hier auch nur mit anderen geflüchteten Personen in Berührung kommen und in einer artifiziellen Wohngemeinschaft leben müssen.

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Das Projekt »Startwohnungen für asylberechtigte Familien« des Österreichischen Roten Kreuzes in Wien Nach Auszug aus solchen Heimen beginnt aber erst der eigentliche, mühsame Prozess des Neuanfangs in Österreich. Hier setzt seit 2005 das Projekt »Startwohnungen für Asylberechtigte Familien« des Wiener Roten Kreuzes (wrk) an, um das Wohnungsproblem für Flüchtlinge in Wien zu bewältigen. Das wrk hat die Mängel im System erkannt und deshalb das Projekt »Startwohnungen« gegründet. Es funktioniert folgendermaßen  : Ehrenamtliche Mitarbeiter/-innen des wrk mit langjähriger Berufserfahrung in der Immobilienbranche haben sich darauf spezialisiert, günstige Wohnungen in Wien zu finden  ; sie verhandeln dabei mit großen Versicherungsgesellschaften, Genossenschaften, Privatvermietern und institutionellen Vermietern, die bereit sind, das Rote Kreuz in diesem humanitären Projekt zu unterstützen. Es wird besonders darauf geachtet, keine Ghettobildung aufkommen zu lassen, da erstens ein auf eine Örtlichkeit konzentriertes Zusammenleben einer ethnischen Gruppe in einem Stadtviertel dem Erlernen der Landessprache nicht unbedingt förderlich ist und zweitens dadurch die Integration in die Aufnahmegesellschaft erschwert und verzögert wird. Die Ghettobildung ist ein regelrechtes Integrationshindernis, da wenig Möglichkeiten zu sozialen Kontakten mit Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft erwünscht sind oder gar nicht erst zustande kommen. Daher bemüht sich das wrk, Wohnungen für dieses Projekt anzumieten, die in ganz Wien verstreut sind. Ist eine geeignete Wohnung gefunden, tritt das wrk als Hauptmieter und damit als Garant für die Bezahlung der Miete auf, wobei auch eine nicht erschwingliche Kaution und die Provision für bedürftige Familien entfallen  ; die Wohnung wird den anerkannten Flüchtlingen als Nutzungsberechtigte sodann für drei Jahre zur Verfügung gestellt. Die Wohnungsmieten und Lebenskosten werden von den Familien selbst finanziert, zu Anfang meist aus der staatlichen, in unserem Fall der Wiener Mindestsicherung (Alleinstehende € 744,01, Paare [pro Person] € 558,01, Kinder [pro Kind] € 133,92) und der Familienbeihilfe (je nach Alter gestaffelt zwischen € 105,40 und € 152,70), später, wenn möglich, wird die Mindestsicherung durch ihr eigenes Gehalt ersetzt. Die Betreuung und Organisation des Projektes wird vom Fond Soziales Wien (fsw) finanziert. Unter den anerkannten Flüchtlingen werden Flüchtlingsfamilien von den Betreuern des wrk ausgewählt  : Kinderreiche Familien, alleinerziehende Mütter und Familien mit hilfsbedürftigen und kranken Angehörigen werden in dieses Projekt aufgenommen, getreu den Rotkreuz-Grundsätzen, sich insbesondere der verletzlichsten Mitglieder einer Gesellschaft anzunehmen. Sobald die Familien in das Projekt aufgenommen sind, werden sie intensiv in ihrer Alltagsbewältigung betreut. Die Betreuung erfolgt mobil und wird den jeweiligen Bedürfnissen und Lebensumständen angepasst. Unsere Beratungsstelle organisiert nicht nur die Wohnungen und deren Ausstattung, sondern

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betreut die asylberechtigten Familien in der Begegnung mit Handwerkern, Telefonund Internet-Anbietern, Ärzten und Pädagogen, Schul- und Sozialbehörden sowie ihren Arbeitgebern. Wir vermitteln häufig auch zwischen den Mietern und Vermietern bezüglich der Mieten, sich beschwerenden Nachbarn, geben Ratschläge zum besseren Zusammenleben und trachten, Verständigungsbrücken zwischen den verschiedenen aufeinander prallenden Lebensweisen, die nun durch die neue Nachbarschaft in Erscheinung treten, zu bauen. Ein typisches Problem aus einem Wiener Neubau  : Praktizierende Muslime unterziehen sich, ihren fünfmalig am Tag religiös vorgeschriebenen Gebetszeiten entsprechend, rituellen Waschungen – im Gemeindebau stößt dies auf Unverständnis. Papierene Wände lassen jedes Geräusch, jeden Lärm durch, und wenn um 5 Uhr früh das Wasser läuft, unterbricht der dabei entstehende »Lärm« den Schlaf der einheimischen Nachbarn. Meistens führen Lärmbeschwerden zu nachbarlichen Konflikten – die von uns betreuten, zumeist kinderreichen Familien haben ein völlig anderes Verständnis davon, was einer Ruhestörung gleichkommt, und auch von praktizierter Nachbarschaft. So gilt z. B. für unsere tschetschenischen Klienten Kinderreichtum und von Kindern erzeugter »Lärm« als etwas völlig Normales. In ihrer kulturellen Sichtweise stellen Kinder Reichtum dar und sichern die Zukunft der Existenz einer Familie, gar des Clans, ab. (Da Tschetschenen den größten Anteil unserer projektspezifischen Klienten stellen, sei vorab zum besseren Verständnis der ethnischen Idiosynkrasie der Tschetschenen kurz daran erinnert, dass Tschetschenen traditionell zu einem komplexen Netzwerk aus ethnischen, sozialen und tribalen Identitäten gehören. Die Tschetschenen besaßen vor der russischen Kolonisation im 19. Jahrhundert kein zentralisiertes Staatssystem oder ähnliche Machtstrukturen. Traditionell organisierten sich Tschetschenen in Clans und auf höherer Ebene in Stämmen – dies funktioniert auch heute noch so, trotz brutaler zaristischer und sowjetischer Umerziehungsversuche. Neben der muslimischen Religion dominiert ein strenges Gewohnheitsrecht namens »Adat« individuelle und gesellschaftliche Verhaltensweisen und Beziehungen  – eine Zusammensetzung aus traditionellen und religiösen Regeln also, die bis in die Gegenwart hinein von praktisch gesetzgebender Bedeutung ist und noch von sehr vielen befolgt wird. Einige charakteristische Besonderheiten dieses Verhaltenskodex betreffen und definieren Gastfreundschaft, Geschlechterrollen, gegenseitige Solidarität, Ehrgefühl und Blutrache.) Flüchtlinge bringen zwar Wissen und Wertvorstellungen aus ihrem Herkunftsland mit, diese Dispositionen sind jedoch sehr heterogen und verändern sich im Lauf des Integrationsgeschehens kontinuierlich. Eine der Aufgaben der Integrationsbeauftragten ist es, hier mit Sensibilität auf die verschiedenen Bedürfnisse der Familien einzugehen und eine Balance zu finden zwischen Respekt vor bestehenden Vorstellungen und kulturell wie religiös bedingten Traditionen, und gleichzeitig eine nötige Anpassung an die Aufnahmegesellschaft zu erreichen. Nur mit viel Geduld und vertrauensbildenden

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Interventionsschritten lassen sich potenzielle Konflikte lösen und vermeiden. So sind gerade Flüchtlinge aus Tschetschenien sehr dankbar für die Möglichkeit, in Österreich ein sicheres Leben führen zu dürfen, und nehmen die Integrationsangebote mit Begeisterung an. Ihre Kinder haben es aufgrund des Kindergarten oder Schulbesuches leichter, direkt in Kontakt mit Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft zu treten und dadurch auch kulturelle und sprachliche Barrieren schneller zu überwinden. Unter unseren somalischen Klienten sind beispielsweise Familien mit sechs Kindern und mehr keine Seltenheit. Somalier haben, religiös und kulturell sanktioniert, nicht selten mehrere Ehefrauen und daher mehr Kinder. Kinderreichtum findet sich in westlichen Gesellschaften immer seltener und stößt als Phänomen zum Teil auf Unverständnis in der Aufnahmegesellschaft, aufbauend auf und begründet durch das nur teilweise nachvollziehbare Argument, weshalb man denn heute noch – insbesondere wenn bereits in den Fängen der Armut befindlich – so viele Kinder in die Welt setzt  ? Hierbei dreht es sich aber um erhebliche kulturelle Unterschiede im Wahrnehmen und Ausdeuten von Dingen wie Lebensführung und Sinnorientierung, Wertvorstellungen, Verantwortungswahrnehmung, Gesellschaft und Religion. Im Gegensatz zu unserem Splitterbild von Familie und Gesellschaft stellt in anderen Kulturen und Gesellschaften der kontinuierlich praktizierte und gelebte soziale Austausch und Kontakt zur Kernfamilie und der extended family eine Überlebensgarantie im weitesten Sinne dieses Begriffs dar  ; besitzt doch das regelmäßige gemeinsame Essen eine rituelle sowie den familiären Zusammenhalt gewährleistende, prioritäre soziale Funktion. In Wien jedoch leben sehr viele einsame, zum Teil ältere Menschen in der unmittelbaren Nachbarschaft, die Probleme mit dem von unzähligen Kindern und häufigem Besuch erzeugten Lärmpegel haben. Zusammenleben in einer sich hier erst langsam hin zu einer multikulturellen entwickelnden Gesellschaft stößt sich an »Alltagslappalien«  ; es erfordert viel gegen- und wechselseitiges Gespür und Taktgefühl, Toleranz, Einsichtsbereitschaft, Großzügigkeit wie auch den Willen, sich auf »Fremdes« wohlwollend und interessiert einzulassen. Ziel ist jedoch nach wie vor, dass anerkannte Flüchtlinge nach dieser konkreten Integ­ rationshilfe ein selbstständiges Leben meistern, ausgerüstet mit dem nötigen praktischen, sozialen und kulturellen Know-how für ein erfolgreiches und erfülltes Leben in Österreich. Die von uns angebotene Integrationshilfe umfasst daher Anleitung im Umgang mit Behörden zur Einschulung der Kinder, zur Förderung der Deutschkenntnisse sowie Hilfe bei Verständigungsschwierigkeiten bei Arzt- und Krankenhausbesuchen, bei der Arbeitssuche und bei Umschulungen. Ferner bieten wir finanzielle Beratung an und geben Rat für kostenbewusstes Haushalten in Wien  – unsere Klienten sind ja meist nicht mit den Tücken und Herausforderungen einer ausgeprägt materialistischen Konsumgesellschaft vertraut. Bei Bedarf vermitteln die Betreuer/-innen ferner

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zwischen den verschiedenen Schulinstitutionen, begleiten die Eltern zu Elternabenden, helfen bei der Lösung eventueller Probleme in diesem für deren Kinder so wichtigen Bereich. Ohne die Hilfe freiwilliger Mitarbeiter/-innen des wrk, die den Kindern Nachhilfe erteilen bzw. ihnen bei der Bewältigung der neuen Schulsituation helfen, wäre eine integrationsförderliche Bewältigung dieses Aufgabenbereiches nicht möglich. Speziell bei älteren Kindern, die aufgrund der mangelnden Deutschkenntnisse ihrer Eltern von zu Hause keine Unterstützung bei schulischen Aufgaben bekommen können, ist dies besonders wichtig, um den Schuleinstieg und -verbleib zu erleichtern. Diese »Buddy-Beziehung« geht nicht selten über das Lernen hinaus und umfasst auch Freizeit- und kulturelle Aktivitäten. (Dieses mobile Service wird auch Müttern mit Babys angeboten, die aufgrund fehlender Kindesbetreuung sonst nicht die Möglichkeit hätten, Deutschkurse zu besuchen, um so einer drohenden Isolation entkommen zu können.) Der Erfolg dieses Integrationsprojektes wäre ohne diese intensive Betreuung, die zu hundert Prozent von der freiwilligen Mitarbeit ehrenamtlicher wrkMitarbeiter/-innen abhängig ist, undenkbar. Herkunftsbedingt ergeben sich bei der Einschulung anerkannter Flüchtlingskinder manchmal Interessenkonflikte hinsichtlich des in Österreich vorherrschenden koedukativen Schulsystems. Die in einem patriarchalischen Haushalt muslimischen Glaubens sonst sehr behüteten Töchter besuchen gemischte Schulen, werden unabhängiger, ziehen sich modebewusst modern an, gehen aus und geraten darüber in Konflikt mit ihren Eltern. Die Kinder werden ja auch in österreichischen Schulen sozialisiert, also mit anderen Werten, als ihren Eltern bekannt, konfrontiert – da ist familienintern viel Potenzial für schwer zu lösende Konflikte vorgegeben, da ja auch die Eltern die schulische Alltagswirklichkeit ihrer Kinder nicht kennen. Einige Familien muslimischen Glaubens ziehen es vor, ihre Kinder in katholische Kindergärten oder Schulen zu geben, da sie dort religiösen Respekt und Akzeptanz ihrer Erziehungswerte vorzufinden hoffen, zwar in der »falschen« Religion, aber allemal besser als säkular. Nicht selten werden die konservativen Erwartungen der Eltern aber enttäuscht, da die katholischen Einrichtungen nicht der strengen Trennung nach Geschlechtern unterliegen. Da kommt es auch manchmal zu Vermittlungsbedarf, wenn zum Beispiel die Eltern wünschen, dass ihre Töchter nicht am Turnunterricht teilnehmen oder gar anderen außerschulischen Aktivitäten wie Wandertagen, Schwimmexkursionen oder Schikursen fernzubleiben haben, da diese Aktivitäten ihrem Anstands- oder Bekleidungsverständnis widersprechen. Die tragische Schattenseite des Lebens im Exil bei manchen Familien muslimischen Glaubens und konservativer Lebensführung zeigt sich häufig im Zerfallen traditioneller Familien- und Autoritätsstrukturen. Die Arbeitslosigkeit der Männer führt zu einem Gesichtsverlust und zu einem Ohnmachtsempfinden, Ehemänner verlieren an

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Autorität gegenüber ihren Kindern und Frauen. Oft finden Frauen anfänglich leichter eine Beschäftigung als Reinigungsfrau, Küchenhilfe, Kassiererin, Krankenpflegerin etc., und somit fällt ihnen die ungewohnte Rolle des Familien-Erhaltenden zu. Für viele Flüchtlinge stellt es einen nicht wieder gutzumachenden Gesichtsverlust dar, von der Sozialhilfe eines fremden Landes abhängig zu sein oder von ihren Frauen ausgehalten werden zu müssen, wie zum Beispiel bei manchen der traditionell stolzen Gesellschaft der Tschetschenen entstammenden Klienten. Die Suche nach Arbeit in Österreich gestaltet sich äußerst schwierig und stellt ein Hauptproblem des Exillebens dar. – Eine frustrierend verlaufende Arbeitssuche sabotiert die befriedigende Teilnahme am öffentlichen Leben in der Aufnahmegesellschaft. Die Integration von Flüchtlingen in Wien ist vielmehr ein soziales und wirtschaftliches als ein kulturelles Problem. Die Betonung des kulturell Fremden ist meiner Praxiserfahrung nach als Integrationshindernis übertrieben und spiegelt nicht die wirklichen Schwierigkeiten des Alltags wider. Das Leben in Armut erschwert eher die Integration und erlaubt in Folge keine soziale Mobilität. Eine gelungene Erstintegration der Familien hat oftmals zur Folge, dass diese zu Vorbildern in ihren eigenen ethnischen communities werden, quasi einen Katalysator- und Multiplikatoreffekt haben, was wiederum zu neuen Integrationsmöglichkeiten im Alltag motiviert. Die Betreuung läuft auch dahin, den Familienmitgliedern Mut zu einer ehrgeizigeren Lebensplanung zu machen, also ein besseres Leben nicht nur für ihre Kinder zu wünschen, sondern auch in der Berufswahl anspruchsvoller zu werden  : Somit werden anerkannte Asylberechtigte dazu angehalten, sich nicht unter ihrem Wert zu verkaufen und bereits gemachte Ausbildungen zu nostrifizieren wie auch Kindern die Möglichkeit einer Gymnasiumsausbildung erstrebenswert zu machen und zu ermöglichen. Auch wenn es speziell in der Arbeitswelt, besonders in Zeiten wie diesen, sehr schwer für Flüchtlinge ist, Fuß zu fassen, für die nächste Generation sind das äußerst notwendige und positive Impulse. Schlussendlich sind diese Kinder die Hoffnungsträger, die letztlich mit ihrer gelungenen Integration auch ihrer community Perspektiven für die Zukunft in der Aufnahmegesellschaft eröffnen und verkörpern und ein neues Selbstbewusstsein und ein affirmatives Dazugehörigkeitsgefühl vermitteln können. Nachfolgend möchte ich ein gelungenes Integrationsbeispiel schildern, um von der problemverhafteten, überpolitisierten Sichtweise eines Asylwerberdaseins wegzuführen  : Die Vorgeschichte dieser Flucht nimmt 2001 in einem vom Bürgerkrieg zerstörten Grosny seinen Anfang. Auf dem Heimweg von seiner Arbeit wird N. N.362 vom russenfreundlichen Geheimdienst im Bus verhaftet. Die Familie weiß weder von der Verhaftung, noch wohin er gerade verschleppt wurde. Das Internationale Rote Kreuz schafft es, ihn nach Monaten als Insasse in einem russischen Gefangenenlager ausfin-

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dig zu machen und lässt seiner Familie die Information, dass er noch lebt, zukommen. Die Großfamilie bringt $ 3 000 auf und kauft ihn für diese  – für ihre Verhältnisse horrende – Summe frei. Einmal auf freiem Fuß, wird er jedoch trotzdem von den russischen Soldaten immer wieder um mehr »Sicherheitsgeld« angepumpt – also erpresst. Der Familienvater beschließt, mit seiner Frau und den drei kleinen Kindern zu fliehen. Für $ 400 pro Kopf werden sie mit Hilfe von Schleppern unter bedrohlich abenteuerlichen Umständen über die Ukraine nach Österreich geführt. Die Schlepper nehmen ihnen noch einmal $ 2 500 ab, um sie nach Frankreich zu bringen, da die Familie dort bereits Verwandte hat. Dort angelangt, werden sie aufgegriffen und von den französischen Grenzbehörden zurück nach Österreich geschickt, das laut Dublin-Verordnung als Ersteinreise- und Asylantragsland für sie zuständig ist. Sie werden nach Traiskirchen überstellt und dort verhört, eineinhalb Jahre warten sie dann auf einen positiven Asylbescheid. In der Zeit leben sie in einem Asylheim, bis sie mit Unterstützung des Roten Kreuzes eine kleine Wohnung erhalten. Die Familie hat in der Zwischenzeit fünf Kinder, alle gehen zur Schule bzw. in den Kindergarten. Der Familienvater hat mittlerweile über das Arbeitsmarktservice eine Arbeit in Wien gefunden. Das Geld ist knapp, trotz Gehalt, Familienbeihilfe, Wohnbeihilfe und den verschiedenen Ermäßigungen – seine Ehefrau beginnt eine Ausbildung zur Verkäuferin, möchte dann sobald wie möglich arbeiten gehen, um die prekäre finanzielle Situation aufzubessern. Die Familie ist gut integriert und macht einen zufriedenen Eindruck – Beispiel einer gelungenen Integration kraft vorhandener vom Roten Kreuz angebotener Möglichkeiten und Mittel. Herr N.N.: »Das Rote Kreuz hat uns in unseren schwärzesten Momenten geholfen und Hoffnung gegeben.«363 Der Begriff »Flüchtling« hat irgendwie die Eigenschaft, den flüchtenden Menschen auf diesen Zustand einzufrieren. – Diesem Etikett fehlt jedoch die Dynamik, die dem Begriff »Flüchtender« sehr wohl innewohnt. Die Frage ist, ob man dieses Etikett wieder loswerden kann. Wenn man zum Vergleich die Situation von Migranten in Österreich betrachtet, dann bleibt wenig Grund, dies anzunehmen. Als zugewanderte Person bleibt man auch nach 20 bis 30 Jahren ein Migrant. Diese Begriffszuweisung überträgt sich auch auf die nächste Generation, man wird zum Migrant der 1. und 2. Generation abgestempelt. Wie lange muss man eigentlich in einem Land leben, damit die ursprüngliche Herkunft kein Thema mehr darstellt und nicht politisch instrumentalisiert werden kann – sowohl vonseiten der Migranten als auch der Aufnahmegesellschaft  ? Der »Flüchtende« ist ein Opfer. Sein persönliches »Flüchtlingsschicksal« muss überzeugen und erweichen können, um die Asylhürden meistern zu können. Der Bezeichnung »Flüchtling« wohnt die Eigenschaft inne, diesen Status als eine Gegebenheit darzustellen, die unterschwellig eine Schicksalsergebenheit impliziert. Tatsache ist, dass eine Flucht überhaupt zu planen, durchzuführen und zu überleben eine ungeheuerliche menschliche Anstrengung erfordert. Mut und Initiative – nicht Passivität und

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Resignation – sind die Antriebskräfte von zur Flucht gezwungenen Menschen. Haben sie einmal das Ende ihrer Flucht erreicht und Schutz gefunden sowie die Möglichkeit, sich ein neues Leben aufzubauen, wahrgenommen, dann sollte »Flucht« und »Flüchtling« als Argwohn hervorrufende, ausgrenzende und diskriminierende Kategorisierungen ausgedient haben.

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Die österreichische Diplomatie – Hat sie eine große Zukunft hinter sich  ? Diplomaten365 sind überflüssig geworden, heißt es. Sie sind Champagnertrinker und »Brötchenesser, die vor allem damit beschäftigt sind, sich nicht zu bekleckern«.366 Anstatt zu arbeiten, feiern sie ihren bescheidenen Beitrag zur Weltgeschichte in einem elitären Kreis. Dazu sind sie, frei nach dem französischen Präsidenten Nicholas Sarkozy, »feige und dumm, noch dümmer als Präfekten«.367 Kurzum, kein Staat kann sie sich heute mehr leisten, diese Diplomaten, ebenso wenig wie ihre prunkvollen Residenzen. Diese Kritik ist konsequent, knüpft sie doch an die Karikatur des klassischen Diplomaten an, wie er 1815 dem Wiener Kongress entsprungen ist  : ein ordenbehangener Adlatus der Staatsgewalt, ein Polizist im feinen Anzug,368 vertraut mit höfischer Etikette, Intrige, wechselseitigen Konzessionen und mehrsprachigem Geplänkel. Wie kommt es dann, dass multinationale Firmen wie Vodafone und omv Diplomaten in ihre internationalen Abteilungen holen, wo sie ihre Netzwerke nutzen, um die corporate identity zu vertreten  ? Warum hält diese Kritik Exxon, Google und McDonald’s nicht davon ab, ihre Manager in Aufgaben der klassischen und multilateralen Diplomatie zu schulen – in Kontaktpflege, Verhandlungstaktik und Lobbying  ? Bill Gates war gut beraten. Das Geschäftstreffen des Software-Architekten von Microsoft mit dem chinesischen Präsidenten Hu Jintao im Jahr 2006 in den usa war ein Lehrstück an diplomatischen Umgangsformen und angewandter kultureller Sensibilität. Diese Beispiele zeigen zwei Dinge. Erstens, die Nachfrage nach diplomatischen Qualitäten steigt. Diplomatie – oder die heutige Vorstellung davon – ist aktuell und attraktiv. Zweitens, eine klare Abgrenzung der diplomatischen Aufgaben scheint nicht mehr zu existieren. Diplomatie ist zu einem Allerweltswort der globalisierten Ära geworden. »Jeder« kann heute ein Diplomat sein, und das Betätigungsfeld ist weit  : celebrity diplomacy, sports diplomacy, citizen diplomacy, digital, virtual und transformational diplomacy, public, business und cultural diplomacy. Wie lässt sich diese Nachfrage aber befriedigen, wenn das Angebot sich aus dummen, feigen und überflüssigen Individuen zusammensetzt  ? Ist die Kritik gerechtfertigt  ? Auf jeden Fall ist sie zweischneidig. Sie pauschalisiert individuelle Negativbeispiele als Indiz für die Unzulänglichkeiten einer gesamten Berufsklasse in ähnlicher Weise, wie wenn ein Land nach der Unfreundlichkeit seines Hotelpersonals beurteilt wird. Häufig nimmt die Kritik auch den diplomatischen Berufshabitus und -stand aufs Korn, der sich überwiegend aus einer Akademikerklasse mit ähnlichen Wertvorstellungen,

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Verhaltensmustern, Sprache und Netzwerken zusammensetzt. Sie wendet sich gegen den Diplomaten als Physis des Staates, hinter dessen politischen Vorgaben er sich zurücknehmen muss, weshalb er als ein rundum einsetzbarer, willenloser Befehlsempfänger porträtiert wird. Der vielkritisierte Vergleich des tschechischen Außenministers drängt sich auf  : »… Diplomaten sind da in vielen Dingen wie die leichten Mädchen  : auch sie arbeiten abends und an den Wochenenden, können sich ihre Partner nicht aussuchen und müssen die Stellung einnehmen, die man von ihnen verlangt.«369 Über die eigentlichen Aufgaben der Diplomatie sagt die Kritik hingegen wenig aus. Diplomatie besteht aus einem komplexen Geflecht von klassischen und neuen Aufgaben. Nur ein prüfender Blick in ihr Getriebe lässt erkennen, ob und in welcher Form sie ihren Platz in der Welt weiter beanspruchen kann. Der amerikanische Diplomat und Dekan der Fletcher School of Law and Diplomacy, Edmund Guillion, hat es vor dreißig Jahren auf den Punkt gebracht. Die Diplomatie kann nur dann weiter bestehen, mahnte er, wenn sie erkennt, wie sich der Einfluss von Nationalstaaten auf internationale Beziehungen verändert hat, und damit auch ihre eigene Rolle.370 Sehen wir uns die Aufgaben des Diplomaten genauer an. Fragen wir uns, was den idealen Diplomaten im Dienste der Republik ausmacht. Unterscheidet er sich noch vom PR-Manager des 21. Jahrhunderts  ? Worin liegt seine Zukunft  ? Die rechtlichen Grundlagen des Auswärtigen Dienstes und das Mandat des Diplomaten geben darauf teilweise Antwort. Der Diplomat vertritt die Gesamtinteressen seines Entsendestaates und seiner Angehörigen im Empfangsstaat und fördert die freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Staaten.371 Der Diplomat ist zu Loyalität gegenüber seinem Entsendestaat verpflichtet und schwört einen Eid auf Amtsverschwiegenheit, der mit seiner Pensionierung aufrecht bleibt.372 Je nach Funktion –– –– –– –– –– ––

vollbringt der Diplomat konsularische Leistungen, organisiert Besuchsprogramme und betreut die Besuche, baut Kontaktnetzwerke auf, verfasst politische, wirtschaftliche, wissenschaftliche oder kulturelle Analysen, leistet Presse- und Kommunikationsarbeit und betreibt Krisenmanagement.

Von größerer Nachhaltigkeit ist die Möglichkeit des Diplomaten, Projekte zu initiieren und zu bewegen. Die Palette reicht –– von der Unterstützung wirtschaftlicher Aktivitäten, zum Beispiel für Investitionen von Firmen seines Staates im Ausland, –– bis zur Vermittlung von Know-how für die Regierung seines Staates oder des Empfangsstaats,

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–– von Sozialprojekten –– bis hin zu langfristigen Kulturprojekten und der Unterstützung von wohltätigen Initiativen. –– Aufgrund ihrer Visibilität haben Diplomaten auch Möglichkeiten zu effizientem Fundraising. Menschenrechtsagenden, Umweltfragen und Energiesicherheit beanspruchten bisher einen geringen Teil der klassischen nationalstaatlichen Diplomatie. Nun sind sie wichtig, und Diplomaten müssen sie unentwegt international verhandeln und koordinieren. Dazu müssen sie sich viel stärker mit anderen Ressorts und Interessenvertretungen ihres Landes vernetzen, deren Mitsprache im Sinne der global governance gewachsen ist. Migration, Terrorismus und cyber security drängen sich immer weiter in den Vordergrund der Alltagsdiplomatie. Die nötige Expertise zu diesen globalen Themen holt der Diplomat sich von Denkfabriken und Internationalen Nicht-Regierungsorganisationen (inros). Letztere haben sich in den vergangenen fünfzig Jahren vervielfacht und beeinflussen außenpolitische Entscheidungen heute wesentlich, da sie ihre Anliegen öffentlichkeitswirksam vermarkten und damit großen Druck auf Regierungen ausüben können. Beteiligt sich ein Land am Wiederaufbau von Institutionen nach Konflikten – in Ex-Jugoslawien, seinen Nachfolgestaaten oder im Irak – muss der Diplomat beurteilen können, wie sich importierte institutionelle Modelle mit lokalen Strukturen verbinden lassen. Das funktioniert nicht immer reibungslos. Er erlebt es bei der Ausbildung von Polizisten und Justizbeamten. Damit fördert er zwar das Prinzip der lokalen Eigenverantwortlichkeit (local ownership) vor Ort, schafft dadurch aber gleichzeitig Raum für Korruption und unerwünschte parallele Machtstrukturen  : Unsere Reintegrations- und Versöhnungsbemühungen zwischen den politischen Machtblöcken in Afghanistan zeigen es. Der Einfluss der neuen Medien hat dazu geführt, dass Diplomaten rund um die Uhr erreichbar sind und öfter als früher öffentlich Stellung beziehen müssen. Die Öffentlichkeit erwartet sich ein Feedback.373 Der Trend in Richtung totaler Transparenz steigt, und damit auch die Zahl außenpolitischer Aktivitäten mit unmittelbarer innenpolitischer Relevanz. Dies trifft auch umgekehrt zu. Die im September 2005 in einer kleinen dänischen Zeitung publizierten satirischen Darstellungen des Propheten Mohammed lösten weltweit heftige Proteste aus. In Damaskus gingen die dänische und norwegische Botschaft in Flammen auf. In Wien und Graz folgten Demonstranten dem Protestaufruf von Gaddafis Sohn Saif al-Islam.374 »Die Welt ist flacher geworden«, meinte der amerikanische Kolumnist Thomas Friedman vor einigen Jahren in der Hitze der Globalisierungsdebatte.375 Innenpolitische Entwicklungen finden – entsprechend an das World Wide Web angedockt – glo-

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balen Niederschlag. Soziale Netzwerke wie Twitter und Facebook haben die Umbrüche in Nordafrika Anfang 2011 katalysiert. Diese haben tief greifende Auswirkungen auf die gesamte arabische Welt. Die internationale Staatengemeinschaft kann das gewaltsame Niederwalzen der Proteste in Tunesien, Ägypten, Syrien und Bahrain nicht kommentarlos hinnehmen. Serviceorientierte Arbeitsmethoden prägen heute diplomatische Abläufe. Bürokratische Rituale werden seltener, horizontale Vernetzung verdrängt Top-down-Management. Expertise entsteht auf unteren Ebenen, die Einstellung »Überlasse das denken deinen Vorgesetzten« schwindet. Einige österreichische Vertretungsbehörden  – sie haben inzwischen fast alle Webseiten  – versenden Pressemeldungen über Facebook und Twitter. »The first word out wins« zählt noch mehr, als dies schon in den frühen Printmedien die Praxis war  : Was heißt das  ? Der Vorteil liegt beim Initiator einer Informationseinheit, die er ins Internet stellt. Sie erweckt das Interesse der Internetleserschaft, deren Aufmerksamkeitsspanne für die Überprüfung ihres Wahrheitsgehalts nicht reicht. Dafür ist die Informationseinheit im Internet beliebig manipulierbar. »Freely floating snippets of information« nannte sie der amerikanische Schriftsteller John Updike. Daran erkennt man den beschränkten Einfluss sozialer Netzwerke. Sie funktionieren nicht überall, wo sie als Demokratisierungsmittel eingesetzt werden. Autoritäre Regime nutzen soziale Netzwerke zur Repression. Sie unterwandern sie mit Gegenpropaganda, verzerren sie mit getwitterten Falschmeldungen oder spüren persönliche Daten durch sie auf. Unliebsame Demonstranten und Oppositionelle werden viel schneller als noch vor ein paar Jahren beseitigt. Besonders geübt darin ist der Iran, dessen Geheimdienst eine stetig wachsende Anzahl von Facebook-Nutzern  – 70 Prozent der iranischen Bevölkerung sind unter 35 Jahre alt – überwacht und unschädlich macht.376 Unbeschränkte Informationsbeschaffung ist ein janusköpfiges Phänomen. Die Internet-Enthüllungsplattform Wikileaks hat durch die Publikation von über 250 000 teils vertraulichen Berichten amerikanischer Diplomaten  – darunter die sogenannten Afghanistan- und Irakprotokolle  – Machtmissbrauch aufgedeckt. Andererseits hat Wikileaks Dissidenten und Oppositionelle im Iran und in China in ernste Bedrängnis gebracht, weil Details über deren geheime Kontakte mit dem feindlichen Ausland bekannt wurden. So notwendig die Aufklärung von Machtmissbrauch ist, so bedenklich ist deren Nebeneffekt. Der Schutz zwischenstaatlicher Vertraulichkeit ist kein Selbstzweck. Sie dient dem Datenschutz und der Sicherheit von Individuen und ist eines der Prinzipien, auf dem die Diplomatie ruht. Daneben war die WikileaksVernaderung von Politikern und Diplomaten eine Nebensächlichkeit mit Unterhaltungswert. »Berlusconi ist nutzlos, eitel und ineffizient«, »Merkel ist risikoscheu und selten kreativ«, Sarkozy »ein dünnhäutiger autoritärer Kaiser ohne Kleider«. Sie wurde diplomatisch übergangen.

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Die Diplomatie ist kein Anachronismus. Ihre klassischen Aufgaben bestehen fort, und der Wandel in den internationalen Beziehungen schafft neue Aufgaben. Der Diplomat kann diesen Wandel mitgestalten und muss dazu Prioritäten setzen. Im ersten Abschnitt dieses Beitrags beleuchten zwei Fallbeispiele aus den usa zu Krisenmanagement und zu Public Diplomacy die tägliche Arbeit des Diplomaten im Dienste der Republik Österreich. Der zweite Abschnitt zeigt die Mehrfachrolle der nationalen Diplomatie in internationalen Organisationen und der Europäischen Union  : Diplomaten fördern österreichische Interessen durch Verhandlungen in Brüssel und durch Lobbying von anderen Mitgliedsstaaten der eu.377 Diplomaten nützen das Gewicht der österreichischen Mitgliedschaft in der eu oder im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, um österreichische Interessen gegenüber Drittstaaten oder global durchzusetzen, und Diplomaten treten als Fürsprecher der gemeinsamen Interessen der eu in der Welt auf. Der dritte Abschnitt geht der Frage nach, ob und wie die österreichische Diplomatie das außenpolitische Profil Österreichs stärken kann. Der letzte Abschnitt zeigt die Herausforderungen des veränderten Berufsfeldes der Diplomatie im Spannungsfeld zwischen Staatsräson und der supranationalen Vision der Europäischen Union. Ein Seitenblick auf die Rolle des neuen Europäischen Auswärtigen Dienstes wird gewagt. Der Autor ist sich bewusst, dass seine Überlegungen nicht mehr als einen Blick durch die Linse der eigenen Erfahrungen bieten. Er möchte diese vor allem mit Nicht-Diplomaten teilen.378 1. Die Aufgaben der österreichischen Diplomatie im Ausland Die konsularische Betreuung an den österreichischen Vertretungsbehörden im Ausland hat infolge globalisierter Erwerbstätigkeiten und erhöhter Mobilität stark zugenommen. Erkrankte, verunfallte und bestohlene Österreicher müssen betreut werden. Verhaftete Österreicher müssen in Gefängnissen aufgesucht, Leichname nach Österreich überführt und österreichische Geiseln aufgespürt und befreit werden.379 Das österreichische Vertretungsnetz bietet eine Basisinfrastruktur für alle österreichischen Behörden, die im Ausland tätig sind, auch für Bundesländer und Nicht-Regierungsorganisationen.380 Die Besuchsbetreuung österreichischer Delegationen im Ausland hat sich intensiviert. Sie hat an einigen Botschaften Ausmaße angenommen, die an die Geschäftigkeit von Hotelhallen oder Busbahnhöfen erinnern. In meiner Washingtoner Diplomatenzeit zwischen 1999 und 2006 hatten wir in den Spitzenzeiten im Frühjahr und Herbst

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bis zu fünf Delegationen pro Woche zu betreuen. Wir mussten die Besuche planen, die Programme erstellen und die Arbeitsgespräche inhaltlich vorbereiten.381 Die Qualität der Kontaktpflege mit dem Gastland bestimmt den Erfolg von Delegationsbesuchen. Der jeweils beste und thematisch geeignete Gesprächspartner muss für nationale Anliegen gewonnen werden. Die regelmäßige Berichterstattung aus dem Ausland fördert die Expertise der Zentrale zu einem bestimmten Thema. Um einen Informationsmehrwert zu produzieren, müssen die zu Generalisten382 ausgebildeten Diplomaten sich Sachkenntnisse aneignen, Expertenanalysen miteinander vergleichen, sie interpretieren und dann in kondensierter und klarer Form einberichten. Ihre Analyse fällt aber erst dann ins Gewicht, wenn sie Entwicklungen vorwegnehmen, durch welche sich Chancen oder Hindernisse für österreichische Interessen ergeben. Dabei kann es sich um Marktentwicklungen im Gastland handeln, die für die österreichische Wirtschaft attraktiv sind  ; um politische Umstände, in denen österreichische Expertise eingesetzt werden könnte  ; oder um Warnungen vor bevorstehenden Krisen, welche die Sicherheit von Österreichern im Ausland gefährden könnten. Bei politischen Krisen muss eine Botschaft als Korrektiv eingreifen. Dazu muss sie formelle und informelle Kontakte bestmöglich instrumentalisieren. Die innenpolitischen Ereignisse in Österreich des Jahres 2000 führten dazu, dass die Europäische Union diplomatische Sanktionen gegen Österreich verhängte. Nachdem Jörg Haider und seine Freiheitliche Partei von der övp in die Regierung gehievt wurden, betätigten Diplomaten in den europäischen Hauptstädten alle verfügbaren Hebel, um die Sanktionen zu beenden. Die »New York Times« berichtete über Äußerungen Jörg Haiders mit nationalsozialistischer Konnotation und über Rechtsextremismus in Österreich. Das »World Policy Journal« schrieb, Österreich hätte aus seiner Geschichte nichts gelernt, und thematisierte die Waldheim-Affäre.383 Die us-Botschafterin in Wien wurde regelmäßig zur Berichterstattung nach Washington einberufen. Die belgische Regierung instruierte ihre Diplomaten, weltweit offizielle Kontakte mit ihren österreichischen Kollegen zu meiden. Dem Autor wurde in Washington der Handschlag verweigert. Jetzt wussten sogar Washingtons Taxifahrer, dass Austria nicht Australia war. Jetzt fanden sie die Embassy of Austria, die sie regelmäßig mit jener Australiens verwechselt hatten, ohne dass man ihnen die Adresse nennen oder die Unterschiede zwischen der Heimat der Kängurus und jener Arnold Schwarzeneggers erklären musste. Die österreichische Diplomatie sprang in das »Whirlpool der 24-Stunden-Nachrichten«.384 Der österreichische Botschafter in Washington gab der »New York Times« ein exklusives Interview385 und hielt eine Reihe von öffentlichen Vorträgen, darunter eine Rede vor der jüdischen Hilfsorganisation Rav Tov.386 Neben vielen lokalen tv- und Radiostationen brachte cnn ein Interview mit ihm. Seine Pressekonferenz im National Press Club wurde 24 Stunden hindurch auf C-Span usa-weit ausgestrahlt. Seine Mitarbei-

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ter führten Hintergrundgespräche im amerikanischen Kongress und Außenministerium. Die Quintessenz der österreichischen Argumentation war die Verurteilung und Distanzierung von den Aussagen des damaligen Kärntner Landeshauptmannes, das Bekenntnis zu Demokratie und der Hinweis darauf, dass nationalsozialistische Wiederbetätigung in Österreich einen Strafbestand darstellt, der scharf geahndet wird. So konnte verhindert werden, dass im us-Kongress in Anlehnung an europäische Forderungen ein Österreich-Boykott mit Wirtschaftssanktionen beschlossen wurde. Telefonate und E-Mails schaffen Krisen dieser Art nicht aus der Welt. Ebenso wenig tun es kurzfristige Dienstreisen hoher Beamter zu Krisengesprächen aus der Hauptstadt. Sie setzen eine permanente Präsenz im Gastland voraus  – Diplomaten. Die Faktoren, die eine Krise bedingen, sind unterschiedlich und nicht zentral steuerbar, die sie transportierende Informationswelt asymmetrisch und extrem schnell, die Auswirkungen kurz- bis langfristig. Politiker müssen sich deshalb auf diplomatische Netzwerke im Ausland verlassen können. Daran haben auch die Gipfeltreffen von Staatsund Regierungschefs nichts geändert oder die monatlichen formellen und informellen Begegnungen von Ministern im Ausland. Der deutsche Diplomat Theodor Paschke bezeichnete die persönlichen Bekanntschaften, die anlässlich dieses Begegnungskarussells zustande kommen, als »falsche Vertrautheit«.387 Das »falsch« bezieht sich darauf, dass solche Kontakte für die Lösung eines außenpolitischen Problems nicht ausreichen. Politiker haben nicht genügend Zeit dazu. Im Krisenjahr 2000 suchten österreichische Diplomaten auch das Gespräch mit ihren vehementesten Kritikern. Einer davon war Korrespondent einer führenden usTageszeitung, der von Berlin aus über österreichische Innenpolitik berichtete, aber die Gegebenheiten nicht vor Ort untersuchte. Wiederholt bediente er sich ungenauer und einseitiger Sekundärquellen. Der Pressesprecher des Außenministeriums in Wien lud ihn zu einem Hintergrundgespräch nach Wien ein, antwortete offen auf seine Fragen, wies ihn aber auch auf professionelle Mängel in seiner Berichterstattung hin, die er belegen konnte. Das Resultat der Wiener Kur war, dass ein Direktkontakt eröffnet war, den der Korrespondent jederzeit nützen konnte. Größere Sorgfalt der Recherche und Ausgewogenheit der Darstellung waren die Folge. Das negative Bild Österreichs hatte tiefere Wurzeln. Im Jahr 2000 war es mit der Regierungsbeteiligung der Freiheitlichen Partei Österreichs medienwirksam zum Vorschein gekommen. Unter der Oberfläche gärte es aber schon viel länger. Eine zwanzig Jahre umfassende Medienstudie in den usa belegte es.388 Ihr zufolge war das kulturelle Österreichbild in den usa traditionell immer positiv besetzt gewesen, während das politische Image seit Jahrzehnten krankte. Das us-Establishment warf Österreich einen unaufrichtigen Umgang mit seiner eigenen Geschichte vor. Österreich hätte nicht genug geleistet, um seine Mitverantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen des 20. Jahrhunderts aufzuarbeiten.

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Zwischen 2002 und 2006 war ich in den usa für Public Diplomacy zuständig. Gemäß der Definition von Public Diplomacy – »… die Öffentlichkeit im Ausland durch Verständnis und Überzeugungsarbeit zu beeinflussen …«389 – bedeutete dies im Wesentlichen, langfristig ein Reservoir an gutem Willen in der amerikanischen Gesellschaft aufzubauen, damit diese ihre Regierung und ihre Entscheidungsträger gegebenenfalls im Interesse Österreichs beeinflussen würde. Wie sollte dies geschehen  ? Es war eine Aufgabe, deren Erfolg nicht leicht messbar war. Die Stärke von Besucherzahlen österreichischer Konferenzen oder Kulturveranstaltungen sagte wenig darüber aus, ob sich das kulturell stimulierte und gut bewirtete Zielpublikum in einer Krise für Österreich ins Zeug legen würde.390 Ein breit gestreuter, guter Medienniederschlag konnte diesen Zweck schon eher erfüllen, vorausgesetzt, er erreichte die kritische Masse. Mein Auftrag, ein differenziertes Österreichbild in den usa zu fördern, fiel mit der zu Ende gehenden ersten Amtsperiode von Präsident George W. Bush zusammen. Im Jahr 2003 dominierte die Irakintervention der usa die außenpolitische Agenda der europäischen Kabinette. Europa war politisch gespalten. Auf der einen Seite standen die Befürworter der Irakintervention, angeführt von Großbritannien und gefolgt von den neuen eu-Mitgliedstaaten Ost- und Südosteuropas. Der ehemalige us-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld nannte diese Gruppe »New Europe«. Sie waren Amerikas wahre Freunde. Auf der anderen Seite standen Frankreich und Deutschland und auch Österreich – »Old Europe« –, die Verräter des 11. September 2001 und des gemeinsamen Kampfes gegen den globalen Terror.391 Wir waren Verräter, weil wir uns weigerten, dessen vermeintlicher Speerspitze, Saddam Hussein, den Garaus zu machen. Österreich stand also in den Augen der usa auf der falschen Seite. Unser Hinweis auf die immerwährende Neutralität, welche den Einsatz österreichischer Streitkräfte im Irak ohne Sicherheitsratsbeschluss der Vereinten Nationen verbot, kam schlecht an. Umso verblüffter gaben us-Medien sich über eine österreichische Initiative zur Terrorismusbekämpfung.392 In der allgemeinen Aufregung über die schlechten Flughafenkontrollen und die unzulängliche Flugsicherung in den usa – sie wurden nach dem 11. September mehrmals kompromittiert – bot Österreich Expertise zur Flugsicherung an. Das österreichische Einsatzkommando Cobra schulte amerikanische Flugbegleiter. Expertengespräche und vier Reisen des österreichischen Innenministers führten dazu, dass die usa die österreichische Expertise der Flugsicherung und Flugbegleitung übernahmen.393 Unvermindert bestand neben diesen dramatischen Entwicklungen der Wunsch der österreichischen Diplomatie, das negative politische Österreichbild in den usa langfristig zurechtzurücken. Das Milieu, in dem die öffentliche Meinung über Österreich gebildet wurde, misstraute dem offiziellen Österreich nach wie vor. Waren damit die Millionen amerikanischer Fans von »The Sound of Music« gemeint  ? Keine Öffentlichkeitsveranstaltung verging, in der ich nicht auf diesen Kultfilm angesprochen wurde.

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Im Unterschied zu den Österreichern hatten sie ihn alle mehrmals gesehen, kannten jede Szene und waren von der traumhaften Landschaft, den Volksliedern, den Kostümen und der schnuckeligen Atmosphäre begeistert. Für die Hintergründe der Flucht der Familie Trapp aus Österreich interessierten sie sich mit wenigen Ausnahmen nicht. Unsere Aufmerksamkeit musste einer anderen Gruppe gelten  : den Nachkommen der aus Österreich vertriebenen oder ermordeten jüdischen Opfer der Shoa. Ihren österreichischen Wurzeln fühlten sie sich gewaltsam entfremdet. Über die österreichischen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte wussten sie jenseits der Tagesschlagzeilen wenig. Skepsis prägte ihre Einstellung zu Österreich. Sie waren davon überzeugt, Österreich kultiviere nach wie vor die Lebenslüge, das erste Opfer Hitlers gewesen zu sein. Meine anfänglichen Versuche, einige Fehlinformationen der Medienberichterstattung im Gespräch aufzuklären, darunter auch jene, welche die us-Regierung selber als solche anerkannt hatte, waren deplatziert. Die Dimension des Erlittenen war zu groß, als dass einzelne nachträgliche Klarstellungen Einfluss auf das Gesamtbild hätten haben können. Sie waren ein Tabubruch. Das war auch die Thematisierung der Kriegsvergangenheit des ehemaligen österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim. Die usa hatten ihn im April 1987 auf die Watchlist gesetzt und ein individuelles Einreiseverbot über ihn verhängt. Damit war Waldheim das bis dahin einzige amtierende Staatsoberhaupt, dem dies widerfahren war. Obwohl die unabhängige internationale Historikerkommission nach dem Studium Tausender Akten zu dem Schluss gekommen war, dass Waldheim kein Mitglied der ss war und es keine Beweise dafür gab, dass er persönlich in Kriegsverbrechen involviert war, war die amerikanische Regierung nicht bereit, diese Watchlist-Entscheidung zu revidieren.394 Die österreichische Diplomatie bemühte sich immer wieder vergeblich, die us-Regierung davon zu überzeugen, dass die WatchlistEntscheidung in Anbetracht dieser Erkenntnisse unverhältnismäßig war. In Wirklichkeit ging es aber weniger um Waldheims (begangene und nicht begangene) Verfehlungen während des Nationalsozialismus. Es ging vielmehr um seinen schlampigen Umgang mit der eigenen Vergangenheit, die er zu vertuschen suchte und Geschichte darüber verfälschte. Insbesondere den usa schien diese Haltung als symp­ tomatisch für Österreichs unzureichende Aufarbeitung seiner Täterrolle im Dritten Reich. Waldheim war, aufgrund seines passiven Umgangs mit seiner Vergangenheit, stellvertretend für das offizielle Österreich zum Prügelknaben dieses Vorwurfs geworden. Die Zweifel überwogen, dass Österreich seine historische Verantwortung für die Opfer der Massenvernichtung im vollen Ausmaß anerkannt hatte, dass es die Entschlossenheit hatte, eine Wiederholung der Geschichte zu verhindern und auch über die dazu notwendigen Institutionen verfügte. Das lag auch daran, dass eine Reihe von österreichischen Initiativen im Ausland nicht oder zu wenig bekannt war  :

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–– die obligate Holocaust-Erziehung an österreichischen Schulen  ; –– der österreichische Zivildienst an Gedenkstätten des Holocaust in einigen Dutzenden von Ländern, bei dem junge Österreicher sich entweder um Überlebende der Shoa kümmern oder deren Andenken bewahren  ; –– die Erfolge der Umsetzung des Kunstrückgabegesetzes von 1998, bei der Österreich als einziger von 40 Staaten alle Empfehlungen der internationalen Kommission umsetzte  ; –– der 2000 gegründete Versöhnungsfonds, mit dem Österreich symbolische Zahlungen an rund 132 000 ehemalige Zwangsarbeiter des ns-Regimes leistete. Sie waren in der Industrie und Landwirtschaft eingesetzt gewesen und in der Zwischenzeit auf 61 Länder der Welt verstreut  ; –– die laufende Arbeit des 2001 eingerichteten Entschädigungsfonds. Er bemüht sich, Vermögensverluste von Opfern des Nationalsozialismus, die bisher nicht oder unzureichend berücksichtigt wurden, rückzustellen oder durch freiwillige Geldleistungen anzuerkennen. Dass diese Initiativen teilweise nicht wahrgenommen wurden, war vor allem ein Kommunikationsproblem, das es zu beheben galt.395 Im Jahr 2002 gründeten wir in den usa eine englischsprachige Publikation, »Jewish News from Austria«. Sie richtet sich an die Familien der aus Österreich Vertriebenen, die in den usa, Kanada, Australien, Israel und anderen Ländern eine neue Heimat gefunden haben. Die Publikation wird an Hunderte jüdische und auch an nichtjüdische Organisationen, Erziehungseinrichtungen, Vereine, Medien und individuelle Adressaten versandt. Die Autoren sind unabhängig und über den Verdacht staatlich gelenkter Einflussnahme erhaben, weil die Beiträge, abgesehen von einem persönlichen Vorwort des Herausgebers, nicht aus der Feder österreichischer Diplomaten oder anderer offizieller Vertreter Österreichs stammen. Sie werden aus österreichischen Tageszeitungen und Periodika übernommen, ins Englische übersetzt, mit Quellenhinweisen versehen und dann per Internet versandt. Das Themenangebot ist breit gestreut und darum bemüht, ein facettenreiches Bild des Lebens der jüdischen Gemeinden in Österreich und der Haltung des offiziellen Österreich zu ihnen zu vermitteln. Das Interesse an dieser Publikation, die drei bis vier Mal im Jahr erscheint, hat seit ihrer Gründung zugenommen. Ein Gymnasiallehrer aus Minnesota regte an, »Jewish News« häufiger herauszugeben – das Material würde sich für seinen Geschichtsunterricht eignen. Eine betagte Farmerin aus Virginia hatte über das Jewish Welcome Service der Stadt Wien gelesen, welches einen einwöchigen maßgeschneiderten Besuch für zwei Personen in Wien komplett finanziert und gestaltet. Der Aufenthalt bietet auch ein persönliches Treffen mit dem österreichischen Bundespräsidenten an. Die Farmerin bat um Unterstützung bei ihren Reisevorbereitungen. Sie wollte ihre Heimatstadt Wien noch einmal sehen und sie ihrem Sohn zeigen.

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Diplomaten sind die Vitrinen ihres Staates im Ausland. Es ist nicht ihre Aufgabe, dessen offizielle Positionen öffentlich infrage zu stellen. Sie müssen aber darauf gefasst sein, dass es andere tun, wie das Thema Waldheim zeigt. Sie müssen vor allem damit rechnen, dass sie während ihrer Karriere fortlaufend mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs konfrontiert werden. Die Generation der Nachgeborenen tut sich damit leichter. Auch kann sie sich auf jene Erkenntnisse der Gedächtnisforschung stützen, die inzwischen Allgemeingut geworden sind  : das Wissen darüber, wie Geschichtsbilder über Generationen weitergegeben werden, wie und warum Mythen sich bilden, etwa der Opfermythos Österreichs,396 und welche politischen Faktoren die Entstehung des kollektiven Gedächtnisses beeinflussen.397 Dies erleichtert den kritischen Umgang mit der eigenen Geschichte. 2. Der Multilateralismus – eine Mehrfachrolle der nationalen Diplomatie Die multilaterale Diplomatie Österreichs hat in den letzten Jahren an Umfang und Bedeutung gewonnen. Österreich kann als Mitglied internationaler Organisationen Anliegen zum Gegenstand multilateraler Verhandlungen machen. Andererseits kann Österreich wichtige Themen international mitgestalten, wozu nationale Einflussmöglichkeiten fehlen. Dies ist auch im umgekehrten Fall so. Wenn ein anderer Staat ein Anliegen auf multilaterale Ebene hebt, muss Österreich dazu Position beziehen. Verhandeln und Lobbying werden hier zur diplomatischen Hauptbeschäftigung. Innerhalb der eu herrscht eine ähnliche Dynamik. Das Prinzip der Mehrstimmigkeit dominiert alle Agenden, welche die eu-Mitgliedsstaaten der Zuständigkeit der eu übertragen haben, zum Beispiel die Handelspolitik oder der Binnenverkehr. Ein österreichisches Nein kann eine Entscheidung nicht verhindern, außer die nötige Anzahl von Gegenstimmen kommt zustande. Dies setzt frühzeitiges Lobbying bei anderen eu-Mitgliedsstaaten voraus und rechtfertigt die Existenz österreichischer Botschaften in eu-Hauptstädten. Im Normalfall läuft dies folgendermaßen ab. Mit einer Weisung aus Wien begeben sich die österreichischen Diplomaten in das Außenministerium oder das zuständige Ressort des Gastlandes und werben für das österreichische Anliegen. Sie müssen die Position des Gastlandes zum Thema kennen und können eventuell ihren Verhandlungsspielraum durch österreichisches Entgegenkommen in einer anderen Angelegenheit vergrößern. Dazu brauchen sie ausgezeichnete Englisch- und häufig auch Französischkenntnisse. Seit Jahren versucht Österreich, die Mautgebühren auf dem Brennerpass in Form eines Alpenzuschlags zu erhöhen. Dort schlägt die Zahl an Lkws jährlich neue Rekorde. Zusätzliche Einnahmen sollen nicht nur die Instandhaltung und den Bau von Straßen abdecken, sie sollen auch Lärm- und Umweltschäden abfedern. Dies ist bisher nicht

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gelungen, obwohl das Recht auf einen gesunden Lebensraum ebenso wie jenes auf einen freien Warenverkehr im eu-Recht geregelt sind. Einzelne eu-Regierungen und Frächterorganisationen blockieren das österreichische Anliegen. Außer Frankreich  – es hat ein ähnliches Transitproblem  – hat Österreich keine Verbündeten. Ein fiktiver Lösungsvorschlag zu einem scheinbar aussichtslosen Fall soll hier die Bedeutung von Lobbying demonstrieren. Das österreichische Lobbying müsste sich auf jene euMitgliedsstaaten konzentrieren, die zwar der Transitfrage in Tirol gleichgültig gegenüberstehen, die sich aber beispielsweise in Umweltfragen profilieren möchten. Irland verfügt über eine umweltbewusste Öffentlichkeit. Österreichische Verhandler könnten die Transitfrage als globales Problem darstellen, das auch Irland betrifft. Öster­reich könnte die grüne Lobby in Irland aktivieren, indem es ein irisches Fernsehteam nach Tirol lockt, wo es österreichische Biobauern interviewt, deren Produkte und Überleben durch die Abgase der Lkws bedroht sind. Wenn es um Wirtschaftsinteressen gegenüber Dritten geht, kann die eu ihre geballten Muskeln am deutlichsten spielen lassen. Der Rechtsstreit zwischen der eu und Microsoft ging zugunsten der eu aus. Im Jahr 2004 musste Microsoft 497 Millionen Euro Strafe wegen wettbewerbsschädigender Praktiken zahlen. Die Angelegenheit war von der Welthandelsorganisation (wto) entschieden worden, in der die Europäische Union zusätzlich zu ihren Mitgliedstaaten einen Sitz hat. Die wto kann Handelssanktionen erlassen, weil sie als einzige weltweite internationale Organisation über einen effizienten internen Streitbeilegungsmechanismus verfügt.398 Ein einzelner euMitgliedsstaat hätte wenig Aussichten darauf gehabt, sich in dieser Angelegenheit gegen Microsoft durchzusetzen. Die wirtschaftlichen Gegenmaßnahmen eines einzelnen Staates wären weniger ins Gewicht gefallen. Die eu nutzt ihren großen wirtschaftlichen Einfluss auch zur Umsetzung außenpolitischer Ziele.399 Sie knüpft Entwicklungshilfe an die Erfüllung demokratischer Standards und fördert notwendige Reformen durch Visumserleichterungen. Im Negativfall verhängt sie Wirtschaftssanktionen gegen Staaten, die gegen internationale Menschenrechtsbestimmungen verstoßen oder Abrüstungsziele missachten. Im Jänner 2009 wurde Österreich für zwei Jahre Mitglied im uno-Sicherheitsrat. Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechtsfragen waren die österreichischen Arbeitsschwerpunkte, sie entsprechen außenpolitischer Tradition. Im November brachte Öster­reich eine Resolution zum Schutz der Zivilbevölkerung in bewaffneten Konflikten ein. Srebrenica 1995 – das ethnische Massaker vor unserer Haustür – war keineswegs das Finale gewesen. Die Fälle von physischer Gewalt gegen Zivilpersonen hatten sich seither gehäuft, Menschenrechtsverletzungen in bewaffneten Konflikten weltweit zugenommen. Eine Handvoll österreichischer Diplomaten überlegte sich, wie die Kluft zwischen Theorie und Praxis geschlossen werden könnte, wie friedenserhaltende Operationen der Vereinten Nationen ihre Schutzfunktionen besser wahrnehmen und

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Konfliktparteien dazu gebracht werden könnten, das Völkerrecht zu achten. Vor allem nichtstaatliche bewaffnete Gruppierungen waren ein wachsendes Übel. Es war unüblich für ein nichtständiges Sicherheitsratsmitglied wie Österreich, eine thematische Resolution dieser Tragweite selbstständig zu erarbeiten und einzubringen. Planung und Vorbereitung dauerten über zwei Jahre. Der fertige Textentwurf wurde dann innerhalb eines Monats im Sicherheitsrat verhandelt. Die Sicherheitsratsresolution wurde einstimmig angenommen  – SR-Res. 1894 (2009). Dies war ein richtungsweisender Erfolg. Elemente der Resolution wurden in der Zwischenzeit in den Mandaten mehrerer Friedensoperationen der Vereinten Nationen verankert, in der Demokratischen Republik Kongo, Afghanistan, der Elfenbeinküste, Sudan und Haiti. Die Verpflichtung zu best practices wurde ausgeweitet, ebenso wie entsprechendes Training von Soldaten, verstärkte Zusammenarbeit mit der Lokalbevölkerung, sowie eine erhöhte Berichtspflicht gegenüber der uno. Die Resolution ist noch nicht vollständig umgesetzt, permanenter Einsatz ist erforderlich. Eine Gelegenheit dazu bietet sich seit Mai 2011 durch Österreichs Mitgliedschaft im uno-Menschenrechtsrat. Er ist das höchste Gremium der Staatengemeinschaft zum Schutz der Menschenrechte, und Österreich kann die Hauptinteressen seiner Sicherheitsratsmitgliedschaft für weitere drei Jahre vorantreiben. Die stärkere Berücksichtigung von Frauenaspekten in internationalen Friedensanstrengungen ist Teil dieses Bemühens.400 Frauen sind weiterhin auf den wesentlichen Entscheidungsebenen stark unterrepräsentiert und von Friedensgesprächen, der Friedenskonsolidierung, Abrüstungsprozessen und dem Wiederaufbau ausgeschlossen.401 Darin liegt ein Teil des Problems, denn als potenziell Betroffene haben Frauen im Angesicht von Ausbeutung und Vergewaltigung eine ungleich größere Sensibilität. Öster­ reich war deshalb eines der ersten Länder, das sich in einem nationalen Aktionsplan dazu verpflichtete, die österreichischen Frauenanteile bei internationalen Entsendungen zu Friedensoperationen und in internationalen und europäischen Entscheidungspositionen zu erhöhen und eine Null-Toleranz-Politik bei sexuellem Missbrauch und Prostitution zu verfolgen.402 Der uno-Sicherheitsrat einigte sich auf eine Liste von Indikatoren, die ein genaues Profil der Täter erstellen, Informationen zu Alter und Ethnizität der Opfer sammeln, die Muster von Gewaltverbrechen analysieren und die Regionen lokalisieren, in denen sie stattfinden. Sie erfassen auch die lokalen Per-capitaTrainingsmaßnahmen in Justizapparaten und Sicherheitssystemen und den Stellenwert und die Ahndung von Gewaltverbrechen gegen Frauen.403 eu-Diplomaten treten weltweit für die Abschaffung der Todesstrafe ein. In den usa wurden seit der Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahre 1976 über 1 220 Menschen hingerichtet, darunter auch eu-Bürger.404 Texas versteift sich zum Beispiel immer wieder darauf, es müsse die Verpflichtungen des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen nicht einhalten, denn nur die usa, nicht Texas, hätten es

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ratifiziert. Deshalb verweigert Texas verhafteten Ausländern immer wieder das in diesem Abkommen festgeschriebene Recht, die Vertretungsbehörde ihres Landes zu kontaktieren.405 Diese Missachtung und Verletzungen internationaler Menschenrechtsnormen rufen nationale Diplomaten aus Europa regelmäßig auf den Plan.406 Nach der Hinrichtung zweier deutscher Staatsbürger im Jahr 1999 erstellten sie gemeinsam mit dem amerikanischen Außenministerium einen Katalog für amerikanische Exekutivorgane.407 Er enthielt Anweisungen, was, je nach Anlassfall, von der Verhaftung eines Ausländers bis zur Auffindung eines ausländischen Leichnams zu tun sei. Dieser Katalog wurde mit einer kompletten Adressliste der ausländischen diplomatischen Vertretungen versehen und in jedem Sheriffsbüro und in jeder Kreisverwaltung der usa ausgehängt. Die Broschüre ist verfasst nach dem Motto  : »Behandle einen Ausländer so, wie Du Dir erwarten würdest, dass ein amerikanischer Staatsbürger im Ausland behandelt werden sollte.« Durch die Interventionen der eu kam es in den Jahren 1999–2002, in denen ich mich in den usa mit dem Thema Todesstrafe beschäftigte, in einem Fall zur Wiederaufrollung des Verfahrens, in einem anderen zu einer Umwandlung auf lebenslänglich. In der Menschenrechtsagenda gibt es innerhalb der eu im Allgemeinen ein großes Maß an Übereinstimmung. Bei anderen außenpolitischen Themen kann die Konsensbildung hingegen langwierig und komplex sein. Der institutionelle Rahmen der europäischen Außenpolitik wahrt die Souveränität der eu-Mitgliedsstaaten in außenpolitischen Fragen. Es herrscht die Einstimmigkeitsregel. Jeder kann, ungeachtet seiner Größe und seines Gewichts, den notwendigen Konsens durch ein Veto verhindern. Bei sensiblen außenpolitischen Verhandlungen sieht die Praxis allerdings anders aus. Im Nahostfriedensprozess oder dem Iran-Dossier kann großer politischer Druck in Richtung einer gemeinsamen Linie entstehen, der meist von einem oder mehreren großen Mitgliedstaaten ausgeht. Kleinere Mitgliedsstaaten ordnen sich dann üblicherweise unter, auch wenn sie dies aus grundsätzlicher Überzeugung oder Eigeninteresse nicht tun dürften.408 Im Nahostfriedensprozess dominieren darüber hinaus die usa die Agenda, und die eu profiliert sich als soft power mit rein zivilen Aufgaben. Sie fördert den Aufbau palästinensischer Staatlichkeit, finanziert Schulen für Tausende von Kindern und bemüht sich um die Wiederaufnahme von Exporten aus dem Gazastreifen. Wie kann im Zusammenspiel all dieser Kräfte die österreichische Diplomatie das außenpolitische Profil Österreichs stärken  ? Gibt es so etwas noch  ? Als relativ kleines Mitgliedsland der eu betreibt Österreich keine eigenständige Außenpolitik mehr, sondern sucht für seine außenpolitischen Agenden einen Konsens mit anderen euMitgliedern. Nicht umsonst heißt das »österreichische« Außenministerium jetzt Ministerium »für europäische und internationale« Angelegenheiten. Muss die österreichische Diplomatie sich unter dem Druck fortschreitender Personalkürzungen nicht auf ihre Kerninteressen beschränken,409 also auf die Agenden in ihrer unmittelbaren

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Nachbarschaft wie Südtirol, Temelin, oder Minderheitenfragen  ? Oder auf das starke Engagement der österreichischen Wirtschaft in Südost- und Osteuropa und überall dort, wo Österreich vor allem wirtschaftliche, aber auch kulturelle Angelegenheiten und bis auf Weiteres konsularische Agenden hat  ? Kein eu-Beamter wird diese Aufgaben für Österreich im Ausland leisten können. Wie könnte beispielsweise ein Lette, der in Buenos Aires für die eu-Delegation arbeitet, österreichische Firmen bei der Kontaktnahme mit argentinischen Unternehmen unterstützen, für den Standort Österreich Lobbying betreiben und argentinische Investoren für Österreich anwerben  ? Dazu müsste er die österreichischen Wirtschaftsinteressen kennen und selbst in Österreich gut vernetzt sein. Welches Potenzial kann die österreichische Diplomatie dann noch nützen, um sich internationale Konturen zu geben  ? Kann sie sich eine Nische jenseits der eigenen Kerninteressen sichern  ? Dazu braucht sie Expertise und Anerkennung, um sich auch gegen Konkurrenten oberhalb der eigenen Gewichtsklasse durchzusetzen. Welche Nische bietet sich an, die auch mit weniger Personal und Geld erschlossen werden kann  ? 3. Die österreichische Nische Noch heute genießt Österreich den Ruf, in internationalen Konflikten neutral vermitteln zu können. Wir verdanken ihn dem Erfolg der aktiven Neutralitätspolitik der Ära Kreisky – vor allem in der Nahostfrage. Heute sind die Umstände völlig andere. Die Äquidistanz zu den Supermächten ist passé, und durch Österreichs eu-Beitritt im Jahr 1995 und die daraus resultierende Beistandspflicht ist die Neutralität de facto außer Kraft gesetzt.410 Geblieben ist jedoch der Geist der Unparteilichkeit, der fest im demokratischen, rechtsstaatlichen Wertesystem Österreichs verankert ist und sich zu einer ökosozialen Marktwirtschaft bekennt. Haben jene Kritiker recht, welche ihn als Defensivpolitik abtun und als Unfähigkeit durchschauen, sich auf eine Position festzulegen  ? Selbst wenn sie im Geist der Unparteilichkeit eine Not sehen, verbirgt er eine Tugend  : Er charakterisiert den idealen Mediator, der zuhört, sich nicht voreilig positioniert, und damit seine Glaubwürdigkeit für beide Konfliktparteien nicht aufs Spiel setzt. Die österreichische Diplomatie könnte diese Fähigkeit auf eine neue Ebene stellen. Sie könnte sich stärker in Multi-stakeholder-Prozesse einbringen – in die wachsende lokale und überregionale Vernetzung von Staat, Privatsektor und Zivilgesellschaft in außenpolitischen Fragen. Sie könnte zum Beispiel mit jenen Firmen, die InternetSoftware in Länder verkaufen, wo sie als Repressionsmittel gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt werden, gemeinsam einen Verhaltenskodex entwickeln, der lokale Umstände berücksichtigt und menschenrechtlichen Standards entspricht. Anlassfälle sind

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dazu reichlich vorhanden, sie werden aber nur in Extremfällen und auf öffentlichen Druck aufgegriffen. Die Menschenrechtssituation im Iran hat eine solche Diskussion mit Diplomaten ausgelöst. Im Juni 2011 wurde dort ein Blogger zu einer neunzehneinhalbjährigen Freiheitsstrafe verurteilt. Es gibt neben China kein anderes Land auf der Welt, in dem so viele Menschen im Zusammenhang mit ihren Internetaktivitäten inhaftiert oder verfolgt werden.411 Eine ähnlich beratende Rolle könnten österreichische Diplomaten für Nicht-Regierungsorganisationen spielen, da diese zur Verwirklichung ihrer häufig eindimensionalen Ziele komplexe Zusammenhänge ausblenden. Diplomaten eignen sich dazu, weil sie Länderkenntnis besitzen und aufgrund ihrer vernetzten Arbeitsweise komplexe Zusammenhänge berücksichtigen. Österreichs Hunger nach Rohstoffen ist größer als das bestehende Angebot. Die Energie soll aus verschiedenen Quellen hervorsprudeln, denn man will nicht auf dem Trockenen sitzen bleiben, wenn Russland den Gashahn wieder zudreht wie im Winter 2006. Der Schwarzmeerraum ist unser neues Kanaan – eine bevölkerungsreiche, heterogene, wirtschaftlich dynamische, aber politisch zum Teil instabile Region in der europäischen Nachbarschaft. Unsere Netzwerke in den Schwarzmeerraum sind allerdings begrenzt, ebenso wie die Erfahrungswerte direkter Investitionen, vor allem im Südkaukasus. Die österreichische Diplomatie ist gefragt. Sie muss entwicklungspolitische Vorgaben machen und strategische Rahmenbedingungen erstellen, ohne welche die Projekte nicht beginnen können.412 Das Außenministerium hat einen neuen Schwarzmeer-Schwerpunkt gesetzt, der insgesamt sieben Länder und zwei Regionen umfasst. Eine Botschaft in Aserbaidschan wurde eröffnet. Die Öl- und Gasinfrastruktur der Rohstofflieferanten (Aserbaidschan, Turkmenistan, Kasachstan) soll gefördert, die Transitrouten nach Europa (Georgien) gesichert, und Expertise für wirtschaftliche Entwicklungsfähigkeit und politische Stabilität geboten werden. Das Interesse an westlichen Investitionen ist groß, die Felder der Zusammenarbeit vielfältig. In Armenien ist Österreichs Expertise in erneuerbarer Energie und Tierhaltung gefragt. In Georgien, das durch das russische Embargo schwer gelitten hat, kann Österreich landwirtschaftliche Projekte mit Konfliktprävention verbinden. Ethnische Minderheiten und Flüchtlinge aus Abchasien und Südossetien könnten darin eingebunden werden.413 Startvorteile hat die österreichische Diplomatie auch dank ihrer langjährigen Dialoginitiativen. Seit den Siebzigerjahren gibt es einen strukturierten ökumenischen Dia­ log mit den christlichen Ostkirchen, der mit einem Auftrag des Vatikans an Kardinal König begann. 1993 fand, auf Initiative von Außenminister Mock und dem späteren iranischen Präsidenten Khatami, die erste christlich-islamische Konferenz statt.414 Der christlich-jüdisch-islamische Dialog folgte. Inzwischen finden jährliche Dialogveranstaltungen zwischen Regierungen, Religionsgemeinschaften und Zivilgesellschaften in Österreich statt. Österreichische Botschaften fördern den Dialog im Ausland.

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Seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wird unter jedem Talar ein Terrorist vermutet.415 Der Islam ist das Problem, heißt es. »Daham statt Islam  ! Bratlfett statt Mohammed  !«416 Ein gut geführter christlich-islamischer Dialog ist daher wichtig. Er fördert gegenseitiges Vertrauen und bildet Netzwerke, die sich in einigen Fällen auch für politischere Formen des Dialogs eignen. Dafür muss er aber zwei Voraussetzungen erfüllen. Er muss fachlich sein, sodass eine Auseinandersetzung auf derselben Augenhöhe möglich ist. Verbindendes muss stärker und auf mehreren Ebenen herausgearbeitet werden. Andererseits darf der Dialog nicht allzu dogmatische Züge annehmen, sonst blendet er gesellschaftspolitische und sozioökonomische Realitäten aus. Diese waren es gerade, welche die Volksaufstände in Nordafrika, im Nahen Osten und am Persischen Golf Anfang 2011 entfesselt haben. Was verlangen die Menschen dort  ? Nicht eine Kalifatsordnung frühislamischen Stils, sondern Selbstbestimmung durch mehr Chancengleichheit und Zukunftsperspektiven durch weniger Nepotismus und Gerontokratie. »Where the hell is my Kentucky Fried Chicken  ?«, rief ein junger Demonstrant auf dem Tahrir-Platz. Der Islam ist weder das Problem noch die Lösung für die Herausforderungen, vor welche uns die Jasminrevolution stellt.417 Sie war der Kulminationspunkt einer Bewegung, die nicht von charismatischen Politikern, Theologen oder Intellektuellen, sondern von jungen Arabern getragen wurde.418 Sie hat die Machthaber überrascht, die Sicherheitsapparate überfordert und wurde von militanten Islamisten verschlafen.419 Und so reagierten Ben-Ali, Mubarak, Gaddafi und Assad auf die Ereignisse  : »Verschwörung, Verschwörung  ! Vom Ausland gelenkt, von Fundis genutzt. Der Neo-Kolonialismus schlägt zu  ! Es geht nur um unsere Rohstoffe  !« Es hagelte Kugeln, Demonstranten wurden verschleppt, gefoltert und massakriert. Kommentar der Machthaber  : »Ohne unsere stabilisierenden Maßnahmen verliert die Welt den globalen Kampf gegen den Globalen Terror. – »You can’t teach an old dog new tricks  !« Die Erfahrungen österreichischer Diplomaten zeigen, dass sich ein Dialog, der sich seiner eigenen Grenzen bewusst ist, bezahlt macht. Wenn er langfristig angelegt ist, kann er außenpolitische Wirkung zeitigen und sogar als Konfliktpräventionsmechanismus dienen.420 Es ist kein Zufall, dass die guten Dienste der österreichischen Diplomatie immer wieder gefragt sind  : –– um Versöhnungsgespräche zwischen streitenden Parteien an einem neutralen oder geheimen Ort zu organisieren, wie in der Westsaharafrage im Sommer 2009 in Dürnstein oder einige Jahre davor im Osttimor-Konflikt  ; –– um die Freilassung von Geiseln für andere Staaten zu erwirken, wie dies im Iran mehrmals seit 2007 passiert ist  ; –– um die Kosovo-Statusgespräche zwischen 2005 und 2007 voranzubringen und –– um Vertretern der nord- und südsudanesischen Fraktionen völkerrechtliche Exper-

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tise in der Vorbereitung des Referendums zu den zukünftigen Grenzen anzubieten, wie im Herbst 2010 in Baden und Wien. Aus der Agentenspielwiese des Kalten Krieges ist eine Drehscheibe internationaler Konferenzdiplomatie geworden. In Österreich können Diplomaten die ­Erfahrungen der jahrzehntelangen Dialogarbeit nutzen. Sie müssen jedoch lernen, realistische Konferenzziele abzustecken und diese auch nach dem Blitzlichtergewirr und dem Abklin­ gen des Medieninteresses tatkräftig voranzutreiben.421 Dazu müssen sie kulturelle Sensibilität beweisen, besonders in ihren Begegnungen mit Vertretern der islamischen Welt. Warum  ? People-to-people-Kontakte mit der Zivilgesellschaft sind noch unterentwickelt. Diese definiert sich nicht nach unserem Muster und ist nicht ausreichend organisiert. Solange die Jugend und die Unterschichten sich nicht politisch artikulieren können, weil sie weder die nötigen materiellen Ressourcen noch die dafür gebotene mediale Macht besitzen, werden sie wenig Einfluss auf ihre Regierungen haben. Diese werden bis auf Weiteres Reformen im Alleingang beschließen und sie top-down durchführen. An internationalen Dialogkonferenzen nehmen deshalb auch meist Vertreter der Regierungen teil, denn ohne ihre Mitwirkung sind jene Anliegen der Zivilgesellschaft aussichtslos, die es bei solchen Konferenzen zu fördern gilt. Daran wird sich auch durch die Ereignisse in Nordafrika und im Nahen Osten mittelfristig wenig ändern. Der Mangel an geeigneten Ansprechpartnern im neuen Ägypten oder Tunesien hat große institutionelle Ratlosigkeit im Westen hervorgerufen. Wer bietet sich an  ? Die drangsalierten Oppositionellen, die ihre Gefängniszellen für die gestürzten Machthaber & Co. geräumt haben, sofern diese sich nicht schon ins Ausland abgesetzt haben  ? Oder die Facebookmagier und Twittergötter, die die maghrebinischen Volksaufstände organisiert haben  ?422 Es wird die Aufgabe von Diplomaten vor Ort sein, headhunting für neue Gesprächspartner zu betreiben. Dazu müssen sie die Zurückhaltung überwinden, die westliche Regierungen bisher gegenüber Stiftungen und nicht staatlichen Einrichtungen in weiten Teilen der arabischen und muslimischen Welt an den Tag legen. Gerade diese haben nämlich Strukturen und Rückhalt in der eigenen Bevölkerung, eben weil sie soziale Dienste leisten, von der Gesundheit bis zur Erziehung. Sie stehen aber oft unter starkem religiösem Einfluss, wie die gut organisierte Muslimbruderschaft in Ägypten, die deshalb von politischen Entscheidungsprozessen ferngehalten wurde. Nicht so im Libanon, wo die Hisbollah sich ihren Platz auf der Regierungsbank durch ihre aktive Sozialpolitik bereits erkauft hat, als terroristische Organisation allerdings kein gern gesehener Partner auf Dialogkonferenzen ist. Der Arabische Frühling lässt einen Zwiespalt zutage treten, dessen Diplomaten sich gewahr werden müssen, wenn sie einen aufrichtigen Dialog führen möchten. Dieser ist nur bedingt möglich, wenn auf der einen Seite die Zivilbevölkerung steht, die von ihrer Regierung mehr Selbstbestimmung und Freiheit fordert, als ihr zugestanden wird, und ihr gegenüber eine

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Regierung, deren Stabilität aus realpolitischen Gründen vom Westen unterstützt wird, wie jene in Bahrain oder Saudi-Arabien. Seit Jahren versucht die saudische Regierung, des dort stark verbreiteten wahhabitischen Gedankenguts Herr zu werden. Zum Ärger der Wahhabiten einigte sie sich gemeinsam mit dem Vatikan, Österreich und Spanien auf die Gründung eines interreligiösen Dialogzentrums in Wien.423 Zum Verdruss der Weltgemeinschaft wird die wahhabitische Ideologie allerdings gleichzeitig weltweit exportiert – im Lieferumfang inkludiert  : Moscheen mitsamt Hasspredigern.424 »Dominus cenae intrat« – vermittelnd, Dialog fördernd und netzwerkend, die Anliegen der Zivilgesellschaft ernst nehmend und sich dabei nicht in innere Angelegenheiten eines anderen Staates einmischend. Das österreichische Kooperationsbüro in Sarajevo baut seit vielen Jahren gemeinsam mit bosnischen Muslimen Netzwerke in die arabische Welt auf, durch die gemeinsame Anliegen gefördert und Islamophobie abgebaut werden.425 Dadurch wird auch eine Art Friedensstiftung möglich, die bisher durch die traditionelle Diplomatie vernachlässigt wurde  : die Verwendung eines religiö­ sen Ansatzes zur politischen Konfliktlösung. In der öffentlichen Meinung dominiert immer noch die Vorstellung, dass die Rolle der Religion im Kontext internationaler Beziehungen automatisch bedeutet, dass es sich um religiös bedingte Konflikte handelt, oder, umgekehrt, dass religiöse Vermittlung politische Konflikte religiös verbrämt. Ein Gegenbeweis ist die Lösung des Bürgerkriegs in Mosambik im Jahr 1992, bei der Religionsvertreter erfolgreich als Mediatoren zwischen den Streitparteien vermittelten.426 Das vielfältige kulturelle Erbe Österreichs ist weltweit so anerkannt, dass es nicht um internationale Aufmerksamkeit buhlen muss. Österreich ist eine Kulturnation. Konzerte mit Mozart, Schubert und Walzerklängen sind Selbstläufer. Jeder fünfte Tourist in Österreich ist ein Kultururlauber, und die österreichische Kreativwirtschaft generiert mit rund 200 Sommerfestivals ungefähr 100.000 Arbeitsplätze und eine Milliarde Euro.427 Der Auftrag der österreichischen Auslandskulturpolitik ist seit einigen Jahren ein anderer.428 Österreich soll sich ein neues Image als kreativ-innovatives Land geben. Es soll nation-rebranding betreiben429  : weg vom traditionellen Kanon, hin zu neuen Konzepten. Die Mozartkugel hat ihre Schuldigkeit getan. Klassische Programme, die sich kommerziell rechnen, werden nicht mehr finanziell unterstützt. Will man die Kassenschlager weiter bedienen, muss man sie mit innovativen Projekten kombinieren, mit Digitalkunst, neuen Medien, Design, Mode, Architektur, Tanz und Performance. »The New Austrian Sound of Music« sorgt für frischen Wind. Dieses zweijährige MusikAktionsprogramm des österreichischen Außenministeriums fördert Nachwuchsmusiker unter 35 Jahren, die eine internationale Karriere anstreben, aber den Sprung ins Ausland noch nicht geschafft haben. Sie treten an österreichischen Botschaften und Kulturforen im Ausland mit Programmen neuer und experimenteller Musik, Jazz, Improvisation, Pop und Elektronik auf.

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Die 93 österreichischen Vertretungsbehörden und 35 Kulturforen operieren zunehmend auch als Initiatoren und Schaltstellen für Fremdprojekte. Gute diplomatische Netzwerke eines Kulturforums oder einer Botschaft umspannen das gesamte Gastland. Dort werden Kooperationspartner für Projekte der Stadt Wien, der österreichischen Bundesländer, der Gemeinden und Kulturvereine ausfindig gemacht. Umgekehrt helfen Diplomaten bei der Partnersuche für Kulturprojekte, die das Gastland in Österreich realisieren möchte. Dazu müssen ihre Netzwerke in Österreich gut verankert sein.430 Außerhalb Europas sollen österreichische Diplomaten das Motto der eu »Einheit in der Vielfalt« in den Vordergrund stellen. Dazu entstehen Netzwerke wie das Network of the International Cultural Relations Institutes, an dem Österreich mit 25 anderen eu-Staaten beteiligt ist.431 Mit der fortschreitenden europäischen Integration europäisieren sich auch die diplomatischen Aufgaben. Das geeinte Europa ruft. Die österreichischen Diplomaten müssen ihre Insel der Seligen verlassen, im Vertrauen auf die sie sozialisiert wurden.432 Es gibt noch nicht allzu viele unter ihnen, die sich für die Idee der europäischen Großfamilie begeistern, welche durch die eu-Erweiterung wieder zusammenfindet. Historisch wären Österreicher dafür prädestiniert. In Anbetracht des institutionellen Labyrinths der eu gedeiht diese Begeisterung allerdings nicht leicht. Bei dem Versuch, die komplexen Wechselwirkungen von eu-Politiken zu verstehen, wird man an die Spurensuche in der Zufallsforschung erinnert. Eine Aneinanderkettung von Ursachen und Folgen führt dazu, dass die Stärke eines Hurrikans an der Ostküste der usa auf den Flügelschlag eines Schmetterlings in der Sahara zurückgeführt werden kann. Warum erhöhen die prallen Euter subventionierter Turbokühe in Europa den Migrationsdruck aus Nordafrika  ? Landwirtschaftliche Subventionen in der eu drücken die Exporteinnahmen und das Gesamteinkommen in Nordafrika. Dies verringert die Beschäftigungszahlen und steigert den Migrationsdruck nach Norden. Die Manieren russischer Soldaten am Kaukasus beeinflussen sowohl die internationalen Verhandlungen zu Drogen- und Waffenhandel als auch die österreichische Asylpolitik. Diese wiederum hat Auswirkungen darauf, wie unbeschwert wir die Wiener U-Bahn in Zukunft benützen werden – ohne Zeugen einer Messerstecherei zwischen Flüchtlingen aus dieser Region werden zu müssen. Globale Zusammenhänge wie diese haben die Bedeutung von Sicherheit auf den Kopf gestellt. Nationale Sicherheit gibt es in der herkömmlichen Form nicht mehr, weil sie nicht mehr ausschließlich von Veränderungen in der eigenen Gesellschaft bestimmt und gewährleistet werden kann. Lokale Bedrohungen haben globale Auswirkungen und umgekehrt. Politisches Chaos, Armut, illegale Immigration und Klimawandel betreffen uns alle.433 Materielle Verteidigungskapazitäten reichen zu ihrer Bewältigung nicht mehr aus. An ihre Stelle rückt ein stetig wachsendes multilaterales Regelwerk an Maßnahmen, über die ein ebenso wachsender Kreis von internationalen Organisationen und aufstrebenden Wirtschaftsmächten mitentscheidet 434

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Österreich kann aktiv mitmischen. Im Europäischen Auswärtigen Dienst werden, wenn er voll aufgestellt ist, ungefähr 20 österreichische Diplomaten vertreten sein. Sie werden auf vier bis acht Jahre bestellt und können danach wieder in ihren nationalen Dienst zurückkehren. Im Europäischen Auswärtigen Dienst vertreten sie dann jene außenpolitischen Anliegen der Union in der Welt, auf die sich alle eu-Mitglieder einigen können oder sollen. Dafür müssen die europäisch denkenden Diplomaten Sitzungen zu unterschiedlichsten Themen moderieren und zwischen sich widersprechenden Positionen der eu-Mitgliedsstaaten vermitteln. Sie dürfen dabei die Interessen ihres Landes nicht in den Vordergrund stellen. Sie werden feststellen, dass die bürokratischen Strukturen und Entscheidungsprozesse Brüssels ein Eigenleben haben, in dem der Geist der Konsenskultur konkurrierenden Strukturen gegenübersteht mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen und Imponderabilien  : Feilschen um Details, Kuhhandel und die Dominanz der Großen über die Kleinen nach dem Motto  : »La raison du plus fort est toujours la meilleure.«435 Für außenpolitische Projekte werden die europäischen Diplomaten ihre hohle Hand nach der Europäischen Kommission ausstrecken. Sie verwahrt den Großteil des Budgets, auf das sie nicht direkt zugreifen können. Die Aufgaben der europäischen Diplomaten orientieren sich an der Vision eines Jean Monnet und eines Robert Schuman, der vollständigen politischen Einigung Europas. Sie wird bis heute als Weltfriedensutopie kantianischen Ausmaßes belächelt. Sie sei nicht realisierbar, weil sie sich nicht automatisch aus der wirtschaftlichen Integration Europas ergeben hätte. Anhänger der Theorie des Offensiven Realismus gehen noch weiter  : Die eu könne sich ihre globalen Ziele und Werte  – Weltfrieden, Demokratie und Menschenrechte  – nur so lange leisten, als die usa den globalen Sheriff spielten, bemüht um das Kräftegleichgewicht zwischen den sich neu bildenden Machtblöcken.436 Europa schere sich wenig darum. Das eu-Wertesystem würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenbrechen, wenn die usa sich aus der nato zurückzögen. Für »feige und dumme« Diplomaten wird es keine leichte Aufgabe sein, die Welt eines Besseren zu belehren, zumal selbst die europäische Bevölkerung, verunsichert durch die hartnäckige Finanzkrise, an den Vorteilen einer weiter wachsenden Integration zweifelt. »Catherine Ashton wants You  !« Der Aufruf mit dem ausgestreckten Zeigefinger löst beim europäischen Fußvolk noch keine Begeisterungsstürme aus. »Who is ready to die for Ashton  ?«, wird man daraufhin hören.437 Noch ist sie, die »Hohe Vertreterin der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union«, nicht das Zugpferd europäischer Solidarität.438 Zu groß sind die nationalstaatlichen politischen Interessen, als dass sie die Geschicke der 27 Mitgliedsstaaten von Brüssel aus lenken könnte. Von den nationalen Außenministern wird sie noch nicht als Vorgesetzte betrachtet. Als sie im Feber 2011 in Kairo eintraf, um dem ägyptischen Volk die Solida-

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rität und Unterstützung der eu zu bekunden, hatte der britische Premierminister ihr bereits die Schau gestohlen – er war ein paar Stunden vorher dort. Fazit Diplomaten sind Netzwerker, Eventmanager und Fundraiser geworden. Einfluss und Ruf des diplomatischen Dienstes werden davon abhängen, wie diese Qualitäten gefördert werden. Eine zeitgemäße Karikatur des Diplomaten müsste entsprechend angepasst werden. Handys am Ohr ersetzen die Orden auf der Brust. An die Stelle des Brötchen essenden Cocktailhüpfers tritt der gehörgeschädigte Dauertelefonierer, der an Magengeschwüren leidet und die Geburtstage seines Partners und seiner Kinder vergisst. Passé ist die Vorstellung, dass österreichische Diplomaten an einer Botschaft im Ausland die Wünsche und Bedürfnisse ihres Landes exklusiv vertreten. Überflüssig ist der österreichische diplomatische Dienst deshalb nicht geworden. Wer würde die konsularischen Pflichten im Ausland sonst wahrnehmen  ? Wer würde Lobbying für den Standort Österreich betreiben und Kontakte für österreichische Unternehmen knüpfen  ? In Fragen, in denen Prestige das Zustandekommen eines Geschäfts oder Projekts beeinflusst, erweisen sich persönliche Einladungen in die Residenz des Botschafters als nützlich  : Als geschäftsfördernde Maßnahme muss manchmal auch ein Schulterreiben beim leidenschaftlichen Pilzesuchen, beim Golfspiel oder Walzertanz herhalten. Gegenüber attraktiveren Konkurrenten muss der österreichische Diplomat mitunter zu List und Tücke greifen, um die Interessen seines Landes bestmöglich zu positionieren. Wer würde die österreichischen Kulturprojekte durchführen und jungen, noch unbekannten österreichischen Künstlern ein Podium im Ausland bieten, wenn es keine Kulturforen mehr gebe  ? Wer, wenn nicht der Diplomat, würde die Beziehungen zu in Wien vertretenen Staaten im Ausland pflegen, um Wien als Amtssitz neu zu schaffender internationaler Organisationen zu bewerben,439 oder Lobbying für internationale österreichische Kandidaturen im Ausland betreiben  ? Diese und andere Aufgaben sorgen für einen abwechslungsreichen Alltag, der dem Diplomaten etwas bietet, das die europäischen Bildungsminister erst kürzlich ein zent­ rales Handlungsfeld für die Zukunft genannt haben  : lebenslanges Lernen. Allerdings können sich aus dem ständigen Ortswechsel Kollateralschäden für seine Privatsphäre ergeben. Die meisten Partner von Diplomaten gehen heute im Inland einem eigenen Beruf nach, den sie mit wenigen Ausnahmen an den Nagel hängen müssen, wenn sie ihren Diplomaten ins Ausland begleiten. Sie können auch nicht damit rechnen, dass ihnen nach der Rückkehr ins Inland der Wiedereinstieg ins Berufsleben gelingt. Lebenslang geübt werden muss auch die Verbindung von diplomatischer Diskretion und Transparenz. Beide sind notwendig, und sie schließen einander nicht aus. »Don’t

Die österreichische Diplomatie – Hat sie eine große Zukunft hinter sich  ?

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be absurd, Minister. One can be open, or one can have government  !«, belehrte der machiavellistische Unterstaatssekretär Sir Humphrey Appleby seinen frisch gebackenen Außenminister James Hacker, als dieser ihm einen Entwurf über die Vorzüge einer offenen Regierungsführung zeigte.440 Wer hat recht, Sir Humphrey oder James Hacker  ? In der Tat  ! Sie haben beide recht. Ein guter Diplomat hat Humor und eine gewisse Distanz zu sich selbst, sonst verwechselt er die Wichtigkeit seines Amtes mit der eigenen und macht sich lächerlich. Sein persönlicher Ruf färbt unweigerlich auf sein Land ab. Er braucht Zivilcourage, denn er kann nicht immer wertfrei agieren und sich hinter Loyalitätspflicht und Paragrafen verstecken. Es gibt Momente in seiner Karriere, in denen sich die Frage des Gewissens stellt. Dann zeigt sich, ob er ein willenloser Weisungsempfänger ist und sich den Wahlspruch »adulatores cadere non possunt« – »Wer kriecht, kann nicht fallen« – zu eigen gemacht hat oder ob er nach der Metapher Vaclav Havels »im Einklang mit seinem Gewissen« leben möchte.441 Das bedeutet, dass er manchmal ohne Rückendeckung handeln oder einer Weisung widersprechen muss, auch wenn dies negative Konsequenzen für seine Karriere zur Folge hat. Mit einem reinen Gewissen lebt es sich jedoch glücklicher. Die österreichische Diplomatie hat das in der Geschichte einzigartige Privileg genossen, seit sechsundsechzig Jahren in keinen Krieg mehr verwickelt gewesen zu sein. Ihr Alltagsgeschäft ist in hohem Maße durch Routine geprägt und gibt wenig Anlass zu heroischen Taten. Das bedeutet aber nicht, dass jene Grundeinstellung überflüssig geworden ist, aus welcher Heroismus im Ausnahmezustand entspringen kann  : die aufrechte Gesinnung. Sie schmückt den guten Diplomaten, wenn er sie im Alltag pflegt, anstatt sich auf die Bedeutungslosigkeit seines Amtes auszureden oder auf den beschränkten Einfluss seines Staates auf das Weltgeschehen. Bewähren müssen sich Diplomaten auch angesichts der jüngsten Ereignisse in unserer Nachbarschaft, in Nordafrika und im Nahen Osten. Sie müssen nach innovativen Ansätzen suchen, weil die existierenden Strukturen der Europäischen Nachbarschaftspolitik dazu nicht ausreichen. Andernfalls werden sie sich den Vorwurf gefallen lassen müssen, dass die diplomatischen und militärischen Interventionen ausschließlich dem Erhalt des Einflusses ihrer Staaten in der Region gedient und die europäischen Werte verraten haben.442 Man denke an die berühmte Karikatur, die den ehemaligen us-Präsidenten George H. W. Bush zeigt, als er im Jahr 1989 nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens Peking besucht. Inmitten von Leichenbergen und Trümmerhaufen stehend raunt er seinem chinesischen Gastgeber zu  : »And now, Mister President, may I interest you in some more bicycles  ?«443

Übersetzung444 der Dankesurkunde Maurice Hechts

maurice hecht 26. Dezember 1945 Geb. am 7. April 1887 in Sedan (Ardennen). Am 8. Juni 1944 von der Gestapo gefangengenommen, nach Compiègne und dann nach Dachau deportiert, Matr. Nr. 76932, bis 13. Mai 1945.     Sehr geehrte Herren, es hat mir unendlich leidgetan, meinen Sohn bei seinem Besuch im November in Ihrem Genfer Büro nicht begleiten zu können. Es wäre mir sehr daran gelegen, Ihnen meinen persönlichen Dank auszusprechen. Ihre Lebensmittelpakete haben uns beiden während unserer Deportation ins Konzentrationslager Dachau physisch und moralisch Halt gegeben. Welche Genugtuung, festzustellen, dass wir, dem deutschen Willen zum Trotz, nicht vom Rest der Welt isoliert waren, dass jemand wusste, wo wir uns befanden und wir daher nicht verlassen waren. All das hat uns die innere Kraft gegeben, die Inhaftierung mit Geduld zu ertragen. Es wurden uns sicherlich nicht alle Pakete ausgehändigt, aber jene, die wir bekamen, waren höchst willkommen. Sie haben dazu beigetragen, unsere Gesundheit wiederherzustellen. Ich kann Ihnen zwei Fälle solcher Genesung berichten, die ich mit eigenen Augen gesehen habe. Einer unserer Kameraden war in einem bedrohlichen Zustand physischer und moralischer Schwäche. Nach Erhalt und Genuss einer Ihrer Sendungen hat er sichtlich an Gewicht und Zuversicht gewonnen. Ich selbst (das Wort »ich« ist mir zuwider) war, als ich nach einer schweren Lungenentzündung aus der Krankenstation entlassen wurde, extrem geschwächt. Mein Sohn und die anderen Kameraden haben feststellen können, wie ich nach dem Genuss der verschiedenen Lebensmittel gestärkt und neu belebt wurde. Diese ist eine stark verkürzte Schilderung der segensreichen Wirkung der wunderbaren Arbeit des irk zugunsten der Deportierten, deren Auslöschung die Deutschen sich vorgenommen hatten und deren gänzliches Verschwinden von Hitler angeordnet worden war. Das irk hat der deutschen Barbarei Einhalt geboten und seine Anstrengungen wurden mit Erfolg gekrönt. Dieser Brief wird leider die Gefühle tiefster Dankbarkeit, die ich dem irk schulde, nicht ausreichend vermitteln. Ich kann nur für all das, was das Rote Kreuz geleistet

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hat, um uns Deportierte vor der deutschen Barbarei zu retten, meinen wärmsten Dank aussprechen. Mit dem Ausdruck tiefster, aus dem Herzen kommender Dankbarkeit M. Hecht

Vom NS-Regime verfolgte Mitglieder des Hauses Schwarzenberg445 Georg Schwarzenberg (1870–1952) wird am 28. März 1938 von der Gestapo Wien wegen »betonter legitimistischer Betätigung und Mitgliedschaft beim ›Reichsbund der Österreicher‹446 festgenommen, jedoch am 24. 4. 1938 wieder aus der Haft entlassen.«447 Adolph Schwarzenbergs (1890–1950) ablehnende Haltung gegenüber dem nationalsozialistischen Regime war kein Geheimnis. So brachte er ein mit der Aufschrift »Hier sind Juden willkommen« versehenes Schild am Zugang zum Garten des Palais Schwarzenberg auf der Prinz-Eugen-Straße gut sichtbar an. Gleich schräg gegenüber befand sich das (nach dem Krieg abgerissene) Palais der Familie Rothschild, Hausnummer 20–22, ab 1938 »Zentralstelle für jüdische Auswanderung«, das dem ssObersturmbannführer Eichmann als »Dienstsitz«448 zugewiesen worden war. Durch diese Parkpforte konnten nun verfolgte Juden in den Garten des Palais Schwarzenberg gelangen, um dort, von den von den Nationalsozialisten verstärkt geschürten antisemitischen Übergriffen verschont, den Park zu nutzen. Allerdings währte dieser Zustand nur etwa zwei Jahre lang, denn am 8. August 1940 wurde der Garten von der Gestapo beschlagnahmt und der Zutritt für die jüdische Bevölkerung verboten. Aufgrund seiner immer wieder offen gezeigten regimekritischen Einstellung geriet Adolph Schwarzenberg zunehmend ins Visier der Nationalsozialisten  ; so auch, als er aus Protest gegen die Beraubung seiner jüdischen Mitgesellschafter und Direktoren bei der »Arisierung« der Eskomte Bank Prag 1939 als deren Verwaltungsrat zurücktrat. Weil mit Kriegsbeginn seine Verhaftung durch die Gestapo angeordnet war, musste er die Tschechoslowakei (Protektorat Böhmen und Mähren) verlassen. In der Nacht des 30. August 1939 floh er mit seiner Frau Hilda (1897–1979) aus Schloss Frauenberg449 nach Bordighera.450, 451 Am 17. August 1940 wurde durch die Linzer Gestapo-Dienststelle sein gesamtes Eigentum im deutschen Machtbereich beschlagnahmt. Adolph und Hilda emigrierten zu Beginn des Jahres 1941 nach Amerika, von wo aus Adolph die tschechoslowakische Exilregierung in London durch Überweisungen von Erträgnissen seiner Impala-Farm in Kenia auf deren Konto in Kairo weiterhin unterstützte. Adolphs Schwager, Karl Ludwig Freiherr zu Guttenberg (1902–1945),452 war aktiv im Widerstand um die Attentäter vom 20. Juli 1944 involviert. Guttenberg machte schon 1939 Carl Goerdeler vom Kreisauer Kreis mit dem Diplomaten und Widerständler Ul-

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rich von Hassell bekannt und arbeitete seit 1941 in der militärischen Abwehr für Wilhelm Canaris. Er befand sich gemeinsam mit dem Salzburger Altlandeshauptmann Dr. Franz Rehrl (1890–1947), der dies Johannes E. Schwarzenberg brieflich453 nach seiner Rückkehr nach Salzburg mitteilte, in der Lehrterstraße in Haft. Am 24. April 1945 wurde Guttenberg, der schon seit 1943 von der Gestapo verdächtigt und observiert worden war,  von Rollkommandos gemeinsam mit Graf Albrecht Bernstorff (1890– 1945) und dem Sozialdemokraten Ernst Schneppenhorst (1881–1945) abgeholt und vermutlich in der Ausstellungshalle des Lehrterbahnhofs ermordet. Bis zuletzt war es ihm durch die Bestechung der Lagerwachen gelungen, sich Zugang zu den Zellen anderer Häftlinge zu verschaffen und diesen beizustehen454 . Auch Heinrich Schwarzenberg (1903–1965) wurde von den Nationalsozialisten wegen regimekritischen Verhaltens verfolgt. Er wurde von seinem Vetter Adolph vor seiner Ausreise am 6. September 1939 zu seinem Generalbevollmächtigten bestellt und 1940 adoptiert. Seine Vollmacht wurde sofort von der Gestapo beschlagnahmt. Er hielt sich im August 1940 in Bordighera auf und versuchte, von dort aus gegen die Konfiskation zu berufen. Da ihm seine Reisedokumente vom deutschen Konsul in San Remo abgenommen worden waren und er sich regelmäßig bei der lokalen Polizei melden musste, war ihm die Rückkehr nach Schloss Frauenberg unmöglich. Nach dem Badoglio-Waffenstillstand (3. September 1943) war die Gestapo am 28. Oktober 1943 nach Italien eingerückt  ; Heinrich Schwarzenberg wurde auf persönlichen Befehl Himmlers verhaftet. Nach Aufenthalten in Gefängnissen in Genua, Mailand, Verona, Linz und in St. Pakrac in Prag wurde er in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt. Dank einer Intervention und mit Rücksicht auf die Verdienste seines Vaters, des Generals Felix Schwarzenberg (1867–1946), im Ersten Weltkrieg wurde seine kz-Haftstrafe aufgehoben  ; am 21. August 1944 wurde er – wieder auf Befehl Himmlers – aus Buchenwald entlassen, um in der Folge als Zwangsarbeiter in der Rüstungsindustrie in Linz unter unmenschlichen Bedingungen zu arbeiten. Bei Kriegsende war er im Zweigwerk der Linzer Firma Voigt & Haffner in den Kellern der Greinburg in Grein an der Donau455 beschäftigt. Unter anderem war er dabei auch für Buchführung des herzustellenden Rüstungsmaterials zuständig. Als ihn ein Schreiben erreichte, das die Einstellung der Produktion eines bestimmten Waffenutensils anordnete, ließ Heinrich dieses Schreiben verschwinden und die Produktion darüber eine Zeitlang ins Leere laufen.456 Gemeinsam mit Arbeitskameraden gelang es ihm, die von der ss zwecks Spurenverwischung bereits angebrachten Sprengsätze zur Zerstörung der Greinburg zu entfernen und in die Donau zu werfen  ; es war dies eine für alle Beteiligten lebensgefährliche Aktion, zumal zu diesem Zeitpunkt gerade im Bereich der »Alpenfestung« noch ausreichend ss-Streifen zur Ahndung solcher Sabotageakte und »Wehrkraft zersetzenden Verhaltens« im Gelände umherstreiften. Josef Schwarzenberg (1900–1979) war am 11. Mai 1940 von seinem Bruder Hein-

Vom NS-Regime verfolgte Mitglieder des Hauses Schwarzenberg

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rich als sein ständiger Vertreter in Angelegenheiten des Voluptuars sowie mit der Inspektion auf dem Gesamtbesitz betraut worden  ; Josef wurde am 26. August 1940 von der Führung der dienstlichen Angelegenheiten entbunden und wurde von den Nationalsozialisten gezwungen, Schloss Frauenberg innerhalb von 48 Stunden zu verlassen. Er wurde Angestellter des »Archivs der Gegenwart« in Berlin, um den dort weiterhin gewährten Zugang zu internationalen Presse- und Radionachrichten zu nutzen, bis er 1945 zum Volkssturm eingezogen und von diesem in Frankreich eingesetzt wurde. Josefs und Heinrichs Schwester Eleonore Schwarzenberg (1904–1984) versorgte während des Nazi-Regimes untergetauchte Juden mit Lebensmitteln und Medikamenten. Dabei wurde sie von der Gestapo verhaftet. Sie verschluckte ihre Adressenliste und spielte die verblödete Prinzessin so überzeugend, dass die Gestapo auf das Auspumpen ihres Magens verzichtete und sie entließ. Der Historiker Oliver Rathkolb kommt zum Schluss, dass Johannes E. Schwarzenbergs (1903–1978) »offene anti-preußische/anti-deutsche/anti-nationalsozialistische Grundgesinnung, die besonders in seiner Arbeit und seinen Aktivitäten in Berlin deutlich wird«457, ihm das Vertrauen seiner proösterreichischen Vorgesetzten im Auswärtigen Amt einbrachte. Nach dem Anschluss 1938 war Johannes höchst gefährdet, da er in der österreichischen Gesandtschaft in Berlin mit den Ausbürgerungen der geflüchteten illegalen Nationalsozialisten, die der »Österreichischen Legion« beigetreten waren, befasst war. Dass er damals nicht ins kz verschleppt wurde, wie andere mit dieser Tätigkeit befasste Diplomaten, verdankt er seiner rechtzeitigen Flucht aus Berlin  ; er floh zuerst nach Belgien, mit Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien am 10. Mai 1940 floh er weiter nach Frankreich, von wo aus er schließlich Ende Mai 1940 die Schweiz erreichte. In der Schweiz fand er gegen Ende 1940 eine Stelle als Leiter der Übersetzungsabteilung beim Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ikrk)  ; ab Ende 1942 leitete er die Division d’Assistance Spéciale (das). Diese Abteilung des ikrk befasste sich mit dem Los der »rassisch Deportierten« und organisierte Hilfspaketsendungen in die Konzentrationslager. Neben seiner aufreibenden Tätigkeit für das das setzte er sich auch für vom ns-Regime verfolgte Österreicher in der Schweiz ein. Er begründete mit Dr. Kurt Grimm und den Sozialdemokraten Ludwig Klein und Anton Lindner das »Schweizerische Hilfswerk für ehemalige Österreicher« und setzte alle seine Kontakte zum Schweizer Bundesrat, den Alliierten und den neutralen Mächten zugunsten der Ziele dieses Hilfswerks ein. Außerdem betätigte er sich gegen Kriegsende im österreichischen Widerstand im Umfeld der »Verbindungsstelle Schweiz«, eine von den Widerstandsaktivisten Fritz Molden und Hans Thalberg gegründete Gruppe, die intensive Kontakte zu den Alliierten458 – und hier vor allem zum

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Office of Strategic Services (oss) – herstellte. Johannes Schwarzenberg wurde von der oss-Zweigstelle Bern unter der code number 837459 geführt. Karl (VI.) Schwarzenbergs (1911–1986) Besitz war von Mai 1942 bis Kriegsende 1945 unter deutsche Zwangsverwaltung gestellt worden.

Autorinnen und Autoren

Oliver Rathkolb, geb. 1955 in Wien, Dr. iur., Dr. phil., Univ.-Prof. am Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und Institutsvorstand  ; ehemaliger Leiter des neu gegründeten Ludwig Boltzmann-Instituts für Europäische Geschichte und Öffentlichkeit 2005–2008  ; 1985–2004 wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Bruno Kreisky Archiv, seit Februar 1992 in Verbindung mit der Funktion des Wissenschaftskoordinators des Bruno Kreisky Forums für Internationalen Dialog  ; seit 2004 Herausgeber der Fachzeitschrift »Zeitgeschichte«  ; ausgezeichnet mit dem Donauland-Sachbuchpreis Danubius 2005 und dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch 2005 (Die paradoxe Republik. Österreich 1945–2005, Zsolnay Verlag)  ; Mitglied des wissenschaftlichen Beirats des Europa-Museums Brüssel, Europäisches Parlament. Peter Jankowitsch, geb. 1933 in Wien, Botschafter Dr., hat Österreich als ständiger Vertreter bei den Vereinten Nationen in New York, bei der oecd in Paris und bei zahlreichen großen internationalen Konferenzen, darunter vielen Gipfeltreffen der Blockfreien oder der Organisation Frankophoner Staaten, auf allen Kontinenten vertreten. Mehrmals in den Nationalrat gewählt, gehörte er auch zweimal der Bundesregierung als Außenminister und Staatssekretär für Europa an. Gegenwärtig ist er u. a. als Generalsekretär des Österreichisch-Französischen Zentrums für europäische Annäherung und als Experte für Weltraumfragen in gemeinsamen Organen der Europäischen Union und der Europäischen Weltraumagentur esa tätig. Maximilian Liebmann, geb. 1934 in Dillach, em. o. Univ.-Prof. Dr.; Studium der Theologie an der Karl-Franzens-Universität Graz  ; 1961 Promotion zum Doktor der Theologie  ; 1979 Habilitation, 1979 ao.  Universitätsprofessor für Kirchengeschichte  ; 1982 Leiter der Abteilung für Theologiegeschichte und kirchliche Zeitgeschichte  ; vom 1. Februar 1989 bis 30. September 2002 Ordentlicher Universitätsprofessor für Kirchengeschichte an der Karl-Franzens-Universität Graz  ; von 1991 bis 1999 Dekan, 1995–2003 Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft der österreichischen Kirchenhistoriker  ; seit 1. Oktober 2002 emeritiert. Gabriella Dixon, geb. 1964 in Athen, Mag. phil.; 1985 Diplom Fondazione per i centri Europei di lingua e cultura in Florenz  ; 1986 University of London  : The London School of Translators and Interpreters – Diploma in English/German Business

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Autorinnen und Autoren

English  ; 1985–1987 Fine Arts Course – Auktionshaus Christie’s in London  ; 2003 Abschluss des Studiums der Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien  ; 2009–2011 örk Projekt »Startwohnungen für Asylberechtigte Familien« des Wiener Roten Kreuzes  ; 2011/12 gemeinsam mit Marysia Miller-Aichholz Leitung der öaw-Kurse I/II »Communicating Science to the Public – Englische Konversationskurse für Wissenschaftler«. Derzeit ist Dixon für die Katharina Turnauer Privatstiftung tätig. Christoph Meran, geb. 1963 in Innsbruck. Gesandter  ; 1989 Mag. Phil. der Universität Wien (Übersetzer- und Dolmetsch-Studium  ; Russisch, Französisch)  ; 1992 Abschluss der Musikhochschule in Wien (Klavier und Pädagogik)  – Österreichischer Würdigungspreis  ; 1995 llm am Europakolleg in Brügge  ; 1996 Eintritt in das Außenministerium in Wien  ; 1997 Albanien  ; 1999–2006 Washington, D.C.  ; 2007 Lektor an der Princeton University, usa  ; 2007–2011 stellvertretender Abteilungsleiter der Nahostabteilung in Wien  ; seit September 2011 Direktor des Österreichischen Kulturforums Rom. Colienne Meran-Schwarzenberg, Hg., geb. 1937 in Berlin, 1938 Flucht nach Belgien und 1940 in die Schweiz. Ab 1947 Besuch des französischen Lyzeums in Rom, 1955 Matura am französischen Lyzeum in London und Ausbildung zur Pianistin am Royal College of Music, Abschluss 1959 beim Busoni-Schüler Rio Nardi am Luigi-Cherubini-Konservatorium in Florenz  ; 1961 Abschluss des Studiums der Bakteriologie am Institut Pasteur in Lille, Frankreich  ; 1961 Heirat mit Maximilian Meran  ; seitdem als Hausfrau, Mutter und Großmutter ausgelastet und zufrieden.   Marysia Miller-Aichholz, Hg., geb. 1968 in Klagenfurt  ; seit 2001 fortlaufend als freiberufliche Lektorin und Übersetzerin u. a. für den Manz Verlag, die Universität Wien und die Österreichische Akademie der Wissenschaften öaw (iwe/eif, ita) tätig. Rezente Publikationen  : Alpine Forests (2009) mit Thomas Amonn für die European Landowners Organization (elo), Brüssel  ; gemeinsam mit Manfredi Manera Erstellung des Kurzberichtes »Ein neuer Venezianer. Der Dalai Lama in Venedig« für den orf. Gemeinsam mit Mag. Gabriella Dixon 2011/12 Leitung der öaw Kurse I/II »Communicating Science to the Public  – Englische Konversationskurse für Wissenschaftler«. Erkinger Schwarzenberg, Hg., geb. 1933 in Wien, Dr. phil  ; 1938 Flucht nach Belgien und 1940 in die Schweiz, verbrachte Kriegsjahre bis 1945 in Genf. Besuch der Universitäten Oxford und Princeton, Studienabschluss an der Universität München mit einer Dissertation Ende 1964 über die drei Grazien  ; 1964–1967 Assistent am

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Archäologischen Institut der Universität Bonn  ; lebt derzeit in der Toskana und baut Oliven an. Verschiedene Arbeiten und Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Kunstund Geistesgeschichte (Forschungsschwerpunkt  : Alexander der Große und seine Zeit).

Anmerkungen Anmerkungen zu Gedanken und Erinnerungen – Niedergeschrieben für meine Kinder und Enkel   1 Berthold Auerbach (1812–1882), deutscher Schriftsteller. »Für einen Vater, dessen Kind stirbt, stirbt die Zukunft. Für ein Kind, dessen Eltern sterben, stirbt die Vergangenheit.«   2 Publius Ovidius Naso (43 BC-17 AD), »Metamorphoses« 1. 89–93 (Die vier Weltzeitalter)  : »Das erste Zeitalter war das goldene, das aus eigenem Antrieb ohne Vollstrecker, ohne Gesetz Treue und Recht pflegte. / Es gab weder Strafe noch Furcht, noch waren drohende Worte in Erz festgehalten, noch fürchtete die Menge kniefällig den Mund des Richters, sondern man war auch ohne Beistand sicher.« (Anmerkung der Hg. M.-A.)   3 Karl (IV.) Fürst Schwarzenberg, geb. 1. 7. 1859 zu Cimelic, gest. 4. 10. 1913 zu Worlik, heiratete am 24. 11. 1891 in zweiter Ehe Ida Gräfin Hoyos, geb. 31. 8. 1870 zu Horn, gest. 27. 1. 1946 zu Wien. (Anmerkung der Hg.: Genealogische Fußnoten wurden von Lori Cornides sowie Ernst und Marie Waldstein anlässlich der Privatherausgabe der Memoiren im Jahre 1981 recherchiert und erstellt. Ihre Anmerkungen werden von hier ab mit [Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981] gekennzeichnet.)   4 Übersetzung von Worlik (tschech. Orlik, von »orel« – »der Adler«), Hauptsitz der Sekundogenitur der Schwarzenbergs. Worlik kam aus Schwanbergischem Besitz über die Eggenbergs im Erbweg 1719 an die Familie Schwarzenberg. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981)   5 Johann Wolfgang Goethe (1749–1832). »Vom Vater hab ich die Statur, / Des Lebens ernstes Führen, / Vom Mütterchen die Frohnatur / Und Lust zu fabulieren.« (Anmerkung der Hg. M.-A.)   6 Karl IV. starb 1913 an einer Blutvergiftung. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981)   7 Max Herzog von Hohenberg (1902–1962), ältester Sohn des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand und der Sophie, Herzogin von Hohenberg, geb. Gräfin Chotek (beide am 28. 6. 1914 in Sarajevo ermordet)  ; verheiratet mit Gräfin Liese Waldburg-Wolfegg  ; sechs Söhne. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981)   8 Friedrich Prinz Schwarzenberg, geb. 30. 10. 1862 zu Worlik, gest. 2. 10. 1936 zu Tochovic, verheiratet 2. 7. 1890 mit Christiane Gräfin von Schönborn, geb. 11. 6. 1872, gest. 14. 9. 1918. Die Ehe blieb kinderlos. Friedrich Schwarzenberg war 1893 böhmischer Landtagsabgeordneter, 1895 Reichsratsabgeordneter, erbte 1904 die Herrschaft Tochovic. 1905 Geheimer Rat, 1906–1936 Präsident der Ersten Böhmischen Versicherungsanstalt, ab 1907 Mitglied des Herrenhauses, 1909–1928 Präsident des Böhmischen Landeskulturrates, 1909–1929 Präsident der Gesellschaft des Landesmuseums, 1912–1923 Präsident der Böhm. Forstunion. Er wurde 1914 Vermögensverwalter seines Großneffen Karl bis zum Ende der zwanziger Jahre. Politisch vertrat er die Wahrung des alten böhmischen Staatsrechtes mit dem Ziel, den Bestand der Monarchie zu erhalten. Nach 1918 zog er sich aus der Politik zurück. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981)   9 Der in Böhmen übliche Ausdruck für Obers. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 10 Pius X. (Giuseppe Melchiorre Sarto  ; 1835–1914) war von 1903 bis 1914 Papst. Als konservativer Initia­ tor kirchlicher Reformen kämpfte er gegen den »Modernismus« und veranlasste die Kodifizierung des Kanonischen Rechts. 1954 wurde er von Pius XII. heiliggesprochen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 11 Johann Wolfgang Goethe (1749–1832), »Lied des Harfners«. »Wer nie sein Brot mit Tränen aß, / wer nie die kummervollen Nächte / auf seinem Bette weinend saß, / der kennt euch nicht, ihr himmlischen

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Anmerkungen

Mächte. / Ihr führt ins Leben uns hinein, / ihr laßt den Armen schuldig werden, / dann überlaßt ihr ihn der Pein  ; / denn alle Schuld rächt sich auf Erden. / Ihm färbt der Morgensonne Licht / den reinen Horizont mit Flammen, / und über seinem schuld’gen Haupte bricht / das schöne Bild der ganzen Welt zusammen.« (Anmerkung der Hg. M.-A.) 12 Friedrich Prinz Schwarzenberg, geb. 6. 4. 1809 zu Wien, gest. 27. 3. 1885 zu Prag, als jüngstes von neun Kindern des Feldmarschalls. 1829 Domizellar in Salzburg, 1833 Priesterweihe, 1836 Fürsterzbischof von Salzburg, 1842 Kardinal, 1850 Fürsterzbischof von Prag  ; er nahm 1854 teil an den Beratungen des Kardinalskollegiums, die zur Verkündigung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis Mariä führten, wobei er Bedenken über die Opportunität dieser Verkündigung äußerte. Anlässlich des Ersten Vatikanischen Konzils äußerte er große Bedenken gegen das Unfehlbarkeitsdogma und stimmte auch dagegen. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 13 Erstes Vatikanisches Konzil (1868–1870). Von Papst Pius IX. einberufen, um einerseits die kirchliche Gesetzgebung der Zeit anzupassen und andererseits um seitens der römisch-katholischen Kirche gegen die »modernen Irrtümer« Stellung zu beziehen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 14 Unfehlbarkeit des Papstes. Diese Doktrin besagt, dass der Papst in speziellen Umständen bei der Verkündigung eines Dogmas nicht irren kann. Diese Doktrin soll im Falle eines Streites innerhalb der Kirche gewährleisten, dass der Papst dazu das letzte Wort hat. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 15 Denarius Sancti Petri. Die Einführung der Sammlung des Peterspfennig geht auf das 8. Jahrhundert zurück und wurde erstmals in England, als Ausdruck der Verbundenheit mit dem Papst und den karitativen Aufgaben des Heiligen Stuhls, eingesammelt. Diese Gepflogenheit verbreitete sich rasch in ganz Europa und hatte ein wenig den Charakter einer zweckgebundenen Kirchensteuer, z. B. für den Umbau des Petersdoms in Rom  ; im 19. Jahrhundert wurde der Peterspfennig immer mehr als eine freiwillige Spende betrachtet. Am Fest der Heiligen Apostel Peter und Paul, am 29. Juni und/oder am darauf folgenden Sonntag, wird dieser weltweit eingehoben und dem Vatikan zur Verfügung gestellt. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 16 Wilhelmine Fürstin Schwarzenberg, geb. Prinzessin von Oettingen-Wallerstein, geb. 30. 12. 1833 zu Königsaal, heiratete 5. 3. 1853, gest. 18. 12. 1904 zu Prag, Tochter des Karl Ernst Fürst zu OettingenWallerstein und der Maria Anna, geb. Gräfin Trauttmansdorff. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 17 Hans Makart (1840–1884) war ein österreichischer Maler, der sich sehr am Stil Tizians und Rubens’ orientierte. Seine Malerei zeichnete sich durch fast ins Theatralische gesteigerten Pathos, leuchtende Farben und starker Sinnlichkeit aus. Makarts Stil, der einen Hang zum Pompösen und Üppigen aufwies, war prägend für die Ringstraßenepoche, er zeichnete verantwortlich für die Decken- und Wandgestaltung im Belvedere und im Wiener Kunsthistorischen Museum. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 18 Franz Schalk (1863–1931) war ein österreichischer Dirigent, Schüler des Komponisten Anton Bruckner. Er leitete von 1904 bis 1921 die Konzerte der Gesellschaft der Musikfreunde, 1918 bis 1929 war er Leiter der Wiener Staatsoper. Schalk teilte von 1919 bis 1924 mit Richard Strauss die Leitung der Wiener Staatsoper. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 19 Richard Mayr (1877–1935) war ein österreichischer Opernsänger (Bassist). Er sang 1911 bei der Uraufführung der Oper »Der Rosenkavalier« von Richard Strauss die Rolle des Baron Ochs auf Lerchenau. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 20 Rudolf Kassner (1873–1959) war österreichischer Kulturphilosoph, Schriftsteller, Essayist und Übersetzer. Er studierte Geschichte, Philosophie und Nationalökonomie in Wien und Berlin (Dissertation  : Der ewige Jude in der Dichtung, 1897). Kassner war eng befreundet mit Paul Valery, André Gide, Rilke, Hoffmannsthal u. a. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 21 Albert Graf Mensdorff-Pouilly (1861–1945), Geheimer Rat und Kämmerer, Komtur des Deutschen Ritterordens, a.o. Botschafter, blieb unverheiratet. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981)

Anmerkungen

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22 Karl Graf Lanckoronski (1848–1933), Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies, Mitglied des Herrenhauses, k. u. k. Geheimer Rat und Kämmerer, Oberstkämmerer, Ehrendoktor der Universitäten Berlin und Krakau, hatte zwei Kinder. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 23 Wilhelm Furtwängler (1866–1954) war ein deutscher Dirigent und Komponist. Aufgrund seines internationalen Rufes umwarben ihn die Nationalsozialisten. Mit seiner Unterschrift des Aufrufs der Kulturschaffenden 1934 bekannte er sich zur Gefolgschaft des Führers. Taktische Gründe, nicht Gesinnungsübereinstimmung, veranlassten ihn, zum Teil mit ihnen zu kooperieren, um das Schlimmste zu verhindern. Furtwängler bemühte sich um verfolgte jüdische Musiker und Künstler, kritisierte die rassische Verfolgung vieler Künstler öffentlich und setzte sich wiederholt für »entartete« Komponisten wie Mendelssohn und Hindemith, hierbei das Aufführungsverbot umgehend, ein. Ab 1935 wurde er von den Nationalsozialisten seiner Ämter enthoben und wirkte dann nur noch als Gastdirigent bei den Berliner Philharmonikern. Er lebte größtenteils mit Regimebilligung in Luzern, drei Monate vor der sowjetischen Eroberung Berlins zog er endgültig nach Luzern. Nach dem Krieg belegten ihn die Alliierten mit einem Auftrittsverbot und zitierten ihn vor Gericht. Internationale Ächtung folgte auf dem Fuß. 1947 wurde er freigesprochen und durfte danach wieder die Berliner Philharmoniker dirigieren  ; ab 1952 wurde er wieder Chefdirigent der Berliner Philharmonie auf Lebenszeit. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 24 Karl (Kary) V. Fürst Schwarzenberg, geb. 26. 2. 1866, gest. 6. 9. 1914  ; einziger Sohn Karls IV. Fürsten Schwarzenberg aus der ersten Ehe mit Marie (Maitz) Gräfin Kinsky (18. 10. 1866 – 11. 5. 1889)  ; verheiratet 5. 2. 1910 mit Eleonore (Lori) Gräfin Clam-Gallas, Tochter des Grafen Franz und der Marie, geb. Gräfin Hoyos (Schwester der Mutter des Verfassers, Ida Fürstin Schwarzenberg)  ; geb. 4. 11. 1887, gest. 31. 5. 1967. Sie heiratete am 7. 6. 1921 wieder, und zwar Zdenko Radslav (Ra) Grafen Kinsky, gest. 1975). (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 25 Höchster Beamter im Königreich Böhmen und Stellvertreter des Königs (= des Kaisers)  : damals Franz (I.) Fürst Thun-Hohenstein (1847–1916)  ; war in erster Ehe verheiratet mit Anna Marie Prinzessin Schwarzenberg (1854–1898), Vaterschwester des Verfassers. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 26 Schloss der Grafen Eltz an der Donau in Slawonien  ; die an sich rheinische Familie Eltz erhielt diesen beträchtlichen Besitz zum Dank für die Mitwirkung des zu ihrer Familie gehörenden Kurfürsten von Mainz bei der Anerkennung der Pragmatischen Sanktion durch die Reichsfürsten (= Erbfolgeregelung für das aussterbende Haus Habsburg – also für Maria Theresia). (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 27 Der griechisch-türkische Krieg brach 1919 aus und endete im Jahre 1922. Die Kampfhandlungen setzten erst nach Unterzeichnung des Vertrages von Sévres ein. Dieser Vertrag sollte nach Beendigung des Krieges die Gebietsaufteilung des sich zersetzenden osmanischen Reiches regeln (das Königreich Griechenland hatte seit 1917 an der Seite der Entente gegen das osmanische Reich gekämpft). Griechenland beanspruchte unter Einsatz militärischer Mittel, der Μεγάλη Ιδέα  – der Vorstellung eines »Großgriechenland« – folgend, jene kleinasiatischen Osmanischen Gebiete, in denen Griechen lebten). Obzwar die beanspruchten Gebiete nach dem internationalen Völkerrecht weiterhin den Türken gehörten, sollten diese jedoch fünf Jahre lang von Griechenland verwaltet und beaufsichtigt werden, und nach Verstreichung der Frist sollte hinsichtlich der Frage des Verbleibs abgestimmt werden. Der griechische Eroberungszug wurde von Mustafa Kemal Pascha (»Atatürk«) und den Jungtürken, denen Italien mit Waffenlieferungen beistand, aufgehalten, und nun zogen die Jungtürken erfolgreich gegen die Griechen los. In diesem Feldzug wurde auch Smyrna (Izmir) zurückerobert, die griechischen und armenischen Stadtviertel in Schutt und Asche gelegt und an die 40.000 Menschen vor den Augen britischer, französischer und amerikanischer im Hafen liegender Flottenteile umgebracht. Dieses für beide Seiten traumatische Gemetzel sollte die türkisch-griechischen Beziehungen für Jahrzehnte vergiften. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Gerolymatos, Andre  : Red Acropolis, Black Terror. New York 2004) 28 François Gérard (1770–1837) war ein französischer Maler, Schüler des Bildhauers Augustin Pajous und

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Anmerkungen

des Malers Jacques-Louis David. Gérard war nicht nur Hofmaler Napoleons, sondern auch des Ludwig XVIII. Bourbon und malte im neoklassizistischen Stil seines Meisters David. Er bevorzugte mythologische und historische Themen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 29 Marie-Louise von Österreich (1791–1847  ; Maria Ludovica Leopoldina Franziska Therese Josepha Lucia von Habsburg-Lothringen, seit 1817 auch Maria Luigia d’Asburgo-Lorena, Duchessa di Parma, Piacenza e Guastalla), Tochter von Kaiser Franz II. und zweite Ehefrau Napoleons I. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 30 François Rene Vicomte de Chateaubriand (1768–1848), französischer Politiker, Diplomat und Schriftsteller der Frühromantik. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 31 Pauline Herzogin von Arenberg (2. 10. 1774–1. 7. 1810), verheiratet seit 25. 5. 1794 mit Joseph II. Fürst Schwarzenberg, dem ältesten Bruder des Feldmarschalls und Chef der Primogenitur. Sie starb bei dem Brand in der österreichischen Botschaft in Paris, weil sie – schon in Sicherheit – nochmals in den Ballsaal zurücklief, um ihre vermisste, inzwischen aber bereits gerettete Tochter Marie Pauline, spätere Fürstin Schönburg-Hartenstein, zu suchen. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 32 Mit Volksdemokratler sind die »von Begierden des Luxus korrumpierten Parteibonzen« der in den kommunistischen Volksrepubliken regierenden Nomenklatura gemeint. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 33 Bollandisten  : Die Société des Bollandistes ist eine Arbeitsgruppe, die die Viten der Heiligen der röm.kath. Kirche in kritischen Ausgaben auf handschriftlicher Grundlage zusammengestellt und mit historisch-kritischem Kommentar in den Acta Sanctorum veröffentlicht hat. Die Bezeichnung ist dem niederländischen Hagiografen und Theologen Johannes Bolland (1596–1665) entlehnt. Die hagiografische Überlieferung sollte durch eine text- und überlieferungskritische Aufarbeitung vor der kritischen Ablehnung durch den Protestantismus und den Aufklärern verteidigt werden. Die Société betreibt heute ihre fortlaufenden Forschungstätigkeiten von Brüssel aus. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 34 Gemeint ist wohl die Schwester Marie Wilhelmine des Verfassers (genannt Manie). (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 35 Ferdinand I., Kaiser von Österreich (1793–1875), bestieg nach seinem Vater Kaiser Franz I. und II. im Jahr 1835 den Thron  ; aufgrund seiner Geistesschwäche stand ihm Fürst Metternich zur Seite. Er dankte 1848 zugunsten Franz Josephs ab und lebte dann in Prag bzw. Reichstadt in Nordböhmen. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 36 Vor 1918 hieß dieser císarsky smarenec, nach 1918 presidentuv smarenec. (Anmerkung des Verfassers) 37 Elisabeth Amalie Eugenie, Herzogin in Bayern (auch bekannt als Sisi und Sissi, 1837–1898), wurde durch ihre Heirat mit Franz Joseph I. ab 1854 Kaiserin von Österreich und seit dem Ausgleich von 1867 auch Apostolische Königin von Ungarn. Sie wurde 1898 in Genf von einem Anarchisten ermordet. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 38 Maria Theresia von Österreich (1717–1780), Letzte aus dem Hause Habsburg. Als regierende Erzherzogin von Österreich und Königin u. a. von Ungarn und Böhmen (1740–1780) zählte sie zu den prägenden Monarchen der Ära der Aufgeklärten Absolutisten. Ehefrau des römisch-deutschen Kaisers Franz I. Stephan (von Lothringen) und Mutter der späteren römisch-deutschen Kaiser Joseph II., 1765 zum Mitregenten erhoben, und dessen Nachfolger Leopold II. Leitete Reformen wie die allgemeine Volksschulpflicht etc. ein. Gegenspielerin von Friedrich II. dem Großen. Führte ausführliche Briefkorrespondenzen mit all ihren zehn noch verbliebenen Kindern, darunter auch Marie-Antoinette von Frankreich. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 39 Die sechs Töchter der Großherzogin Maria Anna von Luxemburg, geb. Infantin von Portugal (1861– 1942), verheiratet mit Großherzog Wilhelm (1852–1912) waren  : 1. Marie Adelheid (1894–1924), Großherzogin 1912, dankte 1919 ab und ging ins Kloster  ; 2. Charlotte (geb. 1896), Großherzogin ab 1919, verheiratet mit Prinz Felix von Bourbon-Parma (1893–1970)  ; 3. Hilda (1897–1979), verheiratet mit Fürst

Anmerkungen

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Adolph Schwarzenberg (1890–1950)  ; 4. Antonia (1899–1954), verheiratet mit Kronprinz Rupprecht von Bayern (1869–1955)  ; 5. Elisabeth (1901–1950), verheiratet mit Prinz Ludwig von Thurn-Taxis (1901– 1933)  ; 6. Sophie (1902–1942), verheiratet mit Prinz Ernst von Sachsen (1896–1971). (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 40 Schloss Hohenburg bei Lenggries/Oberbayern war Besitz der Luxemburgs. (Anm.: L. C., E. und M. W.W. 1981) 41 Ernst Prinz Schwarzenberg, geb. 11. 10. 1892, gest. 18. 12. 1979, Bruder des Verfassers, heiratete am 19. 2. 1916 Elisabeth, Gräfin Szechenyi (2. 8. 1895 – 24. 2. 1957). In zweiter Ehe heiratete er Mathilde Gerber und ist Vater von Anna Maria (Narni) Bucher. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 42 Herzog Albrecht von Württemberg (1865–1939), Vater des nachmaligen Chefs des Hauses Württemberg, Herzog Philipp. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 43 Prinz Gottfried Hohenlohe-Schillingsfürst (1867–1932), war verheiratet (1908) mit Erzherzogin Marie Henriette (1883–1956)  ; Botschafter in Berlin, Geheimer Rat und Kämmerer, Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies und des Schwarzen Adler-Ordens, verbrachte den Lebensabend in Mariazell. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 44 Henri Charles de Bourbon, Graf von Chambord, Herzog von Bordeaux (1820–1883), Enkel des Königs Karl X. von Frankreich, nachgeborener Sohn des Herzogs von Berry, war der letzte Bourbone der älteren Linie und dadurch Thronprätendent in Frankreich unter dem Namen Heinrich V. Da er die Tricolore und die konstitutionelle Verfassung nicht anerkannte, war eine Wiederherstellung der Monarchie in Frankreich nach 1873 nicht möglich. Die Ehe mit Erzherzogin Theresia von Österreich-Este blieb kinderlos. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 45 Graf Adolf Thun wurde Orthopäde in Karlsbad  ; er war Enkel der Marie Leopoldine Prinzessin Schwarzenberg aus der Primogeniturlinie (1833–1909), die (in seiner zweiten Ehe) Ernst Graf Waldstein (1821– 1904) heiratete  ; Graf Erwein Schönborn-Wiesentheid (1877–1942) wurde Augenarzt  ; seine Frau war Donna Ernestina Ruffo. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 46 Moritz Prinz Lobkowicz (1890–1944)  ; seine Frau Gisela (Gilla), geb. Gräfin Silva-Tarouca (1887–1958), war eine Tochter von Graf Ernst Silva-Tarouca. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 47 Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich-Este (18. 12. 1863 – 28. 6. 1914), verh. seit 1. 7. 1900 mit Gräfin Sophie Chotek (1. 3. 1868 – 28. 6. 1914). Er wurde nach dem Tod des Kronprinzen Rudolf (1889) Thronfolger für Kaiser Franz Joseph, heiratete morganatisch, d. h. nicht den Hausgesetzen entsprechend, die (nicht ebenbürtige) Gräfin Chotek, die damit zur Fürstin (1900) und später Herzogin (1909) von Hohenberg erhoben wurde. Beide fielen am 28. 6. 1914 in Sarajevo einem Attentat zum Opfer, was in der Folge den Ersten Weltkrieg und damit den Untergang der Monarchie auslösen sollte. Seine älteste Tochter, Sophie (geb. 1901), heiratete Graf Friedrich Nostitz, die beiden Söhne Max und Ernst wurden von den Nationalsozialisten ins KZ gesperrt, konnten aber überleben. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 48 Besitz des Erzherzog-Thronfolgers, wurde 1918/19 von der tschechoslowakischen Regierung enteignet und wird heute als Museum gezeigt  ; der erwähnte Besuch fand Anfang Juni 1913 statt. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 49 Alfred von Tirpitz (1849–1930) verantwortete und trieb den systematischen Ausbau der kaiserlichen deutschen Kriegsflotte voran. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 50 Theobald von Bethmann-Hollweg (1856–1921) wurde 1909 zum Reichskanzler des deutschen Kaiserreiches ernannt und strebte eine Verständigung mit England an  ; er wurde 1917 zum Rücktritt gezwungen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 51 Friedrich August III. König von Sachsen, geb. 1865, regierte 1904–1918, starb 1931. Seine Frau war Erzherzogin Louise, die ihn noch vor der Thronbesteigung 1903 verließ, um mit dem Hauslehrer ihrer

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Anmerkungen

Kinder durchzubrennen und den Geiger und Komponisten Enrico Toselli (Toselli-Serenade) zu heiraten. Bei der Abdankung 1918 soll der überaus beliebte König gesagt haben  : »Macht Eich Eiern Dreck alleene  !« (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 52 Wladimir Alexandrowitsch Suchomlinow (1848–1926) war General der Kavallerie in der Armee des Zaren. 1908 wurde er zum Generalstabschef ernannt, 1909 zum Kriegsminister berufen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 53 Felix Prinz Schwarzenberg, geb. 2. 10. 1800 als zweiter Sohn des Fürsten Josef II. und der Pauline, geb. Herzogin von Arenberg, starb unverheiratet am 5. 4. 1852. Er ging nach anfänglicher Militärdienstleistung in den diplomatischen Dienst unter Metternich. Kurzen Missionen in Russland, Brasilien, Portugal, England und Frankreich (innerhalb von nur sechs Jahren  !) folgten wieder einige Jahre Militär  ; dann ging er nach Sardinien und Sizilien. 1842 wurde er Generalmajor und Geheimer Rat. Nachdem sich Neapel gegen Österreich gewandt hatte, kehrte er 1848 nach Wien zurück und zog in den Krieg nach Oberitalien, in dem er am linken Arm verwundet wurde. In der Folge gelang es ihm, Kaiser Ferdinand von der freiwilligen Aufgabe der Lombardei abzubringen. Er wurde nach der Rückkehr der Truppen nach Mailand dort Gouverneur. Inzwischen war in Wien die Revolution ausgebrochen, und Felix musste nach Olmütz, wohin Kaiser Ferdinand ausgewichen war, und wurde dort zum Ministerpräsidenten ernannt  ; der Reichstag war nach Kremsier einberufen worden. Felix formulierte den Text des Thronverzichts Ferdinands nicht günstig und berücksichtigte dabei die Ungarn nicht entsprechend. Der achtzehnjährige Franz Joseph bestieg am 2. 12. 1848 den Thron  ; Felix erwirkte die Auflösung des Reichstages, der die Formulierung einer Nationalitätenverfassung versucht hatte. Der Kaiser verlieh dem Reich dann eine Gesamtverfassung, durch die u. a. die alte ungarische Verfassung außer Kraft gesetzt wurde. Dagegen revoltierte nun Kossuth in Ungarn, wurde aber mit russischer Hilfe besiegt. 1849 erhielt Felix das MariaTheresien-Kreuz. Wesentlich wurde seine Innenpolitik von der Reichspolitik mit beeinflusst  ; mit der Aufhebung der Grundherrschaften musste die landesherrliche Verwaltung ausgebaut werden. Silvester 1851 erhielt Österreich eine neue egalitäre absolute Monarchie-Verfassung  ; Felix erhielt dafür das Großkreuz des Stephansordens. Er war aber schon krank und starb bald darauf am 5. 4. 1852 zu Wien. Kaiser Franz Joseph ließ als posthume Ehrung eine Fregatte der Kriegsmarine »Schwarzenberg« taufen  ; später, nachdem sie sich bewährt hatte und eingezogen wurde, kam ihre Kommandobrücke nach Frauenberg, wo sie in einem Saal des Schlosses eingebaut wurde. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 54 Franz Graf (d.d. 15. 7. 1918) Conrad von Hötzendorf (1852–1925), Feldmarschall und Oberbefehlshaber der österreichisch-ungarischen Armee unter Kaiser Karl. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 55 Aristide Briand (1862–1932), französischer Außenminister, und Frank Kellogg (1856–1937), US-Außenminister, waren die Initiatoren eines 1928 abgeschlossenen Paktes von 15 Staaten (48 weitere traten später bei) zur Ächtung des Krieges als Werkzeug nationaler Politik  ; Verteidigungskriege waren ausgenommen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 56 Graf Erwein Nostitz-Rieneck (1863–1931), verheiratet mit Gräfin Amalie (Ali) Podstatzky (1867–1956). Sein jüngerer Bruder Leopold heiratete nacheinander zwei Schwestern der Herzogin von Hohenberg, Gräfin Cara und Gräfin Henriette Chotek. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 57 Graf Ernst Silva-Tarouca (1860–1936), großer Dendrologe und Besitzer von Pruhonitz bei Prag, das er aber durch Verschuldung verlor. Mitglied des Herrenhauses, Geheimer Rat und Ackerbauminister  ; verheiratet mit Marie Gräfin Nostitz, einer entfernten Cousine des oben erwähnten Grafen Erwein. Ernst Silva-Tarouca war Schwager der Gabrielle geborenen Prinzessin Schwarzenberg (1856–1934), die Graf Franz Silva-Tarouca geheiratet hatte. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 58 Graf (später Fürst) Alphons Clary-Aldringen (1887–1978), Besitzer von Teplitz in Böhmen  ; verheiratet mit Lidwine (Lidi) Gräfin Eltz (geb. 1894). Er lebte nach der Vertreibung aus Böhmen in seinem Palazzo in Venedig und schrieb im Alter von 90 Jahren die »Erinnerungen eines alten Österreichers«. Seine Mut-

Anmerkungen

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ter war eine direkte Cousine der Herzogin von Hohenberg und Schwester der »Maitz« Schwarzenberg, der ersten Frau des Vaters des Verfassers. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 59 Schloss an der adriatischen Küste bei Triest  ; Lieblingsaufenthalt der Kaiserin Elisabeth. Von hier aus startete der Bruder Kaiser Franz Josephs, Erzherzog Maximilian, nach Mexiko, um dort Kaiser zu werden  ; er wurde aber bald darauf (1867) von Aufständischen erschossen. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 60 Kleines Boot. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 61 Wilhelm von Tegetthoff (1827–1871), Admiral und Befehlshaber der österreichischen Flotte, besiegte die Italiener in der Seeschlacht von Lissa in der Adria (1866). (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 62 Die Seeschlacht von Lepanto trug sich am 7. 10. 1571 in der Meerenge von Nafpaktos im heutigen Griechenland zu. Eine Allianz christlicher Mittelmeermächte, an deren Spitze Spanien stand, besiegte hier die als unbesiegbar geltende Mittelmeerflotte des Osmanischen Reiches. Aufseiten der Heiligen Liga von 1571 führte Don Juan de Austria das Oberkommando, auf osmanischer Seite Kapudan Derya Ali Pascha, der in der Schlacht fiel. Entscheidend für den Sieg der Heiligen Allianz war der Einsatz venezianischer Galeassen  ; diese Schiffe hatten gegenüber von Sklaven geruderten Galeeren den Vorteil erhöhter Geschwindigkeit, Wendigkeit und Feuerkraft. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 63 Don Juan de Austria (1547–1578) war Befehlshaber der spanischen Flotte und Statthalter der habsburgischen Niederlande. Er war ein außerehelicher Sohn von Kaiser Karl V. und der Regensburger Gürtlers­ tochter Barbara Blomberg. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 64 Wahlspruch Kaiser Franz Josephs  ; Name des Flaggschiffs der österreichischen Kriegsflotte. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 65 Moritz Freiherr Auffenberg von Komarów (1852–1928) war General der österreichisch-ungarischen Armee, er wurde 1911 zum Kriegsminister ernannt und führte ein neues Wehrgesetz ein. Im Einsatz stand er während des Ersten Weltkrieges an der russischen Front. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 66 Adolf Ritter von Brudermann (1854–1945) wurde 1913 zum Feldmarschall-Leutnant befördert – eine Besonderheit, da er kein Absolvent der Kriegsschule war  ; er war Kommandeur der 3. Kavallerie-Division bis 1916 und ging 1917 als General der Kavallerie mit Titel und Charakter in Pension. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 67 Dieses vom Verfasser der Memoiren zitierte Tagebuch war zum Zeitpunkt der Buchherstellung nicht auffindbar. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 68 Prinz Felix Schwarzenberg (8. 6. 1867 – 18. 11. 1946), Bruder des Fürsten Johann II., verh. (15. 6. 1897) mit Anna Prinzessin Löwenstein-Wertheim-Rosenberg, der Schwägerin von Fürstin Josephine (Osy) Löwenstein, geb. Gräfin Kinsky (sie war eine Schwester der Stiefmutter des Verfassers, »Maitz«). Felix wandte sich dem Militärdienst zu und wurde Flügeladjutant von Erzherzog Friedrich und 1911 Kommandant der Windisch-Graetz-Dragoner (Nr. 14). 1915 wurde er Kommandant einer Gebirgsbrigade an der Isonzofront und später im Kärntner Gailtal zum Generalmajor befördert. 1916 war die Brigade in Südtirol, später in Galizien und Ende des Jahres wieder am Isonzo. Generalstabschef war damals Oberst Körner von Siegringen, der spätere SPÖ-Bürgermeister von Wien und dann Bundespräsident Österreichs (1951–1957). Felix wurde 1917 Divisionskommandant und übernahm Anfang 1918 die Kaiserjägerdivision in Südtirol. Für den Einsatz am Tagliamento erhielt er als einer von nur zwei Generälen des gesamten Krieges die Goldene Tapferkeitsmedaille für Offiziere. Am Kriegsende geriet er mit seiner Division in italienische Gefangenschaft. Nach Kriegsende ließ er sich in Gusterheim nieder  ; sein erster Sohn, Josef, war der letzte Fürst aus der Primogeniturlinie, sein zweiter Sohn, Heinrich, der letzte Besitzer des Primogeniturbesitzes, der dann durch Adoption auf den Erbprinzen Karl der Sekundogenitur­ linie, einen Großneffen des Verfassers, überging. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 69 Der russisch-japanische Krieg nahm seinen Anfang 1904 mit dem japanischen Angriff auf Port Arthur

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Anmerkungen

im Gelben Meer, ein eisfreier Flottenhafen und -stützpunkt der Russen, und endete 1905 mit einer schweren Niederlage Russlands. Dieser Krieg schwächte das Zarenreich massiv und diente wegen der neu angewandten Kriegstechnologien und -strategien als Vorschau auf den nachfolgenden Ersten Weltkrieg. Der massive Einsatz von Maschinengewehren und Stacheldrahtstellungen zog das Anlegen von Gräben mit sich und artete in einen Männer und Material verschleißenden Stellungskrieg aus. Feldfunktelefonie und -beleuchtung sowie der strategische Einsatz der Eisenbahnen erweiterten die militärischen Kommunikations- und Logistikmöglichkeiten. Diese Art der »modernen« Kriegsführung steigerte die Truppenverluste ins Unermessliche. Die Erfahrungen aus den großen Seeschlachten brachten große, schwer gepanzerte, mit leistungsstarken Kanonen bestückte Kriegsschifftypen wie z. B. die DreadnoughtKlasse hervor. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 70 Theobald Graf Westphalen (1870–1948), Legationssekretär in St. Petersburg gewesen, Besitzer der Herrschaft Slap unweit von Cimelic  ; blieb unverheiratet. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 71 »Go« war der Spitzname der Fürstin Eleonore Schwarzenberg, geb. Prinzessin Liechtenstein (26. 12. 1812 – 27. 7. 1873), verheiratet mit dem Fürsten Johann Adolf II. der Primogenitur. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 72 Sophie Herzogin von Hohenberg, geb. Gräfin Chotek, Gemahlin des Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand  ; ihre Schwester Marie (Rischl, 1863–1935) war verheiratet mit einem Bruder des Statthalters, dem Grafen und späteren Fürsten Jaroslav Thun. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 73 Alfred Fürst Montenuovo (1854–1927)  ; Obersthofmeister Kaiser Franz Josephs, verheiratet mit Gräfin Franziska Kinsky (1861–1935), einer Cousine der Mutter des Verfassers. Montenuovo wurde verantwortlich gemacht für die ziemlich rigorose Handhabung des Hofzeremoniells  ; die Kritik jedoch ist nicht gerecht, denn er führte den Willen und Beschluss des alten Kaisers aus. Er war ein Enkel von MarieLouise, der Witwe von Napoleon Bonaparte, aus deren Verbindung mit Graf Wilhelm Neipperg sein Vater hervorging. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 74 Tacitus, »De origine et situ Germanorum« (»Germania«) 27,2. (»Für Frauen gehört es sich zu trauern, für Männer zu gedenken.«) (Anmerkung der Hg. M.-A.) 75 Herrschaft, dem Thronfolger gehörend  ; lag in Südböhmen, nahe Wittingau an der niederösterreichischen Grenze. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 76 Größerer Gebirgswaldbesitz rund um Eisenerz in der Obersteiermark. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 77 Gräfin Henriette Chotek (1880–1964), jüngste Schwester der Herzogin von Hohenberg  ; sie nahm sich der drei verwaisten Kinder des Thronfolgerpaares an, bis sie 1921 den Mann ihrer verstorbenen Schwester Cara, Leopold Graf Nostitz, heiratete. Ihre Tochter Cara (geb. 1923) hat Graf Josef Stubenberg in Gutenberg/Steiermark geheiratet. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 78 »Für diese Chotekische reichen drei Höschen …« (Anmerkung des Verfassers) 79 Fürst Ernst Hohenberg (1904–1954), zweitgeborener Sohn des Thronfolgerpaares. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 80 Laut FAO-Statistik ist ein Drittel der Menschheit unterernährt, das zweite hungert. (Anmerkung des Verfassers) 81 Nikolaus von Flüe (oder Bruder Klaus, 1417–1487) war ein Schweizer Asket, Einsiedler, und lebte ab 1467 als Mystiker. Er wird als Schutzpatron der Schweiz verehrt. 1669 wurde er selig, 1947 heilig gesprochen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 82 Max Frisch. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 83 Tomáš Garrigue Masaryk war Philosoph und Schriftsteller, begründete die Republik Tschechoslowakei mit und war deren erster Präsident. 1914 schuf er in Genf eine tschechische Exilregierung und verfolgte die Verwirklichung der Eigenstaatlichkeit der Tschechoslowakei auch von London aus gemeinsam mit

Anmerkungen

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Edvard Beneš. Am 14. Oktober 1918 rief Masaryk einen unabhängigen tschechoslowakischen Staat aus, der das amerikanische Staatsmodell einer parlamentarischen Präsidialrepublik zum Vorbild hatte (die Washington Declaration). Seine politische Ausrichtung wurzelte in einem christlich-sozial geprägten liberalen Weltbild. In der Nationalitätenfrage der jungen Republik wirkte er als mäßigende Kraft bezüglich der in der Tschechoslowakei lebenden deutschen, ungarischen und ukrainischen Minderheiten den stark nationalistischen Tendenzen von Beneš und anderen im Parlament vertretenen Parteien entgegen. Er wurde 1920, 1927 und zuletzt 1934 zum Präsidenten gewählt. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe auch Bernard Wasserstein  : Barbarism & Civilization. A History of Europe in Our Time. Oxford 2009) 84 Karel Kramář (1860–1937) war ein führender tschechischer Politiker der Nationalbewegung, 1916 wurde er zum Tod verurteilt, dann aber begnadigt  ; als erster Ministerpräsident der Tschechoslowakei bekämpfte er später Beneš’ Annäherungspolitik an Russland. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 85 Václaf Jaroslav Klofáč, tschechischer national-radikaler Parteiführer. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 86 Edvard Beneš (1884–1948) war Dozent für Nationalökonomie, und ab 1915 unterstützte er T. G. Masaryk hinsichtlich der Schaffung der tschechoslowakischen Eigenstaatlichkeit in den USA  ; er war von 1918 bis 1935 Außenminister, von 1935 bis 1938 Präsident der tschechoslowakischen Republik und ging dann ins Exil, als die Nationalsozialisten einmarschierten, er erreichte von den Alliierten die Zustimmung zur Austreibung der Deutschböhmen, die 1945 in brutalster Weise erfolgte. Von 1945 bis 1948 wieder als Präsident im Amt, musste er nach der kommunistischen Machtergreifung abdanken und wurde in ein kleines Dorf verbannt. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 87 Jan Masaryk (1886–1948) war der Sohn des Präsidenten Tomáš G. Masaryk, von 1925 bis 1939 war er tschechoslowakischer Gesandter in London, in den Jahren 1945 bis 1948 wirkte er als Außenminister in Prag und kam bei der kommunistischen Machtübernahme – vermutlich aus dem Fenster geworfen – ums Leben. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 88 Graf Karl Nostitz (1901–1961), Sohn des Grafen Joseph (1878–1946) und der Rosa, geb. Prinzessin Lobkowitz (1879–1957), der jüngsten Tochter des Fürsten Georg (Kox) Lobkowitz. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 89 Rosa Luxemburg (1871–1919) trat als überzeugte und wortgewandte Vertreterin der europäischen Arbeiterbewegung und des proletarischen Internationalismus in Erscheinung. Sie wirkte als marxistische Theoretikerin und Antimilitaristin maßgebend auf die polnische und deutsche Sozialdemokratie ein. In Reaktion auf die Kriegsunterstützung der SPD gründete sie zu Beginn des Ersten Weltkrieges 1914 die Gruppe Internationale und führte mit Karl Liebknecht den daraus hervorgehenden Spartakusbund an. Sie war die Autorin vieler politischer, zeitkritischer Aufsätze und ökonomischer Analysen. Zum Jahreswechsel 1918/19 gehörte sie zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei Deutschlands, deren Programm hauptsächlich von Luxembourg durchdacht und erstellt wurde. Nach der Niederwerfung des Spartakusaufstandes wurde sie gemeinsam mit Karl Liebknecht unter ungeklärten Umständen von rechtsradikalen Freikorps-Soldaten verhaftet und umgebracht. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe auch Donald Sassoon  : One Hundred Years of Socialism – The West European Left in the Twentieth Century. London/New York 2010, sowie Sebastian Haffner  : Die deutsche Revolution 1918/1919. Köln 2008  : 168ff.) 90 Alice Masaryková (1879–1966) war die in Wien geborene Tochter von T. G. Masaryks und seiner amerikanischen Frau Charlotte Garrigue. (Charlotte entstammte mütterlicherseits einer der Mayflower-Familien und heiratete Masaryk 1878. Um die Jahrhundertwende wurde sie, mit dem Einverständnis ihres Mannes, eine bekennende Sozialdemokratin und war aktiv im karitativen, sozialen und kulturellen Leben Prags engagiert. Sie verstarb 1923.) Alice beschloss ein Studium der Soziologie mit einem Doktorat und rief u. a. das Tschechoslowakische Rote Kreuz ins Leben. (Anmerkung der Hg. M.-A.)

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Anmerkungen

91 Heinrich Graf Kolowrat (1897–1996), erbte später (1927) von seinem Bruder Sascha (dem bekannten Filmindustriellen) einen Besitz und heiratete dessen Witwe, Fürstin Sonja Troubetzkoy. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 92 Johann von Luxemburg war überall zu finden, wo es Kriege gab  ; diesmal wollte er durch sein Engagement die Unterstützung Frankreichs gegen den Kaiser erreichen. Der englische Wappenspruch »Ich dien« stammte von Johann und ging damals auf die englischen Könige über. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 93 Schlacht von Crécy am 26. August 1346, in der die Engländer unter Edward III. die Franzosen unter Philipp IV. besiegten. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 94 »Da sei Gott vor, dass der Böhmenkönig aus der Schlacht wegliefe.« (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 95 Freilassung bedeutete im antiken Rom die intentionale und rechtliche Befreiung eines Sklaven vom Sklavenstand. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 96 Wohl Adam Franz Fürst Schwarzenberg (25. 9. 1680 bis 11. 6. 1732), verheiratet seit 6. 12. 1701 mit Prinzessin Eleonore Lobkowitz. Geboren in Linz, wohin der kaiserliche Hof vor der Pest geflohen war. 1700 Reichshofrat  ; er ließ das Wiener Stadtpalais am Mehlmarkt (heute Neuer Markt) von Vater und Sohn Fischer von Erlach erbauen (Ende des 19. Jahrhunderts wurde es abgerissen). 1711 Oberststallmeister, 1712 Obersthofmeister Kaiser Karls VI., 1712 Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies. Er erbte 1719 von seiner Tante, der letzten Fürstin Eggenberg, die großen Güter dieser Familie in Südböhmen und starb durch einen Kugelschuss auf einer Hochwildjagd bei Brandeis an der Elbe  ; den Schuss hatte der Jagdherr, Kaiser Karl VI., selbst abgegeben (das Stück Hochwild fehlte er). (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 97 Die Figur des Ahasver oder des Ewigen (oder Wandernden) Juden fügte sich aus christlichen Legenden des 13. Jahrhunderts zusammen. Kern dieser Geschichte bildet ein anonymer Mann unbekannter Herkunft, der in Jerusalem auf den kreuztragenden Christus traf und diesen verspottete. Der Legende nach soll Christus ihn für seinen Spott verflucht und dazu verdammt haben, bis zur Wiederkunft Christi zum Endgericht als rastloser Unsterblicher die Welt zu durchwandern. In einer um 1602 erschienenen Schrift aus Leiden, das anonyme deutsche »Volksbuch vom Ewigen Juden«, wurde die Figur Ahasver genannt und zum Juden gestempelt. Diese antijudaistische Ausformung der Geschichte verbreitete sich in ganz Europa und im Laufe der Zeit (schon im mittleren 17. Jahrhundert) löste sich die Geschichte der Figur Ashavers vom religiösen Kontext der Passionsgeschichte ab und mutierte zu einem Sinnbild der Leidensgeschichte des gesamten Judentums, wobei die individuell begründete Schuld durch Ahasvers mitleidloses Verspotten Christi dieser Figur entzogen wurde und die Schuld als solche zu einer den Juden inhärenten natürlichen Eigenschaft uminterpretiert wurde. Langsam wich die antijudaistische Verständnisebene und machte folglich einer antisemitischen Platz. So gipfelt die zutiefst antisemitische Erzählvariante in dem nationalsozialistischen Propagandafilm »Der ewige Jude«, der bewusst dazu bestimmt war, den Hass auf die Juden zu lenken und zu konkretisieren. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 98 Siehe auch Oliver Rathkolbs Beitrag. Die »traditionelle ideologische Klammer des Antisemitismus« (Lichtblau 2006  : 492) stellte quasi als kleinstes gemeinsames Vielfaches in den Anfängen der Ersten Republik einen verbindenden Inhalt zwischen den konservativen christlichsozialen und den radikalen deutschnationalen politischen Kräften dar. Antisemitisch-segregationistisch motivierte Bestrebungen à la Apartheid flossen schon in den Zwanzigerjahren (mittels zugangshemmender Quoteneinführung für jüdische Schüler, Studenten und Ärzte bzw. einer absurden Sommerfrische-Aufenthaltsuntersagung für Juden z. B. im Ausseerland) in die Bildungs-, Gesundheits- und sogar Tourismuspolitik ein (Lichtblau 2006  : 492). Auch die sozialdemokratischen Kräfte des Landes konnten sich nicht restlos dem fast allgegenwärtig weiterwachsenden Antisemitismus entziehen. Zusammenfassend sei hier aus dem Erkennt-

Anmerkungen



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niskonzentrat des Historikers Albert Lichtblau vergleichsweise zitiert  : »Verkörperte die jüdische Bevölkerung während der Habsburgermonarchie gleichsam das Ideal der multinationalen Identität des Vielvölkerstaates, wurde ihr genau dies in der Ersten Republik umso schärfer als Kosmopolitismus und Vaterlandslosigkeit vorgehalten. Mit dem Wegfall der früheren Kontrahenten im Nationalitätenstreit, insbesondere der um Autonomie kämpfenden tschechischen Bevölkerung, geriet die jüdische nun noch stärker ins Visier der Deutschnationalen. Um sich selbst zu definieren, benötigten sie ›andere‹. In Öster­reich blieb ihnen nur mehr ›der Jude‹, weswegen die jüdische Bevölkerung noch stärker marginalisiert wurde.« (Lichtblau 2006  : 492). »An den Universitäten hatten schon in der Habsburgermonarchie deutschnationale Burschenschaften jüdische Kommilitonen ausgeschlossen […]. In der Ersten Republik gehörte eine antisemitisch sozialisierte intellektuelle Schicht schon zur geistigen Elite des Landes und lehrte an den Universitäten, die damit für die jüdischen Studenten zu konfliktträchtigen Orten wurden.« (Lichtblau 2006  : 511–512. In  : Geschichte der Juden in Österreich. E. Brugger, M. Keil, A. Lichtblau, B. Staudinger [Hg.] Wien 2006) (Anm. der Hg. M.-A.)   99 Hugo Bettauer (1872–1925) war ein österreichischer Schriftsteller. Um 1890 zog er in die Schweiz und wanderte um 1896 in die USA aus. Dort lebte er bis 1899 in New York, erhielt auch die amerikanische Staatsbürgerschaft, zog aber aufgrund seiner andauernden Arbeitslosigkeit nach Berlin um, wo er u. a. als Korrespondent für amerikanische Zeitungen wirkte. 1904 re-emigrierte er in die Vereinigten Staaten und verdiente sich seinen Lebensunterhalt als investigativer Journalist und Verfasser von Fortsetzungsromanen. 1910 kehrte er nach Wien zurück und wurde Mitarbeiter der Neuen Freien Presse. Er verfasste sehr populäre Kriminalromane mit sozialem Engagement, deren Handlungen, neben Wien, auch in New York und Berlin spielten. Als Korrespondent verschiedener New Yorker Zeitungen in Wien setzte er sich unmittelbar nach dem Kriegsende für die hungernde Wiener Bevölkerung ein und organisierte in den USA sogar ein Hilfsprogramm. Seine offene, liberale Sicht in Sachen Sexualität trug ihm allerdings schärfste Kritik ein. 1922 brachte er seinen bekanntesten Roman, der die erstarkenden antisemitischen Strömungen in Österreich kristallklar einfängt, heraus  : »Die Stadt ohne Juden«. In diesem prophetischen Roman, der auch 1924 von Breslauer verfilmt wurde, erlässt ein christlichsozialer Politiker Gesetze, die alle Juden Wiens binnen eines Jahres zum Verlassen der Stadt und zum Auswandern zwingen. Die Stadt, aller jüdischen Kulturschaffenden und anderer spezialisierter Kräfte beraubt, versinkt in Provinzialität, Kulturlosigkeit, Langeweile und wirtschaftlichem Niedergang. Diese schaurige Vorausschau lässt die Christen am Ende einlenken, die Wirklichkeit sollte jedoch eine grausige andere sein  : Selbst Bettauer konnte sich die Dimensionen der von den Nationalsozialisten eifrigst betriebenen industriellen Massenermordung der Juden zwanzig Jahre später nicht vorstellen noch erahnen. 1924 gründete er die Zeitschrift »Er und Sie. Wochenzeitschrift für Erotik und Lebenskultur«, deren Erscheinen zu erbitterten Diskussionen und Streitigkeiten in der Öffentlichkeit führte. Dies ging soweit, dass gegen Bettauer und seiner Zeitschrift Hetzkampagnen angezettelt wurden. Die Situa­ tion eskalierte 1925 vollends mit der Ermordung Bettauers durch das Wiener NSDAP-Mitglied Otto Rothstock. Der Attentäter wurde in die Psychiatrie eingewiesen und kam nach 18 Monaten wieder frei. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe auch Lichtblau in Geschichte der Juden in Österreich. E. Brugger, M. Keil, A. Lichtblau, B. Staudinger. [Hg.] Wien 2006.) 100 Eine Bismarck zugeschriebene Bezeichnung für die vom österreichischen Reichsratsabgeordneten Eduard Herbst (1820–1892) geführten Deutschliberalen, welche die »Zeichen der Zeit« nicht verstünden. Später für die unverbesserlich ewiggestrigen Deutschnationalen gebraucht. (Anmerkung der Hg. M.A.) 101 Harold Macmillan. Siehe Anmerkungen im Dokumentarteil. 102 Dafür reichten meine in Prag erschwitzten Griechischkenntnisse allerdings nicht aus. (Anmerkung des Verfassers)

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Anmerkungen

103 Joseph Baron Schey (1853–1938) war von 1897 bis 1925 als ordentlicher Professor an der Universität Wien tätig. Bedeutende und nachhaltig beeinflussende wissenschaftliche Leistungen erbrachte Schey auf dem Gebiet des Österreichischen Privatrechts. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 104 Othmar Spann (1878–1950) war österreichischer Jurist, Philosoph und Soziologe. Er war einer der geistigen Väter des ständestaatlichen Experiments im Österreich der Dreißigerjahre. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe auch Anthony Carty, Alfred Verdross and Othmar Spann  : German Romantic Nationalism, National Socialism and International Law. European Journal of International Law. 6/1995) 105 Wenzeslaus Graf Gleispach (1876–1944) war ein österreichisch-deutscher Jurist und Universitätslehrer, von 1916 bis 1933 war er ordentlicher Professor an der Universität Wien, 1925 wurde er Dekan und zum Nachfolger von Lammasch ernannt. Er stand dem Nationalsozialismus sehr nahe und wurde deswegen vom Dollfuß-Regime 1933 zwangsmäßig in den Ruhestand versetzt. Ab 1933 wurde er mit nationalsozialistischer Unterstützung an die Universität Berlin auf den eigentlich für James Goldschmidt vorgesehenen Lehrstuhl berufen. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe auch Anthony Carty, Alfred Verdross and Othmar Spann  : German Romantic Nationalism, National Socialism and International Law. European Journal of International Law. 6/1995) 106 Hans Kelsen (1881–1973) war einer der bedeutendsten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Kelson leistete, als Rechtstheoretiker, Herausragendes auf den Gebieten des Staatsrechts und des Völkerrechts. Er wird mit Georg Jellinek und dem Ungarn Felix Somló zur Gruppe der österreichischen Rechtspositivisten gezählt. Kelsen ist der Verfasser der österreichischen Staatsverfassung. Er emigrierte 1940 in die USA und lehrte an der University of California, Berkely. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe auch Anthony Carty, Alfred Verdross and Othmar Spann  : German Romantic Nationalism, National Socialism and International Law. European Journal of International Law. 6/1995) 107 Alfred Verdroß–Droßberg (1890–1980) war ein österreichischer Diplomat, Schriftsteller und auch Rechtswissenschaftler an der Universität Wien. Als ein Schüler von Hans Kelsen zählt Verdroß zu den wichtigsten österreichischen Völkerrechtlern des 20. Jahrhunderts. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe auch Anthony Carty, Alfred Verdross and Othmar Spann  : German Romantic Nationalism, National Socialism and International Law. European Journal of International Law. 6/1995) 108 Ignaz Seipel (1876–1932), ein katholischer Prälat, war von 1918 bis 1919 österreichischer Sozialminister, von 1922 bis 1924 und von 1926 bis 1929 Bundeskanzler  ; 1930 wurde er Außenminister. In den Jahren 1921 bis 1929 war er auch Obmann der Christlichsozialen Partei. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009. Siehe auch Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 109 Gräfin Karla Lanckoronska (1898–2002), Dr. phil. der Kunstgeschichte und Universitätsprofessorin  ; sie ist die Letzte ihres Namens. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 110 Carl Jacob Burckhardt (1891–1974) war ein Schweizer Diplomat und Historiker, er diente 1918 bis 1932 als Diplomat in Wien, wurde dann Professor der Geschichte in Genf und von 1937 bis 1939 Völkerbundkommissar in Danzig. Während des Zweiten Weltkrieges war er als Delegierter beim Internationalen Roten Kreuz tätig, 1944 folgte er Max Huber als Präsident des IKRK nach. Von 1945 bis 1949 wirkte er als schweizer Gesandter in Paris. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 111 Victor Adler (1852–1918) war ein Führer der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (und zwar schon seit 1888)  ; 1918 wurde er Staatssekretär des Auswärtigen. Sein Sohn Friedrich (1879–1960) war im Ersten Weltkrieg Führer des linken Flügels der Sozialdemokratie und erschoss 1916 den Ministerpräsidenten Graf Stürgkh. Friedrich wurde dafür zum Tod verurteilt, 1918 amnestiert und ging dann ins Ausland. (Anmerkung der Hg. M.-A.)

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112 Karl Seitz (1869–1950) war ein österreichischer Politiker und Führer der Sozialdemokratischen Partei im Parlament vor 1918  ; von 1920 bis 1934 war er Obmann der Sozialdemokratischen Partei und seit 1923 Bürgermeister von Wien (bis 1934). (Anmerkung der Hg. M.-A.) 113 Julius Tandler war ein österreichischer sozialdemokratischer Politiker, der sich vor allem im kommunalen Bereich hervortat. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 114 Otto Bauer (1882–1938) war ein österreichischer sozialdemokratischer Politiker und Wortführer des Austro-Marxismus  ; er emigrierte 1934 in die Tschechoslowakei und floh dann nach Paris. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 115 Panacea – »Allheilmittel«. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 116 Hugo Breitner (1873–1946) war Finanzstadtrat von Wien vor 1934 und initiierte den großzügigen Wohnbau dieser Zeit in Wien. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 117 Heinrich Lammasch (1853–1920) war ein österreichischer Straf- und Völkerrechtslehrer, er bildete am 27. Oktober 1918 das letzte Kabinett der Monarchie (und war bis zum 11. November desselben Jahres im Amt). (Anmerkung der Hg. M.-A.) 118 Ernst Rüdiger Graf Starhemberg (1638–1701) leitete während der Belagerung Wiens durch die Osmanen 1683 die Verteidigung der Stadt. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 119 Msgr. Josef Tiso (1887–1947) war ein slowakischer Politiker, katholischer Priester und Mitbegründer der Slowakischen Volkspartei, deren Vorsitzender er nach 1938 wurde  ; von 1939 bis 1945 hatte er das Amt des Staatspräsidenten der Slowakei inne  ; er wurde von der nachfolgenden tschechoslowakischen Regierung als Kriegsverbrecher hingerichtet. In diesem Zusammenhang meint der Verfasser wohl eher Pater Andrej Hlinka (1864–1938), der als Priester für das in der Geschichte niemals zuvor als eigene politische Kraft aufgetretene slowakische Volk eintrat. Er schuf 1905 die Slowakische Volkspartei, kämpfte bis 1919 gegen Ungarn und ab dann in der Tschechoslowakei vergeblich um eine slowakische Autonomie. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 120 Karl Buresch (1878–1936) war ein österreichischer Politiker des christlichsozialen Lagers, von 1922 bis 1931 war er Landeshauptmann von Niederösterreich. Von 1931 bis 1932 bekleidete er das Amt des Bundeskanzlers und amtierte von 1933 bis 1935 als Finanzminister. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 121 Johannes Schober (1874–1932) war seit 1918 Polizeipräsident von Wien, von 1921 bis 1922 war er Bundeskanzler und Außenminister  ; von September 1929 bis September 1930 wieder als Bundeskanzler im Amt, führte er 1930 eine Verfassungsreform durch und versuchte 1931 als Außenminister eine Zollunion mit Deutschland herbeizuführen. Dies scheiterte am Einspruch der Alliierten, Schober musste zurücktreten. 122 »… danke vielmals.« – »Wie denn  ? Sie sprechen Tschechisch  ?« – »Gewiß, Herr Hofrat.« – »No, dann werden wir uns gut vertragen, Herr Doktor  !« (Übersetzung des Verfassers) 123 »Der kann das, der ist vernünftig  ! Der ist ein Unsriger  ! Das sind Dummköpfe, diese Wiener  !« (Übersetzung des Verfassers) 124 Camillo Castiglioni (1897–1957) war ein italienisch-österreichischer Industrieller, Börsenspekulant und Pionier der Luftfahrt. Er galt in Wien aufgrund seiner gewagten Börsenspekulationen während der Inflationszeit als Kriegsgewinnler. Nach Zusammenbruch seiner Bank ging er nach Berlin, nach 1933 emigrierte er nach England. Nach dem Krieg war er 1945 für Jugoslawien tätig. Er verstarb in Rom. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe auch Albert Lichtblau  : Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn – Österreichisch-jüdische Geschichte 1848 bis zur Gegenwart. In  : Geschichte der Juden in Österreich. Herwig Wolfram [Hg.] Wien 2006) 125 Siegmund Bosel (1893–1945) war Wiener Großkaufmann, Bankier und Börsenspekulant jüdischer Herkunft, der eine bedeutende, aber umstrittene Rolle im Wirtschaftsleben der Ersten Republik spielte. Er war involviert in Fehlspekulationen, die zum Postsparkassenskandal ausuferten. Seine Todesum-

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stände bleiben unklar, anderen Aussagen zufolge soll er von dem Nazi-Kriegsverbrecher Alois Brunner eigenhändig erschossen worden sein. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe auch Albert Lichtblau  : Integration, Vernichtungsversuch und Neubeginn – Österreichisch-jüdische Geschichte 1848 bis zur Gegenwart. In  : Geschichte der Juden in Österreich. Herwig Wolfram [Hg.] Wien 2006) 126 Bewohner des V. Wiener Gemeindebezirks, Margareten, am rechten Ufer des Wienflusses. (Anmerkung des Verfassers) 127 Olivier Resseguier (1901–1964) war österreichischer Diplomat. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009) 128 Dr. Adolf Schärf (1890–1965) war von 1945 bis 1957 Vorsitzender der Sozialistischen Partei Österreichs und Vizekanzler, dann bis zu seinem Tod Bundespräsident. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009. Siehe auch Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 129 Joseph Marx (1888–1964) war ein österreichischer Komponist, der spätromantische Orchester- und Kammermusik schuf. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 130 Julius Raab (1891–1960) war ein konservativer österreichischer Politiker  ; 1938 wurde er Handelsminister, von 1953 bis 1959 war er Bundeskanzler. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 131 Julius Curtius (1877–1948) war von 1926 bis 1929 deutscher Reichswirtschaftsminister und ab 1929 Außenminister (»Testamentsvollstrecker Stresemanns«). Er trat zurück, als der Plan einer deutsch-österreichischen Zollunion scheiterte. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 132 Ein leoninischer Vertrag (Löwengesellschaft oder Societas leonina) ist ein Gesellschaftsvertrag, nach dem alle Gesellschafter das Risiko tragen, aber nur einer der Gesellschafter den Gewinn ausgeschüttet bekommt. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 133 Clemens Wenzel Fürst Metternich (1773–1859, seit 1803 Fürst), österreichischer Diplomat, 1809 Außenminister, führte die diplomatischen Agenden zum Sieg über Napoleon und gestaltete die Neuordnung Europas auf dem Wiener Kongress entscheidend mit. 1821 Staatskanzler, 1835 Mitglied des Regentschaftsrates für den schwachsinnigen Kaiser Ferdinand, wurde er wegen seiner starr konservativen Haltung 1848 gestürzt. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 134 Robert Anthony Eden, Earl of Avon (1897–1977), war ein konservativer britischer Politiker  ; von 1935 bis 1938 fungierte er als Außenminister und trat wegen der Nachgiebigkeit Chamberlains gegen Hitler zurück, ab 1940 kehrte er wieder als Außenminister unter Churchill bis 1945. Von 1951 bis 1955 amtierte er erneut als Außenminister und wirkte von 1955 bis 1957 als Primierminister Großbritanniens. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 135 Edna St. Vincent Millay, »A Few Figs from Thistles« (1920), amerikanische Dichterin (1892–1950), »First Fig  : My candle burns at both ends / It will not last the night  ; / But ah, my foes, and oh, my friends / It gives a lovely light.« (Anmerkung der Hg. M.-A.) 136 Josef Redlich (1869–1936) war Jurist an der Universität Wien, Politiker und Abgeordneter der Deutschen Fortschrittspartei (1907–1918). Er wurde 1918 und 1931 kurzzeitig als Finanzminister aufgestellt. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 137 Dr. Heinrich Wildner (1879–1957) trat 1914 in das österreichisch-ungarische Außenamt ein, im Jahre 1939 wurde er zwangspensioniert – im »Gauakt als Gegner der NSDAP klassifiziert«  ; 1945 erfolgte Wiedereintritt in den Auswärtigen Dienst als Generalsekretär bis 1949. (Anmerkung der Hg. M.-A.:

Anmerkungen

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Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009. Siehe auch Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 138 Karl Emil Prinz Fürstenberg (1867–1945), verheiratet mit Gräfin Maria Festetics (1881–1951), Botschafter, Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies. Seine Töchter  : Antonie (geb. 1905), verheiratet mit Karl Fürst Schwarzenberg, dem älteren Halbbruder des Verfassers und Chef der Sekundogenitur, und Marie (1907–1945). (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 139 Georg Freiherr von Franckenstein (1878–1953), seit 1938 Sir George Fr., war österreichischer Gesandter in London bis 1938 und blieb dann dort, wobei er vielen geflohenen Österreichern seine Hilfe anbot. Auch nach 1945 stellte er seine hervorragenden Beziehungen zu England in den Dienst Österreichs  ; er starb bei einem Flugzeugabsturz in der Nähe von Frankfurt. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009) 140 Dr. Lothar Freiherr von Wimmer (1889–1966) trat 1929 in den Auswärtigen Dienst über und war von 1930 bis 1933 in London tätig. Von 1934 bis 1937 war er Gesandter in Athen und Belgrad. 1938 in den Wartestand versetzt, floh er 1939 über Ungarn, Jugoslawien und Italien in die Schweiz. In der Schweiz wirkte er beim »Schweizerischen Hilfswerk für ehemalige Österreicher« mit und arbeitete mit Schwarzenberg, Ludwig Klein, Dr. Kurt Grimm und Anton Linder zusammen. 1946 erfolgte sein Wiedereintritt in den Auswärtigen Dienst, er war mit den Vorbereitungen des Wiederaufbaues diplomatischer Beziehungen zu Belgien und den Niederlanden befasst. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009) 141 Vermutlich eine ähnliche Gaffe des seinerzeitigen deutschen Außenministers Frederic Hans von Rosenberg (1874–1937)  ; deutscher Diplomat, 1922–1923 Außenminister, 1924–1933 Gesandter in Stockholm, 1933–1935 in Ankara. (Anmerkung des Verfassers) 142 Sir Harold Bellman (1886–1963) war Chairman der Abbey National Building Society und Autor des 1938 erschienenen Buches »Capital, Confidence and the Community«  ; er gilt als englischer Pionier des sozialen Wohnbaus. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 143 Hendrikus »Hendrik« Colijn (1869–1944) war niederländischer Premierminister zwischen 1933 und 1939. Sein Festhalten am Gold Standard bis 1937 verzögerte die wirtschaftliche Erholung der Niederlande nach der Großen Depression. Bei der Besetzung Hollands von den Deutschen festgenommen und bis 1943 interniert, wurde er danach bis zu seinem Tode unter Hausarrest gehalten. Himmler hätte ihn als möglichen Unterhändler zu den Alliierten verwenden wollen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 144 Henri Jaspar (1870–1939) war ein katholischer, belgischer Politiker, im Kabinett von Charles de Brocqueville vom 22. Oktober 1932 bis zum 20. November 1934 wurde er zum Finanzminister ernannt, 1934 war er auch kurzzeitig Außenminister. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 145 Sir Joseph Austen Chamberlain (1863–1937) war ein britischer Politiker, als Schatzkanzler war er in den Jahren 1903 bis 1905 und 1919 im Amt  : Er unterstützte Lloyd Georges (1924–1929) Außenpolitik und erhielt den Friedensnobelpreis für den mit Stresemann abgeschlossenen Locarnopakt. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 146 Paul Hymans (1865–1941), belgischer Politiker, Außenminister (1918–1920, 1924–1925, 1927–1935). (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 147 Montagu Norman (1871–1950) war von 1920 bis 1944 Gouverneur der Bank of England. (Anmerkung der Hg. M.-A.)

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Anmerkungen

148 Emil Fey (1886–1938) war von 1932 bis 1935 Führer der Heimwehr und Vizekanzler. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009. Siehe auch Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 149 Sir John Simon (1873–1954) war ein britischer Politiker der Liberalen Partei  ; er wurde Außenminister von 1931 bis 1935, das Amt des Innenministers bekleidete er von 1935 bis 1937. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 150 Rufus Daniel Isaacs, Marquess of Reading (1860–1935) war in 1931 für sehr kurze Zeit britischer Außenminister. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 151 Viktor Kienböck (1873–1956) war, als christlichsozialer Politiker in den Jahren 1922 bis 1924 und 1926 bis 1929, Finanzminister  ; er festigte die österreichische Währung durch eine strikte Deflationspolitik (»Alpendollar«)  ; er wurde Präsident der Oesterreichischen Nationalbank von 1932 bis 1938. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 152 Emile Coué (1857–1926), französischer Arzt und Naturheilkundiger  ; Schöpfer eines Heilverfahrens, das durch Autosuggestion wirkt (Couéismus). (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 153 George V., König von England (1865–1936), regierte ab 1910. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 154 James Ramsey MacDonald (1866–1937) war Labour-Abgeordneter und trat 1931 (in der Weltwirtschaftskrise) an die Spitze einer meist bürgerlichen »Nationalregierung«  ; er wurde 1935 wegen zunehmender Blindheit zum Rücktritt gezwungen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 155 Alfred Hugenberg (1865–1951) war ein deutscher Wirtschaftsführer und Politiker. Er leitete den Hugenberg-Konzern (vor allem die Zeitungen und Presseagentur) und war deutschnationaler Abgeordneter. Zeitweise finanzierte er Hitlers Partei, konnte aber keinen maßgeblichen Einfluss auf Hitler gewinnen und zog sich zurück. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 156 Tewfik Rüstü Bey (1883–1972) war zwischen 1929 und 1939 türkischer Außenminister. Er vertrat die Türkei in London als Botschafter von 1939 bis 1942. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 157 Cordell Hull (1871–1955), amerikanischer Politiker, 1933–1944 Staatssekretär des Äußeren. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 158 Jan Christiaan Smuts (1870–1950) war ein südafrikanischer Staatsmann und Burengeneral und kämpfte im Burenkrieg gegen die Engländer. Er vertrat Südafrika auf der Friedenskonferenz von Versailles und war maßgebend an der Gründung des Völkerbundes beteiligt. Von 1919 bis 1924 diente Smuts als Ministerpräsident Südafrikas, von 1933 bis 1939 wirkte er als Justizminister, ehe er von 1939 bis 1948 wieder das Amt des Ministerpräsidenten einnahm. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 159 Heinrich Brüning (1885–1970) war ein deutscher, christlichsozialer Gewerkschafter. Er führte von 1930 bis 1932 als Reichskanzler die Weimarer Republik und emigrierte 1933 in die USA. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 160 Walter Citrine (1887–1983) war ein einflussreicher britischer Gewerkschaftsführer, von 1945 bis 1946 war er Präsident des Internationalen Gewerkschaftsbundes. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 161 Robert Gilbert, Lord Vansittart (1881–1957) war ein britischer Diplomat, ab 1929 diente er als Unterstaatssekretär im Foreign Office. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 162 Walter Viscount Runciman of Doxford (1870–1949), Mitglied der Liberalen Partei und schon mehrfach als Minister tätig, wurde 1938 nach Böhmen entsandt, um in Sachen Sudetenkrise zu recherchieren, wobei seine Sicht der Lage Chamberlain dazu bewog, in München Hitlers Forderungen nachzugeben, was in Folge zur Besetzung des Sudetenlandes durch Hitler im Oktober 1938 führte. (Anmerkung der Hg. M.-A.)

Anmerkungen

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163 Fulvio Suvich (1887–1980) war ein italienischer Diplomat. Unter Mussolini wurde er zum Unterstaatssekretär für Finanzen und Auswärtiges berufen und unterstützte Österreichs Unabhängigkeitsbestrebungen gegen das nationalsozialistische Deutschland. Er überredete Mussolini bei der Ermordung Dollfuß, Truppen an die österreichische Grenze zu verlegen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 164 Stanley Baldwin (1867–1947) war Parteiführer der britischen Konservativen, er bekleidete das Amt des Premierministers in den Jahren 1923–1929 und 1935–1937. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 165 Dino Graf Grandi (1895–1988), italienischer Politiker, 1929–1931 Außenminister, 1939–1943 Justizminister, führte 1943 Mussolinis Sturz herbei, emigrierte dann nach Brasilien. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 166 Franz Rehrl war Landeshauptmann von Salzburg von 1922 bis 1938. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 167 Emil Wasserbäck, als Presseattaché an der österreichischen Gesandtschaft in Berlin tätig, wurde verhaftet und später aus Deutschland ausgewiesen. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 168 Konstantin von Neurath (1873–1956) war ein deutscher Diplomat, der von 1932 bis 1938 als Außenminister des nationalsozialistischen Regimes diente. Er wurde von 1939 bis 1941 Reichsprotektor von Böhmen und Mähren  ; im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess wurde er, in allen Anklagepunkten für schuldig befunden, zu 15 Jahren verurteilt, aber schon 1954 entlassen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 169 Ing. Stefan Tauschitz (1889–1970) stammte vom Farchenhof östlich von Klagenfurt. Von 1927 bis 1930 war er Mitglied des Kärntner Landtages. Von 1927 bis 1934 wirkte er als Abgeordneter des Nationalrates. Er trat 1933 in den Auswärtigen Dienst ein, war ab März 1933 Gesandter in Berlin bis 1939  ; er wurde 1939 in den dauernden Ruhestand versetzt. 1945 wurde er Mitglied der provisorischen Kärntner Landesregierung. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky  – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009) 170 Neville Chamberlain (1869–1940), Halbbruder von Austen Chamberlain, war zwischen 1923 und 1937 abwechselnd Wohlfahrtsminister und Schatzkanzler  ; 1937 wurde er Primierminister und versuchte, mit Hitler und Mussolini zu einer Verständigung zu kommen (1938 Anschluss Österreichs und des Sudetenlandes). Nach diesem Misserfolg wurde er zu einem konsequenten Gegner Hitlers. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 171 Hjalmar Schacht (1877–1970) konnte als Währungskommissar 1923 die Inflation in Deutschland aufhalten (Rentenmark), von 1934 bis 1937 war er Reichswirtschaftsminister und unterstützte Hitlers Rüstungs- und Wirtschaftspolitik. Er wurde im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess freigesprochen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 172 Georges Bonnet (1889–1973), ein französischer Radikalsozialist, war in den Jahren 1933–1940 wiederholt Minister  ; er unterzeichnete 1938 das Pariser Abkommen über die Abtretung des Sudetenlandes. 173 Joseph Paul-Boncour (1873–1972), französischer Politiker, ab 1911 wiederholt Minister, 1932–1934 und 1938 Außenminister, 1932–1933 auch Ministerpräsident. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 174 Edouard Herriot (1872–1957), französischer Politiker, Führer der Radikalsozialisten, 1924–1928 Ministerpräsident und Außenminister. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 175 Anton Rintelen (1876–1946), österreichischer Politiker und Universitätsprofessor, war in den Jahren 1919–1926 Landeshauptmann der Steiermark, 1926 und dann 1932–1933 wurde er Unterrichtsminister, 1933–1934 diente er als österreichischer Gesandter in Rom. Er sympathisierte mit den Nationalsozia­ listen (gegen Dollfuß) und erhielt aufgrund seiner Mitwirkung am Juli-Putsch 1935 lebenslänglich, wurde 1938 amnestiert und endete 1946 durch Selbstmord. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf

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Anmerkungen

Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky  – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009. Siehe auch Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 176 Sir Eric Drummond, Earl of Perth (1876–1952), britischer Diplomat, war 1919 bis 1932 Generalsekretär des Völkerbundes und vertrat Großbritannien zwischen 1933 und 1939 in Rom. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 177 Pietro Badoglio (1871–1956) war ein italienischer General und Anhänger Mussolinis, von 1928 bis 1933 wirkte er als Gouverneur von Libyen, 1936–1937 als Vizekönig von Italienisch-Ostafrika (Abessinien usw.). Im Zuge des Zweiten Weltkrieges wurde er zum Marschall und Generalstabschef ernannt. Er bildete 1943 nach der Verhaftung Mussolinis eine (königstreue) Regierung (bis 1944)  ; 1947 wurde er wegen Teilnahme am Faschismus verurteilt. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 178 Ivanoe Bonomi (1873–1951) war italienischer Ministerpräsident von 1921 bis 1922, seine links-tendierende Regierung veranlasste Mussolini zum Marsch auf Rom. 1944 bildete er gemeinsam mit antifaschistischen Widerstandsgruppen als Nachfolger Badoglios eine neue Regierung. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 179 England. 180 Kurt von Schuschnigg (1897–1977), österreichischer Politiker, war 1932 Justizminister, 1933 auch Unterrichtsminister, und wurde 1934 nach der Ermordung Dollfuß’ Bundeskanzler. Mit der Besetzung Österreichs durch Hitler wurde er 1938 im KZ Dachau inhaftiert  ; nach dem Krieg wirkte er als Universitätsprofessor in den USA. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Giles Macdonogh  : 1938 – Hitler’s Gamble. London 2009. Siehe auch Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 181 Ulrich von Hassell (1881–1944) war von 1932 bis 1938 deutscher Botschafter in Rom, seit 1938 betätigte er sich in der Widerstandsbewegung gegen Hitler, 1944 wurde er in Folge des StauffenbergAttentats vom 20. Juli verhaftet und hingerichtet. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 182 Alfred von Tirpitz (1849–1930), deutscher Großadmiral, machte Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg zur zweitgrößten Seemacht der Welt und hoffte, England so von einem Angriffskrieg gegen Deutschland abzuhalten  ; er trat 1916 zurück und war nach dem Krieg deutschnationaler Reichstagsabgeordneter. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 183 Der Gatte, Botschaftsrat von Bülow, wanderte aus, weil er mit dem Regime seiner Heimat in Konflikt war. Er hatte in einen Fragebogen, in welchem jeder deutsche Beamte Juwelen- und Goldbesitz einbekennen musste, zu »Gold« eingetragen  : »Das halbe Maul voll«. Die Antwort frommte ihm nicht. (Anmerkung des Verfassers) 184 Die Gräfin Chambrun, geborene Prinzessin Rohan, war des großen Charmeurs Charles de Chambrun langjährige Maîtresse gewesen. Als er Botschafter von Ankara war, sprach anlässlich eines Empfanges ein Geladener die geistvolle Dame mit den Worten an  : »Ai-je l’honneur de parler à la Maîtresse de la maison  ?« Marie antwortete  : »Non, pas de la maison, mais de l’Ambassadeur.« Oder  : Charles de Chambrun klagte darüber, er könne nicht mit seiner Frau reisen, denn er geniere sich, an eine Hoteldirektion zu telegrafieren  : »Reservez chambre et chambre femme de chambre. Chambrun«. (Anmerkung des Verfassers) 185 Pierre Laval (1883–1945), französischer Politiker, war von 1931 bis 1932 Ministerpräsident, von 1934 bis 1935 Außenminister und von 1935 bis 1936 erneut Ministerpräsident  ; er wurde 1940 unter Marschall Pétain Ministerpräsident im von den Deutschen besetzten Frankreich  ; nach der alliierten Invasion nach Deutschland gebracht, floh er im April 1945 nach Spanien, wurde ausgeliefert und hingerichtet. (Anmerkung der Hg. M.-A.)

Anmerkungen

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186 Auch als Mussolini-Laval-Pakt oder Französisch-Italienisches Abkommen vom 7. 1. 1935 bekannt. Schwarzenberg bezieht sich auf die vorhergehenden Verhandlungen, denn unterzeichnet wurde es erst im Januar 1935. Dieses in Rom unterzeichnete Abkommen sollte der Beginn einer französisch-italienischen Allianz gegen Hitler sein und sah u. a. vor, dass Frankreich im Falle eines italienischen Angriffs auf Äthiopien Zurückhaltung üben würde. Mit dem Mord an Dollfuß veränderte sich jedoch die Lage, und Mussolini wandte sich immer mehr dem Deutschen Reich zu. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 187 1946. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 188 Karl Gruber (1909–1995) war 1945 Landeshauptmann von Tirol, von 1945 bis 1953 Außenminister, dann Botschafter in Washington  ; Mitgestalter des Gruber-De Gasperi-Abkommens über Südtirol (1946–1947). (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky  – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009. Siehe auch Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 189 Ernest Bevin (1881–1951) war ein britischer Gewerkschafter und Labour-Party-Mitglied, 1940 Arbeitsminister unter Churchill, 1945–1950 wurde er Außenminister. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 190 Zwei mir von Jebb erzählte Anekdoten  : Die Kenntnisse der französischen Sprache des ehemaligen Gewerkschafters (Kohlenbergarbeiter) waren dürftig. Ging Bevin in Paris in ein Restaurant essen, bestellte er regelmäßig »Steak and nuits«, damit war der bekannte Burgunder »Nuits St. Georges« gemeint. Ein Freund erzählte Bevin, ein gemeinsamer wohlhabender Bekannter namens Archibald wünsche sich sehnlichst einen Sohn und Erben  ; aber es gelinge nicht. Darauf Bevin  : »I well believe that old Archie is heir-minded but I doubt whether he is heir-conditioned  !« (Anmerkung des Verfassers) 191 Guido Schmidt (1901–1957) war 1936–1938 Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Im Februar/März 1938 wurde er Außenminister  ; nach dem Anschluss wurde er von Göring zum Leiter der Buna-Werke bestellt und als einziges Mitglied der abgesetzten österreichischen Regierung nicht nach Dachau verschleppt. 1945–1947 unter Hochverratsverdacht in Haft, wurde er aber später freigesprochen, nicht zuletzt aufgrund der Zeugenaussagen des Verfassers in diesem Prozess. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009. Siehe auch Giles Macdonogh  : 1938 – Hitler’s Gamble. London 2009. Siehe auch Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 192 Alfred Rosenberg (1893–1946), national-sozialistischer Vordenker und ideologischer Propagandist der NSDAP Hitlers, war Autor des Buches »Der Mythos des XX. Jahrhunderts«  ; ab 1941 wurde er zum Reichsminister für die besetzten Gebiete bestellt. Er wurde 1946 im Zuge der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse hingerichtet. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 193 Joseph Goebbels (1897–1945) trat früh als nationalsozialistischer Gefolgsmann Hitlers in den Zwanzigerjahren auf und organisierte die Parteiagenden in Berlin. 1926 wurde er zum Gauleiter Berlins ernannt und schon 1928 zum Reichspropagandaleiter der NDSAP gemacht. 1933 war er Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, 1944 Generalbevollmächtigter für den »totalen Einsatz«. Er verübte zu Kriegsende mit der ganzen Familie Selbstmord. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 194 Hermann Göring (1893–1946), ein hoch dekorierter Jagdflieger des Ersten Weltkriegs, kam 1922 zur NSDAP Hitlers. 1933 wurde er preußischer Ministerpräsident und Luftfahrtminister. Im Oktober 1936 wurde Göring zum Reichsbeauftragten für den Vierjahresplan ernannt. Dieser Plan sah, mit Blick auf einen möglichen Krieg, die Schaffung einer Wirtschaftsautarkie für Deutschland vor. 1938 führ-

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Anmerkungen

ten Görings erfolgreiche Verhandlungen mit Regierungsvertretern Italiens, Großbritanniens, Ungarns und Polens bezüglich Österreichs zum Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland. Am 31. Juli 1941 beauftragte Göring Heydrich, »die Judenfrage in Form der Auswanderung oder Evakuierung einer den Zeitverhältnissen entsprechend möglichst günstigen Lösung zuzuführen« – er bezeichnete dies als »angestrebte Endlösung der Judenfrage«. (Christopher Browning  : Entfesselung der »Endlösung«. Berlin 2006  : 456ff.). An der Wannsee-Konferenz Januar 1942 nahm Göring zwar nicht teil, doch führte seine Beauftragung Heydrichs zur Lösung des Judenproblems dort zu einem organisatorisch ganz konkret umsetzbaren Maßnahmenplan. Als einer der Hauptangeklagten im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess entzog sich Göring durch Selbstmord der Verurteilung. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 195 Heinrich Himmler (1900–1945) kam 1919 mit dem Freikorps Lauterbach zur Niederwerfung der Räterepublik nach München, 1923 trat er der NSDAP bei. 1929 wurde er Reichsführer der SS (Sturmscharen, eine Art Bürgerkriegstruppe) und baute diese als innerpolizeiliche Truppe aus. Mit Hitlers Regierungsantritt 1933 wurde Himmler zum Polizeipräsidenten Münchens ernannt, wobei das Konzentrationslager Dachau in seinem Verantwortungsbereich lag. Mit der Gleichschaltung der Länder gewann er die Kontrolle der Polizeigewalt fast überall dort. Er tat sich insbesondere bei der Niederschlagung des Röhmputsches hervor. 1936 wurde er Chef der deutschen Polizei. Unter seiner Befehlsgewalt wurden nun die Schutz- und Kriminalpolizei, die SS und die SD, zusammengeführt. Mit der Schaffung des Reichssicherheitshauptamtes, das von Richard Heydrich geführt wurde und Himmler direkt unterstand, wurde zu Beginn des Krieges 1939 die instrumentelle Grundlage für die nachfolgende Vernichtungspolitik geschaffen. Ab 1941 wurde Himmler zu einem der Hauptveranwortlichen der »Endlösung der Judenfrage«. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 196 Alfred Horstmann (1879–1947), ein deutscher Diplomat, quittierte 1933 in Ablehnung Hitlers den Dienst und lebte als Privatier und Kunstsammler in Berlin. Er war verheiratet mit der Tochter des Bankiers Paul von Schwabach, Leonie »Lally« von Schwabach (1898–1954). Alfred Horstmann wurde 1946 vom sowjetschen Geheimdienst NKWD verhaftet und verstarb ein Jahr darauf im sowjetischen Internierungslager der Roten Armee in Oranienburg. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 197 Leonie »Lally« von Schwabach (1898–1954) verarbeitete diese Zeit in dem Buch »Nothing for Tears«. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 198 General Leonard Kaupisch (1878–1945) war 1934 Befehlshaber vom Luftkreiskommando II, zwischen 1935 und 1938 General der Flieger in der Luftwaffe. 1939 wurde er dann zum Militärbefehlshaber Danzig-Westpreußen ernannt. Ab November 1939 wurde sein Stab in »Höheres Kommando XXXI« umbenannt  ; er wurde zu dessen Kommandeur ernannt. Er führte beim Unternehmen Weserübung den Angriff und die Besetzung von Dänemark aus. 1942 schied er aus der Wehrmacht aus. 199 Albrecht Theodor Andreas Graf von Bernstorff (1890–1945), deutscher Diplomat und Widerstandskämpfer gegen das Naziregime, war bis 1933 deutscher Botschafter in England und wurde dann als Gesinnungsgegner der Nazis in den Ruhestand versetzt. 1940 wurde er von den Nazis nach Dachau deportiert, aber kurz darauf wieder entlassen. Bis zu seiner zweiten Verhaftung 1943 half er verfolgten Juden und diente dem Widerstand. Durch Adam von Trott zu Solz knüpfte er Kontakt zum Solfer Kreis und zum Kreisauer Kreis. Nach dem Stauffenberg-Attentat wurde er inhaftiert und nach Berlin verlegt  ; verhört und gefoltert, wurde er 1945 von der SS ermordet. 200 Hannah von Bredow, geb. Gräfin Bismarck (1893–1971), verheiratet (1915) mit Leopold von Bredow (†1933). Ihr Sohn Bill heiratete 1969 Prinzessin Marie Eleonore (Amia) Schwarzenberg, eine Großnichte des Verfassers. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 201 Otto Fürst von Bismarck (1897–1975), Enkel des Reichskanzlers gleichen Namens. Er war nach 1949 CDU-Bundestagsabgeordneter. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981)

Anmerkungen

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202 Bei seinem Prozess in Nürnberg versuchte Constantin von Neurath, sich aus der Verantwortung he­ rauszureden, indem er in seiner Verteidigung angab, er sei im Amt geblieben, um Schlimmeres zu verhindern. Neurath hatte sich vor Gericht wegen Verschwörung, Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu verantworten. Er wurde aber in allen Punkten für schuldig befunden, da ihm seine Verwicklung in die genannten Verbrechen, zuerst als Ribbentrops Vorgänger und dann als Reichsprotektor in Böhmen und Mähren, genauestens nachgewiesen werden konnte. Neurath gab an, dass Himmler, von Weizsäcker und Woermann mehr Schuld an den Verbrechen der Nationalsozialisten trügen als er. »Es passte ins Bild, dass Neurath, der Schuld und Verantwortung überall entdecken konnte, nur nicht in seinen eigenen Handlungen, das Strafmaß von 15 Jahren überzogen fand.« (Conze et al. 2010  : 375ff.). In Schwarzenbergs Nachlass fanden sich keine Hinweise darauf, inwiefern er über die Anklagepunkte gegen Neurath wusste und informiert war. Siehe hierzu auch die das Kapitel Erich von Weizsäcker betreffende einleitende Anmerkung der Herausgeber. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 203 Carl August Clodius (1897–1952), deutscher Diplomat und Wirtschaftsfachmann, war 1938 Gesandter 1. Klasse und Ministerialdirigent in der Handelspolitischen Abteilung des Auswärtigen Amtes. November 1943 wurde er zum Ministerialdirektor befördert. Er verstarb 1952 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 204 Vico Karl Alexander von Bülow-Schwante (1891–1970), deutscher Diplomat und NSDAP-Mitglied, gründete 1933 im Auswärtigen Amt das Sonderreferat Deutschland. Aufgabe dieses Referates war es u. a., ab dem 20. März 1933 die bisher von der Abteilung III behandelten jüdisch-politischen Angelegenheiten zu übernehmen, die nach der Machtübergabe an die Nazis im Auswärtigen Amt in »Judenfrage« umbenannt wurden. Auch war er zuständig für die Nazi-Propagandaverbreitung im Ausland. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Browning 2010 und Conze et al. 2010) 205 Leon Blum (1872–1950), französischer sozialistischer Politiker, war in den Jahren 1936–1937, 1938 und 1946 Ministerpräsident  ; er war von 1943 bis 1945 Konzentrationslagerinsasse. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 206 Charles de Gaulle (1890–1970) ging 1940 als General ins Exil nach England und wurde dort Anführer der französischen Widerstandsbewegung. Im November 1945, als Chef der provisorischen Regierung (bis Jänner 1946), gründet er die Gaullistische Bewegung. Er wurde 1958 Ministerpräsident, im gleichen Jahr Präsident und trat 1969 von diesem Amt zurück. 207 Sir Winston Churchill (1874–1965), britischer Staatsmann, erst Offizier, Kriegsberichterstatter im Burenkrieg, 1911 Erster Seelord, dann wieder Offizier, 1917 Munitionsminister, 1919 Kriegsminister, 1924–1929 Schatzkanzler, 1940 Premierminister, hatte wesentlichen Anteil am Durchhaltewillen der Engländer, trat 1945 zurück, 1951 wieder Premierminister bis 1955. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 208 Bertrand Russell (1872–1970) war ein englischer Philosoph und Mathematiker, der, ein Sympathisant der Labour Party, als Sozialkritiker und Pazifist auftrat. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 209 Paul-Henri Spaak (1899–1972), ein belgischer Politiker, war seit 1935 wiederholt Minister, 1938–1939 Ministerpräsident. Mit der deutschen Okkupation begab er sich dann ins Exil nach England  : 1946 wurde er zum Außenminister ernannt, 1947–1949 wurde er Ministerpräsident und verhinderte in dieser Eigenschaft 1950 die Rückkehr Leopolds III. auf den Thron  ; 1954–1957 war er erneut Außenminister und federführend in der Europabewegung aktiv. Zwischen 1957 und 1961 wurde er zum Generalsekretär der NATO berufen, 1961–1967 bekleidete er wieder das Amt des Außenministers. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 210 Konrad Adenauer (1876–1967) war von 1917 bis 1933 Oberbürgermeister von Köln und wurde im März 1933 von den Nationalsozialisten seines Amtes enthoben. 1945 war er Mitbegründer der CDU.

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Anmerkungen

Er wurde 1949 Bundeskanzler (bis 1963) und war wesentlich an der deutsch-französischen Verständigung und am Wiederaufstieg Deutschlands beteiligt. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 211 Alcide De Gasperi (1881–1954), 1911–1914 noch Abgeordneter im österreichischen Reichsrat (als Trien­tiner) der österreichisch-ungarischen Monarchie, war während des Zweiten Weltkrieges Mitbe­ gründer der Democristiani. 1946 Außenminister (zwischen 1945 und 1953 auch wiederholt Minister­ präsident), schloss 1946 mit Österreich ein Abkommen über Südtirol ab (Gruber-De Gasperi-Abkommen). Neben Adenauer und Schuman war er einer der »großen Europäer« der Nachkriegszeit. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 212 John Foster Dulles (1888–1959) arbeitete 1950 mit Außenminister Dean Acheson am Frieden für Japan  ; 1953–1959 Außenminister und als solcher Mitunterzeichner des österreichischen Staatsvertrages 1955. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 213 John F. Kennedy (1917–1963), amerik. Präsident von 1960 bis 1963  ; er wurde in Dallas/Texas ermordet. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 214 Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow (1890–1986, eigentlich Skrjabin) war seit 1925 Mitglied des sowjetischen Politbüros, handelte als Außenminister für Stalin den Molotow-Ribbentrop-Pakt aus und blieb bis 1949 im Amt. In den Jahren 1953–1956 wurde er erneut Außenminister, war als solcher Mitunterzeichner des österreichischen Staatsvertrages 1955, fiel 1957 in Ungnade und wurde Botschafter in der Mongolei  ; 1960–1961 wurde er sowjetischer Vertreter bei der Internationalen Atomenergiekommission in Wien. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 215 Joachim von Ribbentrop (1893–1946) war 1936–1938 deutscher Botschafter in London, 1938–1945 wurde er Nachfolger Neuraths als Reichsaußenminister. Er wurde 1946 nach dem Nürnberger Kriegsverbrecherprozess hingerichtet. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 216 Vidkun Quisling (1887–1945), norwegischer Politiker, 1931–1933 Kriegsminister, stand am faschistischen Flügel, warnte 1939 (Dezember) Hitler vor der beabsichtigten Besetzung der Häfen Norwegens durch die Briten, was zur Besetzung ganz Norwegens durch Deutschland führte. Er bildete dann unter der deutschen Besatzung eine nationale Regierung, wurde 1945 zum Tod verurteilt und erschossen. Sein Name steht heute für mit dem Feind kollaborierende Spitzenpolitiker eines besetzten Landes. 217 Arthur Seyß-Inquart (1892–1946) wurde von Schuschnigg auf Drängen Hitlers 1937 in den Staatsrat berufen, 1938 Innenminister und führte nach Schuschniggs Rücktritt als Bundeskanzler den Anschluss an Deutschland durch. 1940–1945 wurde er zum Reichskommissar für die besetzten Niederlande ernannt. 1946 wurde er in Nürnberg zum Tod verurteilt und hingerichtet. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky  – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009. Siehe auch Giles Macdonogh  : 1938 – Hitler’s Gamble. London 2009. Siehe auch Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 218 Diese Begebenheit trug sich am 10. 6. 1934 zu. (Siehe Sir Eric Phipps  : Our Man in Berlin  : The Diary of Sir Eric Phipps, 1933–1937. Ed. by G. Johnson. Hampshire 2008.) Auch der damalige amerikanische Botschafter William E. Dodd war zu diesem Anlass eingeladen. (Siehe auch Erik Larson  : In the Garden of Beasts. London 2011. 279.) (Anmerkung der Hg. M.-A.) 219 Hermann Göring besaß einen gezähmten Löwen namens Caesar, den er etwa 1934 als Jungtier in Karinhall hielt. Es existiert eine Porträtaufnahme des Ehepaars Göring mit Caesar. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 220 André François-Poncet (1887–1978), französischer Germanist, Politiker und Diplomat, war Botschafter Frankreichs im Dritten Reich, französischer Hoher Kommissar in Deutschland von 1949 bis 1953. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981)

Anmerkungen

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221 Sir Nevile Meyrick Henderson (1882–1942), von 1937 bis 1939 britischer Botschafter in Deutschland, vertrat in Berlin Chamberlains Appeasement Policy gegenüber Hitler und überreichte das britische Ultimatum an Ribbentrop. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 222 Major-General Gaston-Ernest Renondeau (1879–1967) war von 1932 bis 1938 belgischer Militärattaché in Berlin. Er zweifelte schon früh von Papens Fähigkeiten an, Hitler in der Regierung kontrollieren zu können. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 223 Hans Heinrich Lammers (1879–1962) war 1933–1945 Chef der Reichskanzlei, 1939–1945 auch Geschäftsführer des Ministerrats für die Reichsverteidigung und seit 1937 Reichsminister  ; in Nürnberg wurde er 1946 zu 20 Jahren Haft verurteilt, aber 1952 entlassen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 224 Schwarzenberg muss Lammers schon am 19. 11. 1936 offiziell anlässlich einer »Abendtafel« des Reichsministers begegnet sein. Im Nachlass Schwarzenbergs findet sich eine schematische Abbildung der Tischordnung vor). Kathleen Schwarzenberg nahm an diesem Essen nicht teil. Unter den hochrangigen Gästen befanden sich u. a. der Reichskriegsminister von Blomberg, Generaloberst von Fritsch, die Staatssekretäre Lammers und Milch, Polizeipräsident Graf Helldorff, Legationsrat Clodius, General von Stülpnagel, General von Witzleben, Reichsminister Frank und Botschafter von Papen und sämtliche Mitglieder der österreichischen Gesandtschaft in Berlin. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 225 Otto Meißner (1880–1953) war seit 1920 Leiter des Büros des Reichspräsidenten und von 1934 bis 1945 Chef der Präsidialkanzlei (seit 1937 im Rang eines Reichsministers)  ; 1945 wurde er verhaftet, aber später freigesprochen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 226 Wilhelm Filchner (1877–1957) war ein bekannter deutscher Forschungsreisender in Zentralasien und in der Antarktis. Er wurde 1939 auf einer Reise nach Nepal in Indien interniert und kehrte erst 1951 zurück. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 227 Ernst Röhm (1887–1934) baute die SA (Sturmabteilungen), eine Parteitruppe, auf. 1934 wurde er verdächtigt, einen Putsch inszenieren zu wollen, doch vermutlich war dies ein Vorwand seiner Feinde in der Partei (Göring, Himmler etc.), um ihn und seine Anhänger zu beseitigen. Seine Ermordung wurde als »Staatsnotwehr« deklariert und seine SA entwaffnet – die »Nacht der langen Messer«. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe auch Richard Evans  : The Third Reich in Power. London 2005) 228 Gemeint ist eigentlich Albert-Edouart Janssen (1883–1966). Von 1919 bis 1925 fungierte er als Präsident der Belgischen Nationalbank, nebenbei lehrte er seit 1911 an der Katholischen Universität Löwen. Janssen war belgischer Finanzminister in den Jahren 1925/1926 unter dem Premierminister Prosper Poullet, von 1938/1939 gehörte er in gleicher Eigenschaft dem Kabinett des Premiers Paul-Henri Spaak an. Zwischen 1940 und 1945 wurde Janssen zum Interimspräsidenten der Caisse Générale d’Epargne et de Retraite bestellt. Unter dem Premier Jean van Houtte wurde er zwischen 1952 und 1954 ein drittes Mal zum Finanzminister Belgiens ernannt. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 229 Raoul Wallenberg (1912–1947) war Spross einer berühmten schwedischen Unternehmer- und Bankiersfamilie. Als schwedischer Diplomat bemühte er sich um die Rettung der ungarischen Juden und geriet in sowjetische Gefangenschaft. Es herrscht nach wie vor Unklarheit bezüglich seines Todes. Er wurde von den Sowjets als Spion der USA verdächtigt und bis 1947 im berüchtigten Lubjanka-Gefängnis verhört und gefangen gehalten, von dort stammen auch die letzten konkreten Hinweise bezüglich seines Verbleibs. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 230 Edouard Daladier (1884–1970), französischer Radikalsozialist, war seit 1924 mehrfach Minister, 1933, 1934 und 1938–1940 Ministerpräsident. Er unterzeichnete das Münchner Abkommen über die Abtretung des Sudetenlandes (1938), erklärte September 1938 vor Befragung des Parlaments Deutschland den Krieg und wurde 1940 interniert  ; nach 1946 trat er wieder als Abgeordneter in Erscheinung. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 231 Als Teil des belgischen Festungsringes Lüttich in den Jahren 1932 bis 1939 erbaut, ähnelte das Fort

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Anmerkungen

denen der französischen Maginot-Linie. Der deutsche Planungsstab hatte sehr genaue Kenntnisse über die Baustrukturen und konnte diese Wehranlage am 10. Mai 1940 zerstören. (Anmerkung der Hg. M.A.) 232 Das Fort wurde nicht mittels Flammenwerfern, sondern mit Hohlladungen, die von Lastenseglern ans Ziel gebracht worden waren, gesprengt. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 233 Baron Antoine Allard (1907–1981), belgischer Künstler und Karikaturist, war 1940 als Sanitäter in der französischen Armee und erlebte den Kriegsschauplatz Afrika mit. 1967 war er Mitbegründer der belgischen OXFAM, die sich – wie das englische Original (OXFAM-UK) – auch dem Kampf gegen die Armut widmet. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 234 Maurice-Gustave Gamelin (1872–1958), französischer General, war im Ersten Weltkrieg Stabschef der Nord- und Nordostarmee, wurde 1931 Chef des Generalstabes und war 1939 Oberbefehlshaber der alliierten Streitkräfte in Frankreich, wurde jedoch 1940 abgesetzt, weil er für Frankreichs Niederlage verantwortlich gemacht wurde, und verblieb bis Kriegsende in Haft. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 235 Die Befestigungen Frankreichs entlang der deutschen Grenze, benannt nach dem Kriegsminister (1917–1931) André Maginot  ; sie galten als uneinnehmbares Wunderwerk, wurden aber im Zweiten Weltkrieg von den Deutschen auf dem Umweg über Belgien umgangen und aufgerollt. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 236 Leopold III., König der Belgier (1901–1983), regierte ab 1934 und kapitulierte 1940 vor den Deutschen  ; an seiner Stelle wurde nach der Befreiung Belgiens durch die Alliierten sein Bruder Charles zum Regenten gewählt. Erst 1950 konnte Leopold nach einer Volksabstimmung wieder nach Belgien zurückkommen, übertrug aber seine Rechte auf seinen Sohn Baudouin. In erster Ehe mit Prinzessin Astrid von Schweden (1934 verunglückt), ab 1941 mit Liliane Baels, der späteren Prinzessin de Réthy, verheiratet. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 237 Abkürzung für Royal Airforce, die britische Luftwaffe. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 238 Paul Reynaud (1878–1966) war 1928–1940 französischer Abgeordneter, von März bis Juni 1940 wirkte er als Ministerpräsident, ehe er dann in Deutschland interniert wurde  ; nach dem Krieg wurde er wiederholt als Minister bestätigt und war 1949–1954 Vorsitzender des Wirtschafts- und Finanzausschusses des Europarates. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 239 Albert I., König der Belgier (1875–1934), war ab 1909 König und verteidigte im Ersten Weltkrieg die Neutralität Belgiens mit gewissem Erfolg. Er stürzte bei einer Kletterpartie tödlich ab. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 240 Maria Anna Gräfin von Sulz, Landgräfin im Kleggau (auch Klettgau) (1653–1698), Erbtochter des letzten Grafen von Sulz, heiratete 1674 Ferdinand Grafen (später Fürsten) Schwarzenberg (1652–1703) und brachte ihm die Landgrafschaft samt Titel und Reichserbhofrichteramt nach dem Tod ihres Vaters (1687) in die Familie mit  ; mit alldem war auch das Bürgerrecht in Zürich verbunden, das allen Mitgliedern der Familie Schwarzenberg auch heute zusteht. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 241 Johann Calvin (1509–1564), Begründer des Calvinismus (des evangelischen Helvetischen Bekenntnisses), der u. a. lehrt, dass das Leben des Menschen von Gott vorherbestimmt ist (Prädestinationslehre). (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 242 Hugo von Hofmannsthal (1874–1929), österreichischer Schriftsteller, arbeitete mit Richard Strauss zusammen und schrieb ihm einige Libretti für seine Opern. Sein »Jedermann« z. B. ist noch heute traditionelles Element der Salzburger Festspiele. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 243 Max Huber (1874–1960) leitete das IKRK als Präsident von 1928 bis 1944. (C. J. Burckhardt folgte ihm in dieser Funktion nach.) Huber vertrat die Ansicht, dass das IKRK »nur im Rahmen seiner Neutralität und im Zusammenhang mit seiner Mission als Hüter der Abkommen und der Vereinbarungen zwischen den kriegführenden Mächten« (Favez 1989  : 445) in Aktion treten konnte. Diese Linie sollte hin-

Anmerkungen

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derlich in der Frage einer öffentlichen Verurteilung der nationalsozialistischen Gesetzesverletzungen und Verbrechen gegen die Juden sein, zudem verhinderte diese Sicht anfänglich auch, dass »deutsche jüdische Schutzhäftlinge und rassisch Deportierte« – »Zivilinternierten« gemäß der Genfer Konvention gleichgestellt wurden, womit sie in den Zuständigkeitsbereich des IKRK und dessen direkte Hilfsaktionen gefallen wären. Auch koppelten sich Huber wie auch Burckhardt in dieser Frage nie wirklich von den außenpolitischen Vorgaben der eidgenössischen Regierung vis à vis dem Dritten Reich ab. Die Organisation von konkreteren Hilfsmaßnahmen zugunsten der Juden, auch dann vor allem der ungarischen, wurde somit erschwert. 1945, in einem internen Memorandum, gesteht das IRK sein Versagen ein  : »Das IRK fühlt, daß seine dürftigen Bemühungen die schlimmste Niederlage in der Geschichte seiner humanitären Mission darstellen.« Jean Claude Favez zieht in seiner Studie »Das Internationale Rote Kreuz und das Dritte Reich« aus dem Jahre 1989 den Schluss, dass das IKRK »[mit] seiner Berufung auf das Völkerrecht angesichts juristisch nicht erfasster Opfer, die es um Hilfe baten, schliesslich oft nicht die Möglichkeiten zum Handeln gesucht, sondern im Gegenteil eine Rechtfertigung seiner Untätigkeit« (Favez 1989  : 522) vorgeschoben hat. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 244 Karl Barth (1886–1968), ein Schweizer reformierter Theologe, war Professor in Göttingen, Münster, Bonn und seit 1935 in Basel  ; als einer der bedeutendsten evangelischen Theologen des 20. Jahrhunderts war er wirksam weit über seine Religionsgemeinschaft hinaus. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 245 Carl Gustav Jung (1875–1961), der Schweizer Psychologe und Psychiater, war ein ehemaliger Schüler Sigmund Freuds und begründete die analytische Psychologie. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 246 Thomas von Aquin (um 1225–1274) gehörte dem Dominikanerorden an und zählt als Hauptvertreter der Scholastik zu den einflussreichsten und bedeutendsten Theologen und Philosophen der Geschichte. Noch heute werden seine Kommentare zum Werk des Aristoteles herangezogen. Er gilt als einer der bedeutendsten Kirchenlehrer der katholischen Kirche und wird in dieser als Heiliger verehrt. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 247 Pierre Teilhard de Chardin (1881–1955) war ein französischer Jesuit. Als Philosoph, Theologe, Paläontologe, Geologe und Anthropologe suchte er, Religion und Wissenschaft zu verbinden, um diese beiden Ideenreiche zu versöhnen. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 248 Friedrich Traugott Wahlen (1899–1985) war Schweizer Professor für Landwirtschaft an der ETH Zürich und Politiker. Bereits in den 1930er-Jahren arbeitete er Pläne zur Erhöhung der autarken Selbstversorgung der Schweiz mit Grundnahrungsmitteln aus. In der Zeit des Zweiten Weltkriegs führte er die »Anbauschlacht« (oder »Plan Wahlen«) durch  : Sogar die Grünanlagen in den Städten wurden zum Anbau von Getreide, Kartoffeln und Zuckerrüben herangezogen, wodurch die autarke Grundnahrungsselbstversorgung der Schweiz erfolgreich von 52 Prozent (1939) auf 72 Prozent (1945) erhöht werden konnte. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 249 Allan Welsh Dulles (1893–1969), amerikanischer Politiker, leitete während des Zweiten Weltkriegs den amerikanischen Nachrichtendienst von Bern aus  ; 1953 wurde er Leiter des CIA. Einer seiner Töchter war eine Zeit lang mit dem österreichischen Verleger Fritz Molden verheiratet. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Siegfried Beer  : Target Central Europe  : American Intelligence Efforts Regarding Nazi and Early Postwar Austria. Graz 1997. Siehe auch Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005) 250 Anton Graf Lanckoronski (1893–1965), Sohn des erwähnten Grafen Karl L. und Halbbruder der ebenfalls erwähnten Gräfin Karla. Mit ihm starb die Familie im Mannesstamm aus. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 251 Siehe Dokumentarteil. 252 Das z.T. von Rumänen bewohnte Gebiet zwischen Dnjestr und dem unteren Bug in der Ukraine  ; es stand 1941–1944 unter rumänischer Verwaltung. (Anmerkung des Verfassers)

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Anmerkungen

253 Unabhängige Expertenkommission Schweiz  – Zweiter Weltkrieg  : Die Schweiz und Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus. Bern 1999. 252–253  ; www.akdh.ch/ps/uek.pdf (zuletzt aufgerufen am 10. 11. 2011) 254 Dagi Knellessen in  : Rudolf Vrba  : Ich kann nicht vergeben. Meine Flucht aus Auschwitz. Frankfurt/ Main 2010  : 459. 255 Raul Hilberg  : Unerbetene Erinnerungen. Der Weg eines Holocaust-Forschers. Frankfurt am Main [1994] 2008  : 99. 256 Die Bermuda-Konferenz fand in Hamilton/Bermuda statt und wurde am 19. 4. 1943 (am Tag des Aufstandes im Warschauer Ghetto) von den USA und Großbritannien abgehalten, um Fragen bezüglich Einwanderungsquoten jüdischer Flüchtlinge zu klären, ohne jedoch konkrete Ergebnisse zu erzielen  : »Die beiden Delegationen schlossen kategorisch aus, sich in irgendeiner Form an Hitler zu wenden, weder mit der Forderung, Juden in den von den Nationalsozialisten besetzten Ländern freizulassen oder NS-Kriegsgefangene und Internierte gegen Juden auszutauschen, noch mit dem Vorschlag, (durch die Blockade der Alliierten) Lebensmittel zu schicken, um bei der Ernährung der Juden in Europa mitzuhelfen. […] Schließlich kam es zu einem britisch-amerikanischen Kompromiss, der auf einer grundlegenden, stillschweigend akzeptierten Voraussetzung beruhte  : dass die Amerikaner hinsichtlich Palästina keinen Druck auf die Briten ausüben würden, während Letztere die jüdische Immigration in die Vereinigten Staaten mit ähnlicher Diskretion behandeln würden.« (Robert S. Wistrich  : Hitler und der Holocaust. Berlin 2003  : 271ff.) Hinzu kommt, dass Mitglieder des Joint Distribution Committee und des Jewish World Congress nicht zur Teilnahme eingeladen waren. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 257 Breckinridge Long (1881–1958) war stellvertretender Außenminister des amerikanischen Präsidenten F. D. Roosevelts von 1939 bis 1944. Er war zuständig für die Flüchtlingspolitik. Der amerikanische Historiker Robert Wistrich charakterisiert Long als einen »paranoiden Antisemiten«. (Wistrich 2003  : 269) Long, neben anderen eminenten Beamten des amerikanischen Außenministeriums, legte in der Frage verfolgter jüdischer Flüchtlinge Hindernis über Hindernis in den Weg und vereitelte derart Schritte zur Behebung der Einwanderungsquoten oder gezielte Hilfsmaßnahmen zugunsten der von Hitler bedrängten Juden. Erst durch einen von Finanzminister Morgenthau herausgegebenen Bericht an Cordell Hull (»Bericht an den Minister über das Stillschweigen dieser Regierung angesichts des Mordes an den Juden« vom 13. 1. 1944) wurde Long zum Rücktritt veranlasst. Dieser Bericht stellte fest, dass »bestimmte Mitarbeiter im Außenministerium nicht nur den ihnen zur Verfügung stehenden amerikanischen Regierungsapparat nicht einsetzten, um Juden vor Hitler zu retten, sondern sogar versuchten, eine solche Rettung zu hintertreiben«. (Wistrich 2003  : 266) Roosevelt reagierte im Januar 1944 darauf mit der Errichtung des War Refugee Boards, das an der Rettung der europäischen Juden mitwirken sollte. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 258 Der Schacht-Rublee-Plan, in Nachwirkung der 1938 abgehaltenen Evian-Konferenz 1938, sah »die Auswanderung von 150 000 erwerbsfähigen Juden im Alter zwischen 15 und 45 Jahren über einen Zeitraum von drei Jahren in Übereinstimmung mit den Gesetzen der Aufnahmeländer vor. Sobald sie sich dort eingerichtet hätten, sollten 250 000 Familienangehörige folgen. […] Den auswandernden Juden wollte man gestatten, ihre persönliche Habe und ihr Berufswerkzeug mitzunehmen. Vom Rest ihres Vermögens sollten 25 Prozent in einen Treuhandfonds übergehen  ; […] Die übrigen 75 Prozent des jüdischen Vermögens sollten zur Unterstützung von Juden eingesetzt werden, die auf ihre Abreise warteten, und zur Unterstützung derer dienen, die nicht zur Ausreise in der Lage waren und in Deutschland blieben.« (Christopher Browning  : Die »Endlösung« und das Auswärtige Amt. Das Referat D III der Abteilung Deutschland 1940–1943. Darmstadt 2010  : 34) Dieser Plan wurde jedoch nie in die Realität umgesetzt, da Göring die Auswanderung der Juden auf jede erdenklich andere Weise erzwingen wollte. Anfang Januar 1939 veranlasste Göring Reinhard Heydrich dazu, eine »Reichszentrale für jüdische

Anmerkungen

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Auswanderung in Deutschland« einzurichten. Eichmanns Organisationsaufbau in Wien war das Ausgangsmodell dieser neuen, größeren Einrichtung. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 259 Helmuth Wohlthat (1893–1982) handelte nach Schachts Bestellung zum Reichsbankpräsidenten mit dem amerikanischen Verhandlungsführer George Rublee den sogenannten Schacht-Rublee-Plan fertig aus. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 260 Fritz Seidler (1907–1945), deutscher SS-Hauptsturmführer und Schutzhaftlagerführer in den Konzentrationslagern Auschwitz und Mauthausen-Gusen. 261 Rudolf Höß (1900–1947) war SS-Obersturmbannführer. Höß erhielt von Himmler am 1. 3. 1941 den Befehl, das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau zu errichten. Von Mai 1940 bis November 1943 fungierte er als Kommandant des Lagers. 262 Eckhart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann  : Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010  : 398. 263 Eckhart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann  : Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010  : 394ff. 264 Eckhart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann  : Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010  : 185–187. 265 Eckhart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann  : Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010  : 186. Siehe auch Christopher Browning  : Die »Endlösung« und das Auswärtige Amt. Das Referat D III der Abteilung Deutschland 1940–1943. Darmstadt 2010  : 92. 266 Christopher Browning  : Die Entfesselung der »Endlösung«. Nationalsozialistische Judenpolitik 1939– 1942. Berlin 2006  : 105ff. 267 Eckhart Conze, Norbert Frei, Peter Hayes und Moshe Zimmermann  : Das Amt und die Vergangenheit. Deutsche Diplomaten im Dritten Reich und in der Bundesrepublik. München 2010  : 186. 268 Christopher Browning  : Die »Endlösung« und das Auswärtige Amt. Das Referat D III der Abteilung Deutschland 1940–1943. Darmstadt 2010  : 199. 269 Ladislaus Löb  : Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Köln 2010. 270 Ladislaus Löb  : Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Köln 2010. 271 Yehuda Bauer  : »Onkel Saly«  – Die Verhandlungen des Saly Mayer zur Rettung der Juden 1944/45. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 25. Jahrgang (1977) Heft 2. 272 Yehuda Bauer  : »Onkel Saly«  – Die Verhandlungen des Saly Mayer zur Rettung der Juden 1944/45. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 25. Jahrgang (1977) Heft 2. 273 Siehe Beitrag Oliver Rathkolbs im Dokumentarteil  ; Zitat aus H. Wildners Tagebüchern (Anmerkung der Hg. M.-A.) 274 Enver Hodscha (1911–1985) war ein albanischer Politiker und führte eine Befreiungsarmee an. Seit 1944 war er Generalsekretär der Kommunistischen Partei und Ministerpräsident des Landes. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) 275 Dr. Alois Vollgruber (1890–1976) trat 1915 in den Auswärtigen Dienst ein. Nach dem Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland befand er sich von September 1938 bis März 1939 in Haft, um hiernach aus dem Dienst entlassen zu werden  ; er wurde 1945 rehabilitiert. 1945 wurde Wildner zum Gesandten in Paris ernannt. 1950–1953 war er Generalsekretär für die Auswärtigen Angelegenheiten im Bundeskanzleramt. 1955 erfolgte seine Pensionierung. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009) 276 Loris Francesco Capovilla (geb. 1915), Sekretär Papst Johannes’ XXIII., seit 1967 Erzbischof und seit

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Anmerkungen

1971 Prälat von Loreto und Päpstlicher Delegat bei diesem Heiligtum. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) (Siehe Anmerkungen Liebmanns.) 277 Leopold Figl (1902–1965) war 1934 Bauernbunddirektor von Niederösterreich, 1938–1943 war er im KZ. Von 1945 bis 1953 war er österreichischer Bundeskanzler und in den Jahren 1953–1959 Außenminister  ; er unterzeichnete den Österreichischen Staatsvertrag 1955. 1959–1962 Nationalratspräsident, 1962–1965 Landeshauptmann von Niederösterreich. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcell und Michaela Follner  : Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky – Biographisches Handbuch der Diplomaten des Höheren Auswärtigen Dienstes 1918 bis 1959. Wien 2009) 278 Cesare Battisti (1875–1916) aus Trient war seit 1911 österreichischer Reichsratsabgeordneter, er floh 1914 nach Italien und wurde als italienischer Offizier von Österreichern gefangen genommen und wegen Hochverrats gehängt  ; er galt als Märtyrer der italienischen Irredenta. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 279 Luigi Sturzo, recte Boscarelli (1871–1959), katholischer Priester, Vorkämpfer des politischen Katholizismus in Italien  ; Gründer des christlichen Partito Popolare Italiano  ; ging als Faschismusgegner 1925– 1946 ins Exil. (Anm.: L. C., E. und M. W.-W. 1981) Anmerkungen zu Oliver Rathkolbs Beitrag 280 Walter Goldinger (Hg.)  : Protokolle des Klubvorstandes der Christlichsozialen Partei 1932 bis 1934. Wien 1980  : 132. 281 Jean-Claude Favez  : Das Internationale Rote Kreuz und das Dritte Reich. War der Holocaust aufzuhalten  ? München 1989  : 160. 282 Hanna Zweig-Strauss  : Saly Mayer (1882–1950). Ein Retter jüdischen Lebens während des Holocaust. Wien 2007. 283 Arieh Ben-Tov  : Facing the Holocaust in Budapest. The International Committee of the Red Cross and the Jews in Hungary, 1943–1945. Dordrecht 1988  : 152. 284 Favez 1989  : 462. 285 Claudia Hoerschelmann   : Exilland Schweiz. Lebensbedingungen und Schicksale österreichischer Flüchtlinge 1938 bis 1945  : mit ca. 250 Einzelbiographien. Innsbruck 1997  : 338. Vgl. auch Siegfried Beer  : Target Central Europe  : American Intelligence Efforts Regarding Nazi and Early Postwar Austria 1/1997  ; http://www.cas.umn.edu/assets/pdf/WP971.PDF (zuletzt aufgerufen am 10. 11. 2011) 286 Siehe Dokumentationsteil  : Schwarzenberg verfasste diesen Artikel im August 1945 unter dem Pseudo­ nym Felix Seinsheim. 287 Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten (Hg.)  : »Ich bestelle Sie hiemit zur Leitung des Außenamtes,…«. Das Tagebuch von Heinrich Wildner 1945. Wien 2010  : 146. 288 Stiftung Bruno Kreisky Archiv. Material Bundesministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Kopien Material Martin Fuchs, Protokoll der Abteilungsleitersitzung auf Schloss Wartenstein, 6. Juli 1961  : 17. Anmerkungen zu Marysia Miller-Aichholz’ Beitrag 289 John S. Conway  : Frühe Augenzeugenberichte aus Auschwitz. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 27. Jahrgang (1979), Heft 2. 290 Rudolf Vrba hieß vor dem Krieg Walter Rosenberg, der Name Rudolf Vrba war sein nome de guerre. Nach dem Krieg behielt er diesen Namen bei. Er studierte in Prag Biochemie, 1958 verließ er die Tschechoslowakei, emigrierte nach Israel und später von dort über England nach Kanada. Er war ein hochangesehener Wissenschaftler und lehrte Pharmakologie. Vrbas und Wetzlers Glaubwürdigkeit galt

Anmerkungen

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für die Mitglieder des slowakischen Judenrats als erwiesen, da nicht nur der beiden Geflohenen Namen, sondern auch die der im Bericht erwähnten slowakischen Häftlinge mit denen auf den amtlichen Listen des Rats zu finden waren. Da Vrba mit zwanzig nicht als volljährig galt, musste ein älteres Mitglied für ihn bürgen. 291 Wetzler änderte seinen Namen nach den Krieg in Josef Lanik um. 1945 veröffentlichte er seine Erlebnisse in Form eines Romans, »Auschwitz, Grab von 4 Millionen Menschen« auf Tschechisch, welcher auch den gesamten Vrba/Wetzler-Bericht enthielt. Er trat der kommunistischen Partei bei, wurde jedoch später inhaftiert und aus der Partei ausgeschlossen, dann aber wieder rehabilitiert. Er arbeitete als Redakteur bei einer slowakischen Zeitung in Bratislava, blieb aber der kommunistischen Partei suspekt. 1964 war er Zeuge im ersten Frankfurter Auschwitz-Prozess, auch Vrba sagte bei diesem Prozess aus. 292 Yehuda Bauer  : »Onkel Saly«  – Die Verhandlungen des Saly Mayer zur Rettung der Juden 1944/45. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 25. Jahrgang (1977) Heft 2. 293 Siehe Rudolf Vrba  : Ich kann nicht vergeben. Meine Flucht aus Auschwitz. Hg. von Dagi Knellessen und Werner Renz. Frankfurt/Main 2010. In diesen Memoiren schildert Vrba, wie er im Januar 1944 zufällig mithört, wie ein SS-Mann spöttisch bemerkt, dass es in Bälde reichlich » ungarische Salami« geben werde. Vrba führt aus, dass diese Bezeichnung der Nationalität der Deportierten galt, denn Neuankömmlinge wurden sehr oft nach ihrem für die »Reise« mitgeführten Proviant kategorisiert. Des Weiteren sieht Vrba diese Bemerkung als Katalysator seiner Entscheidungsfindung bezüglich der Flucht. Er gibt an, als er und Wetzler es einmal bis in die Slowakei geschafft hatten, sofort darauf gedrungen zu haben, einen Bericht zu verfassen und diesen so schnell wie möglich an die ungarischen Juden und die Alliierten zu übermitteln. Manche Historiker halten dem Vrba/Wetzler-Bericht vor, dass er keinen Hinweis auf die Vorbereitungen bezüglich der Ungarn gibt. In seinen Memoiren verteidigt sich Vrba, indem er schildert, dass er die Salami-Passage ursprünglich in seinem Bericht hatte, doch ­Oscar Kras­niansky habe diese spekulative Bemerkung herausgenommen, um den Bericht genau, sachlich und detailgetreu zu halten, denn nur so würde er die richtige Reaktion bei den alliierten und ungarischen Lesern hervorrufen. Siehe auch Rudolf Vrba. Die missachtete Warnung. Betrachtungen über den Auschwitz-Bericht 1944. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 44. Jahrgang (1996), Heft 1. 294 Rudolf Vrba  : Ich kann nicht vergeben. Meine Flucht aus Auschwitz. Hg. von Dagi Knellessen und Werner Renz. Frankfurt/Main 2010  : 369. 295 Frank Baron und Sándor Szenes  : Von Ungarn nach Auschwitz  : die verschwiegene Warnung. Münster 1994. 296 Christian Gerlach und Götz Aly  : Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden 1944–1945. Frankfurt/Main 2004. 297 Christian Gerlach und Götz Aly  : Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden 1944–1945. Frankfurt/Main 2004. 298 Ladislaus Löb  : Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Köln 2010. 299 Ladislaus Löb  : Geschäfte mit dem Teufel. Die Tragödie des Judenretters Rezsö Kasztner. Köln 2010. 300 Aus Platzgründen kann leider nicht näher auf diese Diskussion eingegangen werden, etappenweise ist diese in folgend aufgeführten Artikeln nachzuverfolgen. (Siehe Christian Gerlach und Götz Aly  : Das letzte Kapitel. Der Mord an den ungarischen Juden 1944–1945. Frankfurt/Main 2004  : 304. Siehe auch Yehuda Bauer  : »Onkel Saly«  – Die Verhandlungen des Saly Mayer zur Rettung der Juden 1944/45. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 25. Jahrgang [1977], Heft 2. Siehe auch John S. Conway  : Der Holocaust in Ungarn. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 32. Jahrgang [1984], Heft 2. Siehe auch John S. Conway  : Flucht aus Auschwitz – 60 Jahre danach. Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, 53. Jahrgang [2005], Heft 2. Siehe auch Ruth Linn  : Genocide and the politics of remembering  : the nameless, the celebrated, and the would-be Holocaust heroes. Journal of Genocide Research, Vol. 5, Issue 4  : 565–586  ;

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DOI  : 10.1080/1462352032000149503  ; URL  : http://dx.doi.org/10.1080/1462352032000149503  ; zuletzt aufgerufen am 11. 2. 2012). 301 Robert S. Wistrich  : Hitler und der Holocaust. Berlin 2003  : 262ff. Anmerkungen zu Peter Jankowitschs Beitrag 302 Gerald Stourzh  : Kleine Geschichte des österreichischen Staatsvertrages. Graz/Wien/Köln 1975  : 152. 303 Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcel und Michaela Follner  : Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. Wien 2009  : 48. Anmerkungen zu Schwarzenbergs Politischen Berichten (M. Miller-Aichholz) 304 Dr. Paul (Freiherr von) Winterstein (1887–1973). Winterstein trat 1919 in den Auswärtigen Dienst ein, 1936 übernahm er die Leitung der Personalabteilung im Bundeskanzleramt/Auswärtige Angelegenheiten. 1938 wurde er in den Ruhestand versetzt, 1945 rehabilitiert und mit der Leitung der Personalabteilung in der Staatskanzlei, Amt für Auswärtige Angelegenheiten, betraut. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcel und Michaela Follner  : Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. Wien 2009) 305 Dr. Georg (Freiherr von) Franckenstein (1887–1953). Seit 1920 außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Minister in London. Im Juli 1938 nahm Franckenstein die britische Staatsbürgerschaft an und schied aus dem Dienst aus. Um 1940 versuchte er in London eine »österreichische Scheinregierung« aufzubauen. Franckenstein bewegte sich auch in den Widerstandskreisen um den Schriftsteller Wilhelm von Herba, begründete die Anglo-Austrian Society in London und erwirkte Gespräche zwischen britischen und österreichischen Museen. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcel und Michaela Follner. Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. Wien 2009) 306 Norbert Bischoff (1894–1960) wurde 1938 aus dem Außendienst entlassen und 1945 wieder rehabilitiert. Bischoff wurde bei seinem Wiedereintritt Leiter der politischen Abteilung in der Staatskanzlei, Amt für Auswärtige Angelegenheiten. 1946 wurde er als a.o. Gesandter und bev. Minister nach Paris entsandt und baute die österreichische Vertretung dort auf. Im Dezember 1946 nach Moskau entsandt, wirkte Bischoff durch seine Vorarbeiten maßgeblich am Zustandekommen des österreichischen Staatsvertrages mit. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Rudolf Agstner, Gertrude Enderle-Burcel und Michaela Follner. Österreichs Spitzendiplomaten zwischen Kaiser und Kreisky. Wien 2009) 307 Der Verein »Schweizerisches Hilfskomitee für Österreicher« wurde von Dr. Kurt Grimm, Ludwig Klein, Anton Linder und Schwarzenberg ins Leben gerufen, um bedürftigen Österreichern in der Schweiz Hilfe und Unterstützung zukommen zu lassen. In Schwarzenbergs Nachlass findet sich zur Gründung, Vereinssatzung und Tätigkeit des Vereins eine umfassende Korrespondenz mit den vorherig Genannten. Unermüdlich suchten die vier Gründer nach schweizerischer Unterstützung von namhaften Schweizer Persönlichkeiten aus allen Lebensbereichen wie Professor Rappart, Nationalrat Dübi etc., um flächendeckend in der ganzen Schweiz bedürftige Exilösterreicher, die ab 1938 in die Schweiz geflohen und Gegner des Naziregimes waren, zu erreichen und zu unterstützen. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe auch Beitrag Oliver Rathkolbs.) 308 Dr. Robert Winterstein (1874–1940) war ab Mai 1927 als Generalanwalt bei der Generalprokuratur tätig, 1932 wurde er zum Generalprokurator ernannt. Er gehörte auch dem Staatsrat und dem Bundestag bis 1935 an. Die Bundesregierung wandte sich wiederholt an Winterstein als Berater und

Anmerkungen

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betraute ihn mit Sonderaufgaben. 1935 wurde er nach dem fehlgeschlagenen nationalsozialistischen Juliputschversuch zum Justizminister des Ständestaates berufen. Er war Österreichs erster jüdischer Justizminister. 1938 trat er nach dem Anschluss zurück. Dr. Robert Winterstein gehörte im Herbst 1938 dem sogenannten »Prominententransport« an und wurde in das Konzentrationslager Dachau verschleppt. Winterstein wurde 1940 im KZ Buchenwald ermordet, seine Frau und Kinder kamen in den Gaskammern von Auschwitz um. Sein Sohn war von 1940 bis 1945 Insasse in Mauthausen, nach der Befreiung wurde er in die Schweiz versandt, um sich von einem in Mauthausen zugezogenen schweren Lungenleiden heilen zu lassen. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005. Siehe auch http:// www.lettertothestars.at/himmelsbriefe.php  ?s=1&opfer__id=60277) 309 Dr. Karl Gruber (1909–1995) war Außenminister unter Bundeskanzler Figl von 1945 bis 1953. Wichtigstes politisches Anliegen seiner Amtszeit war die Lösung der Südtiroler Frage bezüglich des Verbleibs Südtirols bei Italien. Zwar erlangte Südtirol nicht das Recht auf Selbstbestimmung, doch konnte Gruber (im Gruber-De Gasperi-Abkommen vom 5. September 1946) zumindest Südtirols Autonomie als Verhandlungserfolg verbuchen. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Beitrag Oliver Rathkolbs und u. a. Ernst Hanisch  : Der Lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. Wien 2005.) 310 Sir Winston Leonard Spencer-Churchill (1874–1965), verheiratet mit Clementine Hozier, war Premier­ minister Großbritanniens von 1940 bis 1945. Er wurde mitten in den Potsdamer Verhandlungen vom Labourführer Clement Attlee als Premierminister ersetzt, da Churchills konservative Partei die Wahlen verloren hatte. Seine auf Fortführung des Krieges bedachte Wahlkampfstrategie, um Stalins weltweit wachsende Einflusssphäre einzudämmen, konnte nicht gegen die Versprechungen der Labour Party unter Attlee bezüglich Schaffung eines staatlichen Gesundheitswesens und besserer Wohnungsangebote und Schulen aufkommen. 1951 gelang es ihm, wieder als Premierminister gewählt zu werden, wobei er in dieser Amtsperiode das Programm seines Vorgängers Attlee fortführte, aber auch dessen außenpolitische Krisenherde miterbte (März 1951 Abadankrise im Iran  ; 1952 Mau-Mau-Aufstand in Kenia  ; Anfänge der Suez-Krise 1952/3 etc.). Bedingt durch mehrere Schlaganfälle schied er 1955 widerwillig aus dem Amt, blieb jedoch als MP dem Unterhaus erhalten. Der Schöpfer des Begriffs »Eiserner Vorhang« erhielt im Jahr 1953 für sein historisches Werk, die sechsbändigen Memoiren »The Second World War«, den Nobelpreis für Literatur. (Anmerkung der Hg. M.-A.: Siehe Bernard Wasserstein  : Barbarism & Civilization. A History of Europe in Our Time. Oxford 2009. Siehe auch Tony Judt  : Postwar – A History of Europe since 1945. London 2005.) 311 1914 von Georg Fürst für ein bayerisches Infanterieregiment komponiert  ; ursprünglich benannt nach Badonviller (Lothringen), wo das Königlich-Bayerische Infanterie-Leibregiment zu Beginn des Ersten Weltkriegs ein Gefecht für sich entscheiden konnte. Dieser Marsch galt als Hitlers Lieblingsmarsch und wurde unter den Nationalsozialisten in »Badenweiler Marsch« eingedeutscht. Aufgrund seiner ominösen Vergangenheit wird der Marsch nicht mehr von der deutschen Bundeswehr zur Aufführung gebracht. (Anmerkung der Hg. M.-A.) 312 Quelle  : Österreichisches Staatsarchiv (OStA), Archiv der Republik (AdB), BKA/AA, II pol, Italien 2, Zl. 320.52–Pol/55  ; (GZI. 320.521–Pol/55), Botschaft London, ZI. 88-RES/55 v. 10. 3. 1955. 313 Alexander Frederick Douglas-Home (1903–1995) war britischer Politiker der konservativen Partei. Anmerkungen zu Maximilian Liebmanns Beitrag 314 Antonio Samoré wurde am 4. Dezember 1905 in Bardi in der Provinz Parma geboren, starb am 3. Feb­ ruar 1983 in Rom und wurde in der Kirche des Karmeliterklosters von Vetralla beigesetzt. Papst Pius

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Anmerkungen

XII. hatte ihn 1953 zum Unterstaatssekretär ernannt, Papst Paul VI. nahm ihn am 29. Juni 1967 ins Kardinalskollegium auf. 315 Der Bericht ist adressiert  : »An den Herrn Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten Dr. Lujo Tončić-Sorinj.« Dieser wurde am 12. April 1915 in Wien geboren und verstarb am 20. Mai 2005 in Salzburg. Er war vom 8. November 1949 bis zum 5. Juni 1966 für die ÖVP Abgeordneter zum Nationalrat, vom 19. April 1966 bis zum 19. Jänner 1968 »Außenminister« in der ÖVP-Regierung unter Kanzler Klaus. Von 1969 bis 1974 bekleidete er das Amt des Generalsekretärs des Europarates. 316 Der Apostolische Nuntius in Wien war der am 21. Februar in Genua geborene und am 13. August 1961 in der Nuntiatur in Wien verstorbene Erzbischof Giovanni Dellepiane. Seine zentrale Wirksamkeit in Wien betraf die Frage der Gültigkeit des Pacelli-Dollfuß-Konkordates, das im Juni 1933 zwischen dem Heiligen Stuhl und Österreich abgeschlossen worden war. 317 Papst Paul VI. wurde am 26. September 1897 bei Brescia in Italien geboren und starb am 6. August in Castel Gandolfo. Als Papst regierte er die Kirche von 1963 bis 1978. Sein näheres Wirken wird unten in den Abschnitten/Kapiteln über »Humanae Vitae« und Kardinal Königs Pressekonferenz über den Dialog mit den Nichtglaubenden erläutert. 318 Papst Pius XII. regierte die Kirche vom März 1939 bis 1958  ; am 2. März in Rom geboren, starb er am 9. Oktober 1958 in Castel Gandolfo. Sein höchst umstrittenes öffentliches Schweigen zum Genozid der Juden und zum Holocaust Adolf Hitlers zu ventilieren und zu beurteilen, erscheint hier nicht angebracht. Wohl aber ist es geboten, sein Wirken beim Zustandekommen des österreichischen Konkordates im Juni 1933 und dessen Realisierung zu beleuchten und zu würdigen. Nach langen Vorverhandlungen konnte der österreichische Konkordatsvertrag überraschend und überstürzt am 1. Mai 1933 paraphiert werden. Am Pfingstmontag, dem 5. Juni, erfolgte in den Amtsräumen des Staatssekretariates seine feierliche Unterzeichnung durch Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, den späteren Papst Pius XII., aufseiten des Hl. Stuhles und Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und Bundesminister Kurt Schuschnigg aufseiten der Republik Österreich. In Schulfragen gelang der Regierung die volle Weitergeltung des Reichsvolksschulgesetzes, entgegen den Forderungen des Hl. Stuhles und den Wünschen des österreichischen Episkopates, die die Wiedereinführung der konfessionellen Staatsschulen, wie im Konkordat 1855, angestrebt hatten. In Ehefragen hatten die österreichischen Verhandler zumindest eine stillschweigende Zustimmung des Hl.  Stuhles (tolerari potest) zur fakultativen, wenn schon nicht zur obligatorischen Zivilehe erhofft. Tatsächlich hat Österreich, d. h. haben seine Repräsentanten, das Gegenteil einer obligatorischen Zivilehe, nämlich das Oktroi vom Kardinalstaatssekretär Eugenio Pacelli, eingehandelt. Dementsprechend lautet der Artikel VII § 1 des Konkordates  : »Die Republik Österreich erkennt den gemäß dem kanonischen Recht geschlossenen Ehen die bürgerlichen Rechtswirkungen zu.« Damit wurde die obligatorische Zivilehe völkerrechtlich abgeblockt und die sogenannte Konkordats- oder kirchliche Ehe ausschließlich der Kanonistik unterstellt. Minister Kurt Schuschnigg konnte somit im österreichischen Ministerrat vom 4. Mai 1933 bloß klarstellen, d. h. berichten, dass sich durch das Konkordat an den Voraussetzungen für den Abschluss einer Notzivilehe nichts ändere. In der Praxis hieß dies, katholische Ehepartner mussten sich für die Zivilehe zunächst an ihren katholischen Pfarrer wenden. Nachdem sie diesem erklärt hatten, dass sie keine kirchliche Ehe eingehen wollten und der Pfarrer sie auch für eine kirchliche Trauung formell abwies, stand ihnen die Ziviltrauung offen. Diese Ehe unterlag nun ausschließlich, gleich den evangelischen Ehepartnern, den Normen des staatlichen Eherechtes. Dieser höchst erfolgreiche kirchliche Kampf gegen die obligatorische Zivilehe fand gleich nach dem Anschluss Österreichs an Hitler-Deutschland mit 1. August 1938 sein endgültiges Ende.

Anmerkungen

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319 Papst Johannes XXIII. hieß mit bürgerlichem Namen Angelo Giuseppe Roncalli  ; er wurde am 25. November 1881 in Sotto il Monte geboren und starb am 3. Juni 1963 im Vatikan. Die Kirche regierte er vom 28. Oktober 1958 bis 3. Juni 1963. Zusammen mit Papst Pius IX. wurde er von Papst Johannes Paul II. am 3. September 2000 seliggesprochen. 320 Domenico Tardini wurde am 29. Februar 1888 in Rom geboren, starb am 30. Juli 1961 in Rom und wurde in der Kirche des Karmeliterklosters von Vetralla bestattet. Papst Johannes XXIII. ernannte ihn am 17. November 1958 zum Kardinalstaatssekretär und nahm ihn am 14. Dezember gleichen Jahres ins Kardinalskollegium auf. 321 Ende Januar 1950 war es zu einem harschen verbalen Schlagabtausch zwischen Papst Pius XII. und dem österreichischen Episkopat punkto Konkordat gekommen. So hatte der Apostolische Nuntius (damals noch Internuntius) Johannes Dellepiane, im päpstlichen Auftrag, in einem Rundschreiben die Bischöfe Österreichs wissen lassen  : »Der Heilige Stuhl hat seinerzeit, wie ich im früheren Brief sagte, das Konkordat in vollkommen rechtlicher Form abgeschlossen, und dieses steht bis zur Stunde in voller Kraft als ein Vertrag zwischen zwei souveränen Partnern.« Die päpstliche Demarche nimmt sich dann der österreichischen parteipolitischen Gegebenheiten an und fährt wertend fort  : Es stimme und es sei wahr, »daß die Führer der sozialistischen Partei sich offen als Feinde des bestehenden Konkordates und eines jedweden Konkordates mit dem Heiligen Stuhl erklärt haben, mit der Absicht, die Religion zu einer Privatangelegenheit herabzudrücken, der katholischen Kirche jede Selbständigkeit und jedes Recht zu rauben, sie einfachhin in allem dem Staat zu unterwerfen, dem Heiligen Stuhl die Eigenschaft eines souveränen Staates abzuerkennen und offizielle Beziehungen mit der österreichischen Regierung zu verhindern … Die Hierarchie hat nicht Einspruch erhoben, hat keinerlei öffentliche Erklärung abgegeben, hat nichts unternommen, ließ die Katholiken ununterrichtet und ohne Schutz, ließ die Männer der Politik fortfahren … in ihrem Vernachlässigen und Verschweigen der Gegenstände des Konkordates.« Der Episkopat war ob dieser ungewohnt scharfen Rüge zutiefst betroffen und sandte gleich darauf im Februar den Grazer Fürstbischof Ferdinand Stanislaus Pawlikowski nach Rom, um den Papst entsprechend zu informieren und zu beschwichtigen. Pawlikowski überreichte dem Heiligen Stuhl keineswegs ein kleinlautes, sondern äußerst kritisches, in vier Punkte gegliedertes Rechtfertigungsschreiben der österreichischen Bischöfe  : »1. Diese Worte fassen wir Bischöfe als Mißtrauensvotum auf, wie es deutlicher nicht ausgesprochen werden konnte. Wir sollten eigentlich daraus die Konsequenz ziehen und resignieren. Wenn wir nicht mehr das Vertrauen des Apostolischen Stuhles besitzen, bleibt uns nichts anderes übrig als abzutreten. 2. Das Rundschreiben zeugt von Unkenntnis der österreichischen Verhältnisse. Wenn die österreichische Volkspartei als katholische Partei bezeichnet wird, so entspricht das keineswegs den tatsächlichen Verhältnissen. 3. Das Rundschreiben nimmt uns, wenn der Inhalt durchsickert, unsere Reputation vor der Öffentlichkeit und untergräbt unsere Autorität beim Klerus. 4. Das Rundschreiben ist, vorausgesetzt, daß die erhobenen Vorwürfe berechtigt wären, in einem Ton gehalten, der verletzend ist und den wir residierenden Bischöfe bisher nicht gewohnt waren.« Die Bischöfe waren ganz offensichtlich mehr um einen Modus vivendi in Österreich bemüht als um die völkerrechtliche bzw. staatskirchenrechtliche Gültigkeit des Pacelli-Dollfuß-Konkordates vom Juni 1933. Sie scheuten sehr bewusst eine öffentliche Auseinandersetzung mit der Regierung und den politischen Parteien, diese hätte gegebenenfalls unweigerlich den alten, unseligen Kulturkampf wieder aufleben lassen. In Konsequenz dessen endete ihr Rechtfertigungsschreiben an Papst Pius XII. mit einer Bitte, in dem sie den »schwarzen Peter« dem Papst zurückspielten  : »Wir Bischöfe Österreichs bitten Eure Heiligkeit um direkte Weisungen, ob wir bei der österreichischen Regierung trotz der jetzt obwaltenden schwierigen Verhältnisse auf die Vollanerkennung des Konkordates drängen oder eine günstige

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Anmerkungen

Gelegenheit hiezu abwarten sollen. Von einer Diskussion dieser Frage in der Öffentlichkeit möchten wir mit Hinweis auf die oben angeführten Gefahren entbunden werden.« Der vier Jahre später von Bundeskanzler Julius Raab in sein Kabinett berufene Unterrichts- und Kultusminister Heinrich Drimmel nahm sich besonders der Konkordatsmaterie an. Er erstellte eine Prioritätenliste für die Erledigung anstehender Konkordatsobliegenheiten. Zuoberst reihte er die leichteste und zu unterst die schwierigste Materie  ; zuoberst standen Vermögens- und Diözesanangelegenheiten, gefolgt vom Schulwesen  ; zuunterst das bis heute unerledigte kirchlich-konkordatäre Eherecht. Diesen sukzessiven Lösungsplan legte Minister Drimmel im Februar 1956 in einer Audienz Papst Pius XII. persönlich vor. Darauf erlebte er sein »blaues Wunder«. Drimmel erinnert sich und lässt uns wissen  : »Eine Stunde lang ging das Donnerwetter dieses Papstes über mich her, als ich ihn als österreichischer Kultusminister der Wahrheit gemäß aufmerksam machte, daß sein mit Bundeskanzler Dollfuß abgeschlossenes Konkordat in der Zweiten Republik nicht mit Majorsmethoden zur Anwendung gebracht werden könne, so daß man sukzessive Teillösungen angehen müsse«. Drimmel weiter  : »Dieses päpstliche Donnerwetter endete dann aber doch friedlich mit des Papstes Wort  : tolerari potest (kann genehmigt werden).« 322 Nach diversen päpstlichen Urgenzen des Hl. Stuhles beschloss die österreichische Bundesregierung die hier apostrophierte Antwortnote mit dem Inhalt, dass sie die Rechtsgültigkeit des Pacelli-DollfußKonkordates zwar voll anerkenne, aber gleichzeitig den Hl. Stuhl ersuche, »mit Rücksicht auf die inzwischen eingetretenen Änderungen der Verhältnisse mit dem Hl. Stuhl in Verhandlungen über ein neues Konkordat, das alle wichtigen Materien, wie insbesondere die Ehe- und Schulfrage enthält, einzutreten«. 323 Im Laufe der folgenden Jahre wurden einvernehmlich alle offenen Konkordatsmaterien abgehandelt und gelöst, bis auf die nach wie vor schwelende konkordatäre Ehefrage. Hier blieb es im Prinzip beim deutschen Eherecht mit der obligatorischen Zivilehe bis heute, wobei angemerkt werden muss, dass der Druck des Hl. Stuhles auf Inkraftsetzung des konkordatären Eherechtes mit dem Ableben von Papst Pius XII. im Oktober 1958 wesentlich nachgelassen hat. 324 Der Absendeort ist mit Sicherheit Rom. 325 Der Bundesminister war der Bundesminister für Auswärtige Angelegenheiten Dr. Kurt Waldheim. Von 1968 bis 1970 war Kurt Waldheim österreichischer Außenminister  ; von 1971 bis 1981 UN-Generalsekretär  ; österreichischer Bundespräsident von 1986 bis 1992. Am 21. Dezember 1918 wurde er in Sankt Andrä-Wördern, Niederösterreich, geboren, starb am 14. Juni 2007 und wurde in der Präsidentengruft auf dem Wiener Zentralfriedhof beigesetzt. 326 Papst Paul VI. war der Sohn eines Rechtsanwaltes und Zeitungsverlegers, am 26. September 1987 wurde er in Brescia geboren und hieß mit bürgerlichem Namen Giovanni Battista Montini. Zum Papst gewählt wurde er am 21. Juni 1963 und nahm den Namen Paul VI. an. Er setzte das II. Vatikanum fort und schloss es am 8. Dezember 1965. Am 6. August 1978 verstorben, fand er seine letzte Ruhestätte in St. Peter in Rom. 327 Die Enzyklika »Humanae Vitae« promulgierte Paul VI. am 25. Juni 1968, AAS 60, 481–503  ; landläufig firmiert sie unter »Pillenenzyklika« oder »Pillenerlass«. 328 Offiziöse Tageszeitung des Hl. Stuhles. 329 Sommerresidenz der Päpste nahe Rom. 330 Giovanni Benelli wurde am 12. Mai 1921 in der Provinz Prato/Italien geboren, war kirchenpolitisch gemäßigt. Er diente als Substitut im Staatssekretariat und wurde von Papst Paul VI. besonders geschätzt. Dieser qualifizierte ihn  : »Er ist Unser Freund, ein Schatz, auf den Wir ungern verzichten.« Am 27. Juni 1977 zum Kardinal ernannt, starb er am 26. Oktober 1982 und wurde in der Metropolitanbasilika von Florenz beigesetzt. 331 Zu Domenico Tardini siehe Kapitel I  : »Konkordat ungenügend realisiert«, Anm. 7.

Anmerkungen

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332 Zuhören. 333 Dieser so genannte Mitredner war wohl niemand anderer als Kardinalstaatssekretär Tardini. 334 Die Kathpress ist als Katholische Presse-Agentur die österreichische Nachrichtenagentur, die sich seit 1947 vor allem mit Nachrichten aus dem Bereich der katholischen Kirche in Österreich beschäftigt. Sie arbeitet im Auftrag der Österreichischen Bischofskonferenz und ist als Körperschaft des öffentlichen Rechts organisiert. Ihre journalistischen Prinzipien definiert sie  : »Orientierung an der Verpflichtung zu wahrer, objektiver und umfassender Berichterstattung  ; unabhängige Berichterstattung  ; Verbundenheit mit der Kirche  ; parteipolitische Unabhängigkeit.« 335 Angelo Kardinal Felici wurde am 26. Juli 1919 in Segni der Provinz Rom geboren. 1988 nahm ihn Papst Johannes Paul II. ins Kardinalskollegium auf und ernannte ihn zum Präfekten der Kongregation für die Heiligen  ; von 1995 bis 2000 war er Präsident der Päpstlichen Kommission Ecclesia Dei  ; am 17. Juni 2007 verstarb er. 336 »Die Presse« definiert sich als überregionale österreichische Tageszeitung, die zur Styria Media Group gehört und gemäß ihrer Blattlinie eine »bürgerlich-liberale Auffassung« vertritt. Botschafter Johannes E. Schwarzenberg hat über die bewusste Causa »Humanae Vitae« weitere Berichte an Außenminister Kurt Waldheim gesandt  ; so ergänzte er zum hier edierten Bericht in der Kurzfassung  : »Sehr bestürzt ist man über die geradezu als Revolte empfundene Reaktion des jüngeren Klerus.« Mit Datum 24. August 1968 berichtete Schwarzenberg seinem Außenminister  : »Dass sich der Papst der Tragweite der Entscheidung und seiner alleinigen Verantwortung bewußt war, und darunter auch sehr gelitten hat, geht aus der Enzyklika selbst und verschiedenen Äusserungen hervor. Er erklärte beispielsweise in der Audienz vom 31. Juli mit bewegter Stimme, wenn auch nicht unter Tränen, wie behauptet wurde  : ›Wir vertrauen Euch an, dass diese Verantwortung uns nicht wenig seelische Pein verursacht hat. So haben Wir nie wie in diesem Fall das Gewicht Unseres Amtes gespürt. Wir haben studiert, gelesen, diskutiert soviel Wir konnten, und haben auch viel gebetet … Wie viele Male haben Wir erzittert vor dem Dilemma einer leichtfertigen Willfährigkeit vor der herrschenden Meinung oder einem Spruch, der von der Gesellschaft schlecht ertragen wird  …‹ Der Papst soll einen Tag vor der Veröffentlichung der Enzyklika einem Mitarbeiter gegenüber gesagt haben  : ›Das wird mich den Rest der Popularität kosten.‹« Genannter Bericht Schwarzenbergs fährt fort  : »Die positiven Stimmen zur Enzyklika stammen vorwiegend von Katholiken und hier insbesondere vom Klerus sowie bemerkenswerterweise von geistlichen Führern nichtchristlicher Religionsgemeinschaften wie dem Oberrabbiner von Jerusalem, Mohammedanern und Buddhisten. Der Grossteil der negativen Stimmen kam bisher, wie zu erwarten war, aus liberalen Kreisen, dem nichtkatholischen christlichen Lager, und zum geringeren, wenn auch nicht unbeträchtlichen Teil aus katholischen Laienkreisen und vom niederen Klerus …. Der Papst verlange von den öffentlichen Mächten mit nötigem Respekt, dass diese sich nicht in Gebiete einmischen, die zu den persönlichsten Angelegenheiten der Menschen gehören. Wenn sie dies dennoch tun, so wisse man zwar, wo es beginnt, aber nicht mehr, wo dies aufhört.« Des Weiteren berichtet Schwarzenberg über die große Bedeutung von Kardinal Königs Erklärung in der Kathpress  : »Grosse Bedeutung wird in hiesigen Kreisen der Erklärung Kardinal Königs in der Kath­press beigemessen, mit dem Hinweis auf die weiteren Ergebnisse der medizinischen Forschung, von denen zu hoffen ist, dass sie eine richtige Handhabung der Geburtenregelung geben, sowie sein Hinweis, dass mit dem Aufstellen richtiger ethischer Normen auch das persönliche Gewissen, die spezielle Situation, die Errungenschaften der Medizin und die persönliche Schuld wichtige Faktoren seien. Der Seelsorger habe nicht unbarmherziger Richter, sondern Helfer seiner Mitmenschen zu sein. Wichtig seien daher die Richtlinien für die Seelsorge  ; diese stellen eine Weiterführung und Ergänzung der Enzyklika dar. Diese Erklärung stellt einen Aspekt in den Vordergrund, der von Kritikern der En-

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Anmerkungen

zyklika bisher viel zuwenig beachtet wurde. Zu dieser für den einzelnen Katholiken wichtigen Seite des Fragenkomplexes wird vom Episkopat und insbesondere von den einzelnen Bischofskonferenzen noch das eine oder andere aufklärende Wort erwartet.« Die hier apostrophierte Erklärung Kardinal Königs findet sich in der Kathpress, Nr. 176 vom 31. Juli 1968, S. 1. Kardinal König hat mit dieser seiner in vatikanischen Kreisen aufsehenerregenden Wortmeldung die so genannte »Mariatroster Erklärung« der österreichischen Bischofskonferenz, Graz, vom 22. September 1968, förmlich vorweggenommen. In ihr betonen die Bischöfe das persönliche Gewissen als letzte Instanz. Einen geradezu dramatischen Bericht über Gerüchte und Gerede in vatikanischen Kreisen hat Schwarzenberg am 10. September 1968 Außenminister Kurt Waldheim »streng vertraulich« gesandt  : Hinter einem heimtückischen Angriff auf den Papst steckten gewisse Kreise, die im Vatikan ein- und ausgehen, »die an dem autoritären Kurs Pauls VI. Anstoß nehmen, dieses Papstes, der sich in wachsendem Ausmass über so manchen Einspruch der kirchlichen Hierarchie hinwegsetzt. Nach dem Gefühl dieser Kreise wirkt sich die wiederholte Berufung auf die Stellvertreterschaft Christi und das unwidersprochen hinzunehmende Lehramt des obersten Hirten abträglich auf die Stellung des Papstes aus.« Auch Rücktrittsgerüchte wurden im Bericht erwähnt. Über diese Gerüchte, die stets neue Nahrung erhielten, und gegebenenfalls über ihre Konsequenzen berichtete Schwarzenberg am 12. Oktober 1968 »streng vertraulich« in einer gleich gewundenen wie subtilen Diplomatensprache dem Außenminister Kurt Waldheim. In einer Mischung von persönlichen Überlegungen und geheimsten Informationen aus den römischen Kongregationen ließ Schwarzenberg den Außenminister wissen  : »Obgleich die allenthalben in der Kirche im Zunehmen begriffene Opposition gegen Paul VI. ja eine namentlich seit Erscheinen der ›Humanae Vitae‹ einsetzende passive Resistenz gegen den römischen Autoritarismus es begreiflich erscheinen läßt, dass der überarbeitete Heilige Vater mitunter verzagt, so halte ich persönlich es für unwahrscheinlich, dass der zutiefst pflichtbewusste Papst Montini seine Herde freiwillig verliesse, bevor er nicht das Gefühl hat, Ordnung und Diziplin wiederhergestellt zu haben  ; diese Wiederherstellung erscheint mir jedoch in absehbarer Zeit ebenso unwahrscheinlich  !« Der Bericht fährt fort  : »Es darf hier bemerkt werden, dass zu den krassen Disziplinwidrigkeiten im Klerus in letzter Zeit auch das Durchsickern geheimster Informationen aus den römischen Kongregationen, ja selbst aus dem Staatssekretariat gehört, eine Revanche des Klerus gegen die als konzilswidrig empfundene Maulkorbwirkung der von zuoberst gegen die freie Meinungsäusserung innerhalb der Kirche verhängten Zensuren.« Darauf berichtete Schwarzenberg über ganz konkrete Überlegungen und Wertungen von Kardinälen, die als Nachfolger von Paul VI. infrage kämen, gemäß der höchst einflussreichen italienischen Wochenzeitschrift »l’Espresso«. Demnach stehe Kardinal König, gefolgt von Kardinal Suenens, an erster Stelle. »Dem Wiener Kardinal wird aber«, steht im Bericht zu lesen, »nebst der Zugehörigkeit zu einem kleinen neutralen Staat eine Reihe von Vorzügen gutgeschrieben, so u. A. bewährte diplomatische Fähigkeiten, die angebliche Patronisierung des stark umstrittenen Tübinger Theologen Küng … Dem ruhigen, ausgeglichenen, sich selbst beherrschenden, politischen Sinn aufweisenden, hochgebildeten und -intelligenten Kardinal König werden derzeit, rebus sic stantibus, vom ›L’Espresso‹ neben Kardinal Suenens die grössten Chancen bei einer Papstwahl gegeben und in dieser Einschätzung steht dieses Blatt nicht allein.« (Kardinal Suenens wurde 1904 in Belgien geboren, war Erzbischof von Mechelen und wurde von Papst Johannes XXIII. im März 1962 ins Kardinalskollegium aufgenommen, starb am 6. Mai 1996  ; der Tübinger Theologe Küng ist mit dem berühmten Theologen Hans Küng zu identifizieren.) Zusammenfassend wirft diese sich quälende, völlig verunsicherte Lehrposition des Papstes die Frage auf, wieweit und ob ihre Nichtbefolgung überhaupt schwer sündhaft sein kann bzw. konnte. Ist die verbind-

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liche Lehrautorität des Papstes von der Zustimmung seiner Belehrten, seiner »Schafe« abhängig  ? Wozu dieses Heischen nach Zustimmung und die Betroffenheit durch kritische Stimmen und Ablehnung  ? Glaubt der Papst selber nicht an seine Führung durch den Heiligen Geist, wie uns zu glauben vorgegeben wird  ? Hat damit Papst Paul VI. die Lehren von Vatikanum I nicht grundlegend relativiert  ? Vielleicht hat das Wort des Apostels Paulus an das Volk von Thessaloniki, die Bürger, Bauern und Schafhirten von 1 Thess 5, 21  : »Prüfet alles, das Gute behaltet«, auch für uns heute essenzielle Bedeutung bzw. Gültigkeit  ? 337 Der Absendeort war sicherlich Rom. 338 Dass Botschafter Schwarzenberg seinen Bericht nicht direkt – wie üblich – an den Außenminister Kurt Waldheim sandte, erscheint bemerkenswert. 339 Alfred Maleta wurde am 15. Jänner 1906 in Mödling/Niederösterreich geboren und wurde in Graz zum Doktor der Rechtswissenschaft promoviert. Als überzeugter Gegner des Nationalsozialismus und Mitglied von katholischen Studentenverbindungen wurde er gleich nach dem Anschluss 1938 in KZs interniert. Nach Ende des NS-Regimes engagierte er sich für die Österreichische Volkspartei und fungierte von 1961 bis 1970 als Präsident des Nationalrates. Am 16. Jänner verstarb er, wurde in Gmunden beigesetzt und 2011 in ein Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof überführt. 340 »Kuss und Handkuss« ist die Bezeichnung für einen ganz kurzen Empfang beim Papst. 341 Das Pazmaneum wurde 1623 vom Erzbischof von Gran als ungarisches Priesterseminar gegründet und befindet sich in 1090 Wien, Boltzmanngasse 14. 342 Karl Rahner wurde am 5. März 1904 in Freiburg im Breisgau geboren, starb am 3. März 1984 und wurde in der Krypta der Jesuitenkirche beigesetzt. Er gilt als einer der einflussreichsten Theologen des 20. Jahrhunderts, wirkte bahnbrechend bei der Öffnung der katholischen Theologie für das Denken des 20. Jahrhunderts und beeinflusste maßgeblich mit seiner Theologie das II. Vatikanum. Auf Wunsch und Betreiben von Kardinal König, dessen Konzilsberater Rahner war, wurde er von Papst Johannes XXIII. zum Theologen des II. Vatikanums ernannt. Seine hohe Anerkennung spiegelt sich sowohl in seiner umfangreichen Bibliografie wie auch in seinen 15 Ehrendoktoraten wider. Dem begnadeten Prediger und genialen Reorganisator der Katholischen Aktion in Österreich, Otto Mauer, und dessen KA-Doktrin stand er aber betont kritisch gegenüber. 343 Der »Liturgiker Jüngermann« ist mit Sicherheit mit dem am 16. November 1889 in Sand in Taufers in Südtirol geborenen und am 26. Jänner 1875 in Innsbruck verstorbenen österreichischen Jesuit, Liturgiker und Konzilsberater Josef Andreas Jungmann zu identifizieren. Bahnbrechende Bedeutung erhielt seine zweibändige Publikation »Missarum Sollemnia«, die 1962 ihre 5. Auflage erlebte. 344 Franz Kardinal König wurde am 3. August 1905 in Warth bei Rabenstein geboren und starb am 13. März 2004 in Wien. Er wurde in der Krypta des hohen Domes St. Stephan in Wien bestattet. Von Papst Pius  XII. 1956 zum Erzbischof von Wien ernannt, nahm Papst Johannes XXIII. ihn im Dezember 1958 ins Kardinalskollegium auf. Seine kirchenpolitische und theologische Bedeutung für die Kirchliche Zeitgeschichte, insbesondere für Österreich, aber auch für das II. Vatikanum und die Weltkirche kann kaum überschätzt werden. Mehrmals galt er bei den Konklaven als »papabile«. Papst Paul VI. kreierte ihn 1965 zum Vorsitzenden des päpstlichen Sekretariates für die Nichtglaubenden, bis 1981 nahm König diese Funktion auch wahr. Die zahlreichen Ehrungen und Auszeichnungen, seine umfangreiche Bibliografie und die Literatur über ihn und schließlich die Verfilmung seines Lebens 2010 zeugen von seiner ungebrochenen Wertschätzung. Seine hohe kirchliche Autorität und Beliebtheit in Österreich steigerte sich ganz besonders in der Zeit vom Juli 1986 bis September 1995, in welcher der ebenso problematische wie umstrittene Hans Hermann Kardinal Groër Erzbischof von Wien war.

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Anmerkungen

345 Auf Einladung der Universität Teheran hielt König am 25. Oktober 1968 einen Vortrag über das vorislamische Weltbild und wurde von Schah Reza Pahlevi empfangen. Anschließend reiste König zu einem inoffiziellen Besuch beim österreichischen Hospiz in Jerusalem sowie beim lateinischen Patriarchen von Jerusalem, wie auch der Höhlen von Qumran. 346 Über diese inkriminierte römische Pressekonferenz sandte Botschafter Johannes E. Schwarzenberg mit Datum 4. Oktober 1968 einen Bericht an Außenminister Kurt Waldheim und mit gleichem Datum ein Schreiben an Franz Kardinal König. Beide seien ob ihrer Brisanz und ihrem Informationsgehalt unwesentlich gekürzt wörtlich wiedergegeben  : An Außenminister Kurt Waldheim  : »Wie bereits gemeldet, gibt es im Augenblick ein Gewitter in der italienischen Presse um eine Pressekonferenz, die Kardinal König in seiner Eigenschaft als Präsident des päpstlichen Sekretariates für die Nichtgläubigen im Pressesaal des Vatikans am 1. d. M. abgehalten hat. Der Anlass dieser Pressekonferenz war die Veröffentlichung eines Leitfadens für ›den Dialog mit den Nichtgläubigen‹, ein Dokument, das nach monatelanger Vorbereitung in Kommissionen und nach Beratung mit den Bischofskonferenzen nunmehr den Diözesanbischöfen und religiösen Zentren als Unterlage und Richtschnur für den Dialog mit den Nichtgläubigen – und zu diesen gehören vor allem die eigentlichen Kommunisten – zugeht. Man darf sich fragen, warum die Form einer Pressekonferenz gewählt wurde, um diesem Dokument Publizität zu geben, hätte es doch den Veranstaltern bekannt sein können, dass angesichts des inneritalienischen Parteienstreites und der Tendenz der Kommunisten, durch Vorspannen der Kirche und namentlich von deren Linkskreisen die Sozialisten zu überfahren, die Frage nach der Zulässigkeit einer Zusammenarbeit zwischen Katholiken und Kommunisten explosiven Charakter annehmen und zu ›einem Fressen‹ für sensationslüsterne Journalisten ausfallen mußte. Während die Ausführungen Kardinal Königs durchaus den Zwecken entsprachen, die mit dem ›Dialog‹ verfolgt werden sollten, wenn er mahnte, ein Dialog dürfe weder die fundamentalen Werte des Glaubens noch die Integrität der Lehre und die Rechte der Person kompromittieren, wenn er immer wieder den unpolitischen Charakter der Gespräche als Voraussetzung hinstellte, so liess sich der Sekretär der Kommission der Salesianer, Don Vicenzo Mino, durch geschickte aber perfide Fragen gewisser Journalisten aus der gebotenen Reserve herauslocken und zu Äusserungen hinreissen, die zumindest zu Zweideutigkeiten Anlass geben mussten. Die herrschende Konfusion verstärkte noch die künstlich provozierte Sensationsstimmung, und die böswillige Presse vermochte am folgenden Morgen zu insinuieren, Kardinal König sei kurzum für Kollaboration mit den Kommunisten sowohl im Osten wie in Italien, die nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen möglich sei  ; diese essentielle Forderung des Kardinals wurde natürlich unter den Teppich gefegt.« Über die nun ausgebrochenen sensationellen, kontroversen, zuweilen böswilligen und ehrenrührigen, parteipolitisch punzierten Pressemeldungen in den römisch-italienischen Zeitungen hat Botschafter Schwarzenberg mit Datum 16. Oktober einen detaillierten Bericht an Aussenminister Kurt Waldheim verfasst. Aber zuvor, am Vortag seines eben zitierten Berichtes hatte sich Botschafter Schwarzenberg zum Subs­ titut im Staatssekretariat, Monsignore Giovanni Benelli, dem besonderen Vertrauten des Papstes, zu sondierenden Gesprächen begeben, um zu erfahren, »ob man an oberster Stelle unserem Kardinal ob der erwähnten Unterstellungen gram sei«. Benelli gebärdete sich über das Verhalten der italienischen Presse »höchst aufgebracht, verdammte dasselbe und nahm den Kardinal, für dessen Person er die größte Verehrung hege, in Schutz«, so des Botschafters Bericht vom 4. Oktober 1968. Im gleichen Atemzug ging Benelli aber auch zu Kardinal König auf Distanz  : »Benelli fragte sich, wer wohl den Kardinal dazu bestimmt haben konnte, sich ausgerechnet auf dem heissen römischen Boden in einer Frage zu exponieren, deren innenpolitische Aspekte er gewiss nicht kannte …«

Anmerkungen

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Mit einer förmlichen Kritik Benellis an der römischen Kurie endet Schwarzenbergs Bericht  : »Eher deprimiert zeigte sich Benelli über den Umstand, dass das Staatssekretariat nicht von der Abhaltung der Pressekonferenz orientiert worden wäre, und im Allgemeinen darüber, dass zuwenig Kontakt bestünde mit ›den Sekretariaten‹ – er nannte vorab jenes der Kommission ›Justitia et Pax‹.« Dem fügte Schwarzenberg, völlig unüblich, seine betont kritische Meinung über den Informationsdienst des Staatssekretariates mit den Worten an  : »Für diesen Mangel ist aber m. E. das Staatssekretariat selbst in erster Linie verantwortlich, fehlt ihm doch auch nur der primitivste Informationsdienst. Aber dieser, für die Kohäsion der postkonziliaren Kirche so abträgliche Missstand gehört auf ein anderes Kapitel  !« An Franz Kardinal König  : »Eure Eminenz, Angesichts der perfiden Kommentare, welche die italienische Presse über die Pressekonferenz Eurer Eminenz vom 1. Oktober brachte, war es selbstverständlich, dass ich gestern Monsignore Benelli aufsuchte. Seine Exzellenz zeigte sich tief entrüstet über die Verdrehungen und namentlich die – leider gewohnte – Taktik der kommunistischen Presse (Unita’1), die Kirche vorzuspannen, um die Sozialisten zu überrunden. Dem Staatssekretariat stellt sich das Problem, ob den Insinuationen betreffend die Worte Don Vicenzo Mino’s offiziell entgegengetreten werden sollte, dem ja in erster Linie die Ausführungen über die Anwendbarkeit auf italienische Verhältnisse der Richtlinien für den Dialog und die Zulässigkeit einer ›Kollaboration‹ mit den Kommunisten in den Mund gelegt werden. Das Staatssekretariat ist in letzter Zeit viel Leids gewohnt, das von der Presse verursacht wird  ; so versetzt es denn auch den Sturm um Ihre Pressekonferenz in ein Wasserglas  ; aus diesem Grunde dürfte nach meinem Eindruck von einer offiziellen Richtigstellung seitens der Kurie abgesehen und allfällige Entgegnungen dem ›Osservatore‹ überlassen bleiben. Exzellenz Benelli verband sein Bedauern, von der Pressekonferenz erst nachträglich Nachricht gehabt zu haben, mit besonders warmen Worten für Ihre Person, Eminenz, Worte der Bewunderung für Ihre Anschauungen und Ihr Wirken, er drückte sich auch erleichtert (›fortunatamente‹) und zustimmend über die Erklärung aus, die Eminenz vor Ihrer Abreise an das CIC abgegeben haben. Ob sich Msgr. Benelli ebenso zustimmend zu den von Don Vicenzo Mino laut ›Messaggero‹ vom 4. 10. M. gegenüber einem angeblich kommunistischen parlermitanischen (  !) Blatt abgegebenen Erklärung äussern würde, bleibt dahingestellt. Wenn ich mir, mit Bezug auf das Gespräch, das ich mit Eminenz am Abend der Pressekonferenz führen durfte, gestattet habe, über meine Unterredung mit Msgr. Benelli zu berichten, so geschieht dies in Bekräftigung seiner Meinung, dass angesichts der besonderen italienischen Verhältnisse es weit besser ist, das Abflauen dieses Pressegewitters in aller Ruhe abzuwarten und sich nicht von den nur auf Sensation pirschenden Journalisten zu einem zwecklosen Replik – Duplik-Gefecht herauslocken zu lassen. Abschließend darf ich erwähnen, dass, soweit ich dies von hier aus beurteilen kann, nur die italienische Presse sich über die Pressekonferenz bzw. über gewisse Worte Pater Mino’s aufregt, während etwa die ›Neue Züricher Zeitung‹ völlig objektiv berichtet.« Über das in Rede stehende Dokument referierte die Kathpress, Nr. 228 am 1. Oktober 1968, Seite Iff. detailliert. 347 Damit meinte Botschafter Schwarzenberg wohl, dass er über Papst Paul VI. wertende Ausführungen über Kardinal König ausführlich berichten sollte. 348 Alfred Maletas Studie »Entscheidung für Morgen, Christliche Demokratie im Herzen Europas« umfasste 336 Seiten und war beim Verlag Molden gerade erschienen. 349 Apostrophierter Thematik hatte Paul VI. seine im März 1967 promulgierte Sozialenzyklika »Populorum progressio« gewidmet. 350 Am 7. Juli wurde in Wien der Vertrag über die Erhebung der apostolischen Administratur Innsbruck-

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Anmerkungen

Feldkirch zu einer Diözese unterzeichnet. Am 8. Dezember 1968 errichtete mit der Bulle »Christi caritas« Papst Paul VI. die Diözese Feldkirch und Bruno Wechner wurde der erste Feldkircher Diöze­ sanbischof. Anmerkungen zu Gabriella Dixons Beitrag Seit Verfassung dieses Beitrages Ende 2011 hat sich leider, was Asylwerber und deren Umstände in Österreich angeht, nichts grundlegend verändert. (Anmerkung der Hg.) 351 http://www.unhcr.org/4922d43a0.html (zuletzt am 3. 3. 2011 aufgerufen) 352 Diesen Hinweis steuerte Dr. Bernhard Schneider (Österreichisches Rotes Kreuz, Bereichsleiter Recht, Personal und Migration) bei. Die Autorin dankt Dr. Schneider für Anregungen, Korrekturen und das kritischen Gegenlesen dieses Textes. 353 Gabriella Dixon  : Materielle Kultur im Altersheim  – eine Feldforschung. Diplomarbeit (Universität Wien). Wien 2003. 354 Gabriella Dixon  : Materielle Kultur im Altersheim  – eine Feldforschung. Diplomarbeit (Universität Wien). Wien 2003. 355 (In Kooperation mit dem Wiener Landesverband)  : »Startwohnungen für Asylberechtigte Familien«. 356 ECRE European Council on Refugees and Exiles  : NGO Involvement in Resettlement. September 2010  : 9. 357 Anny Knapp  : Asylkoordination  ; http://www.asyl.at/fakten_1/basis.htm (zuletzt aufgerufen am 3. 3. 2011). 358 Die Zahl der positiven Asylbescheide ist in den letzten Jahren sogar zurückgegeangen. Siehe Statistiken der UNCHR  : http://www.unhcr.at/statistiken/einzelansicht/article/11/asyl-in-oesterreich-immermehr-antraege-von-irakern.html (zuletzt aufgerufen am 3. 3. 2011). 359 M.S.S. gegen Belgien und Griechenland vom 21. 1. 2011, Beschwerde Nr. 30696/09, abrufbar unter http:// www.echr.coe.int und http://cmiskp.echr.coe.int/tkp197/portal.asp  ?sessionId=67407980&skin=hudoccc-en&action=request. Die Autorin dankt Dr. B. Schneider für diese Informationen. 360 Magdalena Schilcher  : Gesundheitliche Situation anerkannter tschetschenischer Flüchtlinge in Österreich. Diplomarbeit (Universität Wien). Wien 2003. 361 Fonds Soziales Wien  : Leistungen der Grundversorgung Wien für betreutes Wohnen  ; http://www.fsw.at. 362 Name aus Datenschutz- und Sicherheitsgründen anonymisiert. 363 Das Rote Kreuz  : Nie mehr zurück nach Hause. Ausgabe 3h/ August 2006  : 7. Anmerkungen zu Christoph Merans Beitrag 364 Der Autor ist Angehöriger des österreichischen diplomatischen Dienstes und arbeitet seit 2007 in der Nahost- und Afrikaabteilung des Bundesministeriums für europäische und internationale Angelegenheiten in Wien. Der Artikel gibt seine persönliche Meinung wieder. 365 Zur besseren Lesbarkeit wird bei Berufsbezeichnungen nur die männliche Form verwendet. Diese bezieht sich auch auf weibliche Angehörige der jeweiligen Branche. 366 So ein verängstigter Österreicher zur »Kleinen Zeitung«, nachdem er auf der Flucht vor dem Supergau von Fukushima niemanden an der österreichischen Botschaft in Tokio erreichen konnte. Siehe http:// www.kleinezeitung.at/nachrichten/chronik/japan/2700769/wofuer-haben-dort-botschaft.story  – zuletzt aufgerufen am 25.6.2011. 367 Yasmina Reza  : L’Aube le soir ou la nuit. Paris 2007, siehe http://www.gringoire.com/diplomates-lachessarkozy/, und dies.: Le Canard Enchâiné, Paris 2009, siehe http://www.gringoire.com/sarkozy-prefetsambassadeurs/ (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011).

Anmerkungen

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368 Napoleon Bonaparte, Aphorismen  ; http://www.aphorismen.de/display_aphorismen.php  ?search=9&sa v=2745&hash=531db99cb00833bcd414459069dc7387&page=12&xanarioID=034b6755ac2f9f133eae 445ba99e309d (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 369 Originalzitat von Karel Schwarzenberg, wie dieser in einem Telefonat am 23. 8. 2011 bestätigte. »Der Standard« (Samstagsausgabe) vom 25. 6. 2008 und die tschechische Tageszeitung »Pravo« hatten das Zitat unvollständig wiedergegeben  : http://derstandard.at/3308918 – zuletzt aufgerufen am 23.8.2011. 370 Anticipation of Diplomacy in the Twenty-First Century. Occasional Paper of the Institute for the Study of Diplomacy. Washington 1979. ISD Legacy Edition. 371 Österreich hat derzeit weltweit circa 100 Vertretungsbehörden. 372 Formell bezieht sich die Bezeichnung »Diplomat« nur auf den Amtsleiter und die Angehörigen des Höheren Dienstes, die mit einem Diplomatenpass ins Ausland entsandt werden und im Empfangsstaat einen diplomatischen Status erhalten. Darüber hinaus sind auch alle anderen vom Entsendestaat an eine Vertretungsbehörde entsandten Mitarbeiter, die konsularische oder administrative Aufgaben erfüllen, an die Verpflichtungen der Interessenvertretung, der Loyalität und Amtsverschwiegenheit gebunden. Da die Frage, wie sich die Funktion des Diplomaten verändert hat, im Vordergrund steht, wird hier die Statusfrage außer Acht gelassen und für beide Gruppen der gemeinsame Begriff »Diplomat« verwendet. 373 Dazu tragen auch Interessensgruppen ihren Teil bei. Einige Regierungen nutzen sie für ihre Öffentlichkeitsarbeit im Ausland. Damit können sie zwischenstaatliche Gepflogenheiten umgehen und außenpolitische Prioritäten direkt über die Öffentlichkeit verfolgen. 374 http://www.news.at/articles/0606/16/132813/karikaturen-streit-oesterreich-hunderte-wien-graz (zuletzt aufgerufen am 25.6.2011). 375 Thomas L. Friedman  : The World Is Flat  : A Brief History of the Twenty-first Century. New York  : 2005. 376 Amnesty International, 27. April 2011, siehe http://www.amnesty.org/en/news-and-updates/sharprise-public-executions-iran-executes-first-juvenile-offenders–2011–2011-04–27 (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 377 Der in diesem Aufsatz verwendete Begriff »Lobbying« beschreibt eine diplomatische Tätigkeit, die in letzter Zeit stark zugenommen hat und die je nach Kontext Überredung durch geschicktes Verhandeln, durch Interessensabgleich oder Public Diplomacy bedeutet. Im Unterschied zur Berufsbranche des Lobbyismus betreiben Diplomaten Lobbying im Dienste ihres Staates, der EU oder einer internationalen Organisation und dürfen dafür nicht bezahlt werden. Ihre Ansprechpartner sind meist andere Diplomaten. Historisch knüpft das diplomatische Lobbying an die Tätigkeit des Antichambrierens (des Suchens von Einfluss im Vorzimmer der Herrschaft) und die schon spätmittelalterliche Tätigkeit der Hofschranzen an. Public Diplomacy ist für die klassische Diplomatie ein notwendiges Kommunikationsmittel geworden. Sie konzentriert sich auf die Medien und andere Vertreter der Zivilgesellschaft des Gastlandes und lehnt sich an die Kommunikationsstrategien von Unternehmen und Interessenvertretungen an. Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Lobbyismus (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 378 Darüber hinaus schenkt der Autor dem Wirken der Diplomatie im Ausland – ihrem eigentlichen Betätigungsfeld – größere Aufmerksamkeit als jener in der Hauptstadt, wo Diplomaten die typischen Aufgaben einer Schaltzentrale erfüllen und ihr Aktionsradius im Allgemeinen spezialisierter als im Ausland ist. Je nach Funktion verwerten sie in der Hauptstadt die Expertise der Botschaften für Gespräche mit offiziellen Österreichbesuchern oder für österreichische Besuche in das Ausland, oder sie erarbeiten Vorschläge, nach denen österreichische Schwerpunkte gesetzt werden können. 379 Zuletzt wurden zwei Salzburger Touristen Anfang 2008 von der Terrorgruppe Al Kaida im islamischen Maghreb in Tunesien verschleppt und für acht Monate festgehalten. Neben einem aus Wien operierenden Krisenstab sandte Österreich auch einen Sonderbotschafter zur Vermittlung nach Afrika. Die Befreiung gelang im November 2008.

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Anmerkungen

380 Österreichische Vertretungen sind die erste behördliche Anlaufstelle für Auslandsösterreicher für die Ausstellung von Pässen, Beglaubigungen und Urkunden. Sie erfüllen für sie die Aufgaben von Bezirksverwaltungsbehörden und Magistraten. 381 In Ländern mit zentralistischen Regierungssystemen  – im Nahen und Mittleren Osten, Afrika und in Teilen Asiens – ziehen es offizielle Stellen vor, auch Besuche österreichischer Wissenschafts- oder Wirtschaftsdelegationen ausschließlich über die österreichischen Botschaften abzuwickeln. 382 Das Auswahlkriterium für eine Aufnahme in den höheren diplomatischen Dienst ist ein abgeschlossenes Hochschulstudium in den Fächern der Rechts-, Politik- oder Wirtschaftswissenschaften. Die Bezeichnung »Generalisten« stammt daher, dass es sich bei Diplomaten im Regelfall um Universitätsabgänger ohne Spezialausbildung oder praktische Arbeitserfahrung handelt. Im diplomatischen Dienst werden sie dann in verschiedensten Arbeitsbereichen eingesetzt. . 383 A Disdain for the Past  : Jorg Haider’s Austria, Jacob Heilbrunn, World Policy Journal, Saturday, ­April 1, 2000, siehe http://www.allbusiness.com/public-administration/national-security-international/115358 3-1.html (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 384 Diplomat Picks Up the Pieces of Austria’s Broken Image, by Philip Shenon, NYT, February 14, 2000, siehe http://www.nytimes.com/2000/02/14/us/public-lives-diplomat-picks-up-the-pieces-of-austria-sbroken-image.html (zuletzt aufgerufen am 21. 7. 2011). 385 Ebd. 386 Der österreichische Botschafter war Peter Moser. Die International Jewish Rescue Organization Rav Tov wurde in den 1970er-Jahren von Rabbi David Niederman in den USA gegründet. Mit Unterstützung der österreichischen Bundesregierung konnte Rav Tov Tausenden Juden aus der ehemaligen UdSSR und dem Iran zur Emigration in die USA verhelfen. 387 Paschke, Theodor Karl  :The Future of European Diplomacy. Favorita Papers 2/2001  : 7–34. 388 Gottschlich, Maximilian und Karl Obermair  : Das Image Österreichs in den ausländischen Medien, Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Völker und Nationen im Spiegel der Medien  ; Bonn 1989  : 163–182. 389 United States Information Agency (USIA), 1953–1999  ; Definition der Planning Group, 20. Juni 1997, siehe http://www.publicdiplomacy.org/1.htm (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 390 Im Jahr 2010 hielten österreichische Diplomaten im Ausland 5 400 Kulturveranstaltungen in 110 Ländern ab, darunter in 80 Städten. Sie wurden von insgesamt 7,7 Millionen Menschen besucht. Der qualitative Aspekt wird durch diese Statistik nicht erfasst. Dies gilt vor allem für Großveranstaltungen. 391 http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/2687403.stm (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 392 Ashcroft Thanks Austria for Help on Terrorism, Iraq, Crime  : U.S. Attorney General, Austrian Interior Minister Ernst Strasser, January 28, 2004  ; siehe http://www.globalsecurity.org/security/library/news/ 2004/01/sec-040128-usia01.htm (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 393 Verbündete gegen den Terror, Öffentliche Sicherheit  – Das Magazin des Innenministeriums, Nr. 3–4/2004, siehe http://www.bmi.gv.at/cms/BMI_OeffentlicheSicherheit/2004/03_04/Artikel_14.aspx (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 394 The Waldheim Affair, Demokratiezentrum Wien, Lernmodule für die Politische Bildung, siehe http:// www.demokratiezentrum.org/en/knowledge/stations-a-z/the-waldheim-affair.html (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011)  ; Maximilian Schödl  : Die ›Watch List‹-Entscheidung betreffend Dr. Kurt Waldheim – Rechtsgrundlagen und Immigrationsfallrecht mit NS-Bezug. Dissertation (Universität Wien). Wien 2010  ; Richard Mitten  : The Politics of Antisemitic Prejudice. The Waldheim Phenomenon in Austria. Boulder, Colorado 1992 (Kapitel 1 und 8)  ; Onlinequelle  : www.demokratiezentrum.org (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 395 Diese Annahme beruhte auf den Resultaten mehrjähriger intensiver Meinungsumfragen, die ergeben

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hatten, dass jene Amerikaner, die am meisten über Österreich wussten, gleichzeitig auch die höchste Meinung von Österreich hatten. »… among the 14% of Americans who know the most about Austria and have the highest favorability rating (93% favorable), 40% think Austria is experiencing an increase in the popularity of Neo-Nazi ideas«. Siehe  : The Political Image of Austria in the United States  ; An Analysis of Public Opinion about Austria in the United States of America, Track Number VI  ; July 1998  ; Final Report, The Evans/McDonough Company, Inc., Berkeley, CA. 396 Ernst Hanisch  : Opfer, Täter, Mythos  : Verschlungene Erzählungen der NS-Vergangenheit in Österreich. Innsbruck Heft 6 2006. 397 James Jay Carafano  : Waltzing into the Cold War  : The Struggle for Occupied Austria. Texas A&M 2002  : p. 6ff. 398 Die WTO fördert den Abbau von Handelshemmnissen und die Liberalisierung des internationalen Handels. 399 Claira Piana  : The Institutions of the EU’s Common Foreign and Security Policy  : How Bureaucratic Politics Meets Network Analysis. 7th Biennial International Conference of the European Community Studies Association (ECSA), May 31–June 2, 2001, Madison, Wisconsin. 400 Dazu gibt es seit dem Jahr 2000 eine eigene Sicherheitsratsresolution  : SR-Res 1325 (2000) »Frauen, Frieden und Sicherheit«. 401 Weniger als acht Prozent betrug seit 1992 der Anteil von Frauen in Delegationen von UNO-Friedensmediationen, bei Vertragsunterzeichnungen sogar weniger als drei Prozent. Siehe  : Gleiche Rechte, Gleiche Chancen  : Fortschritt für Alle, Internationaler Frauentag 2010  ; UNO-Hauptabteilung Presse und Information, DPI/2553E, Februar 2010, siehe http://www.unis.unvienna.org/pdf/international_ days/Beijing15_OnePage_DE.pdf (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 402 Österreichischer Aktionsplan zur Umsetzung von VN-Sicherheitsratsresolution 1325 (2000), Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, Wien, August 2007. 403 Global Indicators for Implementation of UN Security Council Resolution 1325, siehe http://www.peacewomen.org/security_council_monitor/indicators (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 404 Im Jahr 1999 wurden in Arizona zwei deutsche Staatsbürger wegen Mordes hingerichtet, die Brüder Karl und Walter LaGrand. 405 Art. 36 – Verkehr mit Angehörigen des Entsendestaats  ; Wiener Übereinkommen vom 24. April 1963 über konsularische Beziehungen, siehe http://www.datenbanken.justiz.nrw.de/ir_htm/wuek_24-04– 1963.htm (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 406 Folgende, immer wiederkehrende Verstöße von US-Landesgerichten wurden festgestellt  : – die Missachtung der schweren geistigen Unzurechnungsfähigkeit des Verurteilten zum Tatzeitpunkt. (Präzedenzfall war ein zum Tode verurteilter Amerikaner mit einem IQ von 59.) – die Missachtung des lindernden Umstands der Minderjährigkeit, vor allem bei Schwerstverbrechen. (Die USA gehören neben China, der Demokratischen Republik Kongo, Iran, Nigeria, Pakistan, Saudi-Arabien und Jemen zu den wenigen Ländern, in denen seit 2000 zur Tatzeit minderjährige Straftäter hingerichtet wurden.) – die Vernachlässigung des Rechts von festgenommenen Ausländern, die Vertretungsbehörde ihres Landes zu kontaktieren. (Dies traf bei den Brüdern LaGrand zu, weshalb der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen die USA wegen Verletzung der WKK verurteilte.) Das jeweilige EU-Vorsitzland intervenierte im Namen der gesamten EU mit einem Gnadengesuch oder der Aufforderung eines Exekutionsaufschubs beim Gouverneur des zuständigen Bundesstaates. In den allermeisten Fällen obliegt die Verhängung ebenso wie die Vollstreckung der Todesstrafe in den USA den Bundesstaaten, da der Bund nur in Fragen der Militärgerichtsbarkeit sowie in wenigen Strafangelegenheiten nach Bundesrecht über strafrechtliche Kompetenzen verfügt.

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Anmerkungen

407 Diplomatic and Consular Immunity, Guidance for Law Enforcement and Judicial Authorities, U.S. Department of State Publication 10542, Revised August 2010, siehe http://www.state.gov/documents/ organization/150546.pdf (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 408 Hinter der gemeinsamen Linie können sich nationale Interessen jener verstecken, die das Ruder der Entscheidungen in Brüssel führen, weil sie über politisches, wirtschaftliches oder militärisches Gewicht verfügen  : Großbritannien, Frankreich und Deutschland. Hinter ihren Vorgaben für gemeinsame Ratsentscheidungen werden nicht selten vorab bilaterale Interessenabgleichungen getroffen. 409 Der österreichische diplomatische Dienst ist verhältnismäßig klein. Wenige Personen beackern eine Vielzahl von Themen. In der Afrikaabteilung Wiens betreuen beispielsweise drei Arbeitskräfte 48 Länder. An kleineren Botschaften im Ausland versehen Diplomaten gleichzeitig konsularische, politische, wirtschaftliche und kulturelle Aufgaben. 410 Siehe Artikel 23e der Österreichischen Bundesverfassung. Mit dem Vertrag von Lissabon hat Österreich 2009 dem wechselseitigen Beistand in einer eigenen Klausel explizit zugestimmt (siehe Art. 42 Abs. 7 EU-Vertrag). Der wechselseitige Beistand regelt nicht die Form, in der dieser zu leisten wäre. Deshalb konnte Österreich dieser Klausel zustimmen. 411 Siehe http://www.menschenrechtsverein.org/index.php/cat/58/aid/978/title/Repression_im_Iran  :_Hohe_ Haftstrafen_fuer_regimekritische_und_Journalisten_und_Blogger (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011)  ; und Irans Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi im Interview, »Die Presse«, 10. 5. 2011  ; siehe http:// diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/660972/Oesterreich-gehoert-zu-Ahmadinejads-bestenFreunden  ?_vl_backlink=/home/politik/aussenpolitik/index.do (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). In der zweiten Hälfte April 2011 wurden dort allein acht Jugendliche öffentlich gehängt. Siehe http:// www.amnesty.org/en/news- (zuletzt aufgerufen am 25.6.2011)  ; and-updates/sharp-rise-public-executions-iran-executes-first-juvenile-offenders–2011–2011-04–27 (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 412 Die konkrete Projektarbeit wird von der Agentur der Österreichischen Entwicklungszusammenarbeit (OEZA) geleistet. 413 Daneben laufen mehrere Kulturaustauschprogramme wie Black Sea Calling oder Writers in Residence, Sprachprogramme wie TRADUKI und Konferenzen zu Fragen von good governance. 414 Azita Piran-Naderi  : Der Iran seit 1979 bis 2008 und seine Beziehungen zu Österreich, Diplomarbeit (Universität Wien). Wien 2008  ; http://othes.univie.ac.at/1755/1/2008–10–20_9402739.pdf (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 415 Diese Sichtweise nährt sich aus der Instrumentalisierung des Islam zu politischen und anderen Zwecken. Sie beeinflusst den politischen Diskurs insofern, als auch Situationen auf religiösen Fanatismus zurückgeführt werden, die andere oder komplexere Ursachen haben  : ethnische und tribale Spannungen, Machterhalt oder Erhaltung von Systemen, welche Stabilität gewährleisten können, inklusive der Versorgung mit Rohstoffen. 416 Beide Slogans waren Teil der FPÖ-Wahlkampfkampagne bei den österreichischen Bundeswahlen 2006, siehe http://www.demokratiezentrum.org/wissen/bilder.html  ?index=1934 (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011)  ; und http://www.facebook.com/pages/FP%C3%96-Deutsch-Wagram-f%C3%BCr-ein-sauberes-Deutsch-Wagram/134982016529868  ?v=info (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011  ; sowie http://www. chromosphere.at/blog/wordpress/  ?p=503 (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 417 Prince El Hassan bin Talal  : The Arab spring could be a springboard for economic partnerships, Europe’s World, Summer 2011   : 114–117   ; siehe http://www.europesworld.org/NewEnglish/Home_old/Article/tabid/191/ArticleType/ArticleView/ArticleID/21870/language/en-US/TheArabspringcouldbe aspringboardforeconomicpartnerships.aspx (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 418 Die Frage, wie repräsentativ die Volksaufstände in Nordafrika für die gesamte Bevölkerung waren, ist umstritten. Sie ist aber irrelevant, was ihre Wirkung betrifft. Die Tatsache, dass im größten Land, Ägyp-

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ten, die Anzahl der Demonstranten in Kairo in weniger als 72 Stunden von 60 000 auf zwei Millionen anstieg, lässt darauf schließen, dass die Mobilisierung sehr stark war. Auch gilt als erwiesen, dass die Volksaufstände in Tunesien und Ägypten, und davor in Ex-Jugoslawien, der Ukraine und Georgien jahrelang vorbereitet wurden. Dabei spielten auch ausländische Gruppen wie die serbische Bewegung OTPOR, die den Sturz des serbischen Diktators Milošević vorbereitet hatte, und die sich jetzt CANVAS nennt, eine gewisse Rolle. Die Kommunikation durch soziale Netzwerke war eines ihrer Demokratisierungsinstrumente. Siehe Gene Sharp  : From Dictatorship to Democracy  : A Conceptual Framework for Liberation. Fourth U.S. Edition. The Albert Einstein Institution, Boston  : 2010  ; http://www.aeinstein. org/organizations/org/FDTD.pdf (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 419 In jenen Ländern, in denen der Arabische Frühling zum Sturz der Regierungen geführt hat – in Ägypten und Tunesien  – gab es bisher keine terroristischen Anschläge. Anders als angenommen besteht keine Korrelation zwischen Armut und terroristischer Radikalisierung. Al-Kaida-Terroristen radikalisieren sich im Widerstand gegen ihr unmittelbares Umfeld. Nicht selten überwerfen sie sich mit ihren Imamen und werden aus ihren angestammten Moscheen ausgeschlossen. Es handelt sich um eine jugendliche Protestbewegung, die zum Großteil aus labilen, größenwahnsinnigen Realitätsverweigerern besteht und weitgehend autonom agiert. Sie rekrutiert ihre Mitglieder weltweit, von Waisenheimen in Pakistan bis zu Cricket Clubs in England. Siehe Scott Atran  : The Moral Logic and Growth of Suicide Terrorism. The Washington Quarterly, Spring 2006  ; http://www.twq.com/06spring/docs/06spring_ atran.pdf (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011  ; und Olivier Roy Le Seuil   : L’échec de l’islam politique. Paris 1992  ; sowie Wie hast Du’s mit der Religion  ? Eren Güvercin im Gespräch mit Olivier Roy über sein Buch »Heilige Einfalt – Über die politischen Gefahren entwurzelter Religionen«  ; veröffentlicht am 21. 4. 2010, siehe http://erenguevercin.wordpress.com/2010/04/21/wie-hast-dus-mit-der-religioneuropa/ (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 420 Der christlich-islamische Dialog von St. Gabriel bei Mödling ist ein herausragendes Beispiel dafür. Siehe Elisabeth Karamat  : Christlich Islamischer Dialog. Initiative Österreichischer Außenpolitik. Schenefeld 2007. 421 Ein gutes Beispiel dafür sind Geberkonferenzen zum Wiederaufbau von Regionen, die durch bewaffnete Konflikte zerstört wurden. 2008 fand in Wien eine Konferenz zum Wiederaufbau des palästinensischen Flüchtlingslagers Nahr el-Bared im Libanon statt. Potenzielle Geberländer trafen sich, um Finanzierungszusagen zu geben. Das ursprünglich gesetzte Konferenzziel wurde bisher nicht erreicht. 422 Sie machten sich eine Technologie zunutze, die zum Sturz ihrer Diktatoren führte, die aber durch ihre Fragmentierung keinen gemeinsamen öffentlichen Raum hat, in dem eine funktionierende Demokratie debattiert und gebaut werden kann. Siehe Gene Sharp  : From Dictatorship to Democracy  : A Conceptual Framework for Liberation. Fourth U.S. Edition. The Albert Einstein Institution, Boston 2010  ; http://www.aeinstein.org/organizations/org/FDTD.pdf (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 423 Gründungsmitglieder des Dialogzentrums The King Abdullah Interfaith Dialogue Center sind das Königreich Saudi-Arabien, der Vatikan, Österreich und Spanien. (Stand vom 25. 6. 2011). 424 Als eine der Anti-Terrormaßnahmen wurden nach dem 11. September 2001 weltweit zahlreiche islamische Stiftungen geschlossen oder finanzielle Zuwendungen an sie stark eingeschränkt. Die indirekte und private Unterstützung existiert weiter. Siehe Stefano Allievi  : Conflicts over Mosques in Europe. Policy issues and trends. NEF Initiative on Religion and Democracy in Europe, Network of European Foundations, London 2009  ; und Jocelyne Cesari  : When Islam and Democracy Meet  : Muslims in Europe and the United States. New York 2004  ; sowie Saudi Royals Market Pact With Wahhabi Islam To Export Terror. Fox News documentary, 24. 4. 2011  ; http://www.youtube.com/watch  ?v=rpDgUvMxkgM (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 425 Smail Balic  : Islam für Europa. Neue Perspektiven einer alten Religion. Köln/Wien 2001.

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Anmerkungen

426 Die geschah auf Betreiben der in Rom stationierten Gemeinde Sant’Egidio. Siehe Religious Contributions to Peacemaking. When Religion Brings Peace, Not War. United States Institute of Peace, Peaceworks No. 55. First published January 2006. 427 Botschafter Dr. Martin Eichtinger  : Welches Österreichbild wollen wir vermitteln  ? Österreichische Auslandskulturpolitik vor neuen europäischen und globalen Herausforderungen. Vortrag vom 5. Mai 2011, Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten. 428 Das Österreichische Kulturforum (ÖKF) in Teheran ist das einzige westliche Kulturinstitut im Iran. Ohne Unterbrechung pflegt es seit über 50 Jahren kulturelle, wissenschaftliche und künstlerische Beziehungen. Allein 2010 fanden 151 Kulturveranstaltungen am ÖKF in Teheran statt. 429 Dies hat auch mit dem ehrgeizigen Plan der Europäischen Kommission zu tun, wonach die europäischen Kultur- und Kreativindustrien neue Technologien erschließen und Europa aus der Krise führen sollen, weil sie zu den dynamischsten Wirtschaftsbranchen gehören. »EU-Strategie bis 2020 für eine wettbewerbsfähige, ökologische und nachhaltige Wirtschaft«, siehe http://ec.europa.eu/dgs/secretariat_ general/eu2020/docs/stabsstelle_europa_dbb_de.pdf (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). Siehe http:// ec.europa.eu/deutschland/press/pr_releases/9131_de.htm (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 430 Die mittlerweile 60 Österreichbibliotheken tragen als eine Art Minikulturinstitute ebenso zum dichten Auslandskulturnetzwerk Österreichs bei wie die neun Österreich-Institute, die neben Sprachkursen auch Landes- und Kulturkunde anbieten. 431 Network of the International Cultural Relations Institutes (EUNIC) ist eine 2006 gegründete Partnerschaft nationaler Kulturinstitute aus 26 EU-Ländern. 432 Dies trifft vor allem auf jene Diplomaten zu, die vor dem EU-Beitritt Österreichs 1995 zu Diplomaten ausgebildet wurden. 433 Ebenso Massenvernichtungswaffen, Menschenhandel, Drogen- und Waffenschmuggel. 434 China, Indien, Brasilien, Russland und die Türkei übernehmen eine immer wichtigere Rolle dabei. 435 Der Europäische Auswärtige Dienst setzt sich aus drei verschiedenen, teils miteinander konkurrierenden Institutionen zusammen. Es wird Zeit brauchen, bis sich eine Gemeinschaftskultur entwickeln kann. 436 John J. Mearsheimer  : The Tragedy of Great Power Politics. New York 2001. 437 Der institutionelle Einfluss des Hohen Vertreters ist beschränkt. Ebenso sind die Verteidigungsstrukturen der EU noch unterentwickelt. 438 Die Hohe Vertreterin der EU-Außenpolitik, Catherine Ashton, ist Chefin des Europäischen Auswärtigen Dienstes. Sie wurde von den 27 Staats- und Regierungschefs der EU ernannt und nimmt gemeinsam mit ihnen an EU-Gipfeln teil. In ihrer Doppelfunktion als Vizepräsidentin der EU-Kommission musste sie vom Europäischen Parlament bestätigt werden, bevor sie ihr Amt antreten konnte. Damit besitzt sie im Unterschied zu ihrem Vorgänger Javier Solana eine indirekte demokratische Legitimation. 439 Zuletzt wurde im Feber 2011 das Vienna Centre for Disarmament and Non-Proliferation gegründet, das die Rolle Wiens als internationaler Verhandlungsort für Non-Proliferation und Abrüstung stärkt. 440 Aus der politischen BBC-Satire »Yes, Minister  !« Siehe http://web.archive.org/web/20071013172651/ http://www.bbc.co.uk/comedy/yesminister/index.shtml (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011)  ; und http:// www.jonathanlynn.com/tv/yes_minister_series/yes_minister_episode_quotes.htm (zuletzt aufgerufen am 25. 6. 2011). 441 Der samtene Revolutionär, Alexandra Föderl-Schmid und Michael Kerbler im Gespräch mit Vaclav Havel, 2009. Klagenfurt/Celovec 2010. 442 »The revolutions in Northern Africa happened despite the Euro-American policy in the region, which had sustained the regimes.« Wortmeldung von Abou Elela Mady, dem Vorsitzenden der El-Wasat Partei, Kairo, anlässlich der Konferenz »Egypt in Transition  : Ready for Democracy  ?«, veranstaltet vom ÖIIP und der Anna Lindh Foundation, Diplomatische Akademie, Wien, am 7. Juni 2011.

Anmerkungen

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443 Andrew Rosenthal  : Bush Gamble With Beijing. Special to The New York Times, published December 13, 1989, siehe http://www.nytimes.com/1989/12/13/world/bush-gamble-with-beijing.html  ?page wanted=print&src=pm (zuletzt aufgerufen am 1. 7. 2011). Anmerkungen zum Anhang 444 Übersetzung von Colienne Meran. 445 Die Herausgeber danken Dr. Anna Maria Freifrau von Haxthausen, Elisabeth und Rüdiger von Pezold, Adam von Pezold, Catharina Kahane und Alexander Schwarzenberg für die hier recherchierten Informationen. 446 Der »Reichsbund der Österreicher«, 1921 gegründet, beschäftigte sich besonders mit der Bewältigung kultureller Aufgaben  ; der politische Organisationsarm »Partei der österreichischen Monarchisten«, geführt von Freiherr von der Wense, errang beachtliche Erfolge und ein Mandat im Nationalrat. Zu der bisherigen Programmatik wurde um 1924 die Idee der »sozialen Monarchie« aufgenommen. 1927 wurde zugunsten des »kleinösterreichischen Programms« die Absicht, eine Donauföderation anzustreben, aufgegeben. Mit Festigung der Grundsätze 1930/31 entstand eine Dachorganisation – der »Eiserne Ring«  – zur Sammlung aller legitimistischen Verbände, in deren Führung u. a. Max von Hohenberg, ältester Sohn des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand d’Este, zu finden war. Die Grundprinzipien des Legitimismus wurden im Wesentlichen in die von Dr. Engelbert Dollfuß gegründete »Vaterländischen Front« übernommen. Damit erwuchsen sie – ausgenommen lediglich die Restaurationsidee – zum österreichischen Staatsgedanken. Nach dem Anschluss 1938 wurden sämtliche legitimistischen Vereine und Verbände von den Nazis untersagt und deren Mitglieder verfolgt. Siehe http://www. austria-lexikon.at/ebook/wbin/ambrosius.html#pagenum=271&layer=default1&book=Lexika/Oesterreich_Lexikon_Band1&pageid=00000268&thumbview=2p (zuletzt aufgerufen am 20. 2. 2012). 447 Im Archiv des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW) findet sich diese Eintragung unter der Signatur 21058/36B (Kopie des Originals im Bürckel-Bestand). 448 Christian Müller  : Hitlers Bankiers und die SS. Justus Liebig Universität Giessen, Geschichte  ; http:// www.uni-giessen.de/cms/kultur/universum/geschichte/diktaturen/wirtschaftsverbrechen–1 (zuletzt aufgerufen am 20. 2. 2012). 449 Schloss Frauenberg, tschechisch Hluboba, Süd-Böhmen, Tschechische Republik. 450 Ligurien, Italien. 451 Eidesstattliche Versicherungen der Eheleute Seidemann im Archiv Elisabeth von Pezolds. 452 Ehemann von Therese Schwarzenberg (1905–1979). 453 Dieser Brief Franz Rehrls vom 1. September 1945 befindet sich in J. E. Schwarzenbergs Nachlass. 454 Gedruckter Bericht in der Bibliothek Elisabeth von Pezolds. 455 Zwangsarbeiter fertigten (neben den Steyrer Werken) hier für Voigt und Haffner Linz ab Sommer 1944 in den Kellern der Greinburg elektrische Anlagen für die Luftrüstung. Schon 1943 übernahm Voigt und Haeffner Linz u. a. die Herstellung von Schaltstützen für das A–4 Raketenprogramm und verlagerte auch Teile dieser Produktionsabläufe dorthin. (Wolfgang Lenz, Barbara Distl, Angelika Königseder [Hg.]  : Der Ort des Terrors  – Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. München 2010. Siehe auch Karl Hohensinner und Stefan Mandelmayr  : Das zeitgeschichtliche Forschungsprojekt in Grein, Oberösterreich. Jahrbuch 2000 des DÖW. Wien 2000  : 87ff.). Das in Grein an der Donau befindliche Außenlager des KZ Mauthausen wurde am 4. Februar 1945 errichtet. Schutzhäftlinge aus Mauthausen verrichteten grobe Erd- und Bauarbeiten zum Ausbau der Keller. 456 Mündlicher Bericht Heinrich Schwarzenbergs an seinen Neffen Karl Erkinger Schwarzenberg (*1933). 457 Siehe den Beitrag Oliver Rathkolbs.

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Anmerkungen

458 Siegfried Beer  : Target Central Europe  : American Intelligence Efforts Regarding Nazi and Early Postwar Austria 1/1997  ; http://www.cas.umn.edu/assets/pdf/WP971.PDF (aufgerufen am 10. 11. 2011). 459 Siegfried Beer  : Target Central Europe  : American Intelligence Efforts Regarding Nazi and Early Postwar Austria 1/1997  ; http://www.cas.umn.edu/assets/pdf/WP971.PDF (aufgerufen am 10. 11. 2011).

Register Adenauer, Konrad 348 Adler, Victor 85 Agstner, Rudolf 328 Ahasver 79 Ahne, Pauline von 77 Alexandra, Prinzessin von Kent 351 Alfons XIII., König von Spanien 352 Aly, Götz 268 Andreotti, Giulio 345 Armstrong, Tony, Lord Snowdon 350 Asch, Shalom 223 Ashton, Catherine 399 Attila 87 Auerbach, Berthold 9 Auffenberg, Moritz von 55, 58 Auschwitz-Protokolle 263, 265 Badeni, Kasimir Felix 253 Bastl, Jaromír 92–94, 96, 99, 100 Battisti, Cesare 209 Bauer, Otto 85 Bauer, Yehuda 201, 202 Becher, Kurt 201 Beethoven, Ludwig van 28, 78 Benedikt XVI., Papst 354 Benelli, Giovanni 357 Beneš, Edvard 67 Berenson, Bernard 223 Berlin, Isiah 221 Bernstorff, Albrecht Theodor 408 Bethmann-Hollweg, Theobald von 48 Bettauer, Hugo 82 Bettigny, Louise de 42, 44 Bielka-Karltreu, Erich 255, 333 Bischoff, Norbert 206, 338 Bleyleben, Paul Regner von 59 Bosch, Hieronymus 33 Bosel, Siegmund 95 Bourbon, Henri Charles de Bourbon, Chambord 44

Brand, Joel 202 Breitner, Hugo 85 Brendel, Alfred 333 Briand, Aristide 51 Brod, Max 76 Browning, Christopher 194, 195 Brudermann, Adolf 55, 58 Buchbinder, Rudolf 333 Burckhardt, Carl Jakob 85, 192, 193, 202, 219, 255 Buresch, Karl 89 Bush, George H.W. 401 Canaris, Wilhelm 408 Cardinale, Inghino 44 Castiglione, Camillo 95 Castlereagh, Robert Stewart, Viscount 347 Chateaubriand, François René 30 Chotek, Henriette 63 Chruschtschow, Nikita S. 348 Churchill, Winston 9, 204, 205, 337, 341 Clam-Martinic, Heinrich 51, 87, 88 Clark, Kenneth 221 Clary-Aldringen, Alphons, Alphy 51 Cocatrix, Albert de 194 Conway, John S. 265 Conze, Eckhart 194, 195 Corneille, Pierre 31 Cornides, Lori 15 Curzon, George 347 Czernin, Ottokar 51 DAS, Division d’Assistance Spéciale 10, 11, 190, 409 Dawson, Mary 44 De Gasperi, Alcide 11, 205, 207–210, 211, 259, 345, 346 Dixon, Gabriella 12, 15, 361 Dollfuß, Engelbert 10, 11, 252–254 Don Juan de Austria 52 Douglas, Alexander, Lord Home 217, 333, 347–349

464 Eden, Anthony 348 Eichmann, Adolf 201, 268, 269, 407 Elisabeth, Kaiserin von Österreich, Königin von Ungarn 41 Enderle-Burcel, Gertrude 328 Felici, Angelo 358 Ferdinand, Kaiser von Österreich 38 Figl, Leopold 12, 208, 345 Flue, Nikolaus von 65 Follner, Michaela 328 Fonteyn, Margot 221 Forcher-Meier, Paula 206 Franckenstein, Georg von 332, 338 Franz Ferdinand, Erzherzog-Thronfolger 21, 47–55, 58, 62 Franz Joseph I., Kaiser von Österreich, König von Ungarn 21, 50, 55, 67, 209 Freudenberg, Adolf 263 Freud, Sigmund 330 Friederike, Königin von Griechenland 351 Friedman, Thomas 381 Friedrich August III., König von Sachsen 49 Fuchs, Martin 333 Furtwängler, Wilhelm 223 Gaddafi, Saif al-Islam 381, 395 Gaitskell, Hugh 333 Gandhi, Mahatma 65 Gascoyne-Cecil, Robert (Bobbety), 5th Marquess of Salisbury 348 Gaulle, Charles de 348 Gérard, Francois 29 Gerlach, Christian 268 Gilbert, Martin 266 Gleispach, Wenzeslaus 81, 83 Goerdeler, Carl 408 Goethe, Johann W. 31, 73, 76 Gombrich, Ernst H. 221 Grillparzer, Franz 31, 54 Grimm, Kurt 409 Gruber, Karl 12, 205, 259, 342 Grün, Anastasius (eigentlich Anton Graf von ­Auersperg) 72 Guillion, Edmund 380 Guttenberg, Karl Ludwig 407, 408

Register

Habsburg, Otto von 63, 257 Haefliger, Louis 190, 191, 192 Haider, Jörg 384 Haley, Sir William 332 Harrison, Rex 221 Hassell, Ulrich von 198, 408 Hauptmann, Gerhart 223 Heath, Edward 348 Hecht, Maurice 405 Himmler, Heinrich 63, 190, 201, 408 Hitler, Adolf 63, 75, 85, 196–201, 252, 254, 255, 327, 328 Hodscha, Enver 205 Hofmannsthal, Hugo von 208, 223 Hohenberg, Ernst 63 Hohenberg, Max 21, 47, 50, 51, 62, 63, 80 Hohenberg, Sophie 53, 61, 62 Hohenlohe-Schillingsfürst, Gottfried 44 Hornbostel, Theodor von, Teddy 259 Höß, Rudolf 193 Hötzendorf, Conrad von 50, 58, 59 Huber, Max 203, 219 Hussein, Saddam 386 IK, Internationales Komitee 191, 192 IKRK, Internationales Komitee vom Roten Kreuz 9–11, 192, 194, 199, 202, 203, 219, 255, 256, 260, 263, 265–267, 269, 409 Jankowitsch, Peter 11, 12, 15, 327, 337 Jintao, Hu 379 Johannes von Nepomuk, Hl. 76 Johannes XXIII., Papst 206, 355 Johann, König von Böhmen 74 Kadyrov, Ramsan 369 Kafka, Franz 76 Kahane, Catharina 16 Kaltenbrunner, Ernst 192, 202 Karl IV. von Luxemburg, röm.-deutscher Kaiser 74 Karl, Kaiser von Österreich, König von Ungarn 87 Kassner, Rudolf 26 Kasztner, Rudolf 201, 268 Kellogg, Frank 51 Kelsen, Hans 10, 81, 83, 84 Kempner, Robert W. 194

465

Register

Khatami, Mohammad 394 Kisch, Egon Erwin 76 Kissinger, Henry 9 Klein, Ludwig 409 Kleist, Heinrich von 31 Klofáč, Václaf Jaroslav 67 Kokoschka, Oskar 78 Kolowrat, Heinrich Jindrich 74 Komoly, Ottó 201, 268 König, Franz 12, 354, 359, 394 Kopecký, Jaromír 266, 267 Kramář, Karel 67 Krasniansky, Oscar 266 Krätzl, Helmut 354 Kreisky, Bruno 261, 331, 332, 334, 337, 349, 352, 353, 393 Lammasch, Heinrich 87 Lanckoronska, Karla 85 Lanckoronski, Karl 26, 84 Lehmann, Lotte 26 Lehner, Otto 192 Leigh, Vivian 221 Liebmann, Maximilian 12, 15, 353 Lindley, Bridget 215 Lindner, Anton 409 Linn, Ruth 15 Lippman, Matthew R. 15 Lobkowicz, Moritz 46 Löb, Ladislaus 201, 268 Löwenthal-Chlumecky, Max 259, 343 Luxemburg, Rosa 72 Macmillan, Harold 83, 347–349 Mahler, Alma 26, 77, 223 Mahler, Gustav 77, 78 Makart, Hans 26 Maleta, Alfred 354, 359, 360 Maleta, Gerda 359 Margaret, Prinzessin von Windsor 350 Maria Theresia, Kaiserin 40, 41 Marie-Louise, Erzherzogin, Kaiserin von Frankreich, Herzogin von Parma 29, 30 Marina, Prinzessin von Kent 352 Masaryk, Alice 67, 73, 74 Masaryk, Jan 67, 68

Masaryk, Tomáš G. 67, 73, 209 Massigli, René 215 Mayer, Saly 194, 201–204, 219, 220, 256, 266 Mayr, Richard 26 McEwen, Jock 215, 216 Melas, Michel 351 Melcher, Wilhelm 195 Mensdorff-Pouilly, Albert 26 Meran, Christoph 12, 15, 379 Meran, Colienne 16, 219–223 Meran, Maximilian 15, 220 Metastasio, Pietro 78 Meyrink, Gustav 76 Michmann, Dan 15 Miller-Aichholz, Marysia 12, 16, 202, 263 Mock, Alois 394 Molden, Fritz 257, 409 Molière (eigentlich Jean-Baptiste Poquelin) 31 Monnet, Jean 399 Montenuovo, Alfred 61, 62 Moore, Henry 221 Mordowicz, Czeslaw 266 Morrison, John 212, 214 Morrison, Mary 214 Morse, Arthur 194, 265 Mozart, Wolfgang Amadeus 78, 397 Müller, Heinrich 192, 193 Mussolini, Benito 85, 254, 328, 341 Napoleon, Bonaparte 29, 30, 59, 200 Nichols, Phil 204 Nostitz, Erwein 51 Nostitz, Karl 70 Ogilvy, Angus 350 Pacelli, Eugenio, Papst Pius XII. 353, 355 Palmerston, Henry Temple, Lord 347 Paschke, Theodor 385 Paul VI., Papst 353–355, 357, 359 Pétain, Philippe 200 Pfister, Willy 193, 194 Pilecki, Witold 266 Pius XII., Papst, Kardinal Eugenio Pacelli 355 Pius X., Papst 23, 25 Pohl, Oswald 192

466 Porat, Dina 15 Powers, Leon W. 198, 199 Racine, Jean-Baptiste 31 Radetzky, Joseph Wenzel 31, 54 Rahner, Karl 84 Rathkolb, Oliver 11, 15, 202, 251, 337, 409 Redlich, Josef 83 Rehrl, Franz 408 Renner, Karl 10, 257, 260 Ribbentrop, Joachim von 196, 198, 200 Riegner, Gerhard 266 Rintelen, Anton 10 Roosevelt, Franklin D. 266 Rosin, Arnošt 266 Roth, Joseph 76 Rothmund, Heinrich 263 Rudolf, Erzherzog, Kronprinz 90 Rumsfeld, Donald 386 Salten, Felix 223 Samoré, Antonio 355, 356 Sarkozy, Nicholas 379 Schalk, Franz 26, 223 Schärf, Adolf 204, 259 Schey, Josef 83 Schiller, Friedrich 31 Schindler, Oskar 201, 268 Schloss, Henry 194, 265 Schmidt, Guido 254 Schmitz, Richard 252 Schneider, Bernhard 368 Schneppenhorst, Ernst 408 Schober, Hans 10, 89, 90, 94 Schöner, Josef 333 Schubert, Franz 397 Schulenburg, Friedrich Werner von 198 Schuman, Robert 399 Schuschnigg, Kurt von 11, 252–254 Schwarzenberg, Adam Josef 76 Schwarzenberg, Adolph 42, 407 Schwarzenberg, Alexander 15, 16 Schwarzenberg, Erkinger 16, 219–222 Schwarzenberg, Felix, Feldmarschall 28, 30, 31, 49, 59 Schwarzenberg, Felix, General 56

Register

Schwarzenberg, Felix, Ministerpräsident 50 Schwarzenberg, Friedrich, Fido 22 Schwarzenberg, Friedrich, Kardinal 24, 40 Schwarzenberg, Friedrich, Landsknecht 31 Schwarzenberg, Georg 407 Schwarzenberg, Heinrich 408 Schwarzenberg, Hilda 407 Schwarzenberg, Johann 90 Schwarzenberg, Johannes E. 10, 11, 12, 17, 92, 194, 207, 217, 251–257, 259–261, 265, 320, 328–335, 343, 353, 354, 362, 408 Schwarzenberg, Josef 409 Schwarzenberg, Karl (IV.) 61 Schwarzenberg, Karl (V.) Kary 26, 27, 49 Schwarzenberg, Karl (VI.) 56 Schwarzenberg, Kathleen 11, 33, 204, 217, 222 Schwarzenberg, Wilhelmine 37, 61 Schwarzenegger, Arnold 384 Seipel, Ignaz 84, 85, 86, 87, 88, 89, 253 Seitz, Karl 85 Selwyn-Lloyd, John 347 Seynsheim, Felix Pseudonym für Schwarzenberg, Johannes E. 320 Shakespeare, William 31 Silva-Tarouca, Ernst 51 Smuts, Jan C. 205 Spann, Othmar 10, 83, 85, 253 Spoelberch, Guillaume de, Doubs 222 Starhemberg, Rüdiger von 204 Stauffenberg, Claus Schenk von 198 Steffen, Charles 190 Stillfried, Alfons von 198 Strauss, Richard 26, 77, 78, 223 Stülpnagel, Carl-Heinrich von 198 Sturzo, Don Luigi 211 Suchomlinow, Wladimir Alexandrowitsch 49 Sutherland, Graham 221 Sztójay, Döme 268, 269 Tabeau, Jerzy 12, 263, 266, 267 Tacitus, Publius Cornelius 62 Talleyrand-Périgord, Charles-Maurice de 197, 200 Tandler, Julius 85 Tardini, Domenico 355, 357 Tegetthoff, Wilhelm von 52 Thalberg, Hans 257, 409

467

Register

Veesenmayer, Edmund 268 Verdroß-Droßberg, Alfred 10, 83, 84, 89 Victoria, Königin von Großbritannien, Kaiserin von Indien 351 Vollgruber, Alois 206 Vrba, Rudolf 12, 201, 263, 266–269

Waldheim, Kurt 12, 353, 384, 387 Waldstein-Wartenberg, Ernst 15 Waldstein-Wartenberg, Marie 15 Walter, Bruno 223 Weil, Benjamin 38, 39 Weizsäcker, Ernst von 15, 194, 195–197, 199, 200 Weizsäcker, Richard von 194 Wellington, 1st Duke of 333, 347 Werfel, Franz 77, 78, 223 Westphalen, Theobald, Tete 60 Wetzler, Alfréd 12, 201, 263, 266–268 Wildner, Heinrich 259 Wilhelm II., Deutscher Kaiser und König von Preußen 48, 49, 352 Wimmer, Lothar 257 Winterstein, Robert 338 Württemberg, Albrecht von 44

Wagner, Cosima 26 Wagner, Richard 26

Ziereis, Franz 190, 191, 192 Zweig, Stefan 76, 223

Thun-Hohenstein, Franz, Statthalter 26, 40, 41, 60, 61 Tirpitz, Alfred von 48 Tiso, Josef 88 Tončić-Sorinj, Lujo 12, 353 Torberg, Friedrich 76 Truman, Harry S. 257 Umberto II., König von Italien 351 Urzidil, Johannes 76

LISELOTTE DOUSCHAN

ANTON BENYA ÖSTERREICHISCHER GEWERKSCHAFTS- UND NATIONALRATSPRÄSIDENT MIT EINEM VORWORT VON BUNDESPRÄSIDENT DR. HEINZ FISCHER

Anton Benya (1912–2001) gilt als eine der wichtigsten und bedeutendsten Persönlichkeiten der Zweiten Republik in Österreich. Seine Biografie umfasst markante Stationen in seinem politischen Leben und deren historische Bedeutung. Er stieg an die Spitze des ÖGB auf, dessen Präsident er von 1963 bis 1987 war. Durch sein Verhandlungsgeschick hatte er entscheidenden Anteil am Zustandekommen der Sozialpartnerschaft. Wesentlichen Einfluss übte er auf die Regierungspolitik Bruno Kreiskys aus. Als der am längsten dienende Erste Nationalratspräsident Österreichs von 1971 bis 1986 war er eine der Symbolfiguren der österreichischen Sozialdemokratie. In diesem zeithistorischen Portrait wird die Person Anton Benyas vor dem Hintergrund der Entwicklungslinien der Zweiten Republik reflektiert. Die Biografie basiert auf bisher unveröffentlichten Quellen aus Benyas Privatbesitz. 2011. 328 S. 26 S/W-ABB. GB. MIT SU. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-78748-8

„Wer über das Innenleben der Sozialpartnerschaft lesen will, muss zu diesem Werk greifen.“ Falter böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

ERNST HANISCH

DER GROSSE ILLUSIONIST OTTO BAUER (1881–1938)

Otto Bauers Traum vom Sozialismus ist zerplatzt, aber die Frage nach einer gerechteren Gesellschaft ist aktueller denn je. Was können wir heute aus seiner Biografie lernen? Er verband höchste Intelligenz, eine scharfe Analysefähigkeit auf vielen Gebieten mit der Hoffnung auf eine bessere Zukunft der Menschheit. Er war kein Zyniker der Macht, sondern ein bescheidener, eher schüchterner Mensch. In kritischen Situationen hatte er Scheu vor der Macht. Als brillanter Rhetoriker und Theoretiker aber prägte der führende Sozialdemokrat die Geschichte der österreichischen Ersten Republik maßgeblich. Licht- und Schattenseiten dieses Politikers und Menschen werden siebzig Jahre nach seinem Tod erstmals umfassend analysiert und kritisch bewertet. 2011. 478 S. GB. M. SU. 26 S/W-ABB. 155 X 235 MM. | ISBN 978-3-205-78601-6

„Die Biographie [wird] zukünftig das Standardwerk über Otto Bauer, den politischen Theoretiker, Visionär, Parteiführer und zeitweiligen Außenminister der Republik Deutschösterreich sein.“ Das Historisch-Politische Buch

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

PETER BROUCEK (HG.)

EIN ÖSTERREICHISCHER GENERAL GEGEN HITLER FELDMARSCHALLEUTNANT ALFRED JANSA ERINNERUNGEN

Alfred Jansa schildert sein Leben als Generalstabsoffi zier bei österreichischen, deutschen und bulgarischen Armeekommanden im Ersten Weltkrieg und im Bundesheer der Republik Österreich, sowie als Militärdiplomat in Berlin, schließlich als militärischer Mitarbeiter (Chef des Generalstabes der Bewaffneten Macht) des österreichischen Bundeskanzlers Kurt Schuschnigg. 2011. 830, XVI S. ZAHLR. FARB- UND S/W-ABB. GB. MIT SU. 170 X 240 MM. ISBN 978-3-205-78148-6

„Dieses fesselnde, wissenschaftlich durch den Herausgeber abgerundete Buch kann zur Lektüre auch jenen empfohlen werden, die zu Darstellungen aus der Zeit des ausgehenden 19. und anbrechenden 20. Jahrhunderts üblicherweise keine Beziehung finden.“ Österreichische Militärische Zeitschrift

„Ein gewichtiges Buch mit aussergewöhnlichem Hintergrund.“ Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, a-1010 wien, t: + 43 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

Rudolf von StR aSSeR

lebenSkReiSe WideRStand und WiedeR aufbau Redak tionelle betReuung: Cl audia lehneR-JobSt

Rudolf von Strasser, Jahrgang 1919, blickt auf ein Leben zurück, das der persönlichen Freiheit, aber auch der Österreichs gewidmet war. Auf Schloss Majorháza in der Slowakei war der Autor in seiner Jugend von Kunst und einem ausgeprägten Sinn für Verantwortung umgeben. Daraus resultierte sein Interesse für Geschichte und Politik, aber auch die Selbstverständlichkeit seines Widerstandes gegen die Nationalsozialisten als Mitglied der Österreichischen Freiheitsbewegung um Karl Roman Scholz. Rudolf von Strasser schildert die Jahre seiner Haft ebenso wie die Zeit als Leiter der Presseabteilung der Bundeshandelskammer an der Seite von Julius Raab, an der Außenhandelsstelle in New York sowie als Investmentbanker in New York. Die Lebenskreise führen schließlich zurück nach Wien, wo auch seine bedeutende Glassammlung ihren gebührenden Platz fand. 2011. 208 S. 40 S/w- und 14 farb. abb. Gb. mit Su. 155 x 235 mm. iSbn 978-3-205-78742-6

böhlau verlag, wiesingerstrasse 1, 1010 wien. t : + 43 (0) 1 330 24 27-0 [email protected], www.boehlau-verlag.com | wien köln weimar

stammtafel johannes e. schwarzenbergs

JOHANN ADOLPH (I.) 1. Fst. 1670 * 20.IX.1615, † 26.V.1683 ∞ 15.III.1644 Maria Justina Grfin. v. Starhemberg * 1608, † 31.I.1681

und seiner Kinder, Enkel und Urenkel

FERDINAND ‘Pestfürst’ 2. Fst. 1683, 20.VII.1698 gefürsteter Graf im Klettgau * 23.V.1652, † 22.X.1703 ∞ 22.V.1674 Maria Anna Grfin.v. Sulz * 24.X.1653, † 18.VII.1698

Frauenberger Linie

Stand Juni 2013

ADAM FRANZ 3. Fst. 1703 * 25.IX.1680, † 11.VI.1732 (von Kaiser Karl VI auf der Jagd erschossen) ∞ 16.XII.1701 Eleonora Przin. v. Lobkowitz * 20.VI.1682, † 5.V.1741

JOSEPH (I.)

Eine gesamte Stammtafel der Primo- und Sekundogenitur findet sich am hinteren inneren Bucheinschlag

4.Fst. 1732 * 15.XII.1712, † 17.II.1782 ∞ 22.VIII.1741 Maria Theresia Przin. v. u. z. Liechtenstein * 28.XII.1721, † 19.I.1753

JOHANN (I.) NEPOMUK

5. Fürst zu Schwarzenberg, Herzog von Krumau, gefürsteter Landgraf im Klettgau, Graf von Sulz * 3.VII.1742, † 5.XI.1789;

Worliker Linie

∞ 14.VII.1768 Maria Eleonore Gräfin zu Oettingen-Wallerstein, * 22.V.1747, † 25.XII.1797

JOSEPH (II.) JOHANN

Johann

KARL (I.) PHILIPP

Anton

Franz

Ernst

Friedrich

Caroline

Eleonore

Therese

1. Majorat, 6. Fst. 1798 * 27.VI.1769, † 19.XII.1833 ∞ 25.V.1794 Pauline Przin. u. Hzgin. d’ Arenberg * 2.IX.1774, † 1.VII.1810

* 25.V.1770, † 13.VII.1779

2. Majorat, 1. Fst. 1804 * 15.IV.1771, † 15.X.1820 Feldmarschall ∞ 28.I.1799 Maria Anna verw. Fstin (Paul Anton † 1794) Esterházy v. Galantha, geb. Gfin. v. Hohenfeld * 20.V.1767, † 2.IV.1848

* 3.V.1772, † 11.V.1775

* 29.V.1773, † 13.II.1789

* 29.V.1773, † 14.III.1821 Bischof v. Raab (Györ)

* 24.VIII.1774, † 18.XI.1794

* 7.IX.1775, † 24.I.1816 ∞ 2.VIII.1792 Josef Fst. v. Lobkowitz †1816

* 28.I.1777, † 25.IX.1782

* 14.X.1780, † 9.XI.1870 * 23.I.1782, † 12.VIII.1783 ∞ 25.V.1801 Friedrich Ldgf. v. Fürstenberg †1856

Friedrich ‘Landsknecht’

KARL (II.)

Edmund

* 30.IX.1799, † 6.III.1870 Schriftsteller, Generalmajor

Fst. 1820 * 21.II.1802, † 25.VI.1858 ∞ 26.VII.1823 Josephine Gfin. Wratislaw-Mitrowicz * 16.IV.1802, † 17.IV.1881

* 18.XI.1803, † 17.XI.1873 Feldmarschall

Johann

Gabriele

Anna

Fst. 1870 * 5.VII.1824, † 29.III.1904 ∞ 5.III.1853 Wilhelmine Przin z. Oettingen-Wallerstein * 30.XII.1833, † 18.XII.1910

* 23.XII.1825, † 26.XI.1843

* 20.II.1830, † 11.II.1849 ∞ 14.V.1848 Ernst Gf. v. Waldstein † 1904

Anna

Gabriele

KARL (IV.)

Ida

Friedrich ‘Fido’

Maria

* 1.V.1854, † 24.XII.1898 ∞ 18.V.1874 Franz Gf. (seit 1911 Fst.) v. Thun-Hohenstein Statthalter von Böhmen † 1916

* 9.X.1856, † 4.XII.1934 ∞ 23.V.1882 Franz Gf. v. Silva-Tarouca † 1936

Fst. 1904 * 1.VII.1859, † 4.X.1913 ∞ I. 20.V.1885 Maria Gfin. Kinsky * 18.X.1866, † 11.V.1889 ∞ II. 24.XI.1891 Ida Gfin. Hoyos * 31.VIII.1870, † 21.I.1946

* 8.IV.1861, † 2.II.1922 ∞ 2.IX.1886 Johann Gf. Lazansky ˇ † 1932

* 30.X.1862, † 2.X.1936 ∞ 2.VII.1890 Maria Christine Gfin. v. Schönborn * 11.VI.1872, † 14.IX.1918

* 2.X.1869, † 20.III.1931 ∞ 23.I.1895 Ferdinand Erbgf .v. Trauttmansdorff * 13.I.1871, † 18.IX.1915

I. KARL (V.)

II. Ernst

Marie-Wilhelmine

Joseph

Eleonore ‘Loka’

Johannes (Verfasser)

Fst. 1913 * 26.II.1886, † 6.IX.1914 ∞ 5.II.1910 Eleonore Gfin. v. Clam-Gallas * 4.XI.1887, † 31.V.1921

* 11.X.1892, † 18.XII.1979 ∞ I. 19.I.1916 Elisabeth Gfin. Széchényi * 2.VIII.1895, † 14.I.1957 ∞ II. 12.V.1973 Mathilde Gerber * 22.VII.1899, † 26.I.1999

* 8.VI.1896, † 13.XII.1945 ∞ I. 30.IV.1921 Ferdinand Gf. v. Trauttmansdorff † 1932 ∞ II. 18.II.1938 Andreas Paul Somssich de Sáard † 1963

* 18.VI.1894, † 27.VI.1894

* 15.VIII.1899, † 21.III.1984 ∞ 28.VII.1919 Johann Gf. v. Hartig † 1935

* 31.I.1903, † 26.V.1978 ∞ 1.IX.1931 Kathleen Vicomtesse de Spoelberch * 19.V.1905, † 26.V.1978

Nachkommen der Sekundogenitur siehe Stammtafel am hinteren inneren Bucheinschlag

* 11.VII.1783, † 6.XI.1846

NIL NISI RECTUM

KARL (III.) Nachkommen der Primogenitur siehe Stammtafel am hinteren inneren Bucheinschlag

Eleonore

II. Anna Maria

Karl Erkinger

Colienne

* 28.I.1933 ∞ 19.V.1956 Adolf Bucher * 19.II.1918, † 18.XI.2003

* 8.IV.1933 ∞ I. 26.VII.1962, ∞ / 29.X.1975 Elisabeth ‘Bessie’ Constantinides, * 2.XI.1943 ∞ 29.10.1988 Ernst Gf. v. Goëss, † 30.VII.1999 ∞ II. 13.VII.1977 Claudia Gfin. z. Brandis, * 10.V.1949

* 16.II.1937 ∞ 16.IX.1961 Maximilian Gf. v. Meran * 20.IV.1930

I. Johannes Nikolaus

Anna Gabriella

Alexander

II. Gaia Maria

Ida Letizia

Philipp Grf. v. Meran

Christoph Grf. v. Meran

Catharina Gfin. v. Meran

Isabel Gfin. v. Meran

* 1963

* 1964 ∞ I. 1987, ∞ / 1993 Philipp Frhr. v. Waechter * 1959 ∞ II. 1995 Adam P. Dixon * 1960

* 1971 ∞ I. 2001, ∞ / 2009 Annabel Dimitriadi * 1973 ∞ II. 2011, ∞ / 2013 Donna Elena Bonanno dei Principi di Linguaglossa * 1980

* 1978 ∞ 2000 Loïc van Cutsem * 1975

* 1980 ∞ 2006 Baudoin de Troostembergh * 1980

* 1962 ∞ 2001 Isabelle Gfin. v. Waldstein * 1972

* 1963 ∞ 1997 Marie-Charlotte Gfin.v. Henckel-Donnersmarck * 1965

* 1967 ∞ I. 1989, ∞ / 1996 Alexander Kahane * 1955 00 Georg Heinrich ‘Heini’ Baron Thyssen-Bornemisza * 1950

* 1971 ∞ 2006 Franz Strohmann * 1975

I. Anna

Felix

II. Xenia

Daria

I.Karl Philipp Anna Gabriella ‘Lila’

II. Anna Elisabetta

Gabriel

Henri

Louis

Livia

Felix

Paul

Clemens

Johannes

Anna

Camilla

I. Louis

Alice

II. Simon

Arthur

Ilona

Nelson

* 1988

* 1989

* 1996

* 1997

* 2003

* 2011

* 2005

* 2006

* 2007

* 2008

* 2010

* 2004

* 2006

* 2004

* 2006

* 2008

* 1991

* 1993

* 2001

* 2008

* 2010

* 2011

* 2005

auszug aus der stammtafel des hauses schwarzenberg

NIL NISI RECTUM

JOHANN (I.) NEPOMUK 5. Fürst zu Schwarzenberg, Herzog von Krumau, gefürsteter Landgraf im Klettgau, Graf von Sulz * 3.VII.1742, † 5.XI.1789; ∞ 14.VII.1768 Maria Eleonore Gräfin zu Oettingen-Wallerstein, * 22.V.1747, † 25.XII.1797 Frauenberger Linie

Worliker Linie

JOSEPH (II.) JOHANN 1. Majorat, 6. Fst. 1798 * 27.VI.1769 † 19.XII.1833 ∞ 25.V.1794 Pauline Przin. u. Hzgin. d’ Arenberg * 2.IX.1774 † 1.VII.1810

KARL (I.) PHILIPP

Franz

Ernst

Friedrich

Caroline

* 25.V.1770 † 13.VII.1779

2. Majorat, 1. Fst. 1804 * 3.V.1772 † 11.V.1775 * 15.IV.1771 † 15.X.1820 Feldmarschall ∞ 28.I.1799 Maria Anna verw. Fstin (Paul Anton † 1794) Esterházy v. Galantha, geb. Gfin. v. Hohenfeld * 20.V.1767, † 2.IV.1848

* 29.V.1773 † 13.II.1789

* 29.V.1773 † 14.III.1821 Bischof v. Raab (Györ)

* 24.VIII.1774 † 18.XI.1794

* 7.IX.1775 * 28.I.1777 † 24.I.1816 † 25.IX.1782 ∞ 2.VIII.1792 Josef Fst. v. Lobkowitz † 1816

Felix

Ludovika

Mathilde

Caroline

Bertha

* 3.X.1800 † 5.IV.1852 Ministerpräsident 00 Lady Jane Ellenborough, geb. Lady Digby * 3.IV.1807, † 11.VIII.1881 (Damaskus) ∞I. 1824, ∞ / 1830 Edward Law, 1. Earl Ellenborough ∞II. 1833, ∞ / 1841 Baron Karl v. Venningen ∞III. 1841, ∞ / 1853 Spyridon Gf. Theotokis ∞IV. 1854 Scheich Medjuel el Mezrab

* 8.III.1803 † 24.VII.1884 ∞ 20.X.1823 Eduard Fst. v. Schönburg-Hartenstein † 1872

* 1.IV.1808 † 3.XI.1886

* 15.I.1806 † 5.V.1875 ∞ 27.VI.1831 Ferdinand Fst. v. Bretzenheim † 1855

* 2.IX.1807 † 12.X.1883 ∞ 10.XI.1827 August Fst. v. Lobkowitz † 1842

Mathilde Selden * 12.XI.1829 † 10.VIII.1885 ∞ 1850 Anton Frh. v. Bieschin † 1898

Georg

Anton

Therese

Johann

Eleonore

* 14.X.1780 † 9.XI.1870 ∞ 25.V.1801 Friedrich Ldgf. v. Fürstenberg † 1856

* 23.I.1782 † 12.VIII.1783

* 11.VII.1783 † 6.XI.1846

Friedrich

Friedrich

KARL (II.)

Edmund

* 6.IV.1809 † 27.III.1885 1835 Fst.-Erzbischof v. Salzburg 1842 Kardinal v. Prag

* 30.IX.1799 † 6.III.1870 ‘Landsknecht’ Schriftsteller, Generalmajor

Fst. 1820 * 21.II.1802 † 25.VI.1858 ∞ 26.VII.1823 Josephine Gfin. Wratislaw-Mitrowicz * 16.IV.1802 † 17.IV.1881

* 18.XI.1803 † 17.XI.1873 Feldmarschall

Felix

KARL (III.)

Gabriele

Anna

* 1830 † 1831

Fst. 1870 * 5.VII.1824 † 29.III.1904 ∞ 5.III.1853 Wilhelmine Przin. z. Oettingen-Wallerstein * 30.XII.1833 † 18.XII.1910

* 23.XII.1825 † 26.XI.1843

* 20.II.1830 † 11.II.1849 ∞ 14.V.1848 Ernst Gf. v. Waldstein † 1904

Maria Eleonore

Maria Pauline

* 21.IX.1796 † 16.IV.1848, ermordet. ∞ 16.VI.1817 Alfred Fst. zu Windischgrätz Feldmarschall † 1862

* 20.III.1798 † 18.VI.1821 ∞ 16.VI.1817 Eduard Fst. v. Schönburg-Hartenstein † 1872

ADOLPH JOSEPH

Leopoldine

Walther

8. Fst. 1888 * 18.III.1832 † 5.X.1914 ∞ 4.VI.1857 Ida Przin v. u. z. Liechtenstein * 17.IX1839 † 4.VIII. 1921

* 2.XI.1833 † 8.II.1909 ∞ 23.VI.1851 Ernst Gf. v. Waldstein † 1904

* 23.IV.1839 † 19.IV.1841

Eleonore

JOHANN

Franziska

Alois

Maria

Felix

* 24.VI.1858 † 14.II.1938 ∞ 22.V.1883 Heinrich Gf. v. Lamberg † 1929

9. Fst. 1914 * 29.V.1860 † 1.X.1938 ∞ 27.VIII.1889 Therese Gfin. v. TrauttmansdorffWeinsberg * 9.II.1870 † 12.VIII.1945

* 21.IX.1861 † 28.XII.1951 ∞ 14.IV.1880 Nikolaus Gf. Esterhazy † 1925

* 23.VIII.1863 † 3.III.1937

* 31.III.1865 † 12.V.1943 Äbtissin von Pertlstein

* 8.VI.1867 * 27.VII.1870 † 18.XI.1946 † 20.V.1952 General ∞ 15.VI.1897 Anna Przin. z. LöwensteinWertheim-Rosenberg * 28.IX.1873 † 27.VI.1936

ADOLPH

Karl

10. Fst. 1938 * 8.VI.1892 * 18.VIII.1890 † 17.II.1919 † 27.II.1950 ∞ 29.X.1930 Hilda Przin. v. Luxemburg u. Nassau * 15.II.1897 † 8.IX.1979

JOHANN ADOLPH (II.)

Johann

7. Fst. 1833 * 22.V.1799 † 15.IX.1888 ∞ 23.V.1830 Eleonore Przin. v. u. z. Liechtenstein * 26.XII.1812 † 27.VII.1873

Ida

Josephine

Edmund

* 10.III.1894 † 4.I.1974 ∞ 4.IX.1917 Peter Gf. Revertera † 1966

* 3.X.1895 † 14.X.1965 ∞ 23.X.1919 Eugen Gf. Czernin † 1955

* 23.IX.1897 * 23.IX.1897 † 25.XII.1932 † 11I.1954 ∞ und aus dem Familienverband ausgeschieden. ‘Cernohorsky’

Anna

Maria Benedikta * 27.III.1900 † 6.III.1981 ∞ 27.XI.1929 Engelbert Prz. v. Croy † 1974

1 Tochter

Eleonore

Karl

Therese

Anna

Gabriele

KARL (IV.)

Ida

Friedrich ‘Fido’

Maria

* 9.VIII.1871 † 1.IV.1902

* 13.IV.1873 † 27.X.1946

* 1.V.1854 † 24.XII.1898 ∞ 18.V.1874 Franz Gf. (seit 1911 Fst.) v. Thun-Hohenstein Statthalter von Böhmen † 1916

* 9.X.1856 † 23.V.1882 ∞ 23.V.1882 Franz Gf. v. Silva-Tarouca † 1936

Fst. 1904 * 1.VII.1859 † 4.X.1913 ∞ I. 20.V.1885 Maria Gfin. Kinsky * 18.X.1866 † 11.V.1889 ∞ II. 24.XI.1891 Ida Gfin. Hoyos * 31.VIII.1870 † 21.I.1946

* 8.IV.1861 † 2.II.1922 ∞ 2.IX.1886 Johann Gf. Lazansky ˇ † 1932

* 30.X.1862 † 2.X.1936 ∞ 2.VII.1890 Maria Christine Gfin. v. Schönborn * 11.VI.1872 † 14.IX:1918

* 2.X.1869 † 20.III.1931 ∞ 23.I.1895 Ferdinand Erbgf. v. Trauttmansdorff * 13.I.1871 † 18.IX.1915

Therese

JOSEF

Sophie

Maria

Heinrich

Eleonore

I. KARL (V.)

II. Ernst

Joseph

Marie-Wilhelmine

Eleonore ‘Loka’

Johannes (Verfasser)

* 11.XI.1905 † 6.IV.1979 ∞ 30.IV.1929 Karl Ludwig Frh. v. Guttenberg † 1945 von der SS ermordet.

11. Fst. 1950 * 3.I.1900 † 25.X.1979

* 9.III.1901 † 16.III.1915

* 9.III.1901 † 16.III.1935

Hrz. v. Krumau * 29.I.1903 † 18.VI.1965 ∞ 30.XI.1946 Eleonore Gfin. z. Stolberg-Stolberg * 8.VIII.1920 † 27.XII.1994

* 1.IV.1904 † 15.VII.1984

Fst.1913 * 26.II.1886 † 6.IX.1914 ∞ 5.II.1910 Eleonore Gfin. v. Clam-Gallas * 4.XI.1887 † 31.V.1921

* 11.X.1892 † 18.XII.1979 ∞ I. 19.I.1916 Elisabeth Gfin. Széchényi * 2.VIII.1895 † 14.I.1957 ∞ II. 12.V.1973 Mathilde Gerber * 22.VII.1899 † 26.I.1999

* 18.VI.1894 † 27.VI.1894

* 8.VI.1896 † 13.XII.1945 ∞ I. 30.IV.1921 Ferdinand Gf. v. Trauttmansdorff † 1932 ∞ II. 18.II.1938 Andreas Paul Somssich de Sáard † 1963

* 15.VIII.1899 † 21.III.1984 ∞ 28.VII.1919 Johann Gf. v. Hartig † 1935

* 31.I.1903 † 26.V.1978 ∞ 1.IX.1931 Kathleen Vicomtesse de Spoelberch * 19.V.1905 † 26.V.1978

Elisabeth

KARL (VI.)

Franz

II. Anna Maria

Karl Erkinger

Colienne

* 1.X.1947 ∞ 31.V.1970 Rüdiger v. Pezold * 11.VII.1941

Fst. 1914 * 5.VII.1911 † 9.IV.1986 ∞ 30.VI.1934 Antonie Przin. z. Fürstenberg * 12.I.1905 † 24.XII.1988

* 24.III.1913 † 5.III.1992 ∞ 23.IV.1944 Amélie Przin. v. Lobkowicz * 25.I.1921 † 3.IV.2013

* 28.I.1933 ∞ 19.V.1956 Adolf Bucher * 19.II.1918 † 18.XI.2003

* 8.IV.1933 ∞ I. 26.VII.1962, ∞ / 29.X.1975 Elisabeth ‘Bessie’ Constantinides * 2.XI.1943, ∞ 29.10.1988 Ernst Gf. v. Goëss, † 30.VII.1999 ∞ II. 13.VII.1977 Claudia Gfin. z. Brandis * 10.V.1949

* 16.II.1937 ∞ 16.IX.1961 Maximilian Gf. v. Meran * 20.IV.1930

Ludmilla

Isabella

Johann ‘Jan’

Anna Gabriella

Alexander

II. Gaia Maria

Ida Letizia

* 25.VII.1945 ∞ 14.II.1998 Carl Barton Hess † 15.II.2011

* 22.VI.1949 ∞ 25.VII.1970 Louis v. Harnier Frh. v. Regendorf * 3.VII.1938

* 19.II.1957 ∞ 19.IX.1982 Regina Hogan * 22.X.1949

* 1964 ∞ I. 1987, ∞ / 1993 Philipp Frhr. v. Waechter * 1959 ∞ II. 1995 Adam P. Dixon * 1960

* 1971 ∞ I. 2001, ∞ / 2009 Annabel Dimitriadi * 1973 ∞ II. 2011, ∞ / 2013 Donna Elena Bonanno dei Principi di Linguaglossa * 1980

* 1978 ∞ 2000 Loïc van Cutsem * 1975

* 1980 ∞ 2006 Baudoin de Troostembergh * 1980

Alexander Holden

I. Karl Philipp * 2003

Anna Gabriella ‘Lila’

II. Anna Elisabetta

* 1984

adopt. 1940

adopt. 1960

Johannes ‘Aki’ * 1967 ∞ 2010 Diana Frfr. v. Orgovanyi-Hanstein * 1972

adopt. 1993

Marie Eleonore ‘Amia’

KARL (VII.) JOHANNES ‘Kary’

* 1.IV.1936 ∞ 26.I.1969 Leopold-Bill v. Bredow * 2.I.1933

12. Fst. 1979 * 10.XII.1937 CZ Außenminister ∞ 22.IV.1967 Therese Gfin. z. Hardegg * 17.II.1940

Anna Carolina ‘Lila’

Karl Philip

Marie-Helene

Ferdinand

* 1979, adopt. 1987 Thomas Prinzhorn ∞ 2009 Anna Gfn. v. u. z. Eltz * 1982

* 1987

* 1989

* 1968 ∞ 1997 Peter Morgan * 1963

Friedrich * 24.VIII.1940 ∞ 12.X.1984 Regula Brigitta Schlegel * 16.IV.1956

Anna Maria ‘Anina’ * 31.VII.1946 ∞ 21.XII.1979 Elmar Frh.v. Haxthausen * 20.X.1925

I. Johannes Nikolaus * 1963

* 2005

* 2011