Jenseits von Gut und Böse. Die Geburt der Tragödie 9783787324286, 9783787338207

1885 fasste Friedrich Nietzsche den Entschluß, eine Neue Ausgabe seiner Schriften erscheinen zu lassen, die 'das Ei

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Jenseits von Gut und Böse. Die Geburt der Tragödie
 9783787324286, 9783787338207

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Philosophische Bibliothek · eBook

Friedrich Nietzsche Philosophische Werke  in sechs Bänden  Band 1:  Jenseits von Gut und Böse  Die Geburt der Tragödie  Band 2: Menschliches, Allzumenschliches  Erster Band Band 3: Menschliches, Allzumenschliches  Zweiter Band Band 4: Morgenröthe Band 5: Die fröhliche Wissenschaft Wir Furchtlosen Band 6: Zur Genealogie der Moral Götzen-Dämmerung Meiner

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Philosophische Werke in sechs Bänden H e r au s g e g e b e n von c l au s -a r t u r s c h e i e r

BAND 1

F E L I X M E I N ER V ER L AG H A M BU RG

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Jenseits von Gut und Böse (1886)

Die Geburt der Tragödie (Neue Ausgabe 1886)

M i t N ac h wor t e n von c l au s -A r t u r S c h e i e r

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 651

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http ://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN 978-3-7873-2421-7 ISBN eBook: 978-3-7873-2428-6

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Viervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz : Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung : C. H. Beck, Nördlingen. Werkdruck papier : alterungsbeständig nach DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlor frei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

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it der 1990 unter dem Titel Friedrich Nietzsche: Ecce auctor vorgelegten Edition der Vorreden von 1886 hatte ClausArtur Scheier darauf aufmerksam gemacht, daß Nietzsche die für die Neue Ausgabe seiner im eigentlichen Sinne „philosophischen“ Schriften verfaßten Vorreden als einen in sich geschlossenen, genealogisch angelegten Versuch einer selbstkritischen Neubewertung und Einordnung seines Werkes ansah: „Von der Vorrede zur Geburt der Tragödie bis zur Vorrede des letztgenannten Buchs [ der Genealogie der Moral ] – das gibt eine Art ‚Entwicklungsgeschichte‘“ (zu der, des Erprobens der Tonlage wegen, noch die Vorrede zu Jenseits von Gut und Böse gerechnet werden kann). Jetzt sah sich Nietzsche im Zenit seiner Schaffenskraft, und die Neue Ausgabe sollte den Mitte 1885 gefaßten Plan vorantreiben, „eine große Schul-Tätigkeit als Philosoph auszuüben […]. Die Bücher heraus aus diesem Winkel !!! Es sind meine Angelhaken; wenn sie mir keine Menschen fangen, so haben sie keinen Sinn!“ (Brief an die Schwester, kurz vor dem 15. August 1885). Eine „vollständige Ausgabe letzter Hand“ nach dem Vorbild Goethes hat Friedrich Nietzsche nicht vorlegen können, denn am Ende war er nicht mehr Herr seiner Sinne. Doch gibt das wirklich Grund zur Klage? Oder anders gefragt: Hätte Nietzsche eine solche Ausgabe, die einfach alles versammelt, was er geschrieben hat, überhaupt gewollt und gutgeheißen? Die Frage kann offen bleiben. Doch es gibt gewiß Gründe, Nietzsche nicht mit jenen gleichzustellen, denen es auf diese Weise darum zu tun war, ihren Nachruhm zu sichern und nach eigenen Vorstellungen zu steuern. Denn es gibt sie ja, die von Nietzsche selbst gewollte und kritisch kommentierte

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Zu dieser Ausgabe

Ausgabe ganz eigener Art: nämlich die durch Jenseits von Gut und Böse und die Genealogie der Moral eingerahmte Neue Ausgabe von 1886/87, die jene vor dem Zarathustra veröffentlichten, mit neuen Vorreden versehenen philosophischen Schriften enthält, von denen der Autor selber sagte: „Sie werden bemerken, daß Menschliches, Allzumenschliches, die Morgenröthe, die fröhliche Wissenschaft einer Vorrede ermangeln: es hatte gute Gründe, daß ich damals, als diese Werke entstanden, mir ein Stillschweigen auferlegte – ich stand noch zu nahe, noch zu sehr ‚drin‘ und wußte kaum, was mit mir geschehen war. Jetzt, wo ich selber am besten und genauesten sagen kann, was das Eigene und Unvergleichliche in diesen Werken ist und inwiefern sie eine für Deutschland neue Literatur inaugurieren (das Vorspiel einer moralischen Selbst-Erziehung und Kultur, die bisher den Deutschen gefehlt hat), würde ich mich zu solchen zurückblickenden und nachträglichen Vor reden gerne entschließen. Meine Schriften stellen eine fortlaufende Entwicklung dar, welche nicht nur mein persönliches Erlebnis und Schicksal sein wird: – ich bin nur der Erste, eine heraufkommende Generation wird das, was ich erlebt habe, von sich aus verstehn und eine feine Zunge für meine Bücher haben. Die Vorreden könnten das Notwendige im Gange einer solchen Entwicklung deutlich machen.“ (Brief vom 7. August 1886 an seinen Verleger Th. Fritsch) Diese erste Ausgabe der philosophischen Werke Friedrich Nietzsches in der „Philosophischen Bibliothek“ folgt dem 1885 von Nietzsche selbst gefaßten und dann mit der Neuen Ausgabe seiner im eigentlichen Sinne „philosophischen“ Schriften auch realisierten Entschluß zu einer neuen Darstellung und Bewertung der von ihm in der Entwicklung seines Denkens jetzt erreichten Position und bietet die Texte nach den Originalausgaben von 1886/1887, ergänzt um die 1889 erschienene GötzenDämmerung – dem 1886 noch nicht antizipierten, dann aber sein neu gewonnenes Selbstbild als Lehrer der Philosophie

Zu dieser Ausgabe

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der Zukunft herausstreichenden Vademecum, das Nietzsche als die „Zusammenfassung meiner wesentlichsten philosophischen Heterodoxien“, eine „vollkommene Gesammt-Einführung“ ansieht, die „meine Philosophie in ihrer drei fachen Eigenschaft, als lux, als nux und als crux, zur Erscheinung bringt“.

Inhalt

Jenseits von Gut und Böse Vorspiel einer Philosophie der Zukunft

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Erstes Hauptstück: von den Vorurtheilen der Philosophen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Zweites Hauptstück: der freie Geist . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Drittes Hauptstück: das religiöse Wesen . . . . . . . . . . . . .

57

Viertes Hauptstück: Sprüche und Zwischenspiele . . . . .

77

Fünftes Hauptstück: zur Naturgeschichte der Moral . . .

93

Sechstes Hauptstück: wir Gelehrten . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Siebentes Hauptstück: unsere Tugenden . . . . . . . . . . . . . 139 Achtes Hauptstück: Völker und Vaterländer . . . . . . . . . . 167 Neuntes Hauptstück: was ist vornehm ? . . . . . . . . . . . . . . 193 Aus hohen Bergen. Nachgesang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Die Geburt der Tragödie Oder: Griechenthum und Pessimismus

Versuch einer Selbstkritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Vorwort an Richard Wagner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik . . . . 253 Nachworte des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 414

Friedrich Nietzsche

Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft.

iii | iv

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Vorrede.

Vorausgesetzt, dass die Wahrheit ein Weib ist – , wie ? ist der Verdacht nicht gegründet, dass alle Philosophen, sofern sie Dogmatiker waren, sich schlecht auf Weiber verstanden ? dass der schauerliche Ernst, die linkische Zudringlichkeit, mit der sie bisher auf die Wahrheit zuzugehen pflegten, ungeschickte und unschickliche Mittel waren, um gerade ein Frauenzimmer für sich einzunehmen ? Gewiss ist, dass sie sich nicht hat einnehmen lassen : – und jede Art Dogmatik steht heute mit betrübter und muthloser Haltung da. We n n sie überhaupt noch steht ! Denn es giebt Spötter, welche behaupten, sie sei gefallen, alle Dogmatik liege zu Boden, mehr noch, alle Dogmatik liege in den letzten Zügen. Ernstlich geredet, es giebt gute Gründe zu der Hoff nung, dass alles Dogmatisiren in der Philosophie, so feierlich, so end- und letztgültig es sich auch gebärdet hat, doch nur eine edle Kinderei und Anfängerei gewesen sein möge ; und die Zeit ist | vielleicht sehr nahe, wo man wieder und wieder begreifen wird, wa s eigentlich schon ausgereicht hat, um den Grundstein zu solchen erhabenen und unbedingten Philosophen-Bauwerken abzugeben, welche die Dogmatiker bisher auf bauten, – irgend ein Volks-Aberglaube aus unvordenklicher Zeit (wie der Seelen-Aberglaube, der als Subjekt- und Ich-Aberglaube auch heute noch nicht aufgehört hat, Unfug zu stiften), irgend ein Wortspiel vielleicht, eine Verführung von Seiten der Grammatik her oder eine verwegene Verallgemeinerung von sehr engen, sehr persönlichen, sehr menschlich-allzumenschlichen Thatsachen. Die Philosophie der Dogmatiker war hoffentlich nur ein Versprechen über Jahrtausende hinweg : wie es in noch früherer Zeit die Astrologie war, für deren Dienst vielleicht mehr Arbeit, Geld,

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Vorrede

iv | v

Scharfsinn, Geduld aufgewendet worden ist, als bisher für irgend eine wirkliche Wissenschaft : – man verdankt ihr und ihren „überirdischen“ Ansprüchen in Asien und Ägypten den grossen Stil der Baukunst. Es scheint, dass alle grossen Dinge, um der Menschheit sich mit ewigen Forderungen in das Herz einzuschreiben, erst als ungeheure und furchteinflössende Fratzen über die Erde hinwandeln müssen : eine solche Fratze war die dogmatische Philosophie, zum Beispiel die VedantaLehre in Asien, der Platonismus in Europa. Seien wir nicht undankbar gegen sie, so gewiss es auch zugestanden werden muss, dass der schlimmste, langwierigste und gefährlichste aller Irrthümer bisher ein Dogmatiker-Irrthum gewesen ist, nämlich Plato’s Er|fi ndung vom reinen Geiste und vom Guten an sich. Aber nunmehr, wo er überwunden ist, wo Europa von diesem Alpdrucke aufathmet und zum Mindesten eines gesunderen – Schlafs geniessen darf, sind wir, d e r e n Au f g a b e d a s Wac h s e i n s e l b s t i s t , die Erben von all der Kraft, welche der Kampf gegen diesen Irr thum grossgezüchtet hat. Es hiess allerdings die Wahrheit auf den Kopf stellen und das Pe r s p e k t i v i s c h e , die Grundbedingung alles Lebens, selber verleugnen, so vom Geiste und vom Guten zu reden, wie Plato gethan hat ; ja man darf, als Arzt, fragen : „woher eine solche Krankheit am schönsten Gewächse des Alterthums, an Plato ? hat ihn doch der böse Sokrates verdorben ? wäre Sokrates doch der Verderber der Jugend gewesen ? und hätte seinen Schierling verdient ?“ – Aber der Kampf gegen Plato, oder, um es verständlicher und für’s „Volk“ zu sagen, der Kampf gegen den christlich-kirch lichen Druck von Jahrtausenden – denn Christenthum ist Platonismus für’s „Volk“ – hat in Europa eine prachtvolle Spannung des Geistes geschaffen, wie sie auf Erden noch nicht da war : mit einem so gespannten Bogen kann man nunmehr nach den fernsten Zielen schiessen. Freilich, der europäische Mensch empfi ndet diese Spannung als Nothstand ; und es ist schon zwei Mal im grossen

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Vorrede

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Stile versucht worden, den Bogen abzuspannen, einmal durch den Jesuitismus, zum zweiten Male durch die demokratische Aufklärung : – als welche mit Hülfe der Pressfreiheit und des Zeitunglesens es in der That erreichen dürfte, dass der Geist sich selbst | nicht mehr so leicht als „Noth“ empfi ndet ! (Die Deutschen haben das Pulver erfunden – alle Achtung ! aber sie haben es wieder quitt gemacht – sie erfanden die Presse.) Aber wir, die wir weder Jesuiten, noch Demokraten, noch selbst Deutsche genug sind, wir g u t e n E u r o p ä e r und freien, s e h r freien Geister – wir haben sie noch, die ganze Noth des Geistes und die ganze Spannung seines Bogens ! Und vielleicht auch den Pfeil, die Aufgabe, wer weiss ? das Z ie l … S i l s - M a r i a , Oberengadin im Juni 1885.

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6

Inhalt.

Seite1

Von den Vorurtheilen der Philosophen . . . . . . . . . . . . .

1

Der freie Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Das religiöse Wesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

61

Sprüche und Zwischenspiele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Naturgeschichte der Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

Wir Gelehrten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

Unsere Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

159

Völker und Vaterländer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

Was ist vornehm ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

225

Au s hohe n B e r g e n . Nachgesang . . . . . . . . . . . . . . .

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1

Seitenangaben beziehen sich auf die Paginierung der Originalausgabe.

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1–4

Erstes Hauptstück : von den Vorurtheilen der Philosophen. |

1. Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen wird, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben : was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt ! Welche wunderlichen schlimmen fragwürdigen Fragen ! Das ist bereits eine lange Geschichte, – und doch scheint es, dass sie kaum eben angefangen hat ? Was Wunder, wenn wir endlich einmal misstrauisch werden, die Geduld verlieren, uns ungeduldig umdrehn ? Dass wir von dieser Sphinx auch unserseits das Fragen lernen ? We r ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt ? Wa s in uns will eigentlich „zur Wahrheit“ ? – In der That, wir machten lange Halt vor der Frage nach der Ursache dieses Willens, – bis wir, zuletzt, vor einer noch gründlicheren Frage ganz und gar stehen blieben. Wir fragten nach dem We r t he dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit : wa r u m n ic ht l ieb e r Unwahrheit ? Und Ungewissheit ? Selbst Unwissenheit ? – Das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor uns hin, – oder waren wir’s, die vor das Problem hin traten ? Wer von uns ist hier Oedipus ? Wer Sphinx ? Es ist ein Stelldichein, wie es scheint, von Fragen und Fragezeichen. – Und sollte man’s glauben, dass es uns schliesslich bedünken will, als sei das Problem noch nie bisher gestellt, – als sei es von uns zum ersten Male gesehn, in’s Auge gefasst, g ew a g t ? Denn es ist ein Wagniss dabei, und vielleicht giebt es kein grösseres. | 2. „W ie k ö n nt e Etwas aus seinem Gegensatz entstehn ? Zum Beispiel die Wahrheit aus dem Irrthume ? Oder der Wille zur

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Erstes Hauptstück

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Wahrheit aus dem Willen zur Täuschung ? Oder die selbstlose Handlung aus dem Eigennutze ? Oder das reine sonnenhafte Schauen des Weisen aus der Begehrlichkeit ? Solcherlei Entstehung ist unmöglich ; wer davon träumt, ein Narr, ja Schlimmeres ; die Dinge höchsten Werthes müssen einen anderen, e i g e ne n Ursprung haben, – aus dieser vergänglichen verführerischen täuschenden geringen Welt, aus diesem Wirrsal von Wahn und Begierde sind sie unableitbar ! Vielmehr im Schoosse des Sein’s, im Unvergänglichen, im verborgenen Gotte, im „Ding an sich“ – d a muss ihr Grund liegen, und sonst nirgendswo !“ – Diese Art zu urtheilen macht das typische Vorurtheil aus, an dem sich die Metaphysiker aller Zeiten wieder erkennen lassen ; diese Art von Werthschätzungen steht im Hintergrunde aller ihrer logischen Prozeduren ; aus diesem ihrem „Glauben“ heraus bemühn sie sich um ihr „Wissen“, um Etwas, das feierlich am Ende als „die Wahrheit“ getauft wird. Der Grundglaube der Metaphysiker ist d e r Gl au b e a n d ie G e g e n s ät z e d e r We r t he. Es ist auch den Vorsichtigsten unter ihnen nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu zweifeln, wo es doch am nöthigsten war : selbst wenn sie sich gelobt hatten „de omnibus dubitandum“. Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volksthümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, | Frosch-Perspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist ? Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukommen mag : es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar noch möglich,

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von den Vorurtheilen der Philosophen

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dass  w a s den Werth jener guten und verehrten Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein. Vielleicht ! – Aber wer ist Willens, sich um solche gefährliche Vielleichts zu kümmern ! Man muss dazu schon die Ankunft einer neuen Gattung von Philosophen abwarten, solcher, die irgend welchen anderen umgekehrten Geschmack und Hang haben als die bisherigen, – Philosophen des gefährlichen Vielleicht in jedem Verstande. – Und allen Ernstes gesprochen : ich sehe solche neue Philosophen heraufkommen. 3. Nachdem ich lange genug den Philosophen zwischen die Zeilen und auf die Finger gesehn habe, sage ich mir : man muss noch den grössten Theil des bewussten Denkens unter die lnstinkt-Thätigkeiten rechnen, und sogar im Falle des philosophischen Denkens ; man muss hier umlernen, wie man in Betreff der Vererbung und des „Angeborenen“ umgelernt hat. So wenig der Akt der Geburt in dem ganzen Vor- und Fortgange der Vererbung in Betracht kommt : ebenso wenig ist „Bewusst-sein“ in irgend einem entscheidenden Sinne dem Instinktiven e n t g e g e n g e s e t z t , – das meiste be|wusste Denken eines Philosophen ist durch seine Instinkte heimlich geführt und in bestimmte Bahnen gezwungen. Auch hinter aller Logik und ihrer anscheinenden Selbstherrlichkeit der Bewegung stehen Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Erhaltung einer bestimmten Art von Leben. Zum Beispiel, dass das Bestimmte mehr werth sei als das Unbestimmte, der Schein weniger werth als die „Wahrheit“ : dergleichen Schätzungen könnten, bei aller ihrer regulativen Wichtigkeit für u n s , doch nur Vordergrunds-Schätzungen sein, eine bestimmte Art von niaiserie, wie sie gerade zur Erhaltung von Wesen, wie wir sind, noth

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Erstes Hauptstück

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thun mag. Gesetzt nämlich, dass nicht gerade der Mensch das „Maass der Dinge“ ist … 4. Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil ; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist ; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urtheile (zu denen die synthetischen Urtheile a  priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sichselbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, – dass Verzichtleisten auf falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn : das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten ; | und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse. 5. Was dazu reizt, auf alle Philosophen halb misstrauisch, halb spöttisch zu blicken, ist nicht, dass man wieder und wieder dahinter kommt, wie unschuldig sie sind – wie oft und wie leicht sie sich vergreifen und verirren, kurz ihre Kinderei und Kindlichkeit – sondern dass es bei ihnen nicht redlich genug zugeht : während sie allesammt einen grossen und tugendhaften Lärm machen, sobald das Problem der Wahrhaftigkeit auch nur von ferne angerührt wird. Sie stellen sich sämmtlich, als ob sie ihre eigentlichen Meinungen durch die Selbstentwicklung einer kalten, reinen, göttlich unbekümmerten Dialektik entdeckt und erreicht hätten (zum Unterschiede von den Mystikern jeden Rangs, die ehrlicher als sie und tölpelhafter

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von den Vorurtheilen der Philosophen

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sind – diese reden von „Inspiration“ –) : während im Grunde ein vorweggenommener Satz, ein Einfall, eine „Eingebung“, zumeist ein abstrakt gemachter und durchgesiebter Herzenswunsch von ihnen mit hinterher gesuchten Gründen vertheidigt wird : – sie sind allesammt Advokaten, welche es nicht heissen wollen, und zwar zumeist sogar verschmitzte Fürsprecher ihrer Vorurtheile, die sie „Wahrheiten“ taufen – und s e h r ferne von der Tapferkeit des Gewissens, das sich dies, eben dies eingesteht, sehr ferne von dem guten Geschmack der Tapferkeit, welche dies auch zu verstehen giebt, sei es um einen Feind oder Freund zu warnen, sei es aus Uebermuth und um ihrer selbst zu spotten. Die ebenso steife als sittsame Tartüfferie des alten Kant, mit der er uns auf die dialektischen Schleichwege lockt, welche zu seinem | „kategorischen Imperativ“ führen, richtiger verführen – dies Schauspiel macht uns Verwöhnte lächeln, die wir keine kleine Belustigung darin fi nden, den feinen Tücken alter Moralisten und Moralprediger auf die Finger zu sehn. Oder gar jener Hocuspocus von mathematischer Form, mit der Spinoza seine Philosophie – „die Liebe zu s e i ne r Weisheit“ zuletzt, das Wort richtig und billig ausgelegt – wie in Erz panzerte und maskirte, um damit von vornherein den Muth des Angreifenden einzuschüchtern, der auf diese unüberwindliche Jungfrau und Pallas Athene den Blick zu werfen wagen würde : – wie viel eigne Schüchternheit und Angreif barkeit verräth diese Maskerade eines einsiedlerischen Kranken ! 6. Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war : nämlich das Selbstbekenntniss ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires ; insgleichen, dass die moralischen (oder unmoralischen) Absichten in jeder Philosophie den eigentlichen Lebenskeim ausmachten, aus dem jedesmal die ganze Pflanze gewachsen ist. In der That, man thut gut (und klug), zur Erklärung davon,

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Erstes Hauptstück

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wie eigentlich die entlegensten metaphysischen Behauptungen eines Philosophen zu Stande gekommen sind, sich immer erst zu fragen : auf welche Moral will es (will e r –) hinaus ? Ich glaube demgemäss nicht, dass ein „Trieb zur Erkenntniss“ der Vater der Philosophie ist, sondern dass sich ein andrer Trieb, hier wie sonst, der Erkenntniss (und der Verkenntniss !) nur wie eines Werkzeugs bedient hat. Wer aber die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade hier als i n s p i r i r e nd e Genien (oder Dämonen | und Kobolde –) ihr Spiel getrieben haben mögen, wird fi nden, dass sie Alle schon einmal Philosophie getrieben haben, – und dass jeder Einzelne von ihnen gerade s ic h gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten He r r n aller übrigen Triebe darstellen möchte. Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig : und als s olc he r versucht er zu philosophiren. – Freilich : bei den Gelehrten, den eigentlich wissenschaftlichen Menschen, mag es anders stehn – „besser“, wenn man will – , da mag es wirklich so Etwas wie einen Erkenntnisstrieb geben, irgend ein kleines unabhängiges Uhrwerk, welches, gut aufgezogen, tapfer darauf los arbeitet, oh n e dass die gesammten übrigen Triebe des Gelehrten wesentlich dabei betheiligt sind. Die eigentlichen „Interessen“ des Gelehrten liegen deshalb gewöhnlich ganz wo anders, etwa in der Familie oder im Gelderwerb oder in der Politik ; ja es ist beinahe gleichgültig, ob seine kleine Maschine an diese oder jene Stelle der Wissenschaft gestellt wird, und ob der „hoff nungsvolle“ junge Arbeiter aus sich einen guten Philologen oder Pilzekenner oder Chemiker macht : – es b e z e ic h net ihn nicht, dass er dies oder jenes wird. Umgekehrt ist an dem Philosophen ganz und gar nichts Unpersönliches ; und insbesondere giebt seine Moral ein entschiedenes und entscheidendes Zeugniss dafür ab, we r e r i s t – das heisst, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind.

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von den Vorurtheilen der Philosophen

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7. Wie boshaft Philosophen sein können ! Ich kenne nichts Giftigeres als den Scherz, den sich Epicur gegen Plato und die Platoniker erlaubte : er nannte sie Dionysiokolakes. Das bedeutet dem Wortlaute nach und im | Vordergrunde „Schmeichler des Dionysios“, also Tyrannen-Zubehör und Speichellecker ; zu alledem will es aber noch sagen „das sind Alles S c h aus p ie ler, daran ist nichts Ächtes“ (denn Dionysokolax war eine populäre Bezeichnung des Schauspielers). Und das Letztere ist eigentlich die Bosheit, welche Epicur gegen Plato abschoss : ihn verdross die grossartige Manier, das Sich-in-Scene-Setzen, worauf sich Plato sammt seinen Schülern verstand,  – worauf sich Epicur nicht verstand ! er, der alte Schulmeister von Samos, der in seinem Gärtchen zu Athen versteckt sass und dreihundert Bücher schrieb, wer weiss ? vielleicht aus Wuth und Ehrgeiz gegen Plato ? – Es brauchte hundert Jahre, bis Griechenland dahinter kam, wer dieser Gartengott Epicur gewesen war. – Kam es dahinter ? – 8. In jeder Philosophie giebt es einen Punkt, wo die „Überzeugung“ des Philosophen auf die Bühne tritt : oder, um es in der Sprache eines alten Mysteriums zu sagen : adventavit asinus pulcher et fortissimus. 9. „Gemäss der Natur“ wollt ihr leb e n ? Oh ihr edlen Stoiker, welche Betrügerei der Worte ! Denkt euch ein Wesen, wie es die Natur ist, verschwenderisch ohne Maass, gleichgültig ohne Maass, ohne Absichten und Rücksichten, ohne Erbarmen und Gerechtigkeit, fruchtbar und öde und ungewiss zugleich, denkt euch die Indifferenz selbst als Macht – wie k ö n nt et ihr gemäss dieser Indifferenz leben ? Leben – ist das

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Erstes Hauptstück

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nicht gerade ein Anders-sein-wollen, als diese Natur ist ? Ist Leben nicht Abschätzen, Vorziehn, Ungerechtsein, Be|grenztsein, Different-sein-wollen ? Und gesetzt, euer Imperativ „gemäss der Natur leben“ bedeute im Grunde soviel als „gemäss dem Leben leben“ – wie könntet ihr’s denn n ic ht ? Wozu ein Princip aus dem machen, was ihr selbst seid und sein müsst ? – In Wahrheit steht es ganz anders : indem ihr entzückt den Kanon eures Gesetzes aus der Natur zu lesen vorgebt, wollt ihr etwas Umgekehrtes, ihr wunderlichen Schauspieler und Selbst-Betrüger ! Euer Stolz will der Natur, sogar der Natur, eure Moral, euer Ideal vorschreiben und einverleiben, ihr verlangt, dass sie „der Stoa gemäss“ Natur sei und möchtet alles Dasein nur nach eurem eignen Bilde dasein machen – als eine ungeheure ewige Verherrlichung und Verallgemeinerung des Stoicismus ! Mit aller eurer Liebe zur Wahrheit zwingt ihr euch so lange, so beharrlich, so hypnotisch-starr, die Natur f a l s c h , nämlich stoisch zu sehn, bis ihr sie nicht mehr anders zu sehen vermögt, – und irgend ein abgründlicher Hochmuth giebt euch zuletzt noch die Tollhäusler-Hoff nung ein, dass, we i l ihr euch selbst zu tyrannisiren versteht – Stoicismus ist Selbst-Tyrannei – , auch die Natur sich tyrannisiren lässt : ist denn der Stoiker nicht ein St üc k Natur ? … Aber dies ist eine alte ewige Geschichte : was sich damals mit den Stoikern begab, begiebt sich heute noch, sobald nur eine Philosophie anfängt, an sich selbst zu glauben. Sie schaff t immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders ; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur „Schaff ung der Welt“, zur causa prima. 10. Der Eifer und die Feinheit, ich möchte sogar sagen : Schlauheit, mit denen man heute überall in Europa dem | Probleme „von der wirklichen und der scheinbaren Welt“ auf den Leib rückt, giebt zu denken und zu horchen ; und wer hier im Hin-

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von den Vorurtheilen der Philosophen

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tergrunde nur einen „Willen zur Wahrheit“ und nichts weiter hört, erfreut sich gewiss nicht der schärfsten Ohren. In einzelnen und seltenen Fällen mag wirklich ein solcher Wille zur Wahrheit, irgend ein ausschweifender und abenteuernder Muth, ein Metaphysiker-Ehrgeiz des verlornen Postens dabei betheiligt sein, der zuletzt eine Handvoll „Gewissheit“ immer noch einem ganzen Wagen voll schöner Möglichkeiten vorzieht ; es mag sogar puritanische Fanatiker des Gewissens geben, welche lieber noch sich auf ein sicheres Nichts als auf ein ungewisses Etwas sterben legen. Aber dies ist Nihilismus und Anzeichen einer verzweifelnden sterbensmüden Seele : wie tapfer auch die Gebärden einer solchen Tugend sich ausnehmen mögen. Bei den stärkeren, lebensvolleren, nach Leben noch durstigen Denkern scheint es aber anders zu stehen : indem sie Partei g e g e n den Schein nehmen und das Wort „perspektivisch“ bereits mit Hochmuth aussprechen, indem sie die Glaubwürdigkeit ihres eigenen Leibes ungefähr so gering anschlagen wie die Glaubwürdigkeit des Augenscheins, welcher sagt „die Erde steht still“, und dermaassen anscheinend gutgelaunt den sichersten Besitz aus den Händen lassen (denn was glaubt man jetzt sicherer als seinen Leib ?) wer weiss, ob sie nicht im Grunde Etwas zurückerobern wollen, das man ehemals noch s ic he r e r besessen hat, irgend Etwas vom alten Grundbesitz des Glaubens von Ehedem, vielleicht „die unsterbliche Seele“, vielleicht „den alten Gott“, kurz, Ideen, auf welchen sich besser, nämlich kräftiger und heiterer leben liess als auf den „modernen Ideen“ ? Es ist M i s s t r aue n gegen diese modernen Ideen darin, | es ist Unglauben an alles Das, was gestern und heute gebaut worden ist ; es ist vielleicht ein leichter Überdruss und Hohn eingemischt, der das bric-à-brac von Begriffen verschiedenster Abkunft nicht mehr aushält, als welches sich heute der sogenannte Positivismus auf den Markt bringt, ein Ekel des verwöhnteren Geschmacks vor der Jahrmarkts-Buntheit und Lappenhaftigkeit aller dieser Wirklich-

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keits-Philosophaster, an denen nichts neu und ächt ist als diese Buntheit. Man soll darin, wie mich dünkt, diesen skeptischen Anti-Wirklichen und Erkenntniss-Mikroskopikern von heute Recht geben : ihr Instinkt, welcher sie aus der mo d e r n e n Wirklichkeit hinwegtreibt, ist unwiderlegt, – was gehen uns ihre rückläufigen Schleichwege an ! Das Wesentliche an ihnen ist n ic ht , dass sie „zurück“ wollen : sondern, dass sie – we g wollen. Etwas Kraft, Flug, Muth, Künstlerschaft me h r : und sie würden h i n au s wollen, – und nicht zurück ! – 11. Es scheint mir, dass man jetzt überall bemüht ist, von dem eigentlichen Einflusse, den Kant auf die deutsche Philosophie ausgeübt hat, den Blick abzulenken und namentlich über den Werth, den er sich selbst zugestand, klüglich hinwegzuschlüpfen. Kant war vor Allem und zuerst stolz auf seine Kategorientafel, er sagte mit dieser Tafel in den Händen : „das ist das Schwerste, was jemals zum Behufe der Metaphysik unternommen werden konnte“. – Man verstehe doch dies „werden konnte“ ! er war stolz darauf, im Menschen ein neues Vermögen, das Vermögen zu synthetischen Urtheilen a priori, e ntd e c k t zu haben. Gesetzt, dass er sich hierin selbst betrog : aber die | Entwicklung und rasche Blüthe der deutschen Philosophie hängt an diesem Stolze und an dem Wetteifer aller Jüngeren, womöglich noch Stolzeres zu entdecken – und jedenfalls „neue Vermögen“ ! – Aber besinnen wir uns : es ist an der Zeit. Wie sind synthetische Urtheile a priori mög l ic h ? fragte sich Kant, – und was antwortete er eigentlich ? Ve r mög e e i n e s Ve r mög e n s : leider aber nicht mit drei Worten, sondern so umständlich, ehrwürdig und mit einem solchen Aufwande von deutschem Tief- und Schnörkelsinne, dass man die lustige niaiserie allemande überhörte, welche in einer solchen Antwort steckt. Man war sogar ausser sich über dieses neue Vermögen, und der Jubel kam auf seine Höhe,

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als Kant auch noch ein moralisches Vermögen im Menschen hinzu entdeckte : – denn damals waren die Deutschen noch moralisch, und ganz und gar noch nicht „real-politisch“. – Es kam der Honigmond der deutschen Philosophie ; alle jungen Theologen des Tübinger Stifts giengen alsbald in die Büsche, – alle suchten nach „Vermögen“. Und was fand man nicht Alles – in jener unschuldigen, reichen, noch jugendlichen Zeit des deutschen Geistes, in welche die Romantik, die boshafte Fee, hineinblies, hineinsang, damals, als man „fi nden“ und „erfi nden“ noch nicht auseinander zu halten wusste ! Vor Allem ein Vermögen für’s „Übersinnliche“ : Schelling taufte es die intellektuale Anschauung und kam damit den herzlichsten Gelüsten seiner im Grunde frommgelüsteten Deutschen entgegen. Man kann dieser ganzen übermüthigen und schwärmerischen Bewegung, welche Jugend war, so kühn sie sich auch in graue und greisenhafte Begriffe verkleidete, gar nicht mehr Unrecht thun, als wenn man sie ernst nimmt und gar etwa mit moralischer Entrüstung | behandelt ; genug, man wurde älter, – der Traum verflog. Es kam eine Zeit, wo man sich die Stirne rieb : man reibt sie sich heute noch. Man hatte geträumt : voran und zuerst – der alte Kant. „Vermöge eines Vermögens“ – hatte er gesagt, mindestens gemeint. Aber ist denn das – eine Antwort ? Eine Erklärung ? Oder nicht vielmehr nur eine Wiederholung der Frage ? Wie macht doch das Opium schlafen ? „Vermöge eines Vermögens“, nämlich der virtus dormitiva – antwortet jener Arzt bei Molière, quia est in eo virtus dormitiva, cujus est natura sensus assoupire.

Aber dergleichen Antworten gehören in die Komödie, und es ist endlich an der Zeit, die Kantische Frage „wie sind synthetische Urtheile a priori möglich ?“ durch eine andre Frage zu ersetzen „warum ist der Glaube an solche Urtheile nöt h i g ?“ – nämlich zu begreifen, dass zum Zweck der Erhaltung von

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Wesen unsrer Art solche Urtheile als wahr g e g l au bt werden müssen ; weshalb sie natürlich noch f a l s c h e Urtheile sein könnten ! Oder, deutlicher geredet und grob und gründlich : synthetische Urtheile a priori sollten gar nicht „möglich sein“ : wir haben kein Recht auf sie, in unserm Munde sind es lauter falsche Urtheile. Nur ist allerdings der Glaube an ihre Wahrheit nöthig, als ein Vordergrunds-Glaube und Augenschein, der in die Perspektiven-Optik des Lebens gehört. – Um zuletzt noch der ungeheuren Wirkung zu gedenken, welche „die deutsche Philosophie“ – man versteht, wie ich hoffe, ihr Anrecht auf Gänsefüsschen ? – in ganz Europa ausgeübt hat, so zweifle man nicht, dass eine gewisse virtus dormitiva dabei betheiligt war : man war entzückt, unter edlen Müssiggängern, Tugendhaften, | Mystikern, Künstlern, Dreiviertels-Christen und politischen Dunkelmännern aller Nationen, Dank der deutschen Philosophie, ein Gegengift gegen den noch übermächtigen Sensualismus zu haben, der vom vorigen Jahrhundert in dieses hinüberströmte, kurz – „sensus assoupire“ … 12. Was die materialistische Atomistik betriff t : so gehört dieselbe zu den bestwiderlegten Dingen, die es giebt ; und vielleicht ist heute in Europa Niemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum bequemen Hand- und Hausgebrauch (nämlich als einer Abkürzung der Ausdrucksmittel) noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen – Dank vorerst jenem Polen Boscovich, der, mitsammt dem Polen Kopernicus, bisher der grösste und siegreichste Gegner des Augenscheins war. Während nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass die Erde n ic ht fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte, was von der Erde „feststand“, abschwören, dem Glauben an den „Stoff “, an die „Materie“, an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom : es war der grösste Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden

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ist. – Man muss aber noch weiter gehn und auch dem „atomistischen Bedürfnisse“, das immer noch ein gefährliches Nachleben führt, auf Gebieten, wo es Niemand ahnt, gleich jenem berühmteren „metaphysischen Bedürfnisse“ – den Krieg erklären, einen schonungslosen Krieg auf ’s Messer : – man muss zunächst auch jener anderen und verhängnissvolleren Atomistik den Garaus machen, welche das Christenthum am besten und längsten gelehrt hat, der S e e le n -A t om i s t i k . Mit diesem Wort sei es erlaubt, jenen | Glauben zu bezeichnen, der die Seele als etwas Unvertilgbares, Ewiges, Untheilbares, als eine Monade, als ein Atomon nimmt : d ie s e n Glauben soll man aus der Wissenschaft hinausschaffen ! Es ist, unter uns gesagt, ganz und gar nicht nöthig, „die Seele“ selbst dabei los zu werden und auf eine der ältesten und ehrwürdigsten Hypothesen Verzicht zu leisten : wie es dem Ungeschick der Naturalisten zu begegnen pflegt, welche, kaum dass sie an „die Seele“ rühren, sie auch verlieren. Aber der Weg zu neuen Fassungen und Verfeinerungen der Seelen-Hypothese steht offen : und Begriffe wie „sterbliche Seele“ und „Seele als Subjekts-Vielheit“ und „Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte“ wollen fürderhin in der Wissenschaft Bürgerrecht haben. Indem der neue Psycholog dem Aberglauben ein Ende bereitet, der bisher um die Seelen-Vorstellung mit einer fast tropischen Üppigkeit wucherte, hat er sich freilich selbst gleichsam in eine neue Oede und ein neues Misstrauen hinaus gestossen – es mag sein, dass die älteren Psychologen es bequemer und lustiger hatten – : zuletzt aber weiss er sich eben damit auch zum E r f i nd e n verurtheilt – und, wer weiss ? vielleicht zum Fi nd e n . – 13. Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen. Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft au s l a s s e n – Leben selbst ist Wille zur Macht – : die Selbsterhaltung

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ist nur eine der indirekten und häufigsten Fol g e n davon. – Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor ü b e r f lü s s i g e n teleologischen Principien ! – wie ein solches der Selbsterhaltungstrieb | ist (man dankt ihn der Inconsequenz Spinoza’s –). So nämlich gebietet es die Methode, die wesentlich PrincipienSparsamkeit sein muss. 14. Es dämmert jetzt vielleicht in fünf, sechs Köpfen, dass Physik auch nur eine Welt-Auslegung und -Zurechtlegung (nach uns ! mit Verlaub gesagt) und n ic ht eine Welt-Erklärung ist : aber, insofern sie sich auf den Glauben an die Sinne stellt, gilt sie als mehr und muss auf lange hinaus noch als mehr, nämlich als Erklärung gelten. Sie hat Augen und Finger für sich, sie hat den Augenschein und die Handgreiflichkeit für sich : das wirkt auf ein Zeitalter mit plebejischem Grundgeschmack bezaubernd, überredend, ü b e r z eu g e nd , – es folgt ja instinktiv dem Wahrheits-Kanon des ewig volksthümlichen Sensualismus. Was ist klar, was „erklärt“? Erst Das, was sich sehen und tasten lässt, – bis so weit muss man jedes Problem treiben. Umgekehrt : genau im Widerstreben g e g e n die Sinnenfälligkeit bestand der Zauber der platonischen Denkweise, welche eine vor ne h me Denkweise war, – vielleicht unter Menschen, die sich sogar stärkerer und anspruchsvollerer Sinne erfreuten, als unsre Zeitgenossen sie haben, aber welche einen höheren Triumph darin zu fi nden wussten, über diese Sinne Herr zu bleiben : und dies mittelst blasser kalter grauer Begriffs-Netze, die sie über den bunten Sinnen-Wirbel – den Sinnen-Pöbel, wie Plato sagte – warfen. Es war eine andre Art G e nu s s in dieser Welt-Überwältigung und Welt-Auslegung nach der Manier des Plato, als der es ist, welchen uns die Physiker von Heute anbieten, insgleichen die Darwinisten und Antiteleologen unter den physiolo|gischen Arbeitern, mit ihrem Princip der „kleinstmöglichen Kraft“ und der grösstmöglichen Dummheit. „Wo der Mensch nichts mehr zu sehen und

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zu greifen hat, da hat er auch nichts mehr zu suchen“ – das ist freilich ein anderer Imperativ als der Platonische, welcher aber doch für ein derbes arbeitsames Geschlecht von Maschinisten und Brückenbauern der Zukunft, die lauter g r ob e Arbeit abzuthun haben, gerade der rechte Imperativ sein mag. 15. Um Physiologie mit gutem Gewissen zu treiben, muss man darauf halten, dass die Sinnesorgane n ic ht Erscheinungen sind im Sinne der idealistischen Philosophie : als solche könnten sie ja keine Ursachen sein ! Sensualismus mindestens somit als regulative Hypothese, um nicht zu sagen als heuristisches Princip. – Wie ? und Andere sagen gar, die Aussenwelt wäre das Werk unsrer Organe ? Aber dann wäre ja unser Leib, als ein Stück dieser Aussenwelt, das Werk unsrer Organe ! Aber dann wären ja unsre Organe selbst – das Werk unsrer Organe ! Dies ist, wie mir scheint, eine gründliche reductio ad absurdum : gesetzt, dass der Begriff causa sui etwas gründlich Absurdes ist. Folglich ist die Aussenwelt n ic ht das Werk unsrer Organe – ? 16. Es giebt immer noch harmlose Selbst-Beobachter, welche glauben, dass es „unmittelbare Gewissheiten“ gebe, zum Beispiel „ich denke“, oder, wie es der Aberglaube Schopenhauer’s war, „ich will“ : gleichsam als ob hier das Erkennen rein und nackt seinen Gegenstand zu fassen bekäme, als „Ding an sich“, und weder von | Seiten des Subjekts, noch von Seiten des Objekts eine Fälschung stattfände. Dass aber „unmittelbare Gewissheit“, ebenso wie „absolute Erkenntniss“ und „Ding an sich“, eine contradictio in adjecto in sich schliesst, werde ich hundertmal wiederholen : man sollte sich doch endlich von der Verführung der Worte losmachen ! Mag das Volk glauben, dass Erkennen ein zu Ende-Kennen sei, der Philosoph muss sich sagen : „wenn ich den Vorgang zerlege, der in dem

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Satz „ich denke“ ausgedrückt ist, so bekomme ich eine Reihe von verwegenen Behauptungen, deren Begründung schwer, vielleicht unmöglich ist, – zum Beispiel, dass ic h es bin, der denkt, dass überhaupt ein Etwas es sein muss, das denkt, dass Denken eine Thätigkeit und Wirkung seitens eines Wesens ist, welches als Ursache gedacht wird, dass es ein „Ich“ giebt, endlich, dass es bereits fest steht, was mit Denken zu bezeichnen ist, – dass ich we i s s , was Denken ist. Denn wenn ich nicht darüber mich schon bei mir entschieden hätte, wonach sollte ich abmessen, dass, was eben geschieht, nicht vielleicht „Wollen“ oder „Fühlen“ sei ? Genug, jenes „ich denke“ setzt voraus, dass ich meinen augenblicklichen Zustand mit anderen Zuständen, die ich an mir kenne, ve r g le ic h e , um so festzusetzen, was er ist : wegen dieser Rückbeziehung auf anderweitiges „Wissen“ hat er für mich jedenfalls keine unmittelbare Gewissheit“. – An Stelle jener „unmittelbaren Gewissheit“, an welche das Volk im gegebenen Falle glauben mag, bekommt dergestalt der Philosoph eine Reihe von Fragen der Metaphysik in die Hand, recht eigentliche Gewissensfragen des lntellekts, welche heissen : „Woher nehme ich den Begriff Denken ? Warum glaube ich an Ursache und Wirkung ? Was giebt mir das Recht, von einem | Ich, und gar von einem Ich als Ursache, und endlich noch von einem Ich als GedankenUrsache zu reden ?“ Wer sich mit der Berufung auf eine Art I nt u it ion der Erkenntniss getraut, jene metaphysischen Fragen sofort zu beantworten, wie es Der thut, welcher sagt : „ich denke, und weiss, dass dies wenigstens wahr, wirklich, gewiss ist“ – der wird bei einem Philosophen heute ein Lächeln und zwei Fragezeichen bereit fi nden. „Mein Herr, wird der Philosoph vielleicht ihm zu verstehen geben, es ist unwahrscheinlich, dass Sie sich nicht irren : aber warum auch durchaus Wahrheit ?“ –

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17. Was den Aberglauben der Logiker betriff t : so will ich nicht müde werden, eine kleine kurze Thatsache immer wieder zu unterstreichen, welche von diesen Abergläubischen ungern zugestanden wird, – nämlich, dass ein Gedanke kommt, wenn „er“ will, und nicht wenn „ich“ will ; so dass es eine Fä ls c hu n g des Thatbestandes ist, zu sagen : das Subjekt „ich“ ist die Bedingung des Prädikats „denke“. Es denkt : aber dass dies „es“ gerade jenes alte berühmte „Ich“ sei, ist, milde geredet, nur eine Annahme, eine Behauptung, vor Allem keine „unmittelbare Gewissheit“. Zuletzt ist schon mit diesem „es denkt“ zu viel gethan : schon dies „es“ enthält eine Au s le g u n g des Vorgangs und gehört nicht zum Vorgange selbst. Man schliesst hier nach der grammatischen Gewohnheit „Denken ist eine Thätigkeit, zu jeder Thätigkeit gehört Einer, der thätig ist, folglich –“. Ungefähr nach dem gleichen Schema suchte die ältere Atomistik zu der „Kraft“, die wirkt, noch jenes Klümpchen Materie, worin sie sitzt, aus der heraus sie wirkt, das Atom ; strengere Köpfe lernten | endlich ohne diesen „Erdenrest“ auskommen, und vielleicht gewöhnt man sich eines Tages noch daran, auch seitens der Logiker ohne jenes kleine „es“ (zu dem sich das ehrliche alte Ich verflüchtigt hat) auszukommen. ı8. An einer Theorie ist es wahrhaftig nicht ihr geringster Reiz, dass sie widerlegbar ist : gerade damit zieht sie feinere Köpfe an. Es scheint, dass die hundertfach widerlegte Theorie vom „freien Willen“ ihre Fortdauer nur noch diesem Reize verdankt – : immer wieder kommt Jemand und fühlt sich stark genug, sie zu widerlegen. 19. Die Philosophen pflegen vom Willen zu reden, wie als ob er die bekannteste Sache von der Welt sei ; ja Schopenhauer gab zu verstehen, der Wille allein sei uns eigentlich bekannt, ganz

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und gar bekannt, ohne Abzug und Zuthat bekannt. Aber es dünkt mich immer wieder, dass Schopenhauer auch in diesem Falle nur gethan hat, was Philosophen eben zu thun pflegen : dass er ein Vol k s -Vor u r t he i l übernommen und übertrieben hat. Wollen scheint mir vor Allem etwas Com pl ic i r t e s , Etwas, das nur als Wort eine Einheit ist, – und eben im Einen Worte steckt das Volks-Vorurtheil, das über die allzeit nur geringe Vorsicht der Philosophen Herr geworden ist. Seien wir also einmal vorsichtiger, seien wir „unphilosophisch“ – , sagen wir : in jedem Wollen ist erstens eine Mehrheit von Gefühlen, nämlich das Gefühl des Zustandes, von dem we g , das Gefühl des Zustandes, zu dem h i n , das Gefühl von diesem „weg“ und „hin“ selbst, dann noch | ein begleitendes Muskelgefühl, welches, auch ohne dass wir „Arme und Beine“ in Bewegung setzen, durch eine Art Gewohnheit, sobald wir „wollen“, sein Spiel beginnt. Wie also Fühlen und zwar vielerlei Fühlen als Ingredienz des Willens anzuerkennen ist, so zweitens auch noch Denken : in jedem Willensakte giebt es einen commandirenden Gedanken ; – und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem „Wollen“ abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig bliebe ! Drittens ist der Wille nicht nur ein Complex von Fühlen und Denken, sondern vor Allem noch ein A f f e k t : und zwar jener Affekt des Commando’s. Das, was „Freiheit des Willens“ genannt wird, ist wesentlich der Überlegenheits-Affekt in Hinsicht auf Den, der gehorchen muss ; „ich bin frei, „er“ muss gehorchen“ – dies Bewusstsein steckt in jedem Willen, und ebenso jene Spannung der Aufmerksamkeit, jener gerade Blick, der ausschliesslich Eins fixirt, jene unbedingte Werthschätzung „jetzt thut dies und nichts Anderes Noth“, jene innere Gewissheit darüber, dass gehorcht werden wird, und was Alles noch zum Zustande des Befehlenden gehört. Ein Mensch, der w i l l – , befiehlt einem Etwas in sich, das gehorcht oder von dem er glaubt, dass es gehorcht. Nun aber beachte man, was das Wunderlichste am

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Willen ist, – an diesem so vielfachen Dinge, für welches das Volk nur Ein Wort hat : insofern wir im gegebenen Falle zugleich die Befehlenden u nd Gehorchenden sind, und als Gehorchende die Gefühle des Zwingens, Drängens, Drückens, Widerstehens, Bewegens kennen, welche sofort nach dem Akte des Willens zu beginnen pflegen ; insofern wir andererseits die Gewohnheit haben, uns über diese Zweiheit vermöge des synthetischen Begriffs „ich“ hinwegzusetzen, hinwegzu-| täuschen, hat sich an das Wollen noch eine ganze Kette von irrthümlichen Schlüssen und folglich von falschen Werthschätzungen des Willens selbst angehängt, – dergestalt, dass der Wollende mit gutem Glauben glaubt, Wollen g e nü g e zur Aktion. Weil in den allermeisten Fällen nur gewollt worden ist, wo auch die Wirkung des Befehls, also der Gehorsam, also die Aktion e r w a r t et werden durfte, so hat sich der A n s c he i n in das Gefühl übersetzt, als ob es da eine Not hwe n d i g k e it von Wirkung gäbe ; genug, der Wollende glaubt, mit einem ziemlichen Grad von Sicherheit, dass Wille und Aktion irgendwie Eins seien – , er rechnet das Gelingen, die Ausführung des Wollens noch dem Willen selbst zu und geniesst dabei einen Zuwachs jenes Machtgefühls, welches alles Gelingen mit sich bringt. „Freiheit des Willens“ – das ist das Wort für jenen vielfachen Lust-Zustand des Wollenden, der befiehlt und sich zugleich mit dem Ausführenden als Eins setzt, – der als solcher den Triumph über Widerstände mit geniesst, aber bei sich urtheilt, sein Wille selbst sei es, der eigentlich die Widerstände überwinde. Der Wollende nimmt dergestalt die Lustgefühle der ausführenden, erfolgreichen Werkzeuge, der dienstbaren „Unterwillen“ oder Unter-Seelen – unser Leib ist ja nur ein Gesellschaftsbau vieler Seelen – zu seinem Lustgefühle als Befehlender hinzu. L’effet c’est moi : es begiebt sich hier, was sich in jedem gut gebauten und glücklichen Gemeinwesen begiebt, dass die regierende Klasse sich mit den Erfolgen des Gemeinwesens identificirt. Bei allem Wollen handelt

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es sich schlechterdings um Befehlen und Gehorchen, auf der Grundlage, wie gesagt, eines Gesellschaftsbaus vieler „Seelen“ : weshalb ein Philosoph sich das Recht nehmen sollte, Wollen an sich schon | unter den Gesichtskreis der Moral zu fassen : Moral nämlich als Lehre von den Herrschafts-Verhältnissen verstanden, unter denen das Phänomen „Leben“ entsteht. – 20. Dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu einander emporwachsen, dass sie, so plötzlich und willkürlich sie auch in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch eben so gut einem Systeme angehören als die sämmtlichen Glieder der Fauna eines Erdtheils : das verräth sich zuletzt noch darin, wie sicher die verschiedensten Philosophen ein gewisses Grundschema von mög l ic he n Philosophien immer wieder ausfüllen. – Unter einem unsichtbaren Banne laufen sie immer von Neuem noch einmal die selbe Kreisbahn : sie mögen sich noch so unabhängig von einander mit ihrem kritischen oder systematischen Willen fühlen : irgend Etwas in ihnen führt sie, irgend Etwas treibt sie in bestimmter Ordnung hinter einander her, eben jene eingeborne Systematik und Verwandtschaft der Begriffe. Ihr Denken ist in der That viel weniger ein Entdecken, als ein Wiedererkennen, Wiedererinnern, eine Rück- und Heimkehr in einen fernen uralten Gesammt-Haushalt der Seele, aus dem jene Begriffe einstmals herausgewachsen sind : – Philosophiren ist insofern eine Art von Atavismus höchsten Ranges. Die wunderliche Familien-Ähnlichkeit alles indischen, griechischen, deutschen Philosophirens erklärt sich einfach genug. Gerade, wo Sprach-Verwandtschaft vorliegt, ist es gar nicht zu vermeiden, dass, Dank der gemeinsamen Philosophie der Grammatik – ich meine Dank der unbewussten | Herrschaft und Führung durch gleiche grammatische Funktionen  –

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von vornherein Alles für eine gleichartige Entwicklung und Reihenfolge der philosophischen Systeme vorbereitet liegt : ebenso wie zu gewissen andern Möglichkeiten der Welt-Ausdeutung der Weg wie abgesperrt erscheint. Philosophen des ural-altaischen Sprachbereichs (in dem der Subjekt-Begriff am schlechtesten entwickelt ist), werden mit grosser Wahrscheinlichkeit anders „in die Welt“ blicken und auf andern Pfaden zu fi nden sein, als Indogermanen oder Muselmänner : der Bann bestimmter grammatischer Funktionen ist im letzten Grunde der Bann phy s iolog i s c her Werthurtheile und Rasse-Bedingungen. – So viel zur Zurückweisung von Locke’s Oberflächlichkeit in Bezug auf die Herkunft der Ideen. 21. Die causa sui ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur : aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken. Das Verlangen nach „Freiheit des Willens“, in jenem metaphysischen Superlativ-Verstande, wie er leider noch immer in den Köpfen der Halb-Unterrichteten herrscht, das Verlangen, die ganze und letzte Verantwortlichkeit für seine Handlungen selbst zu tragen und Gott, Welt, Vorfahren, Zufall, Gesellschaft davon zu entlasten, ist nämlich nichts Geringeres, als eben jene causa sui zu sein und, mit einer mehr als Münchhausen’schen Verwegenheit, sich selbst aus dem Sumpf des Nichts an den Haaren in’s Dasein zu ziehn. Gesetzt, Jemand kommt dergestalt hinter die bäurische Einfalt dieses | berühmten Begriffs „freier Wille“ und streicht ihn aus seinem Kopfe, so bitte ich ihn nunmehr, seine „Aufklärung“ noch um einen Schritt weiter zu treiben und auch die Umkehrung jenes Unbegriffs „freier Wille“ aus seinem Kopfe zu streichen : ich meine den „unfreien Willen“, der auf einen Missbrauch von Ursache und Wirkung hinausläuft. Man soll nicht

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„Ursache“ und „Wirkung“ fehlerhaft ve r d i n g l ic he n , wie es die Naturforscher thun (und wer gleich ihnen heute im Denken naturalisirt –) gemäss der herrschenden mechanistischen Tölpelei, welche die Ursache drücken und stossen lässt, bis sie „wirkt“ ; man soll sich der „Ursache“, der „Wirkung“ eben nur als reiner B e g r i f f e bedienen, das heisst als conventioneller Fiktionen zum Zweck der Bezeichnung, der Verständigung, n ic ht der Erklärung. Im „An-sich“ giebt es nichts von „Causal-Verbänden“, von „Nothwendigkeit“, von „psychologischer Unfreiheit“, da folgt n ic ht „die Wirkung auf die Ursache“, da regiert kein „Gesetz“. W i r sind es, die allein die Ursachen, das Nacheinander, das Für-einander, die Relativität, den Zwang, die Zahl, das Gesetz, die Freiheit, den Grund, den Zweck erdichtet haben ; und wenn wir diese Zeichen-Welt als „an sich“ in die Dinge hineindichten, hineinmischen, so treiben wir es noch einmal, wie wir es immer getrieben haben, nämlich my t holog i s c h . Der „unfreie Wille“ ist Mythologie : im wirklichen Leben handelt es sich nur um s t a r k e n und s c hw ac he n Willen. – Es ist fast immer schon ein Symptom davon, wo es bei ihm selber mangelt, wenn ein Denker bereits in aller „Causal-Verknüpfung“ und „psychologischer Nothwendigkeit“ etwas von Zwang, Noth, Folgen-Müssen, Druck, Unfreiheit herausfühlt : es ist verrätherisch, gerade so zu fühlen, – die Person | verräth sich. Und überhaupt wird, wenn ich recht beobachtet habe, von zwei ganz entgegengesetzten Seiten aus, aber immer auf eine tief p e r s ö n l ic he Weise die „Unfreiheit des Willens“ als Problem gefasst : die Einen wollen um keinen Preis ihre „Verantwortlichkeit“, den Glauben an s ic h , das persönliche Anrecht auf i h r Verdienst fahren lassen (die eitlen Rassen gehören dahin –) ; die Anderen wollen umgekehrt nichts verantworten, an nichts schuld sein und verlangen, aus einer innerlichen Selbst -Verachtung heraus, sich selbst irgend wohin a bwä l z e n zu können. Diese Letzteren pflegen sich, wenn sie Bücher schreiben, heute der

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Verbrecher anzunehmen ; eine Art von socialistischem Mitleiden ist ihre gefälligste Verkleidung. Und in der That, der Fatalismus der Willensschwachen verschönert sich erstaunlich, wenn er sich als „la religion de la souff rance humaine“ einzuführen versteht : es ist s e i n „guter Geschmack“. 22. Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen : aber jene „Gesetzmässigkeit der Natur“, von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob – – besteht nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten „Philologie“, – sie ist kein Thatbestand, kein „Text“, vielmehr nur eine naivhumanitäre Zurechtmachung und Sinnverdrehung, mit der ihr den demokratischen Instinkten der modernen Seele sattsam entgegenkommt ! „Überall Gleichheit vor dem Gesetz, – die Natur hat es darin nicht anders und nicht besser als wir“ : ein artiger Hintergedanke, in dem noch einmal die pöbelmännische Feindschaft gegen alles Bevorrechtete und Selbstherrliche, ins|gleichen ein zweiter und feinerer Atheismus verkleidet liegt. „Ni dieu, ni maître“ – so wollt auch ihr’s : und darum „hoch das Naturgesetz“ ! – nicht wahr ? Aber, wie gesagt, das ist Interpretation, nicht Text ; und es könnte Jemand kommen, der, mit der entgegengesetzten Absicht und Interpretationskunst, aus der gleichen Natur und im Hinblick auf die gleichen Erscheinungen, gerade die tyrannisch-rücksichtenlose und unerbittliche Durchsetzung von Machtansprüchen herauszulesen verstünde, – ein Interpret, der die Ausnahmslosigkeit und Unbedingtheit in allem „Willen zur Macht“ dermaassen euch vor Augen stellte, dass fast jedes Wort und selbst das Wort „Tyrannei“ schliesslich unbrauchbar oder schon als schwächende und mildernde Metapher – als zu menschlich – erschiene ; und der dennoch damit endete, das Gleiche von dieser Welt zu behaupten, was ihr behauptet, nämlich dass

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sie einen „nothwendigen“ und „berechenbaren“ Verlauf habe, aber n ic ht , weil Gesetze in ihr herrschen, sondern weil absolut die Gesetze f e h le n , und jede Macht in jedem Augenblicke ihre letzte Consequenz zieht. Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden ? – nun, um so besser. – 23. Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängen geblieben : sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. Dieselbe als Morphologie und E ntw ic k lu n g s le h r e d e s W i l le n s z u r Mac ht zu fassen, wie ich sie fasse – daran hat noch Niemand in seinen Gedanken selbst gestreift : sofern es nämlich erlaubt ist, in dem, was bisher geschrieben wurde, ein Symptom von dem, was bisher | verschwiegen wurde, zu erkennen. Die Gewalt der moralischen Vorurtheile ist tief in die geistigste, in die anscheinend kälteste und voraussetzungsloseste Welt gedrungen – und, wie es sich von selbst versteht, schädigend, hemmend, blendend, verdrehend. Eine eigentliche Physio-Psychologie hat mit unbewussten Widerständen im Herzen des Forschers zu kämpfen, sie hat „das Herz“ gegen sich : schon eine Lehre von der gegenseitigen Bedingtheit der „guten“ und der „schlimmen“ Triebe, macht, als feinere Immoralität, einem noch kräftigen und herzhaften Gewissen Noth und Überdruss, – noch mehr eine Lehre von der Ableitbarkeit aller guten Triebe aus den schlimmen. Gesetzt aber, Jemand nimmt gar die Affekte Hass, Neid, Habsucht, Herrschsucht als lebenbedingende Affekte, als Etwas, das im Gesammt-Haushalte des Lebens grundsätzlich und grundwesentlich vorhanden sein muss, folglich noch gesteigert werden muss, falls das Leben noch gesteigert werden soll, – der leidet an einer solchen Richtung seines Urtheils wie an einer Seekrankheit. Und doch ist auch diese Hypothese bei weitem nicht die peinlichste und frem-

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deste in diesem ungeheuren fast noch neuen Reiche gefährlicher Erkenntnisse : – und es giebt in der That hundert gute Gründe dafür, dass Jeder von ihm fernbleibt, der es – k a n n ! Andrerseits : ist man einmal mit seinem Schiffe hierhin verschlagen, nun ! wohlan ! jetzt tüchtig die Zähne zusammengebissen ! die Augen aufgemacht ! die Hand fest am Steuer ! – wir fahren geradewegs über die Moral we g , wir erdrücken, wir zermalmen vielleicht dabei unsren eignen Rest Moralität, indem wir dorthin unsre Fahrt machen und wagen, – aber was liegt an u n s ! Niemals noch hat sich verwegenen Reisenden | und Abenteurern eine t ie f e r e Welt der Einsicht eröff net : und der Psychologe, welcher dergestalt „Opfer bringt“ – es ist n ic ht das sacrifi zio dell’ intelletto, im Gegentheil ! – wird zum Mindesten dafür verlangen dürfen, dass die Psychologie wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die übrigen Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen. |

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24. O sancta simplicitas ! In welcher seltsamen Vereinfachung und Fälschung lebt der Mensch ! Man kann sich nicht zu Ende wundern, wenn man sich erst einmal die Augen für dies Wunder eingesetzt hat ! Wie haben wir Alles um uns hell und frei und leicht und einfach gemacht ! wie wussten wir unsern Sinnen einen Freipass für alles Oberflächliche, unserm Denken eine göttliche Begierde nach muthwilligen Sprüngen und Fehlschlüssen zu geben ! – wie haben wir es von Anfang an verstanden, uns unsre Unwissenheit zu erhalten, um eine kaum begreif liche Freiheit, Unbedenklichkeit, Unvorsichtigkeit, Herzhaftigkeit, Heiterkeit des Lebens, um das Leben zu geniessen ! Und erst auf diesem nunmehr festen und granitnen Grunde von Unwissenheit durfte sich bisher die Wissenschaft erheben, der Wille zum Wissen auf dem Grunde eines viel gewaltigeren Willens, des Willens zum Nicht-wissen, zum Ungewissen, zum Unwahren ! Nicht als sein Gegensatz, sondern – als seine Verfeinerung ! Mag nämlich auch die S p r ac he, hier wie anderwärts, nicht über ihre Plumpheit hinauskönnen und fortfahren, von Gegensätzen zu reden, wo es nur Grade und mancherlei Feinheit der Stufen giebt ; mag ebenfalls die eingefleischte Tartüfferie der Moral, welche jetzt zu unserm unüberwindlichen „Fleisch und Blut“ gehört, uns Wissenden selbst die Worte im Munde umdrehen : hier und da begreifen wir es und lachen darüber, wie gerade noch die beste Wissenschaft uns am besten in dieser ve r e i n f ac ht e n , durch und durch | künstlichen, zurecht gedichteten, zurecht gefälschten Welt festhalten will, wie sie unfreiwillig-willig den Irrthum liebt, weil sie, die Lebendige, – das Leben liebt !

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25. Nach einem so fröhlichen Eingang möchte ein ernstes Wort nicht überhört werden : es wendet sich an die Ernstesten. Seht euch vor, ihr Philosophen und Freunde der Erkenntniss, und hütet euch vor dem Martyrium ! Vor dem Leiden „um der Wahrheit willen“ ! Selbst vor der eigenen Vertheidigung ! Es verdirbt eurem Gewissen alle Unschuld und feine Neutralität, es macht euch halsstarrig gegen Einwände und rothe Tücher, es verdummt, verthiert und verstiert, wenn ihr im Kampfe mit Gefahr, Verlästerung, Verdächtigung, Ausstossung und noch gröberen Folgen der Feindschaft, zuletzt euch gar als Vertheidiger der Wahrheit auf Erden ausspielen müsst : – als ob „die Wahrheit“ eine so harmlose und täppische Person wäre, dass sie Vertheidiger nöthig hätte ! und gerade euch, ihr Ritter von der traurigsten Gestalt, meine Herren Eckensteher und Spinneweber des Geistes ! Zuletzt wisst ihr gut genug, dass nichts daran liegen darf, ob gerade i h r Recht behaltet, ebenfalls dass bisher noch kein Philosoph Recht behalten hat, und dass eine preiswürdigere Wahrhaftigkeit in jedem kleinen Fragezeichen liegen dürfte, welches ihr hinter eure Leibworte und Lieblingslehren (und gelegentlich hinter euch selbst) setzt, als in allen feierlichen Gebärden und Trümpfen vor Anklägern und Gerichtshöfen ! Geht lieber bei Seite ! Flieht in’s Verborgene ! Und habt eure Maske und Feinheit, dass man euch verwechsele ! Oder ein Wenig fürchte ! Und vergesst mir den Garten nicht, den Garten mit goldenem | Gitterwerk ! Und habt Menschen um euch, die wie ein Garten sind, – oder wie Musik über Wassern, zur Zeit des Abends, wo der Tag schon zur Erinnerung wird : – wählt die g ut e Einsamkeit, die freie muthwillige leichte Einsamkeit, welche euch auch ein Recht giebt, selbst in irgend einem Sinne noch gut zu bleiben ! Wie giftig, wie listig, wie schlecht macht jeder lange Krieg, der sich nicht mit offener Gewalt führen lässt ! Wie p e r s ö n l i c h macht eine lange Furcht, ein langes Augenmerk auf

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Feinde, auf mögliche Feinde ! Diese Ausgestossenen der Gesellschaft, diese Lang-Verfolgten, Schlimm-Gehetzten, – auch die Zwangs-Einsiedler, die Spinoza’s oder Giordano Bruno’s – werden zuletzt immer, und sei es unter der geistigsten Maskerade, und vielleicht ohne dass sie selbst es wissen, zu raffinirten Rachsüchtigen und Giftmischern (man grabe doch einmal den Grund der Ethik und Theologie Spinoza’s auf !) – gar nicht zu reden von der Tölpelei der moralischen Entrüstung, welche an einem Philosophen das unfehlbare Zeichen dafür ist, dass ihm der philosophische Humor davon lief. Das Martyrium des Philosophen, seine „Aufopferung für die Wahrheit“ zwingt an’s Licht heraus, was vom Agitator und vom Schauspieler in ihm steckte ; und gesetzt, dass man ihm nur mit einer artistischen Neugierde bisher zugeschaut hat, so kann in Bezug auf manchen Philosophen der gefährliche Wunsch freilich begreiflich sein, ihn auch einmal in seiner Entartung zu sehn (entartet zum „Märtyrer“, zum Bühnen- und TribünenSchreihals). Nur dass man sich, mit einem solchen Wunsche, darüber klar sein muss, w a s man jedenfalls dabei zu sehen bekommen wird : – nur ein Satyrspiel, nur eine NachspielFarce, nur den fortwährenden Beweis dafür, dass die lange eigentliche | Tragödie z u E nd e i s t : vorausgesetzt, dass jede Philosophie im Entstehen eine lange Tragödie war. – 26. Jeder auserlesene Mensch trachtet instinktiv nach seiner Burg und Heimlichkeit, wo er von der Menge, den Vielen, den Allermeisten e rlö s t ist, wo er die Regel „Mensch“ vergessen darf, als deren Ausnahme : – den Einen Fall ausgenommen, dass er von einem noch stärkeren Instinkte geradewegs auf diese Regel gestossen wird, als Erkennender im grossen und ausnahmsweisen Sinne. Wer nicht im Verkehr mit Menschen gelegentlich in allen Farben der Noth, grün und grau vor Ekel, Überdruss, Mitgefühl, Verdüsterung, Vereinsamung schillert,

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der ist gewiss kein Mensch höheren Geschmacks ; gesetzt aber, er nimmt alle diese Last und Unlust nicht freiwillig auf sich, er weicht ihr immerdar aus und bleibt, wie gesagt, still und stolz auf seiner Burg versteckt, nun, so ist Eins gewiss : er ist zur Erkenntniss nicht gemacht, nicht vorherbestimmt. Denn als solcher würde er eines Tages sich sagen müssen „hole der Teufel meinen guten Geschmack ! aber die Regel ist interessanter als die Ausnahme, – als ich, die Ausnahme !“  – und würde sich h i n a b begeben, vor Allem „hinein“. Das Studium des d u r c h s c h n it t l i c h e n Menschen, lang, ernsthaft, und zu diesem Zwecke viel Verkleidung, Selbstüberwindung, Vertraulichkeit, schlechter Umgang – jeder Umgang ist schlechter Umgang ausser dem mit Seines-Gleichen – : das macht ein nothwendiges Stück der Lebensgeschichte jedes Philosophen aus, vielleicht das unangenehmste, übelriechendste, an Enttäuschungen reichste Stück. Hat er aber Glück, wie es einem Glückskinde der Erkenntniss | geziemt, so begegnet er eigentlichen Abkürzern und Erleichterern seiner Aufgabe,  – ich meine sogenannten Cynikern, also Solchen, welche das Thier, die Gemeinheit, die „Regel“ an sich einfach anerkennen und dabei noch jenen Grad von Geistigkeit und Kitzel haben, um über sich und ihres Gleichen vor Z eu g e n reden zu müssen : – mitunter wälzen sie sich sogar in Büchern wie auf ihrem eignen Miste. Cynismus ist die einzige Form, in welcher gemeine Seelen an Das streifen, was Redlichkeit ist ; und der höhere Mensch hat bei jedem gröberen und feineren Cynismus die Ohren aufzumachen und sich jedes Mal Glück zu wünschen, wenn gerade vor ihm der Possenreisser ohne Scham oder der wissenschaftliche Satyr laut werden. Es giebt sogar Fälle, wo zum Ekel sich die Bezauberung mischt : da nämlich, wo an einen solchen indiskreten Bock und Affen, durch eine Laune der Natur, das Genie gebunden ist, wie bei dem Abbé Galiani, dem tiefsten, scharfsichtigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts –

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er war viel tiefer als Voltaire und folglich auch ein gut Theil schweigsamer. Häufiger schon geschieht es, dass, wie angedeutet, der wissenschaftliche Kopf auf einen Affenleib, ein feiner Ausnahme-Verstand auf eine gemeine Seele gesetzt ist, – unter Ärzten und Moral-Physiologen namentlich kein seltenes Vorkommniss. Und wo nur Einer ohne Erbitterung, vielmehr harmlos vom Menschen redet als von einem Bauche mit zweierlei Bedürfnissen und einem Kopfe mit Einem ; überall wo Jemand immer nur Hunger, Geschlechts-Begierde und Eitelkeit sieht, sucht und sehn w i l l , als seien es die eigentlichen und einzigen Triebfedern der menschlichen Handlungen ; kurz, wo man „schlecht“ vom Menschen redet – und nicht einmal s c h l i m m – , da soll der | Liebhaber der Erkenntniss fein und fleissig hinhorchen, er soll seine Ohren überhaupt dort haben, wo ohne Entrüstung geredet wird. Denn der entrüstete Mensch, und wer immer mit seinen eignen Zähnen sich selbst (oder, zum Ersatz dafür, die Welt, oder Gott, oder die Gesellschaft) zerreisst und zerfleischt, mag zwar moralisch gerechnet, höher stehn als der lachende und selbstzufriedene Satyr, in jedem anderen Sinne aber ist er der gewöhnlichere, gleichgültigere, unbelehrendere Fall. Und Niemand lü g t soviel als der Entrüstete. – 27. Es ist schwer, verstanden zu werden : besonders wenn man gangasrotogati denkt und lebt, unter lauter Menschen, welche anders denken und leben, nämlich kurmagati oder besten Falles „nach der Gangart des Frosches“ mandeigagati – ich thue eben Alles, um selbst schwer verstanden zu werden ? – und man soll schon für den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation von Herzen erkenntlich sein. Was aber „die guten Freunde“ anbetriff t, welche immer zu bequem sind und gerade als Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben : so thut man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses zuzuge-

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stehn : – so hat man noch zu lachen ; – oder sie ganz abzuschaffen, diese guten Freunde, – und auch zu lachen ! 28. Was sich am schlechtesten aus einer Sprache in die andere übersetzen lässt, ist das tempo ihres Stils : als welcher im Charakter der Rasse seinen Grund hat, | physiologischer gesprochen, im Durchschnitts-tempo ihres „Stoff wechsels“. Es giebt ehrlich gemeinte Übersetzungen, die beinahe Fälschungen sind, als unfreiwillige Vergemeinerungen des Originals, bloss weil sein tapferes und lustiges tempo nicht mit übersetzt werden konnte, welches über alles Gefährliche in Dingen und Worten wegspringt, weghilft. Der Deutsche ist beinahe des Presto in seiner Sprache unfähig : also, wie man billig schliessen darf, auch vieler der ergötzlichsten und verwegensten Nuances des freien, freigeisterischen Gedankens. So gut ihm der Buffo und der Satyr fremd ist, in Leib und Gewissen, so gut ist ihm Aristophanes und Petronius unübersetzbar. Alles Gravitätische, Schwerflüssige, Feierlich-Plumpe, alle langwierigen und langweiligen Gattungen des Stils sind bei den Deutschen in überreicher Mannichfaltigkeit entwickelt, – man vergebe mir die Thatsache, dass selbst Goethe’s Prosa, in ihrer Mischung von Steifheit und Zierlichkeit, keine Ausnahme macht, als ein Spiegelbild der „alten guten Zeit“, zu der sie gehört, und als Ausdruck des deutschen Geschmacks, zur Zeit, wo es noch einen „deutschen Geschmack“ gab : der ein Rokoko-Geschmack war, in moribus et artibus. Lessing macht eine Ausnahme, Dank seiner Schauspieler-Natur, die Vieles verstand und sich auf Vieles verstand : er, der nicht umsonst der Übersetzer Bayle’s war und sich gerne in die Nähe Diderot’s und Voltaire’s, noch lieber unter die römischen Lustspieldichter flüchtete : – Lessing liebte auch im tempo die Freigeisterei, die Flucht aus Deutschland. Aber wie vermöchte die deutsche Sprache, und sei es selbst in der Prosa

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eines Lessing, das tempo Macchiavell’s nachzuahmen, der, in seinem principe, die trockne feine Luft von Florenz athmen lässt und nicht umhin | kann, die ernsteste Angelegenheit in einem unbändigen Allegrissimo vorzutragen : vielleicht nicht ohne ein boshaftes Artisten-Gefühl davon, welchen Gegensatz er wagt, – Gedanken, lang, schwer, hart, gefährlich, und ein tempo des Galopps und der allerbesten muthwilligsten Laune. Wer endlich dürfte gar eine deutsche Übersetzung des Petronius wagen, der, mehr als irgend ein grosser Musiker bisher, der Meister des presto gewesen ist, in Erfi ndungen, Einfällen, Worten : – was liegt zuletzt an allen Sümpfen der kranken, schlimmen Welt, auch der „alten Welt“, wenn man, wie er, die Füsse eines Windes hat, den Zug und Athem, den befreienden Hohn eines Windes, der Alles gesund macht, indem er Alles l au f e n macht ! Und was Aristophanes angeht, jenen verklärenden, complementären Geist, um dessentwillen man dem ganzen Griechenthum ve r z e i ht , dass es da war, gesetzt, dass man in aller Tiefe begriffen hat, w a s da Alles der Verzeihung, der Verklärung bedarf : – so wüsste ich nichts, was mich über Pl at o’s Verborgenheit und SphinxNatur mehr hat träumen lassen als jenes glücklich erhaltene petit fait : dass man unter dem Kopfkissen seines Sterbelagers keine „Bibel“ vorfand, nichts Ägyptisches, Pythagoreisches, Platonisches, – sondern den Aristophanes. Wie hätte auch ein Plato das Leben ausgehalten – ein griechisches Leben, zu dem er Nein sagte, – ohne einen Aristophanes ! – 29. Es ist die Sache der Wenigsten, unabhängig zu sein : – es ist ein Vorrecht der Starken. Und wer es versucht, auch mit dem besten Rechte dazu, aber ohne es zu mü s s e n , beweist damit, dass er wahrscheinlich | nicht nur stark, sondern bis zur Ausgelassenheit verwegen ist. Er begiebt sich in ein Labyrinth, er vertausendfältigt die Gefahren, welche das Leben an sich

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schon mit sich bringt ; von denen es nicht die kleinste ist, dass Keiner mit Augen sieht, wie und wo er sich verirrt, vereinsamt und stückweise von irgend einem Höhlen-Minotaurus des Gewissens zerrissen wird. Gesetzt, ein Solcher geht zu Grunde, so geschieht es so ferne vom Verständniss der Menschen, dass sie es nicht fühlen und mitfühlen : – und er kann nicht mehr zurück ! er kann auch zum Mitleiden der Menschen nicht mehr zurück ! – – 30. Unsre höchsten Einsichten müssen – und sollen ! – wie Thorheiten, unter Umständen wie Verbrechen klingen, wenn sie unerlaubter Weise Denen zu Ohren kommen, welche nicht dafür geartet und vorbestimmt sind. Das Exoterische und das Esoterische, wie man ehedem unter Philosophen unterschied, bei Indern, wie bei Griechen, Persern und Muselmännern, kurz überall, wo man eine Rangordnung und n ic ht an Gleichheit und gleiche Rechte glaubte, – das hebt sich nicht sowohl dadurch von einander ab, dass der Exoteriker draussen steht und von aussen her, nicht von innen her, sieht, schätzt, misst, urtheilt : das Wesentlichere ist, dass er von Unten hinauf die Dinge sieht, – der Esoteriker aber vo n O b e n he r a b ! Es giebt Höhen der Seele, von wo aus gesehen selbst die Tragödie aufhört, tragisch zu wirken ; und, alles Weh der Welt in Eins genommen, wer dürfte zu entscheiden wagen, ob sein Anblick not hwe nd i g gerade zum Mitleiden und dergestalt zur Verdoppelung des Wehs verführen und zwingen werde ? … | Was der höheren Art von Menschen zur Nahrung oder zur Labsal dient, muss einer sehr unterschiedlichen und geringeren Art beinahe Gift sein. Die Tugenden des gemeinen Manns würden vielleicht an einem Philosophen Laster und Schwächen bedeuten ; es wäre möglich, dass ein hochgearteter Mensch, gesetzt, dass er entartete und zu Grunde gienge, erst dadurch in den Besitz von Eigenschaften käme, derent-

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wegen man nöthig hätte, ihn in der niederen Welt, in welche er hinab sank, nunmehr wie einen Heiligen zu verehren. Es giebt Bücher, welche für Seele und Gesundheit einen umgekehrten Werth haben, je nachdem die niedere Seele, die niedrigere Lebenskraft oder aber die höhere und gewaltigere sich ihrer bedienen : im ersten Falle sind es gefährliche, anbrökkelnde, auflösende Bücher, im anderen Heroldsrufe, welche die Tapfersten zu i h r e r Tapferkeit herausfordern. AllerweltsBücher sind immer übelriechende Bücher : der Kleine-LeuteGeruch klebt daran. Wo das Volk isst und trinkt, selbst wo es verehrt, da pflegt es zu stinken. Man soll nicht in Kirchen gehn, wenn man r e i ne Luft athmen will. – – 31. Man verehrt und verachtet in jungen Jahren noch ohne jene Kunst der Nuance, welche den besten Gewinn des Lebens ausmacht, und muss es billigerweise hart büssen, solchergestalt Menschen und Dinge mit Ja und Nein überfallen zu haben. Es ist Alles darauf eingerichtet, dass der schlechteste aller Geschmäcker, der Geschmack für das Unbedingte grausam genarrt und gemissbraucht werde, bis der Mensch lernt, etwas Kunst in seine Gefühle zu legen und lieber noch mit dem Künstlichen den Versuch zu wagen : wie es die rechten | Artisten des Lebens thun. Das Zornige und Ehrfürchtige, das der Jugend eignet, scheint sich keine Ruhe zu geben, bevor es nicht Menschen und Dinge so zurecht gefälscht hat, dass es sich an ihnen auslassen kann : – Jugend ist an sich schon etwas Fälschendes und Betrügerisches. Später, wenn die junge Seele, durch lauter Enttäuschungen gemartert, sich endlich argwöhnisch gegen sich selbst zurück wendet, immer noch heiss und wild, auch in ihrem Argwohne und Gewissensbisse : wie zürnt sie sich nunmehr, wie zerreisst sie sich ungeduldig, wie nimmt sie Rache für ihre lange Selbst-Verblendung, wie als ob sie eine willkürliche Blindheit gewesen sei ! In diesem

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Übergange bestraft man sich selber, durch Misstrauen gegen sein Gefühl ; man foltert seine Begeisterung durch den Zweifel, ja man fühlt schon das gute Gewissen als eine Gefahr, gleichsam als Selbst-Verschleierung und Ermüdung der feineren Redlichkeit ; und vor Allem, man nimmt Partei, grundsätzlich Partei g e g e n „die Jugend“. – Ein Jahrzehend später : und man begreift, dass auch dies Alles noch – Jugend war ! 32. Die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch – man nennt sie die prähistorische Zeit – wurde der Werth oder der Unwerth einer Handlung aus ihren Folgen abgeleitet : die Handlung an sich kam dabei ebensowenig als ihre Herkunft in Betracht, sondern ungefähr so, wie heute noch in China eine Auszeichnung oder Schande vom Kinde auf die Eltern zurückgreift, so war es die rückwirkende Kraft des Erfolgs oder Misserfolgs, welche den Menschen anleitete, gut oder schlecht von einer Handlung zu denken. Nennen wir | diese Periode die vor mor a l i s c he Periode der Menschheit : der Imperativ „erkenne dich selbst !“ war damals noch unbekannt. In den letzten zehn Jahrtausenden ist man hingegen auf einigen grossen Flächen der Erde Schritt für Schritt so weit gekommen, nicht mehr die Folgen, sondern die Herkunft der Handlung über ihren Werth entscheiden zu lassen : ein grosses Ereigniss als Ganzes, eine erhebliche Verfeinerung des Blicks und Maassstabs, die unbewusste Nachwirkung von der Herrschaft aristokratischer Werthe und des Glaubens an „Herkunft“, das Abzeichen einer Periode, welche man im engeren Sinne als die mor a l i s c he bezeichnen darf : der erste Versuch zur Selbst-Erkenntniss ist damit gemacht. Statt der Folgen die Herkunft : welche Umkehrung der Perspektive ! Und sicherlich eine erst nach langen Kämpfen und Schwankungen erreichte Umkehrung ! Freilich : ein verhängnissvoller neuer Aberglaube, eine eigenthümliche Engigkeit der Inter-

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pretation kam eben damit zur Herrschaft : man interpretirte die Herkunft einer Handlung im allerbestimmtesten Sinne als Herkunft aus einer A b s ic ht ; man wurde Eins im Glauben daran, dass der Werth einer Handlung im Werthe ihrer Absicht belegen sei. Die Absicht als die ganze Herkunft und Vorgeschichte einer Handlung : unter diesem Vorurtheile ist fast bis auf die neueste Zeit auf Erden moralisch gelobt, getadelt, gerichtet, auch philosophirt worden. – Sollten wir aber heute nicht bei der Nothwendigkeit angelangt sein, uns nochmals über eine Umkehrung und Grundverschiebung der Werthe schlüssig zu machen, Dank einer nochmaligen Selbstbesinnung und Vertiefung des Menschen, – sollten wir nicht an der Schwelle einer Periode stehen, welche, negativ, zunächst als die au s s e r mor a l i s c he | zu bezeichnen wäre : heute, wo wenigstens unter uns Immoralisten der Verdacht sich regt, dass gerade in dem, was n ic ht- a b s ic ht l ic h an einer Handlung ist, ihr entscheidender Werth belegen sei, und dass alle ihre Absichtlichkeit, Alles, was von ihr gesehn, gewusst, „bewusst“ werden kann, noch zu ihrer Oberfläche und Haut gehöre, – welche, wie jede Haut, Etwas verräth, aber noch mehr ve r b i r g t ? Kurz, wir glauben, dass die Absicht nur ein Zeichen und Symptom ist, das erst der Auslegung bedarf, dazu ein Zeichen, das zu Vielerlei und folglich für sich allein fast nichts bedeutet, – dass Moral, im bisherigen Sinne, also Absichten-Moral ein Vorurtheil gewesen ist, eine Voreiligkeit, eine Vorläufigkeit vielleicht, ein Ding etwa vom Range der Astrologie und Alchymie, aber jedenfalls Etwas, das überwunden werden muss. Die Überwindung der Moral, in einem gewissen Verstande sogar die Selbstüberwindung der Moral : mag das der Name für jene lange geheime Arbeit sein, welche den feinsten und redlichsten, auch den boshaftesten Gewissen von heute, als lebendigen Probirsteinen der Seele, vorbehalten blieb. –

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33. Es hilft nichts : man muss die Gefühle der Hingebung, der Aufopferung für den Nächsten, die ganze Selbstentäusserungs-Moral erbarmungslos zur Rede stellen und vor Gericht führen : ebenso wie die Aesthetik der „interesselosen Anschauung“, unter welcher sich die Entmännlichung der Kunst verführerisch genug heute ein gutes Gewissen zu schaffen sucht. Es ist viel zu viel Zauber und Zucker in jenen Gefühlen des „für Andere“, des „ n ic ht für mich“, als dass man nicht nöthig hätte, hier doppelt misstrauisch zu werden und zu fragen : „sind | es nicht vielleicht – Ve r f ü h r u n g e n ?“ – Dass sie g e f a l le n – Dem, der sie hat, und Dem, der ihre Früchte geniesst, auch dem blossen Zuschauer, – dies giebt noch kein Argument f ü r sie ab, sondern fordert gerade zur Vorsicht auf. Seien wir also vorsichtig ! 34. Auf welchen Standpunkt der Philosophie man sich heute auch stellen mag : von jeder Stelle aus gesehn ist die I r r t hü m l ic h k e it der Welt, in der wir zu leben glauben, das Sicherste und Festeste, dessen unser Auge noch habhaft werden kann : – wir fi nden Gründe über Gründe dafür, die uns zu Muthmaassungen über ein betrügerisches Princip im „Wesen der Dinge“ verlocken möchten. Wer aber unser Denken selbst, also „den Geist“ für die Falschheit der Welt verantwortlich macht – ein ehrenhafter Ausweg, den jeder bewusste oder unbewusste advocatus dei geht – : wer diese Welt, sammt Raum, Zeit, Gestalt, Bewegung, als falsch e r s c h lo s s e n nimmt : ein Solcher hätte mindestens guten Anlass, gegen alles Denken selbst endlich Misstrauen zu lernen : hätte es uns nicht bisher den allergrössten Schabernack gespielt ? und welche Bürgschaft dafür gäbe es, dass es nicht fortführe, zu thun, was es immer gethan hat ? In allem Ernste : die Unschuld der Denker hat etwas Rührendes und Ehrfurcht Einflössendes, welche ihnen erlaubt, sich auch heute noch vor das Bewusstsein hinzustel-

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len, mit der Bitte, dass es ihnen e h rl ic he Antworten gebe : zum Beispiel ob es „real“ sei, und warum es eigentlich die äussere Welt sich so entschlossen vom Halse halte, und was dergleichen Fragen mehr sind. Der Glaube an „unmittelbare Gewissheiten“ ist eine mor a l i s c he Naivetät, welche uns | Philosophen Ehre macht : aber – wir sollen nun einmal nicht „ nu r moralische“ Menschen sein ! Von der Moral abgesehn, ist jener Glaube eine Dummheit, die uns wenig Ehre macht ! Mag im bürgerlichen Leben das allzeit bereite Misstrauen als Zeichen des „schlechten Charakters“ gelten und folglich unter die Unklugheiten gehören : hier unter uns, jenseits der bürgerlichen Welt und ihres Ja’s und Nein’s, – was sollte uns hindern, unklug zu sein und zu sagen : der Philosoph hat nachgerade ein R e c ht auf „schlechten Charakter“, als das Wesen, welches bisher auf Erden immer am besten genarrt worden ist, – er hat heute die P f l ic ht zum Misstrauen, zum boshaftesten Schielen aus jedem Abgrunde des Verdachts heraus. – Man vergebe mir den Scherz dieser düsteren Fratze und Wendung : denn ich selbst gerade habe längst über Betrügen und Betrogen-werden anders denken, anders schätzen gelernt und halte mindestens ein paar Rippenstösse für die blinde Wuth bereit, mit der die Philosophen sich dagegen sträuben, betrogen zu werden. Warum n ic ht ? Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit mehr werth ist als Schein ; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt giebt. Man gestehe sich doch so viel ein : es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten ; und wollte man, mit der tugendhaften Begeisterung und Tölpelei mancher Philosophen, die „scheinbare Welt“ ganz abschaffen, nun, gesetzt, i h r könntet das, – so bliebe mindestens dabei auch von eurer „Wahrheit“ nichts mehr übrig ! Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von „wahr“ und „falsch“ giebt ? Genügt es nicht, Stufen der Schein|barkeit an-

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zunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesammttöne des Scheins, – verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu reden ? Warum dürfte die Welt, d ie u n s et w a s a n g e ht – , nicht eine Fiktion sein ? Und wer da fragt : „aber zur Fiktion gehört ein Urheber ?“ – dürfte dem nicht rund geantwortet werden : Wa r u m ? Gehört dieses „Gehört“ nicht vielleicht mit zur Fiktion ? Ist es denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein Wenig ironisch zu sein ? Dürfte sich der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben ? Alle Achtung vor den Gouvernanten : aber wäre es nicht an der Zeit, dass die Philosophie dem Gouvernanten-Glauben absagte ? – 35. Oh Voltaire ! Oh Humanität ! Oh Blödsinn ! Mit der „Wahrheit“, mit dem S uc he n der Wahrheit hat es etwas auf sich ; und wenn der Mensch es dabei gar zu menschlich treibt – „il ne cherche le vrai que pour faire le bien“ – ich wette, er fi ndet nichts ! 36. Gesetzt, dass nichts Anderes als real „gegeben“ ist als unsre Welt der Begierden und Leidenschaften, dass wir zu keiner anderen „Realität“ hinab oder hinauf können als gerade zur Realität unsrer Triebe – denn Denken ist nur ein Verhalten dieser Triebe zu einander – : ist es nicht erlaubt, den Versuch zu machen und die Frage zu fragen, ob dies Gegeben nicht au s r e ic ht , um aus Seines-Gleichen auch die sogenannte mechanistische (oder „materielle“) Welt zu verstehen ? Ich meine nicht als eine Täuschung, einen „Schein“, | eine „Vorstellung“ (im Berkeley’schen und Schopenhauerischen Sinne), sondern als vom gleichen Realitäts-Range, welchen unser Affekt selbst hat, – als eine primitivere Form der Welt der Affekte, in der noch Alles in mächtiger Einheit beschlossen liegt, was sich dann im organischen Prozesse abzweigt und ausgestaltet (auch, wie

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billig, verzärtelt und abschwächt –), als eine Art von Triebleben, in dem noch sämmtliche organische Funktionen, mit Selbst-Regulirung, Assimilation, Ernährung, Ausscheidung, Stoff wechsel, synthetisch gebunden in einander sind, – als eine Vor f or m des Lebens ? – Zuletzt ist es nicht nur erlaubt, diesen Versuch zu machen : es ist, vom Gewissen der Met ho d e aus, geboten. Nicht mehrere Arten von Causalität annehmen, so lange nicht der Versuch, mit einer einzigen auszureichen, bis an seine äusserste Grenze getrieben ist (– bis zum Unsinn, mit Verlaub zu sagen) : das ist eine Moral der Methode, der man sich heute nicht entziehen darf ; – es folgt „aus ihrer Defi nition“, wie ein Mathematiker sagen würde. Die Frage ist zuletzt, ob wir den Willen wirklich als w i r k e nd anerkennen, ob wir an die Causalität des Willens glauben : thun wir das – und im Grunde ist der Glaube d a r a n eben unser Glaube an Causalität selbst – , so mü s s e n wir den Versuch machen, die Willens-Causalität hypothetisch als die einzige zu setzen. „Wille“ kann natürlich nur auf „Wille“ wirken – und nicht auf „Stoffe“ (nicht auf „Nerven“ zum Beispiel –) : genug, man muss die Hypothese wagen, ob nicht überall, wo „Wirkungen“ anerkannt werden, Wille auf Wille wirkt – und ob nicht alles mechanische Geschehen, insofern eine Kraft darin thätig wird, eben Willenskraft, Willens-Wirkung ist. – Gesetzt endlich, dass es gelänge, unser gesammtes | Triebleben als die Ausgestaltung und Verzweigung Einer Grundform des Willens zu erklären – nämlich des Willens zur Macht, wie es me i n Satz ist – ; gesetzt, dass man alle organischen Funktionen auf diesen Willen zur Macht zurückführen könnte und in ihm auch die Lösung des Problems der Zeugung und Ernährung – es ist Ein Problem – fände, so hätte man damit sich das Recht verschaff t, a l le wirkende Kraft eindeutig zu bestimmen als : W i l le z u r M ac ht . Die Welt von innen gesehen, die Welt auf ihren „intelligiblen Charakter“ hin bestimmt und bezeichnet – sie wäre eben „Wille zur Macht“ und nichts ausserdem. –

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37. „Wie ? Heisst das nicht, populär geredet : Gott ist widerlegt, der Teufel aber nicht – ?“ Im Gegentheil ! Im Gegentheil, meine Freunde ! Und, zum Teufel auch, wer zwingt euch, populär zu reden ! – 38. Wie es zuletzt noch, in aller Helligkeit der neueren Zeiten, mit der französischen Revolution gegangen ist, jener schauerlichen und aus der Nähe beurtheilt, überflüssigen Posse, in welche aber die edlen und schwärmerischen Zuschauer von ganz Europa aus der Ferne her so lange und so leidenschaftlich ihre eignen Empörungen und Begeisterungen hinein interpretirt haben, b i s d e r Te x t u nt e r d e r I nt e r p r e t a t io n ve r s c hw a n d : so könnte eine edle Nachwelt noch einmal die ganze Vergangenheit missverstehn und dadurch vielleicht erst ihren Anblick erträglich machen. – Oder vielmehr : ist dies nicht bereits geschehen ? waren wir nicht selbst – diese „edle Nachwelt“ ? Und ist es nicht gerade jetzt, insofern wir dies begreifen, – damit vorbei ? | 39. Niemand wird so leicht eine Lehre, bloss weil sie glücklich macht, oder tugendhaft macht, deshalb für wahr halten : die lieblichen „Idealisten“ etwa ausgenommen, welche für das Gute, Wahre, Schöne schwärmen und in ihrem Teiche alle Arten von bunten plumpen und gutmüthigen Wünschbarkeiten durcheinander schwimmen lassen. Glück und Tugend sind keine Argumente. Man vergisst aber gerne, auch auf Seiten besonnener Geister, dass Unglücklich-machen und Bösemachen ebensowenig Gegenargumente sind. Etwas dürfte wahr sein : ob es gleich im höchsten Grade schädlich und gefährlich wäre ; ja es könnte selbst zur Grundbeschaffenheit des Daseins gehören, dass man an seiner völligen Erkenntniss zu Grunde gienge, – so dass sich die Stärke eines Geistes darnach bemässe, wie viel er von der „Wahrheit“ gerade noch

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aushielte, deutlicher, bis zu welchem Grade er sie verdünnt, verhüllt, versüsst, verdumpft, verfälscht nöt h i g h ät t e. Aber keinem Zweifel unterliegt es, dass für die Entdeckung gewisser T he i le der Wahrheit die Bösen und Unglücklichen begünstigter sind und eine grössere Wahrscheinlichkeit des Gelingens haben ; nicht zu reden von den Bösen, die glücklich sind, – eine Species, welche von den Moralisten verschwiegen wird. Vielleicht, dass Härte und List günstigere Bedingungen zur Entstehung des starken, unabhängigen Geistes und Philosophen abgeben, als jene sanfte feine nachgebende Gutartigkeit und Kunst des Leicht-nehmens, welche man an einem Gelehrten schätzt und mit Recht schätzt. Vorausgesetzt, was voran steht, dass man den Begriff „Philosoph“ nicht auf den Philosophen einengt, der Bücher schreibt – oder gar s e i ne Philosophie in Bücher bringt ! – Einen | letzten Zug zum Bilde des freigeisterischen Philosophen bringt Stendhal bei, den ich um des deutschen Geschmacks willen nicht unterlassen will zu unterstreichen : – denn er geht w id e r den deutschen Geschmack. „Pour être bon philosophe“, sagt dieser letzte grosse Psycholog, „il faut être sec, clair, sans illusion. Un banquier, qui a fait fortune, a une partie du caractère requis pour faire des découvertes en philosophie, c’est-à-dire pour voir clair dans ce qui est.“ 40. Alles, was tief ist, liebt die Maske ; die allertiefsten Dinge haben sogar einen Hass auf Bild und Gleichniss. Sollte nicht erst der G e g e n s at z die rechte Verkleidung sein, in der die Scham eines Gottes einhergienge ? Eine fragwürdige Frage : es wäre wunderlich, wenn nicht irgend ein Mystiker schon dergleichen bei sich gewagt hätte. Es giebt Vorgänge so zarter Art, dass man gut thut, sie durch eine Grobheit zu verschütten und unkenntlich zu machen ; es giebt Handlungen der Liebe und einer ausschweifenden Grossmuth, hinter denen nichts räthlicher ist, als einen Stock zu nehmen und den Augenzeu-

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gen durchzuprügeln, damit trübt man dessen Gedächtniss. Mancher versteht sich darauf, das eigne Gedächtniss zu trüben und zu misshandeln, um wenigstens an diesem einzigen Mitwisser seine Rache zu haben : – die Scham ist erfi nderisch. Es sind nicht die schlimmsten Dinge, deren man sich am schlimmsten schämt : es ist nicht nur Arglist hinter einer Maske, – es giebt so viel Güte in der List. Ich könnte mir denken, dass ein Mensch, der etwas Kostbares und Verletzliches zu bergen hätte, grob und rund wie ein grünes altes schwerbeschlagenes Weinfass | durch’s Leben rollte : die Feinheit seiner Scham will es so. Einem Menschen, der Tiefe in der Scham hat, begegnen auch seine Schicksale und zarten Entscheidungen auf Wegen, zu denen Wenige je gelangen, und um deren Vorhandensein seine Nächsten und Vertrautesten nicht wissen dürfen : seine Lebensgefahr verbirgt sich ihren Augen und ebenso seine wieder eroberte Lebens-Sicherheit. Ein solcher Verborgener, der aus Instinkt das Reden zum Schweigen und Verschweigen braucht und unerschöpflich ist in der Ausflucht vor Mittheilung, w i l l es und fördert es, dass eine Maske von ihm an seiner Statt in den Herzen und Köpfen seiner Freunde herum wandelt ; und gesetzt, er will es nicht, so werden ihm eines Tages die Augen darüber aufgehn, dass es trotzdem dort eine Maske von ihm giebt, – und dass es gut so ist. Jeder tiefe Geist braucht eine Maske : mehr noch, um jeden tiefen Geist wächst fortwährend eine Maske, Dank der beständig falschen, nämlich f l ac he n Auslegung jedes Wortes, jedes Schrittes, jedes Lebens-Zeichens, das er giebt. – 41. Man muss sich selbst seine Proben geben, dafür dass man zur Unabhängigkeit und zum Befehlen bestimmt ist ; und dies zur rechten Zeit. Man soll seinen Proben nicht aus dem Wege gehn, obgleich sie vielleicht das gefährlichste Spiel sind, das man spielen kann, und zuletzt nur Proben, die vor uns selber

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als Zeugen und vor keinem anderen Richter abgelegt werden. Nicht an einer Person hängen bleiben : und sei sie die geliebteste, – jede Person ist ein Gefängniss, auch ein Winkel. Nicht an einem Vaterlande hängen bleiben : und sei es das leidendste und hülf bedürftigste, | – es ist schon weniger schwer, sein Herz von einem siegreichen Vaterlande los zu binden. Nicht an einem Mitleiden hängen bleiben : und gälte es höheren Menschen, in deren seltne Marter und Hülflosigkeit uns ein Zufall hat blicken lassen. Nicht an einer Wissenschaft hängen bleiben : und locke sie Einen mit den kostbarsten, anscheinend gerade u n s aufgesparten Funden. Nicht an seiner eignen Loslösung hängen bleiben, an jener wollüstigen Ferne und Fremde des Vogels, der immer weiter in die Höhe fl ieht, um immer mehr unter sich zu sehn : – die Gefahr des Fliegenden. Nicht an unsern eignen Tugenden hängen bleiben und als Ganzes das Opfer irgend einer Einzelheit an uns werden, zum Beispiel unsrer „Gastfreundschaft“ : wie es die Gefahr der Gefahren bei hochgearteten und reichen Seelen ist, welche verschwenderisch, fast gleichgültig mit sich selbst umgehn und die Tugend der Liberalität bis zum Laster treiben. Man muss wissen, s ic h z u b ew a h r e n : stärkste Probe der Unabhängigkeit. 42. Eine neue Gattung von Philosophen kommt herauf : ich wage es, sie auf einen nicht ungefährlichen Namen zu taufen. So wie ich sie errathe, so wie sie sich errathen lassen – denn es gehört zu ihrer Art, irgend worin Räthsel bleiben zu wol le n –, möchten diese Philosophen der Zukunft ein Recht, vielleicht auch ein Unrecht darauf haben, als Ver s uc her bezeichnet zu werden. Dieser Name selbst ist zuletzt nur ein Versuch, und, wenn man will, eine Versuchung.

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43. Sind es neue Freunde der „Wahrheit“, diese kommenden Philosophen ? Wahrscheinlich genug : denn alle | Philosophen liebten bisher ihre Wahrheiten. Sicherlich aber werden es keine Dogmatiker sein. Es muss ihnen wider den Stolz gehn, auch wider den Geschmack, wenn ihre Wahrheit gar noch eine Wahrheit für Jedermann sein soll : was bisher der geheime Wunsch und Hintersinn aller dogmatischen Bestrebungen war. „Mein Urtheil ist me i n Urtheil : dazu hat nicht leicht auch ein Anderer das Recht“ – sagt vielleicht solch ein Philosoph der Zukunft. Man muss den schlechten Geschmack von sich abthun, mit Vielen übereinstimmen zu wollen. „Gut“ ist nicht mehr gut, wenn der Nachbar es in den Mund nimmt. Und wie könnte es gar ein „Gemeingut“ geben ! Das Wort widerspricht sich selbst : was gemein sein kann, hat immer nur wenig Werth. Zuletzt muss es so stehn, wie es steht und immer stand : die grossen Dinge bleiben für die Grossen übrig, die Abgründe für die Tiefen, die Zartheiten und Schauder für die Feinen, und, im Ganzen und Kurzen, alles Seltene für die Seltenen. – 44. Brauche ich nach alledem noch eigens zu sagen, dass auch sie freie, s e h r freie Geister sein werden, diese Philosophen der Zukunft, – so gewiss sie auch nicht bloss freie Geister sein werden, sondern etwas Mehreres, Höheres, Grösseres und Gründlich-Anderes, das nicht verkannt und verwechselt werden will ? Aber, indem ich dies sage, fühle ich fast ebenso sehr gegen sie selbst, als gegen uns, die wir ihre Herolde und Vorläufer sind, wir freien Geister ! – die S c hu ld i g k e it , ein altes dummes Vorurtheil und Missverständniss von uns gemeinsam fortzublasen, welches allzulange wie ein Nebel den Begriff „freier Geist“ undurchsichtig gemacht hat. In | allen Ländern Europa’s und ebenso in Amerika giebt es jetzt Etwas, das Missbrauch mit diesem Namen treibt, eine sehr enge,

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eingefangne, an Ketten gelegte Art von Geistern, welche ungefähr das Gegentheil von dem wollen, was in unsern Absichten und Instinkten liegt, – nicht zu reden davon, dass sie in Hinsicht auf jene heraufkommenden neue n Philosophen erst recht zugemachte Fenster und verriegelte Thüren sein müssen. Sie gehören, kurz und schlimm, unter die N i ve l l i r e r, diese fälschlich genannten „freien Geister“ – als beredte und schreibfi ngrige Sklaven des demokratischen Geschmacks und seiner „modernen Ideen“ : allesammt Menschen ohne Einsamkeit, ohne eigne Einsamkeit, plumpe brave Burschen, welchen weder Muth noch achtbare Sitte abgesprochen werden soll, nur dass sie eben unfrei und zum Lachen oberflächlich sind, vor Allem mit ihrem Grundhange, in den Formen der bisherigen alten Gesellschaft ungefähr die Ursache für a l le s menschliche Elend und Missrathen zu sehn : wobei die Wahrheit glücklich auf den Kopf zu stehn kommt ! Was sie mit allen Kräften erstreben möchten, ist das allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde, mit Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Erleichterung des Lebens für Jedermann ; ihre beiden am reichlichsten abgesungnen Lieder und Lehren heissen „Gleichheit der Rechte“ und „Mitgefühl für alles Leidende“, – und das Leiden selbst wird von ihnen als Etwas genommen, das man a b s c h a f f e n muss. Wir Umgekehrten, die wir uns ein Auge und ein Gewissen für die Frage aufgemacht haben, wo und wie bisher die Pflanze „Mensch“ am kräftigsten in die Höhe gewachsen ist, vermeinen, dass dies jedes Mal unter den umgekehrten Bedingungen geschehn ist, dass dazu die Gefährlichkeit | seiner Lage erst in’s Ungeheure wachsen, seine Erfi ndungs- und Verstellungskraft (sein „Geist“ –) unter langem Druck und Zwang sich in’s Feine und Verwegene entwikkeln, sein Lebens-Wille bis zum unbedingten Macht-Willen gesteigert werden musste : – wir vermeinen, dass Härte, Gewaltsamkeit, Sklaverei, Gefahr auf der Gasse und im Herzen, Verborgenheit, Stoicismus, Versucherkunst und Teufelei jeder

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Art, dass alles Böse, Furchtbare, Tyrannische, Raubthier- und Schlangenhafte am Menschen so gut zur Erhöhung der Species „Mensch“ dient, als sein Gegensatz : – wir sagen sogar nicht einmal genug, wenn wir nur so viel sagen und befi nden uns jedenfalls, mit unserm Reden und Schweigen an dieser Stelle, am a nd e r n Ende aller modernen Ideologie und Heerden-Wünschbarkeit : als deren Antipoden vielleicht ? Was Wunder, dass wir „freien Geister“ nicht gerade die mittheilsamsten Geister sind ? dass wir nicht in jedem Betrachte zu verrathen wünschen, wovon ein Geist sich frei machen kann und woh i n er dann vielleicht getrieben wird ? Und was es mit der gefährlichen Formel „jenseits von Gut und Böse“ auf sich hat, mit der wir uns zum Mindesten vor Verwechslung behüten : wir s i n d etwas Anderes als „libre-penseurs“, „liberi pensatori“, „Freidenker“ und wie alle diese braven Fürsprecher der „modernen Ideen“ sich zu benennen lieben. In vielen Ländern des Geistes zu Hause, mindestens zu Gaste gewesen ; den dumpfen angenehmen Winkeln immer wieder entschlüpft, in die uns Vorliebe und Vorhass, Jugend, Abkunft, der Zufall von Menschen und Büchern, oder selbst die Ermüdungen der Wanderschaft zu bannen schienen ; voller Bosheit gegen die Lockmittel der Abhängigkeit, welche in Ehren, oder Geld, oder Ämtern, oder Begeisterungen | der Sinne versteckt liegen ; dankbar sogar gegen Noth und wechselreiche Krankheit, weil sie uns immer von irgend einer Regel und ihrem „Vorurtheil“ losmachte, dankbar gegen Gott, Teufel, Schaf und Wurm in uns, neugierig bis zum Laster, Forscher bis zur Grausamkeit, mit unbedenklichen Fingern für Unfassbares, mit Zähnen und Mägen für das Unverdaulichste, bereit zu jedem Handwerk, das Scharfsinn und scharfe Sinne verlangt, bereit zu jedem Wagniss, Dank einem Überschusse von „freiem Willen“, mit Vorder- und Hinterseelen, denen Keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit Vorder- und Hintergründen, welche kein Fuss zu Ende laufen dürfte, Verborgene

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unter den Mänteln des Lichts, Erobernde, ob wir gleich Erben und Verschwendern gleich sehn, Ordner und Sammler von früh bis Abend, Geizhälse unsres Reichthums und unsrer vollgestopften Schubfächer, haushälterisch im Lernen und Vergessen, erfi nderisch in Schematen, mitunter stolz auf Kategorien-Tafeln, mitunter Pedanten, mitunter Nachteulen der Arbeit auch am hellen Tage ; ja, wenn es noth thut, selbst Vogelscheuchen – und heute thut es noth : nämlich insofern wir die geborenen geschworenen eifersüchtigen Freunde der E i n s a m k e it sind, unsrer eignen tiefsten mitternächtlichsten mittäglichsten Einsamkeit : – eine solche Art Menschen sind wir, wir freien Geister ! und vielleicht seid auch i h r etwas davon, ihr Kommenden ? ihr neue n Philosophen ? – |

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45. Die menschliche Seele und ihre Grenzen, der bisher überhaupt erreichte Umfang menschlicher innerer Erfahrungen, die Höhen, Tiefen und Fernen dieser Erfahrungen, die ganze b i s he r i g e Geschichte der Seele und ihre noch unausgetrunkenen Möglichkeiten : das ist für einen geborenen Psychologen und Freund der „grossen Jagd“ das vorbestimmte Jagdbereich. Aber wie oft muss er sich verzweifelt sagen : „ein Ein zelner ! ach, nur ein Einzelner ! und dieser grosse Wald und Urwald !“ Und so wünscht er sich einige hundert Jagdgehülfen und feine gelehrte Spürhunde, welche er in die Geschichte der menschlichen Seele treiben könnte, um dort s e i n Wild zusammenzutreiben. Umsonst : er erprobt es immer wieder, gründlich und bitterlich, wie schlecht zu allen Dingen, die gerade seine Neugierde reizen, Gehülfen und Hunde zu fi nden sind. Der Übelstand, den es hat, Gelehrte auf neue und gefährliche Jagdbereiche auszuschicken, wo Muth, Klugheit, Feinheit in jedem Sinne noth thun, liegt darin, dass sie gerade dort nicht mehr brauchbar sind, wo die „ g r o s s e Jagd“, aber auch die grosse Gefahr beginnt : – gerade dort verlieren sie ihr Spürauge und ihre Spürnase. Um zum Beispiel zu errathen und festzustellen, was für eine Geschichte bisher das Problem von W i s s e n u nd G ew i s s e n in der Seele der homines religiosi gehabt hat, dazu müsste Einer vielleicht selbst so tief, so verwundet, so ungeheuer sein, wie es das intellektuelle Gewissen Pascal’s war : – und dann bedürfte es immer | noch jenes ausgespannten Himmels von heller, boshafter Geistigkeit, welcher von Oben herab dies Gewimmel von gefährlichen und schmerzlichen Erlebnissen zu übersehn, zu ordnen, in

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Formeln zu zwingen vermöchte. – Aber wer thäte mir diesen Dienst ! Aber wer hätte Zeit, auf solche Diener zu warten ! – sie wachsen ersichtlich zu selten, sie sind zu allen Zeiten so unwahrscheinlich ! Zuletzt muss man Alles s e l b e r thun, um selber Einiges zu wissen : das heisst, man hat v ie l zu thun ! – Aber eine Neugierde meiner Art bleibt nun einmal das angenehmste aller Laster, – Verzeihung ! ich wollte sagen : die Liebe zur Wahrheit hat ihren Lohn im Himmel und schon auf Erden. – 46. Der Glaube, wie ihn das erste Christenthum verlangt und nicht selten erreicht hat, inmitten einer skeptischen und südlich-freigeisterischen Welt, die einen Jahrhunderte langen Kampf von Philosophenschulen hinter sich und in sich hatte, hinzugerechnet die Erziehung zur Toleranz, welche das imperium Romanum gab, – dieser Glaube ist n ic ht jener treuherzige und bärbeissige Unterthanen-Glaube, mit denen etwa ein Luther oder ein Cromwell oder sonst ein nordischer Barbar des Geistes an ihrem Gotte und Christenthum gehangen haben ; viel eher schon jener Glaube Pascal’s, der auf schreckliche Weise einem dauernden Selbstmorde der Vernunft ähnlich sieht, – einer zähen langlebigen wurmhaften Vernunft, die nicht mit Einem Male und Einem Streiche todtzumachen ist. Der christliche Glaube ist von Anbeginn Opferung : Opferung aller Freiheit, alles Stolzes, aller Selbstgewissheit des Geistes ; zugleich Verknechtung und Selbst-Verhöhnung, Selbst-Verstümmelung. Es ist Grausamkeit und religiöser | Phönicismus in diesem Glauben, der einem mürben, vielfachen und viel verwöhnten Gewissen zugemuthet wird : seine Voraussetzung ist, dass die Unterwerfung des Geistes unbeschreiblich we he t hut , dass die ganze Vergangenheit und Gewohnheit eines solchen Geistes sich gegen das Absurdissimum wehrt, als welches ihm der „Glaube“ entgegentritt. Die modernen Menschen, mit ihrer Abstumpfung gegen alle

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christliche Nomenklatur, fühlen das Schauerlich-Superlativische nicht mehr nach, das für einen antiken Geschmack in der Paradoxie der Formel „Gott am Kreuze“ lag. Es hat bisher noch niemals und nirgendswo eine gleiche Kühnheit im Umkehren, etwas gleich Furchtbares, Fragendes und Fragwürdiges gegeben wie diese Formel : sie verhiess eine Umwerthung aller antiken Werthe. – Es ist der Orient, der t ie f e Orient, es ist der orientalische Sklave, der auf diese Weise an Rom und seiner vornehmen und frivolen Toleranz, am römischen „Katholicismus“ des Glaubens Rache nahm : – und immer war es nicht der Glaube, sondern die Freiheit vom Glauben, jene halb stoische und lächelnde Unbekümmertheit um den Ernst des Glaubens, was die Sklaven an ihren Herrn, gegen ihre Herrn empört hat. Die „Aufklärung“ empört : der Sklave nämlich will Unbedingtes, er versteht nur das Tyrannische, auch in der Moral, er liebt wie er hasst, ohne Nuance, bis in die Tiefe, bis zum Schmerz, bis zur Krankheit, – sein vieles ve r b or g e ne s Leiden empört sich gegen den vornehmen Geschmack, der das Leiden zu leu g ne n scheint. Die Skepsis gegen das Leiden, im Grunde nur eine Attitude der aristokratischen Moral, ist nicht am wenigsten auch an der Entstehung des letzten grossen Sklaven-Aufstandes betheiligt, welcher mit der französischen Revolution begonnen hat. | 47. Wo nur auf Erden bisher die religiöse Neurose aufgetreten ist, fi nden wir sie verknüpft mit drei gefährlichen Diät-Verordnungen : Einsamkeit, Fasten und geschlechtlicher Enthaltsamkeit, – doch ohne dass hier mit Sicherheit zu entscheiden wäre, was da Ursache, was Wirkung sei, und o b hier überhaupt ein Verhältniss von Ursache und Wirkung vorliege. Zum letzten Zweifel berechtigt, dass gerade zu ihren regelmässigsten Symptomen, bei wilden wie bei zahmen Völkern, auch die plötzlichste ausschweifendste Wollüstigkeit gehört, welche

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dann, ebenso plötzlich, in Busskrampf und Welt- und WillensVerneinung umschlägt : beides vielleicht als maskirte Epilepsie deutbar ? Aber nirgendswo sollte man sich der Deutungen mehr entschlagen : um keinen Typus herum ist bisher eine solche Fülle von Unsinn und Aberglauben aufgewachsen, keiner scheint bisher die Menschen, selbst die Philosophen, mehr interessirt zu haben, – es wäre an der Zeit, hier gerade ein Wenig kalt zu werden, Vorsicht zu lernen, besser noch : wegzusehn, we g z u g e h n . – Noch im Hintergrunde der letztgekommenen Philosophie, der Schopenhauerischen, steht, beinahe als das Problem an sich, dieses schauerliche Fragezeichen der religiösen Krisis und Erweckung. Wie ist Willensverneinung mög l ic h ? wie ist der Heilige möglich ? – das scheint wirklich die Frage gewesen zu sein, bei der Schopenhauer zum Philosophen wurde und anfieng. Und so war es eine ächt Schopenhauerische Consequenz, dass sein überzeugtester Anhänger (vielleicht auch sein letzter, was Deutschland betriff t –) nämlich Richard Wagner, das eigne Lebenswerk gerade hier zu Ende brachte und zuletzt noch jenen furchtbaren und ewigen Typus | als Kundry auf der Bühne vorführte : type vécu, und wie er leibt und lebt ; zu gleicher Zeit, wo die Irrenärzte fast aller Länder Europa’s einen Anlass hatten, ihn aus der Nähe zu studiren, überall, wo die religiöse Neurose – oder, wie ich es nenne, „das religiöse Wesen“ – als „Heilsarmee“ ihren letzten epidemischen Ausbruch und Aufzug gemacht hat. – Fragt man sich aber, was eigentlich am ganzen Phänomen des Heiligen den Menschen aller Art und Zeit, auch den Philosophen, so unbändig interessant gewesen ist : so ist es ohne allen Zweifel der ihm anhaftende Anschein des Wunders, nämlich der unmittelbaren A u f e i n a n d e r f ol g e vo n G e g e n s ä t z e n , von moralisch entgegengesetzt gewertheten Zuständen der Seele : man glaubte hier mit Händen zu greifen, dass aus einem „schlechten Menschen“ mit Einem Male ein „Heiliger“, ein guter Mensch werde. Die bisherige Psychologie litt an

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dieser Stelle Schiff bruch : sollte es nicht vornehmlich darum geschehen sein, weil sie sich unter die Herrschaft der Moral gestellt hatte, weil sie an die moralischen Werth-Gegensätze selbst g l au bt e, und diese Gegensätze in den Text u nd Thatbestand hineinsah, hineinlas, hinein d e u t e t e ? – Wie ? Das „Wunder“ nur ein Fehler der Interpretation ? Ein Mangel an Philologie ? – 48. Es scheint, dass den lateinischen Rassen ihr Katholicismus viel innerlicher zugehört, als uns Nordländern das ganze Christenthum überhaupt : und dass folglich der Unglaube in katholischen Ländern etwas ganz Anderes zu bedeuten hat, als in protestantischen – nämlich eine Art Empörung gegen den Geist der Rasse, während er bei uns eher eine Rückkehr zum Geist | (oder Ungeist –) der Rasse ist. Wir Nordländer stammen unzweifelhaft aus Barbaren-Rassen, auch in Hinsicht auf unsere Begabung zur Religion : wir sind s c h le c ht für sie begabt. Man darf die Kelten ausnehmen, welche deshalb auch den besten Boden für die Aufnahme der christlichen Infektion im Norden abgegeben haben : – in Frankreich kam das christliche Ideal, soweit es nur die blasse Sonne des Nordens erlaubt hat, zum Ausblühen. Wie fremdartig fromm sind unserm Geschmack selbst diese letzten französischen Skeptiker noch, sofern etwas keltisches Blut in ihrer Abkunft ist ! Wie katholisch, wie undeutsch riecht uns Auguste Comte’s Sociologie mit ihrer römischen Logik der Instinkte ! Wie jesuitisch jener liebenswürdige und kluge Cicerone von Port-Royal, SainteBeuve, trotz all seiner Jesuiten-Feindschaft ! Und gar Ernest Renan : wie unzugänglich klingt uns Nordländern die Sprache solch eines Renan, in dem alle Augenblicke irgend ein Nichts von religiöser Spannung seine in feinerem Sinne wollüstige und bequem sich bettende Seele um ihr Gleichgewicht bringt ! Man spreche ihm einmal diese schönen Sätze nach, – und was für Bosheit und Übermuth regt sich sofort in unserer wahr-

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scheinlich weniger schönen und härteren, nämlich deutscheren Seele als Antwort ! – „disons donc hardiment que la religion est un produit de l’homme normal, que l’homme est le plus dans le vrai quand il est le plus religieux et le plus assuré d’une destinée infi nie … C’est quand il est bon qu’il veut que la vertu corresponde à un ordre éternel, c’est quand il contemple les choses d’une manière désintéressée qu’il trouve la mort révoltante et absurde. Comment ne pas supposer que c’est dans ces moments-là, que | l’homme voit le mieux ? …“ Diese Sätze sind meinen Ohren und Gewohnheiten so sehr a nt i p o d i s c h , dass, als ich sie fand, mein erster Ingrimm daneben schrieb „la niaiserie religieuse par excellence !“ – bis mein letzter Ingrimm sie gar noch lieb gewann, diese Sätze mit ihrer auf den Kopf gestellten Wahrheit ! Es ist so artig, so auszeichnend, seine eignen Antipoden zu haben ! 49. Das, was an der Religiosität der alten Griechen staunen macht, ist die unbändige Fülle von Dankbarkeit, welche sie ausströmt : – es ist eine sehr vornehme Art Mensch, welche s o vor der Natur und vor dem Leben steht ! – Später, als der Pöbel in Griechenland zum Übergewicht kommt, überwuchert die F u r c ht auch in der Religion ; und das Christenthum bereitete sich vor. – 50. Die Leidenschaft für Gott : es giebt bäurische, treuherzige und zudringliche Arten, wie die Luther’s, – der ganze Protestantismus entbehrt der südlichen delicatezza. Es giebt ein orientalisches Aussersichsein darin, wie bei einem unverdient begnadeten oder erhobenen Sklaven, zum Beispiel bei Augustin, der auf eine beleidigende Weise aller Vornehmheit der Gebärden und Begierden ermangelt. Es giebt frauenhafte Zärtlichkeit und Begehrlichkeit darin, welche schamhaft und unwissend nach einer unio mystica et physica drängt : wie bei Madame

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de Guyon. In vielen Fällen erscheint sie wunderlich genug als Verkleidung der Pubertät eines Mädchens oder Jünglings ; hier und da selbst als Hysterie einer alten Jungfer, auch als deren letzter Ehrgeiz : – die Kirche hat das Weib schon mehrfach in einem solchen Falle heilig gesprochen. | 51. Bisher haben sich die mächtigsten Menschen immer noch verehrend vor dem Heiligen gebeugt, als dem Räthsel der Selbstbezwingung und absichtlichen letzten Entbehrung : warum beugten sie sich ? Sie ahnten in ihm – und gleichsam hinter dem Fragezeichen seines gebrechlichen und kläglichen Anscheins – die überlegene Kraft, welche sich an einer solchen Bezwingung erproben wollte, die Stärke des Willens, in der sie die eigne Stärke und herrschaftliche Lust wieder erkannten und zu ehren wussten : sie ehrten Etwas an sich, wenn sie den Heiligen ehrten. Es kam hinzu, dass der Anblick des Heiligen ihnen einen Argwohn eingab : ein solches Ungeheures von Verneinung, von Wider-Natur wird nicht umsonst begehrt worden sein, so sagten und fragten sie sich. Es giebt vielleicht einen Grund dazu, eine ganz grosse Gefahr, über welche der Asket, Dank seinen geheimen Zusprechern und Besuchern, näher unterrichtet sein möchte ? Genug, die Mächtigen der Welt lernten vor ihm eine neue Furcht, sie ahnten eine neue Macht, einen fremden, noch unbezwungenen Feind : – der „Wille zur Macht“ war es, der sie nöthigte, vor dem Heiligen stehen zu bleiben. Sie mussten ihn fragen – – 52. Im jüdischen „alten Testament“, dem Buche von der göttlichen Gerechtigkeit, giebt es Menschen, Dinge und Reden in einem so grossen Stile, dass das griechische und indische Schriftenthum ihm nichts zur Seite zu stellen hat. Man steht mit Schrecken und Ehrfurcht vor diesen ungeheuren Über-

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bleibseln dessen, was der Mensch einstmals war, und wird dabei über das alte Asien und sein vorgeschobenes Halbinselchen Europa, | das durchaus gegen Asien den „Fortschritt des Menschen“ bedeuten möchte, seine traurigen Gedanken haben. Freilich : wer selbst nur ein dünnes zahmes Hausthier ist und nur Hausthier-Bedürfnisse kennt (gleich unsren Gebildeten von heute, die Christen des „gebildeten“ Christenthums hinzugenommen –), der hat unter jenen Ruinen weder sich zu verwundern, noch gar sich zu betrüben – der Geschmack am alten Testament ist ein Prüfstein in Hinsicht auf „Gross“ und „Klein“ – : vielleicht, dass er das neue Testament, das Buch von der Gnade, immer noch eher nach seinem Herzen fi ndet (in ihm ist viel von dem rechten zärtlichen dumpfen Betbrüderund Kleinen-Seelen-Geruch). Dieses neue Testament, eine Art Rokoko des Geschmacks in jedem Betrachte, mit dem alten Testament zu Einem Buche zusammengeleimt zu haben, als „Bibel“, als „das Buch an sich“ : das ist vielleicht die grösste Verwegenheit und „Sünde wider den Geist“, welche das litterarische Europa auf dem Gewissen hat. 53. Warum heute Atheismus ? – „Der Vater“ in Gott ist gründlich widerlegt ; ebenso „der Richter“, „der Belohner“. Insgleichen sein „freier Wille“ : er hört nicht, – und wenn er hörte, wüsste er trotzdem nicht zu helfen. Das Schlimmste ist : er scheint unfähig, sich deutlich mitzutheilen : ist er unklar ? – Dies ist es, was ich, als Ursachen für den Niedergang des europäischen Theismus, aus vielerlei Gesprächen, fragend, hinhorchend, ausfi ndig gemacht habe ; es scheint mir, dass zwar der religiöse Instinkt mächtig im Wachsen ist, – dass er aber gerade die theistische Befriedigung mit tiefem Misstrauen ablehnt. |

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54. Was thut denn im Grunde die ganze neuere Philosophie ? Seit Descartes – und zwar mehr aus Trotz gegen ihn, als auf Grund seines Vorgangs – macht man seitens aller Philosophen ein Attentat auf den alten Seelen-Begriff, unter dem Anschein einer Kritik des Subjekt- und Prädikat-Begriff s – das heisst : ein Attentat auf die Grundvoraussetzung der christlichen Lehre. Die neuere Philosophie, als eine erkenntnisstheoretische Skepsis, ist, versteckt oder offen, a nt ic h r i s t l ic h : obschon, für feinere Ohren gesagt, keineswegs antireligiös. Ehemals nämlich glaubte man an „die Seele“, wie man an die Grammatik und das grammatische Subjekt glaubte : man sagte, „Ich“ ist Bedingung, „denke“ ist Prädikat und bedingt – Denken ist eine Thätigkeit, zu der ein Subjekt als Ursache gedacht werden mu s s . Nun versuchte man, mit einer bewunderungswürdigen Zähigkeit und List, ob man nicht aus diesem Netze heraus könne, – ob nicht vielleicht das Umgekehrte wahr sei : „denke“ Bedingung, „Ich“ bedingt ; „Ich“ also erst eine Synthese, welche durch das Denken selbst g e m ac ht wird. K a nt wollte im Grunde beweisen, dass vom Subjekt aus das Subjekt nicht bewiesen werden könne, – das Objekt auch nicht : die Möglichkeit einer S c he i ne x i s t e n z des Subjekts, also „der Seele“, mag ihm nicht immer fremd gewesen sein, jener Gedanke, welcher als Vedanta-Philosophie schon einmal und in ungeheurer Macht auf Erden dagewesen ist. 55. Es giebt eine grosse Leiter der religiösen Grausamkeit, mit vielen Sprossen ; aber drei davon sind die wichtigsten. Einst opferte man seinem Gotte Menschen, | vielleicht gerade solche, welche man am besten liebte, – dahin gehören die Erstlings-Opfer aller Vorzeit-Religionen, dahin auch das Opfer des Kaisers Tiberius in der Mithrasgrotte der Insel Capri, jener schauerlichste aller römischen Anachronismen. Dann,

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in der moralischen Epoche der Menschheit, opferte man seinem Gotte die stärksten Instinkte, die man besass, seine „Natur“ ; d ie s e Festfreude glänzt im grausamen Blicke des Asketen, des begeisterten „Wider-Natürlichen“. Endlich : was blieb noch übrig zu opfern ? Musste man nicht endlich einmal alles Tröstliche, Heilige, Heilende, alle Hoff nung, allen Glauben an verborgene Harmonie, an zukünftige Seligkeiten und Gerechtigkeiten opfern ? musste man nicht Gott selber opfern und, aus Grausamkeit gegen sich, den Stein, die Dummheit, die Schwere, das Schicksal, das Nichts anbeten ? Für das Nichts Gott opfern – dieses paradoxe Mysterium der letzten Grausamkeit blieb dem Geschlechte, welches jetzt eben herauf kommt, aufgespart : wir Alle kennen schon etwas davon. – 56. Wer, gleich mir, mit irgend einer räthselhaften Begierde sich lange darum bemüht hat, den Pessimismus in die Tiefe zu denken und aus der halb christlichen, halb deutschen Enge und Einfalt zu erlösen, mit der er sich diesem Jahrhundert zuletzt dargestellt hat, nämlich in Gestalt der Schopenhauerischen Philosophie ; wer wirklich einmal mit einem asiatischen und überasiatischen Auge in die weltverneinendste aller möglichen Denkweisen hinein und hinunter geblickt hat – jenseits von Gut und Böse, und nicht mehr, wie Buddha und Schopenhauer, im Bann und Wahne der Moral – , der hat vielleicht ebendamit, ohne dass er es eigentlich | wollte, sich die Augen für das umgekehrte Ideal aufgemacht : für das Ideal des übermüthigsten lebendigsten und weltbejahendsten Menschen, der sich nicht nur mit dem, was war und ist, abgefunden und vertragen gelernt hat, sondern es, s o w ie e s w a r u nd i s t , wieder haben will, in alle Ewigkeit hinaus, unersättlich da capo rufend, nicht nur zu sich, sondern zum ganzen Stücke und Schauspiele, und nicht nur zu einem Schauspiele, sondern im Grunde zu Dem, der gerade dies Schauspiel nöthig hat –

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und nöthig macht : weil er immer wieder sich nöthig hat – und nöthig macht – – Wie ? Und dies wäre nicht – circulus vitiosus deus ? 57. Mit der Kraft seines geistigen Blicks und Einblicks wächst die Ferne und gleichsam der Raum um den Menschen : seine Welt wird tiefer, immer neue Sterne, immer neue Räthsel und Bilder kommen ihm in Sicht. Vielleicht war Alles, woran das Auge des Geistes seinen Scharfsinn und Tiefsinn geübt hat, eben nur ein Anlass zu seiner Übung, eine Sache des Spiels, Etwas für Kinder und Kindsköpfe. Vielleicht erscheinen uns einst die feierlichsten Begriffe, um die am meisten gekämpft und gelitten worden ist, die Begriffe „Gott“ und „Sünde“, nicht wichtiger, als dem alten Manne ein Kinder-Spielzeug und Kinder-Schmerz erscheint, – und vielleicht hat dann „der alte Mensch“ wieder ein andres Spielzeug und einen andren Schmerz nöthig, – immer noch Kinds genug, ein ewiges Kind ! 58. Hat man wohl beachtet, in wiefern zu einem eigentlich religiösen Leben (und sowohl zu seiner mikros|kopischen Lieblings-Arbeit der Selbstprüfung, als zu jener zarten Gelassenheit, welche sich „Gebet“ nennt und eine beständige Bereitschaft für das „Kommen Gottes“ ist) der äussere Müssiggang oder Halb-Müssiggang noth thut, ich meine der Müssiggang mit gutem Gewissen, von Alters her, von Geblüt, dem das Aristokraten-Gefühl nicht ganz fremd ist, dass Arbeit s c h ä n d et , – nämlich Seele und Leib gemein macht ? Und dass folglich die moderne, lärmende, Zeit-auskaufende, auf sich stolze, dumm-stolze Arbeitsamkeit, mehr als alles Übrige, gerade zum „Unglauben“ erzieht und vorbereitet ? Unter Denen, welche zum Beispiel jetzt in Deutschland abseits von der Religion leben, fi nde ich Menschen von vielerlei Art und Abkunft der „Freidenkerei“, vor Allem aber eine Mehrzahl solcher,

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denen Arbeitsamkeit, von Geschlecht zu Geschlecht, die religiösen Instinkte aufgelöst hat : so dass sie gar nicht mehr wissen, wozu Religionen nütze sind, und nur mit einer Art stumpfen Erstaunens ihr Vorhandensein in der Welt gleichsam registriren. Sie fühlen sich schon reichlich in Anspruch genommen, diese braven Leute, sei es von ihren Geschäften, sei es von ihren Vergnügungen, gar nicht zu reden vom „Vaterlande“ und den Zeitungen und den „Pfl ichten der Familie“ : es scheint, dass sie gar keine Zeit für die Religion übrig haben, zumal es ihnen unklar bleibt, ob es sich dabei um ein neues Geschäft oder ein neues Vergnügen handelt, – denn unmöglich, sagen sie sich, geht man in die Kirche, rein um sich die gute Laune zu verderben. Sie sind keine Feinde der religiösen Gebräuche ; verlangt man in gewissen Fällen, etwa von Seiten des Staates, die Betheiligung an solchen Gebräuchen, so thun sie, was man verlangt, wie man so Vieles thut – , mit einem | geduldigen und bescheidenen Ernste und ohne viel Neugierde und Unbehagen : – sie leben eben zu sehr abseits und ausserhalb, um selbst nur ein Für und Wider in solchen Dingen bei sich nöthig zu fi nden. Zu diesen Gleichgültigen gehört heute die Überzahl der deutschen Protestanten in den mittleren Ständen, sonderlich in den arbeitsamen grossen Handelsund Verkehrscentren ; ebenfalls die Überzahl der arbeitsamen Gelehrten und der ganze Universitäts-Zubehör (die Theologen ausgenommen, deren Dasein und Möglichkeit daselbst dem Psychologen immer mehr und immer feinere Räthsel zu rathen giebt). Man macht sich selten von Seiten frommer oder auch nur kirchlicher Menschen eine Vorstellung davon, w ie v ie l guter Wille, man könnte sagen, willkürlicher Wille jetzt dazu gehört, dass ein deutscher Gelehrter das Problem der Religion ernst nimmt ; von seinem ganzen Handwerk her (und, wie gesagt, von der handwerkerhaften Arbeitsamkeit her, zu welcher ihn sein modernes Gewissen verpfl ichtet) neigt er zu einer überlegenen, beinahe gütigen Heiterkeit gegen die

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Religion, zu der sich bisweilen eine leichte Geringschätzung mischt, gerichtet gegen die „Unsauberkeit“ des Geistes, welche er überall dort voraussetzt, wo man sich noch zur Kirche bekennt. Es gelingt dem Gelehrten erst mit Hülfe der Geschichte (also n ic ht von seiner persönlichen Erfahrung aus), es gegenüber den Religionen zu einem ehrfurchtsvollen Ernste und zu einer gewissen scheuen Rücksicht zu bringen ; aber wenn er sein Gefühl sogar bis zur Dankbarkeit gegen sie gehoben hat, so ist er mit seiner Person auch noch keinen Schritt weit dem, was noch als Kirche oder Frömmigkeit besteht, näher gekommen : vielleicht umgekehrt. Die praktische Gleich|gültigkeit gegen religiöse Dinge, in welche hinein er geboren und erzogen ist, pflegt sich bei ihm zur Behutsamkeit und Reinlichkeit zu sublimiren, welche die Berührung mit religiösen Menschen und Dingen scheut ; und es kann gerade die Tiefe seiner Toleranz und Menschlichkeit sein, die ihn vor dem feinen Nothstande ausweichen heisst, welchen das Toleriren selbst mit sich bringt. – Jede Zeit hat ihre eigene göttliche Art von Naivetät, um deren Erfi ndung sie andre Zeitalter beneiden dürfen : – und wie viel Naivetät, verehrungswürdige, kindliche und unbegrenzt tölpelhafte Naivetät liegt in diesem Überlegenheits-Glauben des Gelehrten, im guten Gewissen seiner Toleranz, in der ahnungslosen schlichten Sicherheit, mit der sein Instinkt den religiösen Menschen als einen minderwerthigen und niedrigeren Typus behandelt, über den er selbst hinaus, hinweg, h i n au f gewachsen ist, – er, der kleine anmaassliche Zwerg und Pöbelmann, der fleissig-fl inke Kopf- und Handarbeiter der „Ideen“, der „modernen Ideen“ ! 59. Wer tief in die Welt gesehen hat, erräth wohl, welche Weisheit darin liegt, dass die Menschen oberflächlich sind. Es ist ihr erhaltender Instinkt, der sie lehrt, flüchtig, leicht und falsch zu sein. Man fi ndet hier und da eine leidenschaftliche und

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übertreibende Anbetung der „reinen Formen“, bei Philosophen wie bei Künstlern : möge Niemand zweifeln, dass wer dergestalt den Cultus der Oberfläche n öt h i g hat, irgend wann einmal einen unglückseligen Griff u nt e r sie gethan hat. Vielleicht giebt es sogar hinsichtlich dieser verbrannten Kinder, der geborenen Künstler, welche den Genuss des Lebens nur noch in der Absicht fi nden, | sein Bild zu f ä l s c he n (gleichsam in einer langwierigen Rache am Leben –) auch noch eine Ordnung des Ranges : man könnte den Grad, in dem ihnen das Leben verleidet ist, daraus abnehmen, bis wie weit sie sein Bild verfälscht, verdünnt, verjenseitigt, vergöttlicht zu sehn wünschen, – man könnte die homines religiosi mit unter die Künstler rechnen, als ihren hö c h s t e n Rang. Es ist die tiefe argwöhnische Furcht vor einem unheilbaren Pessimismus, der ganze Jahrtausende zwingt, sich mit den Zähnen in eine religiöse Interpretation des Daseins zu verbeissen : die Furcht jenes Instinktes, welcher ahnt, dass man der Wahrheit zu f r ü h habhaft werden könnte, ehe der Mensch stark genug, hart genug, Künstler genug geworden ist … Die Frömmigkeit, das „Leben in Gott“, mit diesem Blicke betrachtet, erschiene dabei als die feinste und letzte Ausgeburt der F u r c ht vor der Wahrheit, als Künstler-Anbetung und -Trunkenheit vor der consequentesten aller Fälschungen, als der Wille zur Umkehrung der Wahrheit, zur Unwahrheit um jeden Preis. Vielleicht, dass es bis jetzt kein stärkeres Mittel gab, den Menschen selbst zu verschönern, als eben Frömmigkeit : durch sie kann der Mensch so sehr Kunst, Oberfläche, Farbenspiel, Güte werden, dass man an seinem Anblicke nicht mehr leidet. – 60. Den Menschen zu lieben um G ot t e s W i l le n – das war bis jetzt das vornehmste und entlegenste Gefühl, das unter Menschen erreicht worden ist. Dass die Liebe zum Menschen ohne irgend eine heiligende Hinterabsicht eine Dummheit

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und Thierheit me h r ist, dass der Hang zu dieser Menschenliebe erst von einem | höheren Hange sein Maass, seine Feinheit, sein Körnchen Salz und Stäubchen Ambra zu bekommen hat : – welcher Mensch es auch war, der dies zuerst empfunden und „erlebt“ hat, wie sehr auch seine Zunge gestolpert haben mag, als sie versuchte, solch eine Zartheit auszudrücken, er bleibe uns in alle Zeiten heilig und verehrenswerth, als der Mensch, der am höchsten bisher geflogen und am schönsten sich verirrt hat ! 61. Der Philosoph, wie w i r ihn verstehen, wir freien Geister – , als der Mensch der umfänglichsten Verantwortlichkeit, der das Gewissen für die Gesammt-Entwicklung des Menschen hat : dieser Philosoph wird sich der Religionen zu seinem Züchtungs- und Erziehungswerke bedienen, wie er sich der jeweiligen politischen und wirthschaftlichen Zustände bedienen wird. Der auslesende, züchtende, das heisst immer ebensowohl der zerstörende als der schöpferische und gestaltende Einfluss, welcher mit Hülfe der Religionen ausgeübt werden kann, ist je nach der Art Menschen, die unter ihren Bann und Schutz gestellt werden, ein vielfacher und verschiedener. Für die Starken, Unabhängigen, zum Befehlen Vorbereiteten und Vorbestimmten, in denen die Vernunft und Kunst einer regierenden Rasse leibhaft wird, ist Religion ein Mittel mehr, um Widerstände zu überwinden, um herrschen zu können : als ein Band, das Herrscher und Unterthanen gemeinsam bindet und die Gewissen der letzteren, ihr Verborgenes und Innerlichstes, das sich gerne dem Gehorsam entziehen möchte, den Ersteren verräth und überantwortet ; und falls einzelne Naturen einer solchen vornehmen Herkunft, durch hohe Geistigkeit, einem | abgezogeneren und beschaulicheren Leben sich zuneigen und nur die feinste Artung des Herrschens (über ausgesuchte Jünger oder Ordensbrüder) sich vorbehalten, so kann Religion selbst als Mittel benutzt werden, sich Ruhe vor

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dem Lärm und der Mühsal des g r ö b e r e n Regierens und Reinheit vor dem n ot hwe n d i g e n Schmutz alles PolitikMachens zu schaffen. So verstanden es zum Beispiel die Brahmanen : mit Hülfe einer religiösen Organisation gaben sie sich die Macht, dem Volke seine Könige zu ernennen, während sie sich selber abseits und ausserhalb hielten und fühlten, als die Menschen höherer und überköniglicher Aufgaben. Inzwischen giebt die Religion auch einem Theile der Beherrschten Anleitung und Gelegenheit, sich auf einst maliges Herrschen und Befehlen vorzubereiten, jenen langsam heraufkommenden Klassen und Ständen nämlich, in denen, durch glückliche Ehesitten, die Kraft und Lust des Willens, der Wille zur Selbstbeherrschung, immer im Steigen ist : – ihnen bietet die Religion Anstösse und Versuchungen genug, die Wege zur höheren Geistigkeit zu gehen, die Gefühle der grossen Selbstüberwindung, des Schweigens und der Einsamkeit zu erproben : – Asketismus und Puritanismus sind fast unentbehrliche Erziehungs- und Veredelungsmittel, wenn eine Rasse über ihre Herkunft aus dem Pöbel Herr werden will und sich zur einstmaligen Herrschaft emporarbeitet. Den gewöhnlichen Menschen endlich, den Allermeisten, welche zum Dienen und zum allgemeinen Nutzen dasind und nur insofern dasein d ü r f e n , giebt die Religion eine unschätzbare Genügsamkeit mit ihrer Lage und Art, vielfachen Frieden des Herzens, eine Veredelung des Gehorsams, ein Glück und Leid mehr mit Ihres-Gleichen und Etwas von Verklärung und | Verschönerung, Etwas von Rechtfertigung des ganzen Alltags, der ganzen Niedrigkeit, der ganzen Halbthier-Armuth ihrer Seele. Religion und religiöse Bedeutsamkeit des Lebens legt Sonnenglanz auf solche immer geplagte Menschen und macht ihnen selbst den eigenen Anblick erträglich, sie wirkt, wie eine epikurische Philosophie auf Leidende höheren Ranges zu wirken pflegt, erquickend, verfeinernd, das Leiden gleichsam au s nüt z e nd , zuletzt gar heiligend und rechtfertigend. Vielleicht

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ist am Christenthum und Buddhismus nichts so ehrwürdig als ihre Kunst, noch den Niedrigsten anzulehren, sich durch Frömmigkeit in eine höhere Schein-Ordnung der Dinge zu stellen und damit das Genügen an der wirklichen Ordnung, innerhalb deren sie hart genug leben, – und gerade diese Härte thut Noth ! – bei sich festzuhalten. 62. Zuletzt freilich, um solchen Religionen auch die schlimme Gegenrechnung zu machen und ihre unheimliche Gefährlichkeit an’s Licht zu stellen : – es bezahlt sich immer theuer und fürchterlich, wenn Religionen n i c h t als Züchtungsund Erziehungsmittel in der Hand des Philosophen, sondern von sich aus und s ouve r ä n walten, wenn sie selber letzte Zwecke und nicht Mittel neben anderen Mitteln sein wollen. Es giebt bei dem Menschen wie bei jeder anderen Thierart einen Überschuss von Missrathenen, Kranken, Entartenden, Gebrechlichen, nothwendig Leidenden ; die gelungenen Fälle sind auch beim Menschen immer die Ausnahme und sogar in Hinsicht darauf, dass der Mensch das no c h n ic ht f e s tg e s t e l lt e T h i e r ist, die spärliche Ausnahme. Aber noch schlimmer : je höher geartet | der Typus eines Menschen ist, der durch ihn dargestellt wird, um so mehr steigt noch die Unwahrscheinlichkeit, dass er g e r ä t h : das Zufällige, das Gesetz des Unsinns im gesammten Haushalte der Menschheit zeigt sich am erschrecklichsten in seiner zerstörerischen Wirkung auf die höheren Menschen, deren Lebensbedingungen fein, vielfach und schwer auszurechnen sind. Wie verhalten sich nun die genannten beiden grössten Religionen zu diesem Ü b e r s c hu s s der misslungenen Fälle ? Sie suchen zu erhalten, im Leben festzuhalten, was sich nur irgend halten lässt, ja sie nehmen grundsätzlich für sie Partei, als Religionen für L e id e nd e, sie geben allen Denen Recht, welche am Leben wie an einer Krankheit leiden, und möchten es durch-

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setzen, dass jede andre Empfi ndung des Lebens als falsch gelte und unmöglich werde. Möchte man diese schonende und erhaltende Fürsorge, insofern sie neben allen anderen auch dem höchsten, bisher fast immer auch leidendsten Typus des Menschen gilt und galt, noch so hoch anschlagen : in der Gesammt-Abrechnung gehören die bisherigen, nämlich s ouve r ä ne n Religionen zu den Hauptursachen, welche den Typus „Mensch“ auf einer niedrigeren Stufe festhielten, – sie erhielten zu viel von dem, w a s z u Gr u nd e g e h n s ol lt e. Man hat ihnen Unschätzbares zu danken ; und wer ist reich genug an Dankbarkeit, um nicht vor alle dem arm zu werden, was zum Beispiel die „geistlichen Menschen“ des Christenthums bisher für Europa gethan haben ! Und doch, wenn sie den Leidenden Trost, den Unterdrückten und Verzweifelnden Muth, den Unselbständigen einen Stab und Halt gaben und die Innerlich-Zerstörten und Wild-Gewordenen von der Gesellschaft weg in Klöster und seelische Zuchthäuser lockten : was mussten sie ausserdem thun, um | mit gutem Gewissen dergestalt grundsätzlich an der Erhaltung alles Kranken und Leidenden, das heisst in That und Wahrheit an der Ve r s c h le c h t e r u n g d e r e u r o p ä i s c he n R a s s e zu arbeiten ? Alle Werthschätzungen au f d e n K o pf stellen – d a s mussten sie ! Und die Starken zerbrechen, die grossen Hoff nungen ankränkeln, das Glück in der Schönheit verdächtigen, alles Selbstherrliche, Männliche, Erobernde, Herrschsüchtige, alle Instinkte, welche dem höchsten und wohlgerathensten Typus „Mensch“ zu eigen sind, in Unsicherheit, GewissensNoth, Selbstzerstörung umknicken, ja die ganze Liebe zum Irdischen und zur Herrschaft über die Erde in Hass gegen die Erde und das Irdische verkehren – d a s stellte sich die Kirche zur Aufgabe und musste es sich stellen, bis für ihre Schätzung endlich „Entweltlichung“, „Entsinnlichung“ und „höherer Mensch“ in Ein Gefühl zusammenschmolzen. Gesetzt, dass man mit dem spöttischen und unbetheiligten Auge eines

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epikurischen Gottes die wunderlich schmerzliche und ebenso grobe wie feine Komödie des europäischen Christenthums zu überschauen vermöchte, ich glaube, man fände kein Ende mehr zu staunen und zu lachen : scheint es denn nicht, dass Ein Wille über Europa durch achtzehn Jahrhunderte geherrscht hat, aus dem Menschen eine s u bl i me M i s s g ebu r t zu machen ? Wer aber mit umgekehrten Bedürfnissen, nicht epikurisch mehr, sondern mit irgend einem göttlichen Hammer in der Hand auf diese fast willkürliche Entartung und Verkümmerung des Menschen zuträte, wie sie der christliche Europäer ist (Pascal zum Beispiel), müsste er da nicht mit Grimm, mit Mitleid, mit Entsetzen schreien : „Oh ihr Tölpel, ihr anmaassenden mitleidigen Tölpel, was habt ihr da gemacht ! War das eine Arbeit | für eure Hände ! Wie habt ihr mir meinen schönsten Stein verhauen und verhunzt ! Was nahmt i h r euch heraus !“ – Ich wollte sagen : das Christenthum war bisher die verhäng nissvollste Art von Selbst-Überhebung. Menschen, nicht hoch und hart genug, um a m Me n s c he n als Künstler gestalten zu dürfen ; Menschen, nicht stark und fernsichtig genug, um, mit einer erhabenen Selbst-Bezwingung, das Vordergrund-Gesetz des tausendfältigen Missrathens und Zugrundegehns walten zu l a s s e n ; Menschen, nicht vornehm genug, um die abgründlich verschiedene Rangordnung und Rangkluft zwischen Mensch und Mensch zu sehen : – s olc he Menschen haben, mit ihrem „Gleich vor Gott“, bisher über dem Schicksale Europa’s gewaltet, bis endlich eine verkleinerte, fast lächerliche Art, ein Heerdenthier, etwas Gutwilliges, Kränkliches und Mittelmässiges, herangezüchtet ist, der heutige Europäer … |

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Viertes Hauptstück : Sprüche und Zwischenspiele. |

63. Wer von Grund aus Lehrer ist, nimmt alle Dinge nur in Bezug auf seine Schüler ernst, – sogar sich selbst. 64. „Die Erkenntniss um ihrer selbst willen“ – das ist der letzte Fallstrick, den die Moral legt : damit verwickelt man sich noch einmal völlig in sie. 65. Der Reiz der Erkenntniss wäre gering, wenn nicht auf dem Wege zu ihr so viel Scham zu überwinden wäre. 65 a. Man ist am unehrlichsten gegen seinen Gott : er d a r f nicht sündigen ! 66. Die Neigung, sich herabzusetzen, sich bestehlen, belügen und ausbeuten zu lassen, könnte die Scham eines Gottes unter Menschen sein. 67. Die Liebe zu Einem ist eine Barbarei : denn sie wird auf Unkosten aller Übrigen ausgeübt. Auch die Liebe zu Gott. 68. „Das habe ich gethan“ sagt mein Gedächtniss. Das kann ich nicht gethan haben – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – giebt das Gedächtniss nach.

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Viertes Hauptstück

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69. Man hat schlecht dem Leben zugeschaut, wenn man nicht auch die Hand gesehn hat, die auf eine schonende Weise – tödtet. | 70. Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebniss, das immer wiederkommt. 71. Der Weise als Astronom. – So lange du noch die Sterne fühlst als ein „Über-dir“, fehlt dir noch der Blick des Erkennenden. 72. Nicht die Stärke, sondern die Dauer der hohen Empfi ndung macht die hohen Menschen. 73. Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe hinaus. 73 a. Mancher Pfau verdeckt vor Aller Augen seinen Pfauenschweif – und heisst es seinen Stolz. 74. Ein Mensch mit Genie ist unausstehlich, wenn er nicht mindestens noch zweierlei dazu besitzt : Dankbarkeit und Reinlichkeit. 75. Grad und Art der Geschlechtlichkeit eines Menschen reicht bis in den letzten Gipfel seines Geistes hinauf. 76. Unter friedlichen Umständen fällt der kriegerische Mensch über sich selber her.

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77. Mit seinen Grundsätzen will man seine Gewohnheiten tyrannisiren oder rechtfertigen oder ehren oder beschimpfen oder verbergen : – zwei Menschen mit | gleichen Grundsätzen wollen damit wahrscheinlich noch etwas Grund-Verschiedenes. 78. Wer sich selbst verachtet, achtet sich doch immer noch dabei als Verächter. 79. Eine Seele, die sich geliebt weiss, aber selbst nicht liebt, verräth ihren Bodensatz : – ihr Unterstes kommt herauf. 80. Eine Sache, die sich aufklärt, hört auf, uns etwas anzugehn. – Was meinte jener Gott, welcher anrieth : „erkenne dich selbst“ ! Hiess es vielleicht : „höre auf, dich etwas anzugehn ! werde objektiv !“ – Und Sokrates ? – Und der „wissenschaftliche Mensch“ ? – 81. Es ist furchtbar, im Meere vor Durst zu sterben. Müsst ihr denn gleich eure Wahrheit so salzen, dass sie nicht einmal mehr – den Durst löscht ? 82. „Mitleiden mit Allen“ – wäre Härte und Tyrannei mit d i r, mein Herr Nachbar ! – 83. D e r I n s t i n k t . – Wenn das Haus brennt, vergisst man sogar das Mittagsessen. – Ja : aber man holt es auf der Asche nach. 84. Das Weib lernt hassen, in dem Maasse, in dem es zu bezaubern – verlernt. |

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Viertes Hauptstück

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85. Die gleichen Affekte sind bei Mann und Weib doch im Tempo verschieden : deshalb hören Mann und Weib nicht auf, sich misszuverstehn. 86. Die Weiber selber haben im Hintergrunde aller persönlichen Eitelkeit immer noch ihre unpersönliche Verachtung – für „das Weib.“ 87. G ebu nd e n He r z , f r e ie r G e i s t . – Wenn man sein Herz hart bindet und gefangen legt, kann man seinem Geist viele Freiheiten geben : ich sagte das schon Ein Mal. Aber man glaubt mir’s nicht, gesetzt, dass man’s nicht schon weiss … 88. Sehr klugen Personen fängt man an zu misstrauen, wenn sie verlegen werden. 89. Fürchterliche Erlebnisse geben zu rathen, ob Der, welcher sie erlebt, nicht etwas Fürchterliches ist. 90. Schwere, schwermüthige Menschen werden gerade durch das, was Andre schwer macht, durch Hass und Liebe, leichter und kommen zeitweilig an ihre Oberfläche. 91. So kalt, so eisig, dass man sich an ihm die Finger verbrennt ! Jede Hand erschrickt, die ihn anfasst ! – Und gerade darum halten Manche ihn für glühend. | 92. Wer hat nicht für seinen guten Ruf schon einmal – sich selbst geopfert ? –

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93. In der Leutseligkeit ist Nichts von Menschenhass, aber eben darum allzuviel von Menschenverachtung. 94. Reife des Mannes : das heisst den Ernst wiedergefunden haben, den man als Kind hatte, beim Spiel. 95. Sich seiner Unmoralität schämen : das ist eine Stufe auf der Treppe, an deren Ende man sich auch seiner Moralität schämt. 96. Man soll vom Leben scheiden wie Odysseus von Nausikaa schied, – mehr segnend als verliebt. 97. Wie ? Ein grosser Mann ? Ich sehe immer nur den Schauspieler seines eignen Ideals. 98. Wenn man sein Gewissen dressirt, so küsst es uns zugleich, indem es beisst. 99. Der Enttäuschte spricht. – „Ich horchte auf Widerhall, und ich hörte nur Lob –“ 100. Vor uns selbst stellen wir uns Alle einfältiger als wir sind : wir ruhen uns so von unsern Mitmenschen aus. | 101. Heute möchte sich ein Erkennender leicht als Thierwerdung Gottes fühlen.

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102. Gegenliebe entdecken sollte eigentlich den Liebenden über das geliebte Wesen ernüchtern. „Wie ? e s ist bescheiden genug, sogar dich zu lieben ? Oder dumm genug ? Oder – oder –“ 103. Die Gefahr im Glücke. – „Nun gereicht mir Alles zum Besten, nunmehr liebe ich jedes Schicksal : – wer hat Lust, mein Schicksal zu sein ?“ 104. Nicht ihre Menschenliebe, sondern die Ohnmacht ihrer Menschenliebe hindert die Christen von heute, uns – zu verbrennen. 105. Dem freien Geiste, dem „Frommen der Erkenntniss“ – geht die pia fraus noch mehr wider den Geschmack (wider s e i ne „Frömmigkeit“) als die impia fraus. Daher sein tiefer Unverstand gegen die Kirche, wie er zum Typus „freier Geist“ gehört, – als s e i ne Unfreiheit. 106. Vermöge der Musik geniessen sich die Leidenschaften selbst. 107. Wenn der Entschluss einmal gefasst ist, das Ohr auch für den besten Gegengrund zu schliessen : Zeichen des starken Charakters. Also ein gelegentlicher Wille zur Dummheit. | 108. Es giebt gar keine moralischen Phänomene, sondern nur eine moralische Ausdeutung von Phänomenen … 109. Der Verbrecher ist häufig genug seiner That nicht gewachsen : er verkleinert und verleumdet sie.

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110. Die Advokaten eines Verbrechers sind selten Artisten genug, um das schöne Schreckliche der That zu Gunsten ihres Thäters zu wenden. 111. Unsre Eitelkeit ist gerade dann am schwersten zu verletzen, wenn eben unser Stolz verletzt wurde. 112. Wer sich zum Schauen und nicht zum Glauben vorherbestimmt fühlt, dem sind alle Gläubigen zu lärmend und zudringlich : er erwehrt sich ihrer. 113. „Du willst ihn für dich einnehmen ? So stelle dich vor ihm verlegen –“ 114. Die ungeheure Erwartung in Betreff der Geschlechtsliebe und die Scham in dieser Erwartung, verdirbt den Frauen von vornherein alle Perspektiven. 115. Wo nicht Liebe oder Hass mitspielt, spielt das Weib mittelmässig. | 116. Die grossen Epochen unsres Lebens liegen dort, wo wir den Muth gewinnen, unser Böses als unser Bestes umzutaufen. 117. Der Wille, einen Affekt zu überwinden, ist zuletzt doch nur der Wille eines anderen oder mehrerer anderer Affekte.

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118. Es giebt eine Unschuld der Bewunderung : Der hat sie, dem es noch nicht in den Sinn gekommen ist, auch er könne einmal bewundert werden. 119. Der Ekel vor dem Schmutze kann so gross sein, dass er uns hindert, uns zu reinigen, – uns zu „rechtfertigen“. 120. Die Sinnlichkeit übereilt oft das Wachsthum der Liebe, so dass die Wurzel schwach bleibt und leicht auszureissen ist. 121. Es ist eine Feinheit, dass Gott griechisch lernte, als er Schriftsteller werden wollte, – und dass er es nicht besser lernte. 122. Sich über ein Lob freuen ist bei Manchem nur eine Höflichkeit des Herzens – und gerade das Gegenstück einer Eitelkeit des Geistes. 123. Auch das Concubinat ist corrumpirt worden : – durch die Ehe. | 124. Wer auf dem Scheiterhaufen noch frohlockt, triumphirt nicht über den Schmerz, sondern darüber, keinen Schmerz zu fühlen, wo er ihn erwartete. Ein Gleichniss. 125. Wenn wir über Jemanden umlernen müssen, so rechnen wir ihm die Unbequemlichkeit hart an, die er uns damit macht.

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126. Ein Volk ist der Umschweif der Natur, um zu sechs, sieben grossen Männern zu kommen. – Ja : und um dann um sie herum zu kommen. 127. Allen rechten Frauen geht Wissenschaft wider die Scham. Es ist ihnen dabei zu Muthe, als ob man damit ihnen unter die Haut, – schlimmer noch ! unter Kleid und Putz gucken wolle. 128. Je abstrakter die Wahrheit ist, die du lehren willst, um so mehr musst du noch die Sinne zu ihr verführen. 129. Der Teufel hat die weitesten Perspektiven für Gott, deshalb hält er sich von ihm so fern : – der Teufel nämlich als der älteste Freund der Erkenntniss. 130. Was Jemand i s t , fängt an, sich zu verrathen, wenn sein Talent nachlässt, – wenn er aufhört, zu zeigen, was er k a n n . Das Talent ist auch ein Putz ; ein Putz ist auch ein Versteck. | 131. Die Geschlechter täuschen sich über einander : das macht, sie ehren und lieben im Grunde nur sich selbst (oder ihr eigenes Ideal, um es gefälliger auszudrücken –). So will der Mann das Weib friedlich, – aber gerade das Weib ist we s e nt l ic h unfriedlich, gleich der Katze, so gut es sich auch auf den Anschein des Friedens eingeübt hat. 132. Man wird am besten für seine Tugenden bestraft.

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133. Wer den Weg zu s e i ne m Ideale nicht zu fi nden weiss, lebt leichtsinniger und frecher, als der Mensch ohne Ideal. 134. Von den Sinnen her kommt erst alle Glaubwürdigkeit, alles gute Gewissen, aller Augenschein der Wahrheit. 135. Der Pharisäismus ist nicht eine Entartung am guten Menschen : ein gutes Stück davon ist vielmehr die Bedingung von allem Gut-sein. 136. Der Eine sucht einen Geburtshelfer für seine Gedanken, der Andre Einen, dem er helfen kann : so entsteht ein gutes Gespräch. 137. Im Verkehre mit Gelehrten und Künstlern verrechnet man sich leicht in umgekehrter Richtung : man fi ndet hinter einem merkwürdigen Gelehrten nicht selten einen mittelmässigen Menschen, und hinter einem mittel|mässigen Künstler sogar oft – einen sehr merkwürdigen Menschen. 138. Wir machen es auch im Wachen wie im Traume : wir erfi nden und erdichten erst den Menschen, mit dem wir verkehren – und vergessen es sofort. 139. In der Rache und in der Liebe ist das Weib barbarischer, als der Mann. 140. R at h a l s R ät h s e l . – „Soll das Band nicht reissen, – musst du erst drauf beissen.“

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141. Der Unterleib ist der Grund dafür, dass der Mensch sich nicht so leicht für einen Gott hält. 142. Das züchtigste Wort, das ich gehört habe : „Dans le véritable amour c’est l’âme, qui enveloppe le corps.“ 143. Was wir am besten thun, von dem möchte unsre Eitelkeit, dass es grade als Das gelte, was uns am schwersten werde. Zum Ursprung mancher Moral. 144. Wenn ein Weib gelehrte Neigungen hat, so ist gewöhnlich Etwas an ihrer Geschlechtlichkeit nicht in Ordnung. Schon Unfruchtbarkeit disponirt zu einer gewissen Männlichkeit des Geschmacks ; der Mann ist nämlich, mit Verlaub, „das unfruchtbare Thier“. | 145. Mann und Weib im Ganzen verglichen, darf man sagen : das Weib hätte nicht das Genie des Putzes, wenn es nicht den Instinkt der z we it e n Rolle hätte. 146. Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zusehn, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein. 147. Aus alten florentinischen Novellen, überdies – aus dem Leben : buona femmina e mala femmina vuol bastone. Sacchetti Nov. 86.

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148. Den Nächsten zu einer guten Meinung verführen und hinterdrein an diese Meinung des Nächsten gläubig glauben : wer thut es in diesem Kunststück den Weibern gleich ? – 149. Was eine Zeit als böse empfi ndet, ist gewöhnlich ein unzeitgemässer Nachschlag dessen, was ehemals als gut empfunden wurde, – der Atavismus eines älteren Ideals. 150. Um den Helden herum wird Alles zur Tragödie, um den Halbgott herum Alles zum Satyrspiel ; und um Gott herum wird Alles – wie ? vielleicht zur „Welt“ ? – 151. Ein Talent haben ist nicht genug : man muss auch eure Erlaubniss dazu haben, – wie ? meine Freunde ? | 152. „Wo der Baum der Erkenntniss steht, ist immer das Paradies“ : so reden die ältesten und die jüngsten Schlangen. 153. Was aus Liebe gethan wird, geschieht immer jenseits von Gut und Böse. 154. Der Einwand, der Seitensprung, das fröhliche Misstrauen, die Spottlust sind Anzeichen der Gesundheit : alles Unbedingte gehört in die Pathologie. 155. Der Sinn für das Tragische nimmt mit der Sinnlichkeit ab und zu.

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156. Der Irrsinn ist bei Einzelnen etwas Seltenes, – aber bei Gruppen, Parteien, Völkern, Zeiten die Regel. 157. Der Gedanke an den Selbstmord ist ein starkes Trostmittel : mit ihm kommt man gut über manche böse Nacht hinweg. 158. Unserm stärksten Triebe, dem Tyrannen in uns, unterwirft sich nicht nur unsre Vernunft, sondern auch unser Gewissen. 159. Man mu s s vergelten, Gutes und Schlimmes : aber warum gerade an der Person, die uns Gutes oder Schlimmes that ? | 160. Man liebt seine Erkenntniss nicht genug mehr, sobald man sie mittheilt. 161. Die Dichter sind gegen ihre Erlebnisse schamlos : sie beuten sie aus. 162. „Unser Nächster ist nicht unser Nachbar, sondern dessen Nachbar“ – so denkt jedes Volk. 163. Die Liebe bringt die hohen und verborgenen Eigenschaften eines Liebenden an’s Licht, – sein Seltenes, Ausnahmsweises : insofern täuscht sie leicht über Das, was Regel an ihm ist. 164. Jesus sagte zu seinen Juden : „das Gesetz war für Knechte, – liebt Gott, wie ich ihn liebe, als sein Sohn ! Was geht uns Söhne Gottes die Moral an !“ –

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165. A n g e s ic ht s je d e r P a r t e i . – Ein Hirt hat immer auch noch einen Leithammel nöthig, – oder er muss selbst gelegentlich Hammel sein. 166. Man lügt wohl mit dem Munde ; aber mit dem Maule, das man dabei macht, sagt man doch noch die Wahrheit. 167. Bei harten Menschen ist die Innigkeit eine Sache der Scham – und etwas Kostbares. | 168. Das Christenthum gab dem Eros Gift zu trinken : – er starb zwar nicht daran, aber entartete, zum Laster. 169. Viel von sich reden kann auch ein Mittel sein, sich zu verbergen. 170. Im Lobe ist mehr Zudringlichkeit, als im Tadel. 171. Mitleiden wirkt an einem Menschen der Erkenntniss beinahe zum Lachen, wie zarte Hände an einem Cyklopen. 172. Man umarmt aus Menschenliebe bisweilen einen Beliebigen (weil man nicht Alle umarmen kann) : aber gerade Das darf man dem Beliebigen nicht verrathen … 173. Man hasst nicht, so lange man noch gering schätzt, sondern erst, wenn man gleich oder höher schätzt.

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174. Ihr Utilitarier, auch ihr liebt alles utile nur als ein F u h r we r k eurer Neigungen, – auch ihr fi ndet eigentlich den Lärm seiner Räder unausstehlich ? 175. Man liebt zuletzt seine Begierde, und nicht das Begehrte. 176. Die Eitelkeit Andrer geht uns nur dann wider den Geschmack, wenn sie wider unsre Eitelkeit geht. | 177. Über Das, was „Wahrhaftigkeit“ ist, war vielleicht noch Niemand wahrhaftig genug. 178. Klugen Menschen glaubt man ihre Thorheiten nicht : welche Einbusse an Menschenrechten ! 179. Die Folgen unsrer Handlungen fassen uns am Schopfe, sehr gleichgültig dagegen, dass wir uns inzwischen „gebessert“ haben. 180. Es giebt eine Unschuld in der Lüge, welche das Zeichen des guten Glaubens an eine Sache ist. 181. Es ist unmenschlich, da zu segnen, wo Einem geflucht wird. 182. Die Vertraulichkeit des Überlegenen erbittert, weil sie nicht zurückgegeben werden darf. –

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Viertes Hauptstück

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183. „Nicht dass du mich belogst, sondern dass ich dir nicht mehr glaube, hat mich erschüttert.“ – 184. Es giebt einen Übermuth der Güte, welcher sich wie Bosheit ausnimmt. 185. „Er missfällt mir.“ – Warum ? – „Ich bin ihm nicht gewachsen.“ – Hat je ein Mensch so geantwortet ? |

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Fünftes Hauptstück : zur Naturgeschichte der Moral. |

186. Die moralische Empfi ndung ist jetzt in Europa ebenso fein, spät, vielfach, reizbar, raffi nirt, als die dazu gehörige „Wissenschaft der Moral“ noch jung, anfängerhaft, plump und grobfi ngrig ist : – ein anziehender Gegensatz, der bisweilen in der Person eines Moralisten selbst sichtbar und leibhaft wird. Schon das Wort „Wissenschaft der Moral“ ist in Hinsicht auf Das, was damit bezeichnet wird, viel zu hochmüthig und wider den g ut e n Geschmack : welcher immer ein Vorgeschmack für die bescheideneren Worte zu sein pflegt. Man sollte, in aller Strenge, sich eingestehn, w a s hier auf lange hinaus noch noth thut, w a s vorläufig allein Recht hat : nämlich Sammlung des Materials, begriffliche Fassung und Zusammenordnung eines ungeheuren Reichs zarter Werthgefühle und Werthunterschiede, welche leben, wachsen, zeugen und zu Grunde gehn, – und, vielleicht, Versuche, die wiederkehrenden und häufigeren Gestaltungen dieser lebenden Krystallisation anschaulich zu machen, – als Vorbereitung zu einer Ty p e n le h r e der Moral. Freilich : man war bisher nicht so bescheiden. Die Philosophen allesammt forderten, mit einem steifen Ernste, der lachen macht, von sich etwas sehr viel Höheres, Anspruchsvolleres, Feierlicheres, sobald sie sich mit der Moral als Wissenschaft befassten : sie wollten die B e g r ü nd u n g der Moral, – und jeder Philosoph hat bisher geglaubt, die Moral begründet zu haben ; die Moral selbst aber galt als „gegeben“. Wie | ferne lag ihrem plumpen Stolze jene unscheinbar dünkende und in Staub und Moder belassene Aufgabe einer Beschreibung, obwohl für sie kaum die feinsten Hände und Sinne fein genug sein könnten ! Gerade

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dadurch, dass die Moral-Philosophen die moralischen facta nur gröblich, in einem willkürlichen Auszuge oder als zufällige Abkürzung kannten, etwa als Moralität ihrer Umgebung, ihres Standes, ihrer Kirche, ihres Zeitgeistes, ihres Klima’s und Erdstriches, – gerade dadurch, dass sie in Hinsicht auf Völker, Zeiten, Vergangenheiten schlecht unterrichtet und selbst wenig wissbegierig waren, bekamen sie die eigentlichen Probleme der Moral gar nicht zu Gesichte : – als welche alle erst bei einer Vergleichung v ie le r Moralen auftauchen. In aller bisherigen „Wissenschaft der Moral“ f e h lt e, so wunderlich es klingen mag, noch das Problem der Moral selbst : es fehlte der Argwohn dafür, dass es hier etwas Problematisches gebe. Was die Philosophen „Begründung der Moral“ nannten und von sich forderten, war, im rechten Lichte gesehn, nur eine gelehrte Form des guten G l au b e n s an die herrschende Moral, ein neues Mittel ihres Au s d r uc k s , also ein Thatbestand selbst innerhalb einer bestimmten Moralität, ja sogar, im letzten Grunde, eine Art Leugnung, dass diese Moral als Problem gefasst werden d ü r f e : – und jedenfalls das Gegenstück einer Prüfung, Zerlegung, Anzweiflung, Vivisektion eben dieses Glaubens. Man höre zum Beispiel, mit welcher beinahe verehrenswürdigen Unschuld noch Schopenhauer seine eigene Aufgabe hinstellt, und man mache seine Schlüsse über die Wissenschaftlichkeit einer „Wissenschaft“, deren letzte Meister noch wie die Kinder und die alten Weibchen reden : – „das Princip, sagt er (p. 136 der Grundprobleme der Moral), | der Grundsatz, über dessen Inhalt alle Ethiker e i g e nt l ic h einig sind : neminem laede, immo omnes, quantum potes, juva – das ist e i g e nt l ic h der Satz, welchen zu begründen alle Sittenlehrer sich abmühen … das e i g e nt l ic he Fundament der Ethik, welches man wie den Stein der Weisen seit Jahrtausenden sucht.“ – Die Schwierigkeit, den angeführten Satz zu begründen, mag freilich gross sein – bekanntlich ist es auch Schopenhauern damit nicht geglückt – ; und wer

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einmal gründlich nachgefühlt hat, wie abgeschmackt-falsch und sentimental dieser Satz ist, in einer Welt, deren Essenz Wille zur Macht ist – , der mag sich daran erinnern lassen, dass Schopenhauer, obschon Pessimist, e i g e nt l ic h – die Flöte blies … Täglich, nach Tisch : man lese hierüber seinen Biographen. Und beiläufig gefragt : ein Pessimist, ein Gott- und WeltVerneiner, der vor der Moral H a lt m ac ht , – der zur Moral Ja sagt und Flöte bläst, zur laede-neminem-Moral : wie ? ist das eigentlich – ein Pessimist ? 187. Abgesehn noch vom Werthe solcher Behauptungen wie „es giebt in uns einen kategorischen Imperativ“, kann man immer noch fragen : was sagt eine solche Behauptung von dem sie Behauptenden aus ? Es giebt Moralen, welche ihren Urheber vor Anderen rechtfertigen sollen ; andre Moralen sollen ihn beruhigen und mit sich zufrieden stimmen ; mit anderen will er sich selbst an’s Kreuz schlagen und demüthigen ; mit andern will er Rache üben, mit andern sich verstecken, mit andern sich verklären und hinaus, in die Höhe und Ferne setzen ; diese Moral dient ihrem Urheber, um zu vergessen, jene, um sich oder Etwas von sich vergessen | zu machen ; mancher Moralist möchte an der Menschheit Macht und schöpferische Laune ausüben ; manch Anderer, vielleicht gerade auch Kant, giebt mit seiner Moral zu verstehn : „was an mir achtbar ist, das ist, dass ich gehorchen kann, – und bei euch s ol l es nicht anders stehn, als bei mir !“ – kurz, die Moralen sind auch nur eine Z e ic he n s p r ac he d e r A f f e k t e. 188. Jede Moral ist, im Gegensatz zum laisser aller, ein Stück Tyrannei gegen die „Natur“, auch gegen die „Vernunft“ : das ist aber noch kein Einwand gegen sie, man müsste denn selbst schon wieder von irgend einer Moral aus dekretiren, dass alle Art Tyrannei und Unvernunft unerlaubt sei. Das Wesent-

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liche und Unschätzbare an jeder Moral ist, dass sie ein langer Zwang ist : um den Stoicismus oder Port-Royal oder das Puritanerthum zu verstehen, mag man sich des Zwangs erinnern, unter dem bisher jede Sprache es zur Stärke und Freiheit gebracht, – des metrischen Zwangs, der Tyrannei von Reim und Rhythmus. Wie viel Noth haben sich in jedem Volke die Dichter und die Redner gemacht ! – einige Prosaschreiber von heute nicht ausgenommen, in deren Ohr ein unerbittliches Gewissen wohnt – „um einer Thorheit willen“, wie utilitarische Tölpel sagen, welche sich damit klug dünken, – „aus Unterwürfigkeit gegen Willkür-Gesetze“, wie die Anarchisten sagen, die sich damit „frei“, selbst freigeistisch wähnen. Der wunderliche Thatbestand ist aber, dass Alles, was es von Freiheit, Feinheit, Kühnheit, Tanz und meisterlicher Sicherheit auf Erden giebt oder gegeben hat, sei es nun in dem Denken selbst, oder im Regieren, oder im Reden und Überreden, in den Künsten ebenso wie in | den Sittlichkeiten, sich erst vermöge der „Tyrannei solcher Willkür-Gesetze“ entwickelt hat ; und allen Ernstes, die Wahrscheinlichkeit dafür ist nicht gering, dass gerade dies „Natur“ und „natürlich“ sei – und n ic ht jenes laisser aller ! Jeder Künstler weiss, wie fern vom Gefühl des Sich-gehen-lassens sein „natürlichster“ Zustand ist, das freie Ordnen, Setzen, Verfügen, Gestalten in den Augenblikken der „Inspiration“, – und wie streng und fein er gerade da tausendfältigen Gesetzen gehorcht, die aller Formulirung durch Begriffe gerade auf Grund ihrer Härte und Bestimmtheit spotten (auch der festeste Begriff hat, dagegen gehalten, etwas Schwimmendes, Vielfaches, Vieldeutiges –). Das Wesentliche, „im Himmel und auf Erden“, wie es scheint, ist, nochmals gesagt, dass lange und in Einer Richtung g e hor c ht werde : dabei kommt und kam auf die Dauer immer Etwas heraus, dessentwillen es sich lohnt, auf Erden zu leben, zum Beispiel Tugend, Kunst, Musik, Tanz, Vernunft, Geistigkeit, – irgend etwas Verklärendes, Raffi nirtes, Tolles und Göttliches.

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Die lange Unfreiheit des Geistes, der misstrauische Zwang in der Mittheilbarkeit der Gedanken, die Zucht, welche sich der Denker auferlegte, innerhalb einer kirchlichen und höfischen Richtschnur oder unter aristotelischen Voraussetzungen zu denken, der lange geistige Wille, Alles, was geschieht, nach einem christlichen Schema auszulegen und den christlichen Gott noch in jedem Zufalle wieder zu entdecken und zu rechtfertigen, – all dies Gewaltsame, Willkürliche, Harte, Schauerliche, Widervernünftige hat sich als das Mittel herausgestellt, durch welches dem europäischen Geiste seine Stärke, seine rücksichtslose Neugierde und feine Beweglichkeit angezüchtet wurde : zugegeben, dass dabei ebenfalls uner|setzbar viel an Kraft und Geist erdrückt, erstickt und verdorben werden musste (denn hier wie überall zeigt sich „die Natur“, wie sie ist, in ihrer ganzen verschwenderischen und g le ic h g ü lt i g e n Grossartigkeit, welche empört, aber vornehm ist). Dass Jahrtausende lang die europäischen Denker nur dachten, um Etwas zu beweisen – heute ist uns umgekehrt jeder Denker verdächtig, der „Etwas beweisen will“ – , dass ihnen bereits immer feststand, was als Resultat ihres strengsten Nachdenkens herauskommen s ol lt e, etwa wie ehemals bei der asiatischen Astrologie oder wie heute noch bei der harmlosen christlich-moralischen Auslegung der nächsten persönlichen Ereignisse „zu Ehren Gottes“ und „zum Heil der Seele“ : – diese Tyrannei, diese Willkür, diese strenge und grandiose Dummheit hat den Geist e r z og e n ; die Sklaverei ist, wie es scheint, im gröberen und feineren Verstande das unentbehrliche Mittel auch der geistigen Zucht und Züchtung. Man mag jede Moral darauf hin ansehn : die „Natur“ in ihr ist es, welche das laisser aller, die allzugrosse Freiheit hassen lehrt und das Bedürfniss nach beschränkten Horizonten, nach nächsten Aufgaben pflanzt, – welche die Ve r e n g e r u n g d e r Pe r s p e k t i ve , und also in gewissem Sinne die Dummheit, als eine Lebens- und Wachsthums-Bedingung lehrt. „Du sollst

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gehorchen, irgend wem, und auf lange : s o n s t gehst du zu Grunde und verlierst die letzte Achtung vor dir selbst“ – dies scheint mir der moralische Imperativ der Natur zu sein, welcher freilich weder „kategorisch“ ist, wie es der alte Kant von ihm verlangte (daher das „sonst“ –), noch an den Einzelnen sich wendet (was liegt ihr am Einzelnen !), wohl aber an Völker, Rassen, Zeitalter, Stände, vor Allem aber an das ganze Thier „Mensch“, an d e n Menschen. | 189. Die arbeitsamen Rassen fi nden eine grosse Beschwerde darin, den Müssiggang zu ertragen : es war ein Meisterstück des e n g l i s c he n Instinktes, den Sonntag in dem Maasse zu heiligen und zu langweiligen, dass der Engländer dabei wieder unvermerkt nach seinem Wochen- und Werktage lüstern wird : – als eine Art klug erfundenen, klug eingeschalteten Fa s t e n s , wie dergleichen auch in der antiken Welt reichlich wahrzunehmen ist (wenn auch, wie billig bei südländischen Völkern, nicht gerade in Hinsicht auf Arbeit –). Es muss Fasten von vielerlei Art geben ; und überall, wo mächtige Triebe und Gewohnheiten herrschen, haben die Gesetzgeber dafür zu sorgen, Schalttage einzuschieben, an denen solch ein Trieb in Ketten gelegt wird und wieder einmal hungern lernt. Von einem höheren Orte aus gesehn, erscheinen ganze Geschlechter und Zeitalter, wenn sie mit irgend einem moralischen Fanatismus behaftet auftreten, als solche eingelegte Zwangs- und Fastenzeiten, während welchen ein Trieb sich ducken und niederwerfen, aber auch sich r e i n i g e n und s c h ä r f e n lernt ; auch einzelne philosophische Sekten (zum Beispiel die Stoa inmitten der hellenistischen Cultur und ihrer mit aphrodisischen Düften überladenen und geil gewordenen Luft) erlauben eine derartige Auslegung. – Hiermit ist auch ein Wink zur Erklärung jenes Paradoxons gegeben, warum gerade in der christlichsten Periode Europa’s und überhaupt erst unter

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dem Druck christlicher Werthurtheile der Geschlechtstrieb sich bis zur Liebe (amour-passion) sublimirt hat. | 190. Es giebt Etwas in der Moral Plato’s, das nicht eigentlich zu Plato gehört, sondern sich nur an seiner Philosophie vorfi ndet, man könnte sagen, trotz Plato : nämlich der Sokratismus, für den er eigentlich zu vornehm war. „Keiner will sich selbst Schaden thun, daher geschieht alles Schlechte unfreiwillig. Denn der Schlechte fügt sich selbst Schaden zu : das würde er nicht thun, falls er wüsste, dass das Schlechte schlecht ist. Demgemäss ist der Schlechte nur aus einem Irrthum schlecht ; nimmt man ihm seinen Irrthum, so macht man ihn nothwendig – gut.“ – Diese Art zu schliessen riecht nach dem Pö b e l , der am Schlechthandeln nur die leidigen Folgen in’s Auge fasst und eigentlich urtheilt „es ist d u m m , schlecht zu handeln“ ; während er „gut“ mit „nützlich und angenehm“ ohne Weiteres als identisch nimmt. Man darf bei jedem Utilitarismus der Moral von vornherein auf diesen gleichen Ursprung rathen und seiner Nase folgen : man wird selten irre gehn. – Plato hat Alles gethan, um etwas Feines und Vornehmes in den Satz seines Lehrers hinein zu interpretiren, vor Allem sich selbst – , er, der verwegenste aller Interpreten, der den ganzen Sokrates nur wie ein populäres Thema und Volkslied von der Gasse nahm, um es in’s Unendliche und Unmögliche zu variiren : nämlich in alle seine eignen Masken und Vielfältigkeiten. Im Scherz gesprochen, und noch dazu homerisch : was ist denn der platonische Sokrates, wenn nicht πρσε Πλ των πιν τε Πλ των μσση τε Χμαιρα.

191. Das alte theologische Problem von „Glauben“ und „Wissen“ – oder, deutlicher, von Instinkt und Ver|nunft – also die Frage, ob in Hinsicht auf Werthschätzung der Dinge der Instinkt

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mehr Autorität verdiene, als die Vernünftigkeit, welche nach Gründen, nach einem „Warum ?“, also nach Zweckmässigkeit und Nützlichkeit geschätzt und gehandelt wissen will, – es ist immer noch jenes alte moralische Problem, wie es zuerst in der Person des Sokrates auftrat und lange vor dem Christenthum schon die Geister gespaltet hat. Sokrates selbst hatte sich zwar mit dem Geschmack seines Talentes – dem eines überlegenen Dialektikers – zunächst auf Seiten der Vernunft gestellt ; und in Wahrheit, was hat er sein Leben lang gethan, als über die linkische Unfähigkeit seiner vornehmen Athener zu lachen, welche Menschen des Instinktes waren gleich allen vornehmen Menschen und niemals genügend über die Gründe ihres Handelns Auskunft geben konnten ? Zuletzt aber, im Stillen und Geheimen, lachte er auch über sich selbst : er fand bei sich, vor seinem feineren Gewissen und Selbstverhör, die gleiche Schwierigkeit und Unfähigkeit. Wozu aber, redete er sich zu, sich deshalb von den Instinkten lösen ! Man muss ihnen und auc h der Vernunft zum Recht verhelfen, – man muss den Instinkten folgen, aber die Vernunft überreden, ihnen dabei mit guten Gründen nachzuhelfen. Dies war die eigentliche Fa l s c h he it jenes grossen geheimnissreichen Ironikers ; er brachte sein Gewissen dahin, sich mit einer Art Selbstüberlistung zufrieden zu geben : im Grunde hatte er das Irrationale im moralischen Urtheile durchschaut. – Plato, in solchen Dingen unschuldiger und ohne die Verschmitztheit des Plebejers, wollte mit Aufwand aller Kraft – der grössten Kraft, die bisher ein Philosoph aufzuwenden hatte ! – sich beweisen, dass Vernunft und Instinkt von selbst auf | Ein Ziel zugehen, auf das Gute, auf „Gott“ ; und seit Plato sind alle Theologen und Philosophen auf der gleichen Bahn, – das heisst, in Dingen der Moral hat bisher der Instinkt, oder wie die Christen es nennen, „der Glaube“, oder wie ich es nenne, „die Heerde“ gesiegt. Man müsste denn Descartes ausnehmen, den Vater des Rationalismus (und folglich Grossvater der Revolution), wel-

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cher der Vernunft allein Autorität zuerkannte : aber die Vernunft ist nur ein Werkzeug, und Descartes war oberflächlich. 192. Wer der Geschichte einer einzelnen Wissenschaft nachgegangen ist, der fi ndet in ihrer Entwicklung einen Leitfaden zum Verständniss der ältesten und gemeinsten Vorgänge alles „Wissens und Erkennens“ : dort wie hier sind die voreiligen Hypothesen, die Erdichtungen, der gute dumme Wille zum „Glauben“, der Mangel an Misstrauen und Geduld zuerst entwickelt, – unsre Sinne lernen es spät, und lernen es nie ganz, feine treue vorsichtige Organe der Erkenntniss zu sein. Unserm Auge fällt es bequemer, auf einen gegebenen Anlass hin ein schon öfter erzeugtes Bild wieder zu erzeugen, als das Abweichende und Neue eines Eindrucks bei sich festzuhalten : letzteres braucht mehr Kraft, mehr „Moralität“. Etwas Neues hören ist dem Ohre peinlich und schwierig ; fremde Musik hören wir schlecht. Unwillkürlich versuchen wir, beim Hören einer andren Sprache, die gehörten Laute in Worte einzuformen, welche uns vertrauter und heimischer klingen : so machte sich zum Beispiel der Deutsche ehemals aus dem gehörten arcubalista das Wort Armbrust zurecht. Das Neue fi ndet auch unsre Sinne feindlich und widerwillig ; und über|haupt he r r s c he n schon bei den „einfachsten“ Vorgängen der Sinnlichkeit die Affekte, wie Furcht, Liebe, Hass, eingeschlossen die passiven Affekte der Faulheit. – So wenig ein Leser heute die einzelnen Worte (oder gar Silben) einer Seite sämmtlich abliest – er nimmt vielmehr aus zwanzig Worten ungefähr fünf nach Zufall heraus und „erräth“ den zu diesen fünf Worten muthmaasslich zugehörigen Sinn – , eben so wenig sehen wir einen Baum genau und vollständig, in Hinsicht auf Blätter, Zweige, Farbe, Gestalt ; es fällt uns so sehr viel leichter, ein Ungefähr von Baum hin zu phantasiren. Selbst inmitten der seltsamsten Erlebnisse machen wir es noch ebenso :

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wir erdichten uns den grössten Theil des Erlebnisses und sind kaum dazu zu zwingen, n ic ht als „Erfi nder“ irgend einem Vorgange zuzuschauen. Dies Alles will sagen : wir sind von Grund aus, von Alters her – a n’s Lü g e n g ewöh nt . Oder, um es tugendhafter und heuchlerischer, kurz angenehmer auszudrücken : man ist viel mehr Künstler als man weiss. – In einem lebhaften Gespräch sehe ich oftmals das Gesicht der Person, mit der ich rede, je nach dem Gedanken, den sie äussert, oder den ich bei ihr hervorgerufen glaube, so deutlich und feinbestimmt vor mir, dass dieser Grad von Deutlichkeit weit über die K r a f t meines Sehvermögens hinausgeht : – die Feinheit des Muskelspiels und des Augen-Ausdrucks mu s s also von mir hinzugedichtet sein. Wahrscheinlich machte die Person ein ganz anderes Gesicht oder gar keins. 193. Quidquid luce fuit, tenebris agit : aber auch umgekehrt. Was wir im Traume erleben, vorausgesetzt, dass wir es oftmals erleben, gehört zuletzt so gut zum Ge|sammt-Haushalt unsrer Seele, wie irgend etwas „wirklich“ Erlebtes : wir sind vermöge desselben reicher oder ärmer, haben ein Bedürfniss mehr oder weniger und werden schliesslich am hellen lichten Tage, und selbst in den heitersten Augenblicken unsres wachen Geistes ein Wenig von den Gewöhnungen unsrer Träume gegängelt. Gesetzt, dass Einer in seinen Träumen oftmals geflogen ist und endlich, sobald er träumt, sich einer Kraft und Kunst des Fliegens wie seines Vorrechtes bewusst wird, auch wie seines eigensten beneidenswerthen Glücks : ein Solcher, der jede Art von Bogen und Winkeln mit dem leisesten Impulse verwirklichen zu können glaubt, der das Gefühl einer gewissen göttlichen Leichtfertigkeit kennt, ein „nach Oben“ ohne Spannung und Zwang, ein „nach Unten“ ohne Herablassung und Erniedrigung – ohne S c hwe r e ! – wie sollte der Mensch solcher Traum-Erfahrungen und Traum-Gewohnheiten nicht endlich

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auch für seinen wachen Tag das Wort „Glück“ anders gefärbt und bestimmt fi nden ! wie sollte er nicht a nd e r s nach Glück – verlangen ? „Aufschwung“, so wie dies von Dichtern beschrieben wird, muss ihm, gegen jenes „Fliegen“ gehalten, schon zu erdenhaft, muskelhaft, gewaltsam, schon zu „schwer“ sein. 194. Die Verschiedenheit der Menschen zeigt sich nicht nur in der Verschiedenheit ihrer Gütertafeln, also darin, dass sie verschiedene Güter für erstrebenswerth halten und auch über das Mehr und Weniger des Werthes, über die Rangordnung der gemeinsam anerkannten Güter mit einander uneins sind : – sie zeigt sich noch mehr in dem, was ihnen als wirkliches H a b e n und | B e s it z e n eines Gutes gilt. In Betreff eines Weibes zum Beispiel gilt dem Bescheideneren schon die Verfügung über den Leib und der Geschlechtsgenuss als ausreichendes und genugthuendes Anzeichen des Habens, des Besitzens ; ein Anderer, mit seinem argwöhnischeren und anspruchsvolleren Durste nach Besitz, sieht das „Fragezeichen“, das nur Scheinbare eines solchen Habens und will feinere Proben, vor Allem, um zu wissen, ob das Weib nicht nur ihm sich giebt, sondern auch für ihn lässt, was sie hat oder gerne hätte – : s o erst gilt es ihm als „besessen“. Ein Dritter aber ist auch hier noch nicht am Ende seines Misstrauens und Habenwollens, er fragt sich, ob das Weib, wenn es Alles für ihn lässt, dies nicht etwa für ein Phantom von ihm thut : er will erst gründlich, ja abgründlich gut gekannt sein, um überhaupt geliebt werden zu können, er wagt es, sich errathen zu lassen –. Erst dann fühlt er die Geliebte völlig in seinem Besitze, wenn sie sich nicht mehr über ihn betrügt, wenn sie ihn um seiner Teufelei und versteckten Unersättlichkeit willen eben so sehr liebt, als um seiner Güte, Geduld und Geistigkeit willen. Jener möchte ein Volk besitzen : und alle höheren Cagliostro- und CatilinaKünste sind ihm zu diesem Zwecke recht. Ein Anderer, mit

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einem feineren Besitzdurste, sagt sich „man darf nicht betrügen, wo man besitzen will“ – , er ist gereizt und ungeduldig bei der Vorstellung, dass eine Maske von ihm über das Herz des Volks gebietet : „also muss ich mich kennen l a s s e n und, vorerst, mich selbst kennen !“ Unter hülfreichen und wohlthätigen Menschen fi ndet man jene plumpe Arglist fast regelmässig vor, welche sich Den, dem geholfen werden soll, erst zurecht macht : als ob er zum Beispiel Hülfe „verdiene“, gerade nach | i h r e r Hülfe verlange, und für alle Hülfe sich ihnen tief dankbar, anhänglich, unterwürfig beweisen werde, – mit diesen Einbildungen verfügen sie über den Bedürftigen wie über ein Eigenthum, wie sie aus einem Verlangen nach Eigenthum überhaupt wohlthätige und hülfreiche Menschen sind. Man fi ndet sie eifersüchtig, wenn man sie beim Helfen kreuzt oder ihnen zuvorkommt. Die Eltern machen unwillkürlich aus dem Kinde etwas ihnen Ähnliches – sie nennen das „Erziehung“ – , keine Mutter zweifelt im Grunde ihres Herzens daran, am Kinde sich ein Eigenthum geboren zu haben, kein Vater bestreitet sich das Recht, es s e i n e n Begriffen und Werthschätzungen unterwerfen zu dürfen. Ja, ehemals schien es den Vätern billig, über Leben und Tod des Neugebornen (wie unter den alten Deutschen) nach Gutdünken zu verfügen. Und wie der Vater, so sehen auch jetzt noch der Lehrer, der Stand, der Priester, der Fürst in jedem neuen Menschen eine unbedenkliche Gelegenheit zu neuem Besitze. Woraus folgt … 195. Die Juden – ein Volk „geboren zur Sklaverei“, wie Tacitus und die ganze antike Welt sagt, „das auserwählte Volk unter den Völkern“, wie sie selbst sagen und glauben – die Juden haben jenes Wunderstück von Umkehrung der Werthe zu Stande gebracht, Dank welchem das Leben auf der Erde für ein Paar Jahrtausende einen neuen und gefährlichen Reiz erhalten hat : – ihre Propheten haben „reich“ „gottlos“ „böse“ „gewalt-

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thätig“ „sinnlich“ in Eins geschmolzen und zum ersten Male das Wort „Welt“ zum Schandwort gemünzt. In dieser Umkehrung der Werthe (zu der es gehört, das Wort für „Arm“ als synonym mit „Heilig“ und | „Freund“ zu brauchen) liegt die Bedeutung des jüdischen Volks : mit ihm beginnt der S k l ave n -A u f s t a n d i n d e r Mor a l . 196. Es giebt unzählige dunkle Körper neben der Sonne zu e r s c h l ie s s e n , – solche die wir nie sehen werden. Das ist, unter uns gesagt, ein Gleichniss ; und ein Moral-Psycholog liest die gesammte Sternenschrift nur als eine Gleichniss- und Zeichensprache, mit der sich Vieles verschweigen lässt. 197. Man missversteht das Raubthier und den Raubmenschen (zum Beispiele Cesare Borgia) gründlich, man missversteht die „Natur“, so lange man noch nach einer „Krankhaftigkeit“ im Grunde dieser gesündesten aller tropischen Unthiere und Gewächse sucht, oder gar nach einer ihnen eingeborenen „Hölle“ – : wie es bisher fast alle Moralisten gethan haben. Es scheint, dass es bei den Moralisten einen Hass gegen den Urwald und gegen die Tropen giebt ? Und dass der „tropische Mensch“ um jeden Preis diskreditirt werden muss, sei es als Krankheit und Entartung des Menschen, sei es als eigne Hölle und Selbst-Marterung ? Warum doch ? Zu Gunsten der „gemässigten Zonen“ ? Zu Gunsten der gemässigten Menschen ? Der „Moralischen“ ? Der Mittelmässigen ? – Dies zum Kapitel „Moral als Furchtsamkeit“. – 198. Alle diese Moralen, die sich an die einzelne Person wenden, zum Zwecke ihres „Glückes“, wie es heisst, – was sind sie Anderes, als Verhaltungs-Vorschläge im | Verhältniss zum Grade der G e f ä h rl ic h k e it , in welcher die einzelne Person mit sich

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selbst lebt ; Recepte gegen ihre Leidenschaften, ihre guten und schlimmen Hänge, so fern sie den Willen zur Macht haben und den Herrn spielen möchten ; kleine und grosse Klugheiten und Künsteleien, behaftet mit dem Winkelgeruch alter Hausmittel und Altweiber-Weisheit ; allesammt in der Form barock und unvernünftig – weil sie sich an „Alle“ wenden, weil sie generalisiren, wo nicht generalisirt werden darf – , allesammt unbedingt redend, sich unbedingt nehmend, allesammt nicht nur mit Einem Korne Salz gewürzt, vielmehr erst erträglich, und bisweilen sogar verführerisch, wenn sie überwürzt und gefährlich zu riechen lernen, vor Allem „nach der anderen Welt“ : Das ist Alles, intellektuell gemessen, wenig werth und noch lange nicht „Wissenschaft“, geschweige denn „Weisheit“, sondern, nochmals gesagt und dreimal gesagt, Klugheit, Klugheit, Klugheit, gemischt mit Dummheit, Dummheit, Dummheit, – sei es nun jene Gleichgültigkeit und Bildsäulenkälte gegen die hitzige Narrheit der Affekte, welche die Stoiker anriethen und ankurirten ; oder auch jenes Nichtmehr-Lachen und Nicht-mehr-Weinen des Spinoza, seine so naiv befürwortete Zerstörung der Affekte durch Analysis und Vivisektion derselben ; oder jene Herabstimmung der Affekte auf ein unschädliches Mittelmaass, bei welchem sie befriedigt werden dürfen, der Aristotelismus der Moral ; selbst Moral als Genuss der Affekte in einer absichtlichen Verdünnung und Vergeistigung durch die Symbolik der Kunst, etwa als Musik, oder als Liebe zu Gott und zum Menschen um Gotteswillen – denn in der Religion haben die Leidenschaften wieder Bürgerrecht, vorausgesetzt dass … ; zuletzt selbst jene entgegen-| kommende und muthwillige Hingebung an die Affekte, wie sie Hafis und Goethe gelehrt haben, jenes kühne Fallen-lassen der Zügel, jene geistig-leibliche licentia morum in dem Ausnahmefalle alter weiser Käuze und Trunkenbolde, bei denen es „wenig Gefahr mehr hat“. Auch Dies zum Kapitel „Moral als Furchtsamkeit“.

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199. Insofern es zu allen Zeiten, so lange es Menschen giebt, auch Menschenheerden gegeben hat (Geschlechts-Verbände, Gemeinden, Stämme, Völker, Staaten, Kirchen) und immer sehr viel Gehorchende im Verhältniss zu der kleinen Zahl Befehlender, – in Anbetracht also, dass Gehorsam bisher am besten und längsten unter Menschen geübt und gezüchtet worden ist, darf man billig voraussetzen, dass durchschnittlich jetzt einem Jeden das Bedürfniss darnach angeboren ist, als eine Art f or m a le n G ew i s s e n s , welches gebietet : „du sollst irgend Etwas unbedingt thun, irgend Etwas unbedingt lassen“, kurz „du sollst“. Dies Bedürfniss sucht sich zu sättigen und seine Form mit einem Inhalte zu füllen ; es greift dabei, gemäss seiner Stärke, Ungeduld und Spannung, wenig wählerisch, als ein grober Appetit, zu und nimmt an, was ihm nur von irgend welchen Befehlenden – Eltern, Lehrern, Gesetzen, Standesvorurtheilen, öffentlichen Meinungen – in’s Ohr gerufen wird. Die seltsame Beschränktheit der menschlichen Entwicklung, das Zögernde, Langwierige, oft Zurücklaufende und Sich-Drehende derselben beruht darauf, dass der Heerden-Instinkt des Gehorsams am besten und auf Kosten der Kunst des Befehlens vererbt wird. Denkt man sich diesen Instinkt einmal bis zu seinen letzten Ausschweifungen schreitend, so fehlen | endlich geradezu die Befehlshaber und Unabhängigen ; oder sie leiden innerlich am schlechten Gewissen und haben nöthig, sich selbst erst eine Täuschung vorzumachen, um befehlen zu können : nämlich als ob auch sie nur gehorchten. Dieser Zustand besteht heute thatsächlich in Europa : ich nenne ihn die moralische Heuchelei der Befehlenden. Sie wissen sich nicht anders vor ihrem schlechten Gewissen zu schützen als dadurch, dass sie sich als Ausführer älterer oder höherer Befehle gebärden (der Vorfahren, der Verfassung, des Rechts, der Gesetze oder gar Gottes) oder selbst von der Heerden-Denkweise her sich Heerden-Maxi-

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men borgen, zum Beispiel als „erste Diener ihres Volks“ oder als „Werkzeuge des gemeinen Wohls“. Auf der anderen Seite giebt sich heute der Heerdenmensch in Europa das Ansehn, als sei er die einzig erlaubte Art Mensch, und verherrlicht seine Eigenschaften, vermöge deren er zahm, verträglich und der Heerde nützlich ist, als die eigentlich menschlichen Tugenden : also Gemeinsinn, Wohlwollen, Rücksicht, Fleiss, Mässigkeit, Bescheidenheit, Nachsicht, Mitleiden. Für die Fälle aber, wo man der Führer und Leithammel nicht entrathen zu können glaubt, macht man heute Versuche über Versuche, durch Zusammen-Addiren kluger Heerdenmenschen die Befehlshaber zu ersetzen : dieses Ursprungs sind zum Beispiel alle repräsentativen Verfassungen. Welche Wohlthat, welche Erlösung von einem unerträglich werdenden Druck trotz Alledem das Erscheinen eines unbedingt Befehlenden für diese Heerdenthier-Europäer ist, dafür gab die Wirkung, welche das Erscheinen Napoleon’s machte, das letzte grosse Zeugniss : – die Geschichte der Wirkung Napoleon’s ist beinahe die Geschichte des höheren Glücks, zu dem es dieses | ganze Jahrhundert in seinen werthvollsten Menschen und Augenblicken gebracht hat. 200. Der Mensch aus einem Auflösungs-Zeitalter, welches die Rassen durch einander wirft, der als Solcher die Erbschaft einer vielfältigen Herkunft im Leibe hat, das heisst gegensätzliche und oft nicht einmal nur gegensätzliche Triebe und Werthmaasse, welche mit einander kämpfen und sich selten Ruhe geben, – ein solcher Mensch der späten Culturen und der gebrochenen Lichter wird durchschnittlich ein schwächerer Mensch sein : sein gründlichstes Verlangen geht darnach, dass der Krieg, der er i s t , einmal ein Ende habe ; das Glück erscheint ihm, in Übereinstimmung mit einer beruhigenden (zum Beispiel epikurischen oder christlichen) Medizin und Denkweise, vornehmlich als das Glück des Ausruhens, der

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Ungestörtheit, der Sattheit, der endlichen Einheit, als „Sabbat der Sabbate“, um mit dem heiligen Rhetor Augustin zu reden, der selbst ein solcher Mensch war. – Wirkt aber der Gegensatz und Krieg in einer solchen Natur wie ein Lebensreiz und -Kitzel me h r – , und ist andererseits zu ihren mächtigen und unversöhnlichen Trieben auch die eigentliche Meisterschaft und Feinheit im Kriegführen mit sich, also Selbst-Beherrschung, Selbst-Überlistung hinzuvererbt und angezüchtet : so entstehen jene zauberhaften Unfassbaren und Unausdenklichen, jene zum Siege und zur Verführung vorherbestimmten Räthselmenschen, deren schönster Ausdruck Alcibiades und Caesar (– denen ich gerne jenen e r s t e n Europäer nach meinem Geschmack, den Hohenstaufen Friedrich den Zweiten zugesellen möchte), unter Künstlern viel|leicht Lionardo da Vinci ist. Sie erscheinen genau in den selben Zeiten, wo jener schwächere Typus, mit seinem Verlangen nach Ruhe, in den Vordergrund tritt : beide Typen gehören zu einander und entspringen den gleichen Ursachen. 201. So lange die Nützlichkeit, die in den moralischen Werthurthei len herrscht, allein die Heerden-Nützlichkeit ist, so lange der Blick einzig der Erhaltung der Gemeinde zugewendet ist, und das Unmoralische genau und ausschliesslich in dem gesucht wird, was dem Gemeinde-Bestand gefährlich scheint : so lange kann es noch keine „Moral der Nächstenliebe“ geben. Gesetzt, es fi ndet sich auch da bereits eine beständige kleine Übung von Rücksicht, Mitleiden, Billigkeit, Milde, Gegenseitigkeit der Hülfleistung, gesetzt, es sind auch auf diesem Zustande der Gesellschaft schon alle jene Triebe thätig, welche später mit Ehrennamen, als „Tugenden“ bezeichnet werden und schliesslich fast mit dem Begriff „Moralität“ in Eins zusammenfallen : in jener Zeit gehören sie noch gar nicht in das Reich der moralischen Werthschätzungen – sie sind noch au s s e r m o r a l i s c h . Eine mitleidige Handlung zum

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Beispiel heisst in der besten Römerzeit weder gut noch böse, weder moralisch noch unmoralisch ; und wird sie selbst gelobt, so verträgt sich mit diesem Lobe noch auf das Beste eine Art unwilliger Gering-Schätzung, sobald sie nämlich mit irgend einer Handlung zusammengehalten wird, welche der Förderung des Ganzen, der res publica, dient. Zuletzt ist die „Liebe zum Nächsten“ immer etwas Nebensächliches, zum Theil Conventionelles und Willkürlich-Scheinbares im Verhältniss zur F u r c h t vor d e m N ä c h s t e n . Nachdem | das Gefüge der Gesellschaft im Ganzen festgestellt und gegen äussere Gefahren gesichert erscheint, ist es diese Furcht vor dem Nächsten, welche wieder neue Perspektiven der moralischen Werthschätzung schaff t. Gewisse starke und gefährliche Triebe, wie Unternehmungslust, Tollkühnheit, Rachsucht, Verschlagenheit, Raubgier, Herrschsucht, die bisher in einem gemeinnützigen Sinne nicht nur geehrt – unter anderen Namen, wie billig, als den eben gewählten – , sondern gross-gezogen und -gezüchtet werden mussten (weil man ihrer in der Gefahr des Ganzen gegen die Feinde des Ganzen beständig bedurfte), werden nunmehr in ihrer Gefährlichkeit doppelt stark empfunden – jetzt, wo die Abzugskanäle für sie fehlen – und schrittweise, als unmoralisch, gebrandmarkt und der Verleumdung preisgegeben. Jetzt kommen die gegensätzlichen Triebe und Neigungen zu moralischen Ehren ; der Heerden-Instinkt zieht, Schritt für Schritt, seine Folgerung. Wie viel oder wie wenig Gemein-Gefährliches, der Gleichheit Gefährliches in einer Meinung, in einem Zustand und Affekte, in einem Willen, in einer Begabung liegt, das ist jetzt die moralische Perspektive : die Furcht ist auch hier wieder die Mutter der Moral. An den höchsten und stärksten Trieben, wenn sie, leidenschaftlich ausbrechend, den Einzelnen weit über den Durchschnitt und die Niederung des Heerdengewissens hinaus und hinauf treiben, geht das Selbstgefühl der Gemeinde zu Grunde, ihr Glaube an sich, ihr Rückgrat

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gleichsam, zerbricht : folglich wird man gerade diese Triebe am besten brandmarken und verleumden. Die hohe unabhängige Geistigkeit, der Wille zum Alleinstehn, die grosse Vernunft schon werden als Gefahr empfunden ; Alles, was den Einzelnen über die Heerde hinaushebt und dem Nächsten Furcht | macht, heisst von nun an b ö s e ; die billige, bescheidene, sich einordnende, gleichsetzende Gesinnung, das M i t t e l m a a s s der Begierden kommt zu moralischen Namen und Ehren. Endlich, unter sehr friedfertigen Zuständen, fehlt die Gelegenheit und Nöthigung immer mehr, sein Gefühl zur Strenge und Härte zu erziehn ; und jetzt beginnt jede Strenge, selbst in der Gerechtigkeit, die Gewissen zu stören ; eine hohe und harte Vornehmheit und Selbst-Verantwortlichkeit beleidigt beinahe und erweckt Misstrauen, „das Lamm“, noch mehr „das Schaf“ gewinnt an Achtung. Es giebt einen Punkt von krankhafter Vermürbung und Verzärtlichung in der Geschichte der Gesellschaft, wo sie selbst für ihren Schädiger, den Ve r b r e c he r Partei nimmt, und zwar ernsthaft und ehrlich. Strafen : das scheint ihr irgendworin unbillig, – gewiss ist, dass die Vorstellung „Strafe“ und „Strafen-Sollen“ ihr wehe thut, ihr Furcht macht. „Genügt es nicht, ihn u n g e f ä h rl ic h machen ? Wozu noch strafen ? Strafen selbst ist fürchterlich !“ – mit dieser Frage zieht die Heerden-Moral, die Moral der Furchtsamkeit ihre letzte Consequenz. Gesetzt, man könnte überhaupt die Gefahr, den Grund zum Fürchten abschaffen, so hätte man diese Moral mit abgeschaff t : sie wäre nicht mehr nöthig, sie h ie lt e s ic h s e l b s t nicht mehr für nöthig ! – Wer das Gewissen des heutigen Europäers prüft, wird aus tausend moralischen Falten und Verstecken immer den gleichen Imperativ herauszuziehen haben, den Imperativ der Heerden-Furchtsamkeit : „wir wollen, dass es irgendwann einmal N ic h t s m e h r z u f ü r c h t e n giebt !“ Irgendwann einmal – der Wille und Weg d or t h i n heisst heute in Europa überall der „Fortschritt“. |

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202. Sagen wir es sofort noch einmal, was wir schon hundert Mal gesagt haben : denn die Ohren sind für solche Wahrheiten – für u n s e r e Wahrheiten – heute nicht gutwillig. Wir wissen es schon genug, wie beleidigend es klingt, wenn Einer überhaupt den Menschen ungeschminkt und ohne Gleichniss zu den Thieren rechnet ; aber es wird beinahe als S c hu l d uns angerechnet werden, dass wir gerade in Bezug auf die Menschen der „modernen Ideen“ beständig die Ausdrücke „Heerde“, „Heerden-Instinkte“ und dergleichen gebrauchen. Was hilft es ! Wir können nicht anders : denn gerade hier liegt unsre neue Einsicht. Wir fanden, dass in allen moralischen Haupturtheilen Europa einmüthig geworden ist, die Länder noch hinzugerechnet, wo Europa’s Einfluss herrscht : man we i s s ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu wissen meinte, und was jene alte berühmte Schlange einst zu lehren verhiess, – man „weiss“ heute, was Gut und Böse ist. Nun muss es hart klingen und schlecht zu Ohren gehn, wenn wir immer von Neuem darauf bestehn : was hier zu wissen glaubt, was hier mit seinem Loben und Tadeln sich selbst verherrlicht, sich selbst gut heisst, ist der Instinkt des Heerdenthiers Mensch : als welcher zum Durchbruch, zum Übergewicht, zur Vorherrschaft über andere Instinkte gekommen ist und immer mehr kommt, gemäss der wachsenden physiologischen Annäherung und Anähnlichung, deren Symptom er ist. Mo r a l i s t he ut e i n Eu r o p a H eer d e n t h ier - Mor a l : – also nur, wie wir die Dinge verstehn, Eine Art von menschlicher Moral, neben der, vor der, nach der viele andere, vor Allem höhe r e Moralen möglich sind oder sein sollten. Gegen eine solche „Möglichkeit“, gegen ein | solches „Sollte“ wehrt sich aber diese Moral mit allen Kräften : sie sagt hartnäckig und unerbittlich „ich bin die Moral selbst, und Nichts ausserdem ist Moral !“ – ja mit Hülfe einer Religion, welche den sublimsten Heerdenthier-Begierden zu Willen war und schmeichelte, ist

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es dahin gekommen, dass wir selbst in den politischen und gesellschaftlichen Einrichtungen einen immer sichtbareren Ausdruck dieser Moral fi nden : die d e mok r at i s c he Bewegung macht die Erbschaft der christlichen. Dass aber deren Tempo für die Ungeduldigeren, für die Kranken und Süchtigen des genannten Instinktes noch viel zu langsam und schläfrig ist, dafür spricht das immer rasender werdende Geheul, das immer unverhülltere Zähnefletschen der Anarchisten-Hunde, welche jetzt durch die Gassen der europäischen Cultur schweifen : anscheinend im Gegensatz zu den friedlich-arbeitsamen Demokraten und Revolutions-Ideologen, noch mehr zu den tölpelhaften Philosophastern und Bruderschafts-Schwärmern, welche sich Socialisten nennen und die „freie Gesellschaft“ wollen, in Wahrheit aber Eins mit ihnen Allen in der gründlichen und instinktiven Feindseligkeit gegen jede andre Gesellschafts-Form als die der aut o nome n Heerde (bis hinauf zur Ablehnung selbst der Begriffe „Herr“ und „Knecht“ – ni dieu ni maître heisst eine socialistische Formel –) ; Eins im zähen Widerstande gegen jeden Sonder-Anspruch, jedes Sonder-Recht und Vorrecht (das heisst im letzten Grunde gegen je d e s Recht : denn dann, wenn Alle gleich sind, braucht Niemand mehr „Rechte“ –) ; Eins im Misstrauen gegen die strafende Gerechtigkeit (wie als ob sie eine Vergewaltigung am Schwächeren, ein Unrecht an der not hwe nd i g e n Folge aller früheren Gesellschaft wäre –) ; aber ebenso | Eins in der Religion des Mitleidens, im Mitgefühl, soweit nur gefühlt, gelebt, gelitten wird (bis hinab zum Thier, bis hinauf zu „Gott“ : – die Ausschweifung eines „Mitleidens mit Gott“ gehört in ein demokratisches Zeitalter –) ; Eins allesammt im Schrei und der Ungeduld des Mitleidens, im Todhass gegen das Leiden überhaupt, in der fast weiblichen Unfähigkeit, Zuschauer dabei bleiben zu können, leiden l a s s e n zu können ; Eins in der unfreiwilligen Verdüsterung und Verzärtlichung, unter deren Bann Europa von einem neuen Buddhismus bedroht scheint ;

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Eins im Glauben an die Moral des g e me i n s a me n Mitleidens, wie als ob sie die Moral an sich sei, als die Höhe, die e r r e ic ht e Höhe des Menschen, die alleinige Hoff nung der Zukunft, das Trostmittel der Gegenwärtigen, die grosse Ablösung aller Schuld von Ehedem : – Eins allesammt im Glauben an die Gemeinschaft als die E rlö s e r i n , an die Heerde also, an „sich“ … 203. Wir, die wir eines andren Glaubens sind – , wir, denen die demokratische Bewegung nicht bloss als eine Verfalls-Form der politischen Organisation, sondern als Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Menschen gilt, als seine Vermittelmässigung und Werth-Erniedrigung : wohin müssen w i r mit unsren Hoff nungen greifen ? – Nach neue n Ph i lo s o phe n , es bleibt keine Wahl ; nach Geistern, stark und ursprünglich genug, um die Anstösse zu entgegengesetzten Werthschätzungen zu geben und „ewige Werthe“ umzuwerthen, umzukehren ; nach Vorausgesandten, nach Menschen der Zukunft, welche in der Gegenwart den Zwang und Knoten anknüpfen, der den Willen von Jahrtausenden | auf n eu e Bahnen zwingt. Dem Menschen die Zukunft des Menschen als seinen W i l le n , als abhängig von einem Menschen-Willen zu lehren und grosse Wagnisse und Gesammt-Versuche von Zucht und Züchtung vorzubereiten, um damit jener schauerlichen Herrschaft des Unsinns und Zufalls, die bisher „Geschichte“ hiess, ein Ende zu machen – der Unsinn der „grössten Zahl“ ist nur seine letzte Form – : dazu wird irgendwann einmal eine neue Art von Philosophen und Befehlshabern nöthig sein, an deren Bilde sich Alles, was auf Erden an verborgenen, furchtbaren und wohlwollenden Geistern dagewesen ist, blass und verzwergt ausnehmen möchte. Das Bild solcher Führer ist es, das vor u n s e r n Augen schwebt : – darf ich es laut sagen, ihr freien Geister ? Die Umstände, welche man zu ihrer Entstehung theils schaffen, theils ausnützen müsste ; die muthmaasslichen

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Wege und Proben, vermöge deren eine Seele zu einer solchen Höhe und Gewalt aufwüchse, um den Zwa n g zu diesen Aufgaben zu empfi nden ; eine Umwer thung der Werthe, unter deren neuem Druck und Hammer ein Gewissen gestählt, ein Herz in Erz verwandelt würde, dass es das Gewicht einer solchen Verantwortlichkeit ertrüge ; andererseits die Nothwendigkeit solcher Führer, die erschreckliche Gefahr, dass sie ausbleiben oder missrathen und entarten könnten – das sind u n s r e eigentlichen Sorgen und Verdüsterungen, ihr wisst es, ihr freien Geister ? das sind die schweren fernen Gedanken und Gewitter, welche über den Himmel u n s e r e s Lebens hingehn. Es giebt wenig so empfi ndliche Schmerzen, als einmal gesehn, errathen, mitgefühlt zu haben, wie ein ausserordentlicher Mensch aus seiner Bahn gerieth und entartete : wer aber das seltene Auge für die Gesammt-Gefahr hat, dass „der  | Mensch“ selbst e nt a r t et , wer, gleich uns, die ungeheuerliche Zufälligkeit erkannt hat, welche bisher in Hinsicht auf die Zukunft des Menschen ihr Spiel spielte – ein Spiel, an dem keine Hand und nicht einmal ein „Finger Gottes“ mitspielte ! – wer das Verhängniss erräth, das in der blödsinnigen Arglosigkeit und Vertrauensseligkeit der „modernen Ideen“, noch mehr in der ganzen christlich-europäischen Moral verborgen liegt : der leidet an einer Beängstigung, mit der sich keine andere vergleichen lässt, – er fasst es ja mit Einem Blicke, was Alles noch, bei einer günstigen Ansammlung und Steigerung von Kräften und Aufgaben, au s d em Me n s c he n z u z üc ht e n wäre, er weiss es mit allem Wissen seines Gewissens, wie der Mensch noch unausgeschöpft für die grössten Möglichkeiten ist, und wie oft schon der Typus Mensch an geheimnissvollen Entscheidungen und neuen Wegen gestanden hat : – er weiss es noch besser, aus seiner schmerzlichsten Erinnerung, an was für erbärmlichen Dingen ein Werdendes höchsten Ranges bisher gewöhnlich zerbrach, abbrach, absank, erbärmlich ward. Die G e s a m mt- E nt a r t u n g d e s

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Me n s c he n , hinab bis zu dem, was heute den socialistischen Tölpeln und Flachköpfen als ihr „Mensch der Zukunft“ erscheint, – als ihr Ideal ! – diese Entartung und Verkleinerung des Menschen zum vollkommenen Heerdenthiere (oder, wie sie sagen, zum Menschen der „freien Gesellschaft“), diese Verthierung des Menschen zum Zwergthiere der gleichen Rechte und Ansprüche ist mög l ic h , es ist kein Zweifel ! Wer diese Möglichkeit einmal bis zu Ende gedacht hat, kennt einen Ekel mehr, als die übrigen Menschen, – und vielleicht auch eine neue Au f g a b e ! … |

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204. Auf die Gefahr hin, dass Moralisiren sich auch hier als Das herausstellt, was es immer war – nämlich als ein unverzagtes montrer ses plaies, nach Balzac – , möchte ich wagen, einer ungebührlichen und schädlichen Rangverschiebung entgegenzutreten, welche sich heute, ganz unvermerkt und wie mit dem besten Gewissen, zwischen Wissenschaft und Philosophie herzustellen droht. Ich meine, man muss von seiner E r f a h r u n g aus – Erfahrung bedeutet, wie mich dünkt, immer schlimme Erfahrung ? – ein Recht haben, über eine solche höhere Frage des Rangs mitzureden : um nicht wie die Blinden von der Farbe oder wie Frauen und Künstler g e g e n die Wissenschaft zu reden („ach, diese schlimme Wissenschaft ! seufzt deren Instinkt und Scham, sie kommt immer d a h i n t e r !“ –). Die Unabhängigkeits-Erklärung des wissenschaftlichen Menschen, seine Emancipation von der Philosophie, ist eine der feineren Nachwirkungen des demokratischen Wesens und Unwesens : die Selbstverherrlichung und Selbstüberhebung des Gelehrten steht heute überall in voller Blüthe und in ihrem besten Frühlinge, – womit noch nicht gesagt sein soll, dass in diesem Falle Eigenlob lieblich röche. „Los von allen Herren !“ – so will es auch hier der pöbelmännische Instinkt ; und nachdem sich die Wissenschaft mit glücklichstem Erfolge der Theologie erwehrt hat, deren „Magd“ sie zu lange war, ist sie nun in vollem Übermuthe und Unverstande darauf hin aus, der Philosophie Gesetze zu machen und ihrerseits einmal | den „Herrn“ – was sage ich ! den Ph i lo s o phe n zu spielen. Mein Gedächtniss – das Gedächtniss eines wissenschaftlichen Menschen, mit Verlaub ! – strotzt von Naivetä-

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ten des Hochmuths, die ich seitens junger Naturforscher und alter Ärzte über Philosophie und Philosophen gehört habe (nicht zu reden von den gebildetsten und eingebildetsten aller Gelehrten, den Philologen und Schulmännern, welche Beides von Berufs wegen sind –). Bald war es der Spezialist und Eckensteher, der sich instinktiv überhaupt gegen alle synthetischen Aufgaben und Fähigkeiten zur Wehre setzte ; bald der fleissige Arbeiter, der einen Geruch von otium und der vornehmen Üppigkeit im Seelen-Haushalte des Philosophen bekommen hatte und sich dabei beeinträchtigt und verkleinert fühlte. Bald war es jene Farben-Blindheit des NützlichkeitsMenschen, der in der Philosophie Nichts sieht, als eine Reihe w id e rle g t e r Systeme und einen verschwenderischen Aufwand, der Niemandem „zu Gute kommt“. Bald sprang die Furcht vor verkappter Mystik und Grenzberichtigung des Erkennens hervor ; bald die Missachtung einzelner Philosophen, welche sich unwillkürlich zur Missachtung der Philosophie verallgemeinert hatte. Am häufigsten endlich fand ich bei jungen Gelehrten hinter der hochmüthigen Geringschätzung der Philosophie die schlimme Nachwirkung eines Philosophen selbst, dem man zwar im Ganzen den Gehorsam gekündigt hatte, ohne doch aus dem Banne seiner wegwerfenden Werthschätzungen anderer Philosophen herausgetreten zu sein : – mit dem Ergebniss einer Gesammt-Verstimmung gegen alle Philosophie. (Dergestalt scheint mir zum Beispiel die Nachwirkung Schopenhauer’s auf das neueste Deutschland zu sein :  – er hat es mit | seiner unintelligenten Wuth auf Hegel dahin gebracht, die ganze letzte Generation von Deutschen aus dem Zusammenhang mit der deutschen Cultur herauszubrechen, welche Cultur, Alles wohl erwogen, eine Höhe und divinatorische Feinheit des h i s t or i s c he n S i n n s gewesen ist : aber Schopenhauer selbst war gerade an dieser Stelle bis zur Genialität arm, unempfänglich, undeutsch.) Überhaupt in’s Grosse gerechnet, mag es vor Allem das Menschliche,

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Allzumenschliche, kurz die Armseligkeit der neueren Philosophen selbst gewesen sein, was am gründlichsten der Ehrfurcht vor der Philosophie Abbruch gethan und dem pöbelmännischen Instinkte die Thore aufgemacht hat. Man gestehe es sich doch ein, bis zu welchem Grade unsrer modernen Welt die ganze Art der Heraklite, Plato’s, Empedokles’, und wie alle diese königlichen und prachtvollen Einsiedler des Geistes geheissen haben, abgeht ; und mit wie gutem Rechte Angesichts solcher Vertreter der Philosophie, die heute Dank der Mode ebenso oben-auf als unten-durch sind – in Deutschland zum Beispiel die beiden Löwen von Berlin, der Anarchist Eugen Dühring und der Amalgamist Eduard von Hartmann – ein braver Mensch der Wissenschaft sich besserer Art und Abkunft fühlen d a r f . Es ist in Sonderheit der Anblick jener Mischmasch-Philosophen, die sich „Wirklichkeits-Philosophen“ oder „Positivisten“ nennen, welcher ein gefährliches Misstrauen in die Seele eines jungen, ehrgeizigen Gelehrten zu werfen im Stande ist : das sind ja besten Falls selbst Gelehrte und Spezialisten, man greift es mit Händen ! – das sind ja allesammt Überwundene und unter die Botmässigkeit der Wissenschaft Zu r üc k g eb r ac ht e, welche irgendwann einmal me h r von sich gewollt | haben, ohne ein Recht zu diesem „mehr“ und seiner Verantwortlichkeit zu haben – und die jetzt, ehrsam, ingrimmig, rachsüchtig, den Un g l au b e n an die Herren-Aufgabe und Herrschaftlichkeit der Philosophie mit Wort und That repräsentiren. Zuletzt : wie könnte es auch anders sein ! Die Wissenschaft blüht heute und hat das gute Gewissen reichlich im Gesichte, während Das, wozu die ganze neuere Philosophie allmählich gesunken ist, dieser Rest Philosophie von heute, Misstrauen und Missmuth, wenn nicht Spott und Mitleiden gegen sich rege macht. Philosophie auf „Erkenntnisstheorie“ reduzirt, thatsächlich nicht mehr als eine schüchterne Epochistik und Enthaltsamkeitslehre : eine Philosophie, die gar nicht über die Schwelle hinweg kommt

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und sich peinlich das Recht zum Eintritt ve r we i g e r t – das ist Philosophie in den letzten Zügen, ein Ende, eine Agonie, Etwas, das Mitleiden macht. Wie könnte eine solche Philosophie – he r r s c he n ! 205. Die Gefahren für die Entwicklung des Philosophen sind heute in Wahrheit so vielfach, dass man zweifeln möchte, ob diese Frucht überhaupt noch reif werden kann. Der Umfang und der Thurmbau der Wissenschaften ist in’s Ungeheure gewachsen, und damit auch die Wahrscheinlichkeit, dass der Philosoph schon als Lernender müde wird oder sich irgendwo festhalten und „spezialisiren“ lässt : so dass er gar nicht mehr auf seine Höhe, nämlich zum Überblick, Umblick, N ie d e r bl ic k kommt. Oder er gelangt zu spät hinauf, dann, wenn seine beste Zeit und Kraft schon vorüber ist ; oder beschädigt, vergröbert, entartet, so dass sein Blick, sein Gesammt-Werthurtheil wenig mehr bedeutet. Gerade | die Feinheit seines intellektuellen Gewissens lässt ihn vielleicht unterwegs zögern und sich verzögern ; er fürchtet die Verführung zum Dilettanten, zum Tausendfuss und Tausend-Fühlhorn, er weiss es zu gut, dass Einer, der vor sich selbst die Ehrfurcht verloren hat, auch als Erkennender nicht mehr befiehlt, nicht mehr f ü h r t : er müsste denn schon zum grossen Schauspieler werden wollen, zum philosophischen Cagliostro und Rattenfänger der Geister, kurz zum Verführer. Dies ist zuletzt eine Frage des Geschmacks : wenn es selbst nicht eine Frage des Gewissens wäre. Es kommt hinzu, um die Schwierigkeit des Philosophen noch einmal zu verdoppeln, dass er von sich ein Urtheil, ein Ja oder Nein, nicht über die Wissenschaften, sondern über das Leben und den Werth des Lebens verlangt, – dass er ungern daran glauben lernt, ein Recht oder gar eine Pfl icht zu diesem Urtheile zu haben, und sich nur aus den umfänglichsten – vielleicht störendsten, zerstörendsten – Erlebnissen heraus und oft zögernd, zweifelnd, verstummend seinen Weg zu je-

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nem Rechte und jenem Glauben suchen muss. In der That, die Menge hat den Philosophen lange Zeit verwechselt und verkannt, sei es mit dem wissenschaftlichen Menschen und idealen Gelehrten, sei es mit dem religiös-gehobenen entsinnlichten „entweltlichten“ Schwärmer und Trunkenbold Gottes ; und hört man gar heute Jemanden loben, dafür, dass er „weise“ lebe oder „als ein Philosoph“, so bedeutet es beinahe nicht mehr, als „klug und abseits“. Weisheit : das scheint dem Pöbel eine Art Flucht zu sein, ein Mittel und Kunststück, sich gut aus einem schlimmen Spiele herauszuziehn ; aber der rechte Philosoph – so scheint es u n s , meine Freunde ? – lebt „unphilosophisch“ und „unweise“, vor Allem u n k lu g , | und fühlt die Last und Pfl icht zu hundert Versuchen und Versuchungen des Lebens : – er risquirt s ic h beständig, er spielt d a s schlimme Spiel … 206. Im Verhältnisse zu einem Genie, das heisst zu einem Wesen, welches entweder z eu g t oder g eb ie r t , beide Worte in ihrem höchsten Umfange genommen – , hat der Gelehrte, der wissenschaftliche Durchschnittsmensch immer etwas von der alten Jungfer : denn er versteht sich gleich dieser nicht auf die zwei werthvollsten Verrichtungen des Menschen. In der That, man gesteht ihnen Beiden, den Gelehrten und den alten Jungfern, gleichsam zur Entschädigung die Achtbarkeit zu – man unterstreicht in diesen Fällen die Achtbarkeit – und hat noch an dem Zwange dieses Zugeständnisses den gleichen Beisatz von Verdruss. Sehen wir genauer zu : was ist der wissenschaftliche Mensch ? Zunächst eine unvornehme Art Mensch, mit den Tugenden einer unvornehmen, das heisst nicht herrschenden, nicht autoritativen und auch nicht selbstgenugsamen Art Mensch : er hat Arbeitsamkeit, geduldige Einordnung in Reih und Glied, Gleichmässigkeit und Maass im Können und Bedürfen, er hat den Instinkt für Seinesgleichen und für Das, was Seinesgleichen nöthig hat, zum Beispiel

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jenes Stück Unabhängigkeit und grüner Weide, ohne welches es keine Ruhe der Arbeit giebt, jenen Anspruch auf Ehre und Anerkennung (die zuerst und zuoberst Erkennung, Erkennbarkeit voraussetzt –), jenen Sonnenschein des guten Namens, jene beständige Besiegelung seines Werthes und seiner Nützlichkeit, mit der das innerliche M i s s t r aue n , der Grund im Herzen aller abhängigen Menschen und Heerdenthiere, | immer wieder überwunden werden muss. Der Gelehrte hat, wie billig, auch die Krankheiten und Unarten einer unvornehmen Art : er ist reich am kleinen Neide und hat ein Luchsauge für das Niedrige solcher Naturen, zu deren Höhen er nicht hinauf kann. Er ist zutraulich, doch nur wie Einer, der sich gehen, aber nicht s t r ö m e n lässt ; und gerade vor dem Menschen des grossen Stroms steht er um so kälter und verschlossener da, – sein Auge ist dann wie ein glatter widerwilliger See, in dem sich kein Entzücken, kein Mitgefühl mehr kräuselt. Das Schlimmste und Gefährlichste, dessen ein Gelehrter fähig ist, kommt ihm vom Instinkte der Mittelmässigkeit seiner Art : von jenem Jesuitismus der Mittelmässigkeit, welcher an der Vernichtung des ungewöhnlichen Menschen instinktiv arbeitet und jeden gespannten Bogen zu brechen oder – noch lieber ! – abzuspannen sucht. Abspannen nämlich, mit Rücksicht, mit schonender Hand natürlich – , mit zutraulichem Mitleiden a b s p a n n e n : das ist die eigentliche Kunst des Jesuitismus, der es immer verstanden hat, sich als Religion des Mitleidens einzuführen. – 207. Wie dankbar man auch immer dem o bje k t i ve n Geiste entgegenkommen mag – und wer wäre nicht schon einmal alles Subjektiven und seiner verfluchten Ipsissimosität bis zum Sterben satt gewesen ! – zuletzt muss man aber auch gegen seine Dankbarkeit Vorsicht lernen und der Übertreibung Einhalt thun, mit der die Entselbstung und Entpersönlichung des Geistes gleichsam als Ziel an sich, als Erlösung und Verklärung

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neuerdings gefeiert wird : wie es namentlich innerhalb der Pessimisten-Schule zu geschehn pflegt, die auch | gute Gründe hat, dem „interesselosen Erkennen“ ihrerseits die höchsten Ehren zu geben. Der objektive Mensch, der nicht mehr flucht und schimpft, gleich dem Pessimisten, der id e a le Gelehrte, in dem der wissenschaftliche Instinkt nach tausendfachem Ganz- und Halb-Missrathen einmal zum Auf- und Ausblühen kommt, ist sicherlich eins der kostbarsten Werkzeuge, die es giebt : aber er gehört in die Hand eines Mächtigeren. Er ist nur ein Werkzeug, sagen wir : er ist ein S p ie g e l , – er ist kein „Selbstzweck“. Der objektive Mensch ist in der That ein Spiegel : vor Allem, was erkannt werden will, zur Unterwerfung gewohnt, ohne eine andre Lust, als wie sie das Erkennen, das „Abspiegeln“ giebt, – er wartet, bis Etwas kommt, und breitet sich dann zart hin, dass auch leichte Fusstapfen und das Vorüberschlüpfen geisterhafter Wesen nicht auf seiner Fläche und Haut verloren gehen. Was von „Person“ an ihm noch übrig ist, dünkt ihm zufällig, oft willkürlich, noch öfter störend : so sehr ist er sich selbst zum Durchgang und Wiederschein fremder Gestalten und Ereignisse geworden. Er besinnt sich auf „sich“ zurück, mit Anstrengung, nicht selten falsch ; er verwechselt sich leicht, er vergreift sich in Bezug auf die eignen Nothdürfte und ist hier allein unfein und nachlässig. Vielleicht quält ihn die Gesundheit oder die Kleinlichkeit und Stubenluft von Weib und Freund, oder der Mangel an Gesellen und Gesellschaft, – ja, er zwingt sich, über seine Qual nachzudenken : umsonst ! Schon schweift sein Gedanke weg, zum a l l g e me i ne r e n Falle, und morgen weiss er so wenig als er es gestern wusste, wie ihm zu helfen ist. Er hat den Ernst für sich verloren, auch die Zeit : er ist heiter, n ic ht aus Mangel an Noth, sondern aus Mangel an Fingern und Handhaben | für s e i ne Noth. Das gewohnte Entgegenkommen gegen jedes Ding und Erlebniss, die sonnige und unbefangene Gastfreundschaft, mit der er Alles annimmt, was auf ihn stösst,

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seine Art von rücksichtslosem Wohlwollen, von gefährlicher Unbekümmertheit um Ja und Nein : ach, es giebt genug Fälle, wo er diese seine Tugenden büssen muss ! – und als Mensch überhaupt wird er gar zu leicht das caput mortuum dieser Tugenden. Will man Liebe und Hass von ihm, ich meine Liebe und Hass, wie Gott, Weib und Thier sie verstehn – : er wird thun, was er kann, und geben, was er kann. Aber man soll sich nicht wundern, wenn es nicht viel ist, – wenn er da gerade sich unächt, zerbrechlich, fragwürdig und morsch zeigt. Seine Liebe ist gewollt, sein Hass künstlich und mehr un tour de force, eine kleine Eitelkeit und Übertreibung. Er ist eben nur ächt, so weit er objektiv sein darf : allein in seinem heitern Totalismus ist er noch „Natur“ und „natürlich“. Seine spiegelnde und ewig sich glättende Seele weiss nicht mehr zu bejahen, nicht mehr zu verneinen ; er befiehlt nicht ; er zerstört auch nicht. „Je ne méprise presque rien“ – sagt er mit Leibnitz : man überhöre und unterschätze das presque nicht ! Er ist auch kein Mustermensch ; er geht Niemandem voran, noch nach ; er stellt sich überhaupt zu ferne, als dass er Grund hätte, zwischen Gut und Böse Partei zu ergreifen. Wenn man ihn so lange mit dem Ph i lo s o phe n verwechselt hat, mit dem cäsarischen Züchter und Gewaltmenschen der Cultur : so hat man ihm viel zu hohe Ehren gegeben und das Wesentlichste an ihm übersehen, – er ist ein Werkzeug, ein Stück Sklave, wenn gewiss auch die sublimste Art des Sklaven, an sich aber Nichts, – presque rien ! Der objektive Mensch ist ein Werkzeug, ein kostbares, leicht ver|letzliches und getrübtes MessWerkzeug und Spiegel-Kunstwerk, das man schonen und ehren soll ; aber er ist kein Ziel, kein Ausgang und Aufgang, kein complementärer Mensch, in dem das ü b r i g e Dasein sich rechtfertigt, kein Schluss – und noch weniger ein Anfang, eine Zeugung und erste Ursache, nichts Derbes, Mächtiges, Auf-sich-Gestelltes, das Herr sein will : vielmehr nur ein zarter ausgeblasener feiner beweglicher Formen-Topf, der auf ir-

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gend einen Inhalt und Gehalt erst warten muss, um sich nach ihm „zu gestalten“, – für gewöhnlich ein Mensch ohne Gehalt und Inhalt, ein „selbstloser“ Mensch. Folglich auch Nichts für Weiber, in parenthesi. – 208. Wenn heute ein Philosoph zu verstehen giebt, er sei kein Skeptiker, – ich hoffe, man hat Das aus der eben gegebenen Abschilderung des objektiven Geistes herausgehört ? – so hört alle Welt das ungern ; man sieht ihn darauf an, mit einiger Scheu, man möchte so Vieles fragen, fragen … ja, unter furchtsamen Horchern, wie es deren jetzt in Menge giebt, heisst er von da an gefährlich. Es ist ihnen, als ob sie, bei seiner Ablehnung der Skepsis, von Ferne her irgend ein böses bedrohliches Geräusch hörten, als ob irgendwo ein neuer Sprengstoff versucht werde, ein Dynamit des Geistes, vielleicht ein neuentdecktes Russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae voluntatis, der nicht bloss Nein sagt, Nein will, sondern – schrecklich zu denken ! Nein t hut . Gegen diese Art von „gutem Willen“ – einem Willen zur wirklichen thätlichen Verneinung des Lebens – giebt es anerkanntermaassen heute kein besseres Schlaf- und Beruhigungsmittel, als Skepsis, den sanften holden einlullenden Mohn Skepsis ; | und Hamlet selbst wird heute von den Ärzten der Zeit gegen den „Geist“ und sein Rumoren unter dem Boden verordnet. „Hat man denn nicht alle Ohren schon voll von schlimmen Geräuschen ? sagt der Skeptiker, als ein Freund der Ruhe und beinahe als eine Art von SicherheitsPolizei : dies unterirdische Nein ist fürchterlich ! Stille endlich, ihr pessimistischen Maulwürfe !“ Der Skeptiker nämlich, dieses zärtliche Geschöpf, erschrickt allzuleicht ; sein Gewissen ist darauf eingeschult, bei jedem Nein, ja schon bei einem entschlossenen harten Ja zu zucken und etwas wie einen Biss zu spüren. Ja ! und Nein ! – das geht ihm wider die Moral ; umgekehrt liebt er es, seiner Tugend mit der edlen Enthaltung ein Fest zu machen, etwa indem er mit Montaigne spricht :

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„was weiss ich ?“ Oder mit Sokrates : „ich weiss, dass ich Nichts weiss“. Oder : „hier traue ich mir nicht, hier steht mir keine Thür offen.“ Oder : „gesetzt, sie stünde offen, wozu gleich eintreten !“ Oder : „wozu nützen alle vorschnellen Hypothesen ? Gar keine Hypothesen machen könnte leicht zum guten Geschmack gehören. Müsst ihr denn durchaus etwas Krummes gleich gerade biegen ? Durchaus jedes Loch mit irgend welchem Werge ausstopfen ? Hat das nicht Zeit ? Hat die Zeit nicht Zeit ? Oh ihr Teufelskerle, könnt ihr denn gar nicht w a r t e n ? Auch das Ungewisse hat seine Reize, auch die Sphinx ist eine Circe, auch die Circe war eine Philosophin.“ – Also tröstet sich ein Skeptiker ; und es ist wahr, dass er einigen Trost nöthig hat. Skepsis nämlich ist der geistigste Ausdruck einer gewissen vielfachen physiologischen Beschaffenheit, welche man in gemeiner Sprache Nervenschwäche und Kränklichkeit nennt ; sie entsteht jedes Mal, wenn sich in entscheidender und plötzlicher Weise lang von einander | abgetrennte Rassen oder Stände kreuzen. In dem neuen Geschlechte, das gleichsam verschiedene Maasse und Werthe in’s Blut vererbt bekommt, ist Alles Unruhe, Störung, Zweifel, Versuch ; die besten Kräfte wirken hemmend, die Tugenden selbst lassen einander nicht wachsen und stark werden, in Leib und Seele fehlt Gleichgewicht, Schwergewicht, perpendikuläre Sicherheit. Was aber in solchen Mischlingen am tiefsten krank wird und entartet, das ist der W i l l e : sie kennen das Unabhängige im Entschlusse, das tapfere Lustgefühl im Wollen gar nicht mehr, – sie zweifeln an der „Freiheit des Willens“ auch noch in ihren Träumen. Unser Europa von heute, der Schauplatz eines unsinnig plötzlichen Versuchs von radikaler Stände- und f ol gl ic h Rassenmischung, ist deshalb skeptisch in allen Höhen und Tiefen, bald mit jener beweglichen Skepsis, welche ungeduldig und lüstern von einem Ast zum andern springt, bald trübe wie eine mit Fragezeichen überladene Wolke, – und seines Willens oft bis zum Sterben satt ! Willenslähmung : wo fi n-

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det man nicht heute diesen Krüppel sitzen ! Und oft noch wie geputzt ! Wie verführerisch herausgeputzt ! Es giebt die schönsten Prunk- und Lügenkleider für diese Krankheit ; und dass zum Beispiel das Meiste von dem, was sich heute als „Objektivität“, „Wissenschaftlichkeit“, „l’art pour l’art“, „reines willensfreies Erkennen“ in die Schauläden stellt, nur aufgeputzte Skepsis und Willenslähmung ist, – für diese Diagnose der europäischen Krankheit will ich einstehn. – Die Krankheit des Willens ist ungleichmässig über Europa verbreitet : sie zeigt sich dort am grössten und vielfältigsten, wo die Cultur schon am längsten heimisch ist, sie verschwindet in dem Maasse, als „der Barbar“ | noch – oder wieder – unter dem schlotterichten Gewande von westländischer Bildung sein Recht geltend macht. Im jetzigen Frankreich ist demnach, wie man es ebenso leicht erschliessen als mit Händen greifen kann, der Wille am schlimmsten erkrankt ; und Frankreich, welches immer eine meisterhafte Geschicklichkeit gehabt hat, auch die verhängnissvollen Wendungen seines Geistes in’s Reizende und Verführerische umzukehren, zeigt heute recht eigentlich als Schule und Schaustellung aller Zauber der Skepsis sein Cultur-Übergewicht über Europa. Die Kraft zu wollen, und zwar einen Willen lang zu wollen, ist etwas stärker schon in Deutschland, und im deutschen Norden wiederum stärker als in der deutschen Mitte ; erheblich stärker in England, Spanien und Corsika, dort an das Phlegma, hier an harte Schädel gebunden, – um nicht von Italien zu reden, welches zu jung ist, als dass es schon wüsste, was es wollte, und das erst beweisen muss, ob es wollen kann – , aber am allerstärksten und erstaunlichsten in jenem ungeheuren Zwischenreiche, wo Eu ropa gleichsam nach Asien zurückfl iesst, in Russland. Da ist die Kraft zu wollen seit langem zurückgelegt und aufgespeichert, da wartet der Wille – ungewiss, ob als Wille der Verneinung oder der Bejahung – in bedrohlicher Weise darauf, ausgelöst zu werden, um den Physikern von heute ihr Leibwort abzu-

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borgen. Es dürften nicht nur indische Kriege und Verwicklungen in Asien dazu nöthig sein, damit Europa von seiner grössten Gefahr entlastet werde, sondern innere Umstürze, die Zersprengung des Reichs in kleine Körper und vor Allem die Einführung des parlamentarischen Blödsinns, hinzugerechnet die Verpfl ichtung für Jedermann, zum Frühstück seine Zeitung | zu lesen. Ich sage dies nicht als Wünschender : mir würde das Entgegengesetzte eher nach dem Herzen sein. – ich meine eine solche Zunahme der Bedrohlichkeit Russlands, dass Europa sich entschliessen müsste, gleichermaassen bedrohlich zu werden, nämlich E i ne n W i l le n z u b e k om me n , durch das Mittel einer neuen über Europa herrschenden Kaste, einen langen furchtbaren eigenen Willen, der sich über Jahrtausende hin Ziele setzen könnte : – damit endlich die langgesponnene Komödie seiner Kleinstaaterei und ebenso seine dynastische wie demokratische Vielwollerei zu einem Abschluss käme. Die Zeit für kleine Politik ist vorbei : schon das nächste Jahrhundert bringt den Kampf um die ErdHerrschaft, – den Zw a n g zur grossen Politik. 209. Inwiefern das neue kriegerische Zeitalter, in welches wir Europäer ersichtlich eingetreten sind, vielleicht auch der Entwicklung einer anderen und stärkeren Art von Skepsis günstig sein mag, darüber möchte ich mich vorläufig nur durch ein Gleichniss ausdrücken, welches die Freunde der deutschen Geschichte schon verstehen werden. Jener unbedenkliche Enthusiast für schöne grossgewachsene Grenadiere, welcher, als König von Preussen, einem militärischen und skeptischen Genie – und damit im Grunde jenem neuen, jetzt eben siegreich heraufgekommenen Typus des Deutschen – das Dasein gab, der fragwürdige tolle Vater Friedrichs des Grossen, hatte in Einem Punkte selbst den Griff und die Glücks-Kralle des Genies : er wusste, woran es damals in Deutschland fehlte,

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und welcher Mangel hundert Mal ängstlicher und dringender war, als etwa der Mangel an Bildung und gesellschaftlicher Form, – sein Wider|wille gegen den jungen Friedrich kam aus der Angst eines tiefen Instinktes. M ä n ne r f e h lt e n ; und er argwöhnte zu seinem bittersten Verdrusse, dass sein eigner Sohn nicht Manns genug sei. Darin betrog er sich : aber wer hätte an seiner Stelle sich nicht betrogen ? Er sah seinen Sohn dem Atheismus, dem esprit, der genüsslichen Leichtlebigkeit geistreicher Franzosen verfallen : – er sah im Hintergrunde die grosse Blutaussaugerin, die Spinne Skepsis, er argwöhnte das unheilbare Elend eines Herzens, das zum Bösen wie zum Guten nicht mehr hart genug ist, eines zerbrochnen Willens, der nicht mehr befiehlt, nicht mehr befehlen k a n n . Aber inzwischen wuchs in seinem Sohne jene gefährlichere und härtere neue Art der Skepsis empor – wer weiss, w ie s e h r gerade durch den Hass des Vaters und durch die eisige Melancholie eines einsam gemachten Willens begünstigt ? – die Skepsis der verwegenen Männlichkeit, welche dem Genie zum Kriege und zur Eroberung nächst verwandt ist und in der Gestalt des grossen Friedrich ihren ersten Einzug in Deutschland hielt. Diese Skepsis verachtet und reisst trotzdem an sich ; sie untergräbt und nimmt in Besitz ; sie glaubt nicht, aber sie verliert sich nicht dabei ; sie giebt dem Geiste gefährliche Freiheit, aber sie hält das Herz streng ; es ist die d eut s c he Form der Skepsis, welche, als ein fortgesetzter und in’s Geistigste gesteigerter Fridericianismus, Europa eine gute Zeit unter die Botmässigkeit des deutschen Geistes und seines kritischen und historischen Misstrauens gebracht hat. Dank dem unbezwinglich starken und zähen Manns-Charakter der grossen deutschen Philologen und Geschichts-Kritiker (welche, richtig angesehn, allesammt auch Artisten der Zerstörung und Zersetzung | waren) stellte sich allmählich und trotz aller Romantik in Musik und Philosophie ein neue r Begriff vom deutschen Geiste fest, in dem der Zug zur männlichen Skepsis

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entscheidend hervortrat : sei es zum Beispiel als Unerschrokkenheit des Blicks, als Tapferkeit und Härte der zerlegenden Hand, als zäher Wille zu gefährlichen Entdeckungsreisen, zu vergeistigten Nordpol-Expeditionen unter öden und gefährlichen Himmeln. Es mag seine guten Gründe haben, wenn sich warmblütige und oberflächliche Menschlichkeits-Menschen gerade vor diesem Geiste bekreuzigen : cet esprit fataliste, ironique, méphistophélique nennt ihn, nicht ohne Schauder, Michelet. Aber will man nachfühlen, wie auszeichnend diese Furcht vor dem „Mann“ im deutschen Geiste ist, durch den Europa aus seinem „dogmatischen Schlummer“ geweckt wurde, so möge man sich des ehemaligen Begriffs erinnern, der mit ihm überwunden werden musste, – und wie es noch nicht zu lange her ist, dass ein vermännlichtes Weib es in zügelloser Anmaassung wagen durfte, die Deutschen als sanfte herzensgute willensschwache und dichterische Tölpel der Theilnahme Europa’s zu empfehlen. Man verstehe doch endlich das Erstaunen Napoleon’s tief genug, als er Goethen zu sehen bekam : es verräth, was man sich Jahrhunderte lang unter dem „deutschen Geiste“ gedacht hatte. „Voilà un homme !“ – das wollte sagen : „Das ist ja ein M a n n ! Und ich hatte nur einen Deutschen erwartet !“ – 210. Gesetzt also, dass im Bilde der Philosophen der Zukunft irgend ein Zug zu rathen giebt, ob sie nicht vielleicht, in dem zuletzt angedeuteten Sinne, Skeptiker | sein müssen, so wäre damit doch nur ein Etwas an ihnen bezeichnet – und n ic ht sie selbst. Mit dem gleichen Rechte dürften sie sich Kritiker nennen lassen ; und sicherlich werden es Menschen der Experimente sein. Durch den Namen, auf welchen ich sie zu taufen wagte, habe ich das Versuchen und die Lust am Versuchen schon ausdrücklich unterstrichen : geschah dies deshalb, weil sie, als Kritiker an Leib und Seele, sich des Experiments

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in einem neuen, vielleicht weiteren, vielleicht gefährlicheren Sinne zu bedienen lieben ? Müssen sie, in ihrer Leidenschaft der Erkenntniss, mit verwegenen und schmerzhaften Versuchen weiter gehn, als es der weichmüthige und verzärtelte Geschmack eines demokratischen Jahrhunderts gut heissen kann ? – Es ist kein Zweifel : diese Kommenden werden am wenigsten jener ernsten und nicht unbedenklichen Eigenschaften entrathen dürfen, welche den Kritiker vom Skeptiker abheben, ich meine die Sicherheit der Werthmaasse, die bewusste Handhabung einer Einheit von Methode, den gewitzten Muth, das Alleinstehn und Sich-verantworten-können ; ja, sie gestehen bei sich eine Lu s t am Neinsagen und Zergliedern und eine gewisse besonnene Grausamkeit zu, welche das Messer sicher und fein zu führen weiss, auch noch, wenn das Herz blutet. Sie werden h ä r t e r sein (und vielleicht nicht immer nur gegen sich), als humane Menschen wünschen mögen, sie werden sich nicht mit der „Wahrheit“ einlassen, damit sie ihnen „gefalle“ oder sie „erhebe“ und „begeistere“ : – ihr Glaube wird vielmehr gering sein, dass gerade die Wa h r he it solche Lustbarkeiten für das Gefühl mit sich bringe. Sie werden lächeln, diese strengen Geister, wenn Einer vor ihnen sagte „jener Gedanke erhebt mich : wie sollte er nicht wahr sein ?“ Oder : | „jenes Werk entzückt mich : wie sollte es nicht schön sein ?“ Oder : „jener Künstler vergrössert mich : wie sollte er nicht gross sein ?“ – sie haben vielleicht nicht nur ein Lächeln, sondern einen ächten Ekel vor allem derartig Schwärmerischen, Idealistischen, Femininischen, Hermaphroditischen bereit, und wer ihnen bis in ihre geheimen Herzenskammern zu folgen wüsste, würde schwerlich dort die Absicht vorfi nden, „christliche Gefühle“ mit dem „antiken Geschmacke“ und etwa gar noch mit dem „modernen Parlamentarismus“ zu versöhnen (wie dergleichen Versöhnlichkeit in unserm sehr unsicheren, folglich sehr versöhnlichen Jahrhundert sogar bei Philosophen vorkommen soll). Kritische Zucht und

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jede Gewöhnung, welche zur Reinlichkeit und Strenge in Dingen des Geistes führt, werden diese Philosophen der Zukunft nicht nur von sich verlangen : sie dürften sie wie ihre Art Schmuck selbst zur Schau tragen, – trotzdem wollen sie deshalb noch nicht Kritiker heissen. Es scheint ihnen keine kleine Schmach, die der Philosophie angethan wird, wenn man dekretirt, wie es heute so gern geschieht : „Philosophie selbst ist Kritik und kritische Wissenschaft – und gar nichts ausserdem !“ Mag diese Werthschätzung der Philosophie sich des Beifalls aller Positivisten Frankreichs und Deutschlands erfreuen (– und es wäre möglich, dass sie sogar dem Herzen und Geschmacke K a nt ’s geschmeichelt hätte : man erinnere sich der Titel seiner Hauptwerke –) : unsre neuen Philosophen werden trotzdem sagen : Kritiker sind Werkzeuge des Philosophen und eben darum, als Werkzeuge, noch lange nicht selbst Philosophen ! Auch der grosse Chinese von Königsberg war nur ein grosser Kritiker. – | 211. Ich bestehe darauf, dass man endlich aufhöre, die philosophischen Arbeiter und überhaupt die wissenschaftlichen Menschen mit den Philosophen zu verwechseln, – dass man gerade hier mit Strenge „Jedem das Seine“ und Jenen nicht viel zu Viel, Diesen nicht viel zu Wenig gebe. Es mag zur Erziehung des wirklichen Philosophen nöthig sein, dass er selbst auch auf allen diesen Stufen einmal gestanden hat, auf welchen seine Diener, die wissenschaftlichen Arbeiter der Philosophie, stehen bleiben, – stehen bleiben mü s s e n ; er muss selbst vielleicht Kritiker und Skeptiker und Dogmatiker und Historiker und überdies Dichter und Sammler und Reisender und Räthselrather und Moralist und Seher und „freier Geist“ und beinahe Alles gewesen sein, um den Umkreis menschlicher Werthe und Werth-Gefühle zu durchlaufen und mit vielerlei Augen und Gewissen, von der Höhe in jede Ferne,

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von der Tiefe in jede Höhe, von der Ecke in jede Weite, blikken zu k ö n ne n . Aber dies Alles sind nur Vorbedingungen seiner Aufgabe : diese Aufgabe selbst will etwas Anderes, – sie verlangt, dass er We r t he s c h a f f e. Jene philosophischen Arbeiter nach dem edlen Muster Kant’s und Hegel’s haben irgend einen grossen Thatbestand von Werthschätzungen – das heisst ehemaliger Werth s et z u n g e n , Werthschöpfungen, welche herrschend geworden sind und eine Zeit lang „Wahrheiten“ genannt werden – festzustellen und in Formeln zu drängen, sei es im Reiche des L og i s c he n oder des Pol it i s c he n (Moralischen) oder des K ü n s t le r i s c he n . Diesen Forschern liegt es ob, alles bisher Geschehene und Geschätzte übersichtlich, überdenkbar, fasslich, handlich zu machen, alles Lange, ja „die Zeit“ selbst, abzukürzen | und die ganze Vergangenheit zu ü b e r w ä lt i g e n : eine ungeheure und wundervolle Aufgabe, in deren Dienst sich sicherlich jeder feine Stolz, jeder zähe Wille befriedigen kann. D ie e i g e nt l ic he n Ph i lo s o phe n a b e r s i nd B e f e h le nd e u nd G e s et z g eb e r : sie sagen „so s ol l es sein !“, sie bestimmen erst das Wohin ? und Wozu ? des Menschen und verfügen dabei über die Vorarbeit aller philosophischen Arbeiter, aller Überwältiger der Vergangenheit, – sie greifen mit schöpferischer Hand nach der Zukunft, und Alles, was ist und war, wird ihnen dabei zum Mittel, zum Werkzeug, zum Hammer. Ihr „Erkennen“ ist S c h a f f e n , ihr Schaffen ist eine Gesetzgebung, ihr Wille zur Wahrheit ist – W i l le z u r Mac ht . – Giebt es heute solche Philosophen ? Gab es schon solche Philosophen ? Mu s s es nicht solche Philosophen geben ? … 212. Es will mir immer mehr so scheinen, dass der Philosoph als ein not hwe nd i g e r Mensch des Morgens und Übermorgens sich jederzeit mit seinem Heute in Widerspruch befunden hat und befi nden mu s s t e : sein Feind war jedes Mal das Ideal von Heute. Bisher haben alle diese ausserordentlichen Förderer

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des Menschen, welche man Philosophen nennt, und die sich selbst selten als Freunde der Weisheit, sondern eher als unangenehme Narren und gefährliche Fragezeichen fühlten – , ihre Aufgabe, ihre harte, ungewollte, unabweisliche Aufgabe, endlich aber die Grösse ihrer Aufgabe darin gefunden, das böse Gewissen ihrer Zeit zu sein. Indem sie gerade den Tu g e n d e n d e r Z e it das Messer vivisektorisch auf die Brust setzten, verriethen sie, was ihr eignes Geheimniss war : um eine neue Grösse des Menschen | zu wissen, um einen neuen ungegangenen Weg zu seiner Vergrösserung. Jedes Mal deckten sie auf, wie viel Heuchelei, Bequemlichkeit, Sich-gehen-lassen und Sich-fallen-lassen, wie viel Lüge unter dem bestgeehrten Typus ihrer zeitgenössischen Moralität versteckt, wie viel Tugend ü b e rlebt sei ; jedes Mal sagten sie : „wir müssen dorthin, dorthinaus, wo i h r heute am wenigsten zu Hause seid.“ Angesichts einer Welt der „modernen Ideen“, welche Jedermann in eine Ecke und „Spezialität“ bannen möchte, würde ein Philosoph, falls es heute Philosophen geben könnte, gezwungen sein, die Grösse des Menschen, den Begriff „Grösse“ gerade in seine Umfänglichkeit und Vielfältigkeit, in seine Ganzheit im Vielen zu setzen : er würde sogar den Werth und Rang darnach bestimmen, wie viel und vielerlei Einer tragen und auf sich nehmen, wie we it Einer seine Verantwortlichkeit spannen könnte. Heute schwächt und verdünnt der Zeitgeschmack und die Zeittugend den Willen, Nichts ist so sehr zeitgemäss als Willensschwäche : also muss, im Ideale des Philosophen, gerade Stärke des Willens, Härte und Fähigkeit zu langen Entschliessungen in den Begriff „Grösse“ hineingehören ; mit so gutem Rechte als die umgekehrte Lehre und das Ideal einer blöden entsagenden demüthigen selbstlosen Menschlichkeit einem umgekehrten Zeitalter angemessen war, einem solchen, das gleich dem sechszehnten Jahrhundert an seiner aufgestauten Energie des Willens und den wildesten Wässern und Sturmfluthen der Selbstsucht litt. Zur Zeit des

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Sokrates, unter lauter Menschen des ermüdeten Instinktes, unter conservativen Altathenern, welche sich gehen liessen – „zum Glück“, wie sie sagten, zum Vergnügen, wie sie thaten – und die dabei immer noch die alten prunk|vollen Worte in den Mund nahmen, auf die ihnen ihr Leben längst kein Recht mehr gab, war vielleicht I r o n ie zur Grösse der Seele nöthig, jene sokratische boshafte Sicherheit des alten Arztes und Pöbelmanns, welcher schonungslos in’s eigne Fleisch schnitt, wie in’s Fleisch und Herz des „Vornehmen“, mit einem Blick, welcher verständlich genug sprach : „verstellt euch vor mir nicht ! Hier – sind wir gleich !“ Heute umgekehrt, wo in Europa das Heerdenthier allein zu Ehren kommt und Ehren vertheilt, wo die „Gleichheit der Rechte“ allzuleicht sich in die Gleichheit im Unrechte umwandeln könnte : ich will sagen in gemeinsame Bekriegung alles Seltenen, Fremden, Bevorrechtigten, des höheren Menschen, der höheren Seele, der höheren Pfl icht, der höheren Verantwortlichkeit, der schöpferischen Machtfülle und Herrschaftlichkeit – heute gehört das Vornehm-sein, das Für-sich-sein-wollen, das Anders-seinkönnen, das Allein-stehn und auf-eigne-Faust-leben-müssen zum Begriff „Grösse“ ; und der Philosoph wird Etwas von seinem eignen Ideal verrathen, wenn er aufstellt : „der soll der Grösste sein, der der Einsamste sein kann, der Verborgenste, der Abweichendste, der Mensch jenseits von Gut und Böse, der Herr seiner Tugenden, der Überreiche des Willens ; dies eben soll Gr ö s s e heissen : ebenso vielfach als ganz, ebenso weit als voll sein können.“ Und nochmals gefragt : ist heute – Grösse mög l ic h ? 213. Was ein Philosoph ist, das ist deshalb schlecht zu lernen, weil es nicht zu lehren ist : man muss es „wissen“, aus Erfahrung, – oder man soll den Stolz haben, es n ic ht zu wissen. Dass aber heutzutage alle Welt von Dingen redet, in Bezug auf welche sie keine Er|fahrung haben k a n n , gilt am meisten und

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schlimmsten vom Philosophen und den philosophischen Zuständen : – die Wenigsten kennen sie, dürfen sie kennen, und alle populären Meinungen über sie sind falsch. So ist zum Beispiel jenes ächt philosophische Beieinander einer kühnen ausgelassenen Geistigkeit, welche presto läuft, und einer dialektischen Strenge und Nothwendigkeit, die keinen Fehltritt thut, den meisten Denkern und Gelehrten von ihrer Erfahrung her unbekannt und darum, falls Jemand davon vor ihnen reden wollte, unglaubwürdig. Sie stellen sich jede Nothwendigkeit als Noth, als peinliches Folgen-müssen und Gezwungen-werden vor ; und das Denken selbst gilt ihnen als etwas Langsames, Zögerndes, beinahe als eine Mühsal und oft genug als „des S c hwe i s s e s der Edlen werth“ – aber ganz und gar nicht als etwas Leichtes, Göttliches und dem Tanze, dem Übermuthe, Nächst-Verwandtes ! „Denken“ und eine Sache „ernst nehmen“, „schwer nehmen“ – das gehört bei ihnen zu einander : so allein haben sie es „erlebt“ –. Die Künstler mögen hier schon eine feinere Witterung haben : sie, die nur zu gut wissen, dass gerade dann, wo sie Nichts mehr „willkürlich“ und Alles nothwendig machen, ihr Gefühl von Freiheit, Feinheit, Vollmacht, von schöpferischem Setzen, Verfügen, Gestalten auf seine Höhe kommt, – kurz, dass Nothwendigkeit und „Freiheit des Willens“ dann bei ihnen Eins sind. Es giebt zuletzt eine Rangordnung seelischer Zustände, welcher die Rangordnung der Probleme gemäss ist ; und die höchsten Probleme stossen ohne Gnade Jeden zurück, der ihnen zu nahen wagt, ohne durch Höhe und Macht seiner Geistigkeit zu ihrer Lösung vorherbestimmt zu sein. Was hilft es, wenn gelenkige Allerwelts-Köpfe oder ungelenke brave Mechaniker und | Empiriker sich, wie es heute so vielfach geschieht, mit ihrem Plebejer-Ehrgeize in ihre Nähe und gleichsam an diesen „Hof der Höfe“ drängen ! Aber auf solche Teppiche dürfen grobe Füsse nimmermehr treten : dafür ist im Urgesetz der Dinge schon gesorgt ; die Thüren bleiben diesen Zudringlichen ge-

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schlossen, mögen sie sich auch die Köpfe daran stossen und zerstossen ! Für jede hohe Welt muss man geboren sein ; deutlicher gesagt, man muss für sie g e z üc ht et sein : ein Recht auf Philosophie – das Wort im grossen Sinne genommen – hat man nur Dank seiner Abkunft, die Vorfahren, das „Geblüt“ entscheidet auch hier. Viele Geschlechter müssen der Entstehung des Philosophen vorgearbeitet haben ; jede seiner Tugenden muss einzeln erworben, gepflegt, fortgeerbt, einverleibt worden sein, und nicht nur der kühne leichte zarte Gang und Lauf seiner Gedanken, sondern vor Allem die Bereitwilligkeit zu grossen Verantwortungen, die Hoheit herrschender Blicke und Niederblicke, das Sich-Abgetrennt-Fühlen von der Menge und ihren Pfl ichten und Tugenden, das leutselige Beschützen und Vertheidigen dessen, was missverstanden und verleumdet wird, sei es Gott, sei es Teufel, die Lust und Übung in der grossen Gerechtigkeit, die Kunst des Befehlens, die Weite des Willens, das langsame Auge, welches selten bewundert, selten hinauf blickt, selten liebt … |

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Siebentes Hauptstück : unsere Tugenden. |

214. Unsere Tugenden ? – Es ist wahrscheinlich, dass auch wir noch unsere Tugenden haben, ob es schon billigerweise nicht jene treuherzigen und vierschrötigen Tugenden sein werden, um derentwillen wir unsere Grossväter in Ehren, aber auch ein wenig uns vom Leibe halten. Wir Europäer von Übermorgen, wir Erstlinge des zwanzigsten Jahrhunderts, – mit aller unsrer gefährlichen Neugierde, unsrer Vielfältigkeit und Kunst der Verkleidung, unsrer mürben und gleichsam versüssten Grausamkeit in Geist und Sinnen, – wir werden vermuthlich, we n n wir Tugenden haben sollten, nur solche haben, die sich mit unsren heimlichsten und herzlichsten Hängen, mit unsern heissesten Bedürfnissen am besten vertragen lernten : wohlan, suchen wir einmal nach ihnen in unsren Labyrinthen ! – woselbst sich, wie man weiss, so mancherlei verliert, so mancherlei ganz verloren geht. Und giebt es etwas Schöneres, als nach seinen eigenen Tugenden s uc he n ? Heisst dies nicht beinahe schon : an seine eigne Tugend g l au b e n ? Dies aber „an seine Tugend glauben“ – ist dies nicht im Grunde dasselbe, was man ehedem sein „gutes Gewissen“ nannte, jener ehrwürdige langschwänzige Begriffs-Zopf, den sich unsre Grossväter hinter ihren Kopf, oft genug auch hinter ihren Verstand hängten ? Es scheint demnach, wie wenig wir uns auch sonst altmodisch und grossväterhaft-ehrbar dünken mögen, in Einem sind wir dennoch die würdigen Enkel dieser Grossväter, wir letzten Europäer mit gutem | Gewissen : auch wir noch tragen ihren Zopf. – Ach ! Wenn ihr wüsstet, wie es bald, so bald schon – anders kommt ! …

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Siebentes Hauptstück

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215. Wie es im Reich der Sterne mitunter zwei Sonnen sind, welche die Bahn Eines Planeten bestimmen, wie in gewissen Fällen Sonnen verschiedener Farbe um einen einzigen Planeten leuchten, bald mit rothem Lichte, bald mit grünem Lichte, und dann wieder gleichzeitig ihn treffend und bunt überfluthend : so sind wir modernen Menschen, Dank der complicirten Mechanik unsres „Sternenhimmels“ – durch ve r s c h ie d e ne Moralen bestimmt ; unsre Handlungen leuchten abwechselnd in verschiedenen Farben, sie sind selten eindeutig, – und es giebt genug Fälle, wo wir bu nt e Handlungen thun. 216. Seine Feinde lieben ? Ich glaube, das ist gut gelernt worden : es geschieht heute tausendfältig, im Kleinen und im Grossen ; ja es geschieht bisweilen schon das Höhere und Sublimere – wir lernen ve r ac ht e n , wenn wir lieben, und gerade wenn wir am besten lieben : – aber alles dies unbewusst, ohne Lärm, ohne Prunk, mit jener Scham und Verborgenheit der Güte, welche dem Munde das feierliche Wort und die TugendFormel verbietet. Moral als Attitüde – geht uns heute wider den Geschmack. Dies ist auch ein Fortschritt : wie es der Fortschritt unsrer Väter war, dass ihnen endlich Religion als Attitüde wider den Geschmack gieng, eingerechnet die Feindschaft und Voltairische Bitterkeit gegen die Religion (und was Alles ehemals zur Freigeist-Gebärdensprache gehörte). Es ist die Musik in unserm Gewissen, der Tanz in unserm Geiste, zu dem | alle Puritaner-Litanei, alle Moral-Predigt und Biedermännerei nicht klingen will. 217. Sich vor Denen in Acht nehmen, welche einen hohen Werth darauf legen, dass man ihnen moralischen Takt und Feinheit in der moralischen Unterscheidung zutraue ! Sie vergeben es

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uns nie, wenn sie sich einmal vor uns (oder gar a n uns) vergriffen haben, – sie werden unvermeidlich zu unsern instinktiven Verleumdern und Beeinträchtigern, selbst wenn sie noch unsre „Freunde“ bleiben. – Selig sind die Vergesslichen : denn sie werden auch mit ihren Dummheiten „fertig“. 218. Die Psychologen Frankreichs – und wo giebt es heute sonst noch Psychologen ? – haben immer noch ihr bitteres und vielfältiges Vergnügen an der bêtise bourgeoise nicht ausgekostet, gleichsam als wenn … genug, sie verrathen etwas damit. Flaubert zum Beispiel, der brave Bürger von Rouen, sah, hörte und schmeckte zuletzt nichts Anderes mehr : es war seine Art von Selbstquälerei und feinerer Grausamkeit. Nun empfehle ich, zur Abwechslung – denn es wird langweilig – , ein anderes Ding zum Entzücken : das ist die unbewusste Verschlagenheit, mit der sich alle guten dicken braven Geister des Mittelmaasses zu höheren Geistern und deren Aufgaben verhalten, jene feine verhäkelte jesuitische Verschlagenheit, welche tausend Mal feiner ist, als der Verstand und Geschmack dieses Mittelstandes in seinen besten Augenblicken – sogar auch als der Verstand seiner Opfer – : zum abermaligen Beweise dafür, dass der „Instinkt“ unter allen Arten von Intelligenz, welche bisher entdeckt wurden, die | intelligenteste ist. Kurz, studirt, ihr Psychologen, die Philosophie der „Regel“ im Kampfe mit der „Ausnahme“ : da habt ihr ein Schauspiel, gut genug für Götter und göttliche Boshaftigkeit ! Oder, noch deutlicher : treibt Vivisektion am „guten Menschen“, am „homo bonae voluntatis“ … an euc h ! 219. Das moralische Urtheilen und Verurtheilen ist die LieblingsRache der Geistig-Beschränkten an Denen, die es weniger sind, auch eine Art Schadenersatz dafür, dass sie von der Natur schlecht bedacht wurden, endlich eine Gelegenheit, Geist

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zu bekommen und fein zu we r d e n : – Bosheit vergeistigt. Es thut ihnen im Grunde ihres Herzens wohl, dass es einen Maassstab giebt, vor dem auch die mit Gütern und Vorrechten des Geistes Überhäuften ihnen gleich stehn : – sie kämpfen für die „Gleichheit Aller vor Gott“ und b r auc he n beinahe dazu schon den Glauben an Gott. Unter ihnen sind die kräftigsten Gegner des Atheismus. Wer ihnen sagte „eine hohe Geistigkeit ist ausser Vergleich mit irgend welcher Bravheit und Achtbarkeit eines eben nur moralischen Menschen“, würde sie rasend machen : – ich werde mich hüten, es zu thun. Vielmehr möchte ich ihnen mit meinem Satze schmeicheln, dass eine hohe Geistigkeit selber nur als letzte Ausgeburt moralischer Qualitäten besteht ; dass sie eine Synthesis aller jener Zustände ist, welche den „nur moralischen“ Menschen nachgesagt werden, nachdem sie, einzeln, durch lange Zucht und Übung, vielleicht in ganzen Ketten von Geschlechtern erworben sind ; dass die hohe Geistigkeit eben die Vergeistigung der Gerechtigkeit und jener gütigen Strenge ist, welche sich beauftragt weiss, | die O r d nu n g d e s R a n g e s in der Welt aufrecht zu erhalten, unter den Dingen selbst – und nicht nur unter Menschen. 220. Bei dem jetzt so volksthümlichen Lobe des „Uninteressirten“ muss man sich, vielleicht nicht ohne einige Gefahr, zum Bewusstsein bringen, wor a n eigentlich das Volk Interesse nimmt, und was überhaupt die Dinge sind, um die sich der gemeine Mann gründlich und tief kümmert : die Gebildeten eingerechnet, sogar die Gelehrten, und wenn nicht Alles trügt, beinahe auch die Philosophen. Die Thatsache kommt dabei heraus, dass das Allermeiste von dem, was feinere und verwöhntere Geschmäcker, was jede höhere Natur interessirt und reizt, dem durchschnittlichen Menschen gänzlich „uninteressant“ scheint : – bemerkt er trotzdem eine Hingebung daran, so nennt er sie „désintéressé“ und wundert sich, wie es

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möglich ist, „uninteressirt“ zu handeln. Es hat Philosophen gegeben, welche dieser Volks -Verwunderung noch einen verführerischen und mystisch-jenseitigen Ausdruck zu verleihen wussten (– vielleicht weil sie die höhere Natur nicht aus Erfahrung kannten ?) – statt die nackte und herzlich billige Wahrheit hinzustellen, dass die „uninteressirte“ Handlung eine s e h r interessante und interessirte Handlung ist, vorausgesetzt … „Und die Liebe ?“ – Wie ! Sogar eine Handlung aus Liebe soll „unegoistisch“ sein ? Aber ihr Tölpel – ! „Und das Lob des Aufopfernden ?“ – Aber wer wirklich Opfer gebracht hat, weiss, dass er etwas dafür wollte und bekam, – vielleicht etwas von sich für etwas von sich – dass er hier hingab, um dort mehr zu haben, vielleicht um überhaupt mehr zu sein oder sich doch als „mehr“ zu fühlen. Aber dies ist | ein Reich von Fragen und Antworten, in dem ein verwöhnterer Geist sich ungern aufhält : so sehr hat hier bereits die Wahrheit nöthig, das Gähnen zu unterdrücken, wenn sie antworten muss. Zuletzt ist sie ein Weib : man soll ihr nicht Gewalt anthun. 221. Es kommt vor, sagte ein moralistischer Pedant und Kleinigkeitskrämer, dass ich einen uneigennützigen Menschen ehre und auszeichne : nicht aber, weil er uneigennützig ist, sondern weil er mir ein Recht darauf zu haben scheint, einem anderen Menschen auf seine eignen Unkosten zu nützen. Genug, es fragt sich immer, wer e r ist und wer Je ne r ist. An Einem zum Beispiele, der zum Befehlen bestimmt und gemacht wäre, würde Selbst-Verleugnung und bescheidenes Zurücktreten nicht eine Tugend, sondern die Vergeudung einer Tugend sein : so scheint es mir. Jede unegoistische Moral, welche sich unbedingt nimmt und an Jedermann wendet, sündigt nicht nur gegen den Geschmack : sie ist eine Aufreizung zu Unterlassungs-Sünden, eine Verführung me h r unter der Maske der Menschenfreundlichkeit – und gerade eine Verfüh-

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rung und Schädigung der Höheren, Seltneren, Bevorrechteten. Man muss die Moralen zwingen, sich zu allererst vor der R a n g or d nu n g zu beugen, man muss ihnen ihre Anmaassung in’s Gewissen schieben, – bis sie endlich mit einander darüber in’s Klare kommen, dass es u n mor a l i s c h ist zu sagen : „was dem Einen recht ist, ist dem Andern billig“. – Also mein moralistischer Pedant und bonhomme : verdiente er es wohl, dass man ihn auslachte, als er die Moralen dergestalt zur Moralität ermahnte ? Aber man soll nicht zu viel | Recht haben, wenn man die Lacher auf s e i ne r Seite haben will ; ein Körnchen Unrecht gehört sogar zum guten Geschmack. 222. Wo heute Mitleiden gepredigt wird – und, recht gehört, wird jetzt keine andre Religion mehr gepredigt – möge der Psycholog seine Ohren aufmachen : durch alle Eitelkeit, durch allen Lärm hindurch, der diesen Predigern (wie allen Predigern) zu eigen ist, wird er einen heiseren, stöhnenden, ächten Laut von S e l b s t-Ve r a c ht u n g hören. Sie gehört zu jener Verdüsterung und Verhässlichung Europa’s, welche jetzt ein Jahrhundert lang im Wachsen ist (und deren erste Symptome schon in einem nachdenklichen Briefe Galiani’s an Madame d’Epinay urkundlich verzeichnet sind) : we n n s ie n ic ht d e r e n Ur s ac he i s t ! Der Mensch der „modernen Ideen“, dieser stolze Affe, ist unbändig mit sich selbst unzufrieden : dies steht fest. Er leidet : und seine Eitelkeit will, dass er nur „mit leidet“ … 223. Der europäische Mischmensch – ein leidlich hässlicher Plebejer, Alles in Allem – braucht schlechterdings ein Kostüm : er hat die Historie nöthig als die Vorrathskammer der Kostüme. Freilich bemerkt er dabei, dass ihm keines recht auf den Leib passt, – er wechselt und wechselt. Man sehe sich das neunzehnte Jahrhundert auf diese schnellen Vorlieben und

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Wechsel der Stil-Maskeraden an ; auch auf die Augenblicke der Verzweiflung darüber, dass uns „nichts steht“ –. Unnütz, sich romantisch oder klassisch oder christlich oder florentinisch oder barokko oder „national“ vorzuführen, in moribus et artibus : es „kleidet nicht“ ! Aber der | „Geist“, insbesondere der „historische Geist“, ersieht sich auch noch an dieser Verzweiflung seinen Vortheil : immer wieder wird ein neues Stück Vorzeit und Ausland versucht, umgelegt, abgelegt, eingepackt, vor allem s t u d i r t : – wir sind das erste studirte Zeitalter in puncto der „Kostüme“, ich meine der Moralen, Glaubensartikel, Kunstgeschmäcker und Religionen, vorbereitet wie noch keine Zeit es war, zum Karneval grossen Stils, zum geistigsten Fasching-Gelächter und Übermuth, zur transscendentalen Höhe des höchsten Blödsinns und der aristophanischen Welt-Verspottung. Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrer E r f i n d u n g noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, – vielleicht dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser L ac he n noch Zukunft hat ! 224. Der h i s tor i s c he Si n n (oder die Fähigkeit, die Rangordnung von Werthschätzungen schnell zu errathen, nach welchen ein Volk, eine Gesellschaft, ein Mensch gelebt hat, der „divinatorische Instinkt“ für die Beziehungen dieser Werthschätzungen, für das Verhältniss der Autorität der Werthe zur Autorität der wirkenden Kräfte) : dieser historische Sinn, auf welchen wir Europäer als auf unsre Besonderheit Anspruch machen, ist uns im Gefolge der bezaubernden und tollen H a l b b a r b ar e i gekommen, in welche Europa durch die demokratische Vermengung der Stände und Rassen gestürzt worden ist, – erst das neunzehnte Jahrhundert kennt diesen Sinn, als seinen sechsten Sinn. Die Vergangenheit von jeder Form und Lebens-

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weise, | von Culturen, die früher hart neben einander, über einander lagen, strömt Dank jener Mischung in uns „moderne Seelen“ aus, unsre Instinkte laufen nunmehr überallhin zurück, wir selbst sind eine Art Chaos – : schliesslich ersieht sich „der Geist“, wie gesagt, seinen Vortheil dabei. Durch unsre Halbbarbarei in Leib und Begierde haben wir geheime Zugänge überallhin, wie sie ein vornehmes Zeitalter nie besessen hat, vor Allem die Zugänge zum Labyrinthe der unvollendeten Culturen und zu jeder Halbbarbarei, die nur jemals auf Erden dagewesen ist ; und insofern der beträchtlichste Theil der menschlichen Cultur bisher eben Halbbarbarei war, bedeutet „historischer Sinn“ beinahe den Sinn und Instinkt für Alles, den Geschmack und die Zunge für Alles : womit er sich sofort als ein u nvor n e h m e r Sinn ausweist. Wir geniessen zum Beispiel Homer wieder : vielleicht ist es unser glücklichster Vorsprung, dass wir Homer zu schmecken verstehen, welchen die Menschen einer vornehmen Cultur (etwa die Franzosen des siebzehnten Jahrhunderts, wie Saint-Evremond, der ihm den esprit vaste vorwirft, selbst noch ihr Ausklang Voltaire) nicht so leicht sich anzueignen wissen und wussten, – welchen zu geniessen sie sich kaum erlaubten. Das sehr bestimmte Ja und Nein ihres Gaumens, ihr leicht bereiter Ekel, ihre zögernde Zurückhaltung in Bezug auf alles Fremdartige, ihre Scheu vor dem Ungeschmack selbst der lebhaften Neugierde, und überhaupt jener schlechte Wille jeder vornehmen und selbstgenügsamen Cultur, sich eine neue Begehrlichkeit, eine Unbefriedigung am Eignen, eine Bewunderung des Fremden einzugestehen : alles dies stellt und stimmt sie ungünstig selbst gegen die besten Dinge der Welt, welche nicht ihr Eigenthum | sind oder ihre Beute werden k ö n nt e n , – und kein Sinn ist solchen Menschen unverständlicher, als gerade der historische Sinn und seine unterwürfige Plebejer-Neugierde. Nicht anders steht es mit Shakespeare, dieser erstaunlichen spanisch-maurisch-sächsischen Geschmacks-Synthesis, über

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welchen sich ein Altathener aus der Freundschaft des Aeschylus halbtodt gelacht oder geärgert haben würde : aber wir – nehmen gerade diese wilde Buntheit, dies Durcheinander des Zartesten, Gröbsten und Künstlichsten, mit einer geheimen Vertraulichkeit und Herzlichkeit an, wir geniessen ihn als das gerade uns aufgesparte Raffi nement der Kunst und lassen uns dabei von den widrigen Dämpfen und der Nähe des englischen Pöbels, in welcher Shakespeare’s Kunst und Geschmack lebt, so wenig stören, als etwa auf der Chiaja Neapels : wo wir mit allen unsren Sinnen, bezaubert und willig, unsres Wegs gehn, wie sehr auch die Cloaken der Pöbel-Quartiere in der Luft sind. Wir Menschen des „historischen Sinns“ : wir haben als solche unsre Tugenden, es ist nicht zu bestreiten, – wir sind anspruchslos, selbstlos, bescheiden, tapfer, voller Selbstüberwindung, voller Hingebung, sehr dankbar, sehr geduldig, sehr entgegenkommend : – wir sind mit Alledem vielleicht nicht sehr „geschmackvoll“. Gestehen wir es uns schliesslich zu : was uns Menschen des „historischen Sinns“ am schwersten zu fassen, zu fühlen, nachzuschmecken, nachzulieben ist, was uns im Grunde voreingenommen und fast feindlich fi ndet, das ist gerade das Vollkommene und Letzthin-Reife in jeder Cultur und Kunst, das eigentlich Vornehme an Werken und Menschen, ihr Augenblick glatten Meers und halkyonischer Selbstgenugsamkeit, das Goldene und Kalte, welches alle Dinge zeigen, die sich | vollendet haben. Vielleicht steht unsre grosse Tugend des historischen Sinns in einem nothwendigen Gegensatz zum g ut e n Geschmacke, mindestens zum allerbesten Geschmacke, und wir vermögen gerade die kleinen kurzen und höchsten Glücksfälle und Verklärungen des menschlichen Lebens, wie sie hier und da einmal aufglänzen, nur schlecht, nur zögernd, nur mit Zwang in uns nachzubilden : jene Augenblicke und Wunder, wo eine grosse Kraft freiwillig vor dem Maasslosen und Unbegrenzten stehen blieb – , wo ein Überfluss von feiner Lust in der plötzlichen Bändigung

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und Versteinerung, im Feststehen und Sich-Fest-Stellen auf einem noch zitternden Boden genossen wurde. Das M a a s s ist uns fremd, gestehen wir es uns ; unser Kitzel ist gerade der Kitzel des Unendlichen, Ungemessenen. Gleich dem Reiter auf vorwärts schnaubendem Rosse lassen wir vor dem Unendlichen die Zügel fallen, wir modernen Menschen, wir Halbbarbaren – und sind erst dort in u n s r e r Seligkeit, wo wir auch am meisten – i n G e f a h r s i nd . 225. Ob Hedonismus, ob Pessimismus, ob Utilitarismus, ob Eudämonismus : alle diese Denkweisen, welche nach L u s t und L e i d , das heisst nach Begleitzuständen und Nebensachen den Werth der Dinge messen, sind Vordergrunds-Denkweisen und Naivetäten, auf welche ein Jeder, der sich g e s t a lt e n d e r Kräfte und eines Künstler-Gewissens bewusst ist, nicht ohne Spott, auch nicht ohne Mitleid herabblicken wird. Mitleiden mit euc h ! das ist freilich nicht das Mitleiden, wie ihr es meint : das ist nicht Mitleiden mit der socialen „Noth“, mit der „Gesellschaft“ und ihren Kranken und Verunglückten, | mit Lasterhaften und Zerbrochnen von Anbeginn, wie sie rings um uns zu Boden liegen ; das ist noch weniger Mitleiden mit murrenden gedrückten aufrührerischen Sklaven-Schichten, welche nach Herrschaft – sie nennen’s „Freiheit“ – trachten. Un s e r Mitleiden ist ein höheres fernsichtigeres Mitleiden : – wir sehen, wie d e r Me n s c h sich verkleinert, wie i h r ihn verkleinert ! – und es giebt Augenblicke, wo wir gerade eur e m Mitleiden mit einer unbeschreiblichen Beängstigung zusehn, wo wir uns gegen dies Mitleiden wehren – , wo wir euren Ernst gefährlicher als irgend welche Leichtfertigkeit fi nden. Ihr wollt womöglich – und es giebt kein tolleres „womöglich“ – d a s L e id e n a b s c h a f f e n ; und wir ? – es scheint gerade, w i r wollen es lieber noch höher und schlimmer haben, als je es war ! Wohlbefi nden, wie ihr es versteht – das ist

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ja kein Ziel, das scheint uns ein E nd e ! Ein Zustand, welcher den Menschen alsbald lächerlich und verächtlich macht, – der seinen Untergang w ü n s c he n macht ! Die Zucht des Leidens, des g r o s s e n Leidens – wisst ihr nicht, dass nur d ie s e Zucht alle Erhöhungen des Menschen bisher geschaffen hat ? Jene Spannung der Seele im Unglück, welche ihr die Stärke anzüchtet, ihre Schauer im Anblick des grossen Zugrundegehens, ihre Erfi ndsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden ist : – ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen Leidens geschenkt worden ? Im Menschen ist G e s c hö pf und S c hö pf e r vereint : im Menschen ist Stoff, Bruchstück, Überfluss, Lehm, Koth, Unsinn, Chaos ; aber im Menschen ist auch Schöpfer, Bildner, Hammer-Härte, Zuschauer-Gött|lichkeit und siebenter Tag : – versteht ihr diesen Gegensatz ? Und dass eue r Mitleid dem „Geschöpf im Menschen“ gilt, dem, was geformt, gebrochen, geschmiedet, gerissen, gebrannt, geglüht, geläutert werden muss, – dem, was nothwendig le id e n muss und leiden s ol l ? Und u n s e r Mitleid  – begreift ihr’s nicht, wem unser u m g e k e h r t e s Mitleid gilt, wenn es sich gegen euer Mitleid wehrt, als gegen die schlimmste aller Verzärtelungen und Schwächen ? – Mitleid also g e g e n Mitleid ! – Aber, nochmals gesagt, es giebt höhere Probleme als alle Lust- und Leid- und Mitleid-Probleme ; und jede Philosophie, die nur auf diese hinausläuft, ist eine Naivetät. – 226. W i r I m mor a l i s t e n ! – Diese Welt, die u n s angeht, in der w i r zu fürchten und zu lieben haben, diese beinahe unsichtbare unhörbare Welt feinen Befehlens, feinen Gehorchens, eine Welt des „Beinahe“ in jedem Betrachte, häklich, verfänglich, spitzig, zärtlich : ja, sie ist gut vertheidigt gegen plumpe Zuschauer und vertrauliche Neugierde ! Wir sind in ein stren-

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ges Garn und Hemd von Pflichten eingesponnen und k ön ne n da nicht heraus – , darin eben sind wir „Menschen der Pfl icht“, auch wir ! Bisweilen, es ist wahr, tanzen wir wohl in unsern „Ketten“ und zwischen unsern „Schwertern“ ; öfter, es ist nicht minder wahr, knirschen wir darunter und sind ungeduldig über all die heimliche Härte unsres Geschicks. Aber wir mögen thun, was wir wollen : die Tölpel und der Augenschein sagen gegen uns „das sind Menschen oh ne Pfl icht“ – wir haben immer die Tölpel und den Augenschein gegen uns ! | 227. Redlichkeit, gesetzt, dass dies unsre Tugend ist, von der wir nicht loskönnen, wir freien Geister – nun, wir wollen mit aller Bosheit und Liebe an ihr arbeiten und nicht müde werden, uns in u n s r e r Tugend, die allein uns übrig blieb, zu „vervollkommnen“ : mag ihr Glanz einmal wie ein vergoldetes blaues spöttisches Abendlicht über dieser alternden Cultur und ihrem dumpfen düsteren Ernste liegen bleiben ! Und wenn dennoch unsre Redlichkeit eines Tages müde wird und seufzt und die Glieder streckt und uns zu hart fi ndet und es besser, leichter, zärtlicher haben möchte, gleich einem angenehmen Laster : bleiben wir h a r t , wir letzten Stoiker ! und schicken wir ihr zu Hülfe, was wir nur an Teufelei in uns haben – unsern Ekel am Plumpen und Ungefähren, unser „nitimur in vetitum“, unsern Abenteuerer-Muth, unsre gewitzte und verwöhnte Neugierde, unsern feinsten verkapptesten geistigsten Willen zur Macht und Welt-Überwindung, der begehrlich um alle Reiche der Zukunft schweift und schwärmt, – kommen wir unserm „Gotte“ mit allen unsern „Teufeln“ zu Hülfe ! Es ist wahrscheinlich, dass man uns darob verkennt und verwechselt : was liegt daran ! Man wird sagen : „ihre „Redlichkeit“ – das ist ihre Teufelei, und gar nichts mehr !“ was liegt daran ! Und selbst wenn man Recht hätte ! Waren nicht alle Götter bisher dergleichen heilig gewordne umgetaufte Teufel ? Und

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was wissen wir zuletzt von uns ? Und wie der Geist he i s s e n will, der uns führt ? (es ist eine Sache der Namen.) Und wie viele Geister wir bergen ? Unsre Redlichkeit, wir freien Geister, – sorgen wir dafür, dass sie nicht unsre Eitelkeit, unser Putz und Prunk, unsre Grenze, unsre Dummheit werde ! | Jede Tugend neigt zur Dummheit, jede Dummheit zur Tugend ; „dumm bis zur Heiligkeit“ sagt man in Russland, – sorgen wir dafür, dass wir nicht aus Redlichkeit zuletzt noch zu Heiligen und Langweiligen werden ! Ist das Leben nicht hundert Mal zu kurz, sich in ihm – zu langweilen ? Man müsste schon an’s ewige Leben glauben, um … 228. Man vergebe mir die Entdeckung, dass alle Moral-Philosophie bisher langweilig war und zu den Schlafmitteln gehörte – und dass „die Tugend“ durch nichts mehr in meinen Augen beeinträchtigt worden ist, als durch diese L a n g we i l i g k e it ihrer Fürsprecher ; womit ich noch nicht deren allgemeine Nützlichkeit verkannt haben möchte. Es liegt viel daran, dass so wenig Menschen als möglich über Moral nachdenken, – es liegt folglich s e h r viel daran, dass die Moral nicht etwa eines Tages interessant werde ! Aber man sei unbesorgt ! Es steht auch heute noch so, wie es immer stand : ich sehe Niemanden in Europa, der einen Begriff davon hätte (oder g ä b e), dass das Nachdenken über Moral gefährlich, verfänglich, verführerisch getrieben werden könnte, – dass Ve r h ä n g n i s s darin liegen könnte ! Man sehe sich zum Beispiel die unermüdlichen unvermeidlichen englischen Utilitarier an, wie sie plump und ehrenwerth in den Fusstapfen Bentham’s, daher wandeln, dahin wandeln (ein homerisches Gleichniss sagt es deutlicher), so wie er selbst schon in den Fusstapfen des ehrenwerthen Helvétius wandelte (nein, das war kein gefährlicher Mensch, dieser Helvétius !). Kein neuer Gedanke, Nichts von feinerer Wendung und Faltung eines alten Gedankens, | nicht einmal

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eine wirkliche Historie des früher Gedachten : eine u n mögl ic he Litteratur im Ganzen, gesetzt, dass man sie nicht mit einiger Bosheit sich einzusäuern versteht. Es hat sich nämlich auch in diese Moralisten (welche man durchaus mit Nebengedanken lesen muss, falls man sie lesen mu s s –), jenes alte englische Laster eingeschlichen, das c a nt heisst und mo r a l i s c h e Ta r t ü f f e r ie ist, dies Mal unter die neue Form der Wissenschaftlichkeit versteckt ; es fehlt auch nicht an geheimer Abwehr von Gewissensbissen, an denen billigerweise eine Rasse von ehemaligen Puritanern bei aller wissenschaftlichen Befassung mit Moral leiden wird. (Ist ein Moralist nicht das Gegenstück eines Puritaners ? Nämlich als ein Denker, der die Moral als fragwürdig, fragezeichenwürdig, kurz als Problem nimmt ? Sollte Moralisiren nicht – unmoralisch sein ?) Zuletzt wollen sie Alle, dass die e n g l i s c he Moralität Recht bekomme : insofern gerade damit der Menschheit, oder dem „allgemeinen Nutzen“ oder „dem Glück der Meisten“, nein ! dem Glücke E n g l a nd s am besten gedient wird ; sie möchten mit allen Kräften sich beweisen, dass das Streben nach e n g l is c he m Glück, ich meine nach comfort und fashion (und, an höchster Stelle, einem Sitz im Parlament) zugleich auch der rechte Pfad der Tugend sei, ja dass, so viel Tugend es bisher in der Welt gegeben hat, es eben in einem solchen Streben bestanden habe. Keins von allen diesen schwerfälligen, im Gewissen beunruhigten Heerdenthieren (die die Sache des Egoismus als Sache der allgemeinen Wohlfahrt zu führen unternehmen –) will etwas davon wissen und riechen, dass die „allgemeine Wohlfahrt“ kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie fassbarer Begriff, sondern nur ein Brechmittel ist, – dass, | was dem Einen billig ist, durchaus noch nicht dem Andern billig sein k a n n , dass die Forderung Einer Moral für Alle die Beeinträchtigung gerade der höheren Menschen ist, kurz, dass es eine R a n g or d nu n g zwischen Mensch und Mensch, folglich auch zwischen Moral und Moral giebt. Es ist eine bescheidene

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und gründlich mittelmässige Art Mensch, diese utilitarischen Engländer, und, wie gesagt : insofern sie langweilig sind, kann man nicht hoch genug von ihrer Utilität denken. Man sollte sie noch er mut h i g e n : wie es, zum Theil, mit nachfolgenden Reimen versucht worden ist. Heil euch, brave Karrenschieber, Stets „je länger, desto lieber“, Steifer stets an Kopf und Knie, Unbegeistert, ungespässig, Unverwüstlich-mittelmässig, Sans genie et sans esprit ! 229. Es bleibt in jenen späten Zeitaltern, die auf Menschlichkeit stolz sein dürfen, so viel Furcht, so viel A b e r g l au b e der Furcht vor dem „wilden grausamen Thiere“ zurück, über welches Herr geworden zu sein eben den Stolz jener menschlicheren Zeitalter ausmacht, dass selbst handgreifliche Wahrheiten wie auf Verabredung Jahrhunderte lang unausgesprochen bleiben, weil sie den Anschein haben, jenem wilden, endlich abgetödteten Thiere wieder zum Leben zu verhelfen. Ich wage vielleicht etwas, wenn ich eine solche Wahrheit mir entschlüpfen lasse : mögen Andre sie wieder einfangen und ihr so viel „Milch der frommen Denkungsart“ zu trinken geben, bis sie still und vergessen in ihrer alten Ecke liegt. – Man soll über die Grau|samkeit umlernen und die Augen aufmachen ; man soll endlich Ungeduld lernen, damit nicht länger solche unbescheidne dicke Irrthümer tugendhaft und dreist herumwandeln, wie sie zum Beispiel in Betreff der Tragödie von alten und neuen Philosophen aufgefüttert worden sind. Fast Alles, was wir „höhere Cultur“ nennen, beruht auf der Vergeistigung und Vertiefung der Gr au s a m k e it – dies ist mein Satz ; jenes „wilde Thier“ ist gar nicht abgetödtet worden, es lebt, es blüht, es hat sich nur – vergöttlicht. Was die schmerzliche

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Wollust der Tragödie ausmacht, ist Grausamkeit ; was im sogenannten tragischen Mitleiden, im Grunde sogar in allem Erhabenen bis hinauf zu den höchsten und zartesten Schaudern der Metaphysik, angenehm wirkt, bekommt seine Süssigkeit allein von der eingemischten Ingredienz der Grausamkeit. Was der Römer in der Arena, der Christ in den Entzückungen des Kreuzes, der Spanier Angesichts von Scheiterhaufen oder Stierkämpfen, der Japanese von heute, der sich zur Tragödie drängt, der Pariser Vorstadt-Arbeiter, der ein Heimweh nach blutigen Revolutionen hat, die Wagnerianerin, welche mit ausgehängtem Willen Tristan und Isolde über sich „ergehen lässt“, – was diese Alle geniessen und mit geheimnissvoller Brunst in sich hineinzutrinken trachten, das sind die Würztränke der grossen Circe „Grausamkeit“. Dabei muss man freilich die tölpelhafte Psychologie von Ehedem davon jagen, welche von der Grausamkeit nur zu lehren wusste, dass sie beim Anblicke f r e md e n Leides entstünde : es giebt einen reichlichen, überreichlichen Genuss auch am eignen Leiden, am eignen Sich-leiden-machen, – und wo nur der Mensch zur Selbst-Verleugnung im r e l i g iö s e n Sinne oder zur Selbstverstümmelung, wie bei Phöniziern | und Asketen, oder überhaupt zur Entsinnlichung, Entfleischung, Zerknirschung, zum puritanischen Busskrampfe, zur Gewissens-Vivisektion und zum Pascalischen sacrifi zio dell’intelletto sich überreden lässt, da wird er heimlich durch seine Grausamkeit gelockt und vorwärts gedrängt, durch jene gefährlichen Schauder der g e g e n s ic h s e l b s t gewendeten Grausamkeit. Zuletzt erwäge man, dass selbst der Erkennende, indem er seinen Geist zwingt, w id e r den Hang des Geistes und oft genug auch wider die Wünsche seines Herzens zu erkennen – nämlich Nein zu sagen, wo er bejahen, lieben, anbeten möchte – als Künstler und Verklärer der Grausamkeit waltet ; schon jedes Tiefund Gründlich-Nehmen ist eine Vergewaltigung, ein Wehethun-wollen am Grundwillen des Geistes, welcher unablässig

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zum Scheine und zu den Oberflächen hin will, – schon in jedem Erkennen-Wollen ist ein Tropfen Grausamkeit. 230. Vielleicht versteht man nicht ohne Weiteres, was ich hier von einem „Grundwillen des Geistes“ gesagt habe : man gestatte mir eine Erläuterung. – Das befehlerische Etwas, das vom Volke „der Geist“ genannt wird, will in sich und um sich herum Herr sein und sich als Herrn fühlen : es hat den Willen aus der Vielheit zur Einfachheit, einen zusammenschnürenden, bändigenden, herrschsüchtigen und wirklich herrschaftlichen Willen. Seine Bedürfnisse und Vermögen sind hierin die selben, wie sie die Physiologen für Alles, was lebt, wächst und sich vermehrt, aufstellen. Die Kraft des Geistes, Fremdes sich anzueignen, offenbart sich in einem starken Hange, das Neue dem Alten anzuähnlichen, das Mannichfaltige zu vereinfachen, das | gänzlich Widersprechende zu übersehen oder wegzustossen : ebenso wie er bestimmte Züge und Linien am Fremden, an jedem Stück „Aussenwelt“ willkürlich stärker unterstreicht, heraushebt, sich zurecht fälscht. Seine Absicht geht dabei auf Einverleibung neuer „Erfahrungen“, auf Einreihung neuer Dinge unter alte Reihen, – auf Wachsthum also ; bestimmter noch, auf das G e f ü h l des Wachsthums, auf das Gefühl der vermehrten Kraft. Diesem selben Willen dient ein scheinbar entgegengesetzter Trieb des Geistes, ein plötzlich herausbrechender Entschluss zur Unwissenheit, zur willkürlichen Abschliessung, ein Zumachen seiner Fenster, ein inneres Neinsagen zu diesem oder jenem Dinge, ein Nicht-herankommenlassen, eine Art Vertheidigungs-Zustand gegen vieles Wissbare, eine Zufriedenheit mit dem Dunkel, mit dem abschliessenden Horizonte, ein Ja-sagen und Gutheissen der Unwissenheit : wie dies Alles nöthig ist je nach dem Grade seiner aneignenden Kraft, seiner „Verdauungskraft“, im Bilde geredet – und wirklich gleicht „der Geist“ am meisten noch einem

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Magen. Insgleichen gehört hierher der gelegentliche Wille des Geistes, sich täuschen zu lassen, vielleicht mit einer muthwilligen Ahnung davon, dass es so und so n ic ht steht, dass man es so und so eben nur gelten lässt, eine Lust an aller Unsicherheit und Mehrdeutigkeit, ein frohlockender Selbstgenuss an der willkürlichen Enge und Heimlichkeit eines Winkels, am Allzunahen, am Vordergrunde, am Vergrösserten, Verkleinerten, Verschobenen, Verschönerten, ein Selbstgenuss an der Willkürlichkeit aller dieser Machtäusserungen. Endlich gehört hierher jene nicht unbedenkliche Bereitwilligkeit des Geistes, andere Geister zu täuschen und sich vor ihnen zu verstellen, jener be|ständige Druck und Drang einer schaffenden, bildenden, wandelfähigen Kraft : der Geist geniesst darin seine Masken-Vielfältigkeit und Verschlagenheit, er geniesst auch das Gefühl seiner Sicherheit darin, – gerade durch seine Proteuskünste ist er ja am besten vertheidigt und versteckt ! – D ie s e m Willen zum Schein, zur Vereinfachung, zur Maske, zum Mantel, kurz zur Oberfläche – denn jede Oberfläche ist ein Mantel – wirkt jener sublime Hang des Erkennenden e ntg e g e n , der die Dinge tief, vielfach, gründlich nimmt und nehmen w i l l : als eine Art Grausamkeit des intellektuellen Gewissens und Geschmacks, welche jeder tapfere Denker bei sich anerkennen wird, gesetzt dass er, wie sich gebührt, sein Auge für sich selbst lange genug gehärtet und gespitzt hat und an strenge Zucht, auch an strenge Worte gewöhnt ist. Er wird sagen „es ist etwas Grausames im Hange meines Geistes“ : – mögen die Tugendhaften und Liebenswürdigen es ihm auszureden suchen ! In der That, es klänge artiger, wenn man uns, statt der Grausamkeit, etwa eine „ausschweifende Redlichkeit“ nachsagte, nachraunte, nachrühmte, – uns freien, s e h r freien Geistern : – und s o klingt vielleicht wirklich einmal unser – Nachruhm ? Einstweilen – denn es hat Zeit bis dahin – möchten wir selbst wohl am wenigsten geneigt sein, uns mit dergleichen moralischen Wort-Flittern und

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-Franzen aufzuputzen : unsre ganze bisherige Arbeit verleidet uns gerade diesen Geschmack und seine muntere Üppigkeit. Es sind schöne glitzernde klirrende festliche Worte : Redlichkeit, Liebe zur Wahrheit, Liebe zur Weisheit, Aufopferung für die Erkenntniss, Heroismus des Wahrhaftigen, – es ist Etwas daran, das Einem den Stolz schwellen macht. Aber wir Einsiedler und Murmelthiere, wir haben uns längst | in aller Heimlichkeit eines Einsiedler-Gewissens überredet, dass auch dieser würdige Wort-Prunk zu dem alten Lügen-Putz, -Plunder und -Goldstaub der unbewussten menschlichen Eitelkeit gehört, und dass auch unter solcher schmeichlerischen Farbe und Übermalung der schreckliche Grundtext homo natura wieder heraus erkannt werden muss. Den Menschen nämlich zurückübersetzen in die Natur ; über die vielen eitlen und schwärmerischen Deutungen und Nebensinne Herr werden, welche bisher über jenen ewigen Grundtext homo natura gekritzelt und gemalt wurden ; machen, dass der Mensch fürderhin vor dem Menschen steht, wie er heute schon, hart geworden in der Zucht der Wissenschaft, vor der a nd e r e n Natur steht, mit unerschrocknen Oedipus-Augen und verklebten Odysseus-Ohren, taub gegen die Lockweisen alter metaphysischer Vogelfänger, welche ihm allzulange zugeflötet haben : „du bist mehr ! du bist höher ! du bist anderer Herkunft !“ – das mag eine seltsame und tolle Aufgabe sein, aber es ist eine Au fg a b e – wer wollte das leugnen ! Warum wir sie wählten, diese tolle Aufgabe ? Oder anders gefragt : „warum überhaupt Erkenntniss ?“ – Jedermann wird uns darnach fragen. Und wir, solchermaassen gedrängt, wir, die wir uns hunderte Male selbst schon ebenso gefragt haben, wir fanden und fi nden keine bessere Antwort … 231. Das Lernen verwandelt uns, es thut Das, was alle Ernährung thut, die auch nicht bloss „erhält“ – : wie der Physiologe weiss. Aber im Grunde von uns, ganz „da unten“, giebt es

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freilich etwas Unbelehrbares, einen Granit von geistigem Fatum, von vorherbestimm|ter Entscheidung und Antwort auf vorherbestimmte ausgelesene Fragen. Bei jedem kardinalen Probleme redet ein unwandelbares „das bin ich“ ; über Mann und Weib zum Beispiel kann ein Denker nicht umlernen, sondern nur auslernen, – nur zu Ende entdecken, was darüber bei ihm „feststeht.“ Man fi ndet bei Zeiten gewisse Lösungen von Problemen, die gerade u n s starken Glauben machen ; vielleicht nennt man sie fürderhin seine „Überzeugungen“. Später – sieht man in ihnen nur Fusstapfen zur Selbsterkenntniss, Wegweiser zum Probleme, das wir s i n d , – richtiger, zur grossen Dummheit, die wir sind, zu unserem geistigen Fatum, zum Un b e le h r b a r e n ganz „da unten“. – Auf diese reichliche Artigkeit hin, wie ich sie eben gegen mich selbst begangen habe, wird es mir vielleicht eher schon gestattet sein, über das „Weib an sich“ einige Wahrheiten herauszusagen : gesetzt, dass man es von vornherein nunmehr weiss, wie sehr es eben nur – me i ne Wahrheiten sind. – 232. Das Weib will selbständig werden : und dazu fängt es an, die Männer über das „Weib an sich“ aufzuklären – d a s gehört zu den schlimmsten Fortschritten der allgemeinen Ve r h ä s s l ic hu n g Europa’s. Denn was müssen diese plumpen Versuche der weiblichen Wissenschaftlichkeit und Selbst-Entblössung Alles an’s Licht bringen ! Das Weib hat so viel Grund zur Scham ; im Weibe ist so viel Pedantisches, Oberflächliches, Schulmeisterliches, Kleinlich-Anmaassliches, Kleinlich-Zügelloses und -Unbescheidenes versteckt – man studire nur seinen Verkehr mit Kindern ! – , das im Grunde bisher durch die F u r c ht vor dem Manne am besten zurückgedrängt und gebändigt wurde. Wehe, wenn | erst das „Ewig-Langweilige am Weibe“ – es ist reich daran ! – sich hervorwagen darf ! wenn es seine Klugheit und Kunst, die der Anmuth, des Spielens, Sor-

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gen-Wegscheuchens, Erleichterns und Leicht-Nehmens, wenn es seine feine Anstelligkeit zu angenehmen Begierden gründlich und grundsätzlich zu verlernen beginnt ! Es werden schon jetzt weibliche Stimmen laut, welche, beim heiligen Aristophanes ! Schrecken machen, es wird mit medizinischer Deutlichkeit gedroht, was zuerst und zuletzt das Weib vom Manne w i l l . Ist es nicht vom schlechtesten Geschmacke, wenn das Weib sich dergestalt anschickt, wissenschaftlich zu werden ? Bisher war glücklicher Weise das Aufklären Männer-Sache, Männer-Gabe – man blieb damit „unter sich“ ; und man darf sich zuletzt, bei Allem, was Weiber über „das Weib“ schreiben, ein gutes Misstrauen vorbehalten, ob das Weib über sich selbst eigentlich Auf klärung w i l l – und wollen k a n n … Wenn ein Weib damit nicht einen neuen P ut z für sich sucht – ich denke doch, das Sich-Putzen gehört zum Ewig-Weiblichen ? – nun, so will es vor sich Furcht erregen : – es will damit vielleicht Herrschaft. Aber es w i l l nicht Wahrheit : was liegt dem Weibe an Wahrheit ! Nichts ist von Anbeginn an dem Weibe fremder, widriger, feindlicher als Wahrheit, – seine grosse Kunst ist die Lüge, seine höchste Angelegenheit ist der Schein und die Schönheit. Gestehen wir es, wir Männer : wir ehren und lieben gerade d ie s e Kunst und diesen Instinkt am Weibe : wir, die wir es schwer haben und uns gerne zu unsrer Erleichterung zu Wesen gesellen, unter deren Händen, Blicken und zarten Thorheiten uns unser Ernst, unsre Schwere und Tiefe beinahe wie eine Thorheit erscheint. Zuletzt stelle ich die Frage : | hat jemals ein Weib selber schon einem Weibskopfe Tiefe, einem Weibsherzen Gerechtigkeit zugestanden ? Und ist es nicht wahr, dass, im Grossen gerechnet, „das Weib“ bisher vom Weibe selbst am meisten missachtet wurde – und ganz und gar nicht von uns ? – Wir Männer wünschen, dass das Weib nicht fortfahre, sich durch Aufklärung zu compromittiren : wie es Manns-Fürsorge und Schonung des Weibes war, als die Kirche dekretirte : mulier taceat

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in ecclesia ! Es geschah zum Nutzen des Weibes, als Napoleon der allzuberedten Madame de Staël zu verstehen gab : mulier taceat in politicis ! – und ich denke, dass es ein rechter Weiberfreund ist, der den Frauen heute zuruft : mulier taceat de muliere ! 233. Es verräth Corruption der Instinkte – noch abgesehn davon, dass es schlechten Geschmack verräth – , wenn ein Weib sich gerade auf Madame Roland oder Madame de Staël oder Monsieur George Sand beruft, wie als ob damit etwas zu G u n s t e n des „Weibes an sich“ bewiesen wäre. Unter Männern sind die Genannten die drei k om i s c he n Weiber an sich – nichts mehr ! – und gerade die besten unfreiwilligen G e g e n A r g u me nt e gegen Emancipation und weibliche Selbstherrlichkeit. 234. Die Dummheit in der Küche ; das Weib als Köchin ; die schauerliche Gedankenlosigkeit, mit der die Ernährung der Familie und des Hausherrn besorgt wird ! Das Weib versteht nicht, was die Speise b e d eut et : und will Köchin sein ! Wenn das Weib ein denkendes Geschöpf wäre, so hätte es ja, als Köchin seit Jahr|tausenden, die grössten physiologischen Thatsachen fi nden, insgleichen die Heilkunst in seinen Besitz bringen müssen ! Durch schlechte Köchinnen – durch den vollkommenen Mangel an Vernunft in der Küche ist die Entwicklung des Menschen am längsten aufgehalten, am schlimmsten beeinträchtigt worden : es steht heute selbst noch wenig besser. Eine Rede an höhere Töchter. 235. Es giebt Wendungen und Würfe des Geistes, es giebt Sentenzen, eine kleine Handvoll Worte, in denen eine ganze Cultur, eine ganze Gesellschaft sich plötzlich krystallisirt. Dahin gehört jenes gelegentliche Wort der Madame de Lambert an ih-

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ren Sohn : „mon ami, ne vous permettez jamais que de folies, qui vous feront grand plaisir“ : – beiläufig das mütterlichste und klügste Wort, das je an einen Sohn gerichtet worden ist. 236. Das, was Dante und Goethe vom Weibe geglaubt haben – jener, indem er sang „ella guardava suso, ed io in lei“, dieser, indem er es übersetzte „das Ewig-Weibliche zieht uns h i n a n“ – : ich zweifle nicht, dass jedes edlere Weib sich gegen diesen Glauben wehren wird, denn es glaubt eben d a s vom EwigMännlichen … 237. Sieb e n We i b s - Spr üc h le i n . Wie die längste Weile fleucht, kommt ein Mann zu uns gekreucht ! * *|

Alter, ach ! und Wissenschaft giebt auch schwacher Tugend Kraft. * *

Schwarz Gewand und Schweigsamkeit kleidet jeglich Weib – gescheidt. * *

Wem im Glück ich dankbar bin ? Gott ! – und meiner Schneiderin. * *

Jung : beblümtes Höhlenhaus. Alt : ein Drache fährt heraus. * *

Edler Name, hübsches Bein, Mann dazu : oh wär’ e r mein ! * *

Kurze Rede, langer Sinn – Glatteis für die Eselin !

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237 a. Die Frauen sind von den Männern bisher wie Vögel behandelt worden, die von irgend welcher Höhe sich hinab zu ihnen verirrt haben : als etwas Feineres, Verletzlicheres, Wilderes, Wunderlicheres, Süsseres, Seelenvolleres, – aber als Etwas, das man einsperren muss, damit es nicht davonfl iegt. 238. Sich im Grundprobleme „Mann und Weib“ zu vergreifen, hier den abgründlichsten Antagonismus und die Nothwendigkeit einer ewig-feindseligen Spannung zu leugnen, hier vielleicht von gleichen Rechten, gleicher Erziehung, gleichen Ansprüchen und Verpfl ichtungen | zu träumen : das ist ein t y p i s c he s Zeichen von Flachköpfigkeit, und ein Denker, der an dieser gefährlichen Stelle sich flach erwiesen hat – flach im Instinkte ! – darf überhaupt als verdächtig, mehr noch, als verrathen, als aufgedeckt gelten : wahrscheinlich wird er für alle Grundfragen des Lebens, auch des zukünftigen Lebens, zu „kurz“ sein und in k e i ne Tiefe hinunter können. Ein Mann hingegen, der Tiefe hat, in seinem Geiste, wie in seinen Begierden, auch jene Tiefe des Wohlwollens, welche der Strenge und Härte fähig ist, und leicht mit ihnen verwechselt wird, kann über das Weib immer nur or ie nt a l i s c h denken : er muss das Weib als Besitz, als verschliessbares Eigenthum, als etwas zur Dienstbarkeit Vorbestimmtes und in ihr sich Vollendendes fassen, – er muss sich hierin auf die ungeheure Vernunft Asiens, auf Asiens Instinkt-Überlegenheit stellen : wie dies ehemals die Griechen gethan haben, diese besten Erben und Schüler Asiens, welche, wie bekannt, von Homer bis zu den Zeiten des Perikles, mit z u ne h me nd e r Cultur und Umfänglichkeit an Kraft, Schritt für Schritt auch s t r e n g e r gegen das Weib, kurz orientalischer geworden sind. W ie nothwendig, w ie logisch, w ie selbst menschlich-wünschbar dies war : möge man darüber bei sich nachdenken !

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239. Das schwache Geschlecht ist in keinem Zeitalter mit solcher Achtung von Seiten der Männer behandelt worden als in unserm Zeitalter – das gehört zum demokratischen Hang und Grundgeschmack, ebenso wie die Unehrerbietigkeit vor dem Alter – : was Wunder, dass sofort wieder mit dieser Achtung Missbrauch getrieben wird ? Man will mehr, man lernt fordern, man fi ndet | zuletzt jenen Achtungszoll beinahe schon kränkend, man würde den Wettbewerb um Rechte, ja ganz eigentlich den Kampf vorziehn : genug, das Weib verliert an Scham. Setzen wir sofort hinzu, dass es auch an Geschmack verliert. Es verlernt den Mann zu f ü r c ht e n : aber das Weib, das „das Fürchten verlernt“, giebt seine weiblichsten Instinkte preis. Dass das Weib sich hervor wagt, wenn das Furcht-Einflössende am Manne, sagen wir bestimmter, wenn der M a n n im Manne nicht mehr gewollt und grossgezüchtet wird, ist billig genug, auch begreiflich genug ; was sich schwerer begreift, ist, dass ebendamit – das Weib entartet. Dies geschieht heute : täuschen wir uns nicht darüber ! Wo nur der industrielle Geist über den militärischen und aristokratischen Geist gesiegt hat, strebt jetzt das Weib nach der wirthschaftlichen und rechtlichen Selbständigkeit eines Commis : „das Weib als Commis“ steht an der Pforte der sich bildenden modernen Gesellschaft. Indem es sich dergestalt neuer Rechte bemächtigt, „Herr“ zu werden trachtet und den „Fortschritt“ des Weibes auf seine Fahnen und Fähnchen schreibt, vollzieht sich mit schrecklicher Deutlichkeit das Umgekehrte : d a s We i b g e ht z u r üc k . Seit der französischen Revolution ist in Europa der Einfluss des Weibes in dem Maasse g e r i n g e r geworden, als es an Rechten und Ansprüchen zugenommen hat ; und die „Emancipation des Weibes“, insofern sie von den Frauen selbst (und nicht nur von männlichen Flachköpfen) verlangt und gefördert wird, ergiebt sich dergestalt als ein merkwürdiges Symptom von der zunehmenden Schwächung und Abstump-

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fung der allerweiblichsten Instinkte. Es ist D u m m he it in dieser Bewegung, eine beinahe maskulinische Dummheit, deren sich ein wohlgerathenes Weib | – das immer ein kluges Weib ist – von Grund aus zu schämen hätte. Die Witterung dafür verlieren, auf welchem Boden man am sichersten zum Siege kommt ; die Übung in seiner eigentlichen Waffenkunst vernachlässigen ; sich vor dem Manne gehen lassen, vielleicht sogar „bis zum Buche“, wo man sich früher in Zucht und feine listige Demuth nahm ; dem Glauben des Mannes an ein im Weibe ve r hü l lt e s grundverschiedenes Ideal, an irgend ein Ewig- und Nothwendig-Weibliches mit tugendhafter Dreistigkeit entgegenarbeiten ; dem Manne es nachdrücklich und geschwätzig ausreden, dass das Weib gleich einem zarteren, wunderlich wilden und oft angenehmen Hausthiere erhalten, versorgt, geschützt, geschont werden müsse ; das täppische und entrüstete Zusammensuchen all des Sklavenhaften und Leibeigenen, das die Stellung des Weibes in der bisherigen Ordnung der Gesellschaft an sich gehabt hat und noch hat (als ob Sklaverei ein Gegenargument und nicht vielmehr eine Bedingung jeder höheren Cultur, jeder Erhöhung der Cultur sei) : – was bedeutet dies Alles, wenn nicht eine Anbröckelung der weiblichen Instinkte, eine Entweiblichung ? Freilich, es giebt genug blödsinnige Frauen-Freunde und Weibs-Verderber unter den gelehrten Eseln männlichen Geschlechts, die dem Weibe anrathen, sich dergestalt zu entweiblichen und alle die Dummheiten nachzumachen, an denen der „Mann“ in Europa, die europäische „Mannhaftigkeit“ krankt, – welche das Weib bis zur „allgemeinen Bildung“, wohl gar zum Zeitungslesen und Politisiren herunterbringen möchten. Man will hier und da selbst Freigeister und Litteraten aus den Frauen machen : als ob ein Weib ohne Frömmigkeit für einen tiefen und gottlosen Mann nicht etwas vollkommen | Widriges oder Lächerliches wäre – ; man verdirbt fast überall ihre Nerven mit der krankhaftesten und gefährlichsten aller Ar-

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ten Musik (unsrer deutschen neuesten Musik) und macht sie täglich hysterischer und zu ihrem ersten und letzten Berufe, kräftige Kinder zu gebären, unbefähigter. Man will sie überhaupt noch mehr „cultiviren“ und, wie man sagt, das „schwache Geschlecht“ durch Cultur s t a r k machen : als ob nicht die Geschichte so eindringlich wie möglich lehrte, dass „Cultivirung“ des Menschen und Schwächung – nämlich Schwächung, Zersplitterung, Ankränkelung der W i l le n s k r a f t , immer mit einander Schritt gegangen sind, und dass die mächtigsten und einflussreichsten Frauen der Welt (zuletzt noch die Mutter Napoleon’s) gerade ihrer Willenskraft – und nicht den Schulmeistern ! – ihre Macht und ihr Übergewicht über die Männer verdankten. Das, was am Weibe Respekt und oft genug Furcht einflösst, ist seine Nat u r, die „natürlicher“ ist als die des Mannes, seine ächte raubthierhafte listige Geschmeidigkeit, seine Tigerkralle unter dem Handschuh, seine Naivetät im Egoismus, seine Unerziehbarkeit und innerliche Wildheit, das Unfassliche, Weite, Schweifende seiner Begierden und Tugenden … Was, bei aller Furcht, für diese gefährliche und schöne Katze „Weib“ Mitleiden macht, ist, dass es leidender, verletzbarer, liebebedürftiger und zur Enttäuschung verurtheilter erscheint als irgend ein Thier. Furcht und Mitleiden : mit diesen Gefühlen stand bisher der Mann vor dem Weibe, immer mit einem Fusse schon in der Tragödie, welche zerreisst, indem sie entzückt –. Wie ? Und damit soll es nun zu Ende sein ? Und die E nt z au b e r u n g des Weibes ist im Werke ? Die Verlangweiligung des Weibes kommt langsam herauf ? Oh Europa ! Europa ! Man kennt das | Thier mit Hörnern, welches für dich immer am anziehendsten war, von dem dir immer wieder Gefahr droht ! Deine alte Fabel könnte noch einmal zur „Geschichte“ werden, – noch einmal könnte eine ungeheure Dummheit über dich Herr werden und dich davon tragen ! Und unter ihr kein Gott versteckt, nein ! nur eine „Idee“, eine „moderne Idee“ ! … |

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Achtes Hauptstück : Völker und Vaterländer. |

240. Ich hörte, wieder einmal zum ersten Male – Richard Wagner’s Ouverture zu den Me i s t e r s i n g e r n : das ist eine prachtvolle, überladene, schwere und späte Kunst, welche den Stolz hat, zu ihrem Verständniss zwei Jahrhunderte Musik als noch lebendig vorauszusetzen : – es ehrt die Deutschen, dass sich ein solcher Stolz nicht verrechnete ! Was für Säfte und Kräfte, was für Jahreszeiten und Himmelsstriche sind hier nicht gemischt ! Das muthet uns bald alterthümlich, bald fremd, herb und überjung an, das ist ebenso willkürlich als pomphaft-herkömmlich, das ist nicht selten schelmisch, noch öfter derb und grob, – das hat Feuer und Muth und zugleich die schlaffe falbe Haut von Früchten, welche zu spät reif werden. Das strömt breit und voll und plötzlich ein Augenblick unerklärlichen Zögerns, gleichsam eine Lücke, die zwischen Ursache und Wirkung aufspringt, ein Druck, der uns träumen macht, beinahe ein Alpdruck – , aber schon breitet und weitet sich wieder der alte Strom von Behagen aus, von vielfältigstem Behagen, von altem und neuem Glück, s e h r eingerechnet das Glück des Künstlers an sich selber, dessen er nicht Hehl haben will, sein erstauntes glückliches Mitwissen um die Meisterschaft seiner hier verwendeten Mittel, neuer neuerworbener unausgeprobter Kunstmittel, wie er uns zu verrathen scheint. Alles in Allem keine Schönheit, kein Süden, Nichts von südlicher feiner Helligkeit des Himmels, Nichts von Grazie, kein Tanz, kaum ein Wille zur Logik ; eine gewisse Plump|heit sogar, die noch unterstrichen wird, wie als ob der Künstler uns sagen wollte : „sie gehört zu meiner Absicht“ ; eine schwerfällige Gewandung, etwas Willkürlich-Barbarisches und Feierliches, ein

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Gefl irr von gelehrten und ehrwürdigen Kostbarkeiten und Spitzen ; etwas Deutsches, im besten und schlimmsten Sinn des Wortes, etwas auf deutsche Art Vielfaches, Unförmliches und Unausschöpfliches ; eine gewisse deutsche Mächtigkeit und Überfülle der Seele, welche keine Furcht hat, sich unter die Raffi nements des Verfalls zu verstecken, – die sich dort vielleicht erst am wohlsten fühlt ; ein rechtes ächtes Wahrzeichen der deutschen Seele, die zugleich jung und veraltet, übermürbe und überreich noch an Zukunft ist. Diese Art Musik drückt am besten aus, was ich von den Deutschen halte : sie sind von Vorgestern und von Übermorgen, – s ie h a b e n no c h k e i n Heut e. 241. Wir „guten Europäer“ : auch wir haben Stunden, wo wir uns eine herzhafte Vaterländerei, einen Plumps und Rückfall in alte Lieben und Engen gestatten – ich gab eben eine Probe davon – , Stunden nationaler Wallungen, patriotischer Beklemmungen und allerhand anderer alterthümlicher GefühlsÜberschwemmungen. Schwerfälligere Geister, als wir sind, mögen mit dem, was sich bei uns auf Stunden beschränkt und in Stunden zu Ende spielt, erst in längeren Zeiträumen fertig werden, in halben Jahren die Einen, in halben Menschenleben die Anderen, je nach der Schnelligkeit und Kraft, mit der sie verdauen und ihre „Stoffe wechseln“. Ja, ich könnte mir dumpfe zögernde Rassen denken, welche auch in unserm geschwinden Europa halbe Jahrhunderte nöthig hätten, um solche atavistische Anfälle von | Vaterländerei und Schollenkleberei zu überwinden und wieder zur Vernunft, will sagen zum „guten Europäerthum“ zurückzukehren. Und indem ich über diese Möglichkeit ausschweife, begegnet mir’s, dass ich Ohrenzeuge eines Gesprächs von zwei alten „Patrioten“ werde, – sie hörten beide offenbar schlecht und sprachen darum um so lauter. „ D e r hält und weiss von Philosophie so viel als ein Bauer oder Corpsstudent – sagte der Eine – : der

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ist noch unschuldig. Aber was liegt heute daran ! Es ist das Zeitalter der Massen : die liegen vor allem Massenhaften auf dem Bauche. Und so auch in politicis. Ein Staatsmann, der ihnen einen neuen Thurm von Babel, irgend ein Ungeheuer von Reich und Macht aufthürmt, heisst ihnen „gross“ : – was liegt daran, dass wir Vorsichtigeren und Zurückhaltenderen einstweilen noch nicht vom alten Glauben lassen, es sei allein der grosse Gedanke, der einer That und Sache Grösse giebt. Gesetzt, ein Staatsmann brächte sein Volk in die Lage, fürderhin „grosse Politik“ treiben zu müssen, für welche es von Natur schlecht angelegt und vorbereitet ist : so dass es nöthig hätte, einer neuen zweifelhaften Mittelmässigkeit zu Liebe seine alten und sicheren Tugenden zu opfern, – gesetzt, ein Staatsmann verurtheilte sein Volk zum „Politisiren“ überhaupt, während dasselbe bisher Besseres zu thun und zu denken hatte und im Grunde seiner Seele einen vorsichtigen Ekel vor der Unruhe, Leere und lärmenden Zankteufelei der eigentlich politisirenden Völker nicht los wurde : – gesetzt, ein solcher Staatsmann stachle die eingeschlafnen Leidenschaften und Begehrlichkeiten seines Volkes auf, mache ihm aus seiner bisherigen Schüchternheit und Lust am Danebenstehn einen Flecken, aus seiner Ausländerei und heimlichen Unendlichkeit | eine Verschuldung, entwerthe ihm seine herzlichsten Hänge, drehe sein Gewissen um, mache seinen Geist eng, seinen Geschmack „national“, – wie ! ein Staatsmann, der dies Alles thäte, den sein Volk in alle Zukunft hinein, falls es Zukunft hat, abbüssen müsste, ein solcher Staatsmann wäre g r o s s ?“ „Unzweifelhaft ! antwortete ihm der andere alte Patriot heftig : sonst hätte er es nicht g e k o n nt ! Es war toll vielleicht, so etwas zu wollen ? Aber vielleicht war alles Grosse im Anfang nur toll !“ – „Missbrauch der Worte ! schrie sein Unterredner dagegen : – stark ! stark ! stark und toll ! N ic ht gross !“ – Die alten Männer hatten sich ersichtlich erhitzt, als sie sich dergestalt ihre „Wahrheiten“ in’s Gesicht schrieen ; ich

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aber, in meinem Glück und Jenseits, erwog, wie bald über den Starken ein Stärkerer Herr werden wird ; auch dass es für die geistige Verflachung eines Volkes eine Ausgleichung giebt, nämlich durch die Vertiefung eines anderen. – 242. Nenne man es nun „Civilisation“ oder „Vermenschlichung“ oder „Fortschritt“, worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht wird ; nenne man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer politischen Formel die d e mok r at i s c he Bewegung Europa’s : hinter all den moralischen und politischen Vordergründen, auf welche mit solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheurer phy s iolog i s c he r Prozess, der immer mehr in Fluss geräth, – der Prozess einer Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen, unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zunehmende Unabhängigkeit von jedem b e s t i m mt e n | milieu, das Jahrhunderte lang sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben möchte, – also die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und -kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt. Dieser Prozess des we r d e nd e n Eu r o p äe r s , welcher durch grosse Rückfälle im Tempo verzögert werden kann, aber vielleicht gerade damit an Vehemenz und Tiefe gewinnt und wächst – der jetzt noch wüthende Sturm und Drang des „National-Gefühls“ gehört hierher, insgleichen der eben heraufkommende Anarchismus – : dieser Prozess läuft wahrscheinlich auf Resultate hinaus, auf welche seine naiven Beförderer und Lobredner, die Apostel der „modernen Ideen“, am wenigsten rechnen möchten. Die selben neuen Bedingungen, unter denen im Durchschnitt eine Ausgleichung und Vermittelmässigung des Menschen sich herausbilden wird – ein nützliches arbeitsames,

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vielfach brauchbares und anstelliges Heerdenthier Mensch – , sind im höchsten Grade dazu angethan, Ausnahme-Menschen der gefährlichsten und anziehendsten Qualität den Ursprung zu geben. Während nämlich jene Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedingungen durchprobirt und mit jedem Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehend, eine neue Arbeit beginnt, die M äc ht i g k e it des Typus gar nicht möglich macht ; während der Gesammt-Eindruck solcher zukünftiger Europäer wahrscheinlich der von vielfachen geschwätzigen willensarmen und äusserst anstellbaren Arbeitern sein wird, die des Herrn, des Befehlenden b edü r f e n wie des täglichen Brodes ; während also die Demokratisirung Europa’s auf die Erzeugung eines zur S k l ave r e i im feinsten Sinne | vorbereiteten Typus hinausläuft : wird, im Einzel- und Ausnahmefall, der s t a r k e Mensch stärker und reicher gerathen müssen, als er vielleicht jemals bisher gerathen ist, – Dank der Vorurtheilslosigkeit seiner Schulung, Dank der ungeheuren Vielfältigkeit von Übung, Kunst und Maske. Ich wollte sagen : die Demokratisirung Europa’s ist zugleich eine unfreiwillige Veranstaltung zur Züchtung von Ty r a n ne n , – das Wort in jedem Sinne verstanden, auch im geistigsten. 243. Ich höre mit Vergnügen, dass unsre Sonne in rascher Bewegung gegen das Sternbild des He r k u le s hin begriffen ist : und ich hoffe, dass der Mensch auf dieser Erde es darin der Sonne gleich thut. Und wir voran, wir guten Europäer ! – 244. Es gab eine Zeit, wo man gewohnt war, die Deutschen mit Auszeichnung „tief“ zu nennen : jetzt, wo der erfolgreichste Typus des neuen Deutschthums nach ganz andern Ehren geizt und an Allem, was Tiefe hat, vielleicht die „Schneidigkeit“ vermisst, ist der Zweifel beinahe zeitgemäss und patrio-

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tisch, ob man sich ehemals mit jenem Lobe nicht betrogen hat : genug, ob die deutsche Tiefe nicht im Grunde etwas Anderes und Schlimmeres ist – und Etwas, das man, Gott sei Dank, mit Erfolg loszuwerden im Begriff steht. Machen wir also den Versuch, über die deutsche Tiefe umzulernen : man hat Nichts dazu nöthig, als ein wenig Vivisektion der deutschen Seele. – Die deutsche Seele ist vor Allem vielfach, verschiedenen Ursprungs, mehr zusammen- und übereinandergesetzt, als wirklich gebaut : das liegt an ihrer Herkunft. Ein Deutscher, der sich | erdreisten wollte, zu behaupten „zwei Seelen wohnen, ach ! in meiner Brust“ würde sich an der Wahrheit arg vergreifen, richtiger, hinter der Wahrheit um viele Seelen zurückbleiben. Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht des vor-arischen Elementes, als „Volk der Mitte“ in jedem Verstande, sind die Deutschen unfassbarer, umfänglicher, widerspruchsvoller, unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst erschrecklicher, als es andere Völker sich selber sind : – sie entschlüpfen der D e f i n it io n und sind damit schon die Verzweiflung der Franzosen. Es kennzeichnet die Deutschen, dass bei ihnen die Frage „was ist deutsch ?“ niemals ausstirbt. Kotzebue kannte seine Deutschen gewiss gut genug : „wir sind erkannt“ jubelten sie ihm zu, – aber auch S a nd glaubte sie zu kennen. Jean Paul wusste, was er that, als er sich ergrimmt gegen Fichte’s verlogne, aber patriotische Schmeicheleien und Übertreibungen erklärte, – aber es ist wahrscheinlich, dass Goethe anders über die Deutschen dachte, als Jean Paul, wenn er ihm auch in Betreff Fichtens Recht gab. Was Goethe eigentlich über die Deutschen gedacht hat ? – Aber er hat über viele Dinge um sich herum nie deutlich geredet und verstand sich zeitlebens auf das feine Schweigen : – wahrscheinlich hatte er gute Gründe dazu. Gewiss ist, dass es nicht „die Freiheitskriege“ waren, die ihn freudiger auf blicken liessen, so wenig als die französische

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Revolution, – das Ereigniss, um dessentwillen er seinen Faust, ja das ganze Problem „Mensch“ u m g e d ac ht hat, war das Erscheinen Napoleon’s. Es giebt Worte Goethe’s, in denen er, wie vom Auslande her, mit einer ungeduldigen Härte über | Das abspricht, was die Deutschen sich zu ihrem Stolze rechnen : das berühmte deutsche Gemüth defi nirt er einmal als „Nachsicht mit fremden und eignen Schwächen“. Hat er damit Unrecht ? – es kennzeichnet die Deutschen, dass man über sie selten völlig Unrecht hat. Die deutsche Seele hat Gänge und Zwischengänge in sich, es giebt in ihr Höhlen, Verstecke, Burgverliesse ; ihre Unordnung hat viel vom Reize des Geheimnissvollen ; der Deutsche versteht sich auf die Schleichwege zum Chaos. Und wie jeglich Ding sein Gleichniss liebt, so liebt der Deutsche die Wolken und Alles, was unklar, werdend, dämmernd, feucht und verhängt ist : das Ungewisse, Unausgestaltete, Sich-Verschiebende, Wachsende jeder Art fühlt er als „tief“. Der Deutsche selbst i s t nicht, er w i r d , er „entwickelt sich“. „Entwicklung“ ist deshalb der eigentlich deutsche Fund und Wurf im grossen Reich philosophischer Formeln : – ein regierender Begriff, der, im Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik, daran arbeitet, ganz Europa zu verdeutschen. Die Ausländer stehen erstaunt und angezogen vor den Räthseln, die ihnen die Widerspruchs-Natur im Grunde der deutschen Seele aufgiebt (welche Hegel in System gebracht, Richard Wagner zuletzt noch in Musik gesetzt hat). „Gutmüthig und tückisch“ – ein solches Nebeneinander, widersinnig in Bezug auf jedes andre Volk, rechtfertigt sich leider zu oft in Deutschland : man lebe nur eine Zeit lang unter Schwaben ! Die Schwerfälligkeit des deutschen Gelehrten, seine gesellschaftliche Abgeschmacktheit verträgt sich zum Erschrecken gut mit einer innewendigen Seiltänzerei und leichten Kühnheit, vor der bereits alle Götter das Fürchten gelernt haben. Will man die „deutsche Seele“ ad oculos demonstrirt, | so sehe man nur in den deutschen Geschmack, in

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deutsche Künste und Sitten hinein : welche bäurische Gleichgültigkeit gegen „Geschmack“ ! Wie steht da das Edelste und Gemeinste neben einander ! Wie unordentlich und reich ist dieser ganze Seelen-Haushalt ! Der Deutsche s c h le p p t an seiner Seele ; er schleppt an Allem, was er erlebt. Er verdaut seine Ereignisse schlecht, er wird nie damit „fertig“ ; die deutsche Tiefe ist oft nur eine schwere zögernde „Verdauung“. Und wie alle Gewohnheits-Kranken, alle Dyspeptiker den Hang zum Bequemen haben, so liebt der Deutsche die „Offenheit“ und „Biederkeit“ : wie b e q ue m ist es, offen und bieder zu sein ! – Es ist heute vielleicht die gefährlichste und glücklichste Verkleidung, auf die sich der Deutsche versteht, dies Zutrauliche, Entgegenkommende, die-Karten-Aufdeckende der deutschen R e d l ic h k e it : sie ist seine eigentliche MephistophelesKunst, mit ihr kann er es „noch weit bringen“ ! Der Deutsche lässt sich gehen, blickt dazu mit treuen blauen leeren deutschen Augen – und sofort verwechselt das Ausland ihn mit seinem Schlafrocke ! – Ich wollte sagen : mag die „deutsche Tiefe“ sein, was sie will, – ganz unter uns erlauben wir uns vielleicht über sie zu lachen ? – wir thun gut, ihren Anschein und guten Namen auch fürderhin in Ehren zu halten und unsern alten Ruf, als Volk der Tiefe, nicht zu billig gegen preussische „Schneidigkeit“ und Berliner Witz und Sand zu veräussern. Es ist für ein Volk klug, sich für tief, für ungeschickt, für gutmüthig, für redlich, für unklug gelten zu machen, gelten zu l a s s e n : es könnte sogar – tief sein ! Zuletzt : man soll seinem Namen Ehre machen, – man heisst nicht umsonst das „tiusche“ Volk, das Täusche-Volk … | 245. Die „gute alte“ Zeit ist dahin, in Mozart hat sie sich ausgesungen : – wie glücklich w i r, dass zu uns sein Rokoko noch redet, dass seine „gute Gesellschaft“, sein zärtliches Schwärmen, seine Kinderlust am Chinesischen und Geschnörkelten, seine

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Höflichkeit des Herzens, sein Verlangen nach Zierlichem, Verliebtem, Tanzendem, Thränenseligem, sein Glaube an den Süden noch an irgend einen R e s t in uns appelliren darf ! Ach, irgend wann wird es einmal damit vorbei sein ! – aber wer darf zweifeln, dass es noch früher mit dem Verstehen und Schmecken Beethoven’s vorbei sein wird ! – der ja nur der Ausklang eines Stil-Übergangs und Stil-Bruchs war und n ic ht , wie Mozart, der Ausklang eines grossen Jahrhunderte langen europäischen Geschmacks. Beethoven ist das ZwischenBegebniss einer alten mürben Seele, die beständig zerbricht, und einer zukünftigen überjungen Seele, welche beständig k om mt ; auf seiner Musik liegt jenes Zwielicht von ewigem Verlieren und ewigem ausschweifendem Hoffen, – das selbe Licht, in welchem Europa gebadet lag, als es mit Rousseau geträumt, als es um den Freiheitsbaum der Revolution getanzt und endlich vor Napoleon beinahe angebetet hatte. Aber wie schnell verbleicht jetzt gerade d ie s Gefühl, wie schwer ist heute schon das W i s s e n um dies Gefühl, – wie fremd klingt die Sprache jener Rousseau, Schiller, Shelley, Byron an unser Ohr, in denen z u s a m me n das selbe Schicksal Europa’s den Weg zum Wort gefunden hat, das in Beethoven zu singen wusste ! – Was von deutscher Musik nachher gekommen ist, gehört in die Romantik, das heisst in eine, historisch gerechnet, noch kürzere, | noch flüchtigere, noch oberflächlichere Bewegung, als es jener grosse Zwischenakt, jener Übergang Europa’s von Rousseau zu Napoleon und zur Heraufkunft der Demokratie war. Weber : aber was ist u n s heute Freischütz und Oberon ! Oder Marschner’s Hans Heiling und Vampyr ! Oder selbst noch Wagner’s Tannhäuser ! Das ist verklungene, wenn auch noch nicht vergessene Musik. Diese ganze Musik der Romantik war überdies nicht vornehm genug, nicht Musik genug, um auch anderswo Recht zu behalten, als im Theater und vor der Menge ; sie war von vornherein Musik zweiten Ranges, die unter wirklichen Musikern wenig in Betracht

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kam. Anders stand es mit Felix Mendelssohn, jenem halkyonischen Meister, der um seiner leichteren reineren beglückteren Seele willen schnell verehrt und ebenso schnell vergessen wurde : als der schöne Zw i s c he n f a l l der deutschen Musik. Was aber Robert Schumann angeht, der es schwer nahm und von Anfang an auch schwer genommen worden ist – es ist der Letzte, der eine Schule gegründet hat – : gilt es heute unter uns nicht als ein Glück, als ein Aufathmen, als eine Befreiung, dass gerade diese Schumann’sche Romantik überwunden ist ? Schumann, in die „sächsische Schweiz“ seiner Seele flüchtend, halb Wertherisch, halb Jean-Paulisch geartet, gewiss nicht Beethovenisch ! gewiss nicht Byronisch ! – seine Manfred-Musik ist ein Missgriff und Missverständniss bis zum Unrechte – , Schumann mit seinem Geschmack, der im Grunde ein k le i ner Geschmack war, (nämlich ein gefährlicher, unter Deutschen doppelt gefährlicher Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls), beständig bei Seite gehend, sich scheu verziehend und zurückziehend, ein edler Zärtling, der in lauter anonymem | Glück und Weh schwelgte, eine Art Mädchen und noli me tangere von Anbeginn : dieser Schumann war bereits nur noch ein d eut s c he s Ereigniss in der Musik, kein europäisches mehr, wie Beethoven es war, wie, in noch umfänglicherem Maasse, Mozart es gewesen ist, – mit ihm drohte der deutschen Musik ihre grösste Gefahr, d ie St i m me f ü r d ie See le Eu r opa’s zu verlieren und zu einer blossen Vaterländerei herabzusinken. – 246. – Welche Marter sind deutsch geschriebene Bücher für Den, der das d r it t e Ohr hat ! Wie unwillig steht er neben dem langsam sich drehenden Sumpfe von Klängen ohne Klang, von Rhythmen ohne Tanz, welcher bei Deutschen ein „Buch“ genannt wird ! Und gar der Deutsche, der Bücher l ie s t ! Wie faul, wie widerwillig, wie schlecht liest er ! Wie viele Deutsche

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wissen es und fordern es von sich zu wissen, dass K u n s t in jedem guten Satze steckt, – Kunst, die errathen sein will, sofern der Satz verstanden sein will ! Ein Missverständniss über sein Tempo zum Beispiel : und der Satz selbst ist missverstanden ! Dass man über die rhythmisch entscheidenden Silben nicht im Zweifel sein darf, dass man die Brechung der allzustrengen Symmetrie als gewollt und als Reiz fühlt, dass man jedem staccato, jedem rubato ein feines geduldiges Ohr hinhält, dass man den Sinn in der Folge der Vocale und Diphthongen räth, und wie zart und reich sie in ihrem Hintereinander sich färben und umfärben können : wer unter bücherlesenden Deutschen ist gutwillig genug, solchergestalt Pfl ichten und Forderungen anzuerkennen und auf so viel Kunst und Absicht in der Sprache hinzuhorchen ? Man hat zuletzt eben „das | Ohr nicht dafür“ : und so werden die stärksten Gegensätze des Stils nicht gehört, und die feinste Künstlerschaft ist wie vor Tauben ve r s c hwe nd et . – Dies waren meine Gedanