Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum
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MOSES MENDELSSOHN

Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum Mit dem Vorwort zu Manasse ben Israels Rettung der Juden und dem Entwurf zu Jerusalem sowie einer Einleitung, Anmerkungen und Register herausgegeben von

michael albrecht

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 565

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INHALT

VII Einleitung von Michael Albrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 1. Vorgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX 2. Manasse-Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII 3. Die Entstehung von Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . XVI 4. Erster Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIX 5. Zweiter Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVI Exkurs zur Kritik der Glaubensvereinigung . . . . . . . . . 6. Zeitgenössische Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XXVIII 7. Probleme der Rezeptionsgeschichte im Judentum . . . XXXIV 8. Tendenzen der neueren Forschung . . . . . . . . . . . . . . XXXVIII XLIII Sekundärliteratur zu Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LV Zur Textgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . LXI Zur Textgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

moses mendelssohn Vorrede zu Manasse ben Israel: Rettung der Juden . . . . . Entwurf zu Jerusalem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum . . . . . Erster Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zweiter Abschnitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lesarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anmerkungen des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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EINLEITUNG

1.Vorgeschichte Immanuel Kant schrieb am 16. August 1783 einen langen Brief an Moses Mendelssohn, in dem er mitteilte, »mit welcher Bewunderung der Scharfsinnigkeit, Feinheit und Klugheit ich Ihren Jerusalem gelesen habe. Ich halte dieses Buch vor die Verkündigung einer großen, obzwar langsam bevorstehenden und fortrückenden Reform, die nicht allein Ihre Nation, sondern auch andere treffen wird. Sie haben Ihre Religion mit einem solchen Grade von Gewissensfreyheit zu vereinigen gewußt, die man ihr gar nicht zu getraut hätte und dergleichen sich keine andere rühmen kan. Sie haben zugleich die Nothwendigkeit einer unbeschränkten Gewissensfreyheit zu jeder Religion so gründlich und so hell vorgetragen, daß auch endlich die Kirche unserer Seits darauf wird denken müssen, wie sie alles, was das Gewissen belästigen und drücken kan, von der ihrigen absondere […]«1 Kants Urteil ist höchst verständnisvoll. Zugleich drückt es eine gewisse Überraschung aus. In der Tat ist Mendelssohns Deutung des Judentums (d. h. der Religion der jüdischen ›Nation‹) sehr selbständig. Darüber hinaus trat Mendelssohn mit dieser Deutung erst jetzt ans Licht der Öffentlichkeit, obwohl er schon 1769 zu einem vergleichbaren Schritt gedrängt worden war: Johann Kaspar Lavater verehrte den berühmten jüdischen Autor des Phädon (Philosophische Bibliothek Bd. 317) und forderte ihn wohlmeinend auf, zum Christentum überzutreten – oder gefälligst Gegengründe anzugeben. Natürlich dachte Mendelssohn keinen Augenblick an eine Konversion. Andererseits wollte er sich nicht in die prekäre Lage manövrieren lassen, als Bekämpfer des herrschenden Christentums aufzutreten. Trotz seines über Deutsch1

Immanuel Kant: Gesammelte Schriften. Akademie-Ausgabe. Bd. 10. Berlin u. Leipzig 21922, S. 347.

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land hinausreichenden Renommees war Mendelssohn Realist geblieben. Es gelang ihm, Lavaters Zudringlichkeit auf diplomatische Weise abzuwehren, ohne seine Gründe gegen das Christentum zu offenbaren; so blieben auch seine Gründe für das Judentum damals unveröffentlicht. Weder griff Mendelssohn das Christentum an, noch rechtfertigte er argumentativ das Judentum, zu dem er sich bekannte. Als August Friedrich Cranz ihm 1782 vorwarf: »Sie haben uns damals nicht erklärt, was Sie eigentlich unter dem Glauben Ihrer Väter verstehen« (JubA Bd. 8, S. 77), hatte er in der Sache recht. Das bedeutet keineswegs, daß Mendelssohn nicht schon damals über einen ausgearbeiteten Begriff des Judentums und über eine durchdachte Einstellung zum Christentum verfügte, auch wenn sich seine Gedanken dann weiterentwickeln sollten. Aber 1770 zog Mendelssohn es aus guten Gründen vor, seine Gegenbetrachtungen über Bonnets Palingenesie (JubA Bd. 7, S. 65–107) nicht druckfertig zu machen. Hier führte Mendelssohn aus, daß es Gottes Absicht sei, das gesamte Menschengeschlecht, genauer: den Menschen als Menschen, durch die Tugend zur Glückseligkeit gelangen zu lassen. Zu diesem Zweck habe Gott allen Menschen die Vernunft (das ›Licht der Natur‹) verliehen, und »auf vernünftige Erkenntnis« könne man »alle zur Glükseeligkeit des M. G. [menschlichen Geschlechtes] unentbehrliche Warheiten« bauen (ebd.). Es gebe viele Völker, denen keine Offenbarung zuteil geworden sei – nicht weil Gott diese Völker habe ausschließen wollen, sondern weil die Offenbarung nicht nötig sei, damit der Mensch glückselig werden könne. Wenn Gott aber den Israeliten die Gnade einer Offenbarung habe zuteil werden lassen, die aus ›besonderen Gesetzen‹ bestehe, so bedeute dies, daß alle, die »nach den mosaischen Gesetzen gebohren« seien, unverbrüchlich an diese geoffenbarten Gesetze gebunden seien. Durch die Befolgung der Gesetze begehen die Israeliten ihren spezifischen Weg zur Glückseligkeit (ebd). Dies darf nicht so verstanden werden, als gäbe es hier einen Gegensatz zwischen Vernunft und Offenbarung. An Elkan Herz schrieb Mendelssohn am 22. Juli 1771 (jiddisch und hebräisch): »Mir haben keine Grundsätze, die gegen die Vernunft oder über

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die Vernunft sein. Mir thun nischt mehr hinzu zu der natürlichen Religiohn als Gebote und Gesetze und gerade Sätze Gott sei Dank. Aber die Grundsätze und Grundlagen unserer Religion sind auf die Säulen der Vernunft gegründet.« (JubA Bd. 20/2, S. 213). Daß diese Grundsätze in den Augen der Christen sehr wohl den Vorwurf »des Deismus oder Naturalismus« rechtfertigen, kann Mendelssohn nicht beirren, zeigt sich doch gerade in ihrer Vernünftigkeit »der höhere Rang unserer wahren und göttlichen Religion« (ebd.). Nicht das Alte, sondern das Neue Testament widerspreche »den ersten Gründen der menschlichen Erkenntniß«, schrieb Mendelssohn mit der Bitte um Verschwiegenheit am 25. 01. 1770 an den Erbprinzen von BraunschweigWolfenbüttel. (JubA Bd. 7, S. 301). Beispielhaft werden hier vier christliche Glaubenslehren genannt: 1) die Trinität, 2) »die Menschwerdung einer Gottheit«, 3) »das Leiden einer Person der Gottheit«, 4) die »Befriedigung der ersten Person in der Gottheit durch das Leiden und den Tod der erniedrigten zweiten Person« (ebd. S. 300). – Dieser Rückblick zeigt, daß Jerusalem, mag es auch konstruiert wirken, sich keinem spontanen Einfall verdankt, sondern auf älteren und schon damals wohlerwogenen Überlegungen beruht. 2. Manasse-Vorrede Zwei Ereignisse waren es, die Mendelssohn veranlaßten, die Lage seiner Glaubensgenossen neu und weitaus optimistischer als früher einzuschätzen. Erstens war 1781 ein Buch erschienen, das sich auf bahnbrechende Weise für die Emanzipation der Juden einsetzte: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden von Christian Wilhelm Dohm.2 Dieses Buch, das unter tatkräftiger

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Zusammen mit dem zweiten Teil, der (ebenfalls bei Friedrich Nicolai in Berlin und Stettin) 1783 erschien, wurde das Werk 1973 (Hildesheim und New York) nachgedruckt. – Vgl. Altmann 1973, S. 449 ff., Ilsegret Dambacher: Christian Wilhelm von Dohm. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen aufgeklärten Beamtentums und seiner Reformbestrebungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts. Bern

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Beteiligung Mendelssohns entstanden war, gehört heute nicht zur Allgemeinbildung, im Unterschied zu Lessings Nathan (1779) mit seiner eindringlichen Toleranzbotschaft. Zu seiner Zeit bedeutete Dohms Buch aber insofern einen Schritt über das Drama hinaus, als es mit seiner staatsrechtlichen und staatswissenschaftlichen Argumentation die Verwaltungspraxis anvisierte und ganz pragmatische Vorschläge für die Gesetzgebung machte. Dohm betonte, daß die bürgerliche Gleichberechtigung der Juden nicht nur rechtlich geboten sei, sondern auch nützlich für den Staat. Was man den Juden vorwerfe, bestehe teils aus bloßen Vorurteilen, teils aus Feststellungen, bei denen die wahre Ursache des unleugbaren jüdischen Fehlverhaltens nicht berücksichtigt werde, nämlich die Unterdrückung. So begeistert Mendelssohn über den Nathan seines besten Freundes auch war – von der Schrift des Verwaltungsbeamten Dohm durfte er sich mehr unmittelbaren praktischen Einfluß versprechen. Zweitens erließ Kaiser Joseph II. 1781 das Toleranzdekret für die böhmischen Juden, dem weitere Toleranzpatente für die Juden der übrigen habsburgischen Länder folgten, z. B. am 2. 1. 1782 das (von Joseph von Sonnenfels bearbeitete) Patent für Wien und Niederösterreich. Zu diesem Emanzipationsprozeß wollte Mendelssohn beitragen. Er beschloß, die durch Dohms Buch angestoßene Debatte weiter im Gespräch zu halten, die Kritiken des Buches zu entkräften und Dohms Argumente zu bestärken und zu ergänzen. Zu diesem Zweck bat er Marcus Herz, Manasse ben Israels Vindiciae Judaeorum (11656) aus dem Englischen zu übersetzen. Die Rettung der Juden wurde deswegen gewählt, weil der Amsterdamer Rabbiner mit dieser Schrift antijüdische Vorurteile und Frankfurt a. M. 1974, Horst Möller: Aufklärung, Judenemanzipation und Staat. Ursprung und Wirkung von Dohms Schrift »Über die bürgerliche Verbesserung der Juden«. In: Deutsche Aufklärung und Judenemanzipation. Internationales Symposion anläßlich der 250. Geburtstage Lessings und Mendelssohns, Dezember 1979, hrsg. von Walter Grab (Jahrbuch des Instituts für Deutsche Geschichte, Beiheft 3). Tel Aviv 1980, S. 119–149, mehrere Beiträge im Themenheft zu Dohm: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 54 (2002), Heft 4, S. 289–365.

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bekämpfte. Auf dem Titel der im April 1782 erschienenen Übersetzung wurde die Verbindung zu Dohms Buch hergestellt: Als ein Anhang zu des Hrn. Kriegsraths Dohm Abhandlung: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Und Mendelssohn versah die Manasse-Übersetzung mit einer beinahe gleichstarken, flammenden Vorrede, die schon mit ihren ersten Worten klarstellt, daß es bei der ›bürgerlichen Verbesserung‹ der Juden zugleich um die Menschenrechte überhaupt geht: »Dank sei es der allgütigen Vorsehung, daß sie mich am Ende meiner Tage noch den glücklichen Zeitpunkt hat erleben lassen, in welchem die Rechte der Menschheit in ihrem wahren Umfange beherziget zu werden anfangen« (S. 3 des vorliegenden Bandes). Mendelssohn setzte sich nicht nur für die Juden ein, sondern forderte Toleranz und Menschenrechte für alle Menschen, also auch für »Heiden, Juden, Mahometaner und Anhänger der natürlichen Religion« (d. h. Deisten bzw. Leugner der Offenbarung). Die Aufklärung hat sich selbst in erster Linie als Kampf gegen Vorurteile begriffen. Mendelssohn stellt die Bekämpfung antijüdischer Vorurteile in diesen Rahmen, wenn er scharfsinnig darauf aufmerksam macht, daß das Vorurteil gegen die Juden im Laufe der Geschichte verschiedene Gestalten annahm: Warf man den Juden einst Unglauben und Hinterlist vor, so jetzt Aberglauben und Dummheit. Dieser aktuelle Vorwurf sei besonders unbillig, seien die Juden doch »von allen Künsten, Wissenschaften und andern nützlichen Gewerben und Beschäftigungen« (S. 7) ausgeschlossen: »Man bindet uns die Hände, und macht uns zum Vorwurfe, daß wir sie nicht gebrauchen« (ebd.). – Mendelssohn hält es für geboten, noch einmal die Anklage gegen den jüdischen Münzmeister des brandenburgischen Kurfürsten Joachim II., er habe seinen Herren vergiftet, ebenso ausführlich zu widerlegen wie die neuere Anschuldigung gegen die Posener Juden, sie hätten ein Christenkind ermordet. Ganz anders gelagert, und scheinbar glaubwürdiger, sind Vorwürfe, die sich auf die Bibel stützen, genauer: auf den Charakter des jüdischen Volkes, wie er sich besonders bei der Wanderung durch die Wüste gezeigt habe (z. B. als Sehnsucht nach den Fleischtöpfen Ägyptens). Derartige Beschreibungen scheinen wegen der Heiligkeit des biblischen Textes

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gleichsam zeitlos zu sein. Man muß also darauf aufmerksam machen, daß dieselben Juden noch im Altertum »zu einer ordentlichen, blühenden Nation« umgebildet wurden (S. 11). Mendelssohn verstärkt diesen historischen Blickwinkel, indem er ironisch fragt, was für eine Kultur wohl zur gleichen Zeit »in nördlichen Einöden« geherrscht habe (ebd.). Die Vorrede wendet sich dann praktischen Aspekten zu. Gibt es für die Bevölkerung eines Landes eine kritische Größe, über die hinaus eine weitere Ansiedelung schädlich wäre? Mendelssohn vertritt die Ansicht, die nach den immensen Bevölkerungsverlusten des Dreißigjährigen Krieges allgemein verbreitet war: Bevölkerungszunahme ist das wichtigste Staatsziel; eine »Überfüllung« (S. 13) kann es nicht geben. – Mit dem Vorwurf, die Juden seien nicht produktiv, sondern bloße »Verzehrer«, hätte Mendelssohn pauschal umgehen können, war den Juden doch die Produktion verboten. Statt dessen belegt er, daß dieser Begriff hier zu eng gefaßt wird. Auch der »Kaufmann, der an seinem Pulte Spekulationen macht, oder auf seinem Ruhesessel Plane entwirft« (wie Mendelssohn selbst), ist ein »Hervorbringer«, ebenso der »Kriegsmann« und der »Gelehrte«, der für »guten Rat, Unterricht, Zeitvertreib und Vergnügen« sorgt (was wiederum für Mendelssohn selbst zutrifft). Zwar sind »gewinnsüchtige Zwischenhändler« wegen ihrer Monopole und Vorrechte ein Problem, nicht aber die kleinen Handelsjuden (S. 13–17). Mit Dohm hält Mendelssohn es für richtig, den jüdischen Gemeinden (›Kolonien‹) ein gewisses Maß an zivilrechtlicher Selbstverwaltung zu belassen; allerdings macht Mendelssohn eine schwerwiegende Ausnahme: Die Rechtsprechung soll nicht von jüdischen, sondern von staatlichen Richtern (gleich welcher Konfession) ausgeübt werden. Noch wichtiger ist für Mendelssohn die Ablehnung des Bannrechts, das Dohm den jüdischen Gemeinden einräumen wollte, weil dieses Recht auch allen anderen kirchlichen Gemeinschaften zustehe. Mendelssohn entgegnet: »Jede Gesellschaft […] hat das Recht auf Ausschließung, nur keine kirchliche; denn es ist ihrem Endzwecke schnurstracks zuwider. Die Absicht derselben ist gemeinschaftliche Erbauung […]« (S. 23). Daß die »wahre, göttliche Religion«, die »lauter Geist

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und Herz« ist, sich »keine Gewalt über Meinungen und Urteile« anmaßt (S. 19 f.), ist das für Mendelssohn wichtigste Argument, aber nicht sein einziges. Zweitens kann das »Annehmen, oder Verwerfen einer Meinung« kein Recht, d. h. keine »Befugnis etwas zu tun, oder zu lassen«, begründen (S. 20). Drittens ist es auch nicht möglich, durch Verträge ein »Recht über Meinungen« (S. 22) zu erwerben, während dies bei Handlungen erlaubt ist. Diesem vollkommenen Recht (Zwangsrecht) müßte nämlich im Naturzustand ein unvollkommenes Recht vorangehen, was aber nicht der Fall ist (S. 21). Darum gilt grundsätzlich, daß weder der preußische Staat (die »mütterliche Nation«) noch die jüdischen Gemeinden befugt sind, bestimmte Meinungen zu belohnen (oder zu bestrafen) (S. 22). Mendelssohn ist sich sehr wohl bewußt, daß die Wirklichkeit noch keineswegs dieser Rechtsphilosophie entspricht. Das vierte Argument spielt eben diese Wirklichkeit gegen Dohms blauäugigen Vorschlag aus, man solle den religiösen Bann von irgendwelchen schädlichen Folgen für das bürgerliche Leben befreien. Nein; jeder Kirchenbann zieht schwerste »bürgerliche Folgen« nach sich (S. 25). Mendelssohn behandelt hier die Religionen (bzw. Kirchen) im allgemeinen. Natürlich ist dabei die Problematik des jüdischen Bannrechts mitgemeint. Von den Rabbinern erwartete Mendelssohn, »auf alle Religions- und Synagogenzucht« zu verzichten »und ihre Mitbrüder von ihrer Seite dieselbe Liebe und Duldung genießen« zu lassen, »nach welcher sie selbst bisher so sehr gezeufzt haben« (S. 27). Mendelssohn wollte Toleranz für ein tolerantes Judentum. 3. Die Entstehung von »Jerusalem« Im September 1782 erschien in Berlin ein kleines Büchlein, das den Titel trug: Das Forschen nach Licht und Recht in einem Schreiben an Herrn Moses Mendelssohn auf Veranlassung seiner merkwürdigen Vorrede zu Manasseh Ben Israel (JubA Bd. 8, S. 73–92). Der Titel forderte also Mendelssohn persönlich heraus, und zwar auf höchst verfängliche Weise. Entgegen Mendelssohns Ablehnung des Bannrechts stellte der anonyme Verfasser fest, daß

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das Bannrecht als ein »Ekstein« (ebd. S. 77) zum Judentum gehöre. Mendelssohn habe sich also innerlich vom Judentum entfernt und sei reif für den Übertritt zum Christentum: »[…] nur noch ein Schritt, so sind Sie einer der unsrigen geworden!« (ebd. S. 85). Der Verfasser knüpft an Lavaters Belehrungsversuch an (ebd. S. 76 f.) und verlangt von Mendelssohn, andernfalls solle er entweder seine Abweichung vom Judentum rechtfertigen oder die Ablehnung eines Übertritts begründen. Dieser harte Kern wird zwar in die schönsten Ausdrücke von Mendelssohn-Verehrung, von Sympathie für die »verfolgten, unterdrükten und verachteten« Juden (ebd. S. 82) und von allgemeiner Menschenliebe eingekleidet. Wenn es allerdings heißt, die freie Suche nach der Wahrheit möge dazu führen, daß es »vor dem Ende der Tage« nur noch einen Hirten und eine Herde gebe (ebd. S. 86), so verweist dieses Zitat (Joh. 10,16) unmißverständlich auf dieselbe chiliastische Hoffnung, die schon Lavater beflügelt hatte: Die ›Rückkehr‹ des Judentums ins Christentum werde den Anbruch des tausendjährigen Reiches ankündigen (Offb. 20,1–6). Wer war der Verfasser? Das Büchlein wies als Druckort zwar Berlin auf, und es enthielt eine »Nachschrift«, die in Form eines Briefes ebenfalls mit »Berlin« unterzeichnet war. (Diese Nachschrift wollte Mendelssohn in Tönen höchster Verehrung zu dem Geständnis nötigen, weder Jude noch Christ – also Deist – zu sein, und nannte [Daniel Ernst] Mörschel als ihren Verfasser.) Das Forschen identifizierte seinen Urheber dagegen durch die Angabe »Wien« und die Namensinitiale »S****«; es schien also von dem bekannten Wiener Jura-Professor und Staatsmann Joseph von Sonnenfels, dessen Vater zum Christentum übergetreten war, zu stammen. Doch dies war eine Maskierung. Um Mendelssohns Aufmerksamkeit zu erregen, hatte sich der wahre Verfasser, der vielbeschäftigte satirische Schriftsteller August Friedrich Cranz, einer für Sonnenfels typischen Mischung von aufgeklärten, christlichen und menschenfreundlichen Gedanken bedient. Mendelssohn hatte nicht den geringsten Zweifel, daß es Sonnenfels war, dem er antwortete. Noch vor dem Erscheinen von Jerusalem erfuhr er allerdings, daß es sich um Cranz handelte (JubA Bd. 8, S. XXIX).

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Ein handschriftlicher Entwurf Mendelssohns (S. 29 f.) zeigt den ursprünglich geplanten Aufriß von Jerusalem. Danach sollte das Buch aus drei Teilen bestehen, die insgesamt die Thesen der Manasse-Vorrede vertiefend begründen sollten: 1) »Wahre Grenze« zwischen »Kirche u. Staat«: Nur er hat das »Zwangsrecht«. 2) Freiheit der Meinungen, weil sie nicht dem Zwangsrecht unterworfen sind. 3) Abwehr der im Forschen an Mendelssohn ergangenen »Aufforderung, die christliche Religion der Freyheit anzunehmen, oder zu widerlegen.« In diesem Teil sollte das Christentum als »ein Joch in Geist u. Wahrheit« (die Worte sind eine Replik auf Cranz, s. JubA Bd. 8, S. 81) entlarvt werden. Mendelssohn hätte hier seine früheren unveröffentlichten Überlegungen wieder aufgreifen können. Dieser geplante dritte Teil wurde aber nicht ausgeführt, so daß eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem Christentum wiederum unterblieb. Aus den geplanten ersten beiden Teilen entstand der erste Abschnitt von Jerusalem, dessen zweiter Abschnitt, d. h. die Darstellung des Judentums, im Entwurf noch nicht vorgesehen war. Durch diese Rechtfertigung des Judentums wurde die Bekehrungsfrage über die persönliche Ebene hinaufgehoben. Jerusalem konnte im April 1783 erscheinen. Der Titel Jerusalem erinnert an die heilige Stadt des zerstörten Tempels, dessen Erneuerung die Hoffnung auf die Wiederherstellung Israels symbolisiert: »Nächstes Jahr in Jerusalem«, heißt es beim PessachFest, und beim Beten wenden sich die Juden in die Richtung nach Jerusalem. Der Titel des Buches ist also ein geradliniges Bekenntnis zum Judentum (und zugleich wiederum eine Replik auf Cranz, s. JubA Bd. 8, S. 81). Zwar ist Jerusalem auf deutsch verfaßt und wendet sich damit vorrangig an ein deutsches Lesepublikum, während die meisten jüdischen Gebildeten nur die hebräische Schrift lesen konnten – darum z. B. Mendelssohns deutsche Bibelübersetzung in hebräischer Schrift (JubA Bd. 15–18). Im zweiten Abschnitt werden die christlichen »Brüder und Mitmenschen« (S. 137) mehrfach direkt angesprochen. Gleichwohl war sich Mendelssohn darüber im klaren, daß auch jüdische Leser Jerusalem (wie auch schon die deutsche Manasse-Vorrede) rezipieren würden; am 14. Juni 1783 schrieb er an Herz Homberg: »Jerusalem […] ist

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von einer Beschaffenheit, wie es weder Orthodoxe noch Heterodoxe beyder Nationen erwartet haben« (JubA Bd. 13, S. 112 f.).

4. Erster Abschnitt Während der Entwurf mit den Worten »Kirche u. Staat« beginnt, lautet der Anfang von Jerusalem: »Staat und Religion«, doch auch hier geht es zugleich um das Verhältnis zwischen Staat und Kirche, weil Mendelssohn »den Begriff der Kirche restlos aus dem der Religion verstehen« will (JubA Bd. 8, S. 278 zu 103, 1). Mendelssohn stellt sich die Aufgabe, der Freiheit des Gewissens gegenüber diesen beiden gesellschaftlichen Mächten zu ihrem Recht zu verhelfen. Einleitend werden Hobbes und Locke kritisiert. Hobbes lasse diese Freiheit nur in Gestalt der inneren Religion zu (im Unterschied zum äußeren Gottesdienst, der für Hobbes eine Angelegenheit des Staates sei). Bei Locke gebe es für die Gewissensfreiheit erheblich mehr Raum, allerdings auf Kosten einer Beschränkung des Staates auf die Sorge für das zeitliche Glück seiner Bürger. Doch wie könne man dann durchsetzen, daß der Verwalter des ewigen Glücks, also die Kirche, nicht auch auf das zeitliche Glück durchgreift? Für Mendelssohn ist schon die strenge Unterscheidung zwischen diesen beiden Arten des menschlichen Glücks wirklichkeitsfremd und der Sache nicht angemessen. Die sich anschließende Staatstheorie (S. 40–58) empfiehlt einen Erziehungsstaat, der gemeinnützige Handlungen seiner Bürger am besten dadurch bewirkt, daß deren »Gesinnung« von sich aus zu solchen Handlungen führt. Der Staat soll dies durch Erkenntnis, Vernunftgründe und Überzeugung erreichen, wobei er von der Kirche wirksam unterstützt werden kann. Doch während die Kirche sich dabei auf die Beeinflussung der Gesinnungen beschränken muß, weil religiöse Handlungen ohne zugrundeliegende religiöse Gedanken ein »leeres Puppenspiel« wären, darf der Staat, falls nötig (z. B. im Rechtswesen oder im Kriegsfall), bestimmte Handlungen erzwingen, auch wenn es sich dann um »tote[n] Handlungen« handelt, die nicht auf Einsicht beruhen (S. 44).

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Worauf gründet sich dieses Recht des Staates, d. h. was ist der »Ursprung der Zwangsrechte«? Diese Frage wird mit der Begründung der »Verträge unter den Menschen« verbunden, weil sich der Staat dem Heraustreten des Menschen aus dem Naturzustand verdankt, und hierfür liefert – wie seit Hobbes verbreitet – die Vertragstheorie das Modell. Dabei geht es nicht um eine historische Spekulation, denn für Mendelssohn ist der Naturzustand bloß fiktiv. Mit seiner Hilfe läßt sich aber die rechtliche Gültigkeit der Verträge begründen, einschließlich des Staats- bzw. Gesellschaftsvertrages. Mendelssohn stützt sich dabei auf eine anthropologische Grundüberzeugung: Ohne »Wohltun« – sowohl das selbst ausgeübte als auch das mir erwiesene – kann der Mensch nicht glücklich werden. Aus dem natürlichen Wohlwollen fließt eine (unvollkommene) Gewissenspflicht, die aber durch Vertrag eine (vollkommene) Zwangspflicht werden kann. Mendelssohn betont, daß schon im Naturzustand nicht nur die Unterlassungspflichten ›vollkommen‹ sind (so daß die sich daraus ergebenden Rechte erzwungen werden können), sondern daß auch gültige Verträge geschlossen werden können, z. B. die Ehe oder die Eigentumsübertragung. Der Staatsvertrag folgt kontinuierlich auf derartige gesellschaftliche Verträge kleineren Formats, d. h. schon im Naturzustand werden Schritte zu dessen Überwindung vollzogen. Der Naturzustand wird schon dann verlassen, wenn ein vollkommenes und ein unvollkommenes Recht durch einen Vertrag die Plätze tauschen: Wer im Naturzustand das vollkommene Recht auf ein Gut hatte, kann dieses Gut einem anderen vertraglich zusagen; der Empfänger, der vorher nur »verlangen« konnte, kommt dadurch in den Genuß eines vollkommenen Rechtes, d. h. eines Zwangsrechtes. Darum lautet die Kernthese der Vertragstheorie: Ohne vorangehende unvollkommene Rechte (und Pflichten) kann es keine vollkommenen, keine Zwangsrechte und -pflichten geben (vgl. S. 21 u. 84). Dieser Gedanke wird nun auf das Verhältnis zwischen den Kirchen und den Menschen angewendet (S. 58–71). Dabei zeigt sich, daß die eigentliche Pointe der Vertragstheorie in der Nicht-Anwendbarkeit des Vertragsmodells auf die Gewissensfreiheit liegt. Denn die Kirche beruht auf dem Verhältnis zwischen Gott und

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Menschen; einem Verhältnis, das nicht als wechselseitiger Vertrag gedacht werden darf. Selbst unvollkommene Rechte kommen hier von vornherein nicht in Betracht. Der Kirche stehen also keinerlei Zwangsrechte zu. Ferner folgt daraus, daß die Kirche kein Recht auf Eigentum hat und daß die Prediger bzw. Lehrer der Religion keinen Anspruch auf Besoldung haben; sie würde darüber hinaus diese »erhabene Beschäftigung« erniedrigen. – Der Staat verdankt sich zwar dem Gesellschaftsvertrag, und ihm steht das Recht zu, bestimmte Handlungen zu erzwingen. Hier kann es jedoch wiederum nur um solche Pflichten gehen, die schon im Naturzustand in unvollkommener Form vorhanden waren. Ein Zwangsrecht über Gesinnungen kann dabei nicht entstehen, weil man auch bei größtem Entgegenkommen Gesinnungen grundsätzlich nicht an andere abtreten kann. Einen Vertrag über Gesinnungen kann es nicht geben. »Das Recht auf unsere eigene Gesinnungen ist unveräußerlich« (S. 62). Das bedeutet freilich nicht, daß dem Staat die Ansichten seiner Bürger völlig gleichgültig sein müßten. Wegen der Zuständigkeit des Staates für das Glück seiner Bürger muß er bei aller Toleranz doch die Anerkennung jener ›Hauptgrundsätze‹ »begünstigen«, »in welchen alle Religionen übereinkommen, und ohne welche die Glückseligkeit ein Traum, und die Tugend selbst keine Tugend mehr ist. Ohne Gott und Vorsehung und künftiges Leben ist Menschenliebe eine angeborne Schwachheit […]« (S. 64 f.). Der Staat darf also keine bestimmte Religion bevorzugen, sondern nur die allen Religionen innewohnende natürliche bzw. vernünftige Religion, die sich dadurch auszeichnet, daß sie die Moral aufrecht erhält und befördert. Doch selbst auf diese »Grundartikel aller Religionen« darf kein Lehrer oder Priester vereidigt werden, denn wiederum fehlen hier alle »Bedingnisse des Vertrags«. Wozu der religiöse Eid führt, wird durch eine Polemik gegen die gängige Praxis (von Christen) erläutert. Mendelssohn stellt fest, daß die englischen Bischöfe »jene 39 Artikel, die sie beschworen, nicht mehr so unbedingt annehmen, als sie ihnen vorgelegt worden.« Der von Christen so gern gegenüber den Juden erhobene Vorwurf, es mit Eiden nicht so genau zu nehmen, sei also zu relativieren (S. 69 f.). Die Zusammenfassung (S. 71 ff.) betont noch einmal die Forderung der Toleranz: »Weder Kirche noch Staat haben also ein

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Recht die Grundsätze und Gesinnungen der Menschen irgend einem Zwange zu unterwerfen. Weder Kirche noch Staat sind berechtiget, mit Grundsätzen und Gesinnungen Vorzüge, Rechte und Ansprüche auf Personen und Dinge zu verbinden.« Ferner wird erneut hervorgehoben, daß »Bann und Verweisungsrecht, das sich der Staat zuweilen erlauben darf, […] dem Geiste der Religion schnurstracks zuwider« sind (S. 74). Einen »Dissidenten« aus der Kirche zu verweisen, würde bedeuten, »einem Kranken die Apotheke verbieten«. Zwar mag der Dissident sich für gesund halten, doch die Kirche muß sich bemühen, ihn seinen tatsächlichen Mangel empfinden zu lassen, indem sie gerade den Dissidenten an der ›gemeinschaftlichen Erbauung‹ weiter teilnehmen läßt (S. 76). – Zuvor greift Mendelssohn auf den Gedanken der natürlichen Religion zurück und preist diese gemeinsame Grundlage aller Religionen, als handele es sich um eine historisch greifbare Konfession: »Tochter der Gottheit! Religion! die du in Wahrheit allein die seligmachende bist, auf der Erde, so wie im Himmel.« Im Kontext der Diskussion des Kirchenbannes erweist sich diese Religion als eine Religion der Liebe. Cranz hatte das Judentum dadurch beschrieben, daß es »mit der eisernen Ruthe« geweidet werde (JubA Bd. 8, S. 78). Mendelssohn bezieht sich darauf, wenn er an der Naturreligion, d. h. dem vernünftigen Kern sowohl des Christentums als auch des Judentums, das Gegenteil rühmt: »sie treibet nicht mit eisernem Stabe; sondern leitet am Seile der Liebe« (S. 74). 5. Zweiter Abschnitt Mendelssohn beginnt mit einer Erinnerung an seine ManasseVorrede, deren Thesen zum Kirchenbann er nun ausführlicher begründet habe. Der Staat, in dem er lebt, und sein Regent, also Preußen und Friedrich II., werden deswegen gelobt, weil diese Thesen hier weder neu noch auffallend seien, im Gegenteil: Dank der Regierung »dieses Weisen« haben »Zwang, Bann und Ausschließungsrecht« aufgehört, »populäre Begriffe« zu sein. In Ergänzung der Manasse-Vorrede wird Isaak Iselin dafür gerühmt, daß er (neben den in der Vorrede erwähnten Reimarus, Lessing

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und Dohm) zu denjenigen Autoren gehörte, »die in Deutschland zuerst die Grundsätze der uneingeschränkten Toleranz auszubreiten suchten.« – Eine kritische Rezension der Manasse-Vorrede wird zurückgewiesen (S. 81–83) und das Resultat des ersten Abschnitts wird noch einmal zusammengefaßt, bevor Mendelssohn auf das Forschen nach Licht und Recht eingeht und auf dessen Vorwurf, Mendelssohn habe sich vom Judentum insofern verabschiedet, als er das mit dem Bann bewaffnete Kirchenrecht, das doch ein Grundstein der mosaischen Religion sei, leugne. Daß diese Auffassung auch »von vielen meiner Religionsbrüder« geteilt werde, trägt sicher dazu bei, daß Mendelssohn ausruft: »Dieser Einwurf dringet an das Herz« (S. 86). Dennoch wird das Thema des jüdischen Strafrechts zunächst liegengelassen; nur die Aufforderung, zu konvertieren, wird abgefertigt. Statt dessen wendet sich Mendelssohn dem Nachwort Mörschels zu, der ihm »allzutief ins Spiel gesehen« habe, nämlich mit der Feststellung, Mendelssohns Religion der Vernunft sei weder die jüdische noch die christliche Religion. Die freimütige Erwiderung lautet: »Es ist wahr: ich erkenne keine andere ewige Wahrheiten, als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch menschliche Kräfte dargetan und bewährt werden können« (S. 90). Und weiter geht es Schlag auf Schlag: Statt damit (wie Mörschel meinte) vom Judentum abzuweichen, stellten die Vernunftwahrheiten vielmehr »einen wesentlichen Punkt der jü-dischen Religion« dar, die sich dadurch zu ihrem Vorteil vom Christentum unterscheidet, das ja eine geoffenbarte Religion ist bzw. zu sein behauptet. Derlei Heilswahrheiten im Sinne übervernünftiger Mysterien kennt das Judentum nicht; es beruht nicht auf »Religionsoffenbarung«, sondern auf göttlicher »Gesetzgebung«. Dies ist deswegen gut und richtig, weil Gott die Vernunftwahrheiten allen Menschen »durch Natur und Sache« offenbart, nie »durch Wort und Schriftzeichen«, also nie durch eine Offenbarung im engeren Sinn. Folglich kann diese nicht irgendwelche Heilswahrheiten betreffen, und dementsprechend hat Gott (durch Moses auf dem Sinai) den Juden keine derartigen Wahrheiten, sondern »Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben,

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um zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen«, geoffenbart (ebd.). Die Begründungen für diese kompakte Reihe von Thesen beginnen mit der auf Leibniz zurückgehenden Unterscheidung zwischen verschiedenen Wahrheitsarten. Denn neben den ewigen Wahrheiten (die wiederum in notwendige und in zufällige ewige Wahrheiten zerfallen) gibt es »Zeitliche, Geschichtswahrheiten«, die geglaubt werden, und zwar dann, wenn sie sich auf genügend Autorität stützen können. Ohne Worte und Schrift ist eine Übermittlung und Überlieferung von Geschichtswahrheiten undenkbar. (Natürlich ist dabei an die geschichtlichen Erzählungen des Alten Testamentes zu denken.) Die Offenbarung der Gesetze auf dem Berg Sinai wird hier noch nicht thematisiert; sie steht für Mendelssohn auf einem anderen Blatt. Wichtig ist für ihn zunächst die Kritik an der Idee einer geoffenbarten Religion. Die These, daß alle Menschen die Glückseligkeit erlangen können, d. h. auch ohne eine derartige Offenbarung, schreibt Mendelssohn dem ›wahren Judentum‹ zu.3 Zwar können die Menschen nicht ohne den Glauben an den wahren Gott glücklich werden, doch dies ist »allgemeine Menschenreligion« und kann eigentlich gar nicht geoffenbart werden. Darum lautet das mosaische Gesetz denn auch nirgendwo: »Du sollst glauben! oder nicht glauben«, sondern: »du sollst tun, oder nicht tun!« Die Offenbarung auf dem Sinai setzte historisch und sachlich die Kenntnis der Vernunftwahrheiten voraus, beginnend mit der Kenntnis des Daseins Gottes, das darum auch nicht Inhalt der Sinai-Offenbarung ist. Deren Gesetzgebung, die sich auf »Geschichtswahrheit« gründet, verleiht allerdings den Vernunftwahrheiten, mit denen sie »innigst verbunden« ist, gleichsam einen »Körper« (S. 100).

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Wenn Mendelssohn sich in diesem Zusammenhang gegen Lessings Idee der Erziehung des Menschengeschlechts wendet (S. 96–98), so scheint dies eine (geschichtsphilosophisch bedeutsame) Abschweifung zu sein. Als Apologie des Judentums gelesen, besagt sie aber, daß das Judentum nicht als Stufe im Entwicklungsprozeß der einen Religion verstanden werden darf, sondern eine Religion sui generis darstellt. Zur Lessing-Kritik vgl. JubA Bd. 13, S. 65, sowie Tomasoni 1998.

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Bevor dies weiter ausgeführt wird, vertieft Mendelssohn, gestützt auf Bibelzitate und auf rabbinische Autoritäten, seine Interpretation des Judentums, das keine »Glaubensartikel« befiehlt. Die »Quintessenz« des jüdischen Gesetzes lautet: »liebe deinen Nächsten wie dich selbst« (S. 103). – Mit dem »Zeremonialgesetz« (der Begriff taucht S. 103 zum ersten Mal auf) und den Geschichtswahrheiten ist, wohlgemerkt, das Wesen des Judentums nicht erschöpft, beruht es doch auf der Erkenntnis der ewigen Wahrheiten. Diesbezüglich gilt: Je weniger »Fundamentalbegriffe«, »desto fester stehet das Gebäude« (S. 102). (Vgl. die im ersten Teil [S. 64] erwähnten ›Hauptgrundsätze‹.) Hier tut sich jedoch eine Schwierigkeit auf: die im Laufe der Geschichte ständig zunehmende Bindung der Erkenntnis an das geschriebene bzw. gedruckte Wort. Die Druckkunst »hat den Menschen ganz umgeschaffen« (S. 104): »wir sind litterati, Buchstabenmenschen« (S. 105). Wegen der Bedeutung dieser Entwicklung für die menschliche Erkenntnis im allgemeinen wie auch für die »Meinungen und Begriffe in Religionssachen« erlaubt sich Mendelssohn eine »Abschweifung« (S. 105–119), die der Theorie und Geschichte der Zeichen und der Schrift gewidmet ist. Diese Geschichte ist janusköpfig: Schriftzeichen konnten durchaus der Beförderung der Kenntnisse dienen – z. B. sowohl in der Astronomie als auch in der (natürlichen) Religion (S. 111). Andererseits konnten die Zeichen »für die Dinge selbst« (S. 112) gehalten und damit zu einer Quelle des Götzendienstes werden. Genauer: Die Bilderschrift (Hieroglyphen) wurde nicht mehr als Zeichen verstanden, sondern als Abbild einer geheimnisvollen Realität. Insbesondere die verschiedenen Tiere, die seit jeher zur Bezeichnung der verschiedenen menschlichen Eigenschaften dienten, wurden als Götzen verehrt. Die Neigung zum Aberglauben war sogar stark genug, den Versuch des Pythagoras scheitern zu lassen, der die Verführung, die in den bildlichen Zeichen liegt, dadurch entmachten wollte, daß er das Wissen an die Zahlzeichen band – denn wiederum ging der Zeichencharakter der Zahlen verloren, und sie wurden mit abergläubisch-mystischen Bedeutungen aufgeladen.

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Jedenfalls läßt sich die »Bestimmung« des Zeremonialgesetzes nur vor dem Hintergrund eines fast weltweit verbreiteten jahrhundertelangen Götzendienstes ganz verstehen. Die Kernaufgabe des Judentums ist die Bewahrung des Monotheismus. Die Stammväter der Juden blieben dem »Ewigen« (Mendelssohns Wiedergabe des Gottesnamens) treu, und darum offenbarte er dieser »Nation« das Zeremonialgesetz. Es schreibt zwar »bloß Handlungen« vor, doch alle diese Handlungen haben ihren »gediegenen Sinn« darin, daß sie »mit der spekulativen Erkenntnis der Religion und der Sittenlehre in genauer Verbindung« stehen (S. 119 f). Das selbständige Nachdenken über die vorgeschriebenen Handlungen führt zur Erkenntnis der vernünftigen Religion – dies ist der Sinn der Gesetzgebung am Sinai. Die Gesetze sind keineswegs eine conditio sine qua non der Vernunfterkenntnis; sie ebnen dieser aber den Weg, der ja immer durch menschliche Schwächen verstellt zu werden droht. Die Gesetze (bzw. die Handlungen, mit denen sie ausgeführt werden) stellten also eine Alternative zu den gefährlichen Zeichen – auch denen des Alphabets, die den Menschen dem Leben und dem Mitmenschen entfremden – dar: »Das Zeremonialgesetz selbst ist eine lebendige […] Art von Schrift« (S. 103). Zwar darf diese Alternative nicht ganz eng verstanden werden, sind doch auch die Gesetze geschriebene Zeichen. Doch »waren der geschriebenen Gesetze nur wenig«, und Mendelssohn betont die Funktion der mündlichen Überlieferung, deren Ursprung gleichfalls die Sinai-Offenbarung ist und die der Auslegung und Ergänzung der schriftlichen Gesetze diente. Wenn nun die jüdische ›Nation‹ schon am Sinai in den »Wahn der Ägyptier« zurückfiel (und das goldene Kalb anbetete), so bedeutet das nicht, daß Gott den falschen Adressaten gewählt hätte. Gott nahm vielmehr die Gelegenheit, ein Vergehen bestrafen zu sollen, wahr, um statt einer bloßen Strafgerechtigkeit seine Barmherzigkeit an den Tag zu legen und einzuprägen; um eine Religion der Liebe zu stiften. Mit mehreren Bibelzitaten unterstreicht Mendelssohn diesen Gedankengang, der auch die Ewigkeit der Höllenstrafen ausschließt. Andererseits kann diese göttliche Barmherzigkeit nicht darin bestehen, jemand anderen stellvertretend die

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Strafe, die ich verdient habe, erleiden zu lassen – eine unmißverständliche Kritik Mendelssohns am Christentum (S.121–127). Zusammenfassend wird noch einmal festgestellt, daß das Judentum aus drei Teilen besteht: 1) den »Religionslehren […] oder ewigen Wahrheiten«. Sie werden nicht geoffenbaret, d. h. nicht durch »Wort und Schrift« zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort bekanntgemacht, sondern »zur vernünftigen Erkenntnis empfohlen«, d. h. Gott »hat sie allen vernünftigen Geschöpfen durch Sache und Begriff geoffenbaret, mit einer Schrift in die Seele geschrieben, die zu allen Zeiten und an allen Orten leserlich und verständlich ist.« 2) Geschichtswahrheiten, die geglaubt werden, weil sie sich auf Autorität (auch auf Wunder) stützen. 3) Gesetze, die durch »Worte und Schrift« geoffenbart wurden. Sie dienen sowohl der »Nationalglückseligkeit«, d. h. dem Glück der jüdischen Nation, als auch der (zeitlichen und ewigen) »persönlichen Glückseligkeit« des einzelnen Juden. Dazu gehört, daß sie »als Zeremonialgesetze« den forschenden Verstand teils auf ewige, teils auf historische göttliche Wahrheiten leiten (S. 128–130). Es folgt ein Rückblick auf die historische Entwicklung des Judentums, denn dessen gottgewollte Dreigliederung war nur in der »ursprünglichen Verfassung«, als »Staat und Religion […] nicht vereiniget, sondern eins« waren, voll in Kraft. Gott war zugleich der König der jüdischen Nation; »jeder Bürgerdienst ward zugleich ein wahrer Gottesdienst.« Dennoch gab es schon damals keinen jüdischen Kirchenbann, wie es keine »Kirchenmacht« gab. Bestraft wurde nicht der Unglaube und Irrtum, sondern nur die Untat »wider die Grundgesetze des Staats«. Insofern galt allerdings, daß »religiose Vergehungen« zugleich »Staatsverbrechen« waren. Doch diese Gleichsetzung von Staat und Religion zerbrach durch die Zerstörung des (zweiten) Tempels, d. h. des Staates. Was übrigblieb, war die Religion, die als Religion keine Strafen kennt (S. 130–133). – Noch weiter zurück führt die Suche, wann jenes Gebäude der mosaischen Verfassung seinen ersten Riß bekam: nämlich in der Zeit des Propheten Samuel, der vergeblich davon abriet, einen menschlichen König einzusetzen. Die Gottesfurcht der ersten Könige änderte nichts an dem Auseinanderfallen von

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Staat und Religion, so daß Mendelssohn den zeitgenössischen Juden anrät, dem Staat, in dem sie leben, zu dienen (dem Kaiser zu geben, was des Kaisers ist), ihre Religion aber beizubehalten. »So ertraget denn beide Lasten.« Spinoza hatte mit dem Untergang des jüdischen Staates auch die Verpflichtung durch die Gesetze untergehen sehen. Mendelssohn macht nun damit Ernst, daß diese Gesetze auf göttlicher Offenbarung beruhen – und nur auf dieselbe Weise zurückgenommen werden könnten. Das bedeutet: »was Gott gebunden hat, kann der Mensch nicht lösen«. So hat auch Jesus von Nazareth »nicht nur das Gesetz Moses; sondern auch die Satzungen der Rabbinen beobachtet« (S.134–137). Aus dieser unabänderlichen Gesetzestreue folgt, daß es den Juden verwehrt ist, um der ›bürgerlichen Vereinigung‹ (und der dabei vorausgesetzten Emanzipation der Juden) willen vom Gesetz abzuweichen. Mendelssohn warnt eindringlich vor der Idee einer »Glaubensvereinigung« (S. 138–141). Zu dieser Polemik wurde er nicht erst durch Cranz herausgefordert, hatte Mendelssohn doch schon in einer Anmerkung zur Manasse-Ausgabe die Glaubensvereinigung als intolerant gegeißelt (JubA Bd. 8, S. 55 , vgl. JubA Bd. 13, S. 83). Allerdings greift er jetzt das im Forschen nach Licht und Recht angeführte Bibelzitat auf, das vor dem Ende der Welt einen Hirten und eine Herde prophezeit (vgl. S. XIV). Anders als Cranz (bzw. vermeintlich Sonnenfels), der damit die Aufforderung unterstrich, der Jude Mendelssohn solle zum Christentum übertreten, interpretiert Mendelssohn die Idee der Glaubensvereinigung wohlwollend, nämlich als von der Zielsetzung motiviert, durch die Beseitigung der Glaubensunterschiede dem darin wurzelnden Zank und Streit den Nährboden zu entziehen. Ferner versteht er die Vereinigung nicht als Übertritt oder Bekehrung, sondern als das Resultat von Verhandlungen der verschiedenen europäischen »Religionsparteien«. Am Ende dieser Verhandlungen würde eine Art Vertrag stehen. Dieser mag nun aber noch so diplomatisch formuliert sein, so bedeutet er doch die Bindung des Glaubens an bestimmte, schriftlich fixierte Glaubensartikel. Und damit würde der »Gewissensfreiheit« Zwang angetan, denn: »Keiner von uns denkt und empfindet vollkommen so, wie sein Nebenmensch«. Also ist »Toleranz« geboten. (Zugleich stellt Mendelssohn, ohne

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daß dies gesagt werden müßte, den großen Vorzug des Judentums ins rechte Licht, wird doch nur im Judentum durch den Verzicht auf Glaubensartikel die Verschiedenheit der Menschen und deren innere Freiheit berücksichtigt.) An die »Regenten der Erde« richtet sich der Appell, mit dem Jerusalem schließt: Der Staat und die staatlichen Gesetze dürfen ›Meinungen‹ (insbesondere religiöse) weder bestrafen noch belohnen, sondern müssen sich »auf Tun und Lassen« beschränken. Alles »Denken und Reden« muß dagegen frei sein, handelt es sich doch um »ein unwandelbares Recht« jedes einzelnen Menschen. Also muß der Staat, soweit er es vermag, zu »jener allgemeinen Menschenduldung« beitragen, von der es im Nachsatz heißt: »nach welcher die Vernunft noch immer vergebens seufzet.«

Exkurs zur Kritik der Glaubensvereinigung Schon in einer Anmerkung zu Manasse ben Israel hatte Mendelssohn der »sogenannten Glaubensvereinigung« vorgeworfen, sie führe zu »Intoleranz«, und dazu bemerkt: »Der Ritter Michaelis hat in seinen vermischten Schriften über diese Materie einige sehr wichtige Briefe drucken lassen, für die ihm jeder Freund der Wahrheit und der Freyheit zu denken, nicht wenig Dank schuldig ist« (JubA Bd. 8, S. 55). Diesem Hinweis ist man früher nicht nachgegangen, vielleicht deswegen nicht, weil sich Mendelssohn bei der Angabe der Quelle irrte: Die Briefe von der Schwierigkeit der Religions-Vereinigung finden sich nicht in Johann David Michaelis’ Vermischten Schriften (Frankfurt a. M. 1766 u. 1769), sondern in seinem Syntagma Commentationum (Göttingen 1759, S. 121–170), das Mendelssohn besaß (Verzeichniß der auserlesenen Büchersammlung des seeligen Herrn Moses Mendelssohn. Berlin 1786, S. 14, Nr. 217). Michaelis bekämpfte hier die unionistischen Pläne der neuwiedischen »Academie zur Vereinigung des Glaubens«.4 Auch Michaelis betonte schon, daß die »menschli4

Vgl. die Angaben in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen (1757, S. 1412–1414; 1758, S. 364–366 u. S. 509–511) sowie

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chen Einsichten und Gemüther« sich so sehr unterscheiden (S. 151, vgl. S. 149), daß eine Vereinigung der Religionen nur durch »Gewissens-Zwang« möglich sei (S. 146, vgl. S. 151 u. 153). Jene angestrebte Vereinigung sei der »Toleranz« entgegengesetzt (S. 122). Mendelssohns Warnung vor einer neuen »Glaubensformel« (im vorliegenden Band S. 139) findet sich ebenfalls bei Michaelis (S. 151), der sogar meinte, daß »ein Eid auf symbolische Bücher […] doch oft nicht darauf gehet, daß man so glaube« (S. 128); die von Mendelssohn gestellte Frage nach der Glaubwürdigkeit des Eides der englischen Bischöfe (hier S.69 f.) wird allerdings zu dem noch zu erwähnenden scharfen Angriff von Michaelis führen. So wie es auf der einen Seite viel mehr und viel bedeutendere Versuche zur Wiedervereinigung der Christen gab als die kurzlebige neuwiedische Akademie, die bereits 1758 eingegangen war (man denke z. B. nur an Leibniz oder an Febronius), so gab es auf der anderen Seite auch mehr Kritiker, von denen z. B. Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem mit seinem Aufsatz Von der Kirchenvereinigung (Raubdruck ohne Ort 1772) auf lebhaftes Interesse bei protestantischen Theologen stieß. Jerusalem wehrte eine katholische Aufforderung zur Rückkehr der Protestanten u. a. mit dem Argument ab, »unsere unschätzbare Gewissensfreyheit« dürfe nicht preisgegeben werden (S. 41).5 1783 wird Johann Salomo Semler aus aktuellem Anlaß (es hatte sich wieder eine Unionsgesellschaft mit dem Versuch einer Religionsvereinigung zu Wort gemeldet) an Jerusalems Stellungnahme anknüpfen und zwanzig Freymütige Briefe über die Reli-

Arwid Liersch: Dukaten-Sozietät und Glaubens-Akademie. Zwei wiedische Gesellschaften des XVIII. Jahrhunderts. Neuwied 1904, S. 33 ff. 5 Vgl. Gottfried Hornig: Hindernisse auf dem Wege zur Kirchenvereinigung. Jerusalems Beitrag zum ökumenischen Gespräch der Aufklärungszeit. In: 300 Jahre Predigerseminar, 1690–1990. Riddagshausen – Wolfenbüttel – Braunschweig. Festschrift zum 300jährigen Jubiläum […], hrsg. von Wilfried Theilemann. Wolfenbüttel 1990, S. 161–166.

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gionsvereinigung der dreien streitigen Theile im römischen Reiche. Erste Sammlung (Leipzig 1783) veröffentlichen. Semler hat die Vereinigung zu einer christlichen Großkirche vor Augen und sieht dadurch die Toleranz gefährdet (S. 84): »[…] gerade die äusserliche Einheit ist der Feind der inneren Religionsfreiheit« (S. 251).6 6. Zeitgenössische Reaktionen So treffend wie Kant (in der oben zitierten Briefstelle) würdigte kein Zeitgenosse die Intentionen, von denen Jerusalem getragen wurde: eine spezifische Interpretation des Judentums vorzutragen, die mit der geforderten Gewissensfreiheit und Toleranz in vollstem Einklang steht. Von anderen Lesern und Rezensenten gab es zwar manche anerkennenden Worte, aber so deutlich wie bei Kant wurde Mendelssohns Anliegen nirgendwo anders verstanden und gewürdigt. (Vgl. dazu JubA Bd. 8, S. LIX–LXXXVIII). Johann Gottfried Herder, gewiß ein dankbarer Bewunderer Mendelssohns von Anfang an, schrieb zwar: »An Ihrem ›Jerusalem‹ habe ich mit Geist und Herz viel Antheil genommen und Sie über die mancherlei Chikanen beklagt, die man hie und da dagegen erhoben« (JubA Bd. 12, S. 192). Allerdings sei kein Staat so vollkommen wie Mendelssohn es fordere (d. h. die Kirche brauche doch eigene Rechte). Neben der ziemlich unverbindlichen Zustimmung steht also die Ablehnung in der Sache. – Christian Garve pflegte ein herzliches Verhältnis zu Mendelssohn, konzentrierte sich aber in seiner Reaktion auf die Vertragstheorie, die er kritisierte und der er seine eigene Theorie entgegenstellte (JubA

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Vgl. Gottfried Hornig: Johann Salomo Semler. Studien zu Leben und Werk des Hallenser Aufklärungstheologen. Tübingen 1996, S. 300 f. Zu den Vereinigungsbestrebungen vgl. den Artikel UnionsWerck. In: Grosses vollständiges Universal-Lexicon, hrsg. von Johann Heinrich Zedler. Bd. 49. Leipzig und Halle 1746, Sp. 1660– 1730, und Wolf-Friedrich Schäufele: Artikel Unionen III. In: Theologische Realenzyklopädie, hrsg. von Gerhard Müller. Bd. 34. Berlin und New York 2002, S. 319–323.

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Bd. 8, S. LXIII, vgl. JubA Bd. 13, S. 170 und S. 194–196). – Ein anderer guter Bekannter Mendelssohns war Johann Friedrich Zöllner, der aufgeklärte Theologe, der ebenso wie Mendelssohn der geheimen ›Gesellschaft der Freunde der Aufklärung‹ (Berliner Mittwochsgesellschaft) angehörte. Von ihm stammte die Frage: »Was ist Aufklärung?« (1783), und Zöllner gehörte im Streit um das Wöllnersche Religionsedikt (1786) zu den mutigen Verfechtern der bedrohten Aufklärung. Was aber Jerusalem betraf, so versuchte er in seinem Buch Ueber Moses Mendelssohn’s Jerusalem (Berlin 1784), alle wichtigen Thesen zu widerlegen, beginnend mit der Vertragstheorie und deren Begründung der Gewissenspflicht im Wohlwollen. Die von Mendelssohn bestrittenen Zwangsrechte der Kirche werden verteidigt; die Offenbarung ewiger Wahrheiten hält Zöllner für möglich und richtig; das Buch mündet in ein Bekenntnis zum Christentum. In der Allgemeinen deutschen Bibliothek, die von Friedrich Nicolai – Mendelssohns altem Freund und Genossen – herausgegeben wurde, rezensierte Johann August Eberhard 1785 sowohl Jerusalem als auch Zöllners und Hamanns Gegenschriften (JubA Bd. 22, Nr. 264–266). Eberhards Verehrung für Mendelssohn ist aufrichtig, manchmal fast rührend (ebd. Nr. 263, vgl. Nr. 291). Es muß daher zu denken geben, wenn sich Eberhard mit dem zweiten Teil von Jerusalem so wenig anfreunden konnte. Daß er Johann Georg Hamanns Golgatha und Scheblimini (Berlin 1784) noch sehr viel weniger verstand, kann nicht überraschen. So klar es ist, daß Hamann sich radikal gegen Jerusalem wendete, so interpretationsbedürftig sind seine Kritikpunkte und seine eigenen Intentionen. Was deutlich wird, ist z. B. die Ablehnung des Naturrechts als solchen (wobei Hobbes und Mendelssohn ununterscheidbar werden), weil es eine Willkürherrschaft legitimiere, oder der Vorwurf, Mendelssohn fasse die Religion zunächst als reine Gesinnung auf, um sie dann bloß in zeremoniellen Handlungen verkörpert zu sehen.7 Ohnehin gehe die Entgegensetzung von Gesinnungen und Handlungen bzw. von Wahr-

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So auch Stern 1857, S. 93 f.

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heits- und Bewegungsgründen an der Realität vorbei. – In Hamanns Frontstellung gegen die Aufklärung überhaupt wurzelt seine Kritik an deren führendem Repräsentanten, doch ist es durchaus persönlich gemeint, wenn Hamann »M.M. als einen Sophisten Lügner, Heuchler und Atheisten aus seinem Jerusalem« ansah (JubA Bd. 22, Nr. 303). Allerdings lehrt der Blick in die Hamann-Forschung, daß der Gehalt von Golgatha den Rahmen einer Sekundärliteratur, die Auskunft über die Jerusalem-Rezeption gibt, weit überschreitet.8 – Herder teilte Hamann 1785 mit, was man aus Berlin über Mendelssohn berichtete: »Er hat gemeint, alle Christen seyn Schwärmer: ich glaube, weil ihm der Pfeil Ihres Golgatha noch zwischen Fell und Fleisch stecken mag« (JubA Bd. 22, Nr. 271, vgl. auch Nr. 279). Die umfangreiche Rezension, die der Göttinger Orientalist Johann David Michaelis Jerusalem widmete, ist in erster Linie wegen ihres persönlichen Angriffs auf Mendelssohn bekannt, der den Religionseid der englischen Bischöfe wenig glaubwürdig gefunden hatte (S. 69 f.). Indem Michaelis nun Mendelssohn vorwarf, er habe die Bischöfe als Meineidige gebrandmarkt (JubA Bd.8, S. 205–212), entzog er zugleich Mendelssohns Argument den Boden, man dürfe nicht ausschließlich die Juden beschuldigen, sich nicht an Eide zu halten. Genau dies tat Michaelis, und dies stützte sein Urteil, man müsse den Juden das Bürgerrecht verweigern (ebd. S. LXXXVIII f.).9 Mendelssohn reagierte mit

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Vgl. Rawidowicz 1937, Schreiner 1956, Zac 1973, Levy 1984, Jansen Schoonhoven 1985 und 1990, Gründer 1989. 9 Andere Argumente, die Michaelis in seiner Besprechung des ersten Bandes von Dohms Werk vorgebracht hatte, waren das Verlangen der Juden, nach Israel zurückzukehren, und die angebliche Untauglichkeit der Juden zum Kriegsdienst in ihren jeweiligen Gastländern. Mendelssohn entkräftete diese Vorwürfe mit seinen Anmerkungen über diese Beurtheilung, die in Bd. 2 (1783) gedruckt wurden (S. 72–77; abgedruckt in Mendelssohns Gesammelten Schriften, hrsg. von Georg Benjamin Mendelssohn. Bd. 3 [Leipzig 1863, Nachdruck Hildesheim 1972], S. 365–367). Besonders prägnant ist die Feststellung Mendelssohns: »Anstatt Christen und Juden bedient sich Herr Michaelis beständig des Ausdrucks Deutsche und Juden. Er

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dem Aufsatz Ueber die 39 Artikel der englischen Kirche und deren Beschwörung (ebd. S. 213–224). Das Verhältnis von Michaelis zu Mendelssohns Jerusalem ist aber vielschichtiger. In der Frage, ob Mendelssohn vielleicht gar kein gläubiger Jude, sondern ein Deist sei (wie Mörschel vermutet hatte), sprach Michaelis gleichsam als professoraler Gutachter sein Urteil: Mendelssohn ist kein »Naturaliste, Deiste« (JubA Bd. 22, Nr. 261, S. 254), sondern »Mendelssohn ist in seiner Lehre ein wahrer Jude, noch dazu ein Rabbanite,10 und gerade an den Orten, wo ich nicht verhehlen konnte, daß ich so anders denke, war mein Widerspruch nicht sowohl gegen Moses Mendelssohn, als gegen den Rabbaniten, der die Lehren der Rabbinen neben der Bibel aufnahm« (ebd. S. 253). Der Nachsatz bezieht sich auf den selbstverständlichen Dissens zwischen der christlichen und der jüdischrabbinischen Theologie, doch damit wird zugleich Mendelssohns Interpretation des Judentums so eingeordnet, daß sie keine private Stellungnahme darstellt, sondern in den Strom des approbierten rabbinischen Judentums gehört. Michaelis stellte z. B. fest, daß es sehr wohl von dieser Tradition her richtig sei, eine Besoldung der Rabbiner abzulehnen, wie Mendelssohn das tat. – Auch in einem weiteren Punkt stimmte Michaelis mit Mendelssohn überein: »Was Herr M. […] gegen die Glaubensvereinigung sagt, […] ist […] völlig meine Meinung« (ebd. S. 252). Diese Übereinstimmung ist überhaupt nicht erstaunlich, waren es doch Aufsätze von Michaelis, die Mendelssohn zu seiner Kritik der ›Glaubensvereinigung‹ angeregt hatten.11 Eine ganz besondere, ja, einmalige Form, Jerusalem zu loben, findet sich in Mirabeaus Mendelssohn-Buch (1787). Der engagierte Vorkämpfer der religiösen Toleranz ordnete Jerusalem als ein hervorragendes Dokument dieses Kampfes ein, und zwar tat

entsiehet sich wohl, den Unterschied bloß in Religionsmeinungen zu setzen und will uns lieber als Fremde betrachtet wissen […]« 10 Rabbaniten sind Juden, die neben der Bibel auch den Talmud anerkennen (was fast alle Juden tun, ausgenommen die Sekte der Karäer). 11 Vgl. oben den Exkurs.

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er dies so, daß er lange Passagen aus dem Virginia Statute of Religious Liberty vom 16.1.1786 und aus Condorcets Vie de M. Turgot (1786) wörtlich zitierte, während er den Leser zunächst glauben machte, mit diesen Sätzen werde Jerusalem wiedergegeben. Indem Mirabeau dieses Verfahren anschließend rechtfertigte, sprach er Mendelssohns Jerusalem die höchste Anerkennung aus: »Ich habe würklich diese beiden Stücke, so zu sagen, nur abgeschrieben; aber nur deswegen, weil es mir unmöglich gewesen seyn würde, Mendelssohns Theorie getreuer auszudrücken, und das Wesentliche seines Buchs genauer zu liefern. Diese Uebereinstimmung eines Staatsmannes [Turgot] […] mit einer so ansehnlichen gesetzgebenden Macht, als die Virginische […] mit einem jüdischen Philosophen […] muß als ein sehr auffallendes Merkmal der Wahrheit betrachtet werden« (JubA Bd. 23, S. 88 f., vgl. S. 85 Anm. und S. 87 Anm.). Mirabeaus famose Einstufung von Jerusalem wird allerdings dadurch erkauft, daß auf dessen Argumentation überhaupt nicht eingegangen wird. In Isaak Euchels hebräischer Mendelssohn-Biographie (1788) findet sich dagegen Jerusalem in langen Passagen nahezu (und in anderen ganz) wörtlich wieder (JubA Bd. 23, S. 155–223, vgl. S. 147–154: Manasse-Vorrede). Man kann also feststellen, daß es der hauptsächliche Zweck dieses Buches war, den Inhalt von Jerusalem bekanntzumachen, genauer: ihn Lesern nahezubringen, die nur Hebräisch verstanden. Das bedeutet nicht, daß Jerusalem Euchels vorbehaltlose Zustimmung gefunden hätte. Wenn Daniel Jenisch berichtet, man könnte Mendelssohn »einer Treulosigkeit gegen die Aufklärung […] beschuldigen«, weil er »die Fortdauer der jüdischen Religionsbräuche« rechtfertigte, so dürfte dieses Monitum auf Euchel – Jenischs einzige Quelle (ebd. S. 264 f. Anm., vgl. S. 284 Anm.) – zurückgehen, ebenso die Erklärung dieser Vorgehensweise: Mendelssohn habe sich dadurch »das Zutrauen seiner Nation« gesichert, um dieser den »neuen, aber sehr wahren Lehrsatz, daß das Judenthum zu keinem Glauben an eine Offenbarung verpflichtet« sei, beizubringen; einen Lehrsatz, der »das Thor der Wahrheit für seine Nation« öffnete, so daß die Aufklärung ihren Einzug halten konnte. Für Euchel ging es Mendelssohn um die Aufklärung seiner jüdischen Nation, und »die

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Fortdauer des alten Nazionalgottesdienstes« mußte in Kauf genommen werden, um Gehör finden zu können, d. h. eigentlich war Mendelssohn weniger aufrichtig als diplomatisch (ebd. S. 284). Euchel nahm also Mendelssohn das Bekenntnis zu den Zeremonialgesetzen in der Sache nicht ab,12 doch befand er sich damit in bester Gesellschaft. Kant, der »Jerusalem wie ein unwiderlegliches Buch« bewunderte (JubA Bd. 22, Nr. 302) und dessen einfühlsamer Brief vom 16. August 1783 oben zitiert wurde, glaubte in demselben Brief, und zwar unmittelbar anschließend, Mendelssohns Einstellung als Kritik an der »Geschichte«, von der »alle das Gewissen belästigende Religionssätze kommen« (JubA Bd. 13, S. 129), zu referieren, während er damit in Wahrheit seine eigene deistische Religionsphilosophie in Mendelssohns Jerusalem hineindeutete. Die von Kant in der Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) projektierte »rein-moralische, von Statuten unbemengte Religion« entspricht aber ebensowenig Mendelssohns Sicht wie Kants Vorschlag, auf der Grundlage einer solchen Religion noch einmal über den ›Religionsübergang‹ nachzudenken.13 Saul Aschers Auseinandersetzung mit Jerusalem ist schon deswegen von besonderem Interesse und Gewicht, weil Ascher kein orthodoxer Rabbiner war, sondern der Vordenker eines liberalen, emanzipierten Judentums. In seinem Leviathan oder über Religion in Rücksicht des Judentums (Berlin 1792) konstatierte Ascher einen unaufhebbaren Gegensatz zwischen Vernunft und Glauben, während Mendelssohn einen ›vernünftigen Glauben‹ – also einen Widerspruch in sich – vertreten habe. Das Judentum bestehe im Kern nicht – wie in Jerusalem behauptet wird – aus Vernunftlehren und geoffenbarten Gesetzen, sondern aus Dogmen (Glaubenslehren), und Ascher stellte einen Kanon der vier12

Vgl. Lazarus Bendavid: Etwas zur Charackteristick der Juden. Leipzig 1793: Sosehr Mendelssohn gelobt wird, so sehr wird die Befreiung vom Zeremonialgesetz gefordert. 13 Akad.-Ausg. (wie Anm. 1), Bd. 6, S. 166 Anm., vgl. Eisen 1998.

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zehn wichtigsten Dogmen des Judentums auf. Demgegenüber bilde das mosaische Gesetz nur ein bloßes Hilfsmittel, durch dessen rigide Einhaltung der Glaube gefährdet werde. Im Unterschied zu Mendelssohn hielt Ascher (wie z. B. auch Abraham Geiger) darum eine Reform des jüdischen Gesetzes für geboten.14

7. Probleme der Rezeptionsgeschichte im Judentum Zwar fand Ascher bei seinen Zeitgenossen nur wenig Beachtung und fiel später ganz der Vergessenheit anheim. Er hatte aber genau die Tendenzen vorgezeichnet, die in der Folgezeit für das sogenannte liberale bzw. reformwillige Judentum maßgeblich wurden: Konzentration und Besinnung auf spezifisch jüdische Glaubensartikel einerseits, Durchforstung der Gesetze andererseits.15 Während sich diese Form der Kritik gegen zwei Hauptthesen von Jerusalem wendete, wurde von Seiten der Orthodoxie nicht das Buch angegriffen, weil das gar nicht nötig war, wurde doch sein Autor (dessen Kinder fast alle Christen wurden) als Wegbereiter der Assimilation – sie bildet auch heute noch ein Reizthema – mehr oder minder pauschal verurteilt. Auffälliger ist, daß selbst bei Mendelssohns Freunden Herz Homberg und David Friedländer Jerusalem kein Echo fand: Die Unterscheidung zwischen religiöser (Vernunft-)Wahrheit und geoffenbartem Gesetz wurde auch da nicht aufgegriffen, wo man es am ehesten vermuten würde.16 Man kann also zu der Ansicht gelangen, Mendelssohns allseits kritisierte Lehre vom Judentum17 sei im Judentum ohne jeden Einfluß geblieben.18

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Vgl. Wiener 1929, Hans Joachim Schoeps 1935, Littmann 1960. Vgl. auch Christoph Schulte: Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte. München 2002, S. 68–72, 184 ff. 15 Hans Joachim Schoeps 1935, S. 43–50. 16 Altmann 1987, S. 246. 17 Kurzweil 1985, S. 13, Kochan 1985/86, S. 41, Vetter 1992, S. 100. 18 Jospe 1975, S. 38, Funkenstein 1980, S. 28.

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Vielleicht läßt sich aber trotzdem bei den Interpreten des Judentums eine rationalistische Strömung feststellen, die von den auf Mendelssohn folgenden jüdischen Philosophen bis hin zu Hermann Cohen bei allen Unterschieden beibehalten wurde: Das Judentum als ›Religion der Vernunft‹.19 Die 1819 vom Berliner ›Culturverein‹ inaugurierte ›Wissenschaft des Judentums‹ (1822– 1823 erschien die bahnbrechende Zeitschrift für die Wissenschaft des Judentums) dürfte ohne Mendelssohns Einfluß nicht denkbar sein: ohne Mendelssohns Rückführung des Judentums auf seine mosaische Quelle und ohne Mendelssohns Betonung der grundlegenden Bedeutung des Bibeltextes. Seine Tora-Übersetzung war die erste von einem Juden verfaßte Übersetzung der fünf Bücher Mose ins Hochdeutsche.20 Immerhin pries Isaak Markus Jost (1828), der Mitglied des Kulturvereins war, Mendelssohn als siegreichen »Reformator«;21 siegreich im Kampf gegen den »Rabbinismus« (S. 79 und S. 65). Heinrich Heine, ebenfalls Mitglied des Kulturvereins, fand 1834 für die Einstellung der Berliner Reformer gegenüber Mendelssohn die Worte: »Wie Luther das Pabstthum, so stürzte Mendelssohn den Talmud, und zwar in derselben Weise, indem er nemlich die Tradizion verwarf, die Bibel für die Quelle der Religion erklärte, und den wichtigsten Theil derselben übersetzte«.22 Heine fühlte sich allerdings be-müßigt, Mendelssohns Aufrechterhaltung des Zeremonialgeset-zes gegen den Vorwurf der »Feigheit« zu verteidigen. Obwohl »der Deismus […] sein innerster Glaube und seine tiefste Ueberzeugung« war, sah Mendelssohn »in dem reinen Mosaismus eine Instituzion […], die dem Deismus gleichsam als eine letzte Verschanzung dienen

19

Cassirer 1929, S. 20 f., Wiener 1929, S. 211 f., Hans Joachim Schoeps 1935, S. 44, Maier 1969, S. 145, Altmann 1985, S. 26. 20 Gennaro Auletta: Moses Mendelssohn (1729–1786). In: Klassiker der Religionsphilosophie. Von Platon bis Kierkegaard, hrsg. von Friedrich Niewöhner. München 1995, S. 272–285, hier S. 284. 21 Vgl. den Titel von Ritter 1858. 22 Heinrich Heine: Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. In: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. von Manfred Windfuhr. Bd. 8/1. Hamburg 1979, S. 71

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konnte« (S. 72). Diese salomonische Formulierung kann Heines Zweifel an der Gültigkeit des Zeremonialgesetzes nicht verdecken. Den Äußerungen von Jost und Heine stehen vielfältige andere, kritischere Stellungnahmen emanzipierter Denker gegenüber, die besonders Greenberg (1996)23 untersucht hat. Greenberg fällt es nicht leicht, das Verhältnis dieser Mendelssohn-Kritiker zu ihrem – als Person allseits bewunderten – Wegbereiter auf den Begriff zu bringen; er spricht von einer wesentlich von Mendelssohn geschaffenen »Struktur« (S. 115), innerhalb deren sich auch seine Kritiker bewegten. Noch schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob nicht viele der modernen Juden im 19. Jahrhundert annähernd so lebten, wie es Jerusalem gefordert hatte: die Gesetze beachtend, aber ohne Dogmen. Falls dies der Fall gewesen sein sollte (wobei die rationale Religiosität aber nicht als Verkürzung, sondern wie bei Mendelssohn als lebendiger Glaube aufzutreten hätte24), muß man aber fragen, ob diese Lebensführung auf Mendelssohns Einfluß zurückzuführen ist25 oder ob Mendelssohn nicht vielmehr kulturelle Wandlungen vorausahnte, die sich auch ohne seine Wirkung vollzogen hätten. Vielleicht sollte man besser von einem Einfluß sprechen, der nicht von dem Autor Mendelssohn ausging, sondern von der historischen Gestalt Mendelssohns; einer Gestalt, die auf unterschiedliche Weise zum Vorbild der aufgeklärten Juden des 19. Jahrhunderts wurde (Altmann 1985), auch wenn dabei jeweils nur einzelne Aspekte weiterwirkten, während Mendelssohns harmonischer Ausgleich zwischen Vernunft und Religion eine einmalige, später nicht mehr mögliche Erscheinung blieb: eine »Ephemeral Solution« (Meyer 1967). Die Beschäftigung mit Jerusalem wurde dadurch zu einem (wichtigen) Teilaspekt der Einordnung und Bewertung Mendelssohns als ganzen. Die Geschichte der Jerusalem-Rezeption kann eigentlich ohne die Geschichte des Mendelssohns-Bildes, die es 23

Vgl. auch Asriel Schochat: Der Ursprung der jüdischen Aufklärung in Deutschland (11960). Frankfurt a. M. 2000, S. 423 ff. 24 Vgl. Altmann 1987, S. 242. 25 Auletta (wie Anm. 20), S. 283.

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aber bislang noch nicht gibt, nicht geschrieben werden. Die beiden großen Geschichtsschreiber des Judentums stellen Jerusalem notwendigerweise in den Rahmen von Mendelssohns Lebenswerk, und damit werden dessen großen Linien maßgeblich. Für Graetz ist die »Verjüngung oder Wiedergeburt des jüdischen Stammes […] von Mendelssohn ausgegangen«.26 Der JerusalemAbschnitt (S. 79–84) besteht hauptsächlich aus Zitat und Referat. Zwar heißt es einleitend, spätere Denker hätten »viele seiner Gedanken […] als nicht stichhaltig beseitigt« (S. 79), der Leser erfährt aber nicht, um welche Gedanken es sich dabei handelt. Etwas deutlicher wird Simon Dubnow in seiner Geschichte des jüdischen Volkes. Daß in Jerusalem »ein rationalistischer Theismus mit einem blinden Traditionalismus verflochten erscheint« (Bd. 7. Berlin 1928, S. 369), gibt die verbreitete Kritik wieder. Allerdings legte Mendelssohn auch für Dubnow »den Grundstein zur geistigen Erneuerung seiner Volkes« (S. 358); die Mendelssohn-Kapitel heißen »Die Anfänge der Aufklärung. Mendelssohn« und »Mendelssohns Aufklärungswerk«. In diesem Rahmen sucht Dubnow auch nach einer Erklärung für die Verflechtung von Theismus und Traditionalismus. Er findet sie in Mendelssohns Betonung des Gefühls, genauer: »das Glaubensbedürfnis bedeutete ihm zugleich die Vernunftgemäßheit des Glaubens« (S. 370). – Hier darf auch der Hinweis auf Kayserlings Mendelssohn-Buch nicht fehlen, das zuerst 1862 erschien und nicht nur durch seinen Materialreichtum, sondern auch durch seine warmherzige und kluge Darstellung der Gedanken Mendelssohns einflußreich werden sollte. Die inneren Schwierigkeiten, die man in Jerusalem feststellte, kommen bei Kayserling nicht vor bzw. nur insofern, als er gerade den Mendelssohn-Schülern anlastet, Mendelssohn verkannt zu haben – ganz zu schweigen von den Kritikern.

26

Heinrich Graetz: Geschichte der Juden. Bd. 11. Leipzig 21900 (Nachdruck Berlin 1996) (11870), S. 3. Vgl. den schon erwähnten Jost!

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8. Tendenzen der neueren Forschung Alexander Altmann ist der Riese, auf dessen Schultern die neuere Mendelssohn-Forschung steht, war es doch Altmanns Verdienst, hinter dem sympathischen, aber leichtgewichtigen ›Seichbeutel‹27 Mendelssohn endlich den durchaus ernstzunehmenden Denker von höchstem Niveau zu entdecken. Dies gelang Altmann dadurch, daß er weitgefächerte philosophie- und geistesgeschichtliche Untersuchungen durchführte, um dann Mendelssohns Thesen in die Diskussion der damaligen Zeit hineinzustellen. Auch für Jerusalem konnte Altmann durch tiefschürfende historische Analysen das ganze Gewicht dieser Schrift erschließen. Man kann sie nur dann wirklich verstehen, wenn man die ebenso souveräne wie gründliche Darstellung in Altmanns Mendelssohn-Biographie von 1973, seine sechs vertiefenden Aufsätze aus den Jahren 1974 bis 1982 und die Ausgabe von Jerusalem in Bd. 8 der MendelssohnJubiläumsausgabe (1983, zuvor war im selben Jahr die englische Ausgabe erschienen) zur Kenntnis nimmt. Die Auswertung der Aufsätze von 1974 bis 1981 wird durch das Register erleichtert, das der Sammelband Die trostvolle Aufklärung (1982), in dem diese Aufsätze wieder abgedruckt sind, enthält. Wieviel Mendelssohn Hobbes, Spinoza und Locke verdankt, wird von Altmann ebenso herausgearbeitet wie Mendelssohns eigene Beiträge zur Diskussion über das Verhältnis zwischen Kirche und Staat sowie über beider Verhältnis zum Einzelnen, besonders zu seinen religiösen Überzeugungen. Erst durch den Vergleich mit den protestantischen Kirchenrechtlern des 18. Jahrhunderts wird deutlich, wie und worin sich Mendelssohn mit seiner Forderung nach Gewissensfreiheit und Toleranz von deren zeitgenössischen Beschränkungen freimachte.28 Noch handfester sind diese Beziehungen Mendelssohns zu bestimmten Lehren der verschiedenen Schulen unter den protestantischen Kirchenrechtlern bei der Ablehnung 27

So nannte ihn Marx, siehe Karl Marx / Friedrich Engels: Werke. Bd. 32. Berlin 1965, S. 686. 28 Altmann 1979, vgl. auch Patterson 1958, Nahler 1961, Kreß 1996.

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des Kirchenbannes (mit den ›Territorialisten‹) und beim Kirchenverständnis. Mit den ›Kollegialisten‹ war Mendelssohn der Ansicht, es gebe nicht die eine Kirche, sondern jeweils verschiedene Gemeinschaften von gleichgesinnten Gläubigen (Altmann 1980). – Mendelssohns politische Theorie, d. h. seine Ansichten vom Naturzustand, Naturrecht, Staatsvertrag, Staatszweck usw., ist von einem optimistischen Menschenbild geprägt: Der Mensch wird durch Wohltaten glücklich. Historisch gesehen, stößt man bei den einzelnen Thesen besonders auf den Einfluß Christian Wolffs.29 Nach alledem kommt Altmanns Urteil über Jerusalem besonderes Gewicht zu: Wenn das Judentum einerseits aus der vernünftigen Religion, d. h. aus den Wahrheiten der allgemein-menschlichen Vernunft, bestehe, andererseits aus dem geoffenbarten Gesetz, so zeige sich ein Spannungsverhältnis zwischen Wahrheit und Offenbarung.30 Diese Spannung werde auch darin deutlich, daß Gott von Mendelssohn einerseits als ganz unparteilich aufgefaßt werde, weil er die Heilswahrheiten allen Menschen durch die Vernunft zugänglich gemacht habe, statt sie zum Inhalt der speziellen Offenbarung zu machen. Andererseits habe Gott ein bestimmtes Volk ausgewählt, dem er seine (Gesetzes-)Offenbarung zuteil werden ließ – nicht allen Menschen.31 Sowenig Mendelssohn hierin einen Gegensatz sah, sosehr er diese Spannung leugnete, so unübersehbar sei doch, daß die von Mendelssohn angestrebte und auch gelebte Harmonie die innere Diskrepanz zwischen dem Philosophen und dem Juden Mendelssohn nicht aufheben konnte.32 Dieses janusköpfige Mendelssohn-Bild, das sich in Jerusalem offenbart, wurde schon von Bamberger in seinen beiden Aufsätzen von 1929 gezeichnet: Das eigentliche Judentum werde als Praxis der Gesetzeserfüllung vom Denken und damit von der eigentlichen Religion getrennt. Wenn man aber beides als Aspekte 29

Altmanns beide Aufsätze von 1981 und seine Zusammenfassung von 1982, vgl. Rotenstreich 1966, Albrecht 1982. 30 Altmann 1987, S. 247, vgl. Jospe 1975, S. 29–33. 31 Vgl. auch Morgan 1992, S. 25. 32 Altmann 1987, S. 247 f.

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des Judentums zusammenbringen wolle, zeige sich ein innerer Bruch. Hans Joachim Schoeps (1935, S. 32) schließt sich an Bamberger an. Ganz ähnlich äußert sich auch Guttmann: Die universale Vernunftreligion und das jüdische Religionsgesetz seien zwei verschiedene Welten.33 Allerdings behauptete Mendelssohn, die Aufgabe des Gesetzes sei das Nachdenken über die (Vernunft-) Religion; es besteht also ein Verweisungsverhältnis. Damit wird das Gesetz aber aus seinem nationalen Rahmen herausgelöst; eine »Entnationalisierung«,34 die schon von Perez Smolenskin beklagt worden war.35 Freilich hebt Mendelssohn die jüdische Geschichtserfahrung als dritten Aspekt des Judentums hervor. Es fragt sich aber, ob diese historischen Wahrheiten von den geoffenbarten Gesetzen abgetrennt werden können (und umgekehrt): ob nicht beide auf derselben Grundlage stehen.36 Arkush, der als Übersetzer an Altmanns englischer JerusalemAusgabe beteiligt war, mag es bei dem Befund, Mendelssohn vereinige in sich Gegensätze, nicht belassen. Er drängt auf eine Entscheidung zwischen den beiden Polen, die nur heißen könne: Mendelssohn hätte auch ohne die jüdische Religion leben können (1999, S. 41). Um seinen Mitjuden zu helfen, maskierte er sich aber als wahrer Jude (1994, S. 259). Kant hatte schon Recht: Mendelssohn war eigentlich Deist (S. 276 ff.). Diese Deutung, die auf verblüffende Weise an Isaak Euchel erinnert, wagt sich also sehr weit ins Feld der Psychologie vor und riskiert offene Widersprüche zu Mendelssohns eigenen Äußerungen über sein Verhältnis zum Judentum. Ansonsten beweist Arkushs Buch von 1994, in dem der Argumentationsgang von Jerusalem sehr kritisch geprüft wird, daß es nicht leicht ist, nach Altmann über Mendelssohn zu schreiben: Die meisten Kritikpunkte finden sich schon in Altmanns Mendelssohn-Biographie von 1973, wurden dort aber historisch-verstehend aufgefangen. 33

Guttmann 1933, S. 313, vgl. auch Rotenstreich 1968, Maier

1969. 34 35 36

Wiener 1929, S. 209. Vgl. dazu Barzilay 1961/62, S. 86 und 178 ff. Sorkin 1993, S. 129; Breuer 1995.

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Sorkin (1996) hat hier den entgegengesetzten Weg eingeschlagen. Er sieht Mendelssohn in der andalusischen Tradition des jüdischen Denkens, und das bedeute: Philosophie ja – aber als Werkzeug im Dienst des Glaubens. Mendelssohns Mittel seien zwar neu, seine Zwecke aber konservativ. Dazu passe auch der Vorrang des praktischen Wissens (wie der Gesetzgebung am Sinai) vor dem theoretischen. Ferner dürfe Mendelssohn nicht (wie z. B. bei Graetz, Dubnow oder Altmann) als Begründer der jüdischen Aufklärung (Haskala) aufgefaßt werden, sondern bereits als deren Kind. So lasse sich erklären, warum Mendelssohn – wie auch andere Zeitgenossen – ein Denker mit zwei Gesichtern (als Aufklärer und als Jude) wurde und warum er keine gleichartigen Nachfolger finden konnte.37 Die Theorie (und Kritik) der Schrift und der Sprache hat erst seit Funkenstein (1980, S. 18 ff.) vermehrte Aufmerksamkeit gefunden. Dies betrifft vor allem die These, das geoffenbarte Gesetz sei eine eigene, den Götzendienst verhindernde Schrift, während die Bilderschrift die Idolatrie befördert habe (Hilfrich 2000). Es fragt sich aber, warum auch noch die Alphabet-Schrift unter dieses Verdikt fällt (Eisen 1990). Allerdings läßt sich zeigen, daß auch diese Schrift – als Lautschrift – Nachteile mit sich bringt. Demgegenüber seien die symbolischen Handlungen (›Zeremonien‹) die bessere Alternative, weil Gesten die besseren Zeichen seien (Krochmalnik 1998, S. 279). – Im Rahmen der traditionellen Unterscheidung zwischen mündlicher und schriftlicher Tora sieht Mendelssohn die mündliche Form der Mitteilung und Überlieferung als einen der Vorzüge des Judentums an. Die Frage aber, welche Konsequenzen die schriftliche Fixierung der mündlichen

37

Vgl. auch David Sorkin: Die zwei Gesichter des Moses Mendelssohn. In: Menora. Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte. München, Zürich 1993, S. 275–289; Sorkin kritisiert Altmann und Arkush in: The Mendelssohn Myth and Its Method. In: New German Critique Nr. 77 (1999), S. 7–28. – Zur Datierung des Anfangs der Haskala vgl. Schulte (wie Anm. 14), S. 224, Anm. 18. Schulte selbst beginnt seine Darstellung mit Mendelssohn und dem Jahr 1770.

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Tora für das Judentum hatte, wird von Mendelssohn nicht erörtert.38 Zur Einführung in Jerusalem können die Zusammenfassungen von Klaus L. Berghahn (2001), Bohn (1979), Breuer (1995/96), Bruch (1986), Levinas (in der französischen Ausgabe von Jerusalem) und Zac (1973) empfohlen werden; zur Vertiefung des Verständnisses darf neben Sorkin (1996) Altmann nicht vergessen werden; die schärfste Kritik der einzelnen Argumente hat Arkush (1994) durchgeführt. Natürlich weiß auch Arkush, daß es Thesen gibt, die schon als solche – trotz ihrer schwachen Begründung – einen Fortschritt bedeuten, wie z. B. die Forderung der Freiheit für den Menschen als Menschen, also auch nach dem Naturzustand (S. 107). Daß die Menschen ohne Freiheit weder moralisch handeln noch glücklich werden können (S. 290), scheint für Arkush keine ausreichende Begründung der Freiheitsforderung zu sein. Doch selbst wenn das zutreffen sollte, darf man doch die geistesgeschichtliche Relevanz von Forderungen nicht beiseite schieben. Jerusalem ist (zusammen mit der Manasse-Vorrede) jedenfalls ein Meilenstein in der Geschichte der jüdischen Emanzipation und der Menschenrechte überhaupt.

38

Jospe 1989. Vgl. auch Goetschel 1994, Ricken 2000, Librett 2000, Martyn in seiner Edition von 2001 sowie 2002.

SEKUNDÄRLITERATUR ZU JERUSALEM (ohne die hebräische Literatur)

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Katz on His Seventy-Fifth Birthday, ed. by E. Etkes and Y. Salmon. English Section. Jerusalem 1980, S. 41–60. – Wiederabgedruckt in: ders.: Essays in Jewish Intellectual History. Hanover, London 1981, S. 170–189. – Wiederabgedruckt in: Altmann 1982, S. 229–243. – Prinzipien politischer Theorie bei Mendelssohn und Kant (Trierer Universitätsreden 9). Trier 1981. – Wiederabgedruckt in: Altmann 1982, S. 192–216. – Moses Mendelssohn über Naturrecht und Naturzustand. In: Ich handle mit Vernunft … Moses Mendelssohn und die europäische Aufklärung, hrsg. von Norbert Hinske. Hamburg 1981, S. 45–84. – Wiederabgedruckt in: Altmann 1982, S. 164–191. – The Quest for Liberty in Moses Mendelssohn’s Political Philosophy. In: Humanität und Dialog. Lessing und Mendelssohn in neuer Sicht. Beiträge zum Internationalen LessingMendelssohn-Symposium, veranstaltet im November 1979 in Los Angeles, Kalifornien. Beiheft zum Lessing Yearbook, hrsg. von Ehrhard Bahr [u. a.]. Detroit, München 1982, S. 37– 65. – Moses Mendelssohn as the Archetypal German Jew. In: The Jewish Response to German Culture. From the Enlightenment to the Second World War, ed. by Jehuda Reinharz and Walter Schatzberg. Hanover, London 1985, S. 17–31. – Moses Mendelssohn’s Concept of Judaism Reëxamined. In: ders.: Von der mittelalterlichen zur modernen Aufklärung. Studien zur jüdischen Geistesgeschichte. Tübingen 1987, S. 234– 248. Arkush, Allan: Moses Mendelssohn and the Enlightenment. Albany 1994. – The Questionable Judaism of Moses Mendelssohn. In: New German Critique Nr. 77 (1999), S. 29–45. Auerbach, Jakob: Moses Mendelssohn und das Judenthum. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 1 (1887), S. 1–44, bes. S. 33–43. Bamberger, Fritz: Die geistige Gestalt Moses Mendelssohns. In: Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums 73 (1929), S. 81–92.

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älteren Religions- und Kulturgeschichte. Frankfurt a. M. 1857, S. 89–95 (Jerusalem). Tenenbaum, Katja: Ebraismo e filosofia nella »Jerusalem« di Moses Mendelssohn. In: La storia della filosofia ebraica, a cura di Irene Kajon (Archivio di Filosofia 61, N. 1–3). Mailand 1993, S. 201–217. – »Jerusalem«, ovvero il Trattato teologico-politico die Moses Mendelssohn. In: Filosofia e Ebraismo. Da Spinoza a Levinas. A cura di Katja Tenenbaum e Paolo Vinci. Florenz 1993, S. 31–39. Tomasoni, Francesco: Mendelssohn e la difesa dell’individuo. In: La società degli individui 1 (1998), S. 65–74. Vetter, Dieter: Religion als Ethik? Zur Problematik von Moses Mendelssohns Bestimmung des Judentums. In: Theologie und Aufklärung. Festschrift für Gottfried Hornig zum 65. Geburtstag, hrsg. von Wolfgang Erich Müller und Hartmut H. R. Schulz. Würzburg 1992, S. 89–111. Voorsluis, Bart: Openbaring en rede in Mendelssohns Jerusalem. In: Joodse filosofie tussen rede en traditie. Feestbundel te ere van de tachtigste verjaardag van Herman Johan Heering, hrsg. von Reinier Munk u. Frits J. Hoogewoud. Kampen 1993, S. 77–100. Walter, Hermann: Moses Mendelssohn. Critic and Philosopher. New York 1930 (Nachdruck ebd. 1973), S. 156–166: Mendelssohn on Church and State. Wenzel, Rainer: »Und Geschichte muß doch wohl allein auf Treu’ und Glauben angenommen werden?« Über die mehrfache Herkunft des Begriffs der »Geschichtswahrheiten« in Mendelssohns »Jerusalem«. In: Mendelssohn-Studien 12 (2001), S. 9–34. Wiener, Max: Moses Mendelssohn und die religiösen Gestaltungen des Judentums im 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 1 (1929), S. 201–212. Zac, Sylvain: Essence du judaïsme et liberté de conscience. In: Les nouveaux cahiers 9 (1973), S. 14a–29b.

ZUR TEXTGRUNDLAGE

A. Manasse-Vorrede Dem Abdruck der Manasse-Vorrede liegt die Erstausgabe zugrunde.

Deutsche Ausgaben 1) Manasseh Ben Israel Rettung der Juden [.] Aus dem Englischen übersetzt. Nebst einer Vorrede von Moses Mendelssohn. Als ein Anhang zu des Hrn. Kriegsraths Dohm Abhandlung: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin und Stettin 1782. 2) Moses Mendelssohn’s sämmtliche Werke. Bd. 12. Ofen 1825. 3) Moses Mendelssohns sämmtliche Werke. Bd. 2. Rödelheim 1828. (Nachdruck von 2.) 4) Moses Mendelssohn’s sämmtliche Werke. Ausgabe in Einem Bande als National-Denkmal. Hrsg. von Franz Gräffer. Wien 1838, S. 681–729. 5) Moses Mendelssohn’s gesammelte Schriften. […] hrsg. von G.[eorg] B.[enjamin] Mendelssohn. Bd. 3. Leipzig 1843, S. 177–202. – Neue Ausgabe 1863. 6) Moses Mendelssohn’s Schriften zur Philosophie, Aesthetik und Apologetik. […] hrsg. von Moritz Brasch. Bd. 2. Leipzig 1880 (Nachdruck 1968), S. 473–500. – 21881, neue Auflage 1892. 7) Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. 8: Schriften zum Judentum II. Bearb. von Alexander Altmann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 1–25 (dazu S. XIII–XXIII: Einleitung, S. 233-236: Lesarten, S. 243-259: Anmerkungen). 8) Moses Mendelssohn: Schriften über Religion und Aufklärung. Hrsg. von Martina Thom. Berlin 1989, Darmstadt 1989,

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S. 323–349 (dazu S. 515 f.: Erläuterungen, S. 523 f.: Sachanmerkungen). 9) (dasselbe wie 1, Mikrofiche-Ausgabe des Exemplars der Universitätsbibliothek München) Bibliothek der deutschen Literatur. München 1991, B. 20/F. 9093–9094. 10) Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Vorrede zu Manasseh Ben Israels »Rettung der Juden«. Nach den Erstausgaben neu ediert von David Martyn (Aisthesis Archiv, Bd. 1). Bielefeld 2001, S. 7–30 (dazu S. 156–158: Zu dieser Ausgabe, S. 161–163: Erläuterungen).

Niederländische Übersetzung 11) Menasseh ben Israel de Verlossing der Jooden, uit het Engelsch vertaald en met een voorreden verrykt door Moses Mendelssohn […]. ’s Gravenhage 1782.

Englische Übersetzungen 12) Jerusalem. A treatise on ecclesiastical authority and Judaism. Transl. by M.[oses] Samuels. 2 Bde. London 1838, Bd. 1, S. 75–116. 13) Jerusalem and Other Jewish Writings. Transl. by Alfred Jospe. New York 1969. (Konnte nicht beschafft werden.) 14) (dasselbe wie 12, Nachdruck) Bristol 2002. (Konnte nicht beschafft werden.)

B. Entwurf zu Jerusalem Der Entwurf zu Jerusalem gibt den ersten Abdruck wieder (JubA Bd. 8, S. 95 f.).

Zur Textgrundlage

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C. Jerusalem Bei der Suche nach der geeigneten Vorlage für Jerusalem zeigten sich einige Schwierigkeiten. Unter einem und demselben Titelblatt (Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Von Moses Mendelssohn. Mit allergnädigsten Freyheiten. Berlin, bey Friedrich Maurer, 1783.) verbergen sich drei verschiedene Drucke, die hier als A, B und C bezeichnet werden. A) Merkmale: Die ersten drei Zeilen enden mit den Wörtern: geist-, kirchliches, gesellschaftlichen. – Exemplare von A befinden sich in der UB Bonn, der ULB Halle und in der StaBi München (Bibliographie Nr. 13). B) Identisch mit A, nur daß sich am Ende eine redaktionelle Notiz befindet. Sie lautet: »Verbesserungen: Im 2ten Abschn. S. 12. Z. 20. lies Anspruch st. Augenschein. – – S. 15. in der Anmerk. Z. 1. lies der Vater st. dem Vater.« – Exemplare von B befinden sich in der StaBi zu Berlin (Mendelssohn-Archiv), in Paris (Bibliographie Nr. 10) und in Privatbesitz (Dr. Claude Weber, Luxembourg). C) Merkmale: Die ersten drei Zeilen enden mit den Wörtern: und, kirchli-, gesellschaft-. Die Liste der Korrigenda ist hier ebenfalls enthalten. – Exemplare von C befinden sich in der StaBi zu Berlin (Abt. Historische Drucke), in der BN Luxembourg, in der SB Trier und in der UB Trier. Die natürlichste Erklärung der Unterschiede ist: Noch während des Druckes der ersten Ausgabe (A) wurde bei dem restlichen Teil der Auflage auf der letzten Seite die erwähnte Notiz ergänzt, so daß B entstand. Danach scheint der Absatz des Buches so groß gewesen zu sein, daß der Verlag es im selben Jahr komplett neu setzen ließ, allerdings unter dem ursprünglichen Titel. Rätselhafterweise behält dieser Druck (C) sowohl den Paginierungsfehler von A/B (S. 78 ist als »87« paginiert) als auch die Schlußnotiz von B bei, die man ja hätte weglassen können. Aber die beiden Korrigenda wurden nicht ausgeführt. Statt dessen wurden fast alle Druckfehler von A/B korrigiert. Allerdings wurden neue Druckfehler in so großer Anzahl erzeugt, daß C als Grundlage der vorliegenden Ausgabe aus-

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scheiden mußte. Hierfür wurde wie von Altmann (Nr. 11) und Martyn (Nr. 14) A/B benutzt, wobei die oben zitierte Notiz entfernt und die Korrigenda ausgeführt wurden. – Altmann (JubA Bd. 8, S. 238) hat offensichtlich die drei Drucke durcheinandergebracht, falls nicht doch ein vierter Druck existieren sollte (vgl. Martyn, S. 158).

Deutsche Ausgaben 1) Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Von Moses Mendelssohn. Berlin 1783. 2) (dasselbe) Frankfurt und Leipzig 1787, 1791. 3) Moses Mendelssohn’s sämmtliche Werke. Bd. 5. Ofen 1819. 4) Moses Mendelssohns sämmtliche Werke. Bd. 3. Rödelheim 1828. (Nachdruck von 3.) 5) Moses Mendelssohn’s sämmtliche Werke. Ausgabe in Einem Bande als National-Denkmal. Hrsg. von Franz Gräffer. Wien 1838, S. 217–291. 6) Moses Mendelssohn’s gesammelte Schriften. […] hrsg. von G.[eorg] B.[enjamin] Mendelssohn. Bd. 3. Leipzig 1843, S. 255–362. – Neue Ausgabe 1863. 7) Moses Mendelssohn: Phädon oder Ueber die Unsterblichkeit der Seele. […] Jerusalem oder Ueber religiöse Macht und Judentum. […] hrsg. von Arnold Bodek (Bibliothek der Deutschen Nationalliteratur des 18. und 19. Jahrhunderts, Bd. 28). Leipzig 1869, S. 121–208. – Neue Ausgabe 1889. 8) Moses Mendelssohn’s Schriften zur Philosophie, Aesthetik und Apologetik. […] hrsg. von Moritz Brasch. Bd. 2. Leipzig 1880 (Nachdruck 1968), S. 351–471. – 21881, 1892. 9) Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (Weltbücher. Eine jüdische Schriftenfolge, Bd. 1–2). Berlin 1919. 10) (dasselbe wie 1, Nachdruck) (Aetas Kantiana, Bd. 181) Brüssel 1868. 11) Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausga-

Zur Textgrundlage

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be. Bd. 8: Schriften zum Judentum II. Bearb. von Alexander Altmann. Stuttgart-Bad Cannstatt 1983, S. 99–204 (dazu S. XXIII–XCI: Einleitung, S. 237 f.: Lesarten, S. 278–366: Anmerkungen). 12) Moses Mendelssohn: Schriften über Religion und Aufklärung. Hrsg. von Martina Thom. Berlin 1989, Darmstadt 1989, S. 351-458 (dazu S. 516: Erläuterungen, S. 524-527: Sachanmerkungen). 13) (dasselbe wie 1, Mikrofiche-Ausgabe des Exemplars der Staatsbibliothek München) Bibliothek der deutschen Literatur. München 1991, B. 20/F. 9094. 14) Moses Mendelssohn: Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum. Vorrede zu Manasseh Ben Israels »Rettung der Juden«. Nach den Erstausgaben neu ediert von David Martyn (Aisthesis Archiv, Bd. 1). Bielefeld 2001, S. 31–136 (dazu S. 137–155: Nachwort, S. 156–160: Zu dieser Ausgabe, S. 163–171: Erläuterungen).

Italienische Übersetzungen 15) Gerusalemme ovvero Podestà ecclesiastica et del Giudaismo. Triest 1790. 16) Gerusalemme, o sea del poste religioso e del Juidaisme. Triest 1799. 17) Jerusalem, ovvero Sul potere religioso e il giudaismo, a cura di Gennaro Auletta. Neapel 1990.

Englische Übersetzungen 18) Jerusalem. A treatise on ecclesiastical authority and Judaism. Transl. by M.[oses] Samuels. 2 Bde. London 1838, Bd. 2. 19) Jerusalem. A treatise on religious power and Judaism. Transl. by Isaac Leeser. Philadelphia 5612 [=1852]. 20) Jerusalem and Other Jewish Writings. Transl. by Alfred Jospe. New York 1969.

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21) Jerusalem or on Religious Power and Judaism. Transl. by Allan Arkush. Introduction and Commentary by Alexander Altmann. Hanover, London 1983. 22) (dasselbe wie 18, Nachdruck) Bristol 2002.

Hebräische Übersetzungen 23) (übers. von A[braham] B[är] Gottlober) Schitomir 1867. 24) (übers. von Wladimir [J. C.] Fedorow [Grünberg]. Hrsg. von Perez ben Moses Smolensky) Wien 5636 [=1876]. 25) (mit einer Einleitung von Nathan Rotenstreich) Ramat Gan 1947. Französische Übersetzung 26) Jérusalem ou pouvoir religieux et judaïsme. Préface d’Emmanuel Levinas. Texte traduit, présenté et annoté par Dominique Bourel. Paris 1982. – Englische Übers. des Vorworts in: Emmanuel Levinas: In the Time of the Nations, transl. by Michael B. Smith. London 1994, S. 136–145.

Spanische Übersetzung 27) Jerusalem o Acerca de poder religioso y judaísmo. Edición bilingüe, introd., trad. y notas de José Monter Pérez (Textos y documentos, Bd. 9). Barcelona 1991.

ZUR TEXTGESTALTUNG

I. a) Um nicht den Lautstand der Vorlage zu verändern, wurden beibehalten: 1) altertümlicher Vokalgebrauch: kömmt, gesundeste, Hülfe, würken (neben ›wirken‹), religiose (neben ›religiösen‹), güldenen, darbeut, stund. 2) das Flexions-e in der 3. Person Singular und der 2. Person Plural des Präsens: bemühet, siehet, drohet, habet, wisset usw. 3) die Synkope des e: aufgeklärtern, äußern, dunkeln usw.; die Apokope des e: Mühwaltung, Lehr (die Vorlage hat auch schon ›Lehre‹). 4) die starke Deklination der Adjektive und des unbestimmten Pronomens ›andere(r, -s)‹: diese unvollkommene Pflichten, ihre positive Rechte, keine andere Pflichten usw. Beibehalten wurde auch die ältere Genitiv-endung -es (heute -en): abgehärtetes Sinnes, unmenschliches Herzens, sowie der Dativ ›niemanden‹. I. b) Beibehalten wurde auch: 5) die Zusammenschreibung (philosophischpolitischer, nutzlosscheinendsten, allzutief, Allzuvieles usw.) und die Trennung (gegen einanderhalten usw.). Beibehalten wurde auch das Nebeneinander von ›so gar‹ und ›sogar‹, von ›je her‹ und ›jeher‹, von ›wie viel‹ und ›wieviel‹. 6) die uneinheitliche Groß- und Kleinschreibung von ›statt finden‹ neben ›Statt finden‹. 7) der häufige Gebrauch des Kommas außer an einigen mißverständlichen Stellen.

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II. Textänderungen. Um einer breiteren Leserschaft die Lektüre zu erleichtern, wurde der Text modernisiert. 1) Die als Dehnungszeichen dienende Vokalverdopplung wurde aufgehoben (Waaren, Seegen, Heerde wurden zu Waren, Segen, Herde usw.) oder ergänzt (Auslerung, lerer, Wage wurden zu Ausleerung, leerer, Waage usw.). 2) ey wurde durchgängig zu ei (Freyheit, Beysein wurden zu Freiheit, Beisein usw.). 3) e und ä wurden der modernen Orthographie angeglichen: Erwegung, eingeschrenkte, zugezehlt, wurden zu Erwägung, eingeschränkte, zugezählt; Gränzen, ächten wurden zu Grenzen, echten. Mit ›überschwänglich‹ entspricht der Text der neuesten Rechtschreibung. 4) Das äu wurde modernisiert. Aus Verläumdung, läugnet wurden Verleumdung, leugnet usw. 5) i und ie wurden der modernen Orthographie angeglichen: giebt, gieng wurden zu gibt, ging; disputirt, replizirt wurden zu disputiert, repliziert usw. – ›wider‹ im Sinne von ›noch einmal‹ wurde zu ›wieder‹; ›wieder‹ im Sinne von ›gegen‹ wurde zu ›wider‹. 6) Konsonantisches i wurde zu j: Subiekte, ienes wurden zu Subjekte, jenes. 7) Die im Anlaut großgeschriebenen Umlaute wurden modernisiert: Uebel, Ueber, Oeffentliche wurden zu Übel, Über, Öffentliche usw. 8) Der Gebrauch des Dehnungs-h wurde der modernen Orthographie angeglichen: gebohren, Willkühr, Mährchen wurden zu geboren, Willkür, Märchen. Andererseits wurden nam, Warheit, pralen, Pful zu nahm, Wahrheit, prahlen, Pfuhl usw. 9) th wurde zu t in Fällen wie den folgenden: Irrthum, That, Werth usw. 10) k, ck und kk wurden modernisiert: Glük, dancket, Entdekkung, wurden zu Glück, danket, Entdeckung usw. 11) c wurde zu k oder z: Cultur, medicinische wurden zu Kultur, medizinische usw.

Zur Textgestaltung

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12) zz wurde zu tz (ersezzen wurde zu ersetzen usw.) und tz wurde zu z (Reitz, Geitz wurden zu Reiz, Geiz usw.). 13) Die Orthographie der s-Laute wurde modernisiert: Erkenntniß, überdrüßig, blossen, weis wurden zu Erkenntnis, überdrüssig, bloßen, weiß usw. 14) Die Konsonanten wurden in Fällen wie den folgenden verdoppelt: Dumheit, kan, könte wurden zu Dummheit, kann, könnte usw. Andererseits wurde die Doppelkonsonanz vereinfacht: Bischöffe, irrdische, Jüdinn, gesammte wurden zu Bischöfe, irdische, Jüdin, gesamte usw. 15) Modernisierung des d, t und dt: Entzweck, todten, Schwerdt, Brod wurden zu Endzweck, toten, Schwert, Brot. 16) Aus ›fodern‹ wurde ›fordern‹ (sonst in der Vorlage immer so). 17) Modernisiert und vereinheitlicht wurden ›allmählig‹ und ›mannichfache‹. 18) Der mit ›zu‹ erweiterte Infinitiv wurde in den beiden Fällen zusammengeschrieben, wenn 1. falsche Betonungen möglich waren (zu zusprechen, zu zulegen, zu zusenden, zu zubringen wurden zusammengeschrieben) oder wenn 2. Äquivokationen drohten (um zu stürzen, fest zu setzen wurden zusammengeschrieben). Aus ›zu dem‹ wurde ›zudem‹, um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, ebenso wurde aus ›blos stellen‹ ›bloßstellen‹ und aus ›wohl thun‹ ›wohltun‹. Auch die Konjunktionen insoweit, sobald, solange, sooft, sosehr, soviel, sowohl, wenngleich wurden zusammengeschrieben (so wie das gelegentlich auch in der Vorlage geschehen ist), um sie von den ähnlich klingenden adverbialen Fügungen zu unterscheiden. 19) Fehlender Wortzwischenraum vor großgeschriebenen Wörtern (z. B. ›freywilligeUrsache‹) wurde stillschweigend ergänzt. 20) Offensichtlich fehlerhafter Seitenumbruch wurde stillschweigend korrigiert, z. B. beginnt die S. 27 des zweiten Abschnitts mit ›(An-)händer‹; die Kustode auf S. 26 hat aber das richtige ›hänger‹. 21) Die fehlerhafte Paginierung von Teil I, S. 78 (87) wurde stillschweigend korrigiert.

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22) Heutzutage ist das ehemalige Abkürzungszeichen für ›und so weiter‹ in keinem Zeichensatz mehr vorhanden, so daß es durch ›etc.‹ ersetzt werden mußte. 23) Die am Außenrand der Kolumne stehenden Seitenzahlen geben die Paginierung der zugrundegelegten Drucke wieder. Senkrechte Linien | im Text kennzeichnen den Seitenwechsel. 24) Ziffern am Innenrand verweisen (in Lesereihenfolge) auf die Anmerkungen des Herausgebers; Asterisken * am Innenrand verweisen auf Lesarten. Beides findet sich am Ende des Bandes.

| VORREDE.

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Dank sei es der allgütigen Vorsehung, daß sie mich am Ende meiner Tage noch diesen glücklichen Zeitpunkt hat erleben lassen, in welchem die Rechte der Menschheit in ihrem wahren Umfange beherziget zu werden anfangen. Wenn bisher von Duldung und Vertragsamkeit unter den Menschen gesprochen ward; so war es immer die schwächere, bedrückte Partei, die sich unter dem Schutze der Vernunft und der Menschlichkeit zu retten suchte. Der herrschende Teil hatte entweder für beide keinen Sinn, oder stützte sich auf die leider! allzu gemeine Erfahrung, daß der schwächere Teil, an allen Orten, wo er Macht und Gelegenheit dazu hat, es nicht besser machen würde, und gründete hierauf den Argwohn, daß man ihm nur das Heft aus den Händen zu winden su | che, um die Spitze wider ihn selbst zu kehren. Man IV schien nicht zu überlegen, daß dieser Argwohn notwendig Haß und Zwiespalt unter den Menschen verewigen müsse, und daß der Geist der Versöhnung, sowohl als die Liebe, vom stärkern Teile die ersten Schritte fordert. Dieser muß sich seiner Überlegenheit entäußern, und anbieten, wenn der schwächere Teil Zutrauen gewinnen, und erwidern soll. Ist es Zweck der Vorsehung, daß der Bruder den Bruder lieben soll, so ist es offenbar die Pflicht des Stärkern, den ersten Antrag zu tun, die Arme auszustrecken, und, wie August zu rufen: Laß uns Freunde sein! – – Was aber auch über Toleranz bisher geschrieben und gestritten ward, ging bloß auf die drei im R R. begünstigte Religionsparteien, und höchstens auf einige Nebenzweige derselben. An Heiden, Juden, Mahometaner und Anhänger der natürlichen Religion ward entweder gar nicht oder höchstens nur in der Absicht gedacht, um die Gründe für die Toleranz problematischer zu machen. Nach euern Grundsätzen, sprachen die Widersacher derselben, müßten wir auch Juden und Naturalisten nicht nur hegen und dulden; sondern auch an | allen Rechten und Pflichten der V Menschheit Teil nehmen lassen; und mitleidig war es anzusehen,

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Manasse ben Israel: Rettung der Juden

wie sich die Anhänger derselben winden und krümmen mußten, um dieser Schwierigkeit aus dem Wege zu gehen. – Der Fragmentist war, soviel mir bekannt ist, in Deutschland der erste Schriftsteller, der die Rechte der Duldung auch für Naturalisten forderte. Lessing und Dohm, jener als philosophischer Dichter* und dieser als philosophischer Staatskundiger**, haben den großen Zweck der Vorsehung, die Bestimmung des Menschen und die Gerechtsame der Menschheit im Zusammenhange gedacht und ein bewundernswürdiger Monarch ist es, der nicht nur zu eben der Zeit dieselben Grundsätze in ihrem ganzen Umfange durchgedacht, sondern auch seinem weitumfassenden Wirkungskreise gemäß, einen Plan entworfen hat, zu dessen Ausführung mehr als menschliche Kräfte zu gehören scheinen, – und nunmehr zu Werke schreitet. Von den Kabinetern der Großen, und von allem, was auf dieselbe Einfluß hat, bin ich allzuweit entfernt, um an diesem großen VI | Geschäft auch nur den mindesten Teil nehmen, und mitwürken zu können. Ich lebe in einem Staate, in welchem einer der weisesten Regenten, die je Menschen beherrscht haben, Künste und Wissenschaften blühend, und vernünftige Freiheit zu denken so allgemein gemacht hat, daß sich ihre Wirkung bis auf den geringsten Einwohner seiner Staaten erstrecket. Unter seinem glorreichen Zepter habe ich Gelegenheit und Veranlassung gefunden, mich zu bilden, über meine und meiner Mitbrüder Bestimmung nachzudenken, und über Menschen, Schicksal und Vorsehung, nach Maßgabe meiner Kräfte, Betrachtungen anzustellen. Aber von allen Großen und ihrem Umgange bin ich stets entfernt gewesen. Ich habe jederzeit im Verborgenen gelebt, niemals Antrieb oder Beruf gehabt, mich in die Händel der würksamen Welt einzumischen, und mein ganzer Umgang hat sich von je her bloß auf den Zirkel einiger Freunde eingeschränkt, die mit mir ähnliche Wege gegangen sind. In dieser dunklen Ferne stehe ich noch da, und erwarte mit kindlicher Sehnsucht, was die allweise und allgütige Vorsehung aus diesem Allen will werden lassen. * Nathan der Weise. ** Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden.

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| Unterdessen mache ich mir das Vergnügen mit Herrn Dohm

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über die Gründe nachzudenken, die der Menschenfreund hat, die bürgerliche Aufnahme meiner Mitbrüder zu begünstigen, über die mancherlei Schwierigkeiten, die sich dabei finden, und vielleicht zum Teil von Seiten der zu bildenden Nation selbst in den Weg gelegt werden dürften; und diese mit den Vorteilen zu vergleichen, die dem Staate zuwachsen werden, dem es zuerst gelingen wird, diese eingebornen Kolonisten zu seinen Bürgern zu machen, und eine Menge von Händen und Köpfen, die zu seinem Dienste geboren sind, auch zu seinem Dienste anzustrengen. – Als philosophischpolitischer Schriftsteller, dünkt mich, hat Herr Dohm die Materie fast erschöpft, und nur eine sehr geringe Nachlese zurück gelassen. Seine Absicht ist, weder für das Judentum, noch für die Juden eine Apologie zu schreiben. Er führet bloß die Sache der Menschheit, und verteidiget ihre Rechte. Ein Glück für uns, wenn diese Sache auch zugleich die unserige wird, wenn man auf die Rechte der Menschheit nicht dringen kann, ohne zugleich die unserigen zu reklamieren. Der Weltweise aus dem 18ten Jahrhunderte hat sich über den | Unterschied der Lehren und Meinungen VIII hinweggesetzt, und in dem Menschen nur den Menschen betrachtet. Man vergleiche mit diesem, was ein Rabbiner des 17ten Jahrhunderts, der die Sache seiner Nation vor den Augen des englischen Parlaments führet, zu ihrer Verteidigung vorbringet, und durch welche Gründe er die Nation bewegt, seine Mitbrüder in England aufzunehmen. Man weiß, daß die Juden zu Eduards I. Zeiten aus England verjagt worden sind, und nicht eher, als unter Cromwell die Freiheit erhielten, wieder dahin zu kommen. R. Manasseh war es, der ihnen diese auswürkte. Er war ein Mann von vieler rabbinischer Gelehrsamkeit und auch andern Wissenschaften, und von einem sehr brennenden Eifer für das Wohl seiner Mitbrüder. Er erhielt zu Amsterdam, allwo er als Chacam der Portugiesischen Judenschaft lebte, die nötigen Reisepässe, und ging, in Begleitung einiger seiner Nation nach London, um die Sache seines Volks bei dem Protektor, bei dem er wohlgelitten war, und bei dem Parlamente zu unterstützen. Er fand aber mehr Schwierigkeit, als er sich vorstellte, und diesen Aufsatz schrieb er zu einer Zeit, da er die Hoffnung in seinem Geschäfte | glücklich IX

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Manasse ben Israel: Rettung der Juden

zu sein, fast aufgegeben hatte. Endlich aber gelang es ihm dennoch, und die Juden wurden unter leidlichen Bedingungen wieder aufgenommen. Dieser Brief des R. Manasseh findet sich in einer periodischen Sammlung verschiedener Aufsätze, die im Jahr 1708 unter dem Titel: the Phenix, or Revival of scarce and valuable Pieces, no where to be found but in the Closets of the Curious zu London in 8. herausgekommen ist. Um eben dieselbe Zeit schrieb auch ein gewisser Edward Nicholas, Apologia por los Judios, und Toland soll auch zu ihrer Verteidigung geschrieben haben. Die Schrift des Rabbi hat mir jetzt, da so viel und mancherlei von und über die Juden gesprochen wird, der Übersetzung nicht unwert geschienen. Merkwürdig ist es, zu sehen, wie das Vorurteil die Gestalten aller Jahrhunderte annimmt, uns zu unterdrücken, und unserer bürgerlichen Aufnahme Schwierigkeiten entgegen zu setzen. In jenen abergläubischen Zeiten waren es Heiligtümer, die wir aus Mutwillen schänden; Kruzifixe, die wir durchstechen, und bluten machen; Kinder, die wir heimlich beschneiden, und zur AuX gen | weide zerfetzen; Christenblut, das wir zur Osterfeier brauchen; Brunnen, die wir vergiften u. s. w. Unglaube, Verstocktheit, geheime Künste und Teufeleien, die uns vorgeworfen, um derentwillen wir gemartert, unseres Vermögens beraubt, ins Elend gejagt, wo nicht gar hingerichtet worden sind. – Itzt haben die Zeiten sich geändert; diese Verleumdungen machen den erwünschten Eindruck nicht mehr. Itzt ist es gerade Aberglaube und Dummheit, die uns vorgerückt werden; Mangel an moralischem Gefühle, Geschmack und feinen Sitten; Unfähigkeit zu Künsten, Wissenschaften und nützlichem Gewerbe, hauptsächlich zu Diensten des Krieges und des Staates; unüberwindliche Neigung zu Betrug, Wucher und Gesetzlosigkeit, die an die Stelle jener gröbern Beschuldigungen getreten sind, uns von der Anzahl nützlicher Bürger auszuschließen, und aus dem mütterlichen Schoße des Staats zu verstoßen. Vormals gab man sich um uns alle ersinnliche Mühe, und machte mancherlei Vorkehrungen, uns nicht zu nützlichen Bürgern, sondern zu Christen zu machen, und da wir so hartnäckig und verstockt waren, uns nicht bekehren zu lassen; so XI war dieses Grundes genug, uns als eine un | nütze Last der Erde zu

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betrachten, und dem verworfenen Scheusale alle Greuel anzudichten, die ihn dem Haß und der Verachtung aller Menschen bloßstellen konnten. Itzt hat der Bekehrungseifer nachgelassen. Nun werden wir vollends vernachlässiget. Man fährt fort, uns von allen Künsten, Wissenschaften und andern nützlichen Gewerben und Beschäftigungen der Menschen zu entfernen; versperret uns alle Wege zur nützlichen Verbesserung, und macht den Mangel an Kultur zum Grunde unserer fernern Unterdrückung. Man bindet uns die Hände, und macht uns zum Vorwurfe, daß wir sie nicht gebrauchen. Mit Recht hat Dohm jene unmenschliche Anklagen der Juden, die die Merkmale der Zeiten und der Mönchszellen an sich tragen, in denen sie ausgeheckt worden, kaum einer flüchtigen Berührung gewürdiget. In den Augen der Leser, für die ein Dohm schreibt, können diese barbarische Beschuldigungen keinen Glauben finden, keiner ernsthaften Widerlegung bedürfen. Er hat sich also bloß darauf eingeschränkt, diese der Kultur und verbesserungsreichen Zeiten angemessenere Beschuldigungen zu bestreiten, und dem philosophischen Vorurteile philosophische Gründlich | keit entgegen zu setzen. Indessen hat doch die Vernunft und XII der Forschungsgeist unseres Jahrhunderts noch bei weitem nicht alle Spuren der Barbarei in der Geschichte vertreten. Manche Legende der damaligen Zeit hat sich erhalten, weil noch niemanden eingefallen ist, sie in Zweifel zu ziehen. Manche sind mit so gewichtigen Autoritäten belegt, daß nicht jeder die Stirn hat, sie geradezu für Legende und Verleumdung zu halten. Andere haben sich den Folgen nach noch immer erhalten; obgleich sie selbst schon lange nicht mehr geglaubt werden. Überhaupt ist die Verleumdung von so giftiger Art, daß sie immer einige Wirkung in den Gemütern zurückläßt, wenn auch ihre Unwahrheit entdeckt, und allgemein anerkannt wird. In so mancher lieben Stadt Deutschlands wird noch itzt kein Beschnittener, wenn er auch seinen Glauben verzollt hat, am hellen Tage ohne Bewachung gelassen, aus Beisorge, er möchte einem Christenkinde nachstellen, oder die Brunnen vergiften. Des Nachts hingegen wird ihm unter aller Bewachung nicht getrauet, wegen seines bekannten Umganges mit den bösen Geistern. Wem wohnet nicht aus der Branden-

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burgschen Geschichte bei, daß der Chur | fürst Joachim II. von seinem Leibarzt, dem Juden Lippold vergiftet worden sei? – Dieses ward so oft gesagt und von Chronikschreibern wiederholt, daß der vernünftigste Mann die Authentizität davon voraussetzen und die Geschichtssache für wahr halten mußte. Dank sei es dem Untersuchungsgeiste des Herrn Leibmedikus Möhsens,* der der Legende dennoch auf die Spur gekommen ist. An der ganzen Geschichte hat sich weiter nichts wahr befunden, als daß Churfürst Joachim II. gestorben, und daß ein Jude damals Lippold geheißen. Übrigens war Lippold kein Arzt, und der Churfürst ist nichts weniger, als vergiftet worden, wie Herr Möhsen mit Beweisen belegt, die über alle Bedenklichkeit hinweg sind. Lippold war des Churfürsten Kammerdiener und Münzmeister; zwei Bedienungen am Hofe, die einem Juden selten viel Freunde gewinnen. Der Churfürst starb, wie alle Urkunden und Originalprotokolle einstimmig aussagen, an einem offenen Schaden am Fuße, davon der Ausfluß durch eine plötzliche Erkältung gehemmt worden. XIV Der Kammerdiener und Münzmeister wurde der | Untreue in seinen Rechnungen beschuldiget, und in Verhaft genommen. Als die Untersuchung aber hierin seine Unschuld bewies, und seine Loslassung nicht länger aufgeschoben werden konnte, nahm man zu ganz anderen Anklagen seine Zuflucht. Einige von der Bürgerwache wollten gehört haben, wie die Frau des Lippold in einem Zanke, den sie mit ihm gehabt, zu ihm in der Bosheit gesagt »wenn der Churfürst wüßte, was du für ein böser Schelm bist, und was du für Bubenstücke mit deinem Zauberbuche kannst, so würdest du schon längst kalt sein« und Lippold wurde den Kriminalrichtern übergeben. Sehr richtig ist, was Hr. M. bei dieser Gelegenheit zur Entschuldigung der Regenten der damaligen Zeiten bemerkt. »Die Fürsten hielten sich zu der Zeit gesichert, daß sie ihrer Regentenpflicht ein Genüge geleistet, wenn sie die Anklagen und Untersuchungen rechtsverständigen Räten überließen, und diese glaubten nach den Gesetzen zu verfahren, wenn sie die Buchstaben des Gesetzes erfüllten«; auf solche Weise sind freilich XIII

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barbarische Gesetze weit schädlicher, als gar keine Gesetze. Lippold ward, nach K. Karls V. Halsgerichtsordnung §. 44. dem Henker über | geben, der ihn peinlich verhören sollte, und Meister XV Balzer, der Scharfrichter, machte seine Sache so gut, daß der Delinquent alles eingestand, was man von ihm wissen wollte. Er hatte durch Zauberei die Gunst des Fürsten zu gewinnen gewußt, und ihn am Ende vergiftet. Er weigerte sich zwar, dieses Bekenntnis öffentlich zu wiederholen; allein auch dazu wußte ihn sein peinlicher Halsrichter zu bringen. »Er ward hierauf an verschiedenen Orten zehn mal mit glühenden Zangen gezwickt, und auf dem Neuenmarkte zu Berlin, auf einem dazu erbaueten Gerüste, an Armen und Beinen mit vier Stößen gerädert, in vier Stücken zerhauen, und das Eingeweide nebst dem Zauberbuche verbrannt.« Eine große Maus,* die unter dem Gerüste hervor kam, und in welcher niemand den Zauberteufel verkennen konnte, benahm den Zuschauern allen Überrest des Zweifels, daß dem Verurteilten Recht geschehen. Diese Verbrechen des Lippolds hatten, wie Hr. M. weiter erzählet, auf das Schicksal der ganzen Judenschaft in der Mark | einen großen Einfluß. Sie wurden angeklagt, XVI und nach Urteil und Recht verdammet. »Sie mußten ihre Güter verkaufen, den Gerichten die Inventarien, Untersuchungskosten und Abzugsgelder bezahlen, und das Land räumen.« – Und so ward die Nachricht von Hand zu Hand überliefert, und erhielt sich noch in unseren erleuchteten Tagen, die Juden haben den Churfürst Joachim II. vergiftet, seien dessen überführt, und zur Strafe aus dem Lande gejagt worden. Und selbst die Aufklärung unserer bessern Tage erstreckt sich noch lange so weit nicht, daß diese gröbere Anklagen gänzlich ohne Wirkung sein sollten. Es ist nicht lange her, daß die Judenschaft zu Posen beschuldigt wurde, sie hätte ein Christenkind, zum Gebrauch der Osterfeier ermordet. Zwei fromme Rabbinen wurden als Häupter der Gemeine vor Gericht gezogen, eingekerkert, nach der dasigen Halsgerichtsordnung gemartert. Ich verschone das menschliche Gefühl meiner Leser mit der umständ*

Hr. M. führet seine Gewährsmänner an, die diesen wichtigen Umstand der Nachwelt aufbehalten haben.

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lichen Erzählung dieser Martern. Sie waren die schrecklichsten, die sich die Barbarei je erlaubt hat. Allein die Geplagten waren standhaft genug, kein Bekenntnis von sich erpressen zu lassen; ob XVII sie | gleich so lange gepeiniget wurden, bis sie unter den Händen der Furien den Geist aufgaben. – Barmherziger Gott! und die Männer waren so unschuldig an der Ermordung des Kindes, wenn ja eine Mordtat begangen worden, woran noch sehr zu zweifeln ist – so schuldlos, als ich und meine Leser es sind. – Die Gemeine zu Posen hat noch itzt an den unerschwinglichen Summen zu bezahlen, die sie damals aufnehmen mußte, teils Gerichtskosten zu bezahlen, teils schrecklichere Übel von sich abzuwenden. Noch vor wenigen Jahren würde dieselbe Geschichte in der Gegend von Warschau wiederholt worden sein, hätte nicht der weise König von Polen und einige aufgeklärte Magnaten zum Glücke den Lauf der dasigen Gerechtigkeit noch so lange gehemmet, bis es den Juden gelang, die Verleumdung an den Tag zu bringen. – Ich habe so manche einsichtsvolle und sonst nicht unbillig denkende Christen aus Polen und andern katholischen Ländern gesprochen, die sich noch immer von diesem Vorurteile wider meine Mitbrüder nicht völlig losmachen konnten. Sie beriefen sich immer auf die gesetzmäßige Form, nach welcher Prozesse XVIII dieser Art so oft geführt worden sind; auf die | Unbescholtenheit der Richter, die sie geführt haben, und auf das Bekenntnis der Verurteilten, das öfters den Umständen allzuangemessen sein und mit den übrigen Aussagen übereinstimmen soll, als daß es eine bloße Erdichtung, die ihnen die Marter eingegeben, gewesen sein könnte. Solche aufrichtige Gemüter können vielleicht durch die Gründe des Rabbi Manasse, und noch mehr durch den schrecklichen Reinigungseid, den er im Namen des ganzen Judentums ablegt, und den ich mit reinem Gewissen hier nachspreche, auf bessere Gedanken gebracht werden. Denn die wichtige Wahrheit kann nicht genug eingeschärft werden, daß barbarische Gesetzte desto schrecklichere Folgen haben, je gesetzmäßiger das Verfahren ist, und je strenger die Richter nach dem Buchstaben urteilen. Unweise Gesetze können nur durch Abweichungen; so wie Rechnungsfehler nur durch andere Rechnungsfehler wieder gutgemacht werden. Calas und Waser sind vielleicht von unbescholte-

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nen Richtern, nach einer sehr gesetzlichen Form hingerichtet worden. Indessen sind alle Gründe und Eidschwüre fruchtlos, wenn der Gegner nicht hören will; wenn sich Nebenabsichten der Überfüh | rung widersetzen, oder wenn das Gemüt so sehr von Vorur- XIX teilen befangen ist, daß man den Gegengründen nicht die erforderliche Aufmerksamkeit zuwenden mag. Man kann einem verjährten Vorurteile alle Wurzeln durchschneiden, ohne ihm die Nahrung gänzlich zu entziehen. Es saugt solche allenfalls aus der Luft. Hat nicht ein Rezensent in den Göttingschen Anzeigen, bei Gelegenheit der Dohmschen Schrift, Beschuldigungen wider uns, wahrlich wie aus der Luft gegriffen, die man keinem Schriftsteller unseres Jahrhunderts, am wenigsten, einem in diesem wahren Sitze der Musen lebenden Gelehrten zutrauen sollte? – Er trägt so gar kein Bedenken, uns jetztlebenden Israeliten die Unart vorzuwerfen und anzurechnen, deren sich unsere Vorfahren in der Wüsten schuldig gemacht haben; ohne zu bedenken, daß aller der gerügten Untugend ungeachtet, der gesetzgebende Gott unserer Väter, oder wie die Modesprache lieber will, der Gesetzgeber Moses, es gleichwohl möglich gefunden, diesen rohen Haufen zu einer ordentlichen, blühenden Nation umzubilden, die erhabene Gesetze und Verfassung, weise Regenten, Feldherren, Richter und glückliche Bürger aufzuweisen hat: ja ohne | in sich zu gehen, XX und zu bedenken, was wohl seine eigene Vorfahren, in nördlichen Einöden, um eben diese Zeit für Kultur gehabt haben mögen, aus denen doch heutiges Tages Rezensenten in Göttingschen Anzeigen entsprungen sind. – Mit einem Worte, Vernunft und Menschlichkeit erheben ihre Stimme umsonst; denn graugewordnes Vorurteil hat kein Gehör. Wenn aber auch alle Vernunftgründe sich vereinigen, den Juden an den Rechten der Menschheit gleichen Anteil zuzusprechen, so wird dadurch nicht eingeräumt, daß sie in ihrer jetzigen dürftigen Verfassung, dem Staate nicht nützlich, oder daß ihre Vermehrung demselben wohl gar schädlich werden könnte. Auch hierüber verdienen die Gründe des Manasse in folgender Schrift in Erwägung gezogen zu werden, der doch zu seiner Zeit nichts anders, als eine sehr eingeschränkte Aufnahme in England, für

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seine Mitbrüder suchen konnte. Holland allein gibt ein Beispiel, das hierüber allen Zweifel benehmen kann. Noch niemals hat man sich daselbst über die Vermehrung der Juden beklagt; obgleich die Erwerbungsmittel ihnen daselbst eben so kärglich zugeXXI zählt, und ihre Freiheiten | fast so eingeschränkt sind, als in mancher Provinz Deutschlands. – »Ja, spricht man, Holland macht hier eine Ausnahme; denn es ist ein handelnder Staat, der also der handelnden Menschen nicht zu viel haben kann.« – Gut! Ich möchte aber wissen; ob die Handlung daselbst die Menschen, oder nicht vielmehr die Menschen die Handlung herbeigelockt haben? wie gehet es zu, daß so manche Stadt in Brabant und den Niederlanden, bei eben derselben, und vielleicht noch vorzüglichern Gelegenheit zur Handlung, der Stadt Amsterdam dennoch so sehr nachstehet? Warum drängen sich hier auf einem unfruchtbaren Boden, ja in einem von Natur unbewohnbaren Moraste, die Menschen so zusammen, bilden den öden Sumpf, durch Fleiß und Kunst, in einen Garten Gottes um, und erfinden sich Hülfsquellen zur glücklichen Subsistenz, über die wir erstaunen müssen? Nichts als Freiheit, Milde der Regierung, Billigkeit der Gesetze, und die offenen Arme, mit welchen sie die Menschen aller Art, und Kleidung, Meinung, Sitte, Gebrauch und Religion aufnehmen, und schützen, und machen lassen; nichts als diese VorXXII züge sind es, die in Holland den fast überreichen Se | gen, die Fülle des Guten hervorgebracht, darum es so sehr beneidet wird. Überhaupt, Menschen dem Staate unnützlich; Menschen, die in einem Lande nicht zu gebrauchen sind, dieses ist eine Sprache, die mir eines Staatsmannes unwürdig zu sein scheint. Die Menschen können mehr oder weniger nützlich sein; können so oder anders beschäftiget, die Glückseligkeit ihrer Nebenmenschen und ihre eigene mehr oder weniger befördern. Aber kein Staat kann die geringsten, nutzlosscheinendsten seiner Bewohner, ohne empfindlichen Nachteil, entbehren, und einer weisen Regierung ist kein Bettler zu viel, kein Krüppel völlig unbrauchbar. Hr. Dohm hat zwar im Eingange seiner Schrift versucht, den Punkt festzusetzen, den die Volksmenge in einem Lande nicht überschreiten darf, ohne das Land zu überfüllen, und schädlich zu werden. Mich dünkt aber, daß ein Gesetzgeber unter keinerlei Bedingung

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hierauf im mindesten Rücksicht zu nehmen habe; sicherlich ge* reicht jede Anstalt, die man dem Anwachs der Menschenmenge entgegensetzt, jede Maßregel, die man ergreift, der Vermehrung Einhalt zu tun, der Kultur der Einwohner, der | Bestimmung der XXIII Menschen und ihrer Glückseligkeit zu weit größerm Nachteil, als die zu besorgende Überfüllung. Man verlasse sich hierin auf die weise Einrichtung der Natur. Man lasse ihr ihren Lauf und lege ihr durch unzeitige Geschäftigkeit nur keine Hindernisse in den Weg. Die Menschen eilen dahin, wo sie ihr Auskommen finden; sie vermehren sich und drängen sich zusammen, wo ihre Tätigkeit freien Spielraum findet: die Bevölkerung nimmt zu, solange das Genie neue Erwerbungsmittel entdecken kann. Sobald die Quellen erschöpft sind, stehet sie von selbst stille, und wenn ihr das Gefäß von der einen Seite überfüllet; so läßt es von der andern Seite den Überfluß von selbst auslaufen. Ja, ich getraue mir zu behaupten, daß der Fall sich nie zuträgt, und daß niemals eine Ausleerung, oder Auswanderung des Volks geschehen, daran nicht die Gesetze, oder ihre Handhabung Schuld gewesen. Sooft Menschen in irgend einer Verfassung, Menschen schädlich werden, 25 liegt es bloß an den Gesetzen oder an ihren Verwesern. In einigen neuern Schriften findet man den Einwurf wiederholt, »die Juden bringen nichts hervor. Sie sind in ihrer jetzigen | Verfassung, weder Landbauer, noch Künstler und Handwerker, XXIV helfen also der Natur nicht in ihrem Hervorbringen, und geben auch ihren Produkten keine andere Form; sondern tragen und versetzen bloß die rohen oder verbesserten Erzeugnisse der Länder von einem Orte an den andern. Sie sind also lediglich Verzehrer, die den Erzeugern zu Last fallen müssen.« Ja, ein großer sonst einsichtsvoller Kopf hat letzthin* laut über den Mißbrauch ge* 27 klagt, daß der Hervorbringer so viele Zwischenhände zu versorgen, so viele unnütze Mäuler zu ernähren habe! Der gesunde Menschenverstand, meinet er, lehre schon, daß die Produkte der Natur und der Kunst verteuert werden müssen, je mehr Zwischenkäufer dazukommen, die solche nicht vermehren, und doch erhalten werden, also an denselben Anteil nehmen wollen. Er er26

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In den Ephemeriden der Menschheit

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teilet also den Staaten den Rat und die wohlmeinende Warnung, entweder die Juden nicht zu dulden, oder ihnen Landbau und Handwerke zu erlauben. Das Resultat mag herzlich gut gemeint sein; aber die Gründe sind schwach, die dem Verf. so einleuchtend und unwiderlegbar XXV schei | nen. Was heißt denn nach seinen Begriffen eigentlich Hervorbringer und Verzehrer? Wenn nur derjenige hervorbringet, der etwas Greifbares erzeugen hilft, oder durch seiner Hände Arbeit verbessert; so bestehet ja der weit wichtigste und größte Teil des Staats aus bloßen Verzehrern. Der ganze Lehr- und Wehrstand * bringet, nach diesen Grundsätzen nichts hervor; wenn nicht etwa die Bücher, die von jenem geschrieben werden, eine Ausnahme machen. Beim Nährstande selbst sind zuförderst Kaufleute, Lastträger, Land- und Wasserfahrer abzurechnen, und am Ende wird die Klasse der sogenannten Hervorbringer größtenteils aus Ackerknechten und Handwerksgesellen bestehen; denn die Landeigentümer und Meister pflegen selten mehr selbst Hand ans Werk zu legen. Sonach bestünde der Staat, außer jenem zwar achtungswerten, aber doch geringern Teil des Volks, aus Leuten, die durch ihrer Hände Arbeit die Produkte der Natur weder befördern, noch vervollkommen; also aus bloßen Verzehrern, und wie? also 28 auch aus unnützen Mäulern, die dem Hervorbringer zur Last werden? XXVI | Hier fällt die Ungereimtheit in die Augen, und da die Folgerung richtig ist so muß der Fehler in den Vordersätzen liegen. Und so ist es auch! Nicht bloß Machen; sondern auch Tun heißt hervorbringen. Nicht nur wer mit Händen arbeitet; sondern überhaupt, wer nur etwas tut, befördert, veranlasset, erleichtert, das seinen Nebenmenschen zum Nutzen oder Vergnügen gereichen kann, verdient den Namen des Hervorbringers, und er verdient ihn zuweilen um desto mehr, je weniger Bewegung ihr an seinen Extremitäten gewahr werdet. Mancher Kaufmann, der an seinem Pulte Spekulationen macht, oder auf seinem Ruhesessel Plane ent- * wirft, bringet im Grunde mehr hervor als der Arbeiter und Handwerksmann, der das mehreste Geräusch macht. Der Kriegsmann bringt hervor; denn er verschaffet dem Staate Ruhe und Sicherheit. Der Gelehrte bringt hervor; zwar selten etwas, das in die

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Sinne fällt, aber doch Güter, die wenigstens ebenso schätzbar sind; guter Rat, Unterricht, Zeitvertreib und Vergnügen. Nur in der Anwandelung einer übeln Laune kann einem weisen Manne, wie Rousseau, der Einfall entfahren, daß der Biscuitbäcker zu Paris mehr | hervorbringe, als die Akademie der Wissenschaften. XXVII Zur Glückseligkeit des Staats, so wie der einzelnen Menschen, gehören mancherlei sinnliche und übersinnliche Dinge, körperliche und geistige Güter, und wer zu deren Hervorbringung oder Vervollkommung, auf irgend eine mehr, oder entfernte, mittelbare oder unmittelbare Weise etwas beiträgt, der ist kein bloßer Verzehrer zu nennen; der ißt sein Brot nicht umsonst; sondern hat dafür hervorgebracht. Ich sollte glauben, dieses leuchte vielmehr dem gesunden Menschenverstande ein, und was insbesondere die Zwischenhände und ihr Verhältnis zum Hervorbringen und zum Verzehren betrifft: so getraue ich mir zu behaupten, daß sie für beide, für den Erzeuger sowohl als für den Verzehrer, nicht nur nicht nachteilig; sondern wenn der Mißbrauch verhindert wird, höchst nützlich und fast unentbehrlich sind; ja, daß durch ihre Vermittelung die Produkte brauchbarer, gemeinnütziger und auch wohlfeiler werden, und der Produzent dennoch mehr gewinne, und also in den Stand gesetzt werde, ohne übermäßige Anstrengung seiner Kräfte, bequemer und besser zu leben. Man stelle sich einen Arbei | ter XXVIII vor, der die rohe Materie zu seiner Kunstarbeit selbst von dem Landmanne abholen, und nachdem er sie veredelt hat, selbst dem Verzehrer zuführen muß; der dafür zu sorgen hat, daß er jene zu gewisser Zeit in hinlänglicher Menge anschaffe, und diese sooft sein Bedürfnis es erfordert, an denjenigen Mann bringe, der sie zu eben der Zeit braucht, und ihm abzunehmen veranlasset wird. Man vergleiche mit ihm den Arbeiter, dem der Zwischenhändler die rohe Materie in das Haus bringet, nach Maßgabe seines Bedürfnisses und seiner Umstände verkauft, vertauscht oder auf Glauben darreicht; der ihm die verbesserten Produkte abnimmt, und es seine Mühe und Sorge sein läßt, solche dem Verzehrer wiederum zur bequemen Zeit zuzuführen. Wie viel Zeit und Kräfte ersparet dieser nicht, die er seiner Kunst widmen kann; jener hingegen durch unnützes Herumreisen und Herumtrödeln und tau-

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send Abhaltungen und Zerstreuungen, zu denen er genötiget oder verführt wird, verschwenden muß. Wird dieser nicht ungleich mehr arbeiten; also mit eben der Anstrengung mehr hervorbringen, und also bessere Preise bewilligen und dennoch bequemer leXXIX ben können? Wird nicht dadurch die wahre | Industrie befördert, * und verdienet der Zwischenhändeler noch ein nutzloser Verzehrer genennt zu werden? – Diese Gründe für den Zwischenhändler im Kleinen, sind noch weit einleuchtender, wenn sie auf die Zwischenhand im Großen, auf den eigentlichen Kaufmann, der die Produkte der Natur und des Fleißes von Land in Land, Weltgegend in Weltgegend verführet und versetzt, angewendet werden. Dieser ist ein wahrer Wohltäter des Staats, des menschlichen Geschlechts überhaupt, und also nichts weniger, als ein unnützes Maul, das von dem Hervorbringer umsonst unterhalten werden muß. Ich habe vorausgesetzt, daß der Mißbrauch verhindert werde. Dieser bestehet hauptsächlich darin, daß gewinnsüchtige Zwischenhändler das Schicksal der Erzeuger in ihre Gewalt zu bringen wissen; daß sie suchen, Herren und Meister über die Preise der Waren zu werden; solche in den Händen der ersten Besitzer herabzusetzen, und in den ihrigen in die Höhe zu bringen. Dieses sind große Übel, die den Fleiß des Hervorbringers; so wie den Mut des Verzehrers zu Boden drücken, und denen durch Gesetze XXX und Polizei entgegen gearbeitet werden muß. | Zwar nicht geradezu durch Verbot, Ausschließung oder Hemmung; am wenigsten durch bewilligten oder begünstigten Allein- oder Vorkauf. Dergleichen Vorkehrungen befördern entweder die Übel noch, die man durch sie abzuwenden sucht, oder bringen welche hervor, die noch schädlicher sind. Man suche vielmehr alle Einschränkungen, soviel sich tun läßt, zu vermindern, die Monopolien, Vor- und Ausschließungsrechte aufzuheben, dem geringsten Aufkäufer mit dem größten Handlungshause gleiche Rechte und Freiheit zukommen zu lassen; mit einem Worte, die Konkurrenz unter den Zwischenhändlern auf alle Weise zu befördern; einen Wetteifer zwischen ihnen zu erregen, wodurch der Preis der Dinge im Gleichgewichte erhalten, der Kunstfleiß von der einen Seite aufgemuntert, und von der andern Seite jeder Verzehrer in den Stand

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gesetzt wird, den Fleiß seiner Nebenmenschen, ohne übermäßige Anstrengung, zu genießen. Der Verzehrer kann, ohne Üppigkeit, bequem leben, und der Künstler findet dennoch sein anständiges Auskommen. Nur durch Konkurrenz, unbeschränkte Freiheit und Gleichheit in den Rechten des Kaufs und Verkaufs sind diese Endzwecke zu | erreichen, und sonach ist der gemeinste Trödler XXXI und Aufkäufer, der geringste herumwandernde Jude, der den rohen Stoff von dem Landmanne zum Künstler, oder den bearbeiteten von diesem zu jenem bringet, zur Aufnahme des Landbaues, der Künste, Manufakturen und Handlung überhaupt von sehr beträchtlichem Nutzen. Zum Vorteil des Landmannes erhält er den rohen Stoff in seinem Werte, und zum Nutzen des Künstlers, so wie zur Aufnahme der Kunst sucht er die Produkte der Industrie in alle Winkel zu verbreiten, die Bequemlichkeiten des menschlichen Lebens brauchbarer und allgemeiner zu machen. Der geringste Handelsjude ist in dieser Betrachtung kein bloßer Verzehrer, sondern ein nützlicher Einwohner (ich darf nicht sagen, Bürger) des Staats, ein wirklicher Hervorbringer. Man sage nicht, ich sei ein parteiischer Sachwalter meiner Glaubensbrüder, und suche alles zu vergrößern, was zu ihrem Vorteil, oder zu ihrer Empfehlung gereichen kann. Ich berufe mich abermals auf Holland, und auf welches Land könnte man sich, wenn von Handlung und Industrie die Rede ist, füglicher berufen? Bloß durch Konkurrenz | und Wetteifer, durch uneinge- XXXII schränkte Freiheit und Gleichheit der Rechte aller Käufer und Verkäufer, wes Standes, Ansehens oder Glaubens sie auch sein mögen, bloß durch diese unschätzbare Vorzüge haben daselbst alle Dinge ihren Wert, der zwischen Käufer und Verkäufer nur um ein mäßiges unterschieden ist. Beide werden durch Mitwerber und Konkurrenten auf ein Verhältnis gestimmt, das ihnen zum gegenseitigen Vorteil gereicht. Ihr könnet nirgend so gut und so bequem, zu allen Zeiten des Jahres und des Tages, mit geringem Verluste alles kaufen und alles verkaufen, als zu Amsterdam. Über Verstattung der Autonomie und deren Verwaltung, davon Hr. Dohm S. 125 u. f. seiner Schrift redet, habe ich noch einige Anmerkungen zu machen, die man mir hieher zu setzen erlaube. Autonomie, die einer Kolonie verstattet werden soll, er-

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streckt sich entweder auf Zivilsachen, oder gehet die Religion und kirchliche Dinge an. Jene betreffen bloß das Mein und Dein unter den Gliedern der Kolonie. Hier kömmt alles auf Verträge an. Die Rechte des Eigentums und was davon abhänget, sind verXXXIII äußerliche Rechte, können durch freiwilligen Ent | schluß und Verabredung andern abgetreten und zugeeignet werden, und sobald dieses unter erforderlichen Bedingungen geschehen; so werden sie zum Eigentum desjenigen, dem sie übertragen sind, und können ihm ohne Ungerechtigkeit nicht entzogen werden. Hier kann man es allerdings auf das Übereinkommen und die Verträge der Kolonie unter sich ankommen lassen. Hält sie es für einen Vorzug, die Streitsachen ihrer Glieder unter sich, nach eigenen Gesetzen und Rechtsregeln entscheiden zu lassen; so kann ihr von Seiten der Regierung, offenbar ohne Schaden, nachgesehen werden. Da nun die Juden, wie Hr. Dohm gar richtig bemerkt, sowohl die schriftlichen Gesetze Moses, welche sich nicht auf Judäa und die ehemalige gerichtliche und gottesdienstliche Verfassung beziehen, als die durch mündliche Überlieferung erhaltene, oder durch richtige Argumentationen herausgebrachte Folgerungen, Erklärungen und Auslegungen derselben für göttliche Gebote halten; so kann ihnen vergönnt werden, ihre Glieder unter sich durch freiwillige Verträge zu verbinden, ihre Händel nach eigenen Gesetzen und Rechten auseinander setzen und entscheiden zu lassen. XXXIV | »Soll Entscheidung von jüdischen oder christlichen Richtern geschehen?« Ich antworte, von obrigkeitlichen Richtern. Gleichviel, ob sie der jüdischen, oder einer andern Religion anhängen. Sobald die Glieder des Staats, welcher Meinung in Religionssa- * chen sie auch zugetan sind, gleiche Rechte der Menschheit genießen; so kann auf diesen Unterschied nichts ankommen. Der Richter soll ein gewissenhafter Mann sein, und die Rechte verstehen, nach welchen er seinen Nebenmenschen Recht sprechen soll. Denke er in Religionssachen nach welcher Lehrmeinung er gut findet; wenn ihn die Obrigkeit zum Richteramte tüchtig findet, und einsetzet; so müssen seine Rechtssprüche gültig sein. Trauen wir doch unsere Gesundheit, unser Leben einem Arzte an, ohne auf den Unterschied der Religion zu sehen; warum nicht auch un-

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ser Vermögen einem Richter? Der gewissenhafte Arzt, dem seine Kunst wert ist, wird einen Verbrecher, der morgen hingerichtet werden soll, heute nach allen Regeln seiner Kunst behandeln und von einem Übel zu befreien suchen. Eben also wird der Richter, wenn er ein Mensch ist, seinen Nebenmenschen in Absicht auf die Güter dieses | Lebens Gerechtigkeit angedeihen lassen, sie mö- XXXV gen, seinen Grundsätzen nach, in jener Zukunft verdammt oder selig sein. Der angeführte göttingsche Rezensent meinet zwar, die Juden würden zu keinem christlichen Richter das Zutrauen haben, daß er ihre Gesetze verstehe. Herr Dohm hat aber Zeugnis gelehrter Christen für sich und in Händen, die das Gegenteil nicht bloß vermuten; sondern öfters erfahren zu haben versichern. Und wenn irgend ein Mißtrauen dieser Art obgewaltet hätte; wäre es denn nicht natürlich gewesen, da sich bisher die Gelehrten unter den Christen so wenig um unsere Rechtslehren gekümmert haben? Wie aber in kirchlichen Sachen, in Sachen, die die Religion der * Kolonie angehen? Wie weit sollen sich die Rechte jeder Kolonie, und der Juden insbesondere, über ihre Glieder, in Glaubenssachen erstrecken? welche Macht darf sie anwenden, welche Gewalt ausüben, sie zur Einigkeit und Reinigkeit in Absicht auf Lehre und Leben zu zwingen? wie weit darf sie ihren kirchlichen Arm ausstrecken, die Unwilligen zu züchtigen, oder auszustoßen, und die Irrenden oder Abweichenden in das Gleis zurück zu ziehen? | Kirchliche Rechte, Kirchliche Gewalt und Macht. – Ich muß XXXVI gestehen, daß ich mir von diesen Redensarten keinen deutlichen 33 Begriff machen kann, und mein Adelung will mich keines bessern belehren. Ich weiß von keinem Rechte auf Personen und Dinge, das mit Lehrmeinungen zusammenhänge, und auf denselben beruhe; das die Menschen erlangen, wenn sie in Absicht auf ewige Wahrheiten gewissen Sätzen beistimmen, und verlieren, wenn sie nicht einstimmen können, oder wollen. Am wenigsten * weiß ich von Rechten und Gewalt über Meinungen, die die Religion erteilen und der Kirche zukommen sollen. Die wahre, göttliche Religion maßt sich keine Gewalt über Meinungen und Urteile an; gibt und nimmt keinen Anspruch auf irdische Güter, kein Recht auf Genuß, Besitz und Eigentum; kennet keine andere

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Macht, als die Macht durch Gründe zu gewinnen, zu überzeugen, und durch Überzeugung glückselig zu machen. Die wahre, göttliche Religion bedarf weder Arme noch Finger zu ihrem Gebrauche; sie ist lauter Geist und Herz. Recht heißt die Befugnis etwas zu tun, oder zu lassen; das sitt- 34 XXXVII liche Vermö | gen zu handeln. Eine freiwillige Handlung nämlich * ist gerecht und sittlich, wenn sie mit den Regeln der Weisheit und Güte übereinstimmt, und dasjenige, woraus diese Übereinstimmung erkannt wird, heißt ein Recht; ein möglicher Gebrauch unserer Kräfte, ein möglicher Genuß der Dinge, eine mögliche Äußerung unserer freiwilligen Tätigkeit, die der weisen Gütigkeit nicht widerspricht. Ich mag den Begriff wenden, von welcher Seite ich will, ich finde keinen Übergang zu Lehrmeinung und Urteil in Absicht auf ewige Wahrheiten. Wie kann mein Beistimmen oder nicht Beistimmen in allgemeine Sätze und Lehren, diese Befugnis erweitern, oder einschränken; mir auf Personen und Dinge, und deren Gebrauch und Genuß eine sittliche Gewalt verschaffen, oder nehmen? Wie entspringet aus einer Meinung, aus dem Inbegriffe aller Meinungen zusammen genommen, ein modus acquirendi, eine Befugnis mehr, uns gewisse Dinge, als Mittel zu unserer Glückseligkeit zu eigen zu machen, und uns ihrer nach Willkür zu bedienen? was für Merkmale haben diese disparate Dinge, Recht und Meinung, gemeinschaftlich, daß sie je sollten in einem XXXVIII Sa | tze zusammen kommen und verbunden werden können? Sollten aber die Gesetze der Natur und Vernunft ein Recht einräumen, das sich auf das Annehmen, oder Verwerfen einer Meinung gründet; so müssen unumgänglich diese beiden Begriffe in einem Satze verbunden, und aus dem Beifall, den ich einer Lehre gebe oder verweigere, begreiflich gemacht werden können, warum mir diese oder jene Äußerung meiner Tätigkeit zukomme, oder nicht zukomme; warum mir ein gewisser Gebrauch und Genuß der Güter dieser Welt, nach den ewigen Gesetzen der Weisheit und der Güte vergönnt, oder nicht vergönnt sei. Ich muß gestehen, daß ich die Möglichkeit dieser Verbindung nicht einsehe. Vielleicht aber können die Menschen durch positive Gesetze 35 und Verträge eine solche Verbindung möglich machen; durch ausdrückliches oder stillschweigendes Übereinkommen, sich einander

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Rechte zueignen, die auf Lehr und Meinung beruhen sollen? Wenn auch der Stand der Natur hiervon nichts wissen sollte, vielleicht kann der Stand der Geselligkeit, der gesellschaftliche Vertrag eine solche Einrichtung treffen, oder getroffen haben? die Verträge haben ja so manches in | der menschlichen Natur und in dem System XXXIX ihrer Pflichten und Rechte verändert; warum nicht auch Rechte erzeugt, die im Stande der Natur nicht anzutreffen gewesen? Mit Nichten, sollte ich denken. So wenig die Kultur eine Frucht erzielen kann, wozu die Natur nicht den Keim hergegeben; so wenig die Kunst durch Üben und Gewöhnen eine willkürliche Bewegung hervorbringen kann, wo die Natur keine Muskel hingelegt; eben so wenig können alle Verträge und Verabredungen unter den Menschen ein Recht erschaffen, davon der Grund nicht im Stande der Natur anzutreffen sein sollte. Durch Verträge können bloß unvollkommene Rechte in vollkommene, unbestimmte Pflichten in bestimmte verwandelt werden. Was ich dem menschlichen Geschlechte überhaupt zu leisten schuldig bin, kann durch einen Vertrag auf eine gewisse Person eingeschränkt, und eben * dadurch die unbestimmte innere Pflicht gegen die Menschheit, in eine bestimmte, äußere Pflicht gegen diese Person umgeschaffen werden. Eben diese Person, die vorhin nur ein unvollkommenes Recht hat, von dem menschlichen Geschlechte, oder von der Natur überhaupt, einen gewissen Beitrag zu ihrer Glück | seligkeit zu XL erwarten, erlanget durch den Vertrag ein vollkommenes, äußeres Recht, diesen Beitrag von mir, oder meinen Sachen, zu fordern, und zu erzwingen. Da im Stande der Natur alle positive Pflichten der Menschen gegen einander, alle Verbindlichkeit zu tun und zu leisten, bloß unvollkommene Pflichten und Verbindlichkeiten sind; so können und müssen im Stande der Geselligkeit viele derselben bestimmt, näher eingeschränkt und in vollkommene verwandelt werden. Wo aber ohne Vertrag, sich weder Pflicht noch Recht denken läßt, da sind alle Verträge der Menschen und ihre 36 Abkommnisse leerer Schall und Ton, Worte in den Wind gesprochen, wie man zu sagen pflegt, ohne Kraft und Wirkung. Ich sehe also nicht ab, wie der Gesellschaft der Menschen das Vermögen zukommen könne, Vorrechte mit Meinungen zu verbinden, das die Natur so sehr verkennet?

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Und nun vollends ein Recht über Meinungen, über die Urteile unserer Nebenmenschen, in Absicht auf ewige, notwendige Wahrheiten; welcher Mensch, welche Gesellschaft von Menschen darf sich dieses anmaßen? da sie nicht unmittelbar von unserm Willen XLI abhän | gen; so kömmt uns selbst kein anderes Recht zu, als das Recht sie zu untersuchen, der strengen Prüfung der Vernunft zu unterwerfen, ohne ihre Einstimmung, unser Urteil zu verschieben u. s. w. Aber dieses Recht ist untrennbar von der Person; kann, der Natur der Sache nach, eben so wenig verfremdet, veräußert und auf andere übertragen werden, als das Recht unsern Hunger zu stillen, oder freien Oden zu ziehen. Verträge hierüber sind ungereimt, der Natur und dem Wesen des Pacti zuwider, und also ohne Erfolg und Wirkung. Wir können uns durch Verträge verbindlich machen, gewisse freiwillige Handlungen nicht von unserm eigenen Urteile, und Gutachten abhängen zu lassen; sondern dem Gutachten eines andern zu unterwerfen, und also auf unser eigenes Urteil Verzicht tun, insoweit es in Handlungen übergehen, und Einfluß haben kann; aber unser Urteil selbst ist ein untrennbares, unbewegliches, und also unveräußerliches Eigentum. Auf diesen Unterschied, so fein er auch scheinet, kömmt hier alles an, wenn man nicht die Begriffe verwirren, und in ungereimte Folgen XLII und Widersprüche verwickelt werden will. Ein an | ders ist es, Verzicht auf seine Meinung in Absicht auf Handlung; ein anders Verzicht auf seine Meinung selbst. Die Handlung stehet unmittelbar in unsrer Willkür; so nicht die Meinung. Also hat die mütterliche Nation selbst keine Befugnis mit einer ihr gefälligen Lehrmeinung den Genuß irgend eines irdischen Guts oder Vorzugs zu verbinden, das Annehmen oder Verwerfen derselben zu belohnen, oder zu bestrafen, und was sie selbst nicht hat, wie sollte sie es der Kolonie einräumen und gewähren können? Ich begreife kaum, wie ein so einsichtsvoller Schriftsteller, wie Dohm S. 124. hat sagen können »So wie jede kirchliche Gesellschaft müsste auch die jüdische das Recht der Ausschließung auf gewisse Zeiten oder immer haben, und im Falle einer Widersetzung das Erkenntnis der Rabbinen durch obrigkeitliche Beihülfe

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unterstützt werden.« – Jede Gesellschaft, dünkt mich, hat das Recht der Ausschließung, nur keine kirchliche; denn es ist ihrem Endzwecke schnurstracks zuwider. Die Absicht derselben ist gemeinschaftliche Erbauung, Teilnehmung an der Ergießung des Herzens, mit | welcher wir unsere Danksagung gegen die Wohlta- XLIII ten Gottes, und unser kindliches Vertrauen auf die Allgütigkeit Desselben zu erkennen geben. Mit welchem Herzen wollen wir einem Dissidenten, Andersdenkenden, Irrdenkenden oder Abweichenden den Zutritt verweigern, die Freiheit versagen, an dieser Erbauung Anteil zu nehmen? Wider Unruhemachen und Stören sind Gesetze und Polizei. Diese Unordnung muß und kann durch den weltlichen Arm gesteuert werden; aber ein stiller und ruhiger Zutritt zur Versammlung muß dem Verbrecher selbst nicht verwehrt werden; wenn wir ihm nicht geflissentlich alle Wege zur Rückkehr versperren wollen. Das Andachtshaus der Vernunft bedarf keiner verschlossenen Türen. Sie hat von innen nichts zu verwahren, und von außen Niemanden den Eingang zu verhindern. Wer einen ruhigen Zuschauer abgeben, oder gar Anteil nehmen will, der ist dem Gottseligen in der Stunde seiner Erbauung höchst willkommen. Herr Dohm hat vielleicht bei dieser Gelegenheit mehr die Dinge genommen, wie sie liegen, als wie sie liegen sollten. Die Menschen scheinen sich vereiniget zu haben, | die äußerliche Form XLIV des Gottesdienstes, die Kirche, als eine moralische Person zu betrachten, die ihre eigene Rechte und Pflichten hat; und ihr mehr, oder weniger Gewalt einzuräumen, auf ihre Rechte zu halten, und sie durch äußerlichen Zwang geltend zu machen. Man findet es nicht widersinnig, Eine dieser Personen, in jedem Staate, die herrschende zu nennen, die ihre Schwestern nach ihrer Laune behandelt; bald sich der ihr anvertrauten Gewalt bedienet, sie zu drücken, bald großmütig genug ist, sie zu dulden, und ihr von ihren Vorrechten, von ihren Ansprüchen und von ihrer Gewalt, so viel einzuräumen, als sie gut findet. Da nun Bann- und Ausschließungsfreiheit allezeit das erste Recht ist, mit welcher die herrschende Religion die geduldete belehnet; so forderte Herr Dohm für die jüdische Religion dasselbe Recht, das man allen andern religiosen Gesellschaften zugestehet. Solange diese noch das

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Recht der Ausschließung haben, hielt er es für eine Inkonsequenz, wenn man die jüdische hierin mehr einschränken wollte. Wenn aber, wie es mir ausgemacht scheinet, gottesdienstliche Rechte auf irdische Dinge, gottesdienstliche Macht und gottesdienstliches XLV | Zwangsrecht, Worte ohne Begriffe sind, und Ausschließung überhaupt ungottesdienstlich zu nennen ist; so lasset uns lieber unkonsequent bleiben, als Mißbräuche häufen. Ich finde, daß die Weisesten unserer Vorfahren auf keine Ausschließung von gottesdienstlichen Übungen Anspruch gemacht haben. Als König Salomo den Bau des Tempels vollendet hatte, schloß er in seinem erhabenen Einweihungsgebete auch den Ausländer, also zu seiner Zeit den Götzendiener mit ein, breitete seine Hände aus gen Himmel und flehete: »Wenn auch ein Fremder, der nicht deines Volks Isreal ist, kommt aus fernem Lande, um deines Namens willen. (Denn sie werden hören von deinem großen Namen, und von deiner mächtigen Hand, und von deinem ausgereckten Arme); und kommt, daß er bete vor diesem Hause; so wollest du hören im Himmel, im Sitz deiner Wohnung, und tue alles, darum der Fremde dich anruft; auf das alle Völker auf Erden deinen Namen erkennen, daß sie auch dich fürchten, wie dein Volk Israel.«* So haben auch unsere Rabbinen vorgeschrieben, XLVI von Götzendienern frei | willige Opfer und Gelübte im Tempel anzunehmen, von der Nation selbst keinen Verbrecher, der nicht der Religion völlig entsagt hat, mit seinem Opfer abzuweisen, damit er Gelegenheit und Anlaß zur Besserung finde.** So dachte man zu einer Zeit, als man etwas mehr Recht und Autorität hatte, in gottesdienstlichen Sachen ausschließend zu sein, und wir wollten uns nicht entblöden, Dissidenten aus unseren kaum geduldeten kirchlichen Versammlungen auszuschließen? Ich schweige von der Gefahr, die mit dem Anvertrauen eines solchen Ausschließungsrechts verknüpft, von dem Mißbrauche, der bei einem solchen Bannrechte, so wie bei jeder Kirchenzucht und Kirchenmacht unvermeidlich ist. Ach! das menschliche Ge* **

1 Buch der Könige Kap. 8, v. 41 u. f. Chullin Bl. 5. S.1.

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schlecht wird sich noch in Jahrhunderten nicht von den Geißelschlägen erholen, die ihm diese Ungeheuer beigebracht haben! Ich sehe keine Möglichkeit den falschen Religionseifer im Zügel zu halten, sobald er diesen Weg vor sich offen findet; denn am Sporne wird es ihm niemals fehlen. Hr. Dohm glaubt uns wider allen Mißbrauch dieser Art sattsam zu | schützen, indem er vor- XLVII aussetzet, das der Kolonie anvertrauete Bannrecht müsse »nie über irgend eine religiöse Gesellschaft hinausgehen, und in der politischen durchaus keine Wirkung haben, da das ausgestoßene Glied jeder Kirche ein sehr nützlicher und geachteter Bürger sein könne. Ein Grundsatz des allgemeinen Kirchenrechts, setzt Hr. Dohm hinzu, der in unsern Zeiten nicht mehr bezweifelt werden sollte.«* Wenn aber das sogenannte allgemeine Kirchenrecht, wie ich herzlich gern zugebe, den wichtigen Grundsatz endlich einmal anerkennet, daß ein ausgestoßenes Glied jeder Kirche ein sehr nützlicher und geachteter Bürger sein könne; so ist dem Übel durch dieses schwache Verwahrungsmittel bei weitem nicht abgeholfen: denn fürs erste will dieser sehr nützliche und geachtete Bürger, der vielleicht auch sehr viel innere Religion hat, doch auch nicht gern von allen gottesdienstlichen Versammlungen und Religionsübungen ausgeschlossen, nicht gern ohne äußerliche Religion sein. Hat er nun das Unglück, von der Gemeine, zu welcher er gehört, für dissidentisch gehalten zu werden, und sein Ge | wissen XLVIII verbietet ihm, einer andern im Staate herrschenden oder geduldeten Religionspartei beizutreten; so ist der nützliche und geachtete Bürger ja höchst unglücklich, wenn seiner Gemeine erlaubt wird, ihn auszustoßen, und er bei ihren gottesdienstlichen Versammlun* gen verschlossene Türen findet. Und nach diesem Grundsatze würde er sie vielleicht allenthalben finden; denn jede kirchliche Gemeine würde ihn vielleicht mit gleichem Rechte abweisen. Wie kann aber der Staat zulassen, daß irgend einer seiner nützlichen und geachteten Bürger durch die Gesetze unglücklich werde? – Zweitens, welche kirchliche Ausschließung, welcher Bann ist ohne alle bürgerliche Folgen, ohne allen Einfluß auf die bürger*

S. 124.

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liche Achtung wenigstens, auf den guten Leumund des Ausgestoßenen und das Zutrauen bei seinen Mitbürgern, ohne welches doch niemand seines Berufs warten, und dem Staate nützlich sein kann? Da die Grenzlinien dieser feinen Unterscheidung des bürgerlichen und kirchlichen, dem scharfsichtigsten Auge kaum bemerkbar sind; so ist es eine wahre Unmöglichkeit, sie in irgend einem Staate so fest und so scharf zu zeichnen, daß sie jedem Bürger XLIX in die Augen fallen, und | im gemeinen bürgerlichen Leben die gewünschte Wirkung tun mögen. Sie werden immer unsicher und schwankend bleiben, und sehr oft die Unschuld selbst dem Stachel der Verfolgung und des blinden Religionseifers bloßstellen. Kirchenzucht einführen, und die bürgerliche Glückseligkeit ungekränkt erhalten, scheinet mir ein Problem zu sein, das in der Politik noch aufgelöset werden soll. Es ist der Bescheid des allerhöchsten Richters an den Ankläger: Er sei in deiner Hand, doch schone seines Lebens! Zerbrich das Faß, wie die Ausleger hinzutun, und laß den Wein nicht auslaufen! Ich will nicht untersuchen, inwieweit die Klagen gegründet, oder ungegründet sein mögen, die kürzlich über Mißbräuche dieser Art, welche sich ein berühmter Rabbiner erlaubt haben soll, öffentlich geführt worden sind. Da der Bericht einseitig ist; so will ich gerne glauben, daß mancher Umstand übertrieben, die Schuld des Angeklagten von der einen Seite verringert; so wie von der andern Seite die Härte des Verfahrens geflissentlich vergrößert worden sei. Die Sache ist, wie verlautet, vor die LandesL obrigkeit gebracht | worden. Diese wird untersuchen, und Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie mag indessen ausfallen, wie sie wolle; so wünschte ich, daß der wahre Verlauf derselben, wie er aus den Akten erhellet, zur Beschämung des allzuraschen Richters, oder seines öffentlichen Anklägers, bekannt gemacht werde. Das Publikum hat die Anklage vernommen. Es höre auch Verteidigung und Urteil! Dem sei aber, wie ihm wolle, noch ist es mit der Bruderliebe unter den Menschen nicht dahin gekommen, daß wir bei Einführung einer Kirchenzucht, so ganz über alle Furcht und Besorgnisse dieser Art hinweg sein könnten. Noch ist keine Geistlichkeit so aufgeklärt, daß ihr ein solches Recht, wenn es eines gibt, ohne

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Gefahr anvertraut werden könnte. Ja, je aufgeklärter sie ist, desto weniger wird sie sich selbst hierin trauen, und ein Rachschwert in die Hände nehmen, das nur der Wahnsinn sicher führen zu kön** nen, glaubt. Zu den erleuchtetsten und frömmsten unter den Rabbinen und Ältesten meiner Nation habe ich das Zutrauen, daß sie sich eines so schädlichen Vorrechts gern entäußern, auf alle Religions- und Synagogenzucht gern Verzicht tun, und ihre Mitbrüder von ihrer | Seite dieselbe Liebe und Duldung genießen lassen LI werden, nach welcher sie selbst bisher so sehr geseufzt haben. * Ach! meine Brüder! ihr habt das drückende Joch der Intoleranz bisher allzuhart gefühlt, und vielleicht eine Art von Genugtuung darin zu finden geglaubt, wenn euch die Macht eingeräumet würde, euern Untergebenen ein gleichhartes Joch aufzudrücken. Die Rache suchet ihren Gegenstand, und wenn sie andern nichts anhaben kann; so nagt sie ihr eigenes Fleisch. Vielleicht auch ließet ihr euch durch das allgemeine Beispiel verführen. Alle Völker der Erde schienen bisher von dem Wahne betört zu sein, daß sich Religion nur durch eiserne Macht erhalten; Lehren der Seligkeit nur durch unseliges Verfolgen ausbreiten, und wahre Begriffe von Gott, der nach unser aller Geständnis, die Liebe ist, nur durch die Wirkung des Hasses mitteilen lassen. Ihr ließet euch vielleicht verleiten eben dasselbe zu glauben, und die Macht zu verfolgen war das euch wichtigste Vorrecht, das eure Verfolger euch einräumen konnten. Danket dem Gotte eurer Väter, danket dem Gotte, der die Liebe und die Barmherzigkeit selbst ist, daß jener Wahn sich nach und nach zu verlieren | scheinet. Die Nationen dulden LII und ertragen sich einander, und lassen auch gegen euch Liebe und Verschonung blicken, die unter dem Beistande desjenigen, der die Herzen der Menschen lenkt, bis zur wahren Bruderliebe anwachsen kann. O meine Brüder! folget dem Beispiel der Liebe, so wie ihr bisher dem Beispiele des Hasses gefolgt seid! Ahmet die Tugend der Nationen nach, deren Untugend ihr bisher nachahmen zu müssen geglaubt. Wollet ihr gehegt, geduldet und von andern verschonet sein; so heget und duldet und verschonet euch unter einander! Liebet; so werdet ihr geliebet werden! Berlin, den 19ten März 1782.

Moses Mendelssohn.

ENTWURF ZU JERUSALEM

1 Kirche u. Staat. Grenzstreitigkeit zwischen denselben hat schrekliche Uebel verursachet – Hobbes – Locke – Dieser schränkt den Staat auf die Sorge für die zeitliche Glükseeligkeit ein. – Ein Nothbehelf um Dissidenten für Verfolgung zu schützen. – Aber falsch, denn das Zeitliche kan von dem Ewigen nicht getre[nn]t werden, und unkräftig – denn die Kirche bedienet sich des weltlichen Armes. – Wahre Grenze ist Zwangspflicht u. Ueberredung. Jenes ein Eigenthum des Staats, dieses ein Vorrecht der Religion. – Sobald sich die Kirche ein Eigenthum, ein Zwangsrecht anmaßet; so usurpirt sie. 2 Ursprung der Zwangspflicht. Unterlassungspflicht ist allein vollkommen. Handlungspflicht wird durch Vertrag in Unterlassungspflicht verwandelt. Vertrag gehet auf entbehrliche Güter, die zum Wohlwollen angewendet werden. Meinung giebt kein Recht, ist mit keinem Rechte in Verbindung zu bringen. Man kan niemand auf seine Meinung beeidigen. Eid auf Glaubensartikel ist ein Misbrauch des göttlichen Namens, ein leerer Eid, kein Meineid. – Trost für alle diejenige, die auf symbolische Bücher oder auf festgesetzte Glaubensartikel geschworen, und sich im Gewissen anklagen. Der Staat bedarf der Religion nur zur Sicherheit der Eide, also setzet der Staat den Glauben voraus, und kan auf dieselbe nicht beeidigen. In so weit die Religion den Staat nicht sichert, muß sie sich schlechterdings auf Ueberredung einschrenken.

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Entwurf zu Jerusalem

3 Einwürfe wider diese Vernunftgründe – Sie sind der jüdischen Religion zu wider – Forschen nach Licht und Recht. Aufforderung, die christliche Religion der Freyheit anzunehmen, oder zu wider- 1 legen. – Inconsequenz dieser Zumuthung. Wer den Grund eines Gebäudes unsicher findet, rettet seine Haabseeligkeit nicht aus dem untersten Stokwerke in das oberste. – Das Christenthum ist ein Joch in Geist u. Wahrheit – Sie hat 40 weniger Eins leibliche Staupenschläge in eben so viel geistige verwandelt. Die neure Re- 2 formation des 18. Jahrhunderts hat keine Offenbarung mehr zum Grunde, überläßt alles der Vernunft, maßet sich ein[en] Namen an, um sich der Vorrechte dieses Namens bedienen zu können – So nicht das Judenthum. Geschichte der Religion. Glaubenseinigkeit. Trennung der Ehe. Glaube meiner Väter.

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| ERSTER ABSCHNITT.

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| Staat und Religion – bürgerliche und geistliche Verfassung –

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weltliches und kirchliches Ansehen – diese Stützen des gesellschaftlichen Lebens so gegen einander zu stellen, daß sie sich die Waage halten, daß sie nicht vielmehr Lasten des gesellschaftlichen Lebens werden, und den Grund desselben stärker drücken, als was sie tragen helfen – dieses ist in der Politik eine der schwersten Aufgaben, die man seit Jahrhunderten schon aufzulösen bemühet ist, und hie und da vielleicht glücklicher praktisch beigelegt, als theoretisch aufgelöset hat. Man hat für gut befunden, diese verschiedene Verhältnisse des geselligen Menschen in moralische Wesen abzusondern, und jedem derselben ein eignes Gebiet, besondere Rechte, Pflichten, | Gewalt und Eigentum zuzuschreiben. I, 4 Aber der Bezirk dieser verschiedenen Gebiete, und die Grenzen, die sie trennen, sind noch bis itzt nicht genau bestimmt. Man siehet bald die Kirche das Markmal weit in das Gebiet des Staats hinübertragen, bald den Staat sich Eingriffe erlauben, die den angenommenen Begriffen zufolge, eben so gewaltsam scheinen. Und unermeßlich sind die Übel, die aus der Mißhelligkeit dieser moralischen Wesen bisher entstanden sind, und noch zu entstehen drohen. Liegen sie gegen einander zu Felde, so ist das menschliche Geschlecht das Opfer ihrer Zwietracht; und vertragen sie sich, so ist es getan um das edelste Kleinod der menschlichen Glückseligkeit; denn sie vertragen sich selten anders, als um ein drittes moralisches Wesen, die Freiheit des Gewissens, die von ihrer Uneinigkeit einigen Vorteil zu ziehen weiß, aus ihrem Reiche zu verbannen. Der Despotismus hat den Vorzug, daß er bündig ist. So lästig seine Forderungen auch dem gesunden Menschenverstande sind, so sind sie doch unter sich zusammenhängend und systematisch. Er hat auf jede Frage seine bestimmte Antwort. Ihr dürft euch weiter um die Grenzen | nicht bekümmern; denn wer alles hat, I, 5 fragt nicht weiter, wie viel? – So auch nach römischkatholischen

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Jerusalem

Grundsätzen die kirchliche Verfassung. Sie ist auf jeden Umstand ausführlich, und gleichsam aus einem Stücke. Räumet ihr alle ihre Forderungen ein; so wisset ihr wenigstens, woran ihr euch zu halten habet. Euer Gebäude ist aufgeführt, und in allen Teilen desselben herrscht vollkommene Ruhe. Freilich nur jene fürchterliche Ruhe, wie Montesquieu sagt, die Abends in einer Festung ist, welche des Nachts mit Sturm übergehen soll. Wer aber Ruhe in Lehr und Leben für Glückseligkeit hält, findet sie dennoch nirgend gesicherter, als unter einem römischkatholischen Despoten; oder weil auch hier die Macht noch zu sehr verteilt ist, unter der despotischen Herrschaft der Kirche selbst. Sobald aber die Freiheit an diesem systematischen Gebäude etwas zu verrücken wagt, so drohet Zerrüttung von allen Seiten, und man weiß am Ende nicht mehr, was davon stehen bleiben kann. Daher die außerordentliche Verwirrung, die bürgerlichen sowohl als kirchlichen Unruhen in den ersten Zeiten der Reformation, und die auffallende Verlegenheit der Lehrer und VerI, 6 bes | serer selbst, sooft sie in dem Fall waren, in Absicht auf Gerechtsame, das wie weit? festzusetzen. Nicht nur praktisch war es schwer, den großen, seiner Fessel entbundenen Haufen innerhalb geziemender Schranken zu halten; sondern auch in der Theorie selbst findet man die Schriften jener Zeiten voller unbestimmten und schwankenden Begriffe, sooft von Festsetzung der kirchlichen Gewalt die Rede ist. Der Despotismus der römischen Kirche war aufgehoben, aber – welche andre Form soll an ihrer Stelle eingeführt werden? – Noch itzt in unsern aufgeklärtern Zeiten haben die Lehrbücher des Kirchenrechts von dieser Unbestimmtheit nicht befreiet werden können. Allen Anspruch auf Verfassung will oder kann die Geistlichkeit nicht aufgeben und gleichwohl weiß niemand recht, worin solche bestehe? Man will Streitigkeiten in der Lehre entscheiden, ohne einen obersten Richter zu erkennen. Man beruft sich noch immer auf eine unabhängige Kirche, ohne zu wissen, wo sie anzutreffen sei. Man macht Anspruch auf Macht und Recht, und kann doch nicht angeben, wer sie handhaben soll? I, 7 | Thomas Hobbes lebte zu einer Zeit, da der Fanatismus, mit einem unordentlichen Gefühle von Freiheit verbunden, keine

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Schranken mehr kannte, und im Begriffe war, wie ihm auch am 7 Ende gelang, die königliche Gewalt unter den Fuß zu bringen, und die ganze Landesverfassung umzustürzen. Der bürgerlichen Unruhen überdrüssig, und von Natur zum stillen, spekulativen Leben geneigt, setzte er die höchste Glückseligkeit in Ruhe und Sicherheit, sie mochte kommen, woher sie wollte; und diese fand er nirgend, als in der Einheit und Unzertrennlichkeit der höchsten Gewalt im Staate. Der öffentlichen Wohlfahrt, glaubte er also, sei am besten geraten, wenn alles, sogar unser Urteil über Recht und Unrecht, der höchsten Gewalt der bürgerlichen Obrigkeit unterworfen würde. Um dieses desto füglicher tun zu können, setzte er zum voraus, der Mensch habe von Natur die Befugnis zu allem, wozu er von ihr das Vermögen erhalten hat. Stand der Natur sei Stand des allgemeinen Aufruhrs, des Krieges aller wider alle, in 8 welchem jeder mag, was er kann; alles Recht ist, wozu man Macht hat. Dieser unglückselige Zustand habe so lange ge | dau- I, 8 ert, bis die Menschen übereingekommen, ihrem Elende ein Ende zu machen, auf Recht und Macht, insoweit es die öffentliche Sicherheit betrifft, Verzicht zu tun, solche einer festgesetzten Obrigkeit in die Hände zu liefern, und nunmehr sei dasjenige Recht, was diese Obrigkeit befiehlt. Für bürgerliche Freiheit hatte er entweder keinen Sinn, oder wollte er sie lieber vernichtet, als so gemißbraucht sehen. Um sich aber die Freiheit zu denken auszusparen, davon er selbst mehr als irgend jemand Gebrauch machte, nahm er seine Zuflucht zu einer feinen Wendung. Alles Recht gründet sich, nach seinem System, auf Macht, und alle Verbindlichkeit auf Furcht; da nun Gott der Obrigkeit an Macht unendlich überlegen ist; so sei auch das Recht Gottes unendlich über das Recht der Obrigkeit erhaben, und die Furcht vor Gott verbinde uns zu Pflichten, die keiner Furcht vor der Obrigkeit weichen dürfen. Jedoch sei dieses nur von der innern Religion zu verstehen, um die allein es dem Weltweisen zu tun war. Den äußern Gottesdienst unterwarf er völlig dem Befehle der bürgerlichen Obrigkeit, und jede Neuerung in kirch | lichen Sachen, ohne derselben Autorität, sei nicht nur I, 9 Hochverrat, sondern auch Lästerung. Die Kollisionen, die zwischen dem innern und äußern Gottesdienste entstehen müssen,

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sucht er durch die feinsten Unterscheidungen zu heben, und obgleich noch so manche Lücken zurückbleiben, die die Schwäche der Vereinigung sichtbar machen; so ist doch der Scharfsinn zu bewundern, mit welchem er sein System hat bündig zu machen gesucht. Im Grunde liegt in allen Behauptungen des Hobbes viel Wahrheit, und die ungereimten Folgen, zu welchen sie führen, fließen bloß aus der Übertreibung, mit welcher er sie, aus Liebe zur Paradoxie, oder den Bedürfnissen seiner Zeiten gemäß, vorgetragen hat. Zum Teil waren auch die Begriffe des Naturrechts zu seiner Zeit noch nicht aufgeklärt genug, und Hobbes hat das Verdienst um die Moralphilosophie, das Spinoza um die Metaphysik hat. 9 Sein scharfsinniger Irrtum hat Untersuchung veranlasset. Man hat die Ideen von Recht und Pflicht, Macht und Verbindlichkeit besser entwickelt; man hat physisches Vermögen von sittlichem I, 10 Vermögen, Gewalt von Befugnis richtiger | unterscheiden gelernt, und diese Unterscheidungen so innigst mit der Sprache verbunden, daß nunmehr die Widerlegung des hobbesischen Systems schon in dem gesunden Menschenverstande, und so zu sagen, in der Sprache zu liegen scheinet. Dieses ist die Eigenschaft aller sittlichen Wahrheiten. Sobald sie ins Licht gesetzt sind, vereinigen sie sich so sehr mit der Sprache des Umgangs und verbinden sich mit den alltäglichen Begriffen der Menschen, daß sie dem gemeinen Menschenverstande einleuchten, und nunmehr wundern wir uns, wie man vormals auf einem so ebnen Wege habe straucheln können. Wir bedenken aber den Aufwand nicht, den es gekostet, diesen Steig durch die Wildnis so zu ebnen. Hobbes selbst mußte die unstatthaften Folgen auf mehr als eine Weise empfinden, zu welchen seine übertriebenen Sätze unmittelbar führen. Sind die Menschen von Natur an keine Pflicht gebunden, so liegt ihnen auch nicht einmal die Pflicht ob, ihre Verträge zu halten. Findet im Stande der Natur keine andre Verbindlichkeit Statt, als die sich auf Furcht und Ohnmacht gründet; I, 11 so dauert die Gültigkeit der | Verträge auch nur so lange, als sie von Furcht und Ohnmacht unterstützt wird; so haben die Menschen durch Verträge keinen Schritt näher zu ihrer Sicherheit getan, und befinden sich noch immer in ihrem primitiven Zustande

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des allgemeinen Krieges. Sollten aber Verträge gültig sein; so muß der Mensch von Natur, ohne Vertrag und Verabredung, an und für sich selbst nicht befugt sein, wider ein Paktum zu handeln, das er gutwillig eingegangen; das heißt, es muß ihm nicht erlaubt sein, wenn er auch kann: er muß das sittliche Vermögen nicht haben, wenn er auch das physische dazu hätte. Macht und Recht sind also verschiedene Dinge, und waren auch im Stande der Natur heterogene Begriffe. – Ferner, der höchsten Gewalt im Staate schreibt Hobbes strenge Gesetze vor, nichts zu befehlen, das der Wohlfahrt ihrer Untertanen zuwider sei. Wenn sie auch keinem Menschen Rechenschaft zu geben schuldig seien; so haben sie diese doch vor dem allerhöchsten Richter abzulegen; wenn sie auch nach seinen Grundsätzen keine Furcht vor irgend einer menschlichen Macht binde; so binde sie doch die Furcht vor der Allmacht, die ihren Willen hierüber hin | länglich zu erkennen gegeben. I, 12 Hobbes ist hierüber sehr ausführlich, und hat im Grunde weit weniger Nachsicht für die Götter der Erde, als man seinem System zutrauen sollte. Allein eben diese Furcht vor der Allmacht, welche die Könige und Fürsten an gewisse Pflichten gegen ihre Untertanen binden soll, kann doch auch im Stande der Natur für jeden einzelnen Menschen eine Quelle der Obliegenheiten wer10 den, und so hätten wir abermals ein solennes Recht der Natur, das Hobbes doch nicht zugeben will. – Auf solche Weise kann sich in unsern Tagen jeder Schüler des Naturrechts einen Triumph über Thomas Hobbes erwerben, den er im Grunde doch ihm zu verdanken hat. Locke, der in denselben verwirrungsvollen Zeitläuften lebte, suchte die Gewissensfreiheit auf eine andre Weise zu schirmen. In 11 seinen Briefen über die Toleranz legt er die Definition zum Grunde: Ein Staat sei eine Gesellschaft von Menschen, die sich vereinigen, um ihre zeitliche Wohlfahrt gemeinschaftlich zu befördern. Hieraus folgt alsdann ganz natürlich, daß der Staat sich um die Gesinnungen der Bürger, ihre ewige Glückseligkeit betreffend, | gar nicht zu bekümmern, sondern jeden zu dulden habe, der I, 13 sich bürgerlich gut aufführt, das heißt seinen Mitbürgern, in Absicht ihrer zeitlichen Glückseligkeit, nicht hinderlich ist. Der Staat, als Staat, hat auf keine Verschiedenheit der Religionen zu

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sehen; denn Religion hat an und für sich auf das Zeitliche keinen notwendigen Einfluß, und stehet bloß durch die Willkür der Menschen mit demselben in Verbindung. Sehr wohl! Ließe sich der Zwist durch eine Worterklärung entscheiden; so wüßte ich keine bequemere, und wenn sich die unruhigen Köpfe seiner Zeit hiemit hätten die Intoleranz ausreden lassen; so würde der gute Locke nicht nötig gehabt haben, so oft ins Elend zu wandern. Allein was hindert uns, fragen jene, daß wir 12 nicht auch unsere ewige Wohlfahrt gemeinschaftlich zu befördern suchen sollten? Und in der Tat, was für Grund haben wir, die Absicht der Gesellschaft bloß auf das Zeitliche einzuschränken? Wenn die Menschen ihre ewige Seligkeit durch öffentliche Vorkehrungen befördern können; so ist es ja ihre natürliche Pflicht es zu tun; ihre vernunftmäßige Schuldigkeit, daß sie sich auch in I, 14 dieser Absicht zusammentun, und in gesellschaft | liche Verbindung treten. Ist aber dieses, und der Staat, als Staat, will sich bloß mit dem Zeitlichen abgeben; so entstehet die Frage: wem sollen wir die Sorge für das Ewige antrauen? – Der Kirche? Nun sind 13 wir auf einmal wieder da, wo wir ausgegangen waren. Staat und Kirche. – Sorge für das Zeitliche und Sorge für das Ewige – bürgerliche und kirchliche Autorität. Jene verhält sich zu dieser, wie die Wichtigkeit des Zeitlichen zur Wichtigkeit des Ewigen. Der Staat ist also der Religion untergeordnet; muß weichen, wenn eine Kollision entstehet. Nun widerstehe, wer da kann, dem Kardinal Bellarmin, mit dem fürchterlichen Gefolge seiner Argumen- 14 te, daß das Oberhaupt der Kirche, zum Behuf des Ewigen, über alles Zeitliche zu befehlen, und also wenigstens indirecte* ein Hoheitsrecht habe, über alle Güter und Gemüter der Welt; daß alle I, 15 weltliche Reiche in | directe unter der Botmäßigkeit des geistlichen Einzelherren stünden, und von ihm Befehle annehmen müßten, wenn sie ihre Regierungsform verändern, ihre Könige absetzen, und andere an ihrer Stelle einsetzen müßten; weil sehr oft das *

Bellarmin selbst ward beinahe von dem Pabste Sixtus V. verket- 15 * zert, weil er ihm bloß eine indirekte Macht über das Zeitliche der Könige und Fürsten zuschrieb. Sein Werk ward in das Verzeichnis der Inquisition gesetzt.

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ewige Heil des Staats auf keine andere Weise erhalten werden 16 könne – und wie die Maximen seines Ordens alle heißen, die Bellarmin in seinem Werke de Romano Pontifice mit so vielem Scharfsinne festsetzet. Alles, was man den Trugschlüssen des Kardinals in sehr weitläuftigen Werken entgegen gesetzt hat, scheint nicht zum Ziel zu treffen, sobald der Staat die Sorge für die Ewigkeit ganz aus den Händen gibt. Von einer andern Seite ist es im genausten Verstande weder der Wahrheit gemäß, noch dem Besten der Menschen zuträglich, daß man das Zeitliche von dem Ewigen so scharf abschneide. Dem Menschen wird im Grunde nie eine Ewigkeit zu Teile werden: Sein Ewiges ist bloß ein unaufhörliches Zeitliche. Sein Zeitliches nimmt nie ein Ende, ist also ein wesentlicher Teil seiner Fortdauer, und mit derselben aus einem Stücke. Man verwirret die Begriffe, wenn man seine zeitliche Wohlfahrt der ewigen Glückselig | keit entgegen setzet. Und diese Verwirrung der Begriffe bleibt I, 16 nicht ohne praktische Folgen. Sie verrückt den Wirkungskreis der menschlichen Fähigkeiten, und spannet seine Kräfte über das Ziel hinaus, das ihm von der Vorsehung mit so vieler Weisheit gesetzt worden. »Auf dem dunkeln Pfade, man erlaube, daß ich meine eigenen Worte* hier anführe, auf dem dunkeln Pfade, den der Mensch hier zu wandeln hat, ist ihm gerade so viel Licht beschieden, als zu den nächsten Schritten, die er zu tun hat, nötig ist. Ein mehreres würde ihn nur blenden, und jedes Seitenlicht nur verwirren.« Es ist nötig, daß der Mensch unaufhörlich erinnert werde, mit diesem Leben sei nicht alles aus für ihn; es stehe ihm eine endlose Zukunft bevor, zu welcher sein Leben hienieden eine Vorbereitung sei, so wie in der ganzen Schöpfung jedes Gegenwärtige 18 eine Vorbereitung aufs Künftige ist. Dieses Leben, sagen die Rabbinen, ist ein Vorgemach, in welchem man sich so anschicken muß, wie man im innern | Zimmer erscheinen will. Aber nun hü- I, 17 tet euch auch, dieses Leben mit der Zukunft weiter in Gegensatz zu bringen, und die Menschen auf die Gedanken zu führen: ihre wahre Wohlfahrt in diesem Leben sei nicht einerlei mit ihrer ewigen Glückseligkeit in der Zukunft; ein anderes wäre es für ihr

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S. Anmerk. zu Abbts freundschaftlicher Korrespondenz. S. 28.

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zeitliches, ein anderes für ihr ewiges Wohl sorgen, und es sei möglich, eines zu erhalten, und das andre zu vernachlässigen. Dem Blödsichtigen, der auf schmalem Steige wandeln soll, werden durch dergleichen Vorspiegelungen Standpunkt und Gesichtskreis verrückt, und er ist in Gefahr schwindlicht zu werden, und auf ebenem Wege zu stolpern. So mancher getraut sich nicht, die gegenwärtigen Wohltaten der Vorsehung zu genießen, aus Besorgnis eben so viel von denselben dort zu verlieren, und mancher ist ein schlechter Bürger auf Erden geworden, in Hoffnung dadurch ein desto besserer im Himmel zu werden. Ich habe mir die Begriffe von Staat und Religion, von ihren Grenzen und wechselweisem Einfluß auf einander, sowohl, als auf die Glückseligkeit des bürgerlichen Lebens, durch folgende I, 18 Betrachtungen deutlich zu machen gesucht. So | bald der Mensch zur Erkenntnis kömmt, daß er, außerhalb der Gesellschaft, so wenig die Pflichten gegen sich selbst und gegen den Urheber seines Daseins, als die Pflichten gegen seinen Nächsten erfüllen, und also ohne Gefühl seines Elends nicht länger in seinem einsamen Zustande bleiben kann; so ist er verbunden, denselben zu verlassen, mit seines gleichen in Gesellschaft zu treten, um durch gegenseitige Hülfe ihre Bedürfnisse zu befriedigen, und durch gemeinsame Vorkehrungen, ihr gemeinsames Beste zu befördern. Ihr gemeinsames Beste aber begreift das Gegenwärtige sowohl als das Zukünftige, das Geistliche sowohl als das Irdische, in sich. Eins ist von dem andern unzertrennlich. Ohne Erfüllung unserer Obliegenheiten ist für uns weder hier noch da; weder auf Erden, noch im Himmel, ein Glück zu erwarten. Nun gehöret zur wahren Erfüllung unserer Pflichten, zweierlei: Handlung und Gesinnung. Durch die Handlung geschieht das, was die Pflicht erfordert, und die Gesinnung macht, daß es aus der wahren Quelle komme, d. i. aus echten Bewegungsgründen geschehe. I, 19 | Also Handlungen und Gesinnungen gehören zur Vollkommenheit des Menschen, und die Gesellschaft hat, soviel als möglich, durch gemeinschaftliche Bemühungen für beides zu sorgen; d. i. die Handlungen der Mitglieder zum gemeinschaftlichen Besten zu lenken, und Gesinnungen zu veranlassen, die zu diesen Handlungen führen. Jenes ist die Regierung, dieses die Erziehung

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des geselligen Menschen. Zu beiden wird der Mensch durch Gründe geleitet, und zwar zu den Handlungen durch Bewegungsgründe, und zu den Gesinnungen durch Wahrheitsgründe. Die Gesellschaft hat also beide durch öffentliche Anstalten so einzurichten, daß sie zum allgemeinen Besten übereinstimmen. Die Gründe, welche den Menschen zu vernünftigen Handlungen und Gesinnungen leiten, beruhen zum Teil auf Verhältnissen der Menschen gegen einander, zum Teil auf Verhältnissen der Menschen gegen ihren Urheber und Erhalter. Jene gehören für den Staat, diese für die Religion. Insoweit die Handlungen und Gesinnungen der Menschen, durch Gründe, die aus ihren Verhältnissen gegen einander fließen, gemeinnützig gemacht werden können, | sind sie ein Gegenstand der bürgerlichen Verfassung; I, 20 * insoweit aber die Verhältnisse der Menschen gegen Gott als Quelle derselben angenommen werden, gehören sie für die Kirche, Synagoge oder Moschee. Man liest in so manchen Lehrbüchern des sogenannten Kirchenrechts ernsthafte Untersuchungen: ob auch Juden, Ketzer und Irrgläubige eine Kirche haben können. Nach den unermeßlichen Vorrechten, die die sogenannte Kirche sich anzumaßen pflegt, ist die Frage so ungereimt nicht, als sie einem unbefangenen Leser scheinen muß. Mir kömmt es aber, wie leicht zu erachten, auf diesen Unterschied der Benennung nicht an. Öffentliche Anstalten zur Bildung des Menschen, die sich auf Verhältnisse des Menschen zu Gott beziehen, nenne ich Kirche; – zum Menschen, Staat. Unter Bildung des Menschen verstehe ich die Bemühung, beides, Gesinnungen und Handlungen so einzurichten, daß sie zur Glückseligkeit übereinstimmen; die Menschen erziehen und regieren. Heil dem Staate, dem es gelinget, das Volk durch die Erziehung selbst zu regieren; das heißt, ihm solche Sitten und Gesinnungen einzuflößen, die von selbst zu gemeinnützigen Hand | lungen füh- I, 21 ren, und nicht immer durch den Sporn der Gesetze angetrieben zu werden brauchen. – Der Mensch im gesellschaftlichen Leben muß auf manches von seinen Rechten zum allgemeinen Besten Verzicht tun; oder wie man es nennen kann, sehr oft seinen eigenen Nutzen dem Wohlwollen aufopfern. Nun ist er glücklich, wenn diese Aufopferung eigenes Triebes geschiehet, und er jedes Mal wahr-

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nimmt, daß sie bloß zum Behuf des Wohlwollens von ihm geschehen sei. Wohlwollen macht im Grunde glücklicher, als Eigennutz; aber wir müssen uns selbst und die Äußerung unserer Kräfte dabei empfinden. Nicht wie einige Sophisten es auslegen, weil alles am Menschen Eigenliebe ist; sondern weil Wohlwollen kein Wohlwollen mehr ist, weder Wert noch Verdienst mit sich führet, wenn es nicht aus freiem Triebe des Wohlwollenden fließet. Hierdurch kann man vielleicht auf die bekannte Frage: Welche Regierungsform ist die beste? eine befriedigende Antwort geben. Eine Frage auf welche bisher sich widersprechende Antworten, mit gleichem Scheine der Wahrheit, gegeben worden sind. Im Grunde ist sie zu unbestimmt, fast so wie jene medizinische Frage I, 22 | von gleicher Art: Welche Speise ist die gesundeste? Jede Komplexion, jedes Klima, jedes Alter, Geschlecht, Lebensart u. s. w. erfordert eine andere Antwort. Eben so verhält es sich mit unserm politischphilosophischen Problem. Für jedes Volk, auf jeder Stufe der Kultur, auf welcher es stehet, ist eine andere Regierungsform die beste. Manche despotisch regierte Nationen würden höchst elend sein, wenn man sie sich selbst überließe; so elend als manche freigesinnten Republikaner, wenn man sie einem Einzelherrn unterwerfen wollte. Ja manche Nation wird, so wie sich Kultur, Lebensart und Gesinnung abändert, auch mit der Regierungsform ändern, und in einer Folge von Jahrhunderten den ganzen Zirkel der Regierungsformen, von Anarchie bis zum Despotismus, durch alle Schattierungen und Vermischungen durchwandern, und doch immer die Form gewählt haben, die in solchen Umständen für sie die Beste war. Unter allen Umständen und Bedingungen aber halte ich es für einen untrüglichen Maßstab von der Güte der Regierungsform, je mehr in derselben durch Sitten und Gesinnungen gewürkt, und I, 23 also durch die Erziehung selbst re | giert wird. Mit andern Worten, je mehr dem Bürger Anlaß gegeben wird, anschauend zu erkennen, daß er auf einige seiner Rechte nur zum allgemeinen Besten Verzicht zu tun, von seinem Eigennutzen nur zum Behuf des Wohlwollens aufzuopfern hat, und also von der einen Seite durch Äußerung des Wohlwollens eben so viel gewinnet, als er durch die Aufopferung verliert. Ja, daß er durch die Aufopferung selbst

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noch an innerer Glückseligkeit wuchere; indem diese das Verdienst und die Würde der wohltätigen Handlung und also die wahre Vollkommenheit des Wohlwollenden vermehret. Es ist z.B. nicht ratsam, daß der Staat alle Pflichten der Menschenliebe, bis auf die Almosenpflege, übernehme, und in öffentliche Anstalten verwandele. Der Mensch fühlt seinen Wert, wenn er Mildtätigkeit ausübt; wenn er anschauend wahrnimmt, wie er durch seine Gabe die Not seines Nebenmenschen erleichtert; wenn er gibt, weil er will. Gibt er aber, weil er muß; so fühlt er nur seine Fesseln. Eine Hauptbemühung des Staats muß es also sein, die Menschen durch Sitten und Gesinnungen zu regieren. Nun gibt es kein Mit | tel, die Gesinnungen, und vermittelst derselben, die Sitten I, 24 der Menschen zu verbessern, als Überzeugung. Gesetze verändern keine Gesinnung, willkürliche Strafen und Belohnung erzeugen keine Grundsätze, veredeln keine Sitten. Furcht und Hoffnung sind keine Kriterien der Wahrheit. Erkenntnis, Vernunftgründe, Überzeugung, diese allein bringen Grundsätze hervor, die, durch 23 Ansehen und Beispiel, in Sitten übergehen können. Und hier ist es, wo die Religion dem Staat zu Hülfe kommen, und die Kirche eine Stütze der bürgerlichen Glückseligkeit werden soll. Ihr kömmt es zu, das Volk auf die nachdrücklichste Weise von der Wahrheit edler Grundsätze und Gesinnungen zu überführen; ihnen zu zeigen, daß die Pflichten gegen Menschen auch Pflichten gegen Gott seien, die zu übertreten, schon an und für sich höchstes Elend sei; daß dem Staate dienen ein wahrer Gottesdienst, Recht und Gerechtigkeit der Befehl Gottes, und Wohltun sein allerheiligster Wille sei, und daß wahre Erkenntnis des Schöpfers keinen Menschenhaß in der Seele zurücklassen könne. Dieses zu lehren, ist Amt und Pflicht und Beruf der Religion; dieses zu predigen Amt und Pflicht und Beruf | ihrer Diener. Wie hat es den I, 25 Menschen beikommen können, jene das Gegenteil lehren, diese das Gegenteil predigen zu lassen? Wenn aber der Charakter der Nation, der Grad der Kultur, auf welchen sie gestiegen, die mit dem Wohlstande der Nation gewachsene Volksmenge, vervielfältigte Verhältnisse und Verbindungen, überhand genommene Üppigkeit und andere Ursachen es

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unmöglich machen, die Nation bloß durch Gesinnungen zu regieren; so nimmt der Staat seine Zuflucht zu öffentlichen Anstalten, Zwangsgesetzen, Bestrafungen des Verbrechens und Belohnung des Verdienstes. Wenn der Bürger nicht aus innerm Gefühl seiner Schuldigkeit das Vaterland verteidigen will; so werde er durch Belohnung gelockt, oder durch Gewalt gezwungen. Haben die Menschen keinen Sinn mehr für den innern Wert der Gerechtigkeit, erkennen sie nicht mehr, daß Redlichkeit in Handel und Wandel wahre Glückseligkeit sei; so werde die Ungerechtigkeit gezüchtiget, der Betrug bestraft. Freilich erhält der Staat auf diese Weise den Endzweck der Gesellschaft nur zur Hälfte. Äußere BeweI, 26 gungsgründe machen den, auf welchen sie auch wir | ken, nicht glücklich. Wer aus Liebe zur Rechtschaffenheit den Betrug meidet, ist glücklicher, als der nur die willkürlichen Strafen fürchtet, die der Staat mit dem Betruge verbunden. Allein seinem Nebenmenschen kann es gleichviel gelten, aus welchen Bewegursachen das Unrecht unterbleibt, durch welche Mittel ihm sein Recht und Eigentum gesichert wird. Das Vaterland ist verteidiget; die Bürger mögen aus Liebe, oder aus Furcht vor positiver Strafe, für 24 dasselbe fechten; obgleich die Verteidiger selbst in jenem Falle glücklich, in diesem aber unglücklich sind. Wenn innere Glückseligkeit der Gesellschaft nicht völlig zu erhalten stehet; so werde wenigstens äußere Ruhe und Sicherheit allenfalls erzwungen. Der Staat also begnügt sich allenfalls mit toten Handlungen, mit Werken ohne Geist, mit Übereinstimmung im Tun, ohne Übereinstimmung in Gedanken. Auch wer nicht an Gesetze glaubt, muß nach dem Gesetze tun, sobald es Sanktion erhalten hat. Er kann dem einzelnen Bürger das Recht lassen, über die Gesetze zu urteilen; aber nicht nach seinem Urteile zu handeln; denn hierauf hat er I, 27 als Mitglied der | Gesellschaft Verzicht tun müssen, weil ohne diese Verzicht eine bürgerliche Gesellschaft ein Unding ist. – Nicht also 25 die Religion! Diese kennet keine Handlung ohne Gesinnung, kein Werk ohne Geist, keine Übereinstimmung im Tun, ohne Übereinstimmung im Sinne. Religiöse Handlungen, ohne religiöse Gedanken, ist leeres Puppenspiel, kein Gottesdienst. Diese müssen also an und für sich selbst aus dem Geiste kommen, und können weder durch Belohnung erkauft, noch durch Strafen erzwungen werden.

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Aber auch von bürgerlichen Handlungen ziehet die Religion ihre Hand ab, insoweit sie nicht durch Gesinnung, sondern durch Macht hervorgebracht werden. Der Staat hat sich auch keine Hülfe mehr von der Religion zu versprechen, sobald er bloß durch Belohnung und Bestrafung würken kann; denn insoweit dieses geschiehet, kommen die Pflichten gegen Gott weiter in keine Betrachtung, sind die Verhältnisse zwischen dem Menschen und seinem Schöpfer ohne Wirkung. Aller Beistand, den die Religion dem Staate leisten kann, ist Belehren und Trösten; durch ihre göttlichen Lehren dem Bürger gemeinnützige Gesinnungen bei | bringen, und durch ihre I, 28 überirdische Trostgründe den Elenden aufrichten, der als ein Opfer für das gemeine Beste zum Tode verurteilt worden. Hier zeigt sich also schon ein wesentlicher Unterschied zwischen Staat und Religion. Der Staat gebietet und zwinget; die Religion belehrt und überredet; der Staat erteilt Gesetze, die Reli* gion Gebote. Der Staat hat physische Gewalt und bedient sich derselben, wo es nötig ist; die Macht der Religion ist Liebe und Wohltun. Jener gibt den Ungehorsamen auf, und stößt ihn aus; diese nimmt ihn in ihren Schoß, und sucht ihn noch in dem letzten Augenblicke seines gegenwärtigen Lebens, nicht ganz ohne Nutzen, zu belehren, oder doch wenigstens zu trösten. Mit einem 26 Worte: die bürgerliche Gesellschaft kann, als moralische Person, Zwangsrechte haben, und hat diese auch durch den gesellschaftlichen Vertrag würklich erhalten. Die religiöse Gesellschaft macht keinen Anspruch auf Zwangsrecht und kann durch alle Verträge in der Welt kein Zwangsrecht erhalten. Der Staat besitzet voll27 kommene, die Kirche bloß unvollkommene Rechte. Um dieses gehörig | ins Licht zu setzen, erlaube man mir zu den ersten Be- I, 29 griffen hinaufzusteigen, und den Ursprung der Zwangsrechte und Gültigkeit der Verträge unter den Menschen etwas genauer zu untersuchen. Ich bin in Gefahr, für manche Leser zu spekulativ zu werden. Allein hat doch jeder die Freiheit das zu überschlagen, was nicht nach seinem Geschmacke ist. Den Freunden des Naturrechts dürfte es nicht unangenehm sein, zu sehen, wie ich mir die ersten Grundsätze desselben zu erörtern gesucht habe. –

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Die Befugnis (das sittliche Vermögen) sich eines Dinges als Mittels zu seiner Glückseligkeit zu bedienen, heißt ein Recht. Das Vermögen aber heißt sittlich, wenn es mit den Gesetzen der Weisheit und Güte bestehen kann, und die Dinge, die als Mittel zur Glückseligkeit dienen können, werden Güter genannt. Der Mensch hat also ein Recht auf gewisse Güter oder Mittel zur Glückseligkeit, insoweit solches den Gesetzen der Weisheit und Güte nicht widerspricht. | Was nach den Gesetzen der Weisheit und der Güte geschehn muß, oder dessen Gegenteil den Gesetzen der Weisheit oder der Güte widersprechen würde: heißt sittlich notwendig. Die sittliche Notwendigkeit (Schuldigkeit) etwas zu tun, oder zu unterlassen, ist eine Pflicht. Die Gesetze der Weisheit und Güte können sich nicht einander widersprechen. Wenn ich also ein Recht habe etwas zu tun; so kann mein Nebenmensch kein Recht haben, mich daran zu verhindern; sonst wäre eben dieselbe Handlung zu einerlei Zeit sittlich möglich und sittlich unmöglich. Einem jeden Rechte entspricht also eine Pflicht; dem Rechte zu tun entspricht die Pflicht zu leiden; dem Rechte zu fordern, die Pflicht zu leisten, u. s. w.* | Weisheit mit Güte verbunden heißt Gerechtigkeit. – Das Gesetz der Gerechtigkeit, auf welches ein Recht sich gründet, ist entweder von der Beschaffenheit, daß alle Bedingungen, unter welchen das Prädikat dem Subjekte zukommt, dem Rechtha* Man macht den Einwurf: der Kriegsmann habe in währendem

Kriege die Befugnis, den Feind umzubringen, ohne daß diesem die Pflicht obliege, solches zu leiden. Allein der Kriegsmann hat diese Befugnis nicht als Mensch; sonI, 31 dern als Mitglied, oder Söldner | des kriegführenden Staats. Der Staat nämlich ist entweder wirklich beleidiget, oder gibt vor beleidiget zu sein, und seine Befriedigung nicht anders, als durch die Gewalt, erhalten zu können. Das Gefecht ist also eigentlich nicht zwischen Mensch und Mensch; sondern zwischen Staat und Staat; und unter den beiden kriegführenden Staaten hat doch offenbar nur einer das Recht auf seiner Seite. Dem Beleidiger liegt allerdings die Pflicht ob, den Beleidigten zu befriedigen, und alles zu leiden, ohne welches jener nicht zu seinem gekränkten Rechte gelangen kann.

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benden gegeben sind, oder nicht. In dem ersten Falle ist es ein vollkommenes, in dem andern ein unvollkommenes Recht. Bei dem unvollkommenen Rechte nämlich hängt ein Teil der Bedingungen, unter welchen das Recht zukömmt, von dem Wissen und Gewissen des Pflichtträgers ab. | Dieser ist also auch in I, 32 dem ersten Falle vollkommen, in dem andern aber nur unvollkommen zu der Pflicht verbunden, die jenem Rechte entspricht. – Es gibt vollkommene und unvollkommene, sowohl Pflichten, als Rechte. Jene heißen Zwangsrechte und Zwangspflichten; diese hingegen Ansprüche (Bitten) und Gewissenspflichten. Jene sind äußerlich, diese aber nur innerlich. Zwangsrechte dürfen mit Gewalt erpreßt; Bitten aber verweigert werden. Unterlassung der Zwangspflichten ist Beleidigung, Ungerechtigkeit; der Gewissenspflichten aber bloß Unbilligkeit. Die Güter, auf welche der Mensch ein ausschließendes Recht hat, sind 1) seine eigenen Fähigkeiten; 2) was er durch dieselben hervorbringet, oder dessen Fortkommen er befördert, was er anbauet, hegt, schützt u. s. w. (Produkte seines Fleißes); 3) Güter der Natur, die er mit den Produkten seines Fleißes so verbunden, daß sie von denselben ohne Zerstörung nicht mehr getrennt werden können, die er sich | also zu eigen gemacht. I, 33 Hierin bestehet also sein natürliches Eigentum, und diese Güter sind auch im Stande der Natur, bevor noch irgend ein Vertrag unter den Menschen Statt gefunden, von der ursprünglichen Gemeinschaft der Güter ausgeschlossen worden. Die Menschen besitzen nämlich ursprünglich nur diejenigen Güter gemeinschaftlich, die von der Natur, ohne eines Menschen Fleiß und Beförderung, hervorgebracht werden. – Nicht alles Eigentum ist bloß konventionell. Der Mensch kann ohne Wohltun nicht glücklich sein; nicht ohne leidendes, aber eben so wenig ohne tätiges Wohltun. Er kann nicht anders, als durch gegenseitigen Beistand, durch Wechsel von Dienst und Gegendienst, durch tätige und leidende Verbindung mit seinem Nebenmenschen, vollkommen werden. Wenn also der Mensch Güter besitzet, oder Mittel zur Glückseligkeit in seinem Vermögen hat, die er entbehren kann, d. i. die nicht notwendig zu seinem Dasein erforderlich sind, und zu

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seinem Bessersein dienen; so | ist er verpflichtet, solche zum Teil zum Besten seines Nebenmenschen, zum Wohlwollen anzuwenden; denn Bessersein ist von Wohlwollen unzertrennlich. Er hat aber auch aus ähnlichen Ursachen ein Recht auf seines Nebenmenschen Wohlwollen. Er kann erwarten, und Anspruch darauf machen, daß ihm andere mit ihren entbehrlichen Gütern beistehen, und zu seiner Vollkommenheit beförderlich sein werden. Man erinnere sich nur immer, was wir unter dem Worte Güter verstehen. Alles innere und äußere Vermögen des Menschen, insoweit es ihm, oder andern, ein Mittel zur Glückseligkeit werden kann. Was also der Mensch im Stande der Natur an Fleiß, Vermögen und Kräften besitzet; alles, was er Sein nennen kann, ist Teils zum Selbstgebrauch (eigenen Nutzen), Teils zum Wohlwollen gewidmet. Wie aber das Vermögen der Menschen eingeschränkt, und also erschöpflich ist; so kann dasselbe Vermögen oder Gut zuweilen nicht mir und meinem Nebenmenschen zugleich dienen. So kann ich auch dasselbe | Vermögen oder Gut nicht gegen alle meine Nebenmenschen, nicht zu allen Zeiten, auch nicht unter allen Umständen zum Besten anwenden; und da ich schuldig bin von meinen Kräften den bestmöglichsten Gebrauch zu machen; so kömmt es auf die Auswahl und nähere Bestimmung an, wie viel von dem Meinigen ich zum Wohlwollen bestimmen soll? Gegen wen? zu welcher Zeit, und unter welchen Umständen? Wer soll dieses entscheiden? wer die Kollisionsfälle schlichten? – Nicht mein Nächster; denn ihm sind nicht alle Gründe gegeben, aus welchen der Streit der Pflichten entschieden werden muß. Zudem würde jeder andere eben das Recht haben, und wenn von meinen Nebenmenschen jeder zu seinem Vorteil entscheiden sollte, wie wahrscheinlicher Weise geschehen dürfte, so wäre die Verlegenheit nicht gehoben. Mir, und mir allein, kömmt also im Stande der Natur das * Entscheidungsrecht zu, ob und wieviel, wenn, wem, und unter 35 welchen Bedingungen ich zum Wohltun verbunden bin? und ich kann im Stande der | Natur durch keine Zwangsmittel, zu keinerlei Zeit, zum Wohltun angehalten werden. Meine Pflicht wohlzutun, ist bloß Gewissenspflicht, davon ich äußerlich nie-

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manden Rechenschaft zu geben habe; so wie mein Recht auf anderer Wohltun, bloß ein Recht zu bitten ist, das abgewiesen werden kann. – Im Stande der Natur sind alle positive Pflichten der Menschen gegen einander bloß unvollkommene Pflichten; so wie ihre positive Rechte auf einander bloß unvollkommene Rechte, keine Pflichten, die erpreßt werden können, keine Rechte, die Zwang erlauben. – Bloß die Unterlassungspflichten und Rechte sind im Stande der Natur vollkommen. Ich bin vollkommen verpflichtet, niemanden zu schaden, und vollkommen berechtiget, zu verhindern, daß niemand mir schade. Schaden aber heißt, wie bekannt, wider das vollkommene Recht eines andern handeln. Man könnte zwar glauben, die Pflicht zur Entschädigung sei eine positive Pflicht, zu der der Mensch auch im Stande der | Natur verbunden ist. Wenn ich meinem Nächsten Schaden I, 37 zugefügt habe, so bin ich, ohne allen Vertrag, bloß nach den Gesetzen der natürlichen Gerechtigkeit, auch äußerlich verpflichtet, ihm solchen zu ersetzen, und kann von ihm mit Gewalt dazu angehalten werden. Allein die Entschädigung ist zwar eine positive Handlung; die Verbindlichkeit aber zu derselben fließet im Grunde aus der Unterlassungspflicht; beleidige nicht! denn der Schaden, den ich meinem Nächsten zugefügt habe, ist, solange er seiner Wirkung nach nicht aufgehoben wird, als eine fortgesetzte Beleidigung anzusehen. Ich handele also eigentlich wider eine negative Pflicht, solange ich die Entschädigung unterlasse; denn ich fahre fort zu beleidigen. Die Entschädigungspflicht macht also keine Ausnahme von der Regel, daß der Mensch im Stande der Natur unabhängig, d. i. niemanden positive verpflichtet sei. Niemand hat ein Zwangsrecht mir vorzuschreiben, wie viel ich von meinen Kräften zum Besten anderer anwenden, und wem ich die | Wohltat davon angedeien lassen soll. Auf mein Gut- I, 38 dünken allein muß es ankommen, nach welcher Regel ich die Kollisionsfälle entscheiden will. Auch das natürliche Verhältnis zwischen Eltern und Kindern ist diesem allgemeinen Naturgesetz nicht zuwider. Es ist leicht zu erachten, daß nur diejenigen Personen im Stande der Natur

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unabhängig sind, denen man eine vernunftmäßige Entscheidung der Kollisionsfälle zutrauen kann. Bevor also die Kinder zu den Jahren gelangen, in welchen man ihnen den Gebrauch der Vernunft zutrauen kann, haben sie keinen Anspruch auf Unabhängigkeit, müssen sie von andern entscheiden lassen, wie und zu welchen Absichten sie ihre Kräfte und Fähigkeiten anwenden sollen. Die Eltern sind ihrer Seits auch verbunden, ihre Kinder in der Kunst die Kollisionsfälle vernünftig zu entscheiden, nach und nach zu üben, und so wie ihre Vernunft zunimmt, ihnen auch allmählich den freien, unabhängigen Gebrauch ihrer Kräfte zu überlassen. | Nun sind die Eltern zwar auch im Stande der Natur gegen 39 ihre Kinder zu gewissen Dingen äußerlich verpflichtet, und könnte man glauben, daß dieses eine positive Pflicht sei, die ohne allen Vertrag, nach den ewigen Gesetzen der Weisheit und Güte erzwungen werden könnte. Allein mich dünkt, das Zwangsrecht zur Erziehung der Kinder komme im Stande der Natur bloß den Eltern selbst, einem gegen den andern, keinem dritten aber zu, der sich etwa der Kinder annehmen und die Erziehung von den Eltern erpressen wollte. Niemand ist im Stande der Natur befugt, die Eltern zur Erziehung ihrer Kinder mit Gewalt anzuhalten. Daß aber die Eltern selbst gegen einander dieses Zwangsrecht haben, fließet aus der Verabredung, die sie, obschon nicht in Worten, doch durch die Handlung selbst, getroffen zu haben, vorausgesetzt wird. Wer ein zur Glückseligkeit fähiges Wesen hervorbringen hilft, ist nach dem Gesetze der Natur verbunden, die Glückseligkeit desselben zu befördern, solange es selbst noch | in dem Stande nicht ist, für sein Fortkommen zu sorgen. Dieses ist die natürliche Pflicht der Erziehung, die zwar an und für sich bloß eine Gewissenspflicht ist, durch die Handlung selbst aber haben die Eltern sich verstanden, einander hierin beizustehen, d. i. dieser ihrer Gewissenspflicht gemeinschaftlich Genüge zu leisten. Mit einem Worte: die Eltern sind durch die Beiwohnung selbst in den Stand der Ehe getreten, haben einen stillschweigenden Vertrag gemacht, das zur Glückseligkeit bestimmte Wesen, das sie gemeinschaftlich hervorbringen, auch

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gemeinschaftlich der Glückseligkeit fähig zu machen, d. i. zu erziehen. Aus diesem Grundsatze fließen alle Pflichten und Rechte des Ehestandes ganz natürlich, und es ist nicht nötig, wie die Rechtslehrer zu tun pflegen, ein doppeltes Principium anzunehmen, um alle Pflichten der Ehe und des Hausstandes aus demselben herzuleiten. Die Pflicht zur Erziehung folgt aus der Verabredung, Kinder zu erzeugen, und die Schuldigkeit in einen gemeinschaft | lichen Hausstand zu treten, aus der gemein- I, 41 schaftlichen Pflicht zur Erziehung. Die Ehe ist also im Grunde nichts anders, als eine Verabredung zwischen Personen verschiedenen Geschlechts, gemeinschaftlich Kinder zur Welt zu bringen; und hierauf beruhet das ganze System ihrer gegenseitigen Pflichten und Rechte.* Daß aber | die Menschen durch I, 42 * Wenn Subjekte von verschiedenen Religionen in ein Ehebündnis

treten; so wird beim Kontrakte verabredet, nach welchen Grundsätzen der Hausstand geführt, und die Kinder erzogen werden sollen. 42 Wie aber, wenn Mann oder Weib nach vollzogner Heurat, Grundsätze ändern, und zu einer andern Religion übergehen? gibt dieses der andern Partei ein Recht auf die Scheidung zu dringen? In einer kleinen Schrift,† die zu Wien geschrieben sein will, und deren ich in dem zweiten Abschnitte mit mehrerem zu erwähnen, Gelegenheit haben werde, wird gesagt, daß der Fall itzt daselbst vorliege. Ein Jude, der zur christlichen Religion übergegangen, soll ausdrücklich be | gehren, I, 42 seine bei der jüdischen Religion gebliebene Ehefrau zu behalten, und der Prozeß soll anhängig gemacht sein. Genannter Verfasser entschei44 det nach dem System der Freiheit. »Man vermutet mit Recht, spricht er, daß die Verschiedenheit der Religion für keine gültige Ursache zur Ehescheidung erkannt werden werde. Nach den Grundsätzen des wei45 sen Josephs, dürfte wohl Unterschied in kirchlichen Meinungen nicht gesellschaftlichen Banden entgegen stehen dürfen.« Sehr übereilt, wie mich dünkt. Ich hoffe, ein eben so gerechter als weiser Imperator wird auch die Gegengründe anhören, und nicht zugeben, daß das System der Freiheit zur Bedrückung und Gewalttätigkeit gemißbraucht werde. – Ist die Ehe bloß ein bürgerlicher Kontrakt, wie doch zwischen Jude und Jüdin, selbst nach katholischen 43



Das Forschen nach Licht und Recht. Berlin, bey Friederich Maurer, 1782.

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Verabredung den Stand der Natur verlassen, und in den Stand der | Gesellschaft treten, wird in der Folge gezeigt werden. Mithin ist auch die Erzie | hungspflicht der Eltern, ob sie schon in gewisser Betrachtung eine Zwangspflicht zu | nennen ist, keine Ausnahme von dem angeführten Naturgesetz, daß der

Grundsätzen, die Ehe nichts anders sein kann; so müssen die Worte und Bedingungen des Kontrakts nach dem Sinne der Kontrahenten ausgelegt und erklärt werden, nicht nach dem Sinne des Gesetzgebers oder Richters. Wenn nach den Grundsätzen der Kontrahenten mit Zuverlässigkeit behauptet werden kann, daß sie gewisse Worte so, I, 43 und nicht | anders verstanden, und wenn sie gefragt worden wären, so und nicht anders erklärt haben würden; so muß diese moralisch gewisse Erklärung, als eine stillschweigende, vorausgesetzte Bedingung des Kontrakts angenommen, vor Gericht eben so gültig sein, als wenn sie ausdrücklich verabredet worden wäre. Nun ist offenbar, daß das Ehepaar bei Schließung des Kontrakts, da sie beiderseits, wenigstens äußerlich, noch der jüdischen Religion zugetan gewesen, keinen andern Sinn gehabt, als den gemeinschaftlichen Hausstand nach jüdischen Lebensregeln zu führen, und die Kinder nach jüdischen Grundsätzen zu erziehen. Wenigstens hat die Partei, der es um die Religion ein Ernst war, nichts anders voraus setzen können, und wäre damals eine Veränderung von dieser Art besorglich gewesen, und die Bedingung zur Sprache gekommen, sie würde sich sicherlich nicht anders erklärt haben. Sie wußte und erwartete nichts anders, als einen Hausstand nach väterlichen Lebensregeln anzutreten, und Kinder zu erzeugen, die sie nach väterlichen Grundsätzen würde erziehen können. Wenn dieser Person der Unterschied wichtig ist, wenn es notoI, 44 risch ist, daß ihr der Unterschied der | Religion bei Schließung des Kontrakts hat wichtig sein müssen; so muß der Kontrakt nach ihren Begriffen und Gesinnungen erklärt werden. Gesetzt der ganze Staat habe hierin andre Gesinnungen; so hat dieses keinen Einfluß auf die Deutung des Vertrages. Der Mann verändert Grundsätze, und nimmt eine andre Religion an. Soll die Frau gezwungen werden, in einen Hausstand zu treten, dem ihr Gewissen zuwider ist, und ihre Kinder nach Grundsätzen zu erziehen, die nicht die Ihrigen sind; mit einem Worte, Bedingungen des Ehekontrakts anzunehmen, und sich aufdringen zu lassen, zu welchen sie sich niemals verstanden hat; so geschiehet ihr offenbar Unrecht; so läßt man sich offenbar, durch Vorspiegelung der Gewissensfreiheit zum widersinnigsten Gewissenszwange verleiten. Die Bedingungen des Kontrakts können nun nicht mehr erfüllt werden. Der Mann, der Grundsätze verändert hat, ist,

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Mensch im Stande der Natur unabhängig sei, und ihm allein das Recht zukomme, die Kollisionsfälle zwischen Selbstgebrauch und Wohlwollen zu entscheiden. In diesem Rechte bestehet die natürliche Freiheit des Menschen, die einen großen Teil seiner Glückseligkeit ausmacht. Die Unabhängigkeit gehört also zu seinen eigentümlichen Gütern, deren er sich, als Mit | tel zu seiner Glückseligkeit zu be- I, 46 dienen befugt ist, und wer ihn in dem Gebrauch derselben störet, der beleidiget ihn, und begehet eine äußerliche Ungerechtigkeit. Der Mensch im Stande der Natur ist Herr über das Seinige, über den freien Gebrauch seiner Kräfte und Fähigkeiten, über den freien Gebrauch alles dessen, so er durch dieselben hervorgebracht, (d. i. der Früchte seines Fleißes) oder mit den Früchten seines Fleißes auf eine unzertrennliche Weise verbunden hat, und es hänget von ihm ab, wie | viel, wenn und I, 47

49 wo nicht in dolo, doch wenigstens in culpa, daß solche nicht mehr in

Erfüllung gebracht werden können. Muß die Frau Gewissenszwang leiden, weil der Mann Gewissensfreiheit haben will? Wo hat sie sich hierzu verstanden, oder verstehen können? Ist nicht auch von ihrer Seite das Gewissen ungebunden, und muß die Partei, welche | die Ver- I, 45 änderung verursacht hat, nicht auch für die Folgen dieser Verände50 rung stehen, den Gegenteil schadlos halten, und soviel es sich tun * läßt, wieder in den vorigen Stand setzen? Mich dünkt nichts sei einfacher, und die Sache rede für sich selber. Niemand kann gezwungen werden, Bedingungen eines Kontrakts anzunehmen, zu welchen er sich, seinen Grundsätzen nach, nicht hat verstehen können. An Erziehung der gemeinschaftlichen Kinder haben beide Teile gleiches Recht. Hätten wir unparteiische Erziehungsanstalten; so müßten in solchen streitigen Fällen die Kinder so lange unparteiisch erzogen werden, bis sie zur Vernunft | kommen, und selbst wählen. I,46 Solange aber dafür noch nicht gesorgt worden; solange noch unsere 51 Erziehungsanstalten mit der positiven Religion in Verbindung stehen, hat derjenige Teil ein offenbares Vorrecht, der bei den vorigen Grundsätzen geblieben ist, und solche nicht verändert hat. Auch dieses folgt ganz natürlich aus obigen Grundsätzen, und es ist gewaltsame Anmaßung und Religionsdruck, wenn irgendwo das Gegenteil geschiehet. Ein eben so gerechter als weiser Joseph wird sicherlich diesen gewaltsamen Mißbrauch der Kirchenmacht in seinen Staaten nicht zulassen.

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zum Besten wessen von seinen Nebenmenschen er einiges von diesen Gütern, das ihm entbehrlich ist, ablassen will. Alle seine Nebenmenschen haben bloß auf seinen Überfluß ein unvollkommenes Recht, ein Recht zu bitten, und er, der unumschränkte Herr trägt die Gewissenspflicht, einen Teil seiner Güter dem Wohlwollen zu widmen; ja bisweilen ist er verbunden, seinen Eigengebrauch so gar dem Wohlwollen aufzuopfern; insoweit die Ausübung des Wohlwollens glücklicher macht, als Eigennutz. Nur muß diese Aufopferung eigenes Willens und aus freiem Triebe geschehen. Alles dieses scheinet keinen Zweifel mehr zu leiden. Allein ich tue einen Schritt weiter. Sobald dieser Unabhängige einmal ein Urteil gefällt hat; so muß es gültig sein. Habe ich im Stande der Natur den Fall entschieden, wem, wenn und wie viel ich von dem Meinigen überlassen will; habe ich diesen meinen freien Entschluß hinlänglich zu erkennen gegeben, und mein Nächster, dem zum Besten der Ausspruch ge | schehen, hat das Gut in Empfang genommen; so muß die Handlung Kraft und Würkung haben, wenn mein Entscheidungsrecht etwas bedeuten soll. Wenn mein Ausspruch unkräftig ist, und die Sachen so läßt, wie sie gewesen sind; wenn er nicht in Ansehung des Rechts diejenige Veränderung hervorbringet, die ich beschlossen; so enthält mein vermeintes Recht den Ausspruch zu tun, einen offenbaren Widerspruch. Meine Entscheidung muß also wirken, muß den Zustand des Rechts verändern. Das Gut, wovon die Rede ist, muß aufhören das Meine zu sein, und nunmehr wirklich meines Nächsten geworden sein. Das vorhin unvollkommen gewesene Recht meines Nächsten muß durch diese Handlung ein vollkommenes Recht geworden; so wie mein vollkommen gewesenes Recht in ein unvollkommenes übergegangen sein; sonst wäre meine Entscheidung null. Nach vollzogener Handlung also kann ich das abgetretene Gut, ohne Ungerechtigkeit, mir nicht mehr anmaßen; und wenn ich es tue, so beleidige ich; so han | dele ich wider das vollkommene Recht meines Nächsten. Dieses gilt sowohl von körperlichen beweglichen Gütern, die von Hand in Hand gegeben und angenommen werden können, als von unbeweglichen, oder auch geistigen Gütern, davon

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die Rechte bloß durch hinlängliche Willenserklärung abgetreten und angenommen werden können. Im Grunde kömmt alles bloß auf diese Willenserklärung an, und die wirkliche Einhändigung beweglicher Güter selbst kann nur gültig sein, insoweit sie für ein Zeichen der hinlänglichen Willenserklärung genommen wird. Die bloße Einhändigung an und für sich betrachtet, gibt und nimmt kein Recht, sooft diese Absicht nicht damit verbunden ist. Was ich meinem Nächsten in die Hand gebe, habe ich ihm deswegen noch nicht eingehändiget, und was ich von ihm in die Hand nehme, habe ich damit noch nicht rechtskräftig angenommen, wenn ich nicht zu erkennen gegeben, daß die Handlung in dieser Absicht geschehen sei. Ist aber die Tradition selbst bloß als | Zeichen gültig; so können bei solchen I, 50 Gütern, wo die wirkliche Aushändigung nicht Statt findet, andere bedeutende Zeichen dafür genommen werden. Man kann also sein Recht auf unbewegliche oder auch unkörperliche Güter durch hinlänglich verständliche Zeichen andern abtreten und überlassen. Auf diese Weise kann das Eigentum von Person zu Person wandern. Was ich durch meinen Fleiß zu dem Meinigen gemacht, wird durch Abtreten das Gut eines Andern, das ich ihm nicht wieder nehmen kann, ohne eine Ungerechtigkeit zu begehen. Und nun noch einen Schritt näher, so stehet die Gültigkeit der Verträge auf sicheren Füßen. – Das Recht, die Kollisionsfälle zu entscheiden, selbst ist, wie oben gezeigt worden, ein unkörperliches Gut des unabhängigen Menschen; insoweit es ein Mittel zu seiner Glückseligkeit werden kann. Jeder Mensch hat im Stande der Natur auf den Genuß dieses Mittels zur Glückseligkeit ein vollkommenes, und sein | Nebenmensch ein I, 51 unvollkommenes Recht. Da aber der Genuß dieses Rechts wenigstens in vielen Fällen zur Erhaltung nicht unumgänglich notwendig ist; so ist es ein entbehrliches Gut, das, vermöge des Erwiesenen, abgetreten, und vermittelst einer hinlänglichen Willenserklärung, einem Andern überlassen werden kann. Eine Handlung, wodurch dieses geschiehet, heißt ein Versprechen, und wenn von der andern Seite die Annahme hinzukömmt, d. i.

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die Einwilligung in dieses Übertragen der Rechte hinlänglich zu erkennen gegeben wird; so entstehet ein Vertrag. Demnach ist ein Vertrag nichts anders, als von der einen Seite die Überlassung, und von der andern Seite, die Annahme des Rechts, in Absicht auf gewisse, dem Versprecher entbehrliche Güter, die Kollisionsfälle zu entscheiden. Ein solcher Vertrag muß, vermöge des vorhin Erwiesenen, gehalten werden. Das Entscheidungsrecht, welches vorhin einen Teil meiner Güter ausmachte, d. i. das Meine war, ist durch diese Abtretung das | Gut meines Nächsten, das Seine geworden, I, 52 und ich kann es ihm, ohne Beleidigung nicht wieder entziehen. Der Anspruch, den er auf den Gebrauch dieser meiner Unab- * hängigkeit, insoweit sie nicht zu meiner Erhaltung notwendig ist, so wie jeder andere machen konnte, ist durch diese Handlung in ein vollkommnes Recht übergegangen, das er sich mit Gewalt zu erzwingen befugt ist. Dieser Erfolg ist unstreitig; sobald mein Entscheidungsrecht Kraft und Wirkung haben soll –* I, 53 | Ich verlasse meine spekulativen Betrachtungen, und komme in mein voriges Geleis zurück; muß aber vorher die Bedingungen festsetzen, unter welchen nach obigen Grundsätzen ein Vertrag gültig sei, und gehalten werden müsse. * Auf diese sehr einleuchtende Auseinandersetzung der Begriffe

bin ich von dem philosophischen Rechtsgelehrten, meinem sehr werten Freunde, dem Herrn Assistenzrat K l e i n geführt worden, mit 54 dem ich das Vergnügen gehabt, mich über diese Materie zu unterhalten. Mich dünkt, diese Theorie der Kontrakte sei einfach und fruchtbar. Ferguson in seiner Moralphilosophie, und sein vortrefflicher 55 * Übersetzer, finden die Notwendigkeit, das Versprechen zu halten, in der bei dem Nebenmenschen erregten Erwartung und Unsittlichkeit I, 53 der Täuschung. Allein hieraus scheint bloß eine | Gewissenspflicht zu folgen. War ich vorhin im Gewissen verbunden gewesen, von meinen * Gütern zum Besten meiner Nebenmenschen überhaupt hinzugeben, bin ich durch die bei diesem Subjekt ins besondere erregte Erwartung, im Gewissen verbunden, ihm zukommen zu lassen. Wodurch aber ist diese Gewissenspflicht in eine Zwangspflicht übergegangen? Mich dünkt, hierzu gehören unumgänglich die allhier ausgeführten Grundsätze der Abtretung überhaupt, und ins besondere der Entscheidungsrechte in Kollisionsfällen.

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1) Cajus besitzet ein Gut (irgend ein Mittel zur Glückseligkeit: den Gebrauch seiner natürlichen Fähigkeiten selbst, oder das Recht auf die Früchte seines Fleißes, und die damit verbundenen Güter der Natur, oder was sonst auf eine gerechte Weise ihm zueigen geworden; es sei solches ein körperliches oder unkörperliches Ding, als nämlich Gerechtsame, Freihei57 ten u. d. g.) 58 |2)Dieses Gut aber gehört nicht unumgänglich zu seinem Da- I, 54 sein, und kann also zum Besten des Wohlwollens, d. i. zum Nutzen anderer angewendet werden. 3) Sempronius hat auf dieses Gut ein unvollkommenes Recht. Er kann, so wie jeder andere Mensch verlangen, aber nicht zwingen, daß dieses Gut itzt zu seinem Besten angewendet werde. Das Recht zu entscheiden gehört dem Cajus, ist das * Seine, und darf ihm mit Gewalt nicht entzogen werden. 4) Nunmehr bedienet sich Cajus seines vollkommenen Rechts, entscheidet zum Vorteil des Sempronius, und gibt seine Entscheidung durch hinlängliche Zeichen zu erkennen; d. i. Cajus verspricht. 5) Sempronius nimmt an, und gibt seine Einwilligung gleichfalls auf eine bedeutende Weise zu verstehen. So ist der Ausspruch des Cajus wirksam und von Kraft; d. i. jenes Gut, das ein Eigentum des Cajus, das Seine gewesen, ist durch diese Handlung zum Gute des Sempronius geworden. Das voll | kommene Recht des Cajus ist in ein un- I, 55 vollkommenes übergegangen; so wie das unvollkommene Recht des Sempronius in ein vollkommenes Zwangsrecht verwandelt worden ist. Cajus muß sein rechtskräftiges Versprechen halten, und Sempronius kann ihn, im Verweigerungsfalle, mit Gewalt dazu zwingen. Durch Verabredungen dieser Art verläßt der Mensch den Stand der Natur und tritt in den Stand der gesellschaftlichen Verbindung; und seine eigene Natur treibet ihn an, Verbindungen mancherlei Art einzugehen, um seine schwankenden Rechte und Pflichten in etwas Bestimmtes zu verwandeln. Nur der Wilde klebt, wie das Vieh, an dem Genusse des gegenwärtigen Augen56

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blickes. Der gesittete Mensch lebt auch für die Zukunft, und will auch für den nächsten Augenblick worauf Rechnung machen können. Schon der Vermehrungstrieb, wenn er nicht bloß viehischer Instinkt sein soll, zwinget die Menschen, wie wir oben geseI, 56 hen, zu einem gesellschaftlichen Ver | trage, davon man sogar bei vielen Tieren etwas Analogisches findet. Laßt uns von dieser Theorie der Rechte, Pflichten und Verträge die Anwendung auf den Unterschied zwischen Staat und Kirche machen, davon wir ausgegangen sind. Beide, Staat und Kirche, haben sowohl Handlungen, als Gesinnungen zu ihrem Gegenstande: jener insoweit sie sich auf Verhältnisse zwischen Mensch und Natur; diese insoweit sie sich auf Verhältnisse zwischen Natur und Gott gründen. Die Menschen bedürfen einander, hoffen und versprechen, erwarten und leisten einer dem andern Dienst und Gegendienst. Die Vermischung von Überfluß und Mangel, Kraft und Bedürfnis, Eigensucht und Wohlwollen, die ihnen die Natur gegeben, treibet sie an, in gesellschaftliche Verbindung zu treten, um ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen weitern Spielraum zu verschaffen. Jedes Individuum ist verbunden, einen Teil seiner Fähigkeiten und der dadurch erworbenen Rechte, zum Besten der verbundenen Gesellschaft anzuwenden; aber welchen? wenn? und zu welchem Endzwecke? – An und für sich sollte dieses nur der I, 57 bestim | men, der leisten soll. Man kann aber auch für gut finden, auf dieses Recht der Unabhängigkeit durch einen gesellschaftlichen Vertrag Verzicht zu tun, und durch Positivgesetze diese unvollkommene Pflichten in vollkommene verwandeln; d. i. man kann die nähere Bestimmungen verabreden und festsetzen, wie viel jedes Mitglied, von seinen Rechten zum Nutzen der Gesellschaft zu verwenden, soll gezwungen werden können. Der Staat, oder die den Staat vorstellen, werden als eine moralische Person betrachtet, die über diese Rechte zu schalten hat. Der Staat hat also Rechte und Gerechtsame auf Güter und Handlungen der Menschen. Er kann nach dem Gesetze geben und nehmen, vorschreiben und verbieten, und weil es ihm auch um Handlung als Handlung zu tun ist, bestrafen und belohnen. Der Pflicht gegen meinen Nächsten geschiehet äußerlich Genüge, wenn ich ihm leiste, was ich soll; meine Handlung mag erzwungen oder

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freiwillig sein. Kann nun der Staat nicht durch innere Triebfedern wirken, und dadurch für mich mit sorgen; so wirkt er | wenig- I, 58 stens durch äußere, und verhilft meinem Nächsten zu dem Seinigen. Nicht also die Kirche! Sie beruhet auf dem Verhältnisse zwischen Gott und Menschen. Gott ist kein Wesen, das unsers Wohlwollens bedarf, unsern Beistand fordert, auf irgend eines von unseren Rechten zu seinem Gebrauch Anspruch macht, oder dessen Rechte mit den Unserigen je in Streit und Verwirrung geraten können. Auf diese irrigen Begriffe hat die in mancher Betrachtung 63 unbequeme Einteilung der Pflichten in Pflichten gegen Gott und Pflichten gegen die Menschen, führen müssen. Man hat die Parallele zu weit gezogen. Gegen Gott – gegen Menschen – dachte man. So wie wir aus Pflicht gegen unsern Nächsten etwas von dem Unsrigen aufopfern und hingeben, so auch aus Pflicht gegen Gott. Die Menschen fordern Dienst; so auch Gott. Die Pflicht gegen mich selbst kann mit der Pflicht gegen meinen Nächsten in Streit und Gegenstoß geraten; eben also die Pflicht gegen mich selbst, mit der Pflicht gegen Gott. – Niemand wird sich ausdrücklich dazu verstehen, wenn ihm diese ungereimten Sätze in trocknen Worten vorgehalten wer | den, und gleichwohl hat jedermann I, 59 mehr oder weniger davon gleichsam eingesogen, und seine innern Säfte damit angesteckt. Aus dieser Quelle flossen alle ungerechte Anmaßungen, die sich sogenannte Diener der Religion, unter dem Namen der Kirche, von je her erlaubt. Alle Gewalttätigkeit und Verfolgung, die sie ausgeübt, aller Zwist und Zwiespalt, Meuterei und Aufruhr, die sie angezettelt haben, und alle Übel, die von jeher unter dem Scheine der Religion, von ihren grimmigsten Feinden, von Heuchelei und Menschenfeindschaft, ausgeübt worden, sind einzig und allein Früchte dieser armseligen Sophisterei; eines vorgespiegelten Konflikts zwischen Gott und Menschen, Rechten der Gottheit und Rechten des Menschen. Im Grunde machen in dem System der menschlichen Pflichten, die gegen Gott keine besondere Abteilung; sondern alle Pflichten des Menschen sind Obliegenheiten gegen Gott. Einige derselben gehen uns selbst, andere unsere Nebenmenschen an. Wir sollen, aus Liebe zu Gott, uns selbst vernünftig lieben, seine Geschöpfe

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lieben; so wie wir aus vernünftiger Liebe | zu uns selbst verbunden sind, unsere Nebenmenschen zu lieben. Das System unserer Pflichten hat ein doppeltes Principium; das Verhältnis zwischen Menschen und Natur, und das Verhältnis zwischen Geschöpf und Schöpfer. Jenes ist Moralphilosophie, dieses Religion, und demjenigen, der von der Wahrheit überführt ist, daß die Naturverhältnisse nichts anders sind, als Äußerungen des göttlichen Willens, dem fallen auch diese beiden Prinzipien in einander, dem ist Sittenlehre der Vernunft heilig, wie Religion. Auch heischt die Religion, oder das Verhältnis zwischen Gott und Menschen keine andere Pflichten; sondern gibt jenen Pflichten und Obliegenheiten nur erhabenere Sanktion. Gott bedarf unseres 64 Beistandes nicht; verlanget keinen Dienst von uns,* keine AufI, 61 opferung un | serer Rechte zu seinem Besten, keine Verzicht auf unsere Unabhängigkeit zu seinem Vorteil. Seine Rechte können mit den Unserigen nie in Streit und Irrung kommen. Er will nur unser Bestes, eines jeden Einzelnen Bestes, und dieses muß ja mit sich selbst bestehen, kann sich ja selbst nicht widersprechen. – Alle diese Gemeinörter sind so trivial, daß der gesunde Men- 65 schenverstand sich wundert, wie man je hat anderer Meinung sein können; und gleichwohl haben die Menschen von jeher wider diese einleuchtenden Grundsätze gehandelt; und wohl ihnen! wenn sie im Jahre 2240 aufhören werden, dawider zu handeln. 66 Die nächste Folge aus diesen Maximen ist, wie mich dünkt, offenbar, daß die Kirche kein Recht habe auf Gut und Eigentum, keinen Anspruch auf Beitrag und Verzicht; daß ihre Gerechtsame mit den Unserigen niemals in Irrung geraten, daß also zwischen I, 62 Kirche und | Bürger nie Kollisionsfälle vorkommen können. Ist aber dieses, so findet auch zwischen Kirche und Bürger kein VerI, 60

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Die Wörter, Dienst, Ehre, u. a. haben in Beziehung auf Gott eine ganz andere Bedeutung, als in Beziehung auf Menschen. Gottesdienst ist nicht Dienst, den ich Gotte erzeige, Ehre Gottes nicht Ehre, die ich Gotte antue. Man hat, um die Worte zu retten, ihre Bedeutung geI, 61 ändert. Der | gemeine Mann aber klebt noch immer an der ihm gewöhnlichen Bedeutung, und hänget noch immer fest an seinem Sprachgebrauch, woraus in Religionssachen viele Verwirrungen entstanden sind.

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trag statt; denn alle Verträge setzen Kollisionsfälle voraus, die zu entscheiden sind. Wo keine unvollkommene Rechte Statt haben, entstehen keine Kollisionen der Ansprüche, und wo nicht Ansprüche gegen Ansprüche entschieden werden sollen, da ist Vertrag ein Unding. Alle menschliche Verträge haben also der Kirche kein Recht auf Gut und Eigentum beilegen können, da sie ihrem Wesen nach auf keins derselben Anspruch machen, oder ein unvollkommenes Recht haben kann. Ihr kann also niemals ein Zwangsrecht zukommen, und den Mitgliedern kann keine Zwangspflicht gegen dieselbe aufgelegt werden. Alle Rechte der Kirche sind, Vermahnen, Belehren, Stärken und Trösten, und die Pflichten der Bürger gegen die Kirche sind ein geneigtes Ohr und ein williges Herz.* | So hat auch die Kirche kein Recht Handlungen zu belohnen I, 63 oder zu bestrafen. Die bürgerlichen Handlungen gehören dem Staat, und die eigentlichen religiösen Handlungen leiden, ihrer Natur nach, weder Zwang noch Bestechung. Sie fließen entweder aus freiem Antriebe der Seele, oder sind ein leeres Spiel, und dem wahren Geiste der Religion zuwider. Wenn aber die Kirche kein Eigentum hat, wer besoldet die Lehrer der Religion? Wer lohnet die Prediger der Gottesfurcht? – Religion und Sold – Lehren der Tugend und Bezahlung – Predigten der Gottesfurcht und Lohn. Die Begriffe scheinen sich einander zu fliehen. Was verspricht sich der Lehrer der Weisheit und Tugend für Wirkung, sobald er bezahlt wird, und den Meistbietenden feil ist? Was der Prediger der Gottesfurcht für Eindruck, wenn er nach Lohne ausgehet? – Siehe, ich lehre euch Gesetze und Rechte, so wie mich der Ewige mein Gott u. s. w. (V. B. M. C. 4, 5.) So wie mich mein Gott; erklären die Rabbinen, wie er mich, ohne Entgeld; so ich euch, und so auch ihr die Eurigen. Bezahlen, Lohnen, ist für diese erhabene Beschäftigung so unnatür | lich, mit I, 64 der Lebensart, welche diese Beschäftigung erfordert, so unverein*

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Der Psalmist singet: Dir gefällt nicht Opfer, nicht Geschenk Ohren hast Du mir gegraben! (Ps. 40, 7.)

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bar, daß die mindeste Anhänglichkeit an Gewinnen und Erwerben diesen Stand zu erniedrigen scheinet. Das Verlangen nach Reichtum, das man jedem andern Stande gern zu Gute hält, scheinet uns bei diesem Geiz und Habsucht, oder artet bei Männern, die sich diesem edlen Geschäfte widmen, wirklich gar bald in Geiz und Habsucht aus, weil es ihrem Berufe so widernatürlich ist. Höchstens kann ihnen Entschädigung für Zeitversäumnis eingeräumt werden, und diese auszumitteln und zu erteilen, ist ein Geschäft des Staats, nicht der Kirche. Was hat die Kirche mit Dingen zu schaffen, die feil sind, bedungen und bezahlt werden? Die Zeit 71 macht einen Teil von unserm Vermögen aus, und wer sie zum gemeinen Besten anwendet, darf hoffen, aus dem gemeinen Schatze dafür entschädiget zu werden. Die Kirche lohnet nicht, die Religion kauft nichts, bezahlet nichts, gibt keinen Sold. Dieses sind, meinem Bedünken nach, die Grenzen zwischen Staat und Kirche, insoweit sie auf die Handlungen der Menschen I, 65 Einfluß | haben. In Absicht auf Gesinnungen treten sie schon etwas näher zusammen; denn hier hat der Staat keine andere Wirkungsmittel, als die Kirche. Beide müssen unterrichten, belehren, aufmuntern, veranlassen; aber weder belohnen, noch bestrafen; weder zwingen noch bestechen; denn auch der Staat hat durch keinen Vertrag das mindeste Zwangsrecht über Gesinnungen erlangen können. Überhaupt kennen die Gesinnungen der Menschen kein Wohlwollen, leiden keinen Zwang. Ich kann auf keine meiner Gesinnungen, als Gesinnung betrachtet, aus Liebe zu meinem Nächsten Verzicht tun; kann ihm keinen Anteil an meiner Urteilskraft aus Wohlwollen überlassen und abtreten, und eben so wenig ein Recht auf seine Gesinnungen mir anmaßen, oder auf irgend eine Weise erwerben. Das Recht auf unsere eigene Gesinnungen ist unveräußerlich, kann nicht von Person zu Person wandern; denn es gibt und nimmt keinen Anspruch auf Vermögen, Gut und Freiheit. Daher das mindeste Vorrecht, das ihr euern Religions- und Gesinnungsverwandten öffentlich einräumet, eine indirekte Bestechung; die mindeste Freiheit, die ihr den Dissidenten I, 66 entziehet, | eine indirekte Bestrafung zu nennen ist, und im Grunde dieselbe Wirkung hat, als eine direkte Belohnung des Einstimmens, und Bestrafung des Widerspruchs. Es ist armseliges Blend-

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werk, wenn in einigen Lehrbüchern des Kirchenrechts so sehr auf den Unterschied zwischen Belohnung und Vorrecht; Bestrafung und Einschränkung gedrungen wird. Den Sprachforschern kann diese Bemerkung nützlich sein; allein dem Elenden, der die Rechte der Menschheit entbehren muß, weil er nicht sagen kann: ich glaube, wo er nicht glaubet; nicht mit dem Munde Muselmann, und im Herzen Christ sein will, dem bringet diese Distinktion nur 72 leidigen Trost. Und welches sind die Grenzen der Vorrechte auf der einen, und der Einschränkung auf der andern Seite? Mit einer mäßigen Gabe von Dialektik erweitert man diese Begriffe, und dehnet sie so lange aus, bis sie auf der einen Seite bürgerliche Glückseligkeit, auf der andern Unterdrückung, Verbannung und Elend werden.* | Furcht und Hoffnung wirken auf den Begehrungstrieb der I, 67 Menschen; Vernunftgründe auf sein Erkenntnisvermögen. Ihr ergreifet die unrechten Mittel, wenn ihr die Menschen durch Furcht und Hoffnung zur Annahme oder zur Verwerfung gewisser Lehrsätze führen wollt. Ja, wenn auch dieses gradezu eure Absicht nicht ist; so hindert ihr selbst doch eure bessern Absichten, wenn ihr Furcht und Hoffnung nicht so weit zu entfernen sucht, als nur immer möglich ist. Ihr bestechet und verführet euer eigenes Herz, oder euer Herz hat euch verführt, wenn ihr glaubet, Prüfung der Wahrheit könne bestehen, Freiheit der Untersuchung bleibe ungekränkt, wenn hier Stand und Würden, dort Verachtung und Dürftigkeit die Un | tersuchenden erwarten. Vorstellung des Guten und I, 68 Bösen sind Werkzeug für den Willen; der Wahrheit und Unwahrheit für den Verstand. Wer auf den Verstand wirken will, lege jenes Werkzeug zuvörderst aus der Hand; sonst ist er in Gefahr, wider seinen eigenen Vorsatz, auszuglätten, wo er durchschneiden; zu befestigen, wo er einreißen soll. * Ein Kollegium von gelehrten und angesehenen Männern, in ei-

nem übrigens ziemlich duldsamen | Staate, ließ vor einiger Zeit gewis- I, 67 se Dissidenten für die Approbation gedoppelte Gebühren bezahlen, und als sie von der Obrigkeit deswegen zur Rede gestellt wurden, war die Entschuldigung, jene wären doch überall im bürgerlichen Leben 73 deterioris Conditionis. Das Sonderbarste ist, daß es bis auf den heutigen Tag bei der Erhöhung der Gebühren geblieben sein soll.

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Was wird also der Kirche für eine Regierungsform anzuraten sein? – keine! – Wer soll entscheiden, wenn in Religionssachen Streitigkeiten entstehen? – Wem Gott die Fähigkeit gegeben, zu überzeugen. Was soll Regierungsform, wo nichts zu regieren ist; Obrigkeit, wo niemand Untertan sein darf; Richteramt, wo keine Rechte und Ansprüche zu entscheiden vorkommen? Weder Staat noch Kirche sind in Religionssachen befugte Richter; denn die Glieder der Gesellschaft haben ihnen durch keinen Vertrag dieses Recht einräumen können. Der Staat hat zwar von Ferne darauf zu sehen, daß keine Lehren ausgebreitet werden, mit denen der öffentliche Wohlstand nicht bestehen kann; die wie Atheisterei und 74 75 Epikurismus den Grund untergraben, auf welchem die GlückI, 69 selig | keit des gesellschaftlichen Lebens beruhet. Plutarch und 76 Bayle mögen immer untersuchen: ob ein Staat bei der Atheisterei nicht besser bestehen könne, als beim Aberglauben? mögen immer die Plagen berechnen, und vergleichen, die dem menschlichen Geschlechte aus diesen verschiedenen Quellen des Elends bisher entstanden sind, und noch zu entstehen drohen. Im Grunde heißt dieses nichts anders, als untersuchen: ob ein schleichendes oder ein hitziges Fieber tödlicher sei? Seinen Freunden wird man gleichwohl keines von beiden anwünschen. So wird eine jede bürgerliche Gesellschaft wohltun, wenn sie keines von beiden, weder Fanatismus, noch Atheisterei Wurzel schlagen und sich ausbreiten läßt. Der Staatskörper siecht und ist elend, er mag vom Krebsschaden aufgerieben, oder von Fieberhitze verzehrt werden. Aber nur von Ferne her muß der Staat hierauf Rücksicht nehmen, und selbst die Lehren nur mit weiser Mäßigung begünstigen, auf welchen seine wahre Glückseligkeit beruhet, ohne sich unmittelbar in irgend eine Streitigkeit zu mischen, und durch AuI, 70 torität entscheiden zu wol | len; denn er handelt offenbar wider seinen eigenen Endzweck, wenn er geradezu Untersuchung verbietet, oder Streitigkeiten anders, als durch Vernunftgründe entscheiden läßt. Auch hat er sich nicht um alle Grundsätze zu bekümmern, die eine herrschende oder beherrschte Dogmatik annimmt oder verwirft. Die Rede ist nur von jenen Hauptgrundsätzen, in welchen alle Religionen übereinkommen, und ohne welche die Glückseligkeit ein Traum, und die Tugend selbst keine Tugend

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mehr ist. Ohne Gott und Vorsehung und künftiges Leben ist Menschenliebe eine angeborne Schwachheit, und Wohlwollen wenig mehr als eine Geckerei, die wir uns einander einzuschwatzen suchen, damit der Tor sich placke, und der Kluge sich gütlich tun und auf jenes Unkosten sich lustig machen könne. Kaum wird es nötig sein, noch die Frage zu berühren: ob es erlaubt sei, die Lehrer und Priester auf gewisse Glaubenslehren zu beeidigen? Auf welche sollte dieses geschehen? Jene Grundartikel aller Religionen, davon vorhin gesprochen worden, können durch keine Eidschwüre bekräftiget werden. Ihr müsset dem Schwörenden auf sein Wort glauben, daß er sie | annimmt; oder sein Eid ist I, 71 ein leerer Schall; Worte, die er in die Luft stößt, ohne daß sie ihn mehr Überwindung kosten, als eine bloße Versicherung; denn alles Zutrauen zu Eidschwüren, und das ganze Ansehen derselben beruhet ja bloß auf diesen Grundlehren der Sittlichkeit. Sind es aber besondere Artikel dieser oder jener Religion, die ich beschwören oder abschwören soll; sind es Grundsätze, ohne welche Tugend und Wohlstand unter den Menschen bestehen können, und wenn sie auch nach der Meinung des Staats, oder der Personen, die den Staat vorstellen, zu meinem ewigen Heile noch so notwendig sind; so frage ich: was hat der Staat für Recht in das Innerste der Menschen so zu wühlen, und sie zu Geständnissen zu zwingen, die der Gesellschaft weder Trost noch Frommen bringen? Eingeräumt hat ihm dieses nicht werden können; denn hier fehlen alle Bedingnisse des Vertrags, die im vorhergehenden ausgeführt worden. Es betrifft keines von meinen entbehrlichen Gütern, das ich meinem Nächsten überlassen soll; es betrifft keinen Gegenstand des Wohlwollens; und Kollisionsfälle können dabei zur Entscheidung nicht vor | kommen. Wie kann sich aber der I, 72 Staat eine Befugnis anmaßen, die durch keinen Vertrag eingeräumt, durch keine Willenserklärung von Person zu Person wandern und übertragen werden kann? Lasset uns indessen zum Überflusse untersuchen: ob überall Beeidigung über Glauben und Nichtglauben ein reeller Begriff sei? ob die Meinungen der Menschen überhaupt, ihr Beistimmen und Nichtbeistimmen in Absicht auf Vernunftsätze, ein Gegenstand sind, über welchen sie beeidiget werden können?

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Eidschwüre erzeugen keine neuen Pflichten. Die feierlichste Anrufung Gottes zum Zeugen der Wahrheit gibt und nimmt kein Recht, das nicht ohne dieselbe schon da gewesen; legt dem Anrufenden auch keine Verbindlichkeit auf, die ihm nicht auch ohne dieselbe obliegt. Sie dienen bloß, das Gewissen der Menschen, wenn es etwa eingeschläfert sein sollte, aufzuwecken; und auf das aufmerksam zu machen, was der Wille des Weltrichters schon so von ihm fordert. Die Eidschwüre sind also eigentlich weder für den gewissenhaften Mann, noch für den entschlossenen TaugeI, 73 nichts. Jener muß ohnehin | wissen, muß ohne Eid und Fluch von der Wahrheit innigst durchdrungen sein, daß Gott Zeuge sei, nicht nur aller Worte und Aussagen, sondern aller Gedanken und geheimsten Regungen des Menschen, und daß er die Übertretung seines allerheiligsten Willens nicht ungeahndet lasse; – und der entschlossene, gewissenlose Bösewicht? Der fürchtet keine Götter, 81 Der keines Menschen schont. Also bloß für den gemeinen Mittelschlag von Menschen, oder im Grunde für jeden von uns, insoweit wir alle, so viel unserer sind, in so manchen Fällen zu dieser Klasse zu zählen sind; für die schwachen, unschlüssigen und schwankenden Menschen, die Grundsätze haben, und sie nicht immer befolgen; die träge und lässig sind zum Guten, das sie erkennen und einsehen; die ihrer Laune nachgeben, einer Schwachheit zu gefallen, aufschieben, bemänteln, Entschuldigung suchen, und mehrenteils zu finden glauben. Sie wollen, und haben die Festigkeit nicht, ihrem Willen I, 74 treu zu bleiben. Diesen muß der Wille gestählt, | das Gewissen rege gemacht werden. Der itzt vor Gericht leugnet, besitzet vielleicht fremdes Gut, ohne die entschlossene Bosheit, ungerecht sein zu wollen. Er kann solches verzehrt, oder haben von Händen kommen lassen, und will voritzt durch das Ableugnen nur Zeit gewinnen; und so wird vielleicht der gute Geist, der für die Gerechtigkeit in ihm kämpft, von Tag zu Tag abgewiesen, bis er ermüdet, und unterliegt. Man muß ihm also zu Hülfe eilen, und erstlich den Fall, der Aufschub leidet, in eine Handlung verwandeln, die itzt geschiehet, wo der Augenblick entscheidend ist, und alle Entschuldigung wegfällt; sodann aber auch alle Feierlichkeit

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aufbieten, alle die Kraft und den Nachdruck zusammennehmen, mit welchen die Erinnerung an Gott, den allgerechten Rächer und Vergelter, auf das Gemüt wirken kann. Dieses ist die Bestimmung des Eides, und hieraus, dünkt mich, sei offenbar, daß man die Menschen nur über Dinge beschwören müsse, die in die äußeren Sinne fallen; davon sie mit der Überzeugung, welche die Evidenz | der äußern Sinne mit sich führet, die I, 75 Wahrheit behaupten und aussagen können: ich habe gehört, gesehen, gesprochen, empfangen, gegeben, oder nicht gehört u. s. w. Man bringet aber ihr Gewissen auf eine grausame Folter, wenn 82 man sie über Dinge befragt, die bloß für den innern Sinn gehören. Glaubst du? Bist du überführt? überredet? dünkt es dir? Ist irgend in einem Winkel deines Geistes oder deines Herzens noch einiger Zweifel zurück; so zeige an, oder Gott wird den Mißbrauch seines Namens rächen. – Um des Himmels willen, schonet der zarten, gewissenhaften Unschuld! Und wenn sie einen Satz aus dem 83 ersten Buche des Euklides zu behaupten hätte; so müßte sie in diesem Augenblicke zagen, und unaussprechliche Marter leiden. Die Wahrnehmungen des innern Sinnes sind an und für sich selbst selten so handgreiflich, daß der Geist sie mit Sicherheit feste halten, und sooft es verlangt wird, von sich geben könne. Sie entschlüpfen ihm zuweilen, indem er sie zu fassen glaubt. Wovon ich itzt | versichert zu sein glaube, darüber schleichet oder stiehlt I, 76 sich in dem nächsten Augenblicke ein kleiner Zweifel ein, und 84 lauret in einer Falte meiner Seele, ohne daß ich ihn gewahr worden. Viele Behauptungen, über die ich heute zum Märtyrer werden möchte, können mir morgen vielleicht problematisch vorkommen. Soll ich diese innern Wahrnehmungen gar durch Worte und Zeichen von mir geben, oder auf Worte und Zeichen schwören, die andere Menschen mir vorlegen; so ist die Unsicherheit noch weit größer. Ich und mein Nächster, wir können unmöglich mit eben denselben Worten eben dieselben innern Empfindungen verbinden; denn wir können diese nicht anders gegen einanderhalten, mit einander vergleichen und berichtigen, als wiederum durch Worte. Wir können die Worte nicht durch Sachen erläutern; sondern müssen wiederum zu Zeichen und Worten unsere

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Zuflucht nehmen, und am Ende zu Metaphern, weil wir, durch Hülfe dieses Kunstgriffs, die Begriffe des innern Sinnes auf äußere sinnliche Wahrnehmungen gleichsam zurückführen. Was für I, 77 Verwirrung und Undeutlichkeit muß aber nicht auf solche | Weise in der Bedeutung der Worte zurückbleiben, und wie sehr müssen die Ideen verschieden sein, die verschiedene Menschen, in verschiedenen Zeiten und Jahrhunderten, mit denselben äußerlichen Zeichen und Worten verbinden? Wer du auch seiest, lieber Leser! so beschuldige mich hier nicht der Zweifelsucht, oder der bösen List, dich zum Skeptizisten machen zu wollen. Ich bin vielleicht einer von denjenigen, die am weitesten von dieser Krankheit der Seele entfernt sind, und sie an allen ihren Nebenmenschen kurieren zu können, am sehnlichsten wünschen. Aber eben deswegen, weil ich diese Kur so oft an mir selbst verrichtet, und an andern versucht habe, bin ich gewahr worden, wie schwer sie sei, und wie wenig man den Erfolg in Händen habe. Mit meinem besten Freunde, mit dem ich noch so 85 einhellig zu denken glaubte, konnte ich mich sehr oft über Wahrheiten der Philosophie und Religion nicht vereinigen. Nach langem Streit und Wortwechsel ergab sich zuweilen, daß wir mit I, 78 denselben Worten, jeder andere Begriffe ver | bunden hatten. Nicht selten dachten wir einerlei, und drückten uns nur verschiedentlich aus; aber eben so oft glaubten wir überein zu stimmen, und waren in Gedanken noch weit von einander entfernt. Gleichwohl waren wir beiderseits im Denken nicht ungeübt, gewohnt, mit abgesonderten Begriffen umzugehen, und beiden schien es um die Wahrheit im Ernst, mehr um sie, als ums Rechthaben zu tun zu sein. Dem ohngeachtet mußten sich unsere Begriffe lange Zeit an einander reiben, bevor sie in einander sich wollten fügen lassen; bevor wir mit einiger Zuverlässigkeit sagen konnten: hierin kommen wir überein! O! wer diese Erfahrung in seinem Leben gehabt hat, und noch intolerant sein, noch seinen Nächsten hassen kann, weil dieser in Religionssachen nicht denkt, oder sich nicht so ausdrückt wie er, den möchte ich nie zum Freunde haben; denn er hat alle Menschheit ausgezogen. Und ihr, Mitmenschen! Ihr nehmet einen Mann, mit dem ihr euch vielleicht niemals über dergleichen Dinge besprochen habet,

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ihr leget ihm die subtilsten Sätze der Metaphysik und Religion, | wie sie vor Jahrhunderten in Worte eingekleidet worden sind, in I, 79 sogenannten Symbolen vor; ihr lasset ihn bei jenem allerheiligsten Namen beteuern, daß er bei diesen Worten eben so denket, wie ihr, und beide eben so, wie jener, der sie vor Jahrhunderten niedergeschrieben hat; beteuern, daß er diese Sätze von ganzem Herzen annehme, und an keinem derselben Zweifel hege; mit dieser beschwornen Übereinstimmung verbindet ihr Amt und Würden, Macht und Einfluß, deren Reizung gar wohl fähig ist, so manchen Widerspruch zu heben, so manchen Zweifel zu unterdrücken, und wenn sich denn am Ende hervortut, daß es so nicht ist mit des Mannes Überzeugung, wie er vorgegeben; so beschuldiget ihr ihn des gräßlichsten aller Verbrechen, ihr klaget ihn des Meineides an, und lasset erfolgen, was auf diese Untat erfolgen soll. Ist hier die Schuld nicht, am gelindesten davon zu urteilen, auf beiden Seiten gleich? »Ja! sprechen die billigsten unter euch: wir beeidigen nicht auf den Glauben. Wir lassen dem Gewissen seine Freiheit, und be | schwören den Mitbürger nur, den wir mit einem Amte beklei- I, 80 den, daß er dieses Amt, welches ihm, unter der Bedingung der Übereinstimmung anvertrauet wird, nicht ohne Übereinstimmung annehme. Dieses ist ein Vertrag, den wir mit ihm eingehen. Finden sich nachher Zweifel, die diese Übereinstimmung aufheben; so stehet es ja bei ihm, seinem Gewissen treu zu sein, und das Amt niederzulegen. Welche Gewissensfreiheit, welche Rechte der Menschheit erlauben, wider einen Vertrag zu handeln?« Nun wohl! ich will diesem Schein von Gerechtigkeit nicht alle die Gründe entgegen setzen, die nach oben ausgeführten augenscheinlichen Grundsätzen, entgegen gesetzt werden können. Wozu unnötige Wiederholungen? aber um der Menschlichkeit willen! bedenket den Erfolg, den diese Einrichtung bisher unter den gesittetsten Menschenkindern gehabt hat. Zählet die Männer alle, die eure Lehrstühle und eure Kanzeln besteigen, und so manchen Satz, den sie bei der Übernehmung ihres Amts beschworen, in Zweifel ziehen; die Bischöfe alle, die | im Oberhause sitzen; die I, 81 wahrhaftig großen Männer alle, die in England Amt und Würden bekleiden, und jene 39 Artikel, die sie beschworen, nicht mehr so

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unbedingt annehmen, als sie ihnen vorgelegt worden; zählet sie, * und saget alsdenn noch, man könne meiner unterdrückten Nation keine bürgerliche Freiheit einräumen, weil so viele unter ihnen die Eide gering achteten! – Ach! Gott bewahre mein Herz vor menschenfeindlichen Gedanken! Sie könnten bei dieser traurigen Betrachtung gar leicht über Hand nehmen. Nein! aus Achtung für die Menschheit, bin ich vielmehr überredet, alle diese Männer erkennen das nicht für Meineid, was man ihnen unter diesem Namen Schuld gibt. Die gesunde Vernunft sagt ihnen vielleicht, daß niemand, weder Staat noch Kirche, ein Recht gehabt, sie über Glaubenssachen zu beeidigen; weder Staat noch Kirche ein Recht gehabt, mit dem Glauben und Schwören auf gewisse Sätze, Amt, Ehre und Würden zu verbinden, oder den Glauben an gewisse Sätze zur Bedingung zu maI, 82 chen, unter welcher diese verliehen werden. | Eine solche Bedin- * gung, glauben sie vielleicht, sei an und für sich null, weil sie niemanden zum Besten gereicht; weil keines Menschen Recht und Eigentum darunter leidet, wenn sie gebrochen wird.* Wenn also, wie sie nicht in Abrede sein können, Böses getan worden; so sei es damals geschehen, als ihnen die versprochenen Vorteile einen so unzulässigen Eid abgelockt haben. Diesem Übel sei aber nunmehr nicht abzuhelfen; am wenigsten durch das Niederlegen ihres auf diese Weise erlangten Amts abzuhelfen. Damals habe man, um erlaubte irdische Vorteile zu erhalten, freilich auf eine vor Gott unverantwortliche Weise, sich seines allerheiligsten Namens beI, 83 dient; allein dieses | Geschehene wird dadurch nicht ungeschehen, wenn sie itzt auf die Früchte Verzicht tun, die sie davon genießen; ja die Unordnung, das Ärgernis und andere böse Folgen, die das Aufgeben ihres Amts, verbunden mit einem öffentlichen Bekenntnis ihrer Abweichung, nach sich ziehen dürfte, könnte das Übel * Eine Bedingung nämlich ist gültig, und bindet den Vertrag, wenn

eine Möglichkeit zu erdenken, unter welcher sie in Bestimmung der Kollisionsfälle hat Einfluß haben können. Meinungen aber können nicht anders, als durch ein irriges Gewissen mit äußerlichen Vorteilen 88 in Verbindung gebracht werden, und ich zweifele, ob sie je eine rechtskräftige Bedingung machen können.

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nur vermehren. Es sei also allen ihren Mitmenschen, sowohl als ihnen selbst und den Ihrigen besser geraten, wenn sie es dabei bewenden lassen, und fortfahren, den Staaten und der Kirche die Dienste zu leisten, zu welchen ihnen die Vorsehung Trieb und * 89 Fähigkeit verliehen; hierin liege ihr Beruf zur öffentlichen Bedienung, nicht in ihrer Gesinnung in Absicht auf ewige Wahrheiten und Vernunftsätze, die im Grunde nur sie selbst und keinen ihrer Nebenmenschen angehet. – Wenngleich mancher zu gewissenhaft ist, sein Glück solchen überfeinen Entschuldigungsgründen zu verdanken zu haben; so sind doch auch diejenigen nicht völlig zu verdammen, die schwach genug sind, ihnen nachzugeben; wenigstens ist es nicht Meineid, sondern menschliche Schwachheit, die ich Männern | von ihrem Werte möchte zu Schulden kommen I, 84 lassen. Zum Beschlusse dieses Abschnitts will ich das Resultat wiederholen, auf das mich meine Betrachtungen geführt haben. Staat und Kirche haben zur Absicht, die menschliche Glückseligkeit in diesem und jenem Leben, durch öffentliche Vorkehrungen, zu befördern. Beide wirken auf Gesinnung und Handlung der Menschen, auf Grundsätze und Anwendung: der Staat, vermittelst solcher Gründe, die auf Verhältnissen zwischen Mensch und Mensch, oder Mensch und Natur, und die Kirche, die Religion des Staats, vermittelst solcher Gründe, die auf Verhältnissen zwischen Mensch und Gott beruhen. Der Staat behandelt den Menschen als un90 sterblichen Sohn der Erde; die Religion als Ebenbild seines Schöpfers. Grundsätze sind frei. Gesinnungen leiden ihrer Natur nach keinen Zwang, keine Bestechung. Sie gehören für das Erkenntnisvermögen des Menschen, und müssen nach dem | Richtmaß von I, 85 Wahrheit und Unwahrheit entschieden werden. Gutes und Böses wirkt auf sein Billigungs- und Mißbilligungsvermögen. Furcht und Hoffnung lenken seine Triebe. Belohnung und Strafe richten seinen Willen, spornen seine Tatkraft, ermuntern, locken, schrecken ab. Aber wenn Grundsätze glückselig machen sollen; so müssen sie 91 weder eingeschreckt, noch eingeschmeichelt, so muß bloß das Ur-

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teil der Verstandeskräfte für gültig angenommen werden. Ideen vom Guten und Bösen mit einmischen, heißt die Sachen von einem unbefugten Richter entscheiden lassen. Weder Kirche noch Staat haben also ein Recht die Grundsätze und Gesinnungen der Menschen irgend einem Zwange zu unterwerfen. Weder Kirche noch Staat sind berechtiget, mit Grundsätzen und Gesinnungen Vorzüge, Rechte und Ansprüche auf Personen und Dinge zu verbinden, und den Einfluß, den die I, 86 Wahrheitskraft auf das Erkenntnisvermö | gen hat, durch fremde Einmischung zu schwächen. Selbst der gesellschaftliche Vertrag hat weder dem Staate noch der Kirche ein solches Recht einräumen können. Denn ein Vertrag über Dinge, die ihrer Natur nach unveräußerlich sind, ist an und für sich ungültig, hebt sich von selbst auf. Auch die heiligsten Eidschwüre können hier die Natur der Sachen nicht verändern. Eidschwüre erzeugen keine neuen Pflichten, sind bloß feierliche Bekräftigungen desjenigen, wozu wir ohnehin, von Natur oder durch Vertrag, verpflichtet sind. Ohne Pflicht ist der Eidschwur eine leere Anrufung Gottes, die lästerlich sein kann, aber an und für sich zu nichts verbindet. Zudem können die Menschen nur dasjenige beeidigen, was die Evidenz der äußern Sinne hat, was sie gesehen, gehört, betastet haben. Wahrnehmungen des innern Sinnes sind keine Gegenstände der Eidesbekräftigung. I, 87 | Alles Beschwören und Abschwören in Absicht auf Grundsätze und Lehrmeinungen sind diesemnach unzulässig, und wenn sie geleistet worden, so verbinden sie zu nichts, als zur Reue, über den sträflich begangenen Leichtsinn. Wenn ich itzt eine Meinung beschwöre; so bin ich Augenblicks darauf nichts desto weniger frei, sie zu verwerfen. Die Untat eines vergeblichen Eides ist begangen, wenn ich sie auch beibehalte; und Meineid ist nicht geschehen, wenn ich sie verwerfe. Man vergesse nicht, daß nach meinen Grundsätzen der Staat nicht befugt sei, mit gewissen bestimmten Lehrmeinungen Besol- * dung, Ehrenamt und Vorzug zu verbinden. Was das Lehramt betrifft; so ist es seine Pflicht, Lehrer zu bestellen, die Fähigkeit haben, Weisheit und Tugend zu lehren, und solche nützliche

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Wahrheiten zu verbreiten, auf denen die Glückseligkeit der menschlichen Gesellschaft unmittelbar beruhet. Alle nähere Bestimmungen müssen ihrem besten Wissen und Gewissen überlassen werden, wo nicht unendliche | Verwirrungen und Kollisio- I, 88 nen der Pflichten entstehen sollen, die am Ende den Tugendhaften selbst oft zur Heuchelei oder Gewissenlosigkeit führen. Jede Ver92 gehung wider die Vorschrift der Vernunft bleibet nicht ungerochen. Wie aber? Wenn das Übel nun einmal geschehen ist: der Staat 93 bestellt und besoldet einen Lehrer auf gewisse bestimmte Lehrmeinungen. Der Mann findet nachher diese Lehrmeinungen ohne Grund; was hat er zu tun? Wie sich zu verhalten, um den Fuß aus der Schlinge herauszuwinden, in welche ihn ein irriges Gewissen verwickelt hat? Drei verschiedene Wege stehen hier vor ihm offen. Er verschließt die Wahrheit in seinem Herzen, und fähret fort, wider sein besseres Wissen, die Unwahrheit zu lehren; oder er legt sein Amt nieder, ohne die Ursachen anzugeben, warum dieses geschehe; oder endlich gibt er der Wahrheit ein lautes Zeugnis, und läßt es auf den Staat ankommen, was mit seinem Amte und mit der ihm ausgesetz | ten Besoldung werden, oder was er sonst für seine I, 89 unüberwindliche Wahrheitsliebe leiden soll. Mich dünkt, keiner von diesen Wegen sei unter allen Umständen schlechterdings zu verwerfen. Ich kann mir eine Verfassung denken, in welcher es vor dem Richterstuhle des allgerechten Richters zu entschuldigen ist, wenn man fortfährt, seinem sonst heilsamen Vortrage gemeinnütziger Wahrheiten, eine Unwahrheit mit einzumischen, die der Staat, vielleicht aus irrigem Gewissen geheiliget hat. Wenigstens würde ich mich hüten, einen übrigens 94 rechtschaffenen Lehrer dieserhalb der Heuchelei, oder des Jesuitismus zu beschuldigen, wenn mir nicht die Umstände und die Verfassung des Mannes sehr genau bekannt sind; so genau, als vielleicht die Verfassung eines Menschen niemals seinem Nächsten bekannt sein kann. Wer sich rühmt, nie in solchen Dingen anders gesprochen, als gedacht zu haben, hat entweder überall nie gedacht, oder findet vielleicht für gut, in diesem Augenblicke selbst, mit einer Unwahrheit zu prahlen, der sein Herz widerspricht.

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| Also in Absicht auf Gesinnungen und Grundsätze kommen

Religion und Staat überein, müssen beide allen Schein des Zwanges und der Bestechung vermeiden, und sich auf Lehren, Vermahnen, Bereden und Zurechtweisen einschränken. Nicht also in Absicht auf Handlung. Die Verhältnisse von Mensch zu Menschen erfordern Handlung, als Handlung; die Verhältnisse zwischen Gott und Menschen, bloß insoweit sie zu Gesinnungen führen. Eine gemeinnützige Handlung hört nicht auf, gemeinnützig zu sein, wenn sie auch erzwungen wird; eine religiöse Handlung hingegen ist nur in dem Maße religiös, in welchem sie aus freier Willkür und in gehöriger Absicht geschiehet. Daher kann der Staat zu gemeinnützigen Handlungen zwingen; belohnen, bestrafen; Amt und Ehren, Schande und Verweisung austeilen, um die Menschen zu Handlungen zu bewegen, deren innere Güte nicht kräftig genug auf ihre Gemüter wirken will. I, 91 Daher hat dem Staate, durch den gesellschaftlichen | Vertrag, auch das vollkommenste Recht und das Vermögen, dieses zu tun, eingeräumt werden können und müssen. Daher ist der Staat eine moralische Person, die ihre eigene Güter und Gerechtsame hat, und damit nach Gutfinden schalten kann. Fern von allem diesen ist die göttliche Religion. Sie verhält sich gegen Handlung nicht anders, als gegen Gesinnung; weil sie Handlung bloß als Zeichen der Gesinnung befiehlt. Sie ist eine moralische Person; aber ihre Rechte kennen keinen Zwang; sie treibet nicht mit eisernem Stabe; sondern leitet am Seile der Liebe. Sie zückt kein Rachschwert, spendet kein zeitliches Gut aus; maßet sich auf kein irdisches Gut ein Recht, auf kein Gemüt äußerliche Gewalt an. Ihre Waffen sind Gründe und Überführung; ihre Macht die göttliche Kraft der Wahrheit; die Strafen, die sie androhet sind, so wie die Belohnungen, Wirkungen der Liebe; heilsam und wohltätig für die Person selbst, die sie leidet. I, 92 An diesen Merkmalen erkenne ich dich, Tochter | der Gottheit! Religion! die du in Wahrheit allein die seligmachende bist, auf der Erde, so wie im Himmel. Bann und Verweisungsrecht, das sich der Staat zuweilen erlauben darf, sind dem Geiste der Religion schnurstracks zuwider. Verbannen, ausschließen, den Bruder abweisen, der an meiner Er-

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bauung Teil nehmen, und sein Herz in wohltätiger Mitteilung, mit dem Meinigen zugleich zu Gott erheben will! – Wenn sich die Religion keine willkürliche Strafen erlaubt, am wenigsten diese Seelenqual, die ach! nur dem empfindlich ist, der wirklich Religion hat. Gehet die Unglücklichen alle durch, die von je her durch Bann und Verdammnis haben gebessert werden sollen; Leser! welcher äußerlichen Kirche, Synagoge oder Moschee du auch anhängest! untersuche, ob du nicht in dem Haufen der Verbannten mehr wahre Religion antreffen wirst, als in dem ungleich größern Haufen ihrer Verbanner? – Nun hat die Verbannung entweder bürgerliche Folgen, oder sie hat keine. Ziehet sie bürgerliches | Elend nach sich; so fällt sie nur dem Edelmütigen zur Last, der I, 93 dieses Opfer der göttlichen Wahrheit schuldig zu sein glaubt. Wer keine Religion hat, ist ein Wahnwitziger, wenn er sich einer vermeinten Wahrheit zu gefallen, der mindesten Gefahr aussetzet. Soll sie aber, wie man sich bereden will, bloß geistige Folgen haben; so drücken sie abermals nur denjenigen, der für diese Art von Empfindnis noch Gefühl hat. Der Irreligiose lacht ihrer und bleibt verstockt. Und wo ist die Möglichkeit sie von allen bürgerlichen Folgen 98 zu trennen? Kirchenzucht einführen, habe ich an einem andern Orte, wie mich dünkt, mit Recht gesagt, Kirchenzucht einführen, und die bürgerliche Glückseligkeit ungekränkt erhalten, gleichet 99 dem Bescheide des allerhöchsten Richters an den Ankläger: Er sei in deiner Hand, doch schone seines Lebens! Zerbrich das Faß, wie die Ausleger hinzusetzen; doch laß den Wein nicht auslaufen! Welche kirchliche Ausschließung, welcher Bann ist ohne alle bürgerliche Folgen, ohne allen Einfluß auf die bürgerliche Achtung wenigstens, auf den gu | ten Leumund des Ausgestoßenen und auf I, 94 das Zutrauen bei seinen Mitbürgern, ohne welches doch niemand 100 seines Berufs warten, und seinen Mitmenschen nützlich, das ist, bürgerlich glückselig sein kann? Man beruft sich immer noch auf das Naturgesetz. Jede Gesellschaft, spricht man, hat das Recht auszuschließen: Warum nicht auch die religiose? Allein ich erwidere: gerade hier macht die religiose Gesellschaft eine Ausnahme; vermöge eines höhern Gesetzes kann keine

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Gesellschaft ein Recht ausüben, das der ersten Absicht der Gesellschaft selbst schnurstracks entgegengesetzt ist. Einen Dissidenten ausschließen, sagt ein würdiger Geistlicher aus dieser Stadt, einen 101 Dissidenten aus der Kirche verweisen, heißt einem Kranken die Apotheke verbieten. In der Tat, die wesentlichste Absicht religioser Gesellschaften ist gemeinschaftliche Erbauung. Man will durch die Zauberkraft der Sympathie, die Wahrheit aus dem Geiste in das Herz übertragen, die zuweilen tote Vernunfterkenntnis I, 95 durch Teilnehmung zu hohen Empfindnissen beleben. Wenn | das Herz allzusehr an sinnlichen Lüsten klebt, um der Vernunft Gehör zu geben; wenn es auf dem Punkte ist, die Vernunft selbst mit ins Garn zu locken; so werde es hier vom Schauer der Gottseligkeit ergriffen, vom Feuer der Andacht entflammt, und lerne Freuden höherer Art kennen, die auch hienieden schon den sinnlichen Freuden die Waage halten. Und ihr wollt den Kranken vor der Tür abweisen, der dieser Arzenei am meisten bedarf; destomehr bedarf, je weniger er dieses Bedürfnis empfindet, und in seinem Irrsinne, sich gesund zu sein einbildet? Muß nicht vielmehr eure erste Bemühung sein, ihm diese Empfindung wieder zu geben, und den gleichsam vom kalten Brande bedroheten Teil seiner 102 Seele ins Leben zurück zu rufen? Statt dessen verweigert ihr ihm alle Hülfe, und lasset den Ohnmächtigen den moralischen Tod dahin sterben, dem ihr ihn vielleicht würdet entrissen haben. Weit edler und dem Zwecke seiner Schule gemäßer, handelte jener Weltweise zu Athen. Ein Epikurer kam von seinem Gelage, 103 104 I, 96 die Sinne | von nächtlicher Wollust benebelt, und das Haupt von Rosen umwunden. Er trat in den Hörsaal der Stoiker, um sich in der Frühstunde noch das letzte Vergnügen entnervter Wollüstlinge zu verschaffen, das Vergnügen zu spotten. Der Weltweise läßt ihn ungehindert, verdoppelt das Feuer seiner Beredsamkeit wider die Verführung der Wollust, und schildert die Seligkeit der Tugend mit unwiderstehlicher Gewalt. Der Schüler Epikurs hört, wird aufmerksam, schlägt die Augen nieder, reißt die Kränze von seinem Haupte, und wird selbst ein Anhänger der Stoa. Ende des ersten Abschnitts.

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| ZWEITER ABSCHNITT.

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| Das Wesentliche dieser Behauptung, das einem sonst allgemein

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herrschenden Grundsatze so schnurstracks entgegenstehet, habe ich bereits bei einer andern Gelegenheit auszuführen gesucht. Herrn Dohm vortreffliche Schrift Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden veranlaßte die Untersuchung: in wie weit einer aufgenommenen Kolonie eigene Gesetzverwesung in kirchlichen und bürgerlichen Sachen überhaupt, und insbesondre ein Bannund Ausschließungsrecht nachzulassen sei? – Gesetzliche Macht der Kirche – Bannrecht – Wenn die Kolonie diese haben soll; so muß sie von dem Staate, oder von der Mutterkirche damit gleichsam belehnt werden. Jemand, der dieses Recht, vermöge des gesellschaftlichen Ver | trages, besitzet, muß ihr einen Teil davon, II, 4 insoweit es sie selbst angehet, abgetreten, und überlassen haben. Wie aber? Wenn niemand ein solches Recht besitzen kann? Wenn weder dem Staate, noch der Mutterkirche selbst irgend ein Zwangsrecht in Religionssachen zukäme? Wenn nach den Grundsätzen der gesunden Vernunft, deren Göttlichkeit wir alle anerkennen müssen, weder Staat noch Kirche befugt wäre, sich in Glaubenssachen ein anderes Recht anzumaßen, als das Recht zu belehren; eine andere Macht, als die Macht der Überführung, eine andere Zucht, als die Zucht durch Vernunft und Grundsätze? Kann dieses erweislich, und dem gesunden Menschenverstande einleuchtend gemacht werden; so ist kein ausdrücklicher Vertrag, noch viel weniger Herkommen und Verjährung mächtig genug, ein Recht geltend zu machen, das ihm entgegengesetzt ist; so ist aller kirchliche Zwang widerrechtlich, alle äußere Macht in Religionssachen gewaltsame Anmaßung, und wenn dieses ist; so darf, so kann die Mutterkirche kein Recht verleihen, das ihr selber nicht zukömmt, keine Macht vergeben, die sie | sich mit Unrecht II, 5 angemaßt hat. Es kann sein, daß der Mißbrauch, durch irgend ein allgemeines Vorurteil, so um sich gegriffen, so sehr in den Gemütern der Menschen Wurzel gefaßt hat, daß es nicht tunlich, oder

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nicht ratsam wäre, ihn mit einem Male, ohne weise Vorbereitung abzuschaffen; aber in diesem Falle ist es doch wenigstens unsere Schuldigkeit, ihm von ferne her entgegen zu arbeiten, und vorerst seiner fernern Ausbreitung einen Damm entgegen zu setzen. Können wir ein Übel nicht völlig ausrotten; so müssen wir ihm wenigstens die Wurzel abstechen. Dieses war das Resultat meiner Betrachtungen, und ich wagte es, meine Gedanken dem Publikum* zur Beurteilung vorzulegen; wiewohl ich meine Gründe damals nicht so ausführlich angeben konnte, als hier in dem vorigen Abschnitte geschehen. Ich habe das Glück, in einem Staate zu leben, in welchem diese meine Begriffe weder neu, noch sonderlich auffallend sind. Der II, 6 weise Re | gent, von dem er beherrscht wird, hat es, seit Anfang 7 seiner Regierung, beständig sein Augenmerk sein lassen, die Menschheit in Glaubenssachen, in ihr volles Recht einzusetzen. Er ist der Erste unter den Regenten unsers Jahrhunderts, der die weise Maxime, in ihrem ganzen Umfange, niemals aus den Augen gelassen: die Menschen sind für einander geschaffen: belehre dei- 8 II, 7 nen Nächsten, oder ertrage ihn!** | Mit weiser Mäßigung hat er * In der Vorrede zu Manasseh Ben Israels Rettung der Juden. ** Worte meines verewigten Freundes, Hrn. Iselin, in einem seiner 9

letzten Aufsätze in den Ephemeriden der Menschheit. Das Andenken dieses wahren Weisen sollte jedem seiner Zeitgenossen, der Tugend und Wahrheit wertschätzt, unvergeßlich sein. Desto unbegreiflicher ist es mir selbst, wie ich ihn habe übergehen können, als ich die wohltätigen Männer nannte, die in Deutschland zuerst die Grundsätze der uneingeschränkten Toleranz auszubreiten suchten, ihn, der sie in unserer Sprache sicherlich früher und lauter, als irgend einer, in ihrem weitesten Umfange lehrte. Mit Vergnügen schreibe ich hier die Stelle aus der Anzeige meiner Vorrede zu R. Manasse, in den Ephemeriden † * II, 7 ab, wo dieses erinnert wird, | um einem Manne nach seinem Tode Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, der in seinem Leben so allgemein gerecht gewesen. »Der Verfasser der Ephemeriden der Menschheit stimmet auch mit Herrn Mendelssohn gänzlich in demjenigen überein, was er von den gesetzgebenden Rechten der Obrigkeit über die Meinung der Bürger und von den Verkommnissen sagt, welche einzel- 10 †

Zehntes Stück. Okt. 1782. Seite 429.

Zweiter Abschnitt

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zwar die Vorrechte der äußern Religion geschont, in deren Besitz er | sie gefunden. Noch gehören vielleicht Jahrhunderte von Kul- II, 8 tur und Vorbereitung dazu, bevor | die Menschen begreifen wer- II, 9 ne Menschen unter einander über solche Meinungen eingehen können. Und diese Denkungsart hat er nicht erst seit Herrn Dohm und und Herrn Leßing angenommen; sondern er hat sich schon vor mehr als dreißig Jahren dazu bekannt. Auf die gleiche Weise hat er auch schon lange anerkannt, daß dasjenige, was man Religionsduldung nennet, nicht eine Gnade, sondern eine Pflicht der Regierung sei. Deutlicher konnte man sich nicht ausdrücken, als folgendermaßen*: Wenn also eine oder mehrere Religionen in seinem Staate eingeführt sind; so erlaubt ein weiser und gerechter Landesherr sich nicht, die Rechte derselben zu dem Besten der seinigen anzugreifen. Jede Kirche, jede Vereinigung, welche den Gottesdienst zur | Absicht hat, ist II, 8 eine Gesellschaft, der der Landesherr Schutz und Gerechtigkeit schuldig ist. Ihnen diese versagen, um auch die beste Religion zu begünstigen, wäre wider den Geist der wahren Gottseligkeit.« »In Rücksicht auf die bürgerlichen Rechte sind alle Religionsgenossen einander gleich, diejenigen allein ausgenommen, deren Meinungen den Grundsätzen der menschlichen und der bürgerlichen Pflichten zuwider laufen. Eine solche Religion kann in dem Staate auf keine Rechte Anspruch machen. Diejenigen, welche das Unglück haben, ihr zugetan zu sein, können nur Duldung erwarten, solange sie nicht durch ungerechte und schädliche Handlungen die gesellschaftliche Ordnung stören. Wenn sie dieses tun, müssen sie gestraft werden, nicht für ihre Meinungen; sondern für ihre Taten.« Was aber im vorhergehenden (Seite 423) von einer falschen Meinung, in Absicht auf 12 die Zwischenhände in der Handlung, gesagt wird, die ich dem Verf. der Ephemeriden mit Unrecht zuschreiben soll, verhält sich in Wahrheit ganz anders. Nicht Hr. Iselin; sondern ein anderer, sonst einsichtsvoller Schriftsteller, hat in den Ephemeriden | einen Aufsatz ein- II, 9 rücken lassen, in welchem er die Schädlichkeit der Zwischenhände behauptet, und ward von dem Herausgeber vielmehr widerlegt. – Die Erinnerungen, welche in derselben Anzeige wider meine Glaubensgenossen gemacht werden, übergehe ich mit Stillschweigen. Es ist hier der Ort nicht, sie zu verteidigen, und ich überlasse dieses Geschäft dem Hrn. Dohm, der es mit weniger Parteilichkeit verrichten kann. Man vergibt übrigens einem Baseler sehr leicht ein Vorurteil wider ein Volk, das er nur aus dem herumstreifenden Teile desselben, oder aus den Observations d’un Alsacien, zu kennen Gelegenheit haben kann. * Träume eines Menschenfreundes, Band 2. S. 12. u. 13. 11

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den, daß Vorrechte um der Religion willen weder rechtlich, noch im Grunde nützlich seien, und daß es also eine wahre Wohltat sein würde, allen bürgerlichen Unterschied um der Religion willen schlechterdings aufzuheben. Indessen hat sich die Nation unter der Regierung dieses Weisen so sehr an Duldung und Vertragsamkeit in Glaubenssachen gewöhnt, daß Zwang, Bann und Ausschließungsrecht wenigstens aufgehört haben, populäre Begriffe zu sein. II, 10 | Was aber einem jeden Rechtschaffenen wahre Freude ins Herz bringen muß, ist der Ernst und Eifer, mit welchem einige würdige Glieder der hiesigen Geistlichkeit selbst diese Grundsätze der Vernunft, oder vielmehr der wahren Gottesfurcht, unter dem Volke auszubreiten suchen. Ja einige derselben haben kein Bedenken getragen, meinen Gründen wider das allgemein angebetete Idol des Kirchenrechts überhaupt beizutreten, und dem Resultate derselben öffentlich Beifall zu geben. Welche hohe Begriffe müssen diese Männer von ihrer Bestimmung haben, da sie so willig sind, alle Nebenabsicht davon zu entfernen; welch edles Zutrauen zu der Kraft der Wahrheit, da sie sich getrauen, sie, ohne alle Stützen, auf ihrem eigenen Postemente sicher zu stellen! Wenn wir übrigens in den Grundsätzen auch noch so verschieden wären; so könnte ich nicht umhin, ihnen, wegen dieser erhabenen Gesinnungen, meine ganze Bewunderung und Ehrerbietung zu bezeugen. Manche andere Leser und Bücherrichter haben sich gar sonderbar dabei genommen. Meine Gründe haben sie zwar nicht II, 11 bestritten; sondern | vielmehr gelten lassen. Niemand hat es versucht, zwischen Lehrmeinung und Recht den mindesten Zusammenhang zu zeigen. Niemand hat einen Fehler in der Schlußfolge aufgedeckt, daß mein Beistimmen oder Nichtbeistimmen in gewisse ewige Wahrheiten mir kein Recht über Dinge, keine Befugnis erteilen, über Güter und Gemüter nach eigenem Belieben zu schalten. Und gleichwohl haben sie bei dem unmittelbaren Resultate derselben, wie bei einer unerwarteten Erscheinung, gestutzt. Wie? So gibt es überall kein Kirchenrecht? So beruhet alles, was so viele Schriftsteller, was wir selbst vielleicht über das Kirchenrecht geschrieben, gelesen, gehört und disputiert haben, auf

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grundlosem Boden? – Dieses schien ihnen zu weit zu gehen, und gleichwohl muß in der Schlußfolge ein verborgener Fehler liegen, wenn das Resultat nicht notwendig wahr sein soll. In den Göttingischen Anzeigen führt der Rezensent meine Be18 hauptung an, daß es kein Recht auf Personen und Dinge gebe, welches mit Lehrmeinungen zusammenhänge, und daß alle Ver19 träge und Abkommnisse der Menschen kein | solches Recht mög- II, 12 lich machen können, und setzet hinzu: »dieses alles ist neu und hart. Die ersten Grundsätze werden weggeleugnet, und aller Streit hat ein Ende.« Ja wohl, gehet es um die ersten Grundsätze, die nicht anerkannt werden wollen. – Soll aber deswegen aller Streit ein Ende haben? Sollen denn Grundsätze niemals in Zweifel gezogen werden? So können Männer aus der pythagorischen Schule in Ewig20 keit streiten, woher ihr Lehrer zur güldenen Hüfte gekommen, wenn es niemand wagen darf, zu untersuchen: ob auch Pythagoras überall eine güldene Hüfte habe? Jedes Spiel hat seine Gesetze, jeder Wettkampf seine Regeln, nach welchen der Kampfrichter urteilt. Willst du den Einsatz, oder den Kampfpreis davon tragen; so unterwirf dich den Grundsätzen. Wer aber über die Theorie der Spiele nachdenken will, kann allerdings die Grundbegriffe selbst in Anspruch nehmen. So auch vor Gericht. Jener Kriminalrichter, der einen Mörder zu richten hatte, brachte ihn zum Geständnisse seines Verbrechens. Allein der Ruchlose behauptete, er wisse keinen Grund, | warum es nicht eben so gut erlaubt sei, einen Menschen zu er- II, 13 morden, als ein Tier, um seines Vorteils willen, umzubringen. Diesem Unmenschen konnte der Richter mit Recht antworten: »du leugnest die Grundsätze, Bursche! mit dir hat aller Streit ein Ende. Du wirst wenigstens einsehen, daß es auch uns erlaubt sei, um unseres Vorteils willen, die Erde von einem solchen Ungeheuer zu befreien.« So aber durfte ihm der Priester schon nicht antworten, der ihn zum Tode vorbereiten sollte. Dieser war verbunden sich mit ihm über die Grundsätze selbst einzulassen, und ihm, wenn sein Zweifel ihm ein Ernst war, solchen zu benehmen. Nicht anders verhält es sich in Künsten und Wissenschaften. Jede derselben setzet gewisse Grundbegriffe voraus, von denen sie wei-

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ter keine Rechenschaft gibt. Deswegen aber ist in dem ganzen Inbegriff der menschlichen Erkenntnisse kein Punkt über allen Anspruch hinweg zu setzen, kein Titel, der nicht zur Untersuchung gezogen werden darf. Liegt mein Zweifel außer den Schranken dieses Gerichtshofes; so muß ich vor einen andern verwiesen werden. Irgendwo muß ich gehört, und zu rechte gewiesen werden. II, 14 | Der Fall, den der Rez. zum Beispiel anführet, um mich zu wi- 21 derlegen, trifft vollends nicht zum Ziele. Er spricht: »Wir wollen sie (die geleugneten Grundsätze,) indessen auf einen bestimmten Fall anwenden. Die Judenschaft in Berlin bestellt eine Person, die nach den Gesetzen ihrer Religion die Kinder männlichen Geschlechts beschneiden soll; diese Person erhält durch ein Pactum * gewisse Rechte auf so viel Einkünfte, auf diesen bestimmten Rang in der Gemeine etc. Nach einiger Zeit kommen ihr Bedenklichkeiten über die Lehrmeinung oder das Gesetz von der Beschneidung bei; sie weigert sich den Vertrag zu erfüllen. Bleiben ihr denn nun auch die Rechte, die sie durch den Vertrag erhielt? So überall.« – Und wie überall? Ich will die Möglichkeit des Falls zugeben, der sich hoffentlich nie zutragen wird.* Was soll diese mir so nahe II, 15 gelegte In | stanz beweisen? Doch wohl nicht, daß nach der Vernunft Rechte auf Personen und Güter mit Lehrmeinungen zusammenhängen, und auf denselben beruhen? oder daß positive Geset- * ze und Verträge ein solches Recht möglich machen können? Auf diese beiden Punkte kömmt es, nach dem eigentlichen Anführen des Rezens. hauptsächlich an, und beide finden in dem erdichteten Falle nicht Statt, denn der Beschneider würde ja die Einkünf-

* Man genießet unter den Juden, für das Amt der Beschneidung,

weder Einkünfte, noch einen bestimmten Rang in der Gemeine. Wer II, 15 die Geschicklichkeit besitzet, verrichtet vielmehr dieses verdienst | liche Werk mit Vergnügen. Ja der Vater, dem eigentlich die Pflicht seinen Sohn zu beschneiden obliegt, hat mehrenteils unter verschiedenen Mitwerbern, die darum anhalten, zu wählen. Alle Belohnung, die der 22 Beschneider für seine Verrichtung zu erwarten hat, bestehet etwa darin, daß er beim Beschneidungsmale obenan sitzet, und nach der Mahlzeit den Segen spricht. – So sollten nach meiner neu und hart scheinenden Theorie alle religiöse Ämter besetzt werden!

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te und den Rang nicht für den Beifall zu genießen haben, den er der Lehrmeinung gibt; sondern für die Operation, die er an der Stelle der Hausväter verrichtet. Verhindert ihn nun sein Gewissen, diese Mühwal | tung ferner zu übernehmen; so wird er aller- II, 16 dings auf die Belohnung Verzicht tun müssen, die er dafür sich ausbedungen. Was hat dieses aber mit den Vorrechten gemein, die man einer Person einräumt, weil sie dieser oder jener Lehre beistimmet, diese oder jene ewige Wahrheit annimmt, oder verwirft? – Alles, womit die erdichtete Instanz einige Ähnlichkeit haben könnte, wäre etwa der Fall, da der Staat Lehrer bestellt und besoldet, die gewisse Lehren so und nicht anders ausbreiten sollen; diese aber nachher sich im Gewissen verbunden erachteten, von den ihnen vorgeschriebenen Lehren abzuweichen. Diesen Fall, der so oft zu lauten und hitzigen Streitigkeiten Gelegenheit gegeben, habe ich im vorigen Abschnitte umständlich berührt, und nach meinen Grundsätzen zu erörtern gesucht. Auf das angeführte Gleichnis aber scheinet er mir eben so wenig zu passen. Man erinnere sich des Unterschiedes, den ich gemacht, zwischen Handlungen, die als Handlungen verlangt werden, und solchen, die bloß als Zeichen der Gesinnungen gölten. Eine Vorhaut ist abgeschnitten, der Beschneider mag von dem Gebrauche selbst | den- II, 17 ken und glauben, was er will; so wie ein Schuldherr, dem die Gerichte zu seiner Befriedigung verholfen, bezahlt ist, der Schuldner mag von der Pflicht zu bezahlen, denken, wie er will. Wie kann aber hiervon die Anwendung auf den Lehrer der Religionswahrheiten gemacht werden, dessen Lehren sicherlich wenig Frommen bringen, wenn nicht Geist und Herz damit übereinstimmen; wenn sie nicht aus innerer Überzeugung fließen? – Ich habe bereits an dem angeführten Orte zu erkennen gegeben, daß ich mich nicht getraue, einem auf diese Weise in die Enge getriebenen Lehrer vorzuschreiben, wie er sich als rechtschaffener Mann zu verhalten habe; oder Vorwürfe zu machen, wenn er sich anders verhält; und daß nach meinem Bedünken alles auf Zeit, Umstände und Verfassung ankomme, in welchen er sich befindet. Wer darf hier über die Gewissenhaftigkeit seines Nächsten den Stab brechen? Wer ihr zu einer so kritischen Entscheidung eine Waage aufdringen, die sie vielleicht nicht für die richtige erkennt?

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Indessen liegt diese Untersuchung nicht so ganz auf meinem II, 18 Wege, und hat wenig mit den | beiden Fragen gemein, auf welche alles ankömmt, und die ich hier abermals wiederhole. 1) Gibt es, nach dem Gesetze der Vernunft, Rechte auf Personen und Dinge, die mit Lehrmeinungen zusammenhängen, und durch das Einstimmen in dieselben erworben werden? 2) Können Verträge und Abkommnisse vollkommene Rechte erzeugen, Zwangspflichten hervorbringen, wo nicht, ohne allen Vertrag, schon unvollkommene Rechte und Gewissenspflichten da gewesen sind? Einer von diesen Sätzen muß aus dem Naturrechte erwiesen werden, wenn ich eines Irrtums überführt werden soll. Daß man meine Behauptung neu und hart findet, tut nichts zur Sache, wenn ihr die Wahrheit nur nicht widerspricht. Noch ist mir kein Schriftsteller bekannt, der diese Fragen berührt, und in Anwendung auf Kirchenmacht und Bannrecht untersucht hätte. Sie gehen alle von dem Punkte aus, daß es ein Jus circa sacra gebe; nur modelt es ein jeder nach seiner Weise, und belehnet damit bald eine unsichtbare, bald diese oder jene sichtbare II, 19 Per | son. Selbst Hobbes, der hierin sich am weitesten von den eingeführten Begriffen zu entfernen wagt, hat sich von dieser Idee nicht völlig loswinden können. Er gibt ein solches Recht zu, und sucht nur die Person auf, der man es mit dem geringsten Schaden zutrauen darf. Alle glauben, das Meteor sei sichtbar, und bemühen sich nur, nach verschiedenen Systemen, die Höhe desselben zu bestimmen. Es wäre nichts unerhörtes, wenn ein Unbefangener, der gerade auf den Ort hinschauete, wo es erscheinen soll, mit weit geringerer Fähigkeit, sich von der Wahrheit überführte: es sei überall kein solches Meteor zu sehen. Ich komme zu einem weit wichtigern Einwurfe, der mir gemacht worden, und der hauptsächlich diese Schrift veranlaßt hat. Abermals ohne meine Gründe zu widerlegen, hat man ihnen die geheiligte Autorität der mosaischen Religion, zu welcher ich mich bekenne, entgegengesetzt. Was sind die Gesetze Moses anders, als ein System von religiöser Regierung, von Macht und Recht der Religion? »Die Vernunft mag es gut heißen«, drückt sich ein un-

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genannter | Schriftsteller* hierüber aus, »daß alles Kirchenrecht II, 20 und die Macht eines geistlichen Gerichts, wodurch Meinungen erzwungen, oder eingeschränkt werden, eine begrifflose Sache ist; daß kein Fall zu erdenken, wodurch so ein Gesetz begründet sei, daß die Kunst nichts schaffen könne, wozu die Natur nicht den Keim hervorgebracht habe – aber so vernunftmäßig dieses alles sein mag, was Sie darüber sagen,« redet er mich an, »so geradezu widerspricht es dem Glauben ihrer Väter im engern Verstande, und den Grundsätzen der Kirche, welche nicht bloß von den Kommentaristen angenommen; sondern selbst in den Büchern Mose ausdrücklich festgesetzt sind. Nach der gesunden Vernunft findet gar kein Gottesdienst ohne Überzeugung statt, und jede erzwungene gottesdienstliche Handlung hört das auf zu sein. Befolgung göttlicher Gebote aus Furcht vor der darauf gesetzten Strafe ist Sklavendienst, der nach reinen Begriffen nimmermehr Gott ge | fällig sein kann. Indessen ist es wahr, daß Moses Zwang und II, 21 positive Strafen – an Nichtbeobachtung gottesdienstlicher Pflichten bindet. Sein statuarisches Kirchenrecht befiehlt den Sabbatsübertreter, den Lästerer des göttlichen Namens und andere Abweichende von seinem Gesetze mit Steinigung zum Tode zu bestrafen« – – »Das ganze Kirchensystem Mose,« spricht er an einer andern Stelle, »war nicht nur Unterricht und Anweisung zu Pflichten, sondern es war zugleich mit dem strengsten Kirchenrechte verbunden. Der Arm der Kirche war mit dem Schwert des Fluchs bewaffnet. – Verflucht, heißt es, wer nicht hält alle Worte dieses Gesetzes, daß er darnach tue u. s. w. – Und dieser Fluch war in den Händen der ersten Diener der Kirche. – Das bewaffnete Kirchenrecht ist immer einer der vorzüglichsten Grundsteine der jüdischen Religion selbst, und ein Hauptartikel in dem Glaubenssystem Ihrer Väter. In wiefern können Sie, mein Teurer Herr Mendelssohn, bei dem Glauben Ihrer Väter beharren, und durch Wegräumung seiner Grundsteine das ganze Gebäude erschüttern, | wenn Sie das durch Mosen gegebene, auf göttliche Offenbarung II, 22 sich berufende Kirchenrecht bestreiten?« * Das Forschen nach Licht und Recht, in einem Schreiben an

Herrn M. Mendelssohn. Berlin 1782.

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Dieser Einwurf dringet an das Herz. Ich muß gestehen, daß die Begriffe, die hier vom Judentume gegeben werden, bis auf einige Unbehutsamkeit im Ausdrucke, selbst von vielen meiner Religionsbrüder dafür angenommen werden. Wäre nun dem in Wahrheit also, und ich davon überführet, so würde ich allerdings meine Sätze mit Beschämung zurücknehmen, und die Vernunft unter dem Joche des Glaubens – doch nein! was sollte ich heucheln? Autorität kann demütigen, aber nicht belehren; sie kann die Vernunft niederschlagen, aber nicht fesseln. Stünde das Wort Gottes mit meiner Vernunft in einem so offenbaren Widerspruche, so würde ich der letztern höchstens Stillschweigen gebieten können; aber meine nicht widerlegten Gründe würden im geheimsten Winkel meines Herzens nichts destoweniger wiederkehren, sich in beunruhigende Zweifel verwandeln, und die Zweifel sich in kindII, 23 liche Gebete, in inbrünstiges | Flehen um Erleuchtung auflösen. Ich würde mit dem Psalmist anrufen: Herr! sende mir dein Licht, deine Wahrheit, Daß sie mich leiten, und bringen Zu deinem heiligen Berge, zu deinem Ruhesitze! Hart und kränkend aber ist es in allen Fällen, wenn man mit dem ungenannten Forscher nach Licht und Wahrheit, und dem sich nennenden Herrn Mörschel, der die Schrift des Forschers mit einer Nachschrift begleitet hat, mir die gehässige Absicht zuschreibt, die Religion, zu welcher ich mich bekenne, umzustoßen, und ihr, wo nicht ausdrücklich, doch gleichsam unter der Hand zu entsagen. Dergleichen Konsequenzerei sollte aus dem Umgange der Gelehrten auf ewig verbannt sein. Nicht jeder, der sich zu einer Meinung verstehet, verstehet sich zugleich zu allen Folgen derselben, und wenn sie auch noch so richtig aus derselben hergeleitet werden. Aufbürdungen von dieser Art sind gehässig, und II, 24 | führen nur zu Verbitterung und Streitsucht, dabei die Wahrheit selten gewinnet. Ja, der Forscher gehet so weit, mich folgender Gestalt anzureden: »Sollte der jetzt von Ihnen getane gar merkwürdige Schritt wohl wirklich ein Schritt zur Erfüllung der ehemals an Sie ergangenen Lavaterschen Wünsche sein? Unstreitig haben Sie nach jener Veranlassung der Sache des Christentums näher nachgedacht,

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und den Wert der in mannigfaltigen Gestalten und Modifikationen vor ihren Augen liegenden christlichen Religionssysteme mit der Unparteilichkeit eines unbestechbaren Wahrheitsforschers genauer gewogen. Vielleicht sind Sie jetzt dem Glauben der Christen näher getreten, indem Sie der Knechtschaft eiserner Kirchenbande sich entreißen, und das Freiheitssystem des vernünftigern Gottesdienstes nunmehr selbst lehren, welches das eigentliche Gepräge der christlichen Gottesverehrung ausmacht, nach welchem wir dem Zwange und lästigen Zeremonien entronnen sind, und den wahren Gottesdienst weder an Samaria noch an Jerusalem binden, sondern das Wesen der Re | ligion darin setzen, daß nach II, 25 den Worten unsers Lehrers die wahrhaftigen Anbeter Gott im Geist und in der Wahrheit anbeten.« Feierlich und pathetisch genug ist diese Ansinnung vorgebracht. – Allein, Lieber! soll ich diesen Schritt tun, ohne vorher zu überlegen, ob er mich auch wirklich aus der Verwirrung ziehen wird, in welcher ich mich Ihrer Meinung nach befinde? Wenn es wahr ist, daß die Ecksteine meines Hauses austreten, und das Gebäude einzustürzen drohet, ist es wohlgetan, wenn ich meine Habseligkeit aus dem untersten Stockwerke in das oberste rette? Bin ich da sicherer? Nun ist das Christentum, wie Sie wissen, auf dem Judentume gebauet, und muß notwendig, wenn dieses fällt, mit ihm über einen Haufen stürzen. Sie sagen, meine Schlußfolge untergrabe den Grund des Judentums, und bieten mir die Sicherheit Ihres obersten Stockwerks an; muß ich nicht glauben, daß Sie meiner spotten? Sicherlich! Der Christ, dem es um Licht und Wahrheit im Ernste zu tun ist, wird beim Anscheine eines Widerspruchs zwischen Wahrheit und Wahrheit, zwischen Schrift und Vernunft, | nicht den Ju- II, 26 den zum Kampfe auffordern, sondern mit ihm gemeinschaftlich den Ungrund des Widerspruchs zu entdecken suchen. Es gehet ihrer beiden Sache an. Was sie unter sich auszumachen haben, mag auf eine andere Zeit ausgesetzt bleiben. Voritzt müssen sie mit vereinigten Kräften die Gefahr abwenden, und entweder den Fehlschluß der Vernunft entdecken, oder zeigen, daß es bloß ein Scheinwiderspruch sei, der sie erschreckt hat. So könnte ich nun der Schlinge ausweichen, ohne mich mit dem Forscher in weitere Untersuchung einzulassen. Allein was

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würde mir der Winkelzug helfen? Sein Gefährte, Herr Mörschel, hat, ohne mich persönlich zu kennen, mir allzutief ins Spiel gesehen. »Er hat« wie er versichert, »in der gerügten Vorrede bloß 45 Merkmale entdeckt, um welcher willen er mich eben so weit entfernt von der Religion, in welcher ich geboren worden, als von der, die er von seinen Vätern empfing, halten zu können glaubt.« Zum Beweise seiner Vermutung führt er aus derselben, außer der Hinweisung auf S. IV. Z. 21. (wo ich Heiden, Juden, MahometaII, 27 ner und An | hänger der natürlichen Religion in einer Zeile zusammen nenne, und für alle Toleranz fordere) – S. V. Z. 8. (in welcher ich abermals von Duldung der Naturalisten rede), und endlich S. XXXVII. Z. 13. (wo ich von ewigen Wahrheiten rede, die die Religion lehren soll), folgende Stelle wörtlich an: »Das Andachtshaus der Vernunft bedarf keiner verschlossenen Türen. Sie hat von innen nichts zu verwahren, und von außen niemanden den Eingang zu verhindern. Wer einen ruhigen Zuschauer abgeben, oder gar Anteil nehmen will, ist dem Gottseligen in der Stunde seiner Erbauung höchst willkommen.« Man siehet, daß, nach Hrn. M. Meinung, kein Anhänger der Offenbarung so laut um Duldung der Naturalisten anhalten, so laut von ewigen Wahrhei- * ten sprechen würde, die die Religion lehren soll, und daß ein wahrer Christ oder Jude Bedenken tragen müsse, sein Bethaus ein Andachtshaus der Vernunft zu nennen. Was ihn auf diese Gedanken gebracht haben könne, begreife ich nun zwar nicht; indessen enthalten sie doch den ganzen Grund zu seiner Vermutung, und II, 28 veranlassen ihn, wie er | sich ausdrückt, nicht mich aufzufordern, mich zu »der Religion zu bekennen, die er bekennt, oder sie zu widerlegen, wofern ich ihr nicht beizutreten im Stande bin; sondern mich im Namen aller, denen Wahrheit am Herzen liegt, zu bitten, mich in Ansehung dessen, was immer dem Menschen das Wichtigste sein muß, deutlich und bestimmt zu erklären.« Er hat zwar, wie er versichert, die Absicht nicht, mich zu bekehren, möchte auch nicht gern Veranlassung zu Einwürfen gegen die Religion sein, von der er Zufriedenheit in diesem Leben, und unbegrenztes Glück nach demselben erwartet; aber er möchte doch * gern – Was weiß ichs, was der liebe Mann alles nicht möchte, und indessen doch möchte – Vorerst also zur Beruhigung dieses

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gutherzigen Briefschreibers: ich habe die christliche Religion niemals öffentlich bestritten, und werde mich auch mit wahren Anhängern derselben niemalen in Streit einlassen. Und damit man mir nicht abermals Schuld gebe, ich wolle durch dergleichen Erklärung gleichsam zu verstehen geben, ich hätte gar wohl siegreiche Waffen in Händen, diesen Glauben, wenn ich wollte, zu bestreiten; die Ju | den besäßen etwa geheime Nachrichten, unbe- II, 29 kannt gewordene Aktenstücke, wodurch die Tatsachen in einem andern Lichte erscheinen, als sie von Christen vorgetragen werden, und dergleichen Vorspiegelungen, die man uns hat zutrauen, oder andichten wollen; um allen Verdacht von dieser Art ein für allemal zu entfernen, so bezeuge ich hiermit vor den Augen des Publikums, daß ich wenigstens nichts Neues wider den Glauben der Christen vorzubringen habe; daß wir, soviel ich weiß, keine andere Nachrichten von der Geschichtssache wissen, keine andere Aktenstücke aufzuweisen haben, als die allgemein bekannt sind; daß ich also von meiner Seite nichts vorzubringen habe, das nicht schon unzählige Male von Juden und Naturalisten gesagt und wiederholt, und von der Gegenpartei beantwortet und wiederholt worden sei. Mich dünkt, es sei in so vielen Jahrhunderten, und insbesondere in unserm schreibseligen Jahrhunderte, genug in der Sache repliziert und dupliziert worden. Es ist einmal Zeit, da die Parteien nichts Neues mehr anzubringen haben, die Akten zu schließen. Wer Augen hat, der sehe; wer Vernunft hat, | der II, 30 prüfe, und lebe nach seiner Überzeugung. Was nützt es, daß die Rüstigen am Wege stehen, und jedem Vorübergehenden den Kampf anbieten? Allzuvieles Gerede von einer Sache kläret in derselben nichts auf, und verdunkelt vielmehr noch den schwachen Schein der Wahrheit. Ihr dürft von welchem Satze ihr wollet, nur oft und lange dafür und dawider reden und schreiben und 46 streiten, und könnet versichert sein, daß er von seiner etwanigen Evidenz immer mehr und mehr verlieren wird. Das allzugroße Detail verhindert das Überschauen des Ganzen. Herr M. hat also nichts zu besorgen. Durch mich soll er sicherlich nicht die Veranlassung zu Einwürfen gegen eine Religion werden, von der so viele meiner Nebenmenschen Zufriedenheit in diesem Leben und unbegrenztes Glück nach demselben erwarten.

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Ich muß aber auch seinem spähenden Blick Gerechtigkeit widerfahren lassen. Er hat zum Teil nicht unrecht gesehen. Es ist wahr: ich erkenne keine andere ewige Wahrheiten, als die der menschlichen Vernunft nicht nur begreiflich, sondern durch II, 31 menschliche Kräfte | dargetan und bewährt werden können. Nur darin täuscht ihn ein unrichtiger Begriff vom Judentum, wenn er glaubt, ich könne dieses nicht behaupten, ohne von der Religion meiner Väter abzuweichen. Ich halte dieses vielmehr für einen wesentlichen Punkt der jüdischen Religion, und glaube, daß diese Lehre einen charakteristischen Unterschied zwischen ihr und der christlichen Religion ausmache. Um es mit einem Worte zu sagen: ich glaube, das Judentum wisse von keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem dieses von den Christen genommen wird. Die Israeliten haben göttliche Gesetzgebung. Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, wie sie sich zu verhalten haben, um zur zeitlichen und ewigen Glückseligkeit zu gelangen; dergleichen Sätze und Vorschriften sind ihnen durch Mosen auf eine wunderbare und übernatürliche Weise geoffenbaret worden; aber keine Lehrmeinun- * gen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeine Vernunftsätze. Diese offenbaret der Ewige uns, wie allen übrigen Menschen, allezeit durch Natur und Sache, nie durch Wort und Schriftzeichen. 47 II, 32 | Ich besorge, daß dieses auffallen, und manchem Leser abermals neu und hart scheinen dürfte. Man hat auf diesen Unterschied immer wenig Acht gehabt; man hat übernatürliche Gesetzgebung für übernatürliche Religionsoffenbarung genommen, und vom Judentume so gesprochen, als sei es bloß eine frühere Offenbarung religiöser Sätze und Lehren, die zum Heile des Menschen notwendig sind. Ich werde mich also etwas weitläuftig zu erklären haben, und um nicht mißverstanden zu werden, zu frühern Begriffen hinaufsteigen müssen, um mit meinem Leser aus demselben Standpunkte auszugehen, und gleichen Schritt halten zu können. Man nennet ewige Wahrheiten diejenigen Sätze, welche der 48 Zeit nicht unterworfen sind, und in Ewigkeit dieselben bleiben. Diese sind entweder notwendig, an und für sich selbst unveränderlich, oder zufällig; das heißt, ihre Beständigkeit gründet sich

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entweder auf ihr Wesen, sie sind deswegen so und nicht anders wahr, weil sie so und nicht anders denkbar sind, oder auf ihre Wirklichkeit: sie sind deswegen allgemein wahr, deswegen so und nicht anders, weil | sie so und nicht anders wirklich geworden, II, 33 weil sie, unter allen möglichen ihrer Art, so und nicht anders die besten sind. Mit andern Worten: sowohl die notwendigen als zufälligen Wahrheiten fließen aus einer gemeinschaftlichen Quelle, aus der Quelle aller Wahrheit: jene aus dem Verstande, diese aus dem Willen Gottes. Die Sätze der notwendigen Wahrheiten sind wahr, weil sie Gott so und nicht anders sich vorstellet; der zufälligen, weil sie Gott so und nicht anders gut gefunden, und seiner Weisheit gemäß betrachtet hat. Beispiele der ersteren Gattung 49 sind die Sätze der reinen Mathematik und der Vernunftkunst; Bei50 spiele der letzteren die allgemeinen Sätze der Physik und Geisterlehre, die Gesetze der Natur, nach welchen dieses Weltall, Körper und Geisterwelt regiert wird. Die ersten sind auch der Allmacht unveränderlich, weil Gott selbst seinen unendlichen Verstand nicht veränderlich machen kann; die letztern hingegen sind dem Willen Gottes unterworfen, und nur in so weit unveränderlich, als es seinem heiligen Willen gefällt, das heißt, insoweit sie seinen Absichten entsprechen. Seine | Allmacht konnte andere Gesetze II, 34 an ihrer Stelle einführen, und kann, sooft es nützlich ist, Ausnahmen Statt finden lassen. Außer diesen ewigen Wahrheiten gibt es noch Zeitliche, Geschichtswahrheiten; Dinge, die sich zu Einer Zeit zugetragen, und vielleicht niemals wiederkommen; Sätze, die durch einen Zusammenfluß von Ursachen und Wirkungen in einem Punkte der Zeit und des Raumes wahr geworden, und also von diesem Punkte der Zeit und des Raumes nur als wahr gedacht werden können. Von dieser Art sind alle Wahrheiten der Geschichte, in ihrem weitesten Umfange. Dinge der Vorwelt, die sich einst zugetragen, und uns erzählt werden, die wir aber selbst nie wahrnehmen können. So wie diese Klassen der Sätze und Wahrheiten ihrer Natur nach verschieden sind, so sind sie es auch in Ansehung ihrer Überzeugungsmittel, oder in der Art und Weise, wie die Menschen sich und andere davon überführen. Die Lehren der ersten Gattung, oder die notwendigen Wahrheiten gründen sich auf Ver-

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nunft, d. i. auf unveränderlichen Zusammen | hang, und wesentliche Verbindung zwischen den Begriffen, vermöge welcher sie sich einander entweder voraussetzen, oder ausschließen. Von dieser Art sind alle mathematische und logische Beweise. Sie zeigen alle die Möglichkeit, oder Unmöglichkeit, gewisse Begriffe in Verbindung zu denken. Wer seinen Nebenmenschen davon unterrichten will, muß sie nicht seinem Glauben empfehlen, sondern seiner Vernunft gleichsam aufdringen; nicht Autoritäten anführen, und sich auf die Glaubwürdigkeit der Männer berufen, die eben dasselbe behauptet haben; sondern die Begriffe selbst in ihre Merkmale zerlegen, und seinem Lehrling stückweise so lange vorhalten, bis sein innerer Sinn ihre Fugen und Verbindungen wahrnimmt. Der Unterricht, den wir hierin andern geben können, bestehet, wie Sokrates gar wohl gesagt, bloß in einer Art von Ge- 51* burtshülfe. Wir können nichts in ihren Geist hineinlegen, das er nicht schon wirklich hat; aber wir können ihm die Anstrengung erleichtern, die es kostet, das Verborgene an das Licht zu bringen; das heißt, das Unbemerkte bemerkbar und anschaulich zu machen. II, 36 | Zu den Wahrheiten der zwoten Klasse wird, außer der Vernunft, auch noch Beobachtung erfordert. Wollen wir wissen, welche Gesetze der Schöpfer seiner Schöpfung vorgeschrieben, nach welchen allgemeinen Regeln die Veränderungen in derselben vorgehen: so müssen wir einzelne Fälle erfahren, beobachten, versuchen, das heißt, zuvörderst die Evidenz der Sinne brauchen, und hernach durch die Vernunft, aus mehrern besondern Fällen dasjenige herausbringen, was sie gemein haben. Hier werden wir zwar manches schon auf Glauben und Ansehen von andern annehmen müssen. Unsere Lebenszeit reicht nicht hin, alles selbst zu erfahren, und wir müssen in vielen Fällen uns auf glaubhafte Nebenmenschen verlassen: die Beobachtungen und Versuche, die sie angestellt zu haben vorgeben, als wahr voraussetzen. Wir trauen ihnen aber nur, insoweit wir wissen, und überführt sind, daß die Gegenstände noch immer vorhanden sind, und die Versuche und Beobachtungen von uns oder von andern, die Gelegenheit und Fähigkeit dazu haben, wiederholt und geprüft werden können. II, 37 Ja, wenn | das Resultat wichtig wird, und einen merklichen EinII, 35

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fluß auf unsere oder anderer Glückseligkeit hat; so beruhigen wir uns schon weit weniger bei der Aussage der glaubhaftesten Zeugen, die uns die Versuche und Beobachtungen erzählen, sondern suchen Gelegenheit, sie selbst zu wiederholen und uns durch ihre eigene Evidenz von denselben zu überführen. So können die Siameser z. B. allerdings dem Berichte der Europäer trauen, daß in ihrer Weltgegend das Wasser zu gewissen Zeiten hart werde, und schwere Lasten trage. Sie können dieses auf Glauben annehmen, und allenfalls in ihren Lehrbüchern der Physik als ausgemacht vortragen; in der Voraussetzung, daß die Beobachtung noch immer wiederholt und bewährt werden kann. Wenn es indessen zur Lebensgefahr käme, wenn sie itzt diesem hartgewordenen Elemente sich selbst oder die Ihrigen anvertrauen sollten; so würden sie sich bei dem Zeugnisse schon weit weniger beruhigen können, sondern durch mancherlei eigene Erfahrungen, Beobachtungen und Versuche von der Wahrheit zu überführen haben. | Hingegen die Geschichtswahrheiten, die Stellen, die gleich- II, 38 sam im Buche der Natur nur Einmal vorkommen, müssen durch sich selbst erläutert werden, oder bleiben unverständlich: das heißt, sie können nur von denenjenigen vermittelst der Sinne wahrgenommen werden, die zu der Zeit und an dem Orte zugegen gewesen, als sie sich in der Natur zugetragen haben. Von jedem andern müssen sie auf Autorität und Zeugnis angenommen werden; und zwar die zu einer andern Zeit leben, müssen sich schlechterdings auf die Glaubhaftigkeit des Zeugnisses verlassen. Denn das Bezeugte ist nicht mehr. Der Gegenstand und dessen * unmittelbare Beobachtung, an die sie etwa appellieren wollen, sind in der Natur nicht mehr anzutreffen. Die Sinne können sich von der Wahrheit nicht überführen. Das Ansehen des Erzählers und seine Glaubhaftigkeit machen die einzige Evidenz in historischen Dingen. Ohne Zeugnis können wir von keiner Geschichtswahrheit überführt werden. Ohne Autorität verschwindet die Wahrheit der Geschichte mit dem Geschehenen selbst. | Sooft es nun den Absichten Gottes gemäß ist, daß die Men- II, 39 schen von irgend einer Wahrheit überführt sein sollen; so verleihet ihnen seine Weisheit auch die schicklichsten Mittel, zu derselben zu gelangen. Ist es eine notwendige Wahrheit, so verleihet sie

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den dazu erforderlichen Grad der Vernunft. Soll ihnen ein Naturgesetz bekannt werden, so gibt sie ihnen den Geist der Beobachtung; und soll eine Geschichtswahrheit der Nachwelt aufbehalten werden, so bestätiget sie ihre historische Gewißheit, und setzet die Glaubwürdigkeit der Erzähler über alle Zweifel hinweg. Bloß in Absicht auf Geschichtswahrheiten, dünkt mich, sei es der allerhöchsten Weisheit anständig, die Menschen auf menschliche Wei- 52 se, d. i. durch Worte und Schrift zu unterrichten, und wo es zur Bewährung des Ansehens und der Glaubwürdigkeit erforderlich war, außerordentliche Dinge und Wunder in der Natur geschehen zu lassen. Jene ewigen Wahrheiten hingegen, insoweit sie zum Heile und zur Glückseligkeit der Menschen nützlich sind, lehret Gott auf eine der Gottheit gemäßere Weise: nicht durch Laut und II, 40 Schrift | zeichen, die hier und da, diesem und jenem verständlich sind, sondern durch die Schöpfung selbst und ihre innerlichen Verhältnisse, die allen Menschen leserlich und verständlich sind. Er bestätiget sie auch nicht durch Wunder, die nur historischen Glauben bewirken; sondern erwecket den von ihm erschaffenen Geist, und gibt ihm Gelegenheit jene Verhältnisse der Dinge zu beobachten, sich selbst zu beobachten, und von den Wahrheiten zu überzeugen, die er hienieden zu erkennen bestimmt ist. Ich glaube also nicht, daß die Kräfte der menschlichen Vernunft nicht hinreichen, sie von den ewigen Wahrheiten zu überführen, die zur menschlichen Glückseligkeit unentbehrlich sind, und daß Gott ihnen solche auf eine übernatürliche Weise habe offenbaren müssen. Die dieses behaupten, sprechen der Allmacht oder der Güte Gottes auf der andern Seite ab, was sie auf der einen Seite seiner Güte zuzulegen glauben. Er war, nach ihrer Meinung gütig genug, den Menschen diejenigen Wahrheiten zu offenbaren, von welchen ihre Glückseligkeit abhänget; aber nicht II, 41 allmächtig, oder nicht gütig genug, ihnen | selbst die Kräfte zu verleihen, solche zu entdecken. Zudem macht man durch diese Behauptung die Notwendigkeit einer übernatürlichen Offenbarung allgemeiner, als die Offenbarung selbst. Wenn denn das menschliche Geschlecht ohne Offenbarung verderbt und elend sein müßte; warum hat denn der bei weitem größere Teil desselben von je her ohne wahre Offenbarung gelebet, oder warum 53

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müssen beide Indien warten, bis es den Europäern gefällt, ihnen einige Tröster zuzusenden, die ihnen Botschaft bringen sollen, ohne welche sie, dieser Meinung nach, weder tugendhaft, noch glückselig leben können? ihnen Botschaft zu bringen, die sie ihren Umständen, und der Lage ihrer Erkenntnis nach, weder recht verstehen, noch gehörig brauchen können? Nach den Begriffen des wahren Judentums sind alle Bewohner der Erde zur Glückseligkeit berufen, und die Mittel derselben so ausgebreitet, als die Menschheit selbst, so milde ausgespendet, als die Mittel sich des Hungers und anderer Naturbedürfnisse zu erwehren. Hier der rohen Natur überlassen, die ihre Kraft in | ner- II, 42 lich empfindet, und sich derselben bedienet, ohne sich in Wort und Vortrag anders, als höchst mangelhaft, und gleichsam stammelnd, auslassen zu können; dort durch Wissenschaft und Kunst unterstützt, hellglänzend durch Worte, Bilder und Gleichnisse, 55 durch welche die Wahrnehmungen des innern Sinnes in deutliche Zeichenerkenntnis verwandelt und aufgestellt werden. Sooft es nützlich war, hat die Vorsehung unter jeder Nation der Erde weise Männer aufstehen lassen, und ihnen die Gabe verliehen, mit hellerem Auge in sich selbst, und um sich her zu schauen, die Werke Gottes zu betrachten, und ihre Erkenntnisse andern mitzuteilen. Aber nicht zu allen Zeiten ist dieses nötig oder nützlich. 56 Sehr oft reichet, wie der Psalmist sagt, das Lallen der Kinder und Säuglinge hin, den Feind zu beschämen. Der einfältig lebende Mensch hat sich die Einwürfe noch nicht erkünstelt, die den Sophisten so sehr verwirren. Ihm ist das Wort Natur, der bloße Schall, noch nicht zu einem Wesen geworden, das die Gottheit verdrängen will. Er weiß so gar noch wenig von dem Unterschiede zwischen mittelba | rer und unmittelbarer Wirkung, und hört II, 43 und siehet vielmehr die alles belebende Kraft der Gottheit überall: in jeder aufgehenden Sonne, in jedem Regen, der niederfällt, in jeder Blume, die aufblühet, und in jedem Lamme, das auf der Wiese weidet und sich seines Daseins freuet. Diese Vorstellungsart hat etwas fehlerhaftes; allein sie führet unmittelbar zur Erkenntnis eines unsichtbaren allmächtigen Wesens, dem wir alles Gute, das wir genießen, zu verdanken haben. Sobald aber ein Epikur oder Lukrez, ein Helvetius oder Hume das Unvollständige in dieser 54

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Vorstellungsart rüget, und (welches der menschlichen Schwachheit zu gute zu halten ist) auf der andern Seite ausschweifet, und mit dem Worte Natur ein täuschendes Spiel treiben will; so erweckt die Vorsehung wiederum andere Männer im Volke, die Vorurteil von Wahrheit trennen, das Übertriebene von beiden Seiten berichtigen, und zeigen, daß die Wahrheit Bestand habe, wenn auch das Vorurteil verworfen wird. Im Grunde ist es immer noch derselbe Stoff; dort mit allen rohen aber kraftvollen Säften, II, 44 die ihm | die Natur gibt; hier mit dem verfeinerten Wohlgeschmacke der Kunst, zur Verdauung leichter, aber auch nur für Schwächliche. Das Tun und Lassen der Menschen und die Sittlichkeit ihres Lebenswandels hat sich von jener rohen Vorstellungsart, im Ganzen genommen, vielleicht eben so gute Folgen zu versprechen, als von diesen verfeinerten und gereinigten Begriffen. Manches Volk ist von der Vorsehung bestimmt, diesen Kreislauf der Begriffe durchzuwandern; ja zuweilen mehr als Einmal * durchzuwandern; aber vielleicht bleibt das Maß und Gewicht * ihrer Sittlichkeit in allen diesen mannigfaltigen Epochen, im Ganzen genommen, ungefähr dasselbe. Ich für meinen Teil habe keinen Begriff von der Erziehung des Menschengeschlechts, die sich mein verewigter Freund Lessing 57 von, ich weiß nicht, welchem Geschichtsforscher der Menschheit, hat einbilden lassen. Man stellet sich das kollektive Ding, das menschliche Geschlecht, wie eine einzige Person vor, und glaubt, die Vorsehung habe sie hieher gleichsam in die Schule geschickt, II, 45 um aus einem Kinde zum Man | ne erzogen zu werden. Im Grunde ist das menschliche Geschlecht fast in allen Jahrhunderten, wenn die Metapher gelten soll, Kind und Mann und Greis zugleich, nur an verschiedenen Orten und Weltgegenden. Hier in der Wiege, saugt an der Brust, oder lebt von Rahm und Milch; dort in männlicher Rüstung und verzehrt das Fleisch der Rinder; und an einem andern Orte am Stabe und schon wieder ohne Zähne. Der Fortgang ist für den einzelnen Menschen, dem die Vorsehung beschieden, einen Teil seiner Ewigkeit hier auf Erden zuzubringen. Jeder gehet das Leben hindurch seinen eigenen Weg; diesen führt der Weg über Blumen und Wiesen, jenen über wüste Ebenen oder über steile Berge und gefahrvolle Klüfte. Aber alle kommen auf

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der Reise weiter, und gehen ihres Weges zur Glückseligkeit, zu welcher sie beschieden sind. Aber daß auch das Ganze, die Menschheit hienieden, in der Folge der Zeiten immer vorwärts rücken, und sich vervollkommnen soll, dieses scheinet mir der Zweck der Vorsehung nicht gewesen zu sein; wenigstens ist dieses so ausgemacht, und zur Rettung der Vor | sehung Gottes bei wei- II, 46 tem so notwendig nicht, als man sich vorzustellen pflegt. Daß wir doch immer wider alle Theorie und Hypothesen uns sträuben, und von Tatsachen reden, nichts als von Tatsachen hören wollen, und uns gerade da am wenigsten nach Tatsachen umsehen, wo es am meisten darauf ankommt. Ihr wollt erraten, was für Absichten die Vorsehung mit der Menschheit hat? Schmiedet keine Hypothesen; schauet nur umher auf das, was wirklich geschiehet, und, wenn ihr einen Überblick auf die Geschichte aller Zeiten werfen könnet, auf das, was von jeher geschehen ist. Dieses ist Tatsache, dieses muß zur Absicht gehört haben, muß in dem Plane der Weisheit genehmigt, oder wenigstens mit aufgenommen worden sein. Die Vorsehung verfehlt ihres Endzweckes nie. Was wirklich geschiehet, muß von jeher ihre Absicht gewesen sein, oder dazu gehört haben. Nun findet ihr, in Absicht auf das gesamte Menschengeschlecht, keinen beständigen Fortschritt in der Ausbildung, der sich der Vollkommenheit immer näherte. Vielmehr sehen wir das Menschengeschlecht im Ganzen | kleine Schwingungen machen, und es tat nie einige II, 47 Schritte vorwärts, ohne bald nachher, mit gedoppelter Geschwin58 digkeit, in seinen vorigen Stand zurück zu gleiten. Die mehresten Nationen der Erde leben viele Jahrhunderte auf derselben Stufe von Kultur, in demselben dämmernden Lichte, das unseren verwöhnten Augen viel zu schwach scheint. Je zuweilen entzündet sich ein Punkt in der großen Masse, wird zum glänzenden Gestirne, und durchwandelt eine Laufbahn, die ihn nach einer bald kurzen bald längern Periode zurückführet, und wiederum an seinen Ort des Stillstandes, oder nicht weit davon, absetzet. Der Mensch gehet weiter; aber die Menschheit schwankt beständig zwischen festgesetzten Schranken, auf und nieder, behält aber im Ganzen betrachtet, in allen Perioden der Zeit ungefähr dieselbe Stufe der Sittlichkeit, dasselbe Maß von Religion und Irreligion, von Tu-

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gend und Laster, von Glückseligkeit und Elend; dasselbe Resultat, wenn Gleiches mit Gleichem in Berechnung gebracht wird; von allen diesen Gütern und Übeln so viel, als zum Durchgange der II, 48 einzelnen Menschen erforderlich | war, damit diese hienieden erzogen werden, und sich der Vollkommenheit so viel nähern mö- * gen, als einem jeden beschieden und zugeteilt worden. Ich komme wieder zu meiner vorigen Bemerkung. Das Juden- 59 tum rühmet sich keiner ausschließenden Offenbarung ewiger Wahrheiten, die zur Seligkeit unentbehrlich sind; keiner geoffenbarten Religion, in dem Verstande, in welchem man dieses Wort zu nehmen gewohnt ist. Ein anderes ist geoffenbarte Religion; ein anderes geoffenbarte Gesetzgebung. Die Stimme, die sich an jenem großen Tage, auf Sinai hören ließ, rief nicht: »ich bin der Ewige, dein Gott! das notwendige, selbstständige Wesen, das allmächtig ist und allwissend, das den Menschen in einem zukünftigen Leben vergilt, nach ihrem Tun.« Dieses ist allgemeine Menschenreligion, nicht Judentum; und allgemeine Menschenreligion, ohne welche die Menschen weder tugendhaft sind, noch glückselig werden können, sollte hier nicht geoffenbart werden. Konnte im Grunde nicht; denn wen sollte die Donnerstimme und der PoII, 49 saunenklang von jenen ewigen Heilslehren über | führen? Sicherlich den gedankenlosen Tiermenschen nicht, den seine eigene Betrachtung noch nicht auf das Dasein eines unsichtbaren Wesens geführt hat, das dieses Sichtbare regieret. Diesem würde die Wunderstimme keine Begriffe eingegeben, also nicht überzeugt haben. Den Sophisten noch weniger, dem so viele Zweifel und Grübeleien vor dem Gehöre sausen, daß er die Stimme des gesunden Menschenverstandes nicht mehr wahrnimmt. Dieser fordert Vernunftgründe, keine Wunderdinge. Und wenn der Religionslehrer alle Toten aus dem Staube erweckt, die jemals auf demselben gestanden haben, um eine ewige Wahrheit dadurch zu bestätigen; der * Zweifler spricht: der Lehrer hat viele Toten erweckt, aber von der ewigen Wahrheit weiß ich nicht mehr als vorhin. Ich weiß nunmehr, daß jemand außerordentliche Dinge tun, und hören lassen kann, aber dergleichen Wesen kann es mehrere geben, die sich eben itzt zu offenbaren, nicht für gut finden, und wie weit ist alles dieses noch von der unendlich erhabenen Idee einer Einzigen,

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ewigen Gottheit, die dieses ganze Weltall, nach ihrem un | um- II, 50 schränkten Willen regiert, und die geheimsten Gedanken der Menschen durchschauet, um ihre Handlungen, wo nicht hier, doch in jener Zukunft, nach Verdienst zu belohnen? – Wer dieses nicht wußte, wer von diesen zur menschlichen Glückseligkeit unentbehrlichen Wahrheiten nicht durchdrungen, und so vorbereitet zum heiligen Berge hintrat, den konnten die großen wundervollen Anstalten betäuben, und niederschlagen, aber nicht eines bessern belehren. – Nein! alles dieses ward vorausgesetzt, ward vielleicht in den Vorbereitungstagen gelehrt, erörtert und durch menschliche Gründe außer Zweifel gesetzt, und nun rief die göttliche Stimme: »Ich bin der Ewige, dein Gott! der dich aus dem Lande Mizraim geführt, aus der Sklaverei befreiet hat u. s. w.« Eine Geschichtswahrheit, auf die sich die Gesetzgebung dieses Volks gründen sollte, und Gesetze sollten hier geoffenbaret werden; Gebote, Verordnungen, keine ewige Religionswahrheiten. »Ich bin der Ewige, dein Gott, der mit deinen Vätern Abraham, Isaak und Jakob einen Bund gemacht, und ihnen zugeschworen hat, aus | ihrem Samen eine mir eigene Nation zu bilden. Der Zeitpunkt ist II, 51 endlich gekommen, da diese Verheißung in Erfüllung gehen soll. Ich habe euch zu dem Ende aus der Sklaverei der Ägyptier erlöset, mit unerhörten Wundern und Zeichen erlöset. Ich bin euer Erretter, euer Oberhaupt und König, mache auch mit euch einen Bund, und gebe euch Gesetze, nach welchen ihr in dem Lande, das ich euch eingeben werde, leben und eine glückliche Nation sein sollet.« Alles dieses sind Geschichtswahrheiten, die ihrer Natur nach, auf historischer Evidenz beruhen, durch Autorität bewährt werden müssen, und durch Wunder bekräftiget werden können. Wunder und außerordentliche Zeichen sind nach dem Judentume, keine Beweismittel für oder wider ewige Vernunftwahrheiten. Daher sind wir in der Schrift selbst angewiesen, wenn ein Prophet Dinge lehret, oder anrät, die ausgemachten Wahrheiten zuwider sind, und wenn er seine Sendung auch durch Wunder bekräftiget, ihm nicht zu gehorchen; ja den Wundertäter zum Tode zu verurteilen, wenn er zur Ab | götterei verleiten will. Denn Wunder können nur Zeugnisse bewähren, Autoritäten unterstützen; Glaub- II, 52 haftigkeit der Zeugen und Überlieferer bekräftigen; aber alle

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Zeugnisse und Autoritäten können keine ausgemachte Vernunftwahrheit umstoßen, keine zweifelhafte über Zweifel und Bedenklichkeit hinwegsetzen. Ob nun gleich dieses göttliche Buch, das wir durch Mosen empfangen haben, eigentlich ein Gesetzbuch sein, und Verordnungen, Lebensregeln und Vorschriften enthalten soll; so schließt es gleichwohl, wie bekannt, einen unergründlichen Schatz von Vernunftwahrheiten und Religionslehren mit ein, die mit den Gesetzen so innigst verbunden sind, daß sie nur Eins ausmachen. Alle Gesetze beziehen, oder gründen sich auf ewige Vernunftwahrheiten, oder erinnern und erwecken zum Nachdenken über dieselben; so daß unsere Rabbinen mit Recht sagen: die Gesetze und Lehren verhalten sich gegen einander, wie Körper und Seele. 63 Ich werde hiervon weiter unten ein mehreres zu sagen Gelegenheit haben, und begnüge mich dieses hier bloß als eine Tatsache II, 53 vorauszusetzen, davon | sich ein Jeder überführen kann, der die Gesetze Moses auch nur in irgend einer Übersetzung zu dieser Absicht in die Hand nimmt. Die Erfahrung vieler Jahrhunderte lehret auch, daß dieses göttliche Gesetzbuch einem großen Teil * des menschlichen Geschlechts Quelle des Erkenntnisses geworden, aus welcher sie neue Begriffe schöpfen, oder die alten berichtigen. Je mehr ihr in demselben forschet, desto mehr erstaunt ihr, über die Tiefe der Erkenntnisse, die darin verborgen liegen. Die Wahrheit bietet sich zwar in demselben, in der einfachsten Bekleidung, gleichsam ohne Anspruch, auf den ersten Anblick dar. Allein je näher ihr hinzudringet, je reiner, unschuldiger, liebe- und sehnsuchtsvoller der Blick ist, mit welchem ihr auf sie hinschauet, desto mehr entfaltet sie euch von ihrer göttlichen Schönheit, die sie mit leichtem Flor verhüllt, um nicht von gemeinen unheiligen Augen entweihet zu werden. Allein alle diese vortrefflichen Lehrsätze werden dem Erkenntnis dargestellt, der Betrachtung vorgelegt, ohne dem Glauben aufgedrungen zu werden. Unter allen II, 54 Vorschriften und Verordnungen des Mosaischen Gesetzes, | lautet kein Einziges: Du sollst glauben! oder nicht glauben; sondern alle heißen: du sollst tun, oder nicht tun! Dem Glauben wird nicht befohlen; denn der nimmt keine andere Befehle an, als die den Weg der Überzeugung zu ihm kommen. Alle Befehle des göttlichen

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Gesetzes sind an den Willen, an die Tatkraft der Menschen gerichtet. Ja, das Wort in der Grundsprache, das man durch Glauben zu übersetzen pflegt, heißt an den mehresten Stellen eigentlich Vertrauen, Zuversicht, getroste Versicherung auf Zusage und Verheißung. Abraham vertraute dem Ewigen, und es ward ihm zur Gottseligkeit gerechnet (1 B. M. 15, 6.): die Israeliten sahen, und hatten Zutrauen zu dem Ewigen und zu Mosen, seinem Diener (2 B. M. 14, 31.) Wo von ewigen Vernunftwahrheiten die Rede ist, heißt es nicht, glauben, sondern erkennen und wissen. Damit du erkennest, daß der Ewige wahrer Gott, und außer ihm keiner sei. (5 B. M. 4, 39.) Erkenne also und nimm dir zu Sinne, daß der Herr allein Gott sei, oben im Himmel, so wie unten auf der Er | de, und sonst niemand (daselbst). Vernimm Israel! der II, 55 Ewige, unser Gott ist ein Einziges, ewiges Wesen! (5 B. M. 6, 4.) Nirgend wird gesagt: glaube Israel, so wirst du gesegnet sein; Zweifle nicht, Israel! oder diese und jene Strafe wird dich verfolgen. Gebot und Verbot, Belohnung und Strafen sind nur für Handlungen, für Tun und Lassen, die in des Menschen Willkür stehen, und durch Begriffe vom Guten und Bösen, also auch von Hoffnung und Furcht gelenkt werden. Glaube und Zweifel, Beifall und Widerspruch hingegen, richten sich nicht nach unserem Begehrungsvermögen, nicht nach Wunsch und Verlangen, nicht nach Fürchten und Hoffen; sondern nach unserer Erkenntnis von Wahrheit und Unwahrheit. Daher hat auch das alte Judentum keine symbolische Bücher, keine Glaubensartikel. Niemand durfte Symbola beschwören, niemand ward auf Glaubensartikel beeidiget; ja, wir haben von dem, was man Glaubenseide nennet, gar keinen Begriff, und müssen sie, nach dem Geiste des echten Judentums, für | unstatthaft II,56 halten. Majemonides kam zuerst auf den Gedanken, die Religion seiner Väter auf eine gewisse Anzahl von Grundsätzen einzuschränken; damit die Religion, wie er zu verstehen gibt, so wie alle Wissenschaften, ihre Grundbegriffe habe, aus welchen alles übrige hergeleitet wird. Aus diesem bloß zufälligen Gedanken sind die dreizehn Artikel des jüdischen Katechismus entstanden, denen wir das Morgenlied Jigdal, und einige gute Schriften von Chisdai, Albo und Abarbanell zu verdanken haben. Dieses sind

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auch alle Folgen, die sie bisher gehabt haben. Zu Glaubensfesseln sind sie, Gottlob! noch nicht geschmiedet worden. Chisdai bestreitet sie und schlägt Abänderungen vor; Albo schränkt ihre Anzahl ein, und will nur von dreien Grundartikeln wissen, die mit denen, welche Herbert von Cherbury in spätern Zeiten zum Katechismus vorgeschlagen, ziemlich übereintreffen, und noch andere, hauptsächlich Lorja und seine Schüler, die neueren Kabbalisten, 68 wollen gar keine bestimmte Anzahl von Fundamentallehren gelten lassen, und sprechen: in unsrer Lehre ist alles fundamental. II, 57 Indessen | ward dieser Streit geführt, wie alle Streitigkeiten dieser Art geführt werden sollten: mit Ernst und Eifer, aber ohne Haß und Bitterkeit; und ob schon die dreizehn Artikel des Majemonides von dem größten Teile der Nation angenommen worden sind; so hat doch meines Wissens noch niemand den Albo verketzert, daß er sie hat einschränken und auf weit allgemeinere Vernunftsätze zurückführen wollen. Hierin haben wir den wichtigen Ausspruch unserer Weisen noch nicht aus der Acht gelassen: »Obgleich dieser löset, jener bindet, so lehren sie doch beide 69 Worte des lebendigen Gottes.«* II, 58 | Im Grunde kömmt auch hier alles auf den Unterschied zwischen Glauben und Wissen, Religionslehren und Religionsgeboten, an. Alles menschliche Wissen läßt sich allerdings auf wenige Fundamentalbegriffe einschränken, die zum Grunde gelegt werden. Je weniger, desto fester stehet das Gebäude. Aber Gesetze leiden keine Abkürzung. In ihnen ist alles fundamental, und in so weit können wir mit Grunde sagen: uns sind alle Worte der Schrift, alle Gebote und Verbote Gottes fundamental. Wollt ihr gleichwohl die Quintessenz daraus haben; so höret, wie jener größere Lehrer der Nation, Hillel der ältere der vor der Zer- 71

* Ich habe so manchen Pedanten diesen Spruch zum Beweise an-

führen sehen, daß die Rabbinen den Satz des Widerspruchs nicht glauben. Ich wünsche die Tage zu erleben, da alle Völker der Erde diese Ausnahme von dem allgemeinen Satze des Widerspruchs werden gelten lassen: der Fasttag des Vierten und der Fasttag des Zehnten 70 Monats mag in Wonne und Freudentag verwandelt werden, nur liebet Wahrheit und Frieden. (Zachar. 8, 19.)

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störung des zweiten Tempels lebte, sich dabei genommen. Ein Heide sprach: Rabbi, lehret mich das ganze Gesetz, indem ich auf einem Fuße stehe! Samai, an den er diese Zumutung vorher ergehen ließ, hatte ihn mit Verachtung abgewiesen; allein der durch seine unüberwindliche Gelassenheit und Sanftmut berühmte Hillel sprach: Sohn! liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Dieses ist der Text des Gesetzes; alles übrige ist Kommentar. Nun gehe hin und lerne! | Ich habe nunmehr, zum Grundrisse des alten, ursprünglichen II, 59 Judentums, wie ich mir solches vorstelle, die Außenlinien entworfen. Lehrbegriffe und Gesetze; Gesinnungen und Handlungen. Jene waren nicht an Worte und Schriftzeichen gebunden, die für alle Menschen und Zeiten, unter allen Revolutionen der Sprachen, Sitten, Lebensart und Verhältnisse immer dieselben bleiben, uns immer dieselbe steife Formen darbieten sollen, in welche wir unsere Begriffe nicht einzwängen können, ohne sie zu zerstümmeln. Sie wurden dem lebendigen, geistigen Unterrichte anvertrauet, der mit allen Veränderungen der Zeiten und Umstände gleichen Schritt halten, und nach dem Bedürfnis, nach der Fähigkeit und Fassungskraft des Lehrlings abgeändert und gemodelt werden kann. Die Veranlassung zu diesem väterlichen Unterrichte fand man in dem geschriebenen Gesetzbuche, und in den Zeremonialhandlungen, die der Bekenner des Judentums unaufhörlich zu beobachten hatte. Es war Anfangs ausdrücklich verboten, über die Gesetze mehr zu schreiben, als Gott der Nation durch Mosen hat verzeich | nen lassen. »Was mündlich überliefert worden,« sa- II, 60 gen die Rabbinen, »ist dir nicht erlaubt, niederzuschreiben.« Mit vielem Widerwillen entschlossen sich die Häupter der Synagoge in den folgenden Zeiten zu der notwendig gewordenen Erlaubnis, über die Gesetze schreiben zu dürfen. Sie nannten diese Erlaubnis eine Zerstörung des Gesetzes, und sagten mit dem Psalmisten: »es ist eine Zeit, da man um des Ewigen willen, das Gesetz zerstören muß.« So sollte es aber, der ursprünglichen Verfassung nach, nicht sein. Das Zeremonialgesetz selbst ist eine lebendige, Geist und Herz erweckende Art von Schrift, die bedeutungsvoll ist, und ohne Unterlaß zu Betrachtungen erweckt, und zum mündlichen Unterrichte Anlaß und Gelegenheit gibt. Was der Schüler vom

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Morgen bis Abend tat und tun sahe, war ein Fingerzeig auf religiose Lehren und Gesinnungen, trieb ihn an, seinem Lehrer zu folgen, ihn zu beobachten, alle seine Handlungen zu bemerken, den Unterricht zu holen, dessen er durch seine Anlagen fähig war, und sich durch sein Betragen würdig gemacht hatte. Die AusbreiII, 61 tung der Schriften und Bü | cher, die durch die Erfindung der Druckerei in unsern Tagen ins Unendliche vermehrt worden sind, hat den Menschen ganz umgeschaffen. Die große Umwälzung des ganzen Systems der menschlichen Erkenntnisse und Gesinnungen, die sie hervorgebracht, hat von der einen Seite zwar ersprießliche Folgen für die Ausbildung der Menschheit, dafür wir der wohltätigen Vorsehung nicht genug danken können; indessen hat sie, wie alles Gute, das dem Menschen hienieden werden kann, so manches Übel nebenher zur Folge, das zum Teil dem Mißbrauche, zum Teil auch der notwendigen Bedingung der Menschlichkeit 76 zuzuschreiben ist. Wir lehren und unterrichten einander nur in Schriften; lernen die Natur und die Menschen kennen, nur aus Schriften; arbeiten und erholen, erbauen und ergötzen uns durch Schreiberei; der Prediger unterhält sich nicht mit seiner Gemeine, er liest oder deklamiert ihr eine aufgeschriebene Abhandlung vor. Der Lehrer auf dem Katheder liest seine geschriebenen Hefte ab. Alles ist toter Buchstabe; nirgends Geist der lebendigen UnterhalII, 62 tung. Wir lieben und zürnen in Briefen, | zanken und vertragen uns in Briefen, unser ganzer Umgang ist Briefwechsel, und wenn wir zusammenkommen, so kennen wir keine andere Unterhaltung, als spielen oder vorlesen. Daher ist es gekommen, daß der Mensch für den Menschen fast seinen Wert verloren hat. Der Umgang des Weisen wird nicht gesucht; denn wir finden seine Weisheit in Schriften. Alles was wir tun, ist ihn zum Schreiben aufzumuntern, wenn wir etwa glauben, daß er noch nicht genug hat drucken lassen. Das graue Alter hat seine Ehrwürdigkeit verloren; denn der unbärtige Jüngling weiß mehr aus Büchern, als jenes aus der Erfahrung. Wohlverstanden, oder übelverstanden, darauf kömmt es nicht an; genug er weiß es, trägt es auf den Lippen, und kann es dreister an den Mann bringen, als der ehrliche Greis, dem vielleicht mehr die Begriffe, als die Worte zu Gebote stehen. Wir begreifen nicht

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mehr, wie der Prophet es hat für ein so erschreckliches Übel halten können, daß der Jüngling sich erhebe über den Greis; oder wie jener Grieche dem Staate habe den Untergang prophezeihen können, weil in ei | ner öffentlichen Versammlung sich eine mut- II, 63 willige Jugend über einen Alten lustig gemacht hatte. Wir brauchen des erfahrnen Mannes nicht, wir brauchen nur seine Schriften. Mit einem Worte, wir sind litterati, Buchstabenmenschen. Vom Buchstaben hängt unser ganzes Wesen ab, und wir können kaum begreifen, wie ein Erdensohn sich bilden, und vervollkommnen kann, ohne Buch. So war es nicht in den grauen Tagen der Vorwelt. Kann man nun schon nicht sagen, es war besser; so war es doch sicherlich anders. Man schöpfte aus andern Quellen, sammlete und erhielt in andern Gefäßen, und vereinzelte das Aufbewahrte durch ganz andere Mittel. Der Mensch war dem Menschen notwendiger; die Lehre war genauer mit dem Leben, Betrachtung inniger mit Handlung verbunden. Der Unerfahrne mußte dem Erfahrnen, der Schüler seinem Lehrer auf dem Fuße nachfolgen, seinen Umgang suchen, ihn beobachten, und gleichsam ausholen, wenn er seine Wißbegierde befriedigen wollte. Um deutlicher zu zeigen, was dieser Umstand für Einfluß auf Religion und Sit | ten gehabt, muß II, 64 ich mir abermals eine Abschweifung von meinem Wege erlauben, von der ich aber gar bald wieder einlenken werde. Meine Materie grenzet an so mannigfache andere Materien an, daß ich mich nicht immer auf demselben Gange erhalten kann, ohne in Nebenwege auszuweichen. Mich dünkt, die Veränderung, die in den verschiedenen Zeiten der Kultur mit den Schriftzeichen vorgegangen, habe von jeher an den Revolutionen der menschlichen Erkenntnisse überhaupt, und insbesondere an den mannigfaltigen Abänderungen ihrer Meinungen und Begriffe in Religionssachen sehr wichtigen Anteil, und wenn sie dieselben nicht völlig allein verursacht, doch wenigstens mit andern Nebensachen auf eine merkliche Weise mitgewirkt. Kaum höret der Mensch auf, sich mit den ersten Eindrücken der äußern Sinne zu begnügen, und welcher Mensch kann es lange dabei bewenden lassen? Kaum fühlet er den seiner Seele eingesenkten Sporn, aus diesen äußern Eindrücken sich Be-

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griffe zu bilden, so wird er die Notwendigkeit gewahr, sie an sinnII, 65 liche Zeichen zu binden; | nicht nur, um sie andern mitteilen, sondern um sie für sich selbst festhalten, und sooft es nötig ist, wieder beachten zu können. Die ersten Schritte zur Absonderung allgemeiner Merkmale wird er zwar ohne Zeichen tun können, und tun müssen; denn noch itzt müssen alle neue abstrakte Begriffe ohne Hülfe der Zeichen gebildet, und sodann erst mit einem Namen belegt werden. Das gemeinsame Merkmal muß zuvörderst, durch die Kraft der Aufmerksamkeit, aus dem Gewebe, in welchem es verflochten ist, herausgehoben, und hervorstechend gemacht werden. Hierzu verhilft von der einen Seite die objektive Gewalt des Eindrucks, den dieses Merkmal auf uns zu machen fähig ist; so wie von unserer Seite, das subjektive Interesse, das wir an demselben haben. Aber dieses Herausheben und Beachten des gemeinsamen Merkmals kostet der Seele einige Anstrengung. Nicht lange, so verschwindet das Licht wieder, das die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt des Gegenstandes gesammelt hatte, und er verlieret sich in den Schatten der ganzen Masse, mit II, 66 welcher er vereinigt ist. Die Seele ist nicht im Stande | viel weiter zu kommen, wenn diese Anstrengung eine Zeitlang anhalten, und gar zu oft wiederholt werden muß. Sie hat angefangen abzusondern; aber sie kann nicht denken. Wie ist ihr zu raten? – Die weise Vorsehung hat ihr ein Mittel sehr nahe gelegt, dessen sie sich zu allen Zeiten bedienen kann. Sie heftet das abgezogene Merkmal, entweder durch eine natürliche, oder willkürliche Ideenverbindung an ein sinnliches Zeichen, das, sooft sein Eindruck erneuert wird, auch zugleich dieses Merkmal, rein und unvermischt, wieder hervorbringt und beleuchtet. So sind, wie bekannt, die aus natürlichen und willkürlichen Zeichen zusammengesetzten Sprachen der Menschen entstanden, ohne welche sie sich nur wenig vom unvernünftigen Tiere hätten unterscheiden können; weil der Mensch, ohne Hülfe der Zeichen, sich kaum um einen Schritt vom Sinnlichen entfernen kann. So wie die ersten Schritte zur vernünftigen Erkenntnis getan werden mußten, auf eben die Weise werden die Wissenschaften noch itzt erweitert und mit Erfindungen bereichert, und daher ist zuweilen die Erfindung II, 67 eines Worts in | den Wissenschaften von großer Wichtigkeit. Der

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erste, der das Wort Natur erfunden, scheinet eben keine große Entdeckung gemacht zu haben. Gleichwohl hatten es seine Zeitgenossen ihm zu verdanken, daß sie den Gaukler, der sie eine Erscheinung in der Luft sehen ließ, beschämen, und sagen konnten, sein Spiel sei nichts Übernatürliches; sondern eine Wirkung der Natur. Gesetzt, sie wußten noch nichts Deutliches von den Eigenschaften gebrochener Strahlen, und wie durch dieselben ein Bild in der Luft hervorgebracht werden könne, – und wie weit reichet denn noch itzt unsere Erkenntnis hierin? Kaum um einen Schritt weiter; denn von der Natur des Lichts selbst und von seinen innern Bestandteilen sind wir noch wenig unterrichtet; – so wußten sie doch wenigstens eine einzelne Erscheinung auf ein allgemeines Naturgesetz zurückzubringen, und waren nicht genötiget, jedem Spiele eine besondere, freiwillige Ursache zuzuschreiben. So war es auch mit der neueren Entdeckung, daß die Luft eine Schwere habe. Wissen wir schon nicht die Schwere selbst zu erklären, so sind wir doch wenigstens im Stande, die Beobachtung, daß | die II, 68 flüssigen Materien in luftleeren Röhren in die Höhe steigen, auf das allgemeine Gesetz der Schwere zu reduzieren, das dem ersten Anscheine nach, vielmehr die Flüssigkeit sinken machen sollte. Wir können begreiflich machen, wie durch das allgemeine Sinken, das wir nicht erklären können, in diesem Falle hat ein Steigen hervorgebracht werden müssen; und auch dieses ist ein Schritt weiter in der Erkenntnis. Es ist also nicht jedes Wort in den Wissenschaften sogleich für leeren Schall zu erklären, wenn es nicht aus frühern Elementarbegriffen hergeleitet werden kann. Genug, wenn es eine allgemeine Eigenschaft der Dinge nur in ihrem wahren Umfange bezeichnet. Der Ausdruck fuga vacui würde nicht zu tadeln gewesen sein, wenn er nicht allgemeiner gewesen wäre, als die Beobachtung. Man fand, daß es Fälle gebe, wo die Natur nicht so gleich das Leere anzufüllen eile; daher die Redensart nicht als leer, sondern als falsch zu verwerfen gewesen. – So bleiben die Wörter: Kohäsion der Körper und allgemeine Gravitation, in den Wissenschaften noch immer von großer Wichtigkeit; ob wir | sie gleich II, 69 noch nicht aus frühern Grundbegriffen abzuleiten wissen. Bevor der Herr von Haller das Gesetz der Reizbarkeit entdeckte, wird so mancher Beobachter die Erscheinung selbst in der

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organischen Natur lebendiger Geschöpfe wahrgenommen haben. Allein sie verschwand in dem ersten Augenblick wieder, und zeichnete sich nicht genug von Nebenerscheinungen aus, um die Aufmerksamkeit des Beobachters fest zu halten. Sooft die Bemerkung wiederkam, war sie ihm eine einzelne Wirkung der Natur, die ihn an die Menge der Fälle nicht erinnern konnte, in welchen er dasselbe wahrgenommen hatte; sie verlor sich also gar bald wieder, so wie die vorhergegangenen, und ließ weiter kein merkliches Andenken in der Seele zurück. Nur Hallern gelang es, diesen Umstand aus der Verbindung herauszuheben, seine Allgemeinheit gewahr zu werden, ihn mit einem Worte zu bezeichnen, und nunmehr hat er unsere Aufmerksamkeit rege gemacht, und wir wissen jeden besondern Fall, in welchem wir etwas ähnliches inne werden, auf ein allgemeines Naturgesetz hinzuleiten. II, 70 | Die Bezeichnung der Begriffe ist also doppelt notwendig: einmal für uns selbst, gleichsam als ein Gefäß, worinnen sie verwahrt, und zum Gebrauch bei der Hand bleiben mögen, und sodann um unsere Gedanken anderen mitteilen zu können. Nun haben die Laute, oder die hörbaren Zeichen, in letzterer Rücksicht einigen Vorzug; denn wenn wir unsere Gedanken andern mitteilen wollen, so sind die Begriffe schon in der Seele gegenwärtig, und wir können, nach Erfordern, die Laute hervorbringen, durch welche sie bezeichnet und unsern Nebenmenschen vernehmlich werden. So aber nicht in Absicht auf uns selbst. Wollen wir die abgesonderten Begriffe zu einer andern Zeit wieder in der Seele erwecken und vermittelst der Zeichen in Erinnerung bringen können; so müssen die Zeichen sich von selbst darbieten, und nicht erst auf unsere Willkür warten, die sie hervorrufe; indem diese schon die Ideen voraussetzt, deren wir uns erinnern wollen. Diesen Vorteil verschaffen die sichtbaren Zeichen, weil sie fortdauernd sind, und nicht immer wieder hervorgebracht werden müssen, um Eindruck zu machen. II, 71 | Die ersten sichtbaren Zeichen, deren sich die Menschen zu Bezeichnung ihrer abgesonderten Begriffe bedient haben, werden vermutlich die Dinge selbst gewesen sein. Wie nämlich jedes Ding in der Natur einen eigenen Charakter hat, mit welchem es sich von allen übrigen Dingen auszeichnet; so wird der sinnliche Ein-

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druck, den dieses Ding auf uns macht, unsere Aufmerksamkeit hauptsächlich auf dieses Unterscheidungszeichen lenken, die Idee desselben rege machen, und also zur Bezeichnung desselben gar füglich dienen können. So kann der Löwe ein Zeichen der Tapferkeit, der Hund ein Zeichen der Treue, der Pfau ein Zeichen der stolzen Schönheit geworden sein, und so haben die ersten Ärzte lebendige Schlangen mit sich geführt, zum Zeichen daß sie das Schädliche unschädlich zu machen wüßten. Mit der Zeit kann man es bequemer gefunden haben, anstatt der Dinge selbst, ihre Bildnisse in Körpern oder auf Flächen zu nehmen; endlich der Kürze halber sich der Umrisse zu bedienen, sodann einen Teil des Umrisses Statt des Ganzen gelten zu lassen, und endlich aus heterogenen Teilen ein unförmliches, aber bedeu | tungsvolles Ganze zusammenzusetzen; und diese Bezeich- II, 72 nungsart ist die Hieroglyphik. Alles dieses hat, wie man siehet, sich ganz natürlich so entwickeln können; aber von der Hieroglyphik bis zu unserer al88 phabetischen Schrift – dieser Übergang scheinet einen Sprung, und der Sprung mehr als gemeine Menschenkräfte zu erfordern. Daß zwar, wie einige glauben, unsere alphabetische Schrift bloß Zeichen der Laute, und nicht anders, als vermittelst der Laute, auf Sachen und Begriffe anzuwenden sein sollte, ist völlig ohne Grund. Uns, die wir von den hörbaren Zeichen lebhaftere Vorstellungen haben, bringet allerdings die Schrift auf die vernehmlichen Worte zuerst. Uns also gehet der Weg von Schrift auf Sache, über und durch die Sprache; aber deswegen ist es nicht notwendig also. Dem Taubgebornen ist die Schrift unmittelbar Bezeichnung der Sachen, und wenn er sein Gehör erlangt, werden ihn in den ersten Zeiten sicherlich die Schriftzeichen zuerst auf die unmittelbar mit ihnen verbundenen Dinge, und sodann erst vermittelst derselben auf die Laute bringen, die | ihnen entsprechen. Die II, 73 Schwierigkeit, die ich mir beim Übergange auf unsere Schrift vorstelle, ist eigentlich diese, daß man ohne Vorbereitung und Anlaß 89 hat den überdachten Vorsatz fassen müssen, durch eine geringe Anzahl von Elementarzeichen und ihre möglichen Versetzungen 90 eine Menge von Begriffen zu bezeichnen, die weder zu übersehen,

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noch dem ersten Anscheine nach, in Klassen zu bringen, und dadurch zu umfassen scheinen mußten. Indessen ist auch hier der Gang des Verstandes nicht ganz ohne Leitung gewesen. Da man sehr oft Gelegenheit gehabt, Schrift in Rede und Rede in Schrift zu verwandeln, und also die hörbaren Zeichen mit den sichtbaren zu vergleichen; so kann man gar bald bemerkt haben, daß sowohl in der Redesprache dieselben Laute, als in verschiedenen hieroglyphischen Bildern dieselben Teile öfters wiederkommen, aber immer in anderer Verbindung, wodurch sie ihre Bedeutung vervielfältigen. Endlich wird man gewahr worden sein, daß die Laute, die der Mensch hervorbringen und vernehmlich machen kann, so unendlich an der Zahl nicht sind, als II, 74 | die Dinge, welche durch sie bezeichnet werden, daß man den ganzen Umfang aller vernehmlichen Laute gar bald umfassen und in Klassen abteilen könne. Und sonach kann man diese Eintei- 91 lung, Anfangs unvollständig versucht, mit der Zeit ergänzt und immer verbessert, und jeder Klasse ein ihr entsprechendes Schriftzeichen aus der Hieroglyphik zugeeignet haben. Es bleibt zwar auch so noch eine der herrlichsten Entdeckungen des menschlichen Geistes; allein man siehet doch wenigstens, wie die Menschen haben allmählich, ohne Flug der Erfindungskraft, darauf geführt werden können, sich das Unermeßliche als meßbar zu denken, gleichsam den gestirnten Himmel in Figuren abzuteilen, und so jedem Sterne seinen Ort anzuweisen, ohne die Anzahl der Sterne zu wissen. Ich glaube, bei den hörbaren Zeichen war die Spur leichter zu entdecken, der man nur nachgehen durfte, um 92 die Figuren wahrzunehmen, in welche sich das unermeßliche Heer der menschlichen Begriffe bringen ließe; und sodann war es so schwer nicht mehr, die Anwendung davon auf die Schrift zu machen, und auch diese zu schichten, und in | Klassen abzuteilen. II, 75 Mich dünkt daher, ein Volk von Taubgebornen, würde mehr Erfindungskraft anzustrengen haben, von der Hieroglyphik auf die alphabetische Schrift zu kommen; weil sichs bei den Schriftzeichen nicht so leicht einsehen läßt, daß sie einen faßlichen Umfang haben, und in Klassen zu bringen seien. Ich bediene mich des Worts Klassen, sooft von den Elementen der lautbaren Sprachen die Rede ist; denn noch itzt in unsern le-

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bendigen, ausgebildeten Sprachen, ist die Schrift bei weitem so mannigfaltig nicht, als die Rede, und wird dasselbe Schriftzeichen in verschiedener Verbindung und Stellung verschiedentlich gelesen und ausgesprochen. Gleichwohl ist es offenbar, daß wir durch den häufigen Gebrauch der Schrift unsere Redesprache eintöniger, und nach Anleitung und Bedürfnis der Schrift, elementarischer gemacht haben. Daher die Nationen, die der Schrift nicht kundig sind, eine weit größere Mannigfaltigkeit in ihrer Redesprache haben, und viele Laute in derselben so unbestimmt sind, daß wir sie durch unsere Schriftzeichen nur sehr unvollkommen anzudeuten im Stande sind. Man wird also An | fangs die Sachen II, 76 haben im Ganzen nehmen, und eine Menge ähnlicher Laute, durch ein und eben dasselbe Schriftzeichen bezeichnen müssen. Mit der Zeit aber werden feinere Unterschiede wahrgenommen, und zu ihrer Bezeichnung mehrere Buchstaben angenommen worden sein. Daß aber unser Alphabet aus einer Art von hieroglyphischer Schrift entlehnt worden, ist noch itzt an den mehresten Zügen, und Namen des hebräischen Alphabets* zu erkennen, und aus diesen sind, wie aus der Geschichte offenbar ist, alle übrige 95 uns bekannte Schriftarten entstanden. Ein Phönizier war es, der die Griechen in der Kunst zu schreiben unterrichtete. Alle diese verschiedenen Modifikationen der Schrift und Bezeichnungsarten müssen auch auf den Fortgang und Verbesserung der Begriffe, Meinungen und Kenntnisse verschiedentlich gewirkt haben. Von der einen Seite zu ihrem Vorteil. Die Beobachtungen, Versuche und | Betrachtungen in astronomischen, ökonomischen, II, 77 moralischen und religiosen Dingen wurden vervielfältiget, ausge96 breitet, erleichtert und den Nachkommen aufbehalten. Sie sind die Zellen, in welche die Bienen ihren Honig sammlen, und zum Genusse für sich und andere aufbewahren. – Allein, wie es in menschlichen Dingen allezeit gehet. Was die Weisheit hier bauet, suchet die Torheit dort schon wieder einzureißen, und mehrenteils bedient sie sich derselben Mittel und Werkzeuge. Mißver93 94

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Als a Rind, b Haus, g Kamel, d Türe. w Hacken, z Schwert, k Faust, Löffel, l Stimulus, } Fisch, s Stütze, Unterlage, u Auge, p Mund, q Affe, c Zähne.

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stand von der einen, und Mißbrauch von der andern Seite verwandelten das, was Verbesserung des menschlichen Zustandes sein sollte, in Verderben und Verschlimmerung. Was Einfalt und Unwissenheit war, ward nunmehr Verführung und Irrtum. Von der einen Seite Mißverstand: der große Haufe war von den Begriffen, die mit diesen sinnlichen Zeichen verbunden sein sollten, gar nicht, oder nur halb unterrichtet. Sie sahen die Zeichen nicht als bloße Zeichen an; sondern hielten sie für die Dinge selbst. Solange man sich noch der Dinge selbst, oder ihrer Bildnisse und II, 78 Umrisse statt der Zeichen bediente, war die | ser Irrtum leicht möglich. Die Dinge hatten außer ihrer Bedeutung, auch ihre eigene Realität. Die Münze war zugleich Ware, die ihren eigenen Gebrauch und Nutzen hat; daher der Unwissende desto leichter ihren Wert als Münze, verkennen und unrichtig angeben konnte. Die hieroglyphische Schrift konnte zwar zum Teil diesen Irrtum benehmen, oder begünstigte ihn wenigstens so sehr nicht, als die Umrisse; denn diese waren aus heterogenen und übel passenden Teilen zusammengesetzt; unförmliche und widersinnige Gestalten, die kein eigenes Dasein in der Natur haben, und also, wie man denken sollte, nicht für Schrift genommen werden konnten. Allein dieses rätselhafte und fremde in der Zusammensetzung selbst gab dem Aberglauben Stoff zu mancherlei Erdichtung und Fabel. Heuchelei und mutwilliger Mißbrauch waren von der andern Seite geschäftig, und gaben ihm Märchen an die Hand, die er zu erfinden, nicht sinnreich genug war. Wer einmal Gewicht und Ansehen sich erworben, möchte solches, wo nicht vermehren, doch wenigstens gern erhalten. Wer einmal auf eine Frage II, 79 eine be | friedigende Antwort gegeben, möchte solche gern niemals schuldig bleiben. Da ist keine Fratze so ungereimt, keine Posse so possenhaft, zu der man nicht seine Zuflucht nimmt, keine Fabel so vernunftlos, die man der Einfalt nicht einzubilden su- 97 chet, um nur auf jedes Warum? alsofort mit einem Darum zur Hand sein zu können. Unaussprechlich bitter wird das Wort: ich weiß nicht! wenn man sich erst als ein vielwissender, oder gar al- * leswissender angekündiget hat; insbesondere, wenn Stand und Amt und Würde von uns zu fordern scheinet, daß wir wissen sollen. Ach! wie manchem mag das Herz schlagen, wenn er itzt auf

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dem Punkte ist, Gewicht und Ansehen zu verlieren, oder an der Wahrheit zum Verräter zu werden; und wie wenige besitzen die Klugheit des Sokrates, selbst in den Fällen, wo man etwas mehr weiß, als sein Nächster, immer noch die erste Antwort sein zu lassen: ich weiß nichts! damit man sich selbst Verlegenheit erspare, und auf den Fall, da ein solches Bekenntnis nötig sein würde, die Selbstdemütigung zum voraus leichter gemacht habe. | Indessen siehet man, wie hieraus hat Tierdienst, und Bilder- II, 80 dienst, Götzen und Menschendienst, Fabeln und Märchen entstehen können, und wenn ich dieses schon nicht für die einzige Quelle der Mythologie ausgebe; so glaube ich doch, daß es zur Entstehung und Fortpflanzung aller dieser Albernheiten sehr viel hat beitragen können. Insbesondere läßt sich hieraus eine Bemerkung erklären, die Hr. Pr. Meiners irgend wo in seinen Schriften gemacht hat. Er will durchgehends bemerkt haben, daß bei den ursprünglichen Nationen, solchen nämlich, die sich selbst gebildet, und ihre Kultur keiner andern Nation zu verdanken haben, mehr Tierdienst als Menschendienst, im Schwange gewesen, ja leblose Dinge weit eher als Menschen göttlich verehrt und angebetet worden seien. Ich setze die Richtigkeit der Bemerkung voraus, und lasse den philosophischen Geschichtsforscher dafür die Gewähr leisten. Ich will versuchen sie zu erklären! Wenn die Menschen die Dinge selbst, oder ihre Bildnisse und Umrisse Zeichen der Begriffe sein lassen; so können sie zu Bezeichnung mora | lischer Eigenschaften keine Dinge bequemer und II, 81 bedeutender finden, als die Tiere. Die Ursachen sind eben dieselben, die mein Freund Lessing, in seiner Abhandlung von der Fabel, angibt, warum Aesop die Tiere zu seinen handelnden Wesen in der Apologue gewählt hat. Jedes Tier hat seinen bestimmten, auszeichnenden Charakter, und kündiget sich dem ersten Anblicke gleich von dieser Seite an, indem die ganze Bildung desselben mehrenteils auf dieses eigentümliche Unterscheidungszeichen hinweiset. Dieses Tier ist behende, jenes scharfsichtig; dieses stark, jenes gelassen; dieses treu, und den Menschen ergeben, jenes falsch, oder liebt die Freiheit u. s. w. Ja die leblosen Dinge selbst haben in ihrem Äußern mehr Bestimmtheit, als der Mensch dem Menschen. Dieser sagt, dem ersten Anblicke nach, nichts,

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oder vielmehr alles. Er besitzet diese Eigenschaften alle, schließt keine derselben wenigstens völlig aus, und das Mehr oder Weniger davon zeigt er nicht sogleich an der Oberfläche. Sein unterscheidender Charakter fällt also nicht in die Augen, und er ist II, 82 | zu Bezeichnung moralischer Begriffe und Eigenschaften das unbequemste Ding in der Natur. Noch itzt können in den bildenden Künsten die Personen der Götter und Helden nicht besser angedeutet werden, als vermittelst der tierischen oder leblosen Bilder, die man ihnen zugesellt. Ist schon eine Minerva von einer Juno der Bildung nach unterschieden, so zeichnen sie sich gleichwohl durch die tierischen Merkmale, die ihnen zugegeben werden, weit besser aus. Auch der Dichter, wenn er von sittlichen Eigenschaften in Metaphern und Allegorien reden will, nimmt mehrenteils seine Zuflucht zu den Tieren. Löwe, Tyger, Adler, Stier, Fuchs, Hund, Bär, Wurm, Taube, alles dieses spricht, und die Bedeutung springet in die Augen. Daher wird man zuerst auch die Eigenschaften des Anbetungswürdigsten durch dergleichen Zeichen haben anzudeuten und sinnlich zu machen gesucht. In der Notwendigkeit diese abgezogensten Begriffe an sinnliche Dinge zu heften, und an solche sinnliche Dinge, die am wenigsten vieldeutig sind, wird man tierische Bilder haben wählen, oder aus ihnen welche zusammensetII, 83 zen müs | sen. Und wir haben gesehen, wie ein so unschuldiges Ding, eine bloße Schriftart, in den Händen der Menschen gar bald ausarten, und in Abgötterei übergehen kann. Natürlich also wird alle ursprüngliche Abgötterei mehr Tierdienst, als Menschendienst sein. Menschen konnten zur Bezeichnung göttlicher Eigenschaften gar nicht gebraucht werden, und die Vergötterung derselben mußte von einer ganz andern Seite kommen. Es mußten etwan Helden und Eroberer, oder Weise, Gesetzgeber und Propheten aus einer glücklichen und früher gebildeten Weltgegend herüber gekommen sein, und sich durch außerordentliche Talente so hervorgetan, so erhaben gezeigt haben, daß man sie als Boten der Gottheit, oder als die Gottheit selbst verehrte. Daß dieses aber weit füglicher bei Nationen eintreffen kann, die ihre Kultur nicht sich selbst, sondern andern zu verdanken haben, läßt sich leicht begreifen; weil, wie das gemeine Sprichwort lautet, ein Pro-

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phet in seiner Heimat selten zu außerordentlichem Ansehen gelanget. – Und sonach wäre die Bemerkung des Herrn Meiners, eine Art von Bestätigung | für meine Hypothese, daß das Bedürf- II, 84 nis der Schriftzeichen die erste Veranlassung zur Abgötterei gewesen. Bei Beurteilung der Religionsbegriffe einer sonst noch unbekannten Nation muß man sich, aus eben der Ursache, hüten, nicht alles mit eigenen heimischen Augen zu sehen, um nicht Götzendienst zu nennen, was im Grunde vielleicht nur Schrift ist. Man stelle sich vor, ein zweiter Omhya, der von dem Geheimnis der Schreibekunst nichts wüßte, würde plötzlich, ohne sich nach und nach an unsere Ideen zu gewöhnen, aus seinem Weltteile in irgend einen der bilderfreiesten Tempel von Europa – um das Beispiel auffallender zu machen – in den Tempel der Providenz versetzt. Er fände alles leer von Bildern und Verzierung; nur dort auf der weißen Wand einige schwarze Züge* die vielleicht das Ohngefähr dahin gestrichen. Doch nein! die ganze Gemeine schauet auf diese Züge mit Ehrfurcht, faltet die Hände zu ihnen, richtet | zu ihnen die Anbetung. Nun führet ihn eben so schnell und eben II, 85 so plötzlich nach Othaiti zurück, und lasset ihn seinen neugierigen Landesleuten von den Religionsbegriffen des D. Philantropins Bericht abstatten. Werden sie den abgeschmackten Aberglauben ihrer Mitmenschen nicht zugleich belachen und bedauern, die so tief gesunken sind, schwarzen Zügen auf weißem Grunde göttliche Ehre zu erzeigen? – Ähnliche Fehler mögen unsere Reisenden sehr oft begehen, wenn sie uns von der Religion entfernter Völker Nachricht erteilen. Sie müssen sich die Gedanken und Meinungen einer Nation sehr genau bekannt machen, bevor sie mit Zuverlässigkeit sagen können, ob die Bilder bei ihr noch den Geist der Schrift haben, oder schon in Abgötterei ausgeartet sind. Die Eroberer Jerusalems fanden bei Plünderung des Tempels die Cherubim auf der Lade des Bundes, und hielten sie für die Götzenbilder der Juden. Sie sahen alles mit barbarischen Augen, und aus ihrem Gesichtspunkte. Ein Bild der göttlichen Vorsehung und obwaltenden Gnade nahmen sie, ihrer Sitte nach, für Bild der Gottheit, für *

Die Worte: Gott, allweise, allmächtig, allgütig, belohnt das Gute.

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Gott | heit selber, und freueten sich ihrer Entdeckung. So lachen die Leser noch itzt über die indianischen Weltweisen, die dieses Weltall von Elephanten tragen lassen; die Elephanten auf eine große Schildkröte stellen, diese von einem ungeheuren Bären halten, und den Bär auf einer unermeßlichen Schlange ruhen lassen. Die guten Leute haben wohl an die Frage nicht gedacht: worauf ruhet denn die unermeßliche Schlange? Nun leset in der Schasta der Gentoos selbst die Stelle, in welcher ein Sinnbild dieser Art beschrieben wird, das wahrscheinlicher Weise zu dieser Sage Gelegenheit gegeben hat. Ich entlehne sie aus dem zweiten Teil der Nachrichten von Bengalen und dem Kaisertum Indostan von J. Z. Hollwell, der sich in den heiligen Büchern der Gentoos hat unterrichten lassen, und im Stande war mit den Augen eines eingebornen Braminen zu sehen. So lauten die Worte im achten Abschnitte: Modu und Kytu (zwei Ungeheuer, Zwietracht und Aufruhr,) waren überwunden, und nun trat der Ewige aus der Un | sichtII, 87 barkeit hervor, und Glorie umgab ihn von allen Seiten. Der Ewige sprach: du Birma, (Schöpfungskraft)! erschaffe und bilde alle Dinge der neuen Schöpfung, mit dem Geiste, den ich dir einhauche. – Und du, Bistnu, (Erhaltungskraft)! beschütze und erhalte die erschaffenen Dinge und Formen, nach meiner Vorschrift. – Und du, Sieb, (Zerstörung, Umbildung)! verwandele die Dinge der neuen Schöpfung, und bilde sie um, mit der Kraft, die ich dir verleihen werde. Birma, Bistnu und Sieb vernahmen die Worte des Ewigen, bückten sich und bezeigten Gehorsam. Alsofort schwamm Birma auf die Oberfläche des Johala (Meerestiefe,) und die Kinder Modu und Kytu flohen und verschwanden, als er erschien. Als durch den Geist des Birma die Bewegungen der Tiefen sich legten, verwandelte sich Bistnu in einen mächtigen Bär (Zeichen der Stärke, bei den Gentoos, weil er in Verhältnis seiner Größe das stärkste | Tier ist), stieg hinab in die Tiefen des II, 88 Johala, und zog mit seinen Hauern Murto (die Erde) ans Licht. – Sodann entsprangen aus ihm freiwillig eine mächtige Schildkröte (Zeichen der Beständigkeit bei den Gentoos) und eine II, 86

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mächtige Schlange (derselben Zeichen der Weisheit). Und Bistnu richtete die Erde auf dem Rücken der Schildkröte auf, und setzte Murto auf das Haupt der Schlange u. s. w. Alles dieses findet man bei ihnen auch in Bildern vorgestellt, und man siehet, wie leicht solche Sinnbilder und Bilderschrift zu Irrtümern verleiten können. Die Geschichte der Menschheit hat wirklich, wie bekannt, einen Zeitraum von vielen Jahrhunderten zurückgelegt, in welchen ein wirklicher Götzendienst fast auf dem ganzem Erdboden zur herrschenden Religion geworden. Die Bilder hatten ihren Wert als Zeichen verloren. Der Geist der Wahrheit, der in ihnen aufbewahrt werden sollte, war verduftet, und das schale Vehikulum, das zurückblieb, in verderbliches Gift verwandelt. Die Begriffe von der | Gottheit, die in den Volksreligionen sich noch erhielten, II, 89 waren von Aberglauben so entstellt, von Heuchelei und Pfaffenlist so verderbt, daß man mit Grunde zweifeln konnte: ob nicht Ohngötterei der menschlichen Glückseligkeit weniger schädlich, ob so zu sagen, die Gottlosigkeit selbst nicht weniger gottlos sei, als eine solche Religion. Menschen, Tiere, Pflanzen, die scheußlichsten und verächtlichsten Dinge in der Natur wurden angebetet und als Gottheiten verehrt; oder vielmehr als Gottheiten gefürchtet. Denn von der Gottheit hatten die öffentlichen Volksreligionen der damaligen Zeiten keinen andern Begriff, als von einem furchtbaren Wesen, das uns Erdbewohnern an Macht überlegen, leicht zum Zorne zu reizen, und schwer zu versöhnen ist. Zur Schmach des menschlichen Verstandes und Herzens wußte der Aberglaube die unverträglichsten Begriffe mit einander zu verbinden, Menschenopfer und Tierdienst neben einander gelten zu lassen. In den prächtigsten, nach allen Regeln der Kunst erbaueten und ausgezierten Tempeln, sahe man, wie Plutarch sich ausdrückt, zur Schande der Vernunft, sich nach der Gott | heit um, II, 90 die hier angebetet würde, und fand auf dem Altare eine scheußliche Meerkatze; und diesem Untiere wurden blühende Jünglinge und Mädchen geschlachtet. So tief hatte die Abgötterei die menschliche Natur erniedriget! Man schlachtete Menschen, wie der Prophet in einer emphatischen Antithese sich ausdrückt, man schlachtete Menschen, um sie dem angebeteten Viehe zu opfern.

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Hier und da wagten es zuweilen die Philosophen, sich dem allgemeinen Verderbnis zu widersetzen, und öffentlich, oder durch geheime Anstalten, die Begriffe zu reinigen und aufzuklären. Sie versuchten es, den Bildern ihre alte Bedeutung wieder zu geben, oder auch neue unterzulegen, und dadurch dem toten Leichnam gleichsam seinen Geist wieder einzuhauchen. Aber vergeblich! Auf die Religion des Volks hatten ihre vernünftigen Erklärungen keinen Einfluß. So gierig der ungebildete Mensch nach Erklärung zu sein scheint, so unzufrieden ist er, wenn sie ihm in ihrer wahren Einfalt gegeben wird. Was ihm verständlich ist, wird ihm gar bald II, 91 zum Überdrusse, und verächtlich, | und er gehet immer nach neuen, geheimnisvollen, unerklärbaren Dingen aus, die er mit verdoppeltem Wohlgefallen beherziget. Seine Wißbegier will immer gespannt, niemals befriediget sein. Der öffentliche Vortrag fand also bei den größten Haufen kein Gehör, oder vielmehr von Seiten des Aberglaubens und der Heuchelei den hartnäckigsten Widerstand, * und empfing seinen gewöhnlichen Lohn, Verachtung, oder Haß und Verfolgung. Die geheimen Anstalten und Vorkehrungen, in welchen die Rechte der Wahrheit einigermaßen aufrecht erhalten werden sollten, gingen zum Teil, selbst den Weg der Korruption, und wurden zu Pflanzschulen alles Aberglaubens, aller Laster und aller Abscheulichkeiten. – – Eine gewisse Schule der Weltweisen 121 faßte den kühnen Gedanken, die abgesonderten Begriffe der Menschen von allem bildlichen und bildähnlichen zu entfernen, und an solche Schriftzeichen zu binden, die ihrer Natur nach, für nichts anders genommen werden können, an Zahlen. Da die Zahlen an und für sich selbst nichts vorstellen, mit keinem sinnlichen EinII, 92 drucke in natürlicher Verbindung | stehen, so sollte man glauben, sie wären keiner Mißdeutung fähig; man müßte sie für willkürliche Schriftzeichen der Begriffe nehmen, oder als unverständlich dahin gestellt sein lassen. Hier sollte man meinen, kann der roheste Verstand nicht Zeichen mit Sachen verwechseln, und aller Mißbrauch wäre durch diesen feinen Kunstgriff verhütet. Wem die * Zahlen nicht verständlich sind, dem sind sie leere Figuren. Wen sie nicht aufklären, den können sie wenigstens nicht verführen. So konnte sich der große Stifter dieser Schule bereden. Allein gar bald ging in dieser Schule selbst der Unverstand seinen alten

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Gang. Unzufrieden mit dem, was man so verständlich, so begreiflich fand, suchte man in den Zahlen selbst eine geheime Kraft, in den Zeichen abermals eine unerklärbare Realität, wodurch abermals ihr Wert als Zeichen verloren ging. Man glaubte, oder machte wenigstens andere glauben, daß in diesen Zahlen alle Geheimnisse der Natur und der Gottheit verborgen lägen, schrieb ihnen wundertätige Kraft zu, und wollte durch und vermittelst derselben nicht nur die | Neu- und Wißbegierde der Menschen, II, 93 sondern ihre ganze Eitelkeit, ihr Streben nach hohen unerreichbaren Dingen, ihren Vorwitz und ihre Habsucht, ihren Geiz und ihren Wahnsinn befriedigen. Mit einem Worte, die Torheit hatte abermals die Anschläge der Weisheit vereitelt, und das wieder vernichtet, oder gar zu ihrem Gebrauche verwendet, was diese zu besserm Endzwecke angeschafft hatte. Und nun bin ich im Stande meine Vermutung von der Bestimmung des Zeremonialgesetzes im Judentume deutlicher zu machen. – Die Stammväter unserer Nation, Abraham, Isaak und Jakob, sind dem Ewigen treu geblieben, und haben lautere, von aller Abgötterei entfernte Religionsbegriffe bei ihren Familien und Nachkommen zu erhalten gesucht. Und nun waren diese ihre 122 Nachkommen von der Vorsehung ausersehen, eine priesterliche Nation zu sein; das ist, eine Nation, die durch ihre Einrichtung und Verfassung, durch ihre Gesetze, Handlungen, Schicksale und Veränderungen immer auf gesunde unverfälschte Begriffe von Gott und seinen Eigenschaften hinweise, solche | unter Nationen II, 94 gleichsam durch ihr bloßes Dasein, unaufhörlich lehre, rufe, predige und zu erhalten suche. Sie lebten unter Barbaren und Götzendienern im äußersten Druck und das Elend hatte sie beinahe, gegen die Wahrheit so fühllos gemacht, als ihre Unterdrücker der Übermut. Gott befreiete sie aus diesem sklavischen Zustande, durch außerordentliche Wundertaten, ward der Erretter, Anführer, König, Gesetzgeber und Gesetzverweser dieser von ihm gebil123 deten Nation, und legte ihre ganze Verfassung so an, wie es die weisen Absichten seiner Vorsehung erforderten. Schwach und kurzsichtig ist des Menschen Auge! Wer kann sagen, ich bin in 124 das Heiligtum Gottes gekommen, habe seinen Plan ganz übersehen, weiß seine Absichten, Maß und Ziel und Grenze zu bestim-

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men? Aber erlaubt ist dem bescheidenen Forscher zu mutmaßen, aus dem Erfolge zu schließen, wenn er nur beständig eingedenk ist, daß er nichts als vermuten kann. Wir haben gesehen, was für Schwierigkeit es hat, die abgesonderten Begriffe der Religion unter den Menschen durch fortdauII, 95 ernde Zeichen | zu erhalten. Bilder und Bilderschrift führen zu Aberglauben und Götzendienst, und unsere alphabethische Schrei- 125 berei macht den Menschen zu spekulativ. Sie legt die symbolische Erkenntnis der Dinge und ihrer Verhältnisse gar zu offen auf der Oberfläche aus, überhebt uns der Mühe des Eindringens und Forschens, und macht zwischen Lehr und Leben eine gar zu weite Trennung. Diesen Mängeln abzuhelfen, gab der Gesetzgeber dieser Nation das Zeremonialgesetz. Mit dem alltäglichen Tun und Lassen der Menschen sollten religiose und sittliche Erkenntnisse verbunden sein. Das Gesetz trieb sie zwar nicht zum Nachdenken an, schrieb ihnen bloß Handlungen, bloß Tun und Lassen vor. Die große Maxime dieser Verfassung scheinet gewesen zu sein: Die Menschen müssen zu Handlungen getrieben und zum Nachdenken nur veranlasset werden. Daher jede dieser vorgeschriebenen Handlungen, jeder Gebrauch, jede Zeremonie ihre Bedeutung, ihren gediegenen Sinn hatte, mit der spekulativen Erkenntnis der Religion und der Sittenlehre in genauer Verbindung stand und * II, 96 dem Wahrheits | forscher eine Veranlassung war, über jene geheiligten Dinge selbst nachzudenken, oder von weisen Männern Unterricht einzuholen. Die zur Glückseligkeit der Nation sowohl als der einzelnen Glieder derselben nützliche Wahrheiten sollten von allem Bildlichen äußerst entfernt sein; denn dieses war Hauptzweck, und Grundgesetz der Verfassung. An Handlungen und Verrichtungen sollten sie gebunden sein, und diese ihnen statt der Zeichen dienen, ohne welche sie sich nicht erhalten lassen. Die Handlungen der Menschen sind vorübergehend, haben nichts Bleibendes, nichts Fortdaurendes, das, so wie die Bilderschrift, durch Mißbrauch oder Mißverstand zur Abgötterei führen kann. Sie haben aber auch den Vorzug vor Buchstabenzeichen, daß sie den Menschen nicht isolieren, nicht zum einsamen, über Schriften und Bücher brütenden Geschöpfe machen. Sie treiben vielmehr zum Umgange, zur Nachahmung und zum mündlichen, lebendi-

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gen Unterricht. Daher waren der geschriebenen Gesetze nur wenig, und auch diese ohne mündlichen Unterricht und Überlieferung nicht ganz verständlich, und es war ver | boten, über dieselbe II, 97 mehr zu schreiben. Die ungeschriebenen Gesetze aber, die mündliche Überlieferung, der lebendige Unterricht von Mensch zu Mensch, von Mund ins Herz, sollte erklären, erweitern, einschränken, und näher bestimmen, was in dem geschriebenen Gesetze, aus weisen Absichten, und mit weiser Mäßigung unbestimmt geblieben ist. In allem, was der Jüngling tun sahe, in allen 126 öffentlichen sowohl als Privatverhandlungen, an allen Toren und an allen Türpfosten, wohin er die Augen, oder die Ohren wendete, fand er Veranlassung zum Forschen und Nachdenken, Veranlassung einem ältern und weisern Manne auf allen seinen Tritten zu folgen, seine kleinsten Handlungen und Verrichtungen mit kindlicher Sorgfalt zu beobachten, mit kindlicher Gelehrigkeit nachzuahmen, nach dem Geiste und der Absicht dieser Verrichtungen zu forschen, und den Unterricht einzuholen, dessen sein Meister ihn fähig und empfänglich hielt. So war Lehre und Leben, Weisheit und Tätigkeit, Spekulation und Umgang auf das Innigste verbunden; oder so sollte es vielmehr der ersten Einrichtung und Absicht | des Gesetzgebers nach, sein; aber, unerforsch- II, 98 lich sind die Wege Gottes! auch hier ging es, nach einer kurzen Periode, den Weg des Verderbnisses. Nicht lange, so war auch dieser glänzende Zirkel durchlaufen, und die Sachen kamen wieder nicht weit von der Tiefe zurück, von welcher sie ausgegangen waren, wie leider! seit vielen Jahrhunderten am Tage liegt. Schon in den ersten Tagen der so wundervollen Gesetzgebung fiel die Nation in den sündlichen Wahn der Ägyptier zurück, und 127 verlangte ein Tierbild. Ihrem Vorgeben nach, wie es scheinet, nicht eigentlich als eine Gottheit zum Anbeten; hierin würde der Hohepriester und Bruder des Gesetzgebers nicht gewillfahret haben, und wenn sein Leben noch so sehr in Gefahr gewesen wäre. – Sie sprachen bloß von einem göttlichen Wesen, das sie anführen und die Stelle Moses vertreten sollte, von dem sie glaubten, daß er seinen Posten verlassen hätte. Aron vermochte dem Andringen des Volks nicht länger zu widerstehen, goß ihnen ein Kalb, und um sie bei dem Vorsatze festzuhalten, dieses Bild nicht, sondern

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den Ewigen allein göttlich | zu verehren, rief er: morgen sei dem Ewigen zu Ehren ein Fest! Aber am Festtage, beim Tanz und Schmause, ließ der Pöbel ganz andere Worte hören: dieses sind deine Götter, Israel! die dich aus Ägypten geführt haben! Nun war das Fundamentalgesetz übertreten, das Band der Nation aufgelöset. Vernünftige Vorstellungen fruchten selten bei einem aufgewiegelten Pöbel, wenn die Unordnung erst eingerissen, und man weiß zu welchen harten Maßregeln der göttliche Gesetzgeber sich hat entschließen müssen, das aufrührische Gesindel wieder zum Gehorsam zu bringen. Es verdienet indessen angemerkt, und bewundert zu werden, was die Vorsehung Gottes aus diesem unglücklichen Vorfalle selbst für Vorteil zu ziehen, zu welcher erhabenen und ganz ihrer würdigen Absicht sie ihn anzuwenden gewußt hat? Ich habe bereits oben angeführt, daß das Heidentum von der Macht der Gottheit noch erträglichere Begriffe gehabt, als von ihrer Güte. Der gemeine Mann hält Güte und Leichtversöhnlichkeit II, 100 für Schwachheit. Er be | neidet jeden um den mindesten Vorzug an Macht, Reichtum, Schönheit, Ehre u. s. w., nur nicht um den Vorzug an Gütigkeit. Und wie kann er auch dieses, da es doch größtenteils nur von ihm selbst abhängt, den Grad von Sanftmut zu erlangen, den er beneidenswert findet? Es gehört Nachsinnen dazu, wenn wir begreifen sollen, daß Haß und Rachsucht, Neid und Grausamkeit, im Grunde nichts anders als Schwachheit, lediglich Wirkungen der Furcht sind. Furcht, mit zufälliger, unsicherer Überlegenheit verbunden, ist die Mutter aller dieser barbarischen Gesinnungen. Nur die Furcht macht grausam und unversöhnlich. Wer sich seiner Überlegenheit mit Sicherheit bewußt ist, findet weit größre Glückseligkeit in Nachsicht und Verzeihung. Hat man erst dieses einsehen gelernt, so kann man nicht länger Anstand nehmen, Liebe für einen wenigstens eben so erhabenen Vorzug zu halten als Macht, und dem allerhöchsten Wesen, dem man Allmacht zuschreibt, auch Allgütigkeit zuzutrauen; den Gott der Stärke auch für den Gott der Liebe zu erkennen. Aber wie II, 101 | weit war das Heidentum von dieser Verfeinerung entfernt! Ihr findet in ihrer ganzen Götterlehre, in allen Gedichten und andern II, 99

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Überbleibseln der frühern Zeit keine Spur, daß sie irgend einer ihrer Gottheiten auch Liebe und Barmherzigkeit gegen die Menschenkinder zugeschrieben hätten. »Sowohl das Volk,« sagt Herr Meiners* von dem weisesten Staate der Griechen, »sowohl das Volk, als der größte Teil seiner tapfersten Heerführer und weisesten Staatsmänner, hielten die Götter, die sie anbeteten, zwar für Wesen, die mächtiger als Menschen wären, die aber mit ihnen einerlei Bedürfnisse, Leidenschaften, Schwachheiten und sogar Laster hätten. – Alle Götter schienen den Atheniensern, so wie den übrigen Griechen, so bösartig, daß sie sich einbildeten: ein außerordentliches oder langedauerndes Glück ziehe den Zorn und die Mißgunst der Götter auf sich, und werde durch ihre Veranstaltungen übern Haufen geworfen. Sie dachten sich ferner eben diese Götter so reizbar, | daß sie alle Unglücksfälle für gött- II, 102 liche Strafen ansahen, die ihnen nicht um allgemeiner Sittenverderbnis, oder einzelner großen Verbrechen willen, sondern wegen unbedeutender, meistens unwillkürlicher Nachlässigkeiten bei gewissen Gebräuchen und Feierlichkeiten zugeschickt wurden.« Im Homer selbst, in dieser sanften, liebevollen Seele, war der Gedanke noch nicht aufgeglühet, daß die Götter aus Liebe verzeihen, daß sie ohne Wohlwollen in ihrem himmlischen Wohnsitze nicht selig sein würden. Und nun sehe man, mit welcher Weisheit der Gesetzgeber der 132 Israeln sich ihrer schrecklichen Vergehung gegen die Majestät bedienet, um eine so wichtige Lehre dem menschlichen Geschlecht bekannt zu machen, und ihm eine Quelle des Trostes zu eröffnen, aus welcher wir noch itzt schöpfen und uns erquicken. – Welch erhabne und schauervolle Vorbereitung! Der Aufruhr war gedämpft, die Sünder zur Erkenntnis ihres sträflichen Vergehens gebracht, die Nation in Bestürzung, und der Gesandte Gottes, Mo133 ses selbst, ließ fast den Mut sinken: »Ach Herr! solange Dein Unwillen sich nicht legt, | laß uns nicht von dannen ziehen! Wo- II, 103 durch sollte wohl erkannt werden, daß ich und Deine Nation Wohlgewogenheit in Deinen Augen gefunden? Ist es nicht, wenn 131

* Geschichte der Wissenschaften in Griechenland und Rom. Zwei-

ter Band. S. 77.

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Du mit uns gehest? Nur dadurch werden wir uns, ich und Deine Nation, von jeder andern unterscheiden, welche auf dem Erdboden ist. Gott. Auch darin will ich Dir willfahren; denn Du hast Gnade gefunden in meinen Augen, und ich habe Dich namentlich zu meinem Liebling ausersehen. Moses. Durch diese trostreichen Worte aufgerichtet, wage ich noch eine kühnere Bitte! Ach Herr! laß mich Deine Herrlichkeit schauen! Gott. Ich will meine Allgütigkeit vor Dir vorüberziehen lassen,* und mit dem Namen des Ewigen Dir bekannt machen, welchergestalt ich gewogen bin, dem ich gewogen bin, und mich erII, 104 barme, des | sen ich mich erbarme. – Meine Erscheinung sollst Du von hinten nachschauen; denn mein Antlitz kann nicht gesehen werden.« – Darauf zog die Erscheinung vor Mose vorüber, und ließ eine Stimme hören: »Der Herr (ist, war und wird sein), ewiges Wesen, allmächtig, allbarmherzig, und allgnädig; langmütig, von großer Huld und Treue; der seine Huld dem tausendsten Geschlechte noch aufbehält; der Missetat, Sünde und Abfall verzeihet; aber nichts ohne Ahndung hingehen läßt!«** – Wer ist so abgehärtetes Sinnes, daß er dieses mit trockenen Augen lesen; wer so unmenschliches Herzens, daß er seinen Bruder noch hassen, gegen seinen Bruder unversöhnlich bleiben kann? Zwar spricht der Ewige, daß er nichts ohne Ahndung wolle hingehn lassen, und es ist bekannt, daß diese Worte schon zu mancherlei Mißverstand und Mißdeutung Gelegenheit gegeben. Wenn sie aber das vorige nicht völlig wieder aufheben sollen, so * II, 105 führen sie unmittelbar | auf den großen Gedanken, den unsere 134 Rabbinen darin gefunden, daß auch dieses eine Eigenschaft der göttlichen Liebe sei, dem Menschen nichts ohne alle Ahndung hingehen zu lassen. * Welch großer Sinn! Du willst meine ganze Herrlichkeit schau-

en; ich werde meine Güte vorüberziehen lassen. – Du wirst sie hinten nach erkennen. Von vorne her ist sie sterblichen Augen nicht sichtbar. ** II B. M. C. 33. v. 15. u. f. nach meiner mit hebräischen Lettern erschienenen Übersetzung.

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Ein verehrungswürdiger Freund, mit dem ich mich einst in Religionssachen unterhielt, legte mir die Frage vor: ob ich nicht wünschte, durch eine unmittelbare Offenbarung die Versicherung zu haben, daß ich in der Zukunft nicht elend sein würde? Wir stimmeten beide darin überein, daß ich keine ewige Höllenstrafe zu fürchten hätte; denn Gott kann keines seiner Geschöpfe unaufhörlich elend sein lassen. So kann auch kein Geschöpf durch seine Handlungen die Strafe verdienen, ewig elend zu sein. Daß die Strafe für die Sünde der beleidigten Majestät Gottes angemessen, und also unendlich sein müsse, diese Hypothese hatte mein Freund, mit vielen großen Männern seiner Kirche, längst aufgegeben, und hierüber hatten wir uns nicht mehr zu streiten. Der nur zur Hälfte richtige Begriff von Pflichten gegen Gott, hat den eben so schwankenden Begriff | von Beleidigung der Majestät II, 106 Gottes veranlasset, und dieser im buchstäblichen Verstande genommen, jene unstatthafte Meinung von der Ewigkeit der Höllenstrafen zur Welt gebracht, deren fernerer Mißbrauch nicht viel weniger Menschen in diesem Leben wirklich elend gemacht, als sie der Theorie nach, in jener Zukunft unglückselig machet. Mein philosophischer Freund kam mit mir darin überein, daß Gott den Menschen erschaffen, zu seiner, d. i. des Menschen Glückseligkeit, und daß er ihm Gesetze gegeben, zu seiner, d. i. des Menschen Glückseligkeit. Wenn die mindeste Übertretung dieser Gesetze, nach Verhältnis der Majestät des Gesetzgebers bestraft werden, und also ewiges Elend zur Folge haben soll; so hat Gott diese Gesetze dem Menschen zum Verderben gegeben. Ohne die Gesetze eines so unendlich erhabenen Wesens, würde der Mensch nicht haben ewig elend sein dürfen. O wenn die Menschen, ohne göttliche Gesetze, weniger elend sein könnten, wer zweifelt daran, daß sie Gott mit dem Feuer seiner Gesetze verschont haben würde, da es sie so unwiderbringlich verzehren muß? – Dieses | vorausge- II, 107 setzt, wurde die Frage meines Freundes näher bestimmt: ob ich nicht wünschen müßte, durch eine Offenbarung versichert zu sein, daß ich im zukünftigen Leben auch vom endlichen Elende befreiet sein werde? Nein! antwortete ich; dieses Elend kann nichts anders, als eine wohlverdiente Züchtigung sein, und ich will in der väterlichen

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Haushaltung Gottes die Züchtigung gern leiden, die ich verdiene. – »Wie aber? wenn der Allbarmherzige den Menschen auch die wohlverdiente Strafe erlassen wolle?« Er wird es sicherlich tun, sobald die Strafe zur Besserung des 139 Menschen nicht mehr unentbehrlich sein wird. Hievon überführt zu sein, bedarf ich keiner unmittelbaren Offenbarung. Wenn ich die Gesetze Gottes übertrete; so macht das moralische Übel mich unglückselig, und die Gerechtigkeit Gottes, d. i. seine allweise Liebe, suchet mich durch physisches Elend zur sittlichen Besserung zu leiten. Sobald dieses physische Elend, die Strafe für die II, 108 Sünde, zu meiner | Sinnesänderung nicht mehr unentbehrlich ist, bin ich, ohne Offenbarung, so gewiß als von meinem eigenen Dasein überführet, daß mein Vater mir die Strafe erlassen werde. – Und im Gegenfalle: wenn diese Strafe zu meiner moralischen Besserung noch nützlich ist, wünsche ich auf keine Weise davon befreiet zu werden. In dem Staate dieses väterlichen Regenten leidet der Übertreter keine andere Strafe, als die er selbst zu leiden wünschen muß, wenn er die Wirkung und Folgen davon in ihrem wahren Lichte sehen könnte. »Kann aber, versetzte mein Freund, kann Gott nicht gut finden, den Menschen andern zum Beispiele leiden zu lassen, und ist die Befreiung von dieser exemplarischen Strafe nicht wünschenswert?« »Nein, erwiderte ich: In dem Staate Gottes leidet kein Individuum bloß andern zum Besten. Wenn dieses geschehen soll: so muß diese Aufopferung zum Besten andrer dem Leidenden selbst einen höhern sittlichen Wert geben; so muß es in Absicht auf den innern II, 109 Zuwachs seiner Vollkommenheit, ihm selbst wich | tig sein, durch seine Leiden so viel Gutes befördert zu haben. Und wenn dieses ist; so kann ich einen solchen Zustand nicht fürchten; so kann ich keine Offenbarung wünschen, daß ich niemals in diesen Zustand des großmütigen, meine Mitgeschöpfe und mich selbst beglückenden Wohlwollens versetzt werden sollte. Was ich zu fürchten habe, ist die Sünde selbst. Habe ich die Sünde begangen; so ist die göttliche Strafe eine Wohltat für mich, eine Wirkung seiner väterlichen Allbarmherzigkeit. Sobald sie aufhört Wohltat für mich zu sein; so

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bin ich versichert, sie wird mir erlassen. Kann ich wünschen, daß mein Vater seine züchtigende Hand von mir abwende, bevor sie gewirkt, was sie hat wirken sollen? Wenn ich bitte, daß mir Gott ein Vergehen soll ohne alle Ahndung hingehen lassen, weiß ich wohl selbst was ich bitte? Ach! sicherlich, auch dieses ist eine Eigenschaft der unendlichen Liebe Gottes, daß er kein Vergehen der Menschen ohne alle Ahndung hingehen läßt! – – Sicherlich 140 II, 110 | Allmacht ist nur Gottes: Und Dein ist auch die Liebe, Herr! Wenn jedem Du nach seinem Tun vergöltest. (Ps. 62, 12. 13.) * Daß die Lehre von der Barmherzigkeit Gottes bei dieser wichtigen Veranlassung zuerst der Nation durch Mosen bekannt gemacht worden sei, bezeuget der Psalmist ausdrücklich, an einem andern Orte, wo er dieselben Worte aus der Schrift Moses anführet, von welchen hier die Rede ist: Mosen zeigt er seine Wege; 141 Den Israeln sein Tun. Allbarmherzig ist der Herr, allgnädig, Langmütig und von großer Güte. Er wird nicht unaufhörlich hadern; Nicht ewiglich nachtragen seinen Groll. Er handelt nicht mit uns, nach unsren Sünden; Vergilt uns nicht nach unsrer Missetat. So hoch der Himmel ist über der Erde; Waltet seine Liebe über seine Verehrer. So fern der Morgen ist vom Abend; Entfernt er von uns unsere Schuld. II, 111 | Wie Väter ihrer Kinder sich erbarmen; Erbarmt der Herr sich seiner Verehrer. Denn er kennet unsere Bildung; Ist eingedenk, daß wir nur Staub sind.* u. s. w. (Ps. 103.) * Dieser ganze Psalm ist überhaupt von äußerst wichtigem Inhalte.

Leser, denen daran gelegen ist, werden wohltun, ihn ganz mit Aufmerksamkeit durchzulesen, und mit obiger Betrachtung zu verglei-

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Nunmehr kann ich meine Begriffe vom Judentume der vorigen Zeit kurz zusammenfassen und in einen Gesichtspunkt vereiniII, 112 gen. Das | Judentum bestand, oder sollte der Absicht des Stifters nach, bestehen, in 1) Religionslehren und Sätzen, oder ewigen Wahrheiten von Gott, und seiner Regierung und Vorsehung, ohne welche der Mensch nicht aufgeklärt und glücklich sein kann. Diese sind nicht dem Glauben der Nation, unter Androhung ewiger oder zeitlicher Strafen, aufgedrungen; sondern der Natur und Evidenz ewiger Wahrheit gemäß, zur vernünftigen Erkenntnis empfohlen worden. Sie durften nicht durch unmittelbare Offenbarung eingegeben, durch Wort und Schrift, die nur itzt, nur hier verständlich sind, bekannt gemacht werden. Das allerhöchste Wesen hat sie allen vernünftigen Geschöpfen durch Sache und Begriff geoffenbaret, mit einer Schrift in die Seele geschrieben, die zu allen Zeiten und an allen Orten leserlich und verständlich ist. Daher singt der öfters angeführte Sänger: Die Himmel erzählen die Majestät Gottes, 144 Und seiner Hände Werk verkündet die Veste. Ein Tag strömt diese Lehr dem andern zu; Und Nacht gibt Unterricht der Nacht. II, 113 | Keine Lehre, keine Worte, Deren Stimme nicht vernommen werde. Über den ganzen Erdball tönet ihre Saite: Ihr Vortrag dringet bis an der Erden Ende, Dorthin, wo er der Sonn` ihr Zelt aufschlug, u. s. w. chen. Er scheinet mir offenbar durch diese merkwürdige Stelle in der Schrift veranlasset, und nichts anders zu sein, als ein Ausbruch lebhafter Rührung, in welche der Sänger durch Betrachtung dieses außerordentlichen Vorfalls geraten ist. Er fordert daher im Eingange des Psalms seine Seele zur feierlichsten Danksagung, wegen der göttlichen Verheißung seiner Gnade und so väterlichen Barmherzigkeit auf: Benedeie, meine Seele! den Herrn! Vergiß nicht aller seiner Wohltaten! Er vergibt Dir alle Deine Sünden; Er heilet Deine Krankheiten alle; Er erlöset Dein Leben vom Untergange; Er krönet Dich mit Liebe und Barmherzigkeit, u. s. w.

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Ihre Wirkung ist so allgemein, als der wohltätige Einfluß der Sonne, der, indem sie ihren Kreislauf durcheilt, Licht und Wärme 145 über den ganzen Erdball verbreitet; wie derselbe Sänger sich an einem andern Orte noch deutlicher erklärt: Von Sonnenaufgang bis zum Niedergange 146 Preist man des Ewgen Namen. 147 oder wie der Prophet im Namen des Herrn spricht: Von Aufgang der Sonne bis zum Niedergange ist mein Name unter Heiden berühmt, und an allen Orten wird meinem Namen geräuchert, dargebracht, auch reine Speisegabe; denn mein Name ist berühmt unter Heiden. 2) Geschichtswahrheiten, oder Nachrichten von dem Schicksale der Vorwelt, hauptsächlich von den Lebensumständen der Stammväter der Na | tion; von ihrer Erkenntnis des wahren Got- II, 114 tes, ihrem Wandel vor Gott; von ihren Vergehungen selbst und der väterlichen Züchtigung, die darauf gefolgt ist; von dem Bunde, den Gott mit ihnen errichtet, und von der Verheißung, die er ihnen so oft wiederholt: aus ihren Nachkommen dereinst eine ihm geweihete Nation zu machen. Diese historische Nachrichten enthielten den Grund der Nationalverbindung, und als Geschichtswahrheiten können sie, ihrer Natur nach, nicht anders, als auf Glauben angenommen werden. Autorität allein gibt ihnen die erforderliche Evidenz; auch wurden diese Nachrichten der Nation durch Wunder bestätiget, und durch eine Autorität unterstützt, die hinreichend war, den Glauben über alle Zweifel und Bedenklichkeit hinweg zu setzen. 3) Gesetze, Vorschriften, Gebote, Lebensregeln, die dieser Nation eigen sein, und durch deren Befolgung sie sowohl zur Nationalglückseligkeit, als jedes Glied derselben zur persönlichen Glückseligkeit gelangen sollte. Der Gesetzgeber war Gott, und zwar Gott, nicht in dem Verhältnisse, als Schöpfer und Erhalter des | Weltalls; sondern Gott, als Schutzherr und Bundesfreund ih- II, 115 rer Vorfahren, als Befreier, Stifter und Anführer, als König und Oberhaupt dieses Volks; und er gab seinen Gesetzen die feierlichste Sanktion, öffentlich und auf eine nie erhörte, wundervolle Weise, wodurch sie der Nation und allen ihren Nachkommen, als unabänderliche Pflicht und Schuldigkeit auferlegt worden sind.

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Diese Gesetze wurden geoffenbaret, d. i. von Gott durch Worte und Schrift bekannt gemacht. Jedoch ist nur das Wesentlichste davon den Buchstaben anvertrauet worden; und auch diese niedergeschriebenen Gesetze sind, ohne die ungeschriebenen, mündlich überlieferten und durch mündlichen, lebendigen Unterricht fortzupflanzenden Erläuterungen, Einschränkungen und näheren Bestimmungen, größtenteils unverständlich, oder mußten es mit der Zeit werden; weil alle Worte und Schriftzeichen kein Menschenalter hindurch ihren Sinn unverändert behalten. Sowohl die geschriebenen, als die ungeschriebenen Gesetze haII, 116 ben unmittelbar, als Vorschrif | ten der Handlungen und Lebensregeln, die öffentliche und Privatglückseligkeit zum Endzwecke. Sie sind aber auch größtenteils als eine Schriftart zu betrachten, und haben als Zeremonialgesetze, Sinn und Bedeutung. Sie leiten den forschenden Verstand auf göttliche Wahrheiten; teils auf ewige, teils auf Geschichtswahrheiten, auf die sich die Religion dieses Volks gründete. Das Zeremonialgesetz war das Band, welches Handlung mit Betrachtung, Leben mit Lehre verbinden sollte. Das Zeremonialgesetz sollte zwischen Schule und Lehrer, Forscher und Unterweiser, persönlichen Umgang, gesellige Verbindung veranlassen, zu Wetteifer und Nachfolge reizen und ermuntern; und diese Bestimmung hat es in den ersten Zeiten wirklich erfüllt, bevor die Verfassung ausartete, und die Torheit der Menschen sich abermals ins Spiel mischte, durch Mißverstand und Mißleitung, das Gute in Böses, das Nützliche in Schädliches zu verwandeln. Staat und Religion war in dieser ursprünglichen Verfassung 148 nicht vereiniget, sondern eins; nicht verbunden, sondern eben II, 117 dasselbe. Ver | hältnis des Menschen gegen die Gesellschaft und Verhältnis des Menschen gegen Gott trafen auf einen Punkt zusammen, und konnten nie in Gegenstoß geraten. Gott, der Schöp- 149 fer und Erhalter der Welt, war zugleich der König und Verweser 150 dieser Nation, und er ist ein Einiges Wesen, das so wenig im Politischen, als im Metaphysischen, die mindeste Trennung, oder Vielheit zuläßt. Auch hat dieser Regent keine Bedürfnisse, und heischet nichts von der Nation, als was zu ihrem Besten dienet, die Glückseligkeit des Staats befördert; so wie von der andern Sei-

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te der Staat nichts fordern konnte, das den Pflichten gegen Gott zuwider, das nicht vielmehr von Gott, dem Gesetzgeber und Gesetzverweser der Nation befohlen sei. Daher gewann das Bürgerliche bei dieser Nation ein heiliges und religioses Ansehen, und jeder Bürgerdienst ward zugleich ein wahrer Gottesdienst. Die Gemeine war eine Gemeine Gottes, ihre Angelegenheiten waren Gottes, öffentliche Steuern waren Hebe Gottes, und bis auf die geringste Polizeianstalt, war alles gottesdienstlich. Die Leviten, die von den öffentlichen Einkünf | ten lebten, hatten ihren Unter- II, 118 halt von Gott. Sie sollten kein Eigentum im Lande haben, denn Gott ist ihr Eigentum. Wer außerhalb Landes herumtreiben muß, der dienet fremden Göttern. Dieses kann in verschiedenen Stellen der Schrift nicht im buchstäblichen Verstande genommen werden, und bedeutet im Grund nicht mehr, als er ist fremden politischen Gesetzen unterworfen, die nicht, wie die vaterländischen, zugleich gottesdienstlich sind. Und nun auch die Verbrechen. Jeder Frevel wider das Ansehen Gottes, als des Gesetzgebers der Nation, war ein Verbrechen wider die Majestät, und also ein Staatsverbrechen. Wer Gott lästerte, war ein Majestätsschänder; wer den Sabbat freventlich entheiligte, hob, insoweit es an ihm lag, ein Grundgesetz der bürgerlichen Gesellschaft auf, denn auf der Einsetzung dieses Tages beruhete ein wesentlicher Teil der Verfassung. Der Sabbat sei ein ewiger Bund zwischen mir und den Kindern Israels, spricht der Herr, ein immerwährendes Zeichen, daß der | Ewige in sechs Ta- II, 119 gen, u. s. w. Diese Verbrechen also konnten, ja sie mußten in dieser Verfassung bürgerlich bestraft werden; nicht als irrige Meinung, nicht als Unglaube; sondern als Untaten, als freventliche Staatsverbrechen, die darauf abzielen, das Ansehen des Gesetzgebers aufzuheben, oder zu schwächen, und dadurch den Staat selbst zu untergraben. Und gleichwohl, mit welcher Gelindigkeit wurden diese Hauptverbrechen selbst bestraft! Mit welcher überschwänglichen Nachsicht gegen menschliche Schwachheit! Nach einem ungeschriebenen Gesetze, konnte keine Leib- und Lebensstrafe verhängt werden, wenn der Verbrecher nicht von zween unverdächtigen Zeugen, mit Anführung des Gesetzes, und unter Bedrohung der verordneten Strafe gewarnt worden; ja bei Leib-

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und Lebensstrafen mußte der Verbrecher mit ausdrücklichen Worten die Strafe anerkannt, übernommen, und unmittelbar darauf, in Beisein derselben Zeugen, das Verbrechen begangen haben. Wie selten mußten die Blutgerichte bei einer solchen EinrichII, 120 tung sein, und | wie mancherlei Gelegenheit hatten die Richter nicht, der traurigen Notwendigkeit auszuweichen, über ihr Mitgeschöpf und Mitebenbild Gottes, den Stab zu brechen! Ein Hin- 157 gerichteter ist, nach dem Ausdrucke der Schrift, eine Geringschätzung Gottes. Wie sehr mußten die Richter anstehen, untersuchen und auf Entschuldigung bedacht sein, bevor sie ein HalsgerichtsUrteil unterzeichneten! Ja, wie die Rabbinen sagen, hat jedes Halsgericht, das für seinen guten Namen besorgt ist, darauf zu sehen, daß in einem Zeitraume von siebenzig Jahren, nicht mehr als 158 eine Person am Leben gestraft werde. Hieraus erhellet, wie wenig man die mosaischen Gesetze und die Verfassung des Judentums kennen muß, um zu glauben, daß nach derselben Kirchenrecht und Kirchenmacht autorisiert, oder Unglaube und Irrglaube mit zeitlichen Strafen zu belegen sei. Der Forscher nach Licht und Wahrheit, sowohl als Herr Mörschel, sind also weit von der Wahrheit entfernt, wenn sie glauben ich habe durch meine Vernunftgründe wider Kirchenrecht und KirII, 121 chen | macht, das Judentum aufgehoben. Wahrheit kann nicht mit Wahrheit streiten. Was das göttliche Gesetz gebietet, kann die nicht minder göttliche Vernunft nicht aufheben. Nicht Unglaube, nicht falsche Lehre und Irrtum, sondern freventliches Vergehen wider die Majestät des Gesetzgebers, freche Untaten wider die Grundgesetze des Staats und der bürgerlichen Verfassung wurden gezüchtiget, und nur alsdann gezüchtiget, wenn der Frevel in seiner Ausgelassenheit alles Maß überschritt, und dem Aufruhr nahe kam; wenn sich der Verbrecher nicht scheuete, von zweien Mitbürgern sich das Gesetz vorhalten, die Strafe androhen zu lassen, ja die Strafe zu übernehmen und in ihrem Angesichte das Verbrechen zu begehen. Hier wird der religiose Bösewicht ein freventlicher Majestätsschänder, ein Staatsverbrecher. Auch haben, wie die Rabbinen ausdrücklich sagen, mit Zerstörung des Tempels, alle Leib- und Lebensstrafen, ja 159 auch Geldbußen, insoweit sie bloß national sind, aufgehöret

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Rechtens zu sein. Vollkommen nach meinen Grundsätzen, und ohne dieselben | unerklärbar! Die bürgerlichen Bande der Nation II, 122 waren aufgelöset, religiose Vergehungen waren keine Staatsverbrechen mehr, und die Religion, als Religion kennet keine Strafen, keine andere Buße, als die der reuevolle Sünder sich freiwillig auferlegt. Sie weiß von keinem Zwange, wirkt nur mit dem Stabe gelinde, wirkt nur auf Geist und Herz. Man versuche es, diese Behauptung der Rabbinen, ohne meine Grundsätze, vernünftig zu erklären! »Wozu nun, höre ich manchen Leser fragen; wozu diese Weitläuftigkeit, uns etwas sehr bekanntes zu sagen? Das Judentum war eine Hierokratie, eine kirchliche Regierung, ein Priesterstaat, eine Theokratie, wenn ihr wollet. Wir kennen die Anmaßungen schon, die sich eine solche Verfassung erlaubt.« Nicht doch! alle diese Kunstnamen werfen auf die Sache ein falsches Licht, das ich vermeiden mußte. Wir wollen immer nur klassifizieren, in Fächer abteilen. Wenn wir nur wissen, in welches Fach ein Ding einzutragen sei; so sind wir zufrieden, so unvollständig der Begriff auch übrigens sein mag, den wir da | von II, 123 haben. Warum suchet ihr ein Geschlechtswort, für ein einzelnes Ding, das kein Geschlecht hat, das mit nichts schichtet, mit nichts unter eine Rubrik zu bringen ist? Diese Verfassung ist ein einziges Mal da gewesen: nennet sie die mosaische Verfassung, bei ihrem Einzelnamen. Sie ist verschwunden, und ist dem Allwissenden allein bekannt, bei welchem Volke und in welchem Jahrhunderte sich etwas Ähnliches wieder wird sehen lassen. So wie es, nach dem Plato, einen irdischen und auch einen himmlischen Amor geben soll, so gibt es auch, könnte man sagen, eine irdische und eine himmlische Politik. Nehmet einen flatterhaften Abenteurer, einen Gunsteroberer, wie ihn das Pflaster jeder Hauptstadt darbeut, und unterhaltet ihn von dem Liede der Lieder Salomons, oder von der Liebe der ersten Unschuld im Paradiese, wie sie Milton beschreibt; er wird glauben, ihr schwärmet, oder wollt euere Lektion aufsagen, wie ihr das Herz einer Spröden durch platonische Liebkosungen zu bestürmen verstehet. Eben so wenig wird euch ein Politiker nach der Mode | verstehen, II, 124 wenn ihr von der Einfalt und sittlichen Großheit jener ursprüngli-

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chen Verfassung redet. Wie jener in der Liebe nur die Befriedigung der gemeinen Lüsternheit kennet; so spricht dieser in der Staatsklugheit bloß von Macht, Geldumlauf, Handlung, Gleichgewicht, Volksmenge, und die Religion ist ihm ein Mittel, dessen sich der Gesetzgeber bedienet, den unbändigen Menschen im Zaume zu halten, und der Priester, um ihn auszusaugen, und sein Mark zu verzehren. Diesen falschen Gesichtspunkt, aus welchem wir das wahre Interesse der menschlichen Gesellschaft zu betrachten gewohnt sind, mußte ich meinem Leser aus den Augen rücken. Ich habe ihm dieserhalb den Gegenstand bei keinem Namen genennet; son- * dern selbst mit seinen Eigenschaften und Bestimmungen darzustellen gesucht. Wenn wir mit geradem Blick auf denselben hinschauen, werden wir, wie jener Weltweise von der Sonne sagte, in 165 der echten Politik eine Gottheit erblicken, wo gemeine Augen einen Stein sehen. Ich habe gesagt, daß die mosaische Verfassung nicht lange in II, 125 ihrer ersten Lauterkeit be | standen. Schon zu den Zeiten des Propheten Samuel gewann das Gebäude einen Riß, der sich immer weiter auftat, bis die Teile völlig zerfielen. Die Nation verlangte einen sichtbaren, fleischlichen König zum Regenten. Es sei nun, daß die Priesterschaft, wie von den Söhnen des Hohenpriesters in der Schrift erzählt wird, schon angefangen ihr Ansehen bei dem Volke zu mißbrauchen, oder daß der Glanz einer benachbarten Hofhaltung die Augen geblendet; genug, sie forderten einen Kö- 166 nig, wie alle andere Völker haben. Der Prophet, den dieses kränkte, stellte ihnen vor, was ein menschlicher König sei, der seine eigne Bedürfnisse hat, und sie nach Wohlgefallen erweitern kann, und wie schwer ein schwacher Sterblicher zu befriedigen sei, dem man das Recht der Gottheit einräumet. Umsonst, das Volk bestand auf seinen Vorsatz, erhielt seinen Wunsch, und erfuhr, was ihnen der Prophet angedrohet hatte. Nun war die Verfassung untergraben; die Einheit des Interesse aufgehoben; Staat und Religion nicht mehr eben dasselbe, und Kollision der Pflichten war II, 126 schon nicht mehr unmög | lich. Indessen mußte sie noch immer selten sein, solange der König selbst nicht nur von der Nation war, sondern auch den Gesetzen des Vaterlandes gehorchte. Aber

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nun verfolge man die Geschichte, durch mancherlei Schicksale und Veränderungen, durch manche gute und böse, gottesfürchtige und gottvergessene Regierung hindurch, bis auf jene traurigen Zeiten herunter, in welchen der Stifter der christlichen Religion 167 168 den vorsichtigen Bescheid erteilte: gebet dem Kaiser, was des Kaisers, und Gotte, was Gottes ist. Offenbarer Gegensatz, Kollision der Pflichten! Der Staat stund unter fremder Botmäßigkeit, empfing seine Befehle gleichsam von fremden Göttern, und die einheimische Religion mit einem Teile ihres Einflusses auf das bürgerliche Leben, hatte sich noch erhalten. Hier ist Forderung gegen Forderung, Anspruch gegen Anspruch. »Wem sollen wir geben? wem gehorchen?« – So ertraget denn beide Lasten, fiel der Bescheid aus, so gut ihr könnet; dienet zweien Herren in Geduld und Ergebenheit: Gebet dem Kaiser und gebet auch Gotte! Jedem das Seine, nachdem die Einheit des Interesse nun zerstört ist! | Und noch itzt kann dem Hause Jakobs kein weiserer Rat er- II, 127 teilt werden, als eben dieser. Schicket euch in die Sitten und in die Verfassung des Landes, in welches ihr versetzt seid; aber haltet auch standhaft bei der Religion eurer Väter. Traget beider Lasten, so gut ihr könnet! Man erschweret euch zwar von der einen Seite, die Bürde des bürgerlichen Lebens, um der Religion willen, der ihr treu bleibet, und von der andern Seite macht das Klima und die Zeiten die Beobachtung eurer Religionsgesetze, in mancher Betrachtung, lästiger, als sie sind. Haltet nichts desto weniger aus, stehet unerschüttert auf dem Standorte, den euch die Vorsehung angewiesen, und lasset alles über euch ergehen, wie euch euer Gesetzgeber lange vorher verkündiget hat. In der Tat sehe ich nicht, wie diejenigen, die in dem Hause Jakobs geboren sind, sich auf irgend eine gewissenhafte Weise, vom 169 Gesetze entledigen können. Es ist uns erlaubt, über das Gesetz nachzudenken, seinen Geist zu erforschen, hier und da, wo der Gesetzgeber keinen Grund angegeben, einen Grund zu vermuten, | der vielleicht an Zeit und Ort und Umstände gebunden gewesen, II, 128 vielleicht mit Zeit und Ort und Umständen verändert werden kann – wenn es dem allerhöchsten Gesetzgeber gefallen wird, uns seinen Willen darüber zu erkennen zu geben; so laut, so öffentlich, so über alle Zweifel und Bedenklichkeit hinweg zu erkennen

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zu geben, als Er das Gesetz selbst gegeben hat. Solange dieses nicht geschiehet, solange wir keine so authentische Befreiung vom Gesetze aufzuweisen haben, kann uns unsere Vernünftelei nicht von dem strengen Gehorsam befreien, den wir dem Gesetze schuldig sind, und die Ehrfurcht vor Gott ziehet eine Grenze zwischen Spekulation und Ausübung, die kein Gewissenhafter überschreiten darf. Darum wiederhole ich meine vorausgeschickte Protestation: Schwach und kurzsichtig ist des Menschen Auge! Wer kann sagen: ich bin in das Heiligtum Gottes gekommen, habe das System seiner Absichten ganz durchschauet, und weiß ihnen Maß und Ziel und Grenze zu bestimmen? Ich kann vermuten, aber nicht entscheiden, aber nicht nach meiner Vermutung handeln – II, 129 Darf ich doch in menschlichen | Dingen mich nicht erdreisten, aus eigener Vermutung und Gesetzdeutelei, ohne Autorität des Gesetzgebers oder Gesetzverwesers, dem Gesetze zuwider zu handeln; um wie viel weniger in göttlichen Dingen? Gesetze, die mit Landeigentum und Landeseinrichtung in notwendiger Verbindung stehen, führen ihre Befreiung mit sich. Ohne Tempel und Priestertum und außerhalb Judäa, finden weder Opfer noch Reinigungsgesetz, noch priesterliche Abgabe Statt, insoweit sie vom Landeigentume abhängen. Aber persönliche Gebote, Pflichten die dem Sohne Israels, ohne Rücksicht auf Tempeldienst und Landeigentum in Palästina, auferlegt worden sind, müssen, soviel wir einsehen können, strenge nach den Worten des Gesetzes beobachtet werden, bis es dem Allerhöchsten gefallen wird, unser Gewissen zu beruhigen, und die Abstellung derselben laut und öffentlich bekannt zu machen. Hier heißt es offenbar: was Gott gebunden hat, kann der Mensch nicht lösen. Wenn auch einer von uns zur christlichen ReII, 130 ligion übergehet; so begreife ich nicht, wie er dadurch sein | Gewissen zu befreien, und sich von dem Joche des Gesetzes zu entledigen glauben kann? Jesus von Nazareth hat sich nie verlauten lassen, daß er gekommen sei, das Haus Jakob von dem Gesetze zu entbinden. Ja, er hat vielmehr mit ausdrücklichen Worten das Gegenteil gesagt; und was noch mehr ist, hat selbst das Gegenteil getan. Jesus von Nazareth hat selbst nicht nur das Gesetz Moses; sondern auch die Satzungen der Rabbinen beobachtet, und was in

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den von ihm aufgezeichneten Reden und Handlungen dem zuwider zu sein scheinet, hat doch in der Tat nur dem ersten Anblicke nach, diesen Schein. Genau untersuchet, stimmet alles nicht nur mit der Schrift, sondern auch mit der Überlieferung völlig überein. Wenn er gekommen ist, der eingerissenen Heuchelei und Scheinheiligkeit zu steuern; so wird er sicherlich nicht das erste Beispiel zur Scheinheiligkeit gegeben, und ein Gesetz durch Beispiel autorisiert haben, das abgestellt und aufgehoben sein sollte. Aus seinem ganzen Betragen, so wie aus dem Betragen seiner Jünger in der ersten Zeit, leuchtet vielmehr der rabbinische 175 Grund | satz augenscheinlich hervor: Wer nicht im Gesetze gebo- II, 131 ren ist, darf sich an das Gesetz nicht binden; wer aber im Gesetze geboren ist, muß nach dem Gesetze leben, und nach dem Gesetze sterben. Haben seine Nachfolger in spätern Zeiten anders gedacht, und auch die Juden, die ihre Lehre annahmen, entbinden zu können geglaubt; so ist es sicherlich ohne seine Autorität geschehen. Und ihr, lieben Brüder und Mitmenschen! die ihr der Lehre Jesu folget, solltet uns verargen, wenn wir das tun, was der Stifter eurer Religion selbst getan, und durch sein Ansehen bewährt hat? Ihr solltet glauben, uns nicht brüderlich wieder lieben, euch mit uns nicht bürgerlich vereinigen zu können, solange wir uns durch das Zeremonialgesetz äußerlich unterscheiden, nicht mit euch essen, nicht von euch heuraten, das, soviel wir einsehen können, der Stifter eurer Religion selbst weder getan, noch uns erlaubt haben würde? – Wenn dieses, wie wir von christlich gesinnten Männern nicht vermuten können, eure wahre Gesin | nung sein und II, 132 bleiben sollte; wenn die bürgerliche Vereinigung unter keiner andern Bedingung zu erhalten, als wenn wir von dem Gesetze abweichen, das wir für uns noch für verbindlich halten; so tut es uns herzlich leid, was wir zu erklären für nötig erachten: so müssen wir lieber auf bürgerliche Vereinigung Verzicht tun; so mag der Menschenfreund Dohm vergebens geschrieben haben, und alles 176 in dem leidlichen Zustande bleiben, in welchem es itzt ist, oder in welchen es eure Menschenliebe zu versetzen, für gut findet. Es stehet nicht bei uns, hierin nachzugeben; aber es stehet bei uns, wenn wir rechtschaffen sind, euch dennoch brüderlich zu lieben,

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und brüderlich zu flehen, unsere Lasten, soviel ihr könnet, erträglich zu machen. Betrachtet uns, wo nicht als Brüder und Mitbürger, doch wenigstens als Mitmenschen und Miteinwohner des Landes. Zeiget uns Wege und gebet uns Mittel an die Hand, wie wir bessere Menschen und bessere Miteinwohner werden können, und lasset uns, soviel es Zeit und Umstände erlauben, die II, 133 Rechte der Menschheit mit genießen. Von dem | Gesetze können wir mit gutem Gewissen nicht weichen, und was nützen euch Mitbürger ohne Gewissen? »Wie kann aber auf diese Weise die Prophezeiung in Erfüllung kommen, daß dereinst nur ein Hirt und eine Herde sein soll?« Lieben Brüder! die ihr es mit den Menschen wohlmeinet, lasset euch nicht betören! Um dieses allgegenwärtigen Hirten zu sein, braucht weder die ganze Herde auf Einer Flur zu weiden, noch durch Eine Tür in des Herrn Haus ein und auszugehen. Dieses ist weder dem Wunsch des Hirten gemäß, noch dem Gedeien der Herde zuträglich. Ob man die Begriffe vertauscht, oder geflissentlich zu verwirren sucht? Man stellet euch vor, Glaubensvereinigung sei der nächste Weg zur Bruderliebe und Bruderduldung, die ihr Gutherzigen so sehnlich wünschet. Wenn wir alle nur Einen Glauben haben, wollen verschiedene euch einbilden; so können wir uns einander des Glaubens, der Verschiedenheit der MeinunII, 134 gen halber, nicht mehr hassen; so ist Religionshaß | und Verfolgungssucht bei der Wurzel gefaßt und ausgerottet; so ist der Heuchelei die Geißel, und dem Fanatismus das Schwert aus der Hand gewunden, und die glücklichen Tage treten ein, da es heißt: der Wolf wird mit dem Lamme wohnen, und der Leopard neben der Ziege u. s. w. – Sie, die Sanftmütigen, die dieses in Vorschlag bringen, sind bereit Hand ans Werk zu legen; sie wollen als Unterhändler zusammentreten und sich die menschenfreundliche Mühe geben, einen Glaubensvergleich zu Stande zu bringen; um Wahrheiten wie um Rechte, wie um feiles Kaufmannsgut, zu handeln, wollen fordern, bieten, dingen, abdrohen und abbitten, übereilen und überlisten, bis die Parteien sich einander in die Hände schlagen, und der Vertrag zur Glückseligkeit des menschlichen Geschlechts niedergeschrieben werden kann. Viele, die ein solches Vorhaben zwar als chimärisch und unausführbar verwerfen, spre-

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chen doch von der Glaubenseinigkeit, als von einem sehr wünschenswerten Zustande, und bedauern das menschliche Geschlecht mit Leidwesen, daß | dieser Gipfel der Glückseligkeit, II, 135 durch menschliche Kräfte, nicht zu erreichen stehe. – Hütet euch, Menschenfreunde! solchen Gesinnungen, ohne die genaueste Prüfung, Gehör zu geben. Es können Fallstricke sein, die der ohnmächtig gewordene Fanatismus der Gewissensfreiheit legen will. Ihr wisset, dieser Feind des Guten ist von mancherlei Gestalt und Form; Löwenwut und Lammesart, Taubeneinfalt und Schlangenlist, keine Eigenschaft ist ihm so fremd, daß er sie nicht entweder besitze, oder anzunehmen verstehe, um seine blutdürstigen Absichten zu erreichen. Da ihm, durch eure wohltätigen Bemühungen die offene Gewalt benommen ist, so nimmt er vielleicht die Maske der Sanftmut an, um euch zu hintergehen, heuchelt Bruderliebe, gleißet Menschenduldung, und schmiedet heimlich die Ketten schon, die er der Vernunft anzulegen gedenkt, um sie unversehens wieder in den Pfuhl der Barbarei zu stürzen, aus der ihr sie zu ziehen angefangen.* | Man glaube nicht, daß dieses eine bloß eingebildete Furcht II, 136 sei, die etwa Hypochondrie zur Mutter hat. Im Grunde kann eine Glaubensvereinigung, wenn sie je zu Stande kommen sollte, keine andere als die unseligsten Folgen für Vernunft und Gewissensfreiheit haben. Denn gesetzt, man vereinige sich über die Glaubensformel, die man einzuführen und festzusetzen | denkt; man bringe II, 137 * Auch die Ohngötterei hat, wie eine leidige Erfahrung lehrt, ihren

Fanatismus. Zwar hat | dieser vielleicht nie ohne eine Vermischung II, 136 von innerer Ohngötterei wütend werden können. Daß aber auch äußerer, offenbarer Atheismus fanatisch werden könne, ist so unleugbar als schwer zu begreifen. Sosehr der Atheist, wenn er bündig sein will, alles aus Eigennutz tun muß, und so wenig es diesem gemäß zu sein scheinet, wenn der Atheist Partei zu machen, und das Geheimnis nicht für sich zu behalten suchet; so hat man ihn doch seine Lehren mit dem hitzigsten Enthusiasmus predigen, und wütend werden, ja verfolgen gesehen, wenn seine Predigt nicht Eingang finden wollte. Und schrecklich ist der Eifer, wenn er einen erklärten Atheisten be182 seelt; wenn die Unschuld einem Wüterich in die Hände fällt, der alles fürchtet, nur keinen Gott.

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Symbolen zu Stande, wider welche keine von den itzt in Europa herrschenden Religionsparteien etwas einzuwenden findet. Was ist dadurch ausgerichtet? Etwa, daß ihr alle über Religionswahrheiten eben dasselbe denket? – Wer von der Natur des menschlichen Geistes nur einigen Begriff hat, kann sich dieses nicht beikommen lassen. Also bloß in den Worten, in der Formel läge die Übereinstimmung. Dazu wollen die Glaubensvereiniger sich zusammentun; sie wollen hier und da von den Begriffen etwas abzwacken, hier und da die Maschen der Worte so lange erweitern, sie so unbestimmt und weitschichtig machen, daß sich die Begriffe, ihrer innern Verschiedenheit ungeachtet, noch zur Not hineinzwängen lassen. Ein jeder verbände alsdann im Grunde mit denselben Worten eine andere ihm eigene Meinung, und ihr rühmtet euch, den Glauben der Menschen vereiniget, die Herde unter ihren einigen Hirten gebracht zu haben? O wenn diese allgemeine Gleisnerei überall einen Endzweck haben soll; so fürchte ich, man II, 138 will den freigewordnen Geist der Menschen nur | vorerst wieder in Schranken eingesperrt haben. Das scheue Wild wird sich alsdann schon fangen, und den Kappzaum umwerfen lassen. Bindet den Glauben nur erst an Symbolen, die Meinung an Worte, so bescheiden und nachgebend ihr immer wollet; setzet nur ein für allemal die Artikel fest: Wehe dem Elenden alsdann, der einen Tag später kömmt, und auch an diesen bescheidenen, geläuterten Worten etwas auszusetzen findet! Er ist ein Friedensstörer! Zum Scheiterhaufen mit ihm! Brüder! ist es euch um wahre Gottseligkeit zu tun; so lasset uns keine Übereinstimmung lügen, wo Mannigfaltigkeit offenbar Plan und Endzweck der Vorsehung ist. Keiner von uns denkt und empfindet vollkommen so, wie sein Nebenmensch; warum wollen wir denn einander durch trügliche Worte hintergehen? Tun wir dieses schon leider! in unserm täglichen Umgange, in unsern Unterhaltungen, die von keiner sonderlichen Bedeutung sind; warum denn noch in solchen Dingen, die unser zeitliches und ewiges Wohl, unII, 139 sere ganze Bestim | mung angehen. Warum uns einander in den wichtigsten Angelegenheiten unsers Lebens durch Mummerei unkenntlich machen, da Gott einem jeden nicht umsonst seine eigenen Gesichtszüge eingeprägt hat? Heißt dieses nicht, soviel an uns

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Zweiter Abschnitt

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liegt, sich der Vorsehung widersetzen, den Zweck der Schöpfung, wenn es möglich ist, vereiteln; unserm Beruf, unserer Bestimmung in diesem und jenem Leben geflissentlich zuwider handeln? – Regenten der Erde! wenn es einem unbedeutenden Mitbewohner derselben vergönnt ist, seine Stimme bis zu euch zu erheben; trauet den Räten nicht, die euch mit glatten Worten zu einem so * schädlichen Beginnen verleiten wollen. Sie sind entweder selbst verblendet, und sehen den Feind der Menschheit nicht, der im Hinterhalt lauret, oder suchen euch zu verblenden. Es ist getan, um unser edelstes Kleinod, um die Freiheit zu denken, wenn ihr ihnen Gehör gebet! Um eurer und unserer aller Glückseligkeit willen, Glaubensvereinigung ist nicht Toleranz; ist der wahren Duldung grade entgegen! Um eurer und unserer Glückseligkeit willen, gebet euer vielvermögendes Ansehen nicht | her, irgend II, 140 eine ewige Wahrheit, ohne welche die bürgerliche Glückseligkeit bestehen kann, in ein Gesetz; irgend eine dem Staate gleichgültige Religionsmeinung in Landesverordnung zu verwandeln! Haltet auf Tun und Lassen der Menschen; ziehet dieses vor den Richterstuhl weiser Gesetze, und überlasset uns das Denken und Reden, wie es uns unser aller Vater, zum unveräußerlichen Erbgute beschieden, als ein unwandelbares Recht eingegeben hat. Ist etwa 187 die Verbindung zwischen Recht und Meinung zu verjähret, und 188 der Zeitpunkt noch nicht gekommen, daß sie, ohne besorglichen Schaden, völlig aufgehoben werden könne; so suchet wenigstens ihren verderblichen Einfluß, soviel an euch ist, zu mildern, dem zu grau gewordenen Vorurteile* weise Schranken zu setzen. Bahnet einer glücklichen Nachkommenschaft wenigstens den Weg zu jener Höhe der Kultur, zu jener allgemeinen Menschendul | dung, II, 141 nach welcher die Vernunft noch immer vergebens seufzet! Belohnet und bestrafet keine Lehre, locket und bestechet zu keiner Religionsmeinung! Wer die öffentliche Glückseligkeit nicht störet, wer gegen die bürgerlichen Gesetze, gegen euch und seine Mitbürger rechtschaffen handelt, den lasset sprechen, wie er denkt,

189

* Leider! hören wir auch schon den Kongreß in Amerika das alte

Lied anstimmen, und von einer herrschenden Religion sprechen.

142

Jerusalem

Gott anrufen nach seiner oder seiner Väter Weise, und sein ewiges Heil suchen, wo er es zu finden glaubet. Lasset niemanden in euern Staaten Herzenskündiger und Gedankenrichter sein; niemanden ein Recht sich anmaßen, das der Allwissende sich allein vorbehalten hat! Wenn wir dem Kaiser geben, was des Kaisers ist; so gebet ihr selbst Gotte, was Gottes ist! Liebet die Wahrheit! 190 Liebet den Frieden!

LESARTEN

Manasse-Vorrede 12 Deutschlands.] Deutschlands

3

Toleranz] Toloranz

4

Staaten] Staattn

Brabant] Braband

5

unserigen] Unserigen

Regierung, Billigkeit] Regierung.

Verteidigung] V rtheidigung

Billigkeit

Cromwell] Cromwel

welchen] welchem

or] oa

unter] nnter

6

u. s. w.] u. s. w moralischem] moralischen feinen] feine nützlichem] nützlichen an die Stelle] an der Stelle 7

8

9

ihn] ihm

13 Anstalt] Anst lt daß der] das der 14 Lehr- und] Lehr und auf seinem] auf seinen 15 denjenigen] dejenigen Herumtrödeln] herumtrödeln

bloßstellen] blos stellen

16 Industrie] Industerie

Juden, die] Juden die

17 Industrie] Industerie

verbesserungsreichen] Verbesse-

das ihnen] daß ihnen

rungsreichen

geringem] geringen

Authentizität] Authencität

18 Meinung] Meinungen

und Lippold] nnd Lippold

19 Sachen, die] Sachen die

erfüllten«;] erfüllten«

Rechten] Rechte

Delinquent] Deliquent

20 Vermögen] Vermöge

erzählet, auf] erzehlet auf

21 innere] einer

seien] seyn

22 dem Gutachten] dem Gntachten

wurde, sie] wurde sie

23 Vertrauen] Vrrtrauen

10 Geplagten] Geplagte würde] wurde Denn] Den 11 ohne ihm] ohne ihn

Schwestern nach] Schwestern, nach 24 Weisesten] Weiseste diesem] diesen

jetztlebenden] jetztlebende

Ausschließungsrechts] Aus-

gesetzgebende] Gesetzgebende

schließugsrechts

Verfassung, weise] Verfassung

25 diesem] diesen

weise

26 und dem] nnd dem

zuzusprechen] zu zusprechen

Grenzlinien] Grenzlienien

oder daß] oder das

bürgerlichen] bürgergerlichen

144

Lesarten 27 Rabbinen] Rabinen

26 das] daß

Intoleranz] Intolerenz

daß] das 27 erleuchtetsten] erleuchtesten

Jerusalem Teil I 56 Anm.

33 Pflichten,] Pflichten

War ich] Was ich

57 gehört dem Cajus] gehört dem

getan um] getan, um 38 Anm.

Sixtus V.] Sixtus V

Caius

39 Anm.

freundschaftlicher]

58 jener] jene 61 unnatürlich, mit] unnatürlich mit

freundschaftlichen

65 eine Befugnis] ein Befugniß

41 Gott als] Gott, als

über welchen] über welche

42 Äußerung] Aesserung

69 ihn] ihm

45 Gebote] Gebote 46 u. s. w.] u s. w.

niederzulegen] niederzu legen

47 Güter ausgeschlossen] Gü-

gesittetsten] gesittesten 70 zählet] Zählet

terau sgeschlossen

welcher] welchen

nicht ohne] Nicht ohne 48 und mir] nnd mir

71 hierin] Hierin

52 Anm.

72 Lehrmeinungen Besoldung] Lehr-

Bedingungen] Bedingen

meinungen, Besoldung

zu welchen] zuwelchen 53 Anm.

74 welchem] welcher

und] nnd

74 sie] Sie

56 Der Anspruch] Den Anspruch 56 Anm.

Ferguson] Fergouson

Teil II 77 viel weniger] vielweniger

92 bestehet] hestehet

78 Anm.

93 an die] an der

Vorrede zu] Vorrede

82 Pactum] Factum denselben] derselben

96 durchzuwandern] durch zuwandern

85 zum Tode] und Tode

durchzuwandern] durch zuwan-

88 anhalten] anhalte

dern

demselben] derselben 90 Lehrmeinungen,] Lehrmeinungen

98 und sich] undsich zu bestätigen] zubestätigen

Lesarten 99

Ewige] ewige Überlieferer] Uberlieferer

100 Gesetzbuch einem] Gesetzbuch, einem 101 14, 31.)] 14, 31. 5 B. M.] 5. B. M. 103 Samai] Sa.mai Was mündlich] Wasmündlich 112 vielwissender] vielvissender 113 seien] seyn 116 Weltall] Welttall Hauern] Hauhern 117 Weisheit).] Weisheit)

145

118 hartnäckigsten] hatnäckigsten Kunstgriff] Kunstbegriff 120 Verbindung stand] Verbindung, stand 122 Ägypten] Aepypten 124 wieder] wider 125 in diesem] in diesen 127 Ps.] s. 128 Anm.

Er heilet] er heilet

Er krönet] er krönet 133 er] Er 134 keinem] keinen 141 entweder] etweder

ANMERKUNGEN DES HERAUSGEBERS

Abkürzungen: Babylonischer Talmud: Der babylonische Talmud. Neu übertragen durch Lazarus Goldschmidt. 12 Bde. Berlin ²1964–1967. Dohm: Christian Wilhelm Dohm: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin und Stettin 1781 (²1783). Zweyter Theil ebd. 1783 (Nachdruck Hildesheim, New York 1973). JubA: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Begonnen von Ismar Elbogen, Julius Guttmann, Eugen Mittwoch. Fortgesetzt von Alexander Altmann, Eva J. Engel und Michael Brocke, Daniel Krochmalnik. Berlin 1929–1932, Breslau 1938, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974 ff.

Anmerkungen zur Manasse-Vorrede 1 wie August] Kaiser Augustus in der Tragödie »Cinna« (1640)

von Pierre Corneille (5. Akt, 3. Szene, Vers 1701): »Soyons amis, Cinna […]« 2 die drei im R R. begünstigte Religionsparteien] Im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation wurden die Katholiken, die Lutheraner und die Calvinisten durch den Westfälischen Frieden von 1648 als gleichberechtigte Konfessionen anerkannt, wobei die Kirchenhoheit beim jeweiligen Landesherren lag. 3 Anhänger der natürlichen Religion] ›Naturalisten‹ glauben an diejenigen zentralen religiösen Wahrheiten, die in der Natur der menschlichen Vernunft gründen statt in einer Offenbarung. Synonym: Deisten. 4 Der Fragmentist] Hermann Samuel Reimarus, aus dessen Manuskript »Apologie oder Schutzschrift für die vernünftigen Verehrer Gottes« Lessing 1774 den Abschnitt »Von Duldung der Deisten« hatte drucken lassen. Der Name des Verfassers wurde wegen der theologisch-kirchenrechtlichen Brisanz des Textes geheimgehalten; im Untertitel hieß es nur »Fragment eines Ungenannten«. Mendelssohn wußte, wer der ›Fragmentist‹ war. 5 Nathan der Weise] Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise. Ein Dramatisches Gedicht in fünf Aufzügen. 1779.

148

Anmerkungen zu S. 4–6, 8 6 Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden] Christian Wil-

helm Dohm: Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden. Berlin und Stettin 1781. Zweyter Theil ebd. 1783 (Nachdruck Hildesheim, New York 1973). Bd. 1 erschien 1783 in einer verbesserten und um eine Nachschrift ergänzten zweiten Auflage. 7 Gerechtsame] Rechte. 8 ein bewundernswürdiger Monarch] Kaiser Joseph II. mit seinen Toleranzedikten von 1781/1782. 9 Kabinetern] Heute: Kabinetten. 10 ein Rabbiner des 17ten Jahrhunderts] Manasse(h) ben Israel (1604–1657, 1622–1639 Rabbiner in Amsterdam) kämpfte erfolgreich für die Wiederzulassung der Juden in England, von wo sie 1290 vertrieben worden waren. Seine englische Streitschrift »Vindiciae Judaeorum« erschien 1656. – Manasses Werke über das Judentum fanden bei den Zeitgenossen starkes Interesse (Isaac Vossius, Hugo Grotius, Königin Christine von Schweden). 11 Chacam] Der sefardische Titel ›Chacham Rabbi‹ ist gleichbedeutend mit dem aschkenasischen ›Rabbi‹. 12 1708 unter dem Titel: the Phenix] The Phenix or, A revival of scarce and valuable pieces […] (hrsg. von John Dunton). 2 Bde. London 1707 f. Bd. 2, S. 391–426 findet sich der Neudruck der »Vindiciae«, den Herz seiner Übersetzung zugrunde legte. 13 Edward Nicholas, Apologia] Edward Nicholas: An Apology for the Honorable Nation of the Jews, and all the Sons of Israel. London 1648 [1649]. Mendelssohn kannte die spanische Übersetzung: Apologia por los Judios. Smyrna [sic!] 1659. 14 Toland] John Toland: Reasons for Naturalizing the Jews in Great Britain and Ireland […] Containing also, A Defence of the Jews against All Vulgar Prejudices in all Countries. London 1714. – Englisch-deutsche Ausgabe u.d.T.: Gründe für die Einbürgerung der Juden in Grossbritannien und Irland, hrsg. von Herbert Mainusch. Stuttgart [u. a.] 1965. 15 Lippold] Münzmeister und Günstling des Kurfürsten Joachim II. von Brandenburg, der im Januar 1571 starb. Im Januar 1573 wurde Lippold hingerichtet, vgl. Heinrich Schnee: Die Hoffinanz und der moderne Staat. Bd. 1. Berlin 1953, S. 38–46. 16 Geschichte der Wissenschaften in der Mark Brandenburg] Johann Carl Wilhelm Moehsen: Geschichte der Wissenschaften in der Mark Brandenburg, besonders der Arzneiwissenschaft; von den älte-

Anmerkungen zu S. 8–13

149

sten Zeiten an bis zum Ende des sechszehnten Jahrhunderts […] Berlin und Leipzig 1781 (Nachdruck Hildesheim, New York 1976). – 1778 war Moehsen Leibarzt König Friedrichs II. geworden. Ebenso wie Mendelssohn gehörte er der geheimen ›Gesellschaft der Freunde der Aufklärung‹ (Berliner Mittwochsgesellschaft) an. 17 Verhaft] Heute: Haft. 18 dasigen] Heute: dortigen. 19 den schrecklichen Reinigungseid] Manasse ben Israels Schwur, daß die Juden keine Ritualmorde an christlichen Kindern verüben (JubA Bd. 8, S. 36). 20 Calas und Waser] Jean Calas (1698–1762), ein hugenottischer Tuchhändler, war 1762 in Toulouse hingerichtet worden, weil er angeblich seinen Sohn an der Konversion gehindert hatte, indem er ihn ermordete. In Wahrheit hatte der Sohn 1761 Selbstmord begangen. Voltaire nahm sich des Falles an, und der ›Conseil du Roi‹ erklärte 1764 Calas für unschuldig. – Johann Heinrich Waser (1742–1780) war Pfarrer in Zürich. Weil er Mißstände kritisierte, wurde er 1774 entlassen. Er veröffentlichte entlarvende Statistiken über die Zustände in Zürich. 1780 wurde er wegen der angeblichen Vergiftung von Abendmahlsbechern verhaftet. Zum Tode verurteilt wurde er dann wegen der Unterschlagung von Dokumenten. 21 ein Rezensent in den Göttingischen Anzeigen] Michael Hissmann [:Rezension zu Dohm]. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 1781. Zugabe, 48. Stück, S. 753–763. Hissmann (1752–1784) wurde 1782 a. o. Professor der Philosophie in Göttingen, 1784 ordentlicher Professor. 22 Holland] Die nördlichen Niederlande, in denen im 17. Jahrhundert die Wirtschaft und der Handel, die Künste und die Wissenschaften blühten, galten als Hort der Freiheit und Toleranz in Europa. Spanische und portugiesische Juden, ab dem 17. Jahrhundert auch Juden aus Deutschland, Österreich und Osteuropa sowie französische Hugenotten emigrierten nach den Niederlanden, aber auch Gelehrte wie z. B. René Descartes und John Locke. 23 ein handelnder Staat] Ein Staat, der Handel treibt. 24 Hr. Dohm hat zwar] Dohm Bd. 1, S. 3–7. 25 Verwesern] Heute üblicher: Verwaltern. 26 Ephemeriden der Menschheit] [Johann August Schlettwein:] Bitte an die Grossen wegen der Juden zu Verhütung trauriger Folgen in den Staaten. In: Ephemeriden der Menschheit 1776, Bd. 4, S. 41–47.

150

Anmerkungen zu S. 13–15, 17, 19–23

Der Gießener Professor Schlettwein (1731–1802) war der bedeutendste deutsche Vertreter der physiokratischen Schule in der Nationalökonomie, die auch in Isaac Iselin, dem Herausgeber der »Ephemeriden«, einen Anhänger gefunden hatte. Vgl. auch Anm. 9 zu Jerusalem, Zweiter Abschnitt. 27 Zwischenhände] Sie betreiben den Zwischenhandel. 28 vervollkommen] Heute: vervollkommnen (früher sparte man einen Konsonanten ein). 29 Rousseau] Jean-Jacques Rousseau: Èmile ou De l’éducation (1762). Œuvres complètes (Bibliothèque de la Pléiade). Bd. 4. Paris 1969, S. 459. 30 Vervollkommung] Heute: Vervollkommnung. 31 Verstattung] Heute: Gestattung. 32 Kolonie] Synonym für ›Nation‹ (so bei Dohm); Volksgruppe. 33 mein Adelung] Johann Christoph Adelung: Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart. 5 Bde. Leipzig 11774–1786. Allerdings enthält Adelung Wörter wie ›Kirchenbann‹, ›Kirchengesetz‹, ›Kirchenrecht‹, Kirchenstrafe‹, ›Kirchenzucht‹. 34 Recht heißt die Befugnis] Vgl. Jerusalem S. 46. 35 positive Gesetze und Verträge] Im Unterschied zum Naturrecht ist das positive Recht von Menschen äußerlich festgesetzt. 36 Abkommnisse] Verträge. 37 Einstimmung] Zustimmung. 38 Oden] Atem (Odem). 39 das Erkenntnis] Der Urteilsspruch. 40 Andachtshaus der Vernunft] Weil die wahre, göttliche Religion die Religion der Vernunft ist. 41 eine moralische Person] Samuel Pufendorf erneuerte und prägte die Lehre von den ›entia moralia‹. Dies sind ethisch relevante Sachverhalte, die durch menschliche Setzung entstehen und als Modi an Trägern (Menschen oder Vereinigungen) haften. Es gibt vier Klassen der entia moralia: Stand, moralische Person, Qualität und Quantität. Bei den moralischen Personen kann es sich um öffentliche oder private, um politische oder kirchliche Personen handeln, deren Träger Einzelmenschen oder Vereinigungen sein können. Hundert Jahre nach Pufendorf wurde seine Lehre recht frei gehandhabt. Bei Mendelssohn werden die Begriffe ›moralisches Wesen‹ (ens morale) und ›moralische Person‹ synonym verwendet, vgl. S. 33, 45 58, 74.

Anmerkungen zu S. 23 f., 26, 30, 33

151

42 belehnet] Die herrschende Religion gibt einer anderen etwas zu

Lehen. 43 König Salomo] 1. Kön. 8,41–43. 44 Gelübte] Seltene Schreibweise von ›Gelübde‹. 45 Chullin Bl. 5. S. 1.] Babylonischer Talmud, Traktat Chullin 5 a (Goldschmidt Bd. 11, S. 13). 46 warten] ausüben. 47 Er sei in deiner Hand] Mit diesen Worten übergibt Jahwe Hiob dem Satan; vgl. Hiob 2,6 und dazu den babylonischen Talmud, Traktat Baba Batra 16 a (Goldschmidt Bd. 8, S. 61). 48 ein berühmter Rabbiner] Raphael Kohen, Oberrabbiner in Altona, hatte einen gewissen Samuel Marcus jun. mit dem ›Unterbann‹ belegt und ihm den großen Bann angedroht. Der »Bericht«, der voller Empörung darauf aufmerksam machte, stammte von August Friedrich Cranz (der 1782 auch »Das Forschen nach Licht und Recht« verfassen sollte): [anomym:] Ueber den Missbrauch der geistlichen Macht oder der weltlichen Herrschaft in Glaubenssachen […] Berlin 1781. – Marcus hatte gegen die Maßnahme des Rabbiners bei der dänischen Regierung geklagt. Im Mai 1782, also nach der Manasse-Vorrede, wurde der Klage stattgegeben.

Anmerkungen zum Entwurf zu Jerusalem 1 Religion der Freyheit] Nicht Mendelssohns Meinung, sondern

eine Anspielung auf »Das Forschen nach Licht und Recht« (JubA, Bd. 8, S. 81), wo vom christlichen »Freiheitssistem« die Rede war. 2 Staupenschläge] Gemäß 5. Mos. 25,3 darf die vom Richter verhängte Prügelstrafe höchstens vierzig Schläge betragen. Um diese Grenze nicht irrtümlich zu überschreiten, beschränkte man sich in der Praxis auf ›vierzig weniger einen‹ Schlag. Damit eignet sich die Stelle zu einer ironischen Anspielung auf die 39 Artikel der englischen Kirche, s. S. 69 f.

Anmerkungen zu Jerusalem, Erster Abschnitt 1 moralische Wesen] Siehe Anm. 41 zur Manesse-Vorrede. 2 Markmal] Grenzstein.

152

Anmerkungen zu S. 34–39 3 Montesquieu] Charles Louis de Secondat de Montesquieu: De

l’esprit des lois (1748) V, 14. Œuvres complètes, hrsg. von Roger Caillois. Bd. 2. Paris 1951, S. 294. 4 mit Sturm übergehen] durch einen Sturmangriff erobert werden. 5 Gerechtsame] Rechte, Rechtsansprüche. 6 Thomas Hobbes] Weniger auf Hobbes’ »Leviathan«, sein bekanntestes staatsphilosophisches Werk, sondern vornehmlich auf »De cive« (1642) stützen sich die folgenden Ausführungen, vgl. JubA Bd. 8, S. 285–292. 7 unter den Fuß zu bringen] zu unterdrücken. 8 in welchem jeder mag] Im Sinne von: ›darf‹. 9 Spinoza] Für Mendelssohn bedeutete Spinozas Philosophie einen entscheidenden Schritt über Descartes hinaus und in Richtung auf Leibniz, vgl. JubA Bd. 1, S. 349 u. ö. 10 solennes] rechtmäßiges, ordentliches, förmliches. 11 Briefen über die Toleranz] Gemeint ist John Lockes erster Brief über die Toleranz (Epistola de Tolerantia, 1689; A Letter Concerning Toleration, 1689). 12 ins Elend zu wandern] 1683 war Locke nach den Niederlanden emigriert (Elend = Exil, Fremde), wo er 1685/86 den Brief über die Toleranz verfaßte. 1689 konnte er nach London zurückkehren. 13 antrauen] anvertrauen. 14 Bellarmin] Roberto Bellarmini S. J.: Disputationes de controversiis christianae fidei adversus hujus temporis haereticos. 3. Bde. Ingolstadt 1586–1593. Darin enthalten: Tertia controversia generalis de summo pontifice quinque libris explicata. Abgedruckt in: Opera omnia, hrsg. von Justin-Louis-Pierre Fèvre. 12 Bde. Paris 1870–1874 (Nachdruck Frankfurt am Main 1965), Bd. 2, S. 5–185. – Zur Anmerkung: Von 1590–1593 standen die »Disputationes« tatsächlich auf dem römischen »Index librorum prohibitorum« von Papst Sixtus V., der aber schon 1590 starb. 15 Pabste] Heute: Papste. 16 seines Ordens] der Jesuiten. 17 Anmerk. zu Abbts freundschaftlicher Korrespondenz] Thomas Abbt: Vermischte Werke. Dritter Theil, welcher einen Theil seiner freundschaftlichen Correspondenz enthält. Neue und mit Anmerkungen von Moses Mendelssohn vermehrte Auflage. Berlin und Stettin 1782 (Nachdruck Hildesheim, New York 1978), S. 28 f. der getrennt paginierten »Anmerkungen«.

Anmerkungen zu S. 39, 42–46

153

18 sagen die Rabbinen] Heute üblicher: Rabbiner. – Mischna,

Traktat Abot 4,16. Die Mischna, hrsg. von Georg Beer u. Oscar Holtzmann. IV. Seder, 9. Traktat: Abot. Gießen 1927, S. 106 f. 19 Welche Regierungsform ist die beste?] Die klassische Diskussion der Vor- und Nachteile der verschiedenen Staatsverfassungen (Demokratie, Oligarchie, Tyrannis, Aristokratie, Monarchie,) findet sich bei Aristoteles (»Politik«). Die Relativierung des Problems stammt von Montesquieu, der das republikanische, das monarchische und das despotische »gouvernement« unterscheidet. Vgl. auch JubA Bd. 6/1, S. 133–136 u. 143–148. 20 Komplexion] Die individuelle Zusammensetzung des menschlichen Körpers und Gemütes. 21 auch mit der] Lies: auch mit die (?)/sich auch mit der (?). 22 anschauend zu erkennen] d. h. intuitiv bzw. direkt (Gegensatz: symbolische Erkenntnis). 23 Ansehen] Autorität. 24 positiver Strafe] festgesetzter und ausführbarer Strafe. 25 diese Verzicht] ›Verzicht‹ war damals Femininum. 26 moralische Person] Siehe Anm. 41 zur Manasse-Vorrede. 27 vollkommene […] unvollkommene Rechte] Mendelssohn übernahm die auf Hugo Grotius zurückgehende Unterscheidung von Christian Wolff: Vollkommene Rechte (und Pflichten) sind erzwingbar, weil sie auf dem Grundsatz beruhen, daß niemand verletzt werden darf. Nicht erzwingbare Rechte (und Pflichten) betreffen die Vervollkommnung und das Glück des Mitmenschen; sie sind bloß moralische Ansprüche bzw. bloße Liebespflichten (Philosophia practica universalis Bd. 1, § 234–237; Jus naturae Bd. 1, § 655– 674; Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 80). Vgl. weiter S. 46 f. 28 Befugnis (das sittliche Vermögen)] Das Naturrecht unterscheidet zwischen dem physischen Vermögen (Macht) und der naturrechtlich legitimierten ›facultas moralis‹. Vgl. JubA Bd. 5/1, S. 115; Bd. 2, S. 292; Bd. 3/1, S. 280–282 sowie oben S. 20. 29 Weisheit und Güte] Leibniz definiert die Gerechtigkeit als die der Weisheit entsprechende Güte. Gütig ist, wer nicht nur nach der eigenen Glückseligkeit strebt, sondern auch das Glück der Mitmenschen befördert. Um das Wohl aller auf angemessene Weise und mit den richtigen Mitteln befördern zu können, braucht man Weisheit. Vgl. JubA Bd. 2, S. 292 u. 321.

154

Anmerkungen zu S. 46–53

30 Pflicht] Eine Handlung, zu der man verpflichtet ist (obligatio). 31 einem jeden Rechte entspricht also eine Pflicht] Gemäß der Na-

turrechtstheorie von Pufendorf und Wolff verhalten sich Rechte und Pflichten reziprok zueinander. 32 natürliches Eigentum] Was man schon im Naturzustand erwerben kann (gemäß Adam Ferguson, vgl. Anm 55). 33 konventionell] Auf Verträgen beruhend. 34 Wohltun] Die ›officia humanitatis‹ sind zwar nur unvollkommene Pflichten. ›Wohltun‹ gehört aber zur Bestimmung des Menschen, ja, »ohne Wohlwollen und Wohlthun« kann »Gott selbst nicht glückseelig« sein (JubA Bd. 6/1, S. 47, vgl. S. 38). 35 wenn] In temporaler Bedeutung (heute: ›wann‹). 36 alle positive Pflichten] In aktiven Handlungen bestehende Pflichten sind im Naturzustand nur unvollkommene Pflichten, so wie die Ausübung von Rechten (›positive Rechte‹) nur ohne Zwang legitim ist. 37 eine positive Handlung] eine aktive Tat (im Unterschied zur Unterlassung). 38 angedeien] Heute: angedeihen. 39 Eltern [...] gegen ihre Kinder] Die Pflicht zur Erziehung der Kinder wurzelt einerseits im Gesetz der Natur, andererseits im stillschweigenden Vertrag, den die Ehegatten miteinander schließen. 40 doppeltes Principium] Pufendorf und Wolff unterschieden zwischen dem Ehestand und der väterlichen Gesellschaft (societas paterna; Familie), deren Funktionen sich aber überschneiden. 41 Ehe] Die klassische Definition, wie sie sich auch bei Christian Wolff findet (Jus naturae Bd. 7, § 270; Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 856). 42 Heurat] Heute: Heirat. 43 Das Forschen nach Licht und Recht] Abgedruckt in JubA Bd. 8, S. 73–92. Vgl. Einleitung S. XIII f. 44 »Man vermutet] Siehe JubA Bd. 8, S. 85 Anm. 45 Josephs] Kaiser Joseph II. 46 moralisch gewisse] Im Unterschied zur höherrangigen metaphysischen Gewißheit. 47 besorglich gewesen] zu befürchten gewesen. 48 notorisch] bekannt. 49 in dolo [...] in culpa] Nicht in betrügerischer Absicht, aber dennoch schuldhaft.

Anmerkungen zu S. 53, 55–60

155

50 natürliche Freiheit] Die im Naturzustand geltende Freiheit (li-

bertas naturalis). 51 den Gegenteil] Heute: das Gegenteil (aber: der Teil). 52 mit der positiven Religion] mit der konfessionell gebundenen Religion. 53 Tradition] Übergabe, Aushändigung. 54 K l e i n ] Der bedeutende Jurist Ernst Ferdinand Klein (1744– 1810) wurde 1781 nach Berlin zur Mitarbeit am Allgemeinen Landrecht berufen. Als sich die preußische Regierung im Rahmen der Reform der Prozeßordnung (Vereidigung jüdischer Angeklagter und Zeugen) 1782 an Mendelssohn wandte, diente Klein als Vermittler, vgl. JubA Bd. 7, S. 253–293. Klein gehörte ebenfalls der Berliner Mittwochsgesellschaft an (vgl. Anm. 16 zur Manasse-Vorrede). 55 Ferguson […] und sein […] Übersetzer] Adam Ferguson: Grundsätze der Moralphilosophie. Uebersetzt und mit einigen Anmerkungen versehen von Christian Garve. Leipzig 1772. (S. 285–420: Anmerkungen des Uebersetzers.) Das thematisch weitgespannte Werk (nicht nur Ethik, sondern auch deren Grundlagen in der Geschichte des Menschen und seines Geistes, im Naturrecht, in der Politik und Theologie usw.) bildete zusammen mit Garves Anhang eine wichtige Quelle für Jerusalem. 56 Cajus […] Sempronius] Keine historischen Namen, sondern übliche fiktive Namen. 57 Gerechtsame, Freiheiten] Rechtsansprüche, Privilegien. 58 u. d. g.] und dergleichen. 59 bei vielen Tieren] z. B. bei großen Raubtieren oder bei Vögeln (Locke). 60 Analogisches] Vergleichbares. 61 Positivgesetze] Vgl. Anm. 35 zur Manasse-Vorrede. 62 moralische Person] Siehe Anm. 41 zur Manasse-Vorrede. 63 Einteilung der Pflichten] Wolff unterschied Pflichten des Menschen gegen sich selbst, gegen andere Menschen und gegen Gott (Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, Teil II–IV; Jus naturae Bd. 1, Cap. II–IV). 64 Sanktion] Festlegung von Normen unter Strafandrohungen (hier auch: unter Verheißungen). 65 Gemeinörter] Gemeinplätze. 66 im Jahre 2240] Nach jüdischer Zeitrechnung: im Jahre 6000, d. h. im Jahre des Endes der Welt, die drei Perioden à 2000 Jahre dauert.

156

Anmerkungen zu S. 61–67

Nach christlicher Zeitrechnung ist also das Jahr 3760 v. Z. das Jahr der Erschaffung der Welt. – Diese bis in die Neuzeit von Juden und Christen geteilten Ansichten galten Ende des 18. Jahrhunderts als überholt. 67 Ps. 40,7] In Mendelssohns Psalmen-Übersetzung von 1783 hieß es noch: »Ohren hast du mir gebohrt« (JubA Bd. 10/1, S. 65). 68 V. B. M. C. 4,5] 5. Mos. 4,5. 69 erklären die Rabbinen] Babylonischer Talmud, Traktat Nedarim 37 a, Traktat Bekhorot 29 a (Goldschmidt Bd. 5, S. 440; Bd. 11, S. 533). Auch Maimonides lehnte eine Bezahlung strikt ab, vgl. Kaplan 1996/97, S. 340. 70 Entgeld] Heute: Entgelt. 71 bedungen] abgemacht, festgesetzt. 72 leidigen Trost] unbequemen, unangenehmen Trost. 73 deterioris Conditionis] In schlechteren Umständen lebend. 74 Wohlstand] Anstand. 75 Atheisterei und Epikurismus] Die epikureische Philosophie galt als atheistisch, da sie die göttliche Weltschöpfung, die Vorsehung und das Leben nach dem Tode ablehnte, alles Konsequenzen der Atomistik. – Atheisten sollten deswegen nicht toleriert werden, weil sie angeblich keine Eide oder Verträge anerkannten, wozu man meistens auch die moralischen Normen zählte. Daher wurde ›Epikurismus‹ zum Synonym für Sittenlosigkeit. 76 Plutarch und Bayle] Plutarch: De superstitione. – Pierre Bayle: Pensées diverses sur les comètes (1682). Vgl. Mendelssohns Kritik (JubA Bd. 2, S. 20–25, 372–376). 77 placke] Heute: plage. 78 beeidigen] vereidigen. Man unterscheidet den katholischen Glaubenseid vom protestantischen Ordinationsgelübde. Gegenstand des Eides sind jeweils bestimmte ›symbolische Bücher‹ (Bekenntnisschriften). Besonders umstritten waren zu Mendelssohns Zeiten die lutherischen symbolischen Bücher und die ›39 Artikel‹, das symbolische Buch der Kirche von England. Vgl. Einleitung S. XVIII. 79 zum Überflusse] darüber hinaus. 80 ob überall] ob überhaupt. 81 Der fürchtet keine Götter] Magnus Gottfried Lichtwer: Der Riese und der Zwerg. In: Fabeldichter, Satiriker und Popularphilosophen des 18. Jahrhunderts, hrsg. von Jacob Minor (Deutsche National-Litteratur, Bd. 73). Berlin u. Stuttgart 1885, S. 22. Vgl. JubA Bd. 4, S. 179. 82 den innern Sinn] Das Bewußtsein der geistigen Tätigkeiten

Anmerkungen zu S. 67–71, 73–76

157

wird deswegen ›Sinn‹ genannt, weil es wie die äußeren Sinne auf Wahrnehmung bzw. Rezeption beruht, wenn auch auf innerer. 83 Euklides] Die über jeden Zweifel erhabenen Grundlagen der euklidischen Geometrie. 84 lauret] Heute: lauert. 85 meinem besten Freunde] Gotthold Ephraim Lessing. 86 Symbolen] Bekenntnisschriften, s. Anm. 78. 87 jene 39 Artikel] »Thirty-Nine Articles«; 39 Glaubenssätze, auf welche die englischen Geistlichen seit 1563 schworen. Vgl. auch JubA Bd. 8, S. 213–224: »Ueber die 39 Artikel der englischen Kirche und deren Beschwörung«. 88 irriges Gewissen] Begründet gemäß dem Kirchenrecht den Entzug gewisser Rechte; hier also ironisch gebraucht. 89 ihr Beruf zur [...] Bedienung] ihre Bestimmung zu einem Amt. 90 als unsterblichen Sohn der Erde […] als Ebenbild seines Schöpfers] Weish. 2,23; vgl. 1. Mos. 1,26 f.; 9,6. 91 eingeschreckt] Durch Schrecken eingepflanzt oder beigebracht. 92 ungerochen] Heute: ungerächt. 93 Wenn das Übel] Vgl. Mendelssohns Aufsatz »Öffentlicher und Privatgebrauch der Vernunft«. In: JubA Bd. 8, S. 225–229. 94 Jesuitismus] Die Jesuiten galten als typische Heuchler. 95 moralische Person] Siehe Anm. 41 zur Manasse-Vorrede. 96 Fern von allem diesen ] Zur Argumentation der letzten Seiten von Abschnitt 1 vgl. den Abschluß der Manasse-Vorrede (S. 22 ff.). 97 Sie treibet nicht ] Erwiderung auf Cranz, demzufolge Moses »sein Volk mit der eisernen Ruthe weidete« (JubA Bd. 8, S. 78). Zum »Seile der Liebe« vgl. Hosea 11,4. 98 an einem andern Orte] In der Manasse-Vorrede, s. S. 26. 99 Er sei in deiner Hand] Vgl. die Anmerkung 46 zur ManasseVorrede. 100 seines Berufs warten] seinen Beruf ausüben. 101 ein würdiger Geistlicher] Vielmehr Johann David Michaelis (!) in seiner Rezension der Manasse-Ausgabe. In: Orientalische und Exegetische Bibliothek 20 (1782), S. 8–19. Wieder abgedruckt bei Dohm, Bd. 2, S. 77–88; hier S. 82. 102 vom kalten Brande] Die Kankheit Sphakelus (abgestorbenes Körpergewebe) als Metapher für das unempfundene Leiden der Ungläubigen. 103 jener Weltweise] Xenokrates, Leiter der platonischen Akade-

158

Anmerkungen zu S. 76–80

mie (nicht der Stoa). Der Bekehrte war Polemon, der später selbst die Akademie leitete. Vgl. Diogenes Laertios: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Buch 4, Kap. 3 (Polemon), 16. 104 Epikurer] Lüstling; vgl. Anm. 75.

Anmerkungen zu Jerusalem, Zweiter Abschnitt 1 herrschenden Grundsatze] Daß jede kirchliche bzw. religiöse

Vereinigung das Recht habe, Mitglieder auszuschließen. 2 einer andern Gelegenheit] In der Manasse-Vorrede, s. S. 22 ff. 3 Kolonie] Die jüdischen Gemeinden. 4 nachzulassen] einzuräumen. 5 belehnt] Der Lehnsherr leiht dem Vasallen Befugnisse bzw. Rechte. 6 Verjährung] Hier: Erwerb von Rechten durch langjährigen Gebrauch. 7 Der weise Regent] Friedrich II. von Preußen. 8 die Menschen sind] Die Maxime stammt von Mark Aurel (Selbstbetrachtungen, Buch 8, § 59); sie wird (mit anderen Worten) zitiert in: [Isaak Iselin:] Träume eines Menschenfreundes. 2 Bde. Basel 1776; Bd. 2, S. 341. 9 Iselin] Isaak Iselin (1728–1782) ist in der Manasse-Vorrede vergessen worden, vgl. S. 4. Das lange Zitat stammt aus Iselins Rezension der Manasse-Ausgabe in: Ephemeriden der Menschheit 1782, Bd. 2, S. 417–431; hier S. 429–431. – Der ›andere Schriftsteller‹ ist Schlettwein, s. Anm 26 zur Manasse-Vorrede. – Dohm hatte schon in Bd. 1 (S. 60–63) die anonyme Schrift von François-Joseph-Antoine de Hell: Observations d’un Alsacien sur l’affaire présente des Juifs d’Alsace (Francfort 1779) widerlegt. Dennoch hatte sich Iselin in seiner DohmRezension zustimmend auf diese Schrift bezogen, s. Ephemeriden der Menschheit 1782, Bd. 1, S. 404–425; hier S. 405 f. In der Manasse-Rezension (a. a. O. S. 422) geschah dies erneut. 10 Verkommnissen] Verträgen. 11 Träume eines Menschenfreundes] Vgl. Anm. 8. In der Vorlage ohne Hervorhebung. 12 Zwischenhände in der Handlung] Zwischenhändler. 13 Vertragsamkeit] Verträglichkeit. 14 würdige Glieder der hiesigen Geistlichkeit] In einem Brief vom 20. Juni 1782 (JubA Bd. 13, S. 63) nennt Mendelssohn die Berliner

Anmerkungen zu S. 80–86

159

Oberkonsistorialräte Wilhelm Abraham Teller, Johann Joachim Spalding und Anton Friedrich Büsching sowie den Leipziger Prediger Georg Joachim Zollikofer. 15 Postemente] Unterbau (heute: Postament). 16 Bücherrichter] Rezensenten. 17 genommen] verhalten (benommen). 18 In den Göttingischen Anzeigen] [Michael Hissmann: Rezension der Manasse-Ausgabe] In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen, 1782. 111. Stück, S. 889–894. 19 Abkommnisse] Abkommmen. 20 ihr Lehrer zur güldenen Hüfte] In den meisten Pythagoras-Viten, vgl. z. B. Diogenes Laertios: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Buch 8, Kap. 1 (Pythagoras), 11. 21 den der Rez.] Fortsetzung von S. 81, Abs. 2. 22 Mitwerbern] Bewerbern. 23 ausbedungen] die er vorher verlangt hatte. 24 im vorigen Abschnitte] Vgl. S. 73. 25 Schuldherr] Gläubiger. 26 Frommen] Nutzen. 27 an dem angeführten Orte] Vgl. S. 73. 28 Abkommnisse] Abkommen. 29 Jus circa sacra] Kirchliche Rechte (besonders das Bannrecht), die von der unsichtbaren Person (Kirche) auf die sichtbare Person des Landesherren übertragen wurden. Vgl. Christian Wolff: Grundsätze des Natur- und Völckerrechts, § 1064. 30 Hobbes] In der Frage der Exkommunikation unterschied Hobbes zwischen der Befugnis der Gemeinde, die Sündhaftigkeit zu beurteilen, und der daran anschließenden Vollmacht des Pastors, das Urteil durch den Ausschluß zu vollziehen (De cive 17, 25). 31 das Meteor] Damals Neutrum. 32 Das Forschen nach Licht und Recht] Der anonyme Verfasser war August Friedrich Cranz. Die hier zitierten Passagen finden sich in JubA Bd. 8, S. 77–80. 33 Kommentaristen] Kommentatoren. 34 positive Strafen] reale Strafen. 35 statuarisches] in Statuten festgesetztes. 36 Verflucht, heißt es] 5. Mos. 27,26. 37 Herr! sende mir dein Licht] Ps. 43,3 (43,2 f. in JubA Bd. 10/1, S. 72, wo die Übersetzung etwas differiert).

160

Anmerkungen zu S. 86–92, 94 f.

38 Mörschel] Daniel Ernst Mörschel (1751–1798) war damals

noch Feldprediger eines Berliner Infanterieregimentes. Seine Nachschrift: JubA Bd. 8, S. 91 f. 39 Sollte der jetzt] JubA Bd. 8, S. 81. 40 Lavaterschen Wünsche] Johann Kaspar Lavater hatte Mendelssohn 1769 öffentlich aufgefordert, entweder die »Argumentationen«, auf die sich das Christentum stützt, zu widerlegen oder Christ zu werden (JubA Bd. 7, S. 3). Vgl. Einleitung S. VII f. 41 weder an Samaria [...] Gott im Geist und in der Wahrheit] Joh. 4,21 u. 23. 42 austreten] herauskommen. 43 den Ungrund] die Grundlosigkeit. 44 ausgesetzt] aufgeschoben. 45 Er hat] Vgl. JubA Bd. 8, S. 92 u. 91. Die Zitate aus Mendelssohns Manasse-Vorrede: oben S. 3, 20, 23. 46 etwanigen] Heute: etwaigen, möglichen. 47 Natur und Sache [...] Wort und Schriftzeichen] Dadurch unterscheiden sich die natürliche und die übernatürliche Offenbarung. Dies geht auf Spinozas »Tractatus theologico-politicus« (Kap. 14) zurück, wo ebenfalls die Erkenntnis aus der Natur der Dinge von der Offenbarung durch die Sprache (und die Geschichte) unterschieden wird. 48 ewige Wahrheiten] Die Zuordnung der zufälligen Wahrheiten zu den ewigen ist mißlich, liegt hier doch Leibniz’ bekannte Unterscheidung zwischen ewigen (notwendigen) (Vernunft-)Wahrheiten und zufälligen (Tatsachen-)Wahrheiten (z. B. Monadologie § 33 ff.) zugrunde. Diese Unterscheidung wird von Mendelssohn um die Geschichtswahrheiten ergänzt (d. h. insbesondere die auf Sprache und Geschichte gestützte Offenbarung), die neben den anderen Tatsachenwahrheiten als eigene Kategorie stehen. 49 Vernunftkunst] Logik. 50 Geisterlehre] Psychologie. 51 Sokrates] Zur ›Hebammenkunst‹ vgl. Platons »Theaitetos« 149 b u. ff. Mendelssohn übernahm dies vom Beginn der Leibnizischen »Essais nouveaux« (Buch 1, Kap. 1, § 5). 52 der allerhöchsten Weisheit anständig] Was Gott gemäß (angemessen) ist und seiner Würde nicht entgegensteht. 53 ohne wahre Offenbarung] Vgl. JubA Bd. 7, S. 11 u. 73 sowie Mendelssohns Brief vom 26. Oktober 1773 (JubA Bd. 20/2, S. 262 f.). 54 beide Indien] Ost- und Westindien.

Anmerkungen zu S. 95–102

161

55 des innern Sinns] Vgl. Anm. 82 zum ersten Abschnitt. 56 das Lallen der Kinder] Ps. 8,3 (in JubA Bd. 10/1, S. 17 steht

noch »Sünder« statt »Feind«). 57 Lessing] [Gotthold Ephraim Lessing:] Die Erziehung des Menschengeschlechts. Berlin 1780. Vgl. Einleitung S. XXI, Anm 3. 58 mehresten] meisten. 59 vorigen Bemerkung] Vgl. S. 90. 60 Vorbereitungstagen] Vgl. 2. Mos. 19,10 f. u. 15. 61 Ich bin der Ewige] 2. Mos. 20,2. Die folgende, ebenfalls in Anführungszeichen gesetzte Passage ist kein Zitat, sondern die Paraphrase dieser Stelle. Vgl. dazu auch Mendelssohns Kommentar in seiner Pentateuch-Übersetzung (JubA Bd. 8, S. 342). 62 wenn ein Prophet Dinge lehret] 5. Mos. 13,2–6. 63 Körper und Seele] Gleichnis (unklarer Herkunft) für das Verhältnis der geoffenbarten Gebote zu den Vernunftwahrheiten. 64 Abraham vertraute] Zu dieser und den folgenden Bibelstellen (1. Mos. 15,6; 2. Mos. 14,31; 5. Mos. 4,39; 5. Mos. 6,4) vgl. Mendelssohns Pentateuch-Übersetzung, die an den ersten beiden Stellen noch ›glauben‹ hat (JubA Bd. 9/1, S. 126 u. 246; Bd. 9/2, S. 180 u. 184). 65 Glaubensartikel] Grundlegende Glaubenslehren. Im weiteren Sinn: die zahlreichen Bekenntnisschriften der verschiedenen christlichen Kirchen. Vgl. Anm. 78 zum ersten Abschnitt. 66 dreizehn Artikel] Die erstmals von Maimonides 1168 zusammengestellten Grundlehren des Judentums. Sie wurden in Verse gefaßt (beginnend mit dem Wort ›Jigdal‹) und fanden in dieser Form Aufnahme in das Gebetbuch. 67 Chisdai, Albo und Abarbanell] Chasdaj Crescas (ca. 1340–1410) unterschied zwischen drei Grundprinzipien des Glaubens, sechs Säulen des Glaubens und weiteren acht Artikeln. Sein Schüler Josef Albo (gest. nach 1433) lehrte als Grundprinzipien die Existenz Gottes, den göttlichen Ursprung der Tora sowie Lohn und Strafe. Isaak Abravanel (1437–1508) erklärte alle geoffenbarten Lehren für grundlegend und lehnte die Verengung auf Grundprinzipien ab. Bei Herbert von Cherbury (1583–1648) gibt es fünf allgemeingültige religiöse Wahrheiten. 68 Lorja] Isaak Luria (1534–1572) war ein bedeutender Kabbalist. Die ihm hier zugeschriebene Auffassung trifft nicht auf ihn zu, sondern auf Abravanel. 69 Obgleich dieser löset] Im Streit zwischen den Schulen Schammais und Hillels wurde von den einen erlaubt, was von den anderen verbo-

162

Anmerkungen zu S. 102–105

ten wurde. Mendelssohn verknüpft hier Gedanken, die sich in den Talmud-Traktaten Jebamot (14 b, Goldschmidt Bd. 4, S. 359 – hier auch das Sacharja-Zitat, das Mendelssohn in der Anmerkung bringt –, vgl. S. 353 f.) und Eruwin (13 b, Goldschmidt Bd. 2, S. 37) finden. 70 der Fasttag] Mendelssohn läßt zwei der vier Fasttage weg, die an der Stelle (Sach. 8,19) erwähnt werden; es geht um die Verwandlung von Trauer (zu deren Gedenken die Fasttage begangen werden) in Freude. 71 Hillel der ältere] Hillel I. (der Alte) lehrte unter Herodes dem Großen als geistiger Führer der Juden. Schammai war sein Stellvertreter und späterer Widersacher. Die zweite Zerstörung des Tempels geschah 100 Jahre später (70 n. Z.). Der Ausspruch zitiert 3. Mos. 19,18; er wird von Hillel aber in negativer Form verwendet (babylonischer Talmud, Traktat Sabbat 31 b, Goldschmidt Bd. 1, S. 522): »Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora, und alles andere ist nur die Erläuterung; geh und lerne sie.« Das positive Nächstenliebe-Gebot findet sich wieder in den Evangelien, aber auch bei Akiba ben Josef und bei Maimonides. 72 genommen] verhalten (benommen). 73 Was mündlich überliefert worden] Babylonischer Talmud, Traktat Gittin 60 b (Goldschmidt Bd. 6, S. 386). 74 es ist eine Zeit] Babylonischer Talmud, Traktat Temura 14 b (Goldschmidt Bd. 12, S. 44 f.) zu Ps. 119,126 (von Mendelssohn neu übersetzt gegenüber JubA Bd. 10/1, S. 195). 75 Zeremonialgesetz] Die Tora enthält 613 Mizvot (248 Gebote und 365 Verbote), die in der Folgezeit zu einem System (Halacha) der überlieferten Riten, Handlungen und Bräuche (betreffend z. B. Kultus, Speisen, Sabbat usw.) erweitert wurden. Der Begriff, den Mendelssohn nirgendwo definiert und für den er anderswo ›Ritualgesetz‹ sagt, ist absichtlich vage gehalten, um ihn als politisch neutral erscheinen zu lassen und damit den Freiraum für die religiös gebotenen Riten, aber auch für die Gesetze zu bewahren, vgl. Krochmalnik 2001. 76 Menschlichkeit] die menschliche Natur mit ihren Schranken und Schwächen. 77 daß der Jüngling sich erhebe] Jes. 3,5. 78 wie jener Grieche] Platon: Politeia 563 a. 79 ausholen] erforschen. 80 Abschweifung] Die Thematik der folgenden Ausführungen läßt an Maimonides (Mischne Tora, Kap. 1) denken, s. Kaplan 1998.

Anmerkungen zu S. 107, 109–111 81 Eigenschaften

163

gebrochener Strahlen] Vgl. Isaac Newton:

Opticks (1704). 82 Spiele] der Natur. 83 freiwillige] spontane. 84 daß die Luft eine Schwere habe] Der Luftdruck wurde 1643 von Evangelista Torricelli nachgewiesen (Quecksilberbarometer). 85 fuga vacui] Auch ›horror vacui‹. Die traditionelle Physik hielt einen luftleeren Raum für unmöglich; die Natur lasse kein Vakuum entstehen. Damit konnten auf dem Druckgefälle beruhende Phänomene erklärt werden. 86 Kohäsion [...] Gravitation] Jeder bekannte Denker (Galilei, Descartes, Leibniz, Daniel Bernoulli, Kant) erklärte die Kohäsion anders. – Das Gesetz der Gravitation war zwar 1687 von Newton erfolgreich aufgestellt worden, aber es fehlte eine Definition des Wesens dieser Kraft. 87 Haller] Albrecht von Haller unterschied zwei Grundeigenschaften der lebenden Tiere: die Sensibilität (die nur den Nerven zukommt) und die Irritabilität oder Reizbarkeit (die nur den Muskeln zukommt). Haller veröffentlichte seine Entdeckung zuerst auf lateinisch (De partibus corporis humani sensibilibus et irritabilibus, 1753), dann auf deutsch (Von den empfindlichen und reizbaren Teilen des menschlichen Körpers, 1772; hrsg. von Karl Sudhoff, Leipzig 1922). Diese Schrift wurde für epochal gehalten. Die Entdeckung der ›Irritabilitas Halleri‹ galt als eine der größten wissenschaftlichen Errungenschaften. Vgl. Richard Toellner: Albrecht von Haller. Über die Einheit im Denken des letzten Universalgelehrten. Wiesbaden 1971, S. 171–182. 88 dieser Übergang] Bis ins 19. Jahrhundert hinein galt es nicht als sicher, daß die Buchstabenschrift (Alphabet) aus der Bilderschrift hervorgegangen sei. Mendelssohn schließt sich hier an Warburton an, s. William Warburton: The Divine Legation of Moses Demonstrated. Vol. III. London 41745 (11741) (Nachdruck New York & London 1978), S. 99–104. 89 überdachten] überlegten. 90 übersehen] überblicken. 91 diese Einteilung] Die Alphabetschrift beruht auf der Einteilung der Laute in Klassen. 92 nachgehen durfte] nachzugehen brauchte. 93 Hacken] Heute: Haken. 94 Stimulus] Ochsenstachel, Treibstecken.

164

Anmerkungen zu S. 111–115 95 Ein Phönizier] Vgl. Herodot: Historien 5,58. 96 aufbehalten] aufbewahrt. 97 einzubilden] vor Augen zu stellen, einzuprägen. 98 wie hieraus hat Tierdienst] Warburton (s. Anm. 88), S. 197–

205. 99 Mythologie] heidnische Theologie. 100 Meiners] Christoph Meiners: Versuch über die Religionsge-

schichte der ältesten Völker besonders der Egyptier. Göttingen 1775, S. 27 u. 32 f. 101 Lessing] Gotthold Ephraim Lessing: Fabeln. Drey Bücher. Nebst Abhandlungen mit dieser Dichtart verwandten Inhalts. Berlin 1759, Abhandlung II: Von dem Gebrauche der Thiere in der Fabel. 102 Apologue] (französisch) Die äsopische Fabel. 103 Bildung] Gestalt. 104 die tierischen Merkmale] Die Eule der Minerva und der Pfau der Juno. 105 Tyger] Damalige englische Schreibweise für ›Tiger‹; im Deutschen zu Mendelssohns Zeit veraltet. 106 etwan] irgendwann. 107 das gemeine Sprichwort] »Der Prophet gilt nichts in seinem Vaterlande« (vgl. Mt. 13,57). In mehreren Sprachen verbreitetes geflügeltes Wort. 108 Omhya] Omai, ein Südsee-Insulaner, lebte 1774–1776 in England und überraschte durch seine Intelligenz und seine guten Manieren. Vgl. John Cawte Beaglehole: Introduction. In: The Journals of Captain James Cook on his Voyages of Discovery. Vol. III: The Voyage of the Resolution and Discovery, 1776–1780. Part one. Cambridge 1967, S. LXXXVII f. Ders.: The Life of Captain James Cook (= The Journals, vol. IV). London 1974, S. 447–449 (vgl. die Register). 109 Tempel der Providenz] Johann Bernard Basedow hatte im Rahmen seiner Dessauer Erziehungsanstalt (Philanthropinum) auch einen eigenen Betsaal bauen lassen. In erster Linie für die Lehrer und Schüler der Anstalt gedacht, stand er darüber hinaus allen offen, deren Gebet sich an die Vorsehung richtete (Altmann 1973, S. 340). Basedows Plan, auch in Berlin einen Tempel der natürlichen Religion einzurichten, scheiterte. 110 Ohngefähr] Ungefähr. 111 D.] Dessauer. 112 Philantropins] Richtiger: Philanthropins.

Anmerkungen zu S. 115–122

165

113 Die Eroberer Jerusalems] Vgl. Bibliotheca Rabbinica. Eine

Sammlung alter Midraschim, übers. von August Wünsche. 13. u. 14. Lieferung: Der Midrasch Echa Rabbati. Leipzig 1881 (Nachdruck Hildesheim 1967), S. 8. – Die Cherubim waren engelartige Figuren, die mit ihren Flügeln die Bundeslade beschirmten. 114 die indianischen Weltweisen] Die Mythologie der Inder (damals oft noch ›Indianer‹) kannte verschiedene ›Erdträger‹. 115 J. Z. Hollwell] John Zephaniah Holwell: Interesting Historical Events, Relative to the Provinces of Bengal, and the Empire of Indostan […] Part II. London 1767 (Nachdruck London u. New York 2000), S. 107–109. – Die »Schasta« sind ein bestimmter Typ der heiligen Schriften der Brahmanen (bei Holwell ›Shastah‹, heute ›Shastra‹). – »Gentoos« ist das damalige englische Wort für ›Hindus‹. »Braminen« = Brahmanen. 116 die Kinder Modu und Kytu] Lies: die Kinder von Modu und Kytu (»the children of Modoo and Kytoo«). 117 Vehikulum] Hilfsmittel. 118 Ohngötterei] Atheismus. Vgl. S. 64. 119 Plutarch] Plutarch: Isis und Osiris (in den »Moralia«) 379 E; die »Meerkatze« ist der ›hundsköpfige‹ Affe (380 E). Im 18. Jahrhundert zählte man die Paviane zu den Meerkatzen, und die Ägypter stellten den Gott Thot als Pavian dar. Die Aufklärer entrüsteten sich gern über den hundsköpfigen Gott (der damals noch nicht genau zugeordnet werden konnte), vgl. z. B. die französische Encylopédie s. v. ›Cynocéphale‹ (Bd. 4 [Paris 1754], S. 599 f.). 120 der Prophet] Hosea 13,2. 121 Schule der Weltweisen] Die Pythagoreer nahmen an, das Wesen aller Dinge bestehe in der Zahl. 122 eine priesterliche Nation] 2. Mos. 19,6 (in Mendelssohns ToraÜbersetzung: »ein priesterliches Reich […] und ein heiliges Volk«, JubA Bd. 9/1, S. 255). 123 von ihm gebildeten Nation] Jes. 43,21. 124 in das Heiligtum Gottes] Ps. 73,17. 125 alphabethische] Heute: alphabetische. 126 an allen Toren] 5. Mos. 6,9. 127 verlangte ein Tierbild] 2. Mos. 32, 1–4. 128 morgen sei] 2. Mos. 32,5. 129 dieses sind deine Götter] 2. Mos. 32,4. 130 Gott der Stärke] Christian Fürchtegott Gellert: Gottes Macht

166

Anmerkungen zu S. 123–128

und Vorsehung, Z. 2. Zuerst in: Geistliche Oden und Lieder. Leipzig 11757 (Gesammelte Schriften, hrsg. von Bernd Witte. Bd. 2. Berlin, New York 1997, S. 150). Vgl. Ps. 43,2. 131 Geschichte der Wissenschaften] Christoph Meiners: Geschichte des Ursprungs, Fortgangs und Verfalls der Wissenschafften in Griechenland und Rom. 2 Bde. Lemgo 1781 f.; Bd. 2, S. 77 f. 132 Israeln] Plural (= Israeliten). 133 Ach Herr!] 2. Mos. 33,15–20; 34,6 f. – Mehrere Varianten zur Tora-Übersetzung (JubA Bd. 9/1, S. 290 f.), auf die in der Anmerkung verwiesen wird. – II B. M. C. 33. v. 15. = 2. Buch Moses, Capitel 33, Vers 15. – Das in hebräischen Buchstaben gedruckte Original: JubA Bd. 16, S. 346–351. 134 Gedanken, den unsere Rabbinen] Ibn Esras Kommentar zu 2. Mos. 34,7. 135 Ein verehrungswürdiger Freund] Die Passagen S. 125, Z.1– 127, Z.1 sind fast wörtlich aus den »Gegenbetrachtungen über Bonnets Palingenesie« (JubA Bd. 7, S. 72 f.) übernommen, die Mendelssohn 1770 verfaßte, aber nicht veröffentlichte. Der »Freund« müßte Mendelssohns Berliner Freund Johann August Eberhard sein, der sich 1772 (»Neue Apologie des Sokrates«) gegen die Ewigkeit der Höllenstrafen aussprechen wird, worauf Lessing unter Bezugnahme auf Leibniz erwidern wird. Vgl. JubA Bd. 22, Nr. 140. 136 der beleidigten Majestät Gottes angemessen] Leibniz und Lessing (1773) plädierten u. a. mit diesem Argument für die Ewigkeit der Höllenstrafen. Zu Mendelssohns entgegengesetzter Ansicht vgl. JubA Bd. 3/2, S. 240 u. 250. 137 Ohne die Gesetze] Eigentlich eine Frage: Bräuchte der Mensch ohne die Gesetze nicht elend zu sein? 138 Feuer seiner Gesetze] 5. Mos. 33,2. 139 die Strafe zur Besserung des Menschen] Daß die gerechte Strafe den Menschen besser mache, lehrte z. B. Platon: Gorgias 477 a ff. 140 Allmacht ist nur Gottes] Ps. 62,12 f. Vgl. zu diesem und den folgenden Zitaten Mendelssohns Psalmen-Übersetzung (JubA Bd. 10/1). 141 Mosen zeigt er seine Wege] Ps. 103,7–14. – »Israeln« Plural (= Israeliten). – Die Zeilen 2 u. 3 zitieren 2. Mos. 34,6 (vgl. Anm. 133). 142 Stelle in der Schrift] 2. Mos. 34,6 f. 143 Benedeie, meine Seele!] Ps. 103,2–4. 144 Die Himmel erzählen] Ps. 19,2–5. – Der »Sänger« ist (angeblich) König David (Z. 1).

Anmerkungen zu S. 129–135

167

145 derselbe Sänger] Er wird im Psalter nicht genannt. 146 Von Sonnenaufgang] Ps. 113,3. 147 Von Aufgang der Sonne] Mal. 1,11. 148 Staat und Religion] Die zivilen und die religiösen Gesetze wa-

ren identisch (so auch bei Spinoza oder Locke). 149 Gegenstoß] Konflikt, Gegensatz. 150 Verweser] Verwalter. 151 Hebe] Opfer. 152 Leviten] Priester. 153 Gott ist ihr Eigentum] 5. Mos. 10,9; 18,2. 154 fremden Göttern] 1. Sam. 26,19. 155 Der Sabbat] 2. Mos. 31,17. 156 der Verbrecher] Anknüpfend an 5. Mos. 17,6: Babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin 40 b (Goldschmidt Bd. 8, S. 621). 157 Ein Hingerichteter] 5. Mos. 21,23. 158 siebenzig Jahren] Mischna, Traktat Makkot I 10 d. Die Mischna, hrsg. von Georg Beer u. Oscar Holtzmann. IV. Seder, 4. u. 5. Traktat: Sanhedrin – Makkot, hrsg. von Samuel Krauß. Gießen 1933, S. 331. 159 mit Zerstörung des Tempels] Vgl. Babylonischer Talmud, Traktat Sabbat 15 a (Goldschmidt Bd. 1, S. 475) sowie JubA Bd. 7, S. 115. 160 Hierokratie] Priesterherrschaft. Wenn in einem Gottesstaat (Theokratie = Herrschaft Gottes) die Gewalt nicht von einer (göttlichen) Person ausgeübt wird, dann von den Priestern. Auch Spinoza und Locke bezeichneten die mosaische Verfassung als Theokratie. 161 Geschlechtswort] Gattungsbegriff. 162 das mit nichts schichtet] Ergänze »sich« (das sich unter keine bestimmte Ordnung bringt). 163 Plato] Symposion 180 d–e. 164 Milton] John Milton: Paradise Lost (1667) IV, 408–491. 165 jener Weltweise] Sokrates meinte, die Sonne sei ein glühender Stein. Vgl. Xenophon: Memorabilien IV 7,7. Die im alten Orient verbreitete Verehrung der Sonne und anderer Gestirne wurde vom Judentum bekämpft. Vgl. 5. Mos. 4,19; 2. Kön. 23,5 u. 11; Hiob 31,26; Ez. 8,16. 166 einen König] 1. Sam. 8, vgl. 12,12. 167 vorsichtigen] einsichtigen, verständigen. 168 gebet dem Kaiser] Mk. 12,17; Mt. 22,21.

168

Anmerkungen zu S. 135–142

169 vom Gesetze entledigen] Vgl. JubA Bd. 7, S. 91 u. 97 f.; Bd. 13,

S. 134. 170 Protestation] Verwahrung, Einsprache (aus der Rechtssprache). 171 Heiligtum Gottes] Vgl. Anm. 124. 172 Gesetze, die mit Landeigentum] Im Exil können solche Gebote

keine Geltung mehr haben. 173 was Gott gebunden hat] Mk. 10,9. 174 das Gegenteil gesagt] Vgl. Mt. 5,17. 175 Wer nicht im Gesetze geboren ist] Babylonischer Talmud, Traktat Sanhedrin 59 a–b (Goldschmidt Bd. 8, S. 697–699). – Vgl. JubA Bd. 7, S. 10 f. 176 leidlichen] leidvollen. 177 ein Hirt und eine Herde] Joh. 10,16 aufgrund von Ez. 34,23 u. 37,24. Mendelssohn zitiert hier Cranz, s. JubA Bd. 8, S. 86. 178 Gedeien] Heute: Gedeihen. 179 Glaubensvereinigung] Vgl. Einleitung S. XXVI ff. 180 der Wolf wird mit dem Lamme] Jes. 11,6. 181 dingen] feilschen, markten. 182 der alles fürchtet] Mendelssohn variiert hier Lichtwer, s. Anm. 81 zum ersten Abschnitt. 183 Symbolen] Glaubensartikel; vgl. Anm. 78 zum ersten Abschnitt. 184 nur einigen] nur einen schwachen. 185 Kappzaum] Zaum zum Bändigen junger Pferde. 186 Keiner von uns denkt] Daß alle Menschen voneinander verschieden sind, läßt sich metaphysisch aus Leibniz’ Monadenlehre (Monadologie, § 9) ableiten: Es kann keine zwei identischen Monaden geben, was aus dem Prinzip der Identität des Nichtzuunterscheidenden folgt. Die Verschiedenheit der Menschen wird auch im zweiten der skeptischen Tropen betont (Sextus Empiricus: Pyrrhoniae hypotyposes I, 79–89). – Vgl. auch JubA Bd. 6/1, S. 40. 187 verjähret] Vgl. Anm. 6. 188 besorglichen] zu befürchtenden. 189 den Kongreß in Amerika] Die 1783/84 eingebrachte »Bill for Support of Christian denominations« wollte das Christentum zur »established Religion« erklären, scheiterte aber am Widerstand James Madisons. 190 Liebet die Wahrheit] Sach. 8,19. Vgl. S. 102 Anm.

PERSONENREGISTER

Abbt, Thomas 39, 152 Abraham 99, 101, 119, 161

Bellarmini (Bellarmin), Roberto 38 f., 152

Abraham ben Meir ibn Esra 166

Bendavid, Lazarus XXXIII

Abravanel (Abarbanell), Isaak 101,

Berghahn, Cord-Friedrich XLV

161

Berghahn, Klaus L. XLII, XLV

Adelung, Johann Christoph 19, 150

Bernfeld, Simon XLV

Aesop 113

Bernoulli, Daniel 163

Akiba ben Josef 162

Bodek, Arnold LVIII

Albo, Josef 101 f., 161

Bohn, Ursula XLII, XLV

Albrecht, Michael XXXIX, XLIII,

Bonnet, Charles VIII

XLV, LI f. Altmann, Alexander IX, XXXIV–

Bourel, Dominique LIX Brasch, Moritz LV, LVIII

XXXVI, XXXVIII–XLIV, LII, LV,

Breuer, Edward XL, XLII, XLVI

LVII–LIX, 147, 164

Brocke, Michael 147

Aristoteles 153

Bruch, Richard XLII, XLVI

Arkush, Allan XL–XLII, XLIV,

Büsching, Anton Friedrich 159

XLIX, LIII, LIX

Caillois, Roger 152

Aron 121

Calas, Jean 10, 149

Ascher, Saul XXXIII f., LI

Cassirer, Ernst XXXV

Asheri, David XLIX

Christine, Königin von Schweden 148

Auerbach, Jakob XLIV

Cohen, Hermann XXXV, XLVI

Augustus, Kaiser 3, 147

Cohn-Sherbok, Dan LII

Auletta, Gennaro XXXV f., LIX

Condorcet, Jean Antoine Nicolas de

Bahr, Ehrhard XLIV

Caritat, Marquis de XXXII

Balzer, Scharfrichter 9

Cook, James 164

Bamberger, Fritz XXXIX f., XLIV f.,

Corneille, Pierre 147

XLVIII Barzilay, Isaac Eisenstein XL, XLV

Cranz, August Friedrich VIII, XIV f., XIX, XXV, 151, 157, 159, 168

Basedow, Johann Bernard 164

Crescas, Chasdaj (Chisdai) 101 f., 161

Bayer, Oswald XLV

Cromwell, Oliver 5

Bayle, Pierre 64, 156

Dambacher, Ilsegret IX

Beaglehole, John Cawte 164

David 166

Beer, Georg 153, 167

Descartes, René 149, 152, 163

Belke, Ingrid XLV

Deugd, Cornelis de L

170

Personenregister

Diogenes Laertios 158 f.

Glatzer, Nahum N. LII

Dohm, Christian Wilhelm IX–XIII,

Goetschel, Roland XLII, XLVII

XX, XXX, LV, 1, 4 f., 7, 11f., 17–19, 22 f., 25, 77, 79, 137, 147–150, 157 f.

Goldschmidt, Lazarus 147, 151, 155, 162, 167 f. Gottlober, Abraham Bär LIX

Don, Arie XLVI

Grab, Walter X, XLVII

Dreyfuß, Théo XLVI

Gräffer, Franz LV, LVII

Dubnow, Simon XXXVII, XLI

Graetz, Heinrich XXXVII, XLI,

Dunton, John 148

XLVII

Eberhard, Johann August XXIX, 166

Green, Kenneth Hart XLVII

Edward I., König von England 5

Greenberg, Gershon XXXVI, XLVII

Eisen, Arnold M. XXXIII, XLI, XLVI

Grotius, Hugo 148, 153

Elbogen, Ismar 147

Gründer, Karlfried XXX, XLVII

Engel, Eva J. XLV, LI f., 147

Guttmann, Julius XL, XLVII f., 147

Engels, Friedrich XXXVIII

Haller, Albrecht von 107 f., 163

Epikur 76, 95

Hamann, Johann Georg XXIX f.,

Erlin, Matt XLVI

XLV, XLVII f., L, LIII

Etkes, E. XLIV

Heering, Herman Johan LIV

Euchel, Isaak XXXII f., XL

Heine, Heinrich XXXV f.

Euklid 67, 157

Heinrich, Gerda XLVII

Febronius, Justinus XXVII

Hell, François-Joseph-Antoine de 158

Fedorow (Grünberg), Wladimir (J. C.)

Helvétius, Claude Adrien 95

LIX Ferguson, Adam 56, 154 f. Fèvre, Justin-Louis-Pierre 152 Fox, Marvin XLVI, XLVIII

Herbert von Cherbury, Edward 102, 161 Herder, Johann Gottfried XXVIII, XXX

Frank, Daniel H. LI

Herodes der Große 162

Friedländer, David XXXIV

Herodot 164

Friedrich II., König von Preußen

Herz, Elkan VIII

XIX, 149, 158 Funkenstein, Amos XXXIV, XLI, XLVI

Herz, Marcus X Herzl, Theodor XLVI Hilfrich, Carola XLI, XLVII

Gajek, Bernhard XLVIII

Hillel I. (der Alte) 102 f., 161 f.

Galilei, Galileo 163

Hinske, Norbert XLIV f., LI

Garber, Jörn L

Hiob 151

Garve, Christian XXVIII, 155

Hissmann, Michael 149, 159

Gaster, Moses LII

Hobbes, Thomas XVI f., XXIX,

Geiger, Abraham XXXIV Gellert, Christian Fürchtegott 165

XXXVIII, 29, 34–37, 84, 152, 159 Holdheim, Samuel XLVII

Personenregister Holtzmann, Oscar 153, 167 Holwell, John Zephaniah 116, 165

171

Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg IX

Homberg, Herz XV, XXXIV

Katz, Jacob XLIV, XLIX

Homer 123

Katz, Steven T. XLVIII

Hoogewoud, Frits J. LIV

Kayserling, Meyer XXXVII, XLIX

Hornig, Gottfried XXVII f., LIV

Klein, Ernst Ferdinand 56, 155

Horovitz, Bela LII

Kochan, Lionel XXXIV, XLIX

Hosea 157

Kohen, Raphael 151

Hume, David 95

Krauß, Samuel 167

Isaak 99, 119

Kreimendahl, Lothar XLIII

Iselin, Isaak XIX, 78 f., 150, 158

Kreß, Hartmut XXXVIII, XLIX

Isis 165

Krochmalnik, Daniel XLI, XLIX f.,

Ivry, Alfred L. XLIX

147, 162

Jacobs, Louis LII

Kronauer, Ulrich L

Jäger, Ludwig LI

Kurzweil, Zvi XXXIV, L

Jakob 99, 119

Lavater, Johann Kaspar VII f., XIV,

Jansen Schoonhoven, Evert XXX, XLVII f.

86, 160 Lazaroff, Allan L

Jenisch, Daniel XXXII

Leaman, Oliver LI

Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm

Leeser, Isaac LIX

XXVII

Leibniz, Gottfried Wilhelm XXI,

Jesus von Nazareth XXV, 136 f.

XXVII, 152 f., 160, 163, 166,

Joachim II., Kurfürst von Branden-

168

burg XI, 8 f., 148 Joseph II., römisch-deutscher Kaiser X, 51, 53, 148, 154 Jospe, Alfred XXXIV, XXXIX, XLII, XLVIII, LVI, LIX Jospe, Eva XLVIII

Lemle, Heinrich L Leni, Yahil XLVIII Lessing, Gotthold Ephraim X, XIX, XXI, XLIV–XLVI, XLIX, LII, 4, 79, 96, 113, 147, 157, 161, 164, 166

Jospe, Raphael LI

Levinas, Emmanuel XLII, LIX f.

Jost, Isaak Markus XXXV–XXXVII,

Levy, Felix A. L

XLIX

Levy, Ze’ev XXX, L

Juno 114, 164

Lewkowitz, Albert L

Kajon, Irene LIV

Librett, Jeffrey S. XLII, L

Kaminka, Armand LII

Lichtwer, Magnus Gottfried 156, 168

Kant, Immanuel VII, XXVIII,

Liersch, Arwid XXVII

XXXIII, XL, 163

Lippold (Jom Tob ben Jehuda

Kaplan, Lawrence XLIX, 156, 162

Ha-Kohen) 8 f., 148

Karl V., römisch-deutscher Kaiser 9

Littmann, Ellen XXXIV, LI

172

Personenregister

Locke, John XVI, XXXVIII, 29, 37 f., 149, 152, 155, 167

Montesquieu, Charles Louis de Secondat de 34, 152f.

Lukrez 95

Morgan, Michael L. XXXIX, LI

Luria (Lorja), Isaak 102, 160

Moses XX, XXV, 11, 18, 84 f., 90,

Luther, Martin XXXV

100 f., 103, 121, 123 f., 127, 136,

Madison, James 168

157, 163, 166

Maier, Johann XXXV, XL, LI

Müller, Gerhard XXVIII

Maimonides (Majemonides) XLIX,

Müller, Wolfgang Erich LIV

101 f., 156, 160, 162

Munk, Reinier LIV

Mainusch, Herbert 148

Nahler, Edith XXXVIII, LI

Manasse ben Israel X f., XIII, 5 f.,

Neher, André XLVI

10 f., 148 f., 158 f.

Neusner, Jacob XLVIII

Marcus jun., Samuel 151

Newton, Isaac 163

Mark Aurel 158

Nicholas, Edward 6, 148

Marmorstein, Arthur LII

Nicolai, Friedrich IX, XXIX, LI

Martyn, David XLII, LI, LVI–LVIII

Niewöhner, Friedrich XXXV

Marx, Karl XXXVIII

Noveck, Simon XLVIII

Mautner, Thomas LI

Omai (Omhya) 115, 164

Meier, Albert XLVIII

Osiris 165

Meier, Ephraim LI

Patterson, David XXXVIII, LII

Meiners, Christoph 113, 115, 123,

Paulus LI

164, 166 Mendelssohn, Georg Benjamin XXX, LV, LVIII

Pelli, Moshe LII Platon 133, 160, 162, 166 f. Plutarch 64, 117, 156, 165

Meyer, Michael A. XXXVI, LI

Polemon 158

Michaelis, Johann David XXVI f.,

Pufendorf, Samuel 150, 154

XXX f., 157

Pythagoras 81, 159

Milton, John 133, 167

Rapp, Friedrich XLIII

Minerva 114, 164

Rawidowicz, Simon XXX, LII

Minor, Jacob 156

Reimarus, Hermann Samuel XIX,

Mirabeau, Honoré-Gabriel Riqueti, Comte de XXXI f.

147 Reinharz, Jehuda XLIV

Mittwoch, Eugen 147

Rengstorf, Karl Heinrich XLVII

Moehsen, Johann Carl Wilhelm 8 f.,

Ricken, Ulrich XLII, LII

148 f.

Ritter, Immanuel Heinrich XXXV, LII

Möller, Horst X

Rosenbloom, Noah H. LII

Mörschel, Daniel Ernst XIV, XX,

Rosenzweig, Franz LII

XXXI, 86, 88 f., 160 Monter Pérez, José LX

Rotenstreich, Nathan XXXIX f., LII, LIX

Personenregister

173

Roth, Helga LIII

Stanitzek, Georg LI

Rousseau, Jean-Jacques 15, 150

Stegmaier, Werner XLIX

Rudawski, David LIII

Stern, Sigismund XXIX, LIII

Salmon, L. XLIV

Sudhoff, Karl 163

Salomo 24, 133, 151

Suntum, Peter van LIII

Samuel XXIV, 134

Teller, Wilhelm Abraham 159

Samuels, Moses LIX

Tenenbaum, Katja LIII f.

Samuelson, Norbert M. LIII

Theilemann, Wilfried

Schammai (Samai) 103, 161 f.

Thom, Martina LV, LVIII

Schatzberg, Walter XLIV

Thot 165

Schäufele, Wolf-Friedrich XXVIII

Toellner, Richard 163

Schindler, Bruno LII

Toland, John 6, 148

Schlettwein, Johann August 149 f.,

Tomasoni, Francesco XXI, LIV

158 Schnee, Heinrich 148 Schochat, Asriel XXXVI Schoeps, Hans Joachim XXIV f., XL, LIII

XXVII

Torricelli, Evangelista 163 Turgot, Anne Robert Jacques, Baron de l’Aulne XXXII Vetter, Dieter XXXIV, LIV Vinci, Paolo LIV

Schoeps, Julius H. LIII

Voltaire, François Marie Arouet 149

Schreiner, Lothar XXX, LIII

Voorsluis, Bart LIV

Schulte, Christoph XXXIV, XLI

Vossius, Isaac 148

Schulz, Hartmut H. R. LIV

Wagner, Richard L

Schütt, Hans-Werner XLIII

Walter, Hermann LIV

Semler, Johann Salomo XXVII f.

Warburton, William 163 f.

Sextus Empiricus 168

Waser, Johann Heinrich 10, 149

Shatzman, Israel XLIX

Weber, Claude LVI

Shear-Yashuv, Aharon LIII

Wenzel, Rainer LIV

Simon, Josef XLIX

Wiener, Max XXXIV f., XL, XLVIII,

Sixtus V., Papst 38, 152

LIV

Smith, Michael B. LX

Wilhelm, Kurt XLV

Smolenskin (Smolensky), Perez ben

Windfuhr, Manfred XXXV

Moses XL, LIX Sokrates 92, 113, 160, 166 f. Sonnenfels, Joseph von X, XIV, XXV

Witte, Bernd 166 Wolff, Christian XXXIX, 153–155, 159

Sorkin, David XL-XLII, LIII

Wolfson, Elliot R. XLIX

Spalding, Johann Joachim 159

Wöllner, Johann Christoph von

Spinoza, Baruch de XXV, XXXVIII, XLVII, L f., 36, 152, 160, 167 Srowig, Regina LIII

XXIX Wünsche, August 165 Xenokrates 157

174

Personenregister

Xenophon 167

Zedler, Johann Heinrich XXVIII

Yahil, Leni XLVIII

Zollikofer, Georg Joachim 159

Zac, Sylvain XXX, XLII, LIV

Zöllner, Johann Friedrich XXIX

SACHREGISTER

Aberglaube XI, XXII, 6, 64, 115, 117 f.

Befugnis 20, 33 f., 46, 80, 153 Begehrungstrieb 63

Abgötterei 99, 114 f., 117, 119 f.

Begehrungsvermögen 101

Ägypten, Ägypter XI, 121 f.

Begriff 105 f., 108, 112 f. und öfter

Akademie 157 f.

Beleidigung 47, 49, 53 f., 56

Allmacht 35, 94

Beobachtung 92-94, 107 f., 111

Almosenpflege 43

Beschneidung 82 f.

Alphabet XXIII, XLI, 109, 111, 120,

Besoldung XVIII, XXXI, 72 f., 87

163

siehe auch Lohn

Amerika 141, 168

Besserung 126

Amt 43, 69 f., 72–74, 82, 112

Bestechung 61 f., 71, 74

Anarchie 42

Bestimmung des Menschen 4, 13,

Anspruch 47 f., 60 f., 72, 135, 153 Artikel, Glaubensartikel, Dogmen XVIII, XXII, XXV f., XXXIII f., XXXVI, 29, 65, 69, 85, 101 f.,

140 f. Betrug 44 Bewegungsgrund 38 f., 44 siehe auch Triebfeder

140, 151, 157, 161, 168

Bild 95, 113-115, 117 f., 120 f.

siehe auch Symbole

Bildung 41

Assimilation XXXIV

Billigungsvermögen 71

Atheismus, Atheisterei XXX, 64,

Bitte 47, 49, 54

139, 156, 165

Bruderduldung 138

siehe auch Ohngötterei

Bruderliebe 3, 26 f., 138 f.

Aufklärung, aufklären XI, XXIX,

Buch 104 f., 120

XXXII, XXXVII, XLI, XLIII f.,

Buchdruck 104

XLVIII, LIII, 9, 26, 34, 36, 118,

Buchstabenmensch 105

128

Bürger 60 f.

Autonomie 17

Charakter 43, 108, 113 f.

Autorität 38, 86, 92 f., 99 f., 129,

Christentum VII–IX, XV, XXIV,

136 f. Bannrecht, kirchliches XII–XIV, XIX f., XXIV, XXXIX, XLIII, 23–25, 74–76, 80, 84, 159 Barmherzigkeit XXIII, 27, 123, 126–128

XXIX, XLVII, 30, 51, 63, 86 f., 89 f., 136 f., 151, 160 Deismus, Deist IX, XI, XIV, XXXI, XXXV, XXXVII, XL, LII, 147 Despotismus 33 f., 42 Dichter 114

176

Sachregister

Dienst 59 f. Dissident XIX, 23 f., 29 , 62 f., 76

Freiheit zu denken XXVI, XLVII, 4, 141

Dogmen siehe Artikel

Frieden 102, 142

Duldung siehe Menschenduldung,

Furcht 35–37, 43 f., 63, 71, 85, 101,

Religionsduldung, Toleranz

122

Ehe 30, 50–52, 154

Gebot 45, 90, 102, 129, 136

Ehre 60, 70

Gemein(d)e XII f., 25, 82, 104, 115,

Eid, Meineid XVIII, XXVII, 29, 65–67, 69–72, 101, 156 Eigenliebe 42 Eigennutz 42, 54, 139 Eigensucht 58 Eigentum 33, 47, 55, 57, 60 f., 70, 131, 136, 154, 168 Einhändigung 55 Eltern und Kinder 49–53, 154 Emanzipation XXV, XLII f., XLVI, LIII Entschädigung 49 Entscheidungsrecht 48, 54, 56 f. Epikurer, Epikurismus 64, 76, 156, 158

131, 158 Gemeinschaft 47 Gerechtigkeit 43 f., 46, 49, 66, 69, 79, 126, 153 Geschichte XL, XLVI, LI, LIV, 91, 93, 97, 117, 160 Geschichtswahrheiten XXI f., XL, LIV, 91, 93 f., 99, 129 f., 160 Gesellschaft XII, 21–23, 25, 37 f., 40 f., 44 f., 52, 57 f., 64 f., 73, 75 f., 79, 130, 134 Gesellschaftsvertrag XVII f., XLV, 21, 45, 58, 64, 72, 74, 77 Gesetz 8–10, 12 f., 37, 41, 43–45, 58, 82, 92, 99–103, 119, 121, 125 f.,

Erbauung XII, XIX, 23, 74–76, 88

129–132, 134–138, 141, 166

Erfindungskraft 110

siehe auch Zeremonialgesetz

Erkenntnis 43, 100, 153 und öfter

Gesetz, mosaisches VIII f., XX f.,

Erkenntnisvermögen 63, 71 f.

XXIII–XXV, XXXIV, XL f., XLVI,

Erwartung 56, 58

LI, 99, 132

Erziehung 40–42, 50–53, 154

Gesetz, positives 20, 58, 82, 150

Erziehung des Menschengeschlechts

Gesetz der Vernunft 84

XXI, 96, 161 Ewiges 38 f. Fabel 112 f., 164 Fanatismus 34, 64, 138 f. Fleiß 47 f., 53, 55, 57

Gesetzgeber 11 f., 52, 114, 119–123, 125, 129, 131 f., 134–136 Gesetzgebung, göttliche (geoffenbarte) 90, 98 f., 121 Gesinnung XVI f., XIX, XXIX, 37,

Fortschritt 97

40–45, 58, 62, 71 f., 74, 80, 83,

Freiheit XV, XLII, XLIV, L, 12, 17,

103 f., 122, 137, 139

30, 34, 51, 53, 62 f., 69 f., 87, 113,

Gewalt 33, 36 f., 44–47, 49 f., 56 f.

151, 155

Gewalt, kirchliche 34

Freiheit, bürgerliche 35

Gewalt, königliche 35

Sachregister Gewissen 25, 52 f., 66 f., 69 f., 73, 83, 136, 138, 157 Gewissensfreiheit VII, XVI f., XXV,

177

Handel, Handlung 12, 134, 149 Handlung XIII, XVI, XVIII, XXIX, XLI, 20, 22, 40 f., 44, 49 f.,

XXVII f., XXXVIII, XLIII, XLIX,

54–58, 61 f., 66, 71, 74, 79, 83,

LIV, 31, 35, 52 f., 69, 139

99, 101, 103–105, 119 f., 130,

Gewissenspflicht 47 f., 50, 54, 56, 84

137, 154

Gewissenszwang XXVII, 52 f.

Haskala XLI

Glauben XXXIII, XXXV f., XLI, 65,

Heide XI, 3, 88, 122, 129

69 f., 86, 92, 94, 100–102, 128 f.,

Heilslehre 98

138, 140

Heilswahrheit XX, 90

Glaubensartikel siehe Artikel

Hervorbringer XII, 13 f., 16 f.

Glaubensvereinigung, Religionsverei-

Heuchelei, Heuchler XXX, 59, 73,

nigung XXV–XXVIII, XXXI, 30, 138–141, 168

112, 117 f., 137 f., 157 Hieroglyphen XXII, 109–112

Gleichheit 17

Hoffnung 43, 63, 71, 101

Glückseligkeit, Glück VIII, XVI,

Holland, Niederlande 12, 17, 149,

XVIII, XXI, XXIV, 12 f., 15, 20 f.,

152

26, 33–35, 37, 39–41, 43 f.,

Idee 68, 108 f.

46–48, 50 f., 53, 55, 57, 63 f., 71,

Indien 95, 116, 160, 165

73, 90, 93–95, 97–99, 120, 122,

Industrie 16 f.

125, 129 f., 138 f., 141, 153

Intoleranz XXVI, 27, 38

Götzen, Götzendienst XLI, XLVII, XLIX, 24, 115, 117, 119 Gott VIII, XXXIX, 27, 35, 41, 43,

Irreligioser 75 Irrglaube, Irrgläubige 41, 132 Jesuitismus 73, 157

58–60, 65–67, 72, 74, 91–95,

Judentum passim

98 f., 101, 114–117, 119,

Kabbalist 102

121–131, 136, 151, 154

Ketzer 41

Gottesdienst XVI, XXIV, XXXIII,

Kirche XVII f., XXXIX, 19, 23, 29,

23–25, 35, 43, 59 f., 79, 85, 87,

33 f., 38, 41, 43, 45, 58–62, 64,

131

70–72, 75–77, 79

Griechen 123

Kirchenrecht siehe Recht, kirchliches

Grundsatz 43, 66, 71 f., 74, 81 und

Klasse 110

öfter Güte, Gütigkeit 20, 46, 50, 94, 122, 124, 127, 153 Gut, Güter 46–48, 53–58, 60–62, 65, 74, 80, 82, 98

Klima 42, 135 König XXIV, 38, 99, 119, 129 f., 134, 167 Kollegialisten XXXIX Kollision, Kollisionsfälle 35, 38,

gut und böse 63, 71 f., 101, 130

48–50, 53, 55 f., 60 f., 65, 70, 73,

Halacha 162

134 f.

178

Sachregister

Krieg 35, 37, 46

Menschenrechte (Rechte der Mensch-

Kriegsmann 46

heit) XI, XXVI, XLII, XLV, 3–5,

Kultur 7, 13, 21, 42 f., 79, 97, 105,

11, 18, 63, 69, 138

113 f., 141 Kunst XI, 4, 6 f., 12 f., 15, 17, 19, 21, 81, 85, 95 f., 114

Menschenverstand, gesunder 33, 36, 60, 77, 98 Menschheit 21, 68, 70, 97

Laut 109–111

Menschlichkeit 69, 162

Leben 39, 71, 88 f., 96, 105, 120 f.,

Metaphysik 36, 69

130, 132, 141 Lehre, Lehren, Lehrmeinung 45, 61–64, 72, 74, 80–84, 90, 100,

Mildtätigkeit 43 Mittwochsgesellschaft XXIX, 149, 155

102, 104 f., 120 f., 128, 130, 132,

Moralphilosophie 36, 60

139, 141

Muselmann 63

siehe Heilslehre, Religionslehre

Mutterkirche 77

Lehrer, Lehrstand XVIII, 14, 34, 61, 72 f., 83, 104 f., 130

Mythologie 113, 164 f. Nächstenliebe 103, 162

Leviten 131

Nährstand 14

Licht 107, 129

Natur 13, 47, 58, 60, 71 f., 85, 90,

Liebe, Lieben XIII, XIX, XXII f., 3, 27, 44 f., 59 f., 62, 74, 122–124, 126–128, 133 f. Lohn, Belohnung XIII, XXVI, 22, 43–45, 58, 61–63, 71, 74, 82 f., 99, 101 siehe auch Besoldung Luft 107, 163 Macht 35–38, 45, 77, 122, 134, 153 Macht, kirchliche, religiöse 19 f., 33 f., 53, 132 Mahometaner XI, 3, 88 Meinung XIII, XXVI, 19–22, 29, 65,

93, 95 f., 104, 107, 112, 119, 160, 163 Naturalismus, Naturalisten IX, XXXI, 3 f., 88 f., 147 Naturgesetz 49 f., 52, 75, 94, 107 f. Naturrecht XXIX, XLIV f., L, 36 f., 45, 84, 150, 153 Naturzustand XIII, XVII f., XLII, XLIV, 21, 35–37, 47–50, 52–55, 57, 154 f. Obrigkeit 35, 78 Offenbarung VIII, XX f., XXIV f., XXIX, XXXII, XXXIX, LI, LIV,

70, 72, 78 f., 85 f., 105, 111, 138,

30, 85, 88, 90, 94, 98, 125 f., 128,

140 f.

130, 147, 160

Meinungsfreiheit XV Menschenduldung XXVI, 139, 141

Ohngötterei 117, 139, 165 siehe auch Atheismus

Menschenfeindschaft 59

Ohnmacht 36

Menschenfreund 139

Opfer 61, 136

Menschenliebe XVIII, 43, 65, 137

Palästina 136

Sachregister Person, moralische 23, 45, 58, 74, 150, 155, 157 siehe auch Wesen, moralisches Pflicht 21, 36, 40, 46, 154 f. und öfter

179

38, 41, 44 f., 60–62, 74 f., 101, 133 und öfter Religion, äußerliche, äußere 25, 79 Religion, allgemeine Menschenreligion XXI, 98

Pflicht, positive 21, 38, 49 f., 154

Religion, geoffenbarte XX f., 90, 98

Pflicht, unvollkommene 47, 49, 58,

Religion, innere XVI, 25, 35

154 Pflicht, vollkommene (Zwangspflicht) 47, 49, 52, 56, 58, 61, 84, 153

Religion, mosaische (jüdische) XX, XL, 18, 23, 30, 51 f., 82, 84 f., 90 Religion, natürliche (vernünftige) IX,

Philosophie XXXIX, XLI, 68

XI, XVIII f., XXIII, XXXIX f., 3,

Politik 26, 33, 133 f.

88, 147, 164

positiv siehe Gesetz, Pflicht, Recht, Religion, Strafe Prediger, Predigt XVIII, 61, 104, 139 Priester XVIII, 65, 81, 134, 136, 167 Pythagoreer 165 Rabbaniten XXXI Recht XIII, 19–21, 23 f., 35–37, 46, 80, 141 und öfter Recht, kirchliches (Kirchenrecht) 19,

Religion, positive 53, 155 Religion, rein-moralische XXXIII Religion, wahre göttliche IX, XII, 19 f., 74 f., 150 Religion der Vernunft XX, XXXV, 150 Religionsduldung 79 Religionseifer 25 f. Religionsfreiheit XXVIII

25, 34, 41, 61, 63, 80, 85, 132,

Religionshaß 138

159

Religionslehre XXIV, 100, 102, 128

Recht, positives 38, 154

Religionsmeinung 141

Recht, unvollkommenes XIII, XVII f.,

Religionsoffenbarung XX, 90

21, 45, 47, 49, 54 f., 57, 61, 84,

Religionswahrheit 83, 99, 140

153

Republikaner 42

Recht, veräußerliches 18

Richter XII, 18 f., 132

Recht, vollkommenes (Zwangsrecht)

Ruhe 14, 34 f., 44

XIII, XV, XVII f., XXIX, 21, 29,

Sache 67, 90, 128, 160

45, 47, 49 f., 54–57, 61 f., 77, 84,

Schaden 49

153

Schöpfung 39, 92, 94, 141, 156

Rede XXVI, 110 f., 137, 141 siehe auch Wort

Schrift, Schriftzeichen XX–XXIV, XLI, XLVI f., 90, 94, 103, 105,

Reformation 34

109–112, 115, 118, 128, 130,

Regierung, Regierungsform 40–42,

160

79, 84, 128, 135, 153 Religion XIX, XXIV, XXIX, XXXIII, XXXIX, XLV f., XLIX–LI, LIII f.,

siehe auch Zeichen Selbstgebrauch 48, 53 Seligkeit 38, 98

180

Sachregister

Sicherheit 35 f., 44

XXV–XXVIII, XXXVIII, XLV f.,

Sinn, Sinne 67 f., 72, 92 f., 95, 105,

L–LII, 3 f., 27, 78–80, 88, 141,

156 f., 161 Sitte, Sitten 41–43, 105

148 f., 152 siehe auch Duldung

Sittenlehre 60, 120

Tora XXXV, XLI f., 161 f.

Sittlichkeit 65, 96 f.

Triebfeder 59

Skeptizist 68 Sklaverei 85, 99 Sophist, Sophisterei XXX, 42, 59, 95, 98

siehe auch Bewegungsgrund Tugend VIII, XVIII, 61, 64 f., 72, 76, 97 f. Übel 16, 19, 78, 98, 104, 126

Spiel 81, 107, 163

Überfüllung (Übervölkerung) 11–13

Sprache 36, 103, 106, 109 f., 160

Überzeugung 43, 83, 85, 89, 100

Sprachtheorie LII, LIV

Unabhängigkeit 49 f., 53, 56, 58, 60

Staat, Staatstheorie XVI, XVIII,

Ungerechtigkeit 53–55

XLIII f., L, 11 f., 15, 29, 33, 35,

Unglaube XI, XXIV, 6, 131 f.

37–41, 43–46, 52, 58 f., 61 f., 64 f.,

Untat siehe Verbrechen

70–74, 77, 79, 83, 130–132,

Unterlassung 49

134 f., 153

Unterricht XII, XX, 15, 85, 90, 92,

Stoa, Stoiker 76, 158 Strafe, Bestrafung XIII, XXIV, XXVI,

103 f., 120 f., 130 Untersuchung 63 f.

22, 43–45, 58, 61–63, 71, 74 f.,

Urteil, eigenes 22

85, 101, 123, 125 f., 128,

Vaterland 44

131–133, 166

Verbindlichkeit 35 f., 49, 66

Strafe, positive 44, 153, 159

Verbrechen (Untat), Verbrecher

Sünde, Sünder 123–128, 133

XXIV, 19, 23 f., 44, 69, 72, 81,

Symbole, symbolische Bücher XXVII,

123 f., 127, 131 f., 167

29, 69, 101, 140, 156 f., 168 siehe auch Artikel

Verfassung XXIV, 34 f., 41, 119 f., 130–135

Talmud XXXV

Vermögen 48

Tat 79, 154

Vermögen, sittliches 36 f., 46

Tatsache 89, 97, 100

Vernunft VIII f., XXXIII, XXXIX, LI,

Tempel (zweiter) XV, XXIV, 24, 103, 115, 132, 136, 162, 167

30, 50, 60, 76, 80, 86–88, 90–92, 94, 132, 139

Tempel der Providenz 115, 164

Vernunft, gesunde 70, 77, 85

Territorialisten XXXIX

Vernunftgründe 98

Theokratie 133, 167

Vernunftwahrheit 99–101, 160 f.

Tier 58, 81, 106, 113 f., 117, 155,

Versprechen 55–58

164 Toleranz X f., XIII, XVIII, XX,

Verstand 63, 91 Versuch 92 f.

Sachregister Vertrag, Kontrakt, Paktum XIII, XVII, XXVIII f., 18, 20–22, 29, 36 f., 45, 47, 49–53, 55 f., 58, 60 f., 64 f., 69 f., 72, 77, 81 f., 84, 154

Wissen 102 Wissenschaft XI, 4–7, 81, 95, 101, 106 f. Wissenschaft des Judentums XXXV, XLV f.

Verzehrer XII, 13 f., 16 f.

Wohlfahrt 37–39

Volksreligion 117 f.

Wohlstand 43, 64 f.

Vollkommenheit 40, 43, 48, 97 f.,

Wohltun, Wohltat XVII, XXXIX,

126 Vorsehung XI, XVIII, 3 f., 39 f., 65,

181

43, 45, 47–49, 80, 126, 128, 154

71, 95–97, 104, 106, 115, 119,

Wohlwollen XVII, XXIX, XXXIX,

122, 128, 135, 140 f., 156, 164

29, 41–43, 48, 53 f., 57–59, 62,

Vorurteil X f., 6 f., 11, 96, 141 Wahrheit XXXIV, XXXIX, 87, 132

65, 123, 126, 154 Wort XX–XXII, XXIV, 50, 52,

und öfter

66–68, 90, 94 f., 103 f., 106 f., 109,

siehe auch Geschichtswahrheit,

128, 130, 140, 160

Heilswahrheit, Religionswahrheit,

siehe auch Rede

Vernunftwahrheit Wahrheit, ewige XX–XXII, XXIV, XXIX, 19 f., 71, 83, 88, 90–94, 98 f., 101, 128, 130, 141, 160

Wunder XXIV, 94, 99, 119, 129 Zahl 118 f., 165 Zeichen XXII f., XLI, XLIX, 55, 57, 67 f., 95, 99, 106, 108–110,

Wahrheit, göttliche 75

112–114, 117, 119 f., 131

Wahrheit, notwendige 90–92, 160

siehe auch Schrift

Wahrheit, nützliche 72 f.

Zeitliches 38 f.

Wahrheit, sittliche 36

Zeremonialgesetz XXII–XXIV,

Wahrheit, zufällige 90–93, 160

XXXIII, L, 103, 119 f., 130, 137,

Wahrheitsgründe 41

162

Wehrstand 14

Zeremonie 87, 103, 120

Weisheit 20, 39, 46, 50, 61, 72, 93 f.,

Zufriedenheit 88 f.

97, 111, 117, 119, 121, 123, 153, 160 Wesen, moralisches 33, 150 f. siehe auch Person, moralische Wille 22, 63, 66, 71, 74, 91, 99, 101, 135 Willenserklärung 55, 65 Willkür 101, 108

Zwang XIX, 23, 49, 61 f., 71 f., 74, 77, 80, 85, 133, 154 Zwangspflicht siehe Pflicht, vollkommene Zwangsrecht siehe Recht, vollkommenes Zwischenhändler XII, 13–16, 79, 149, 158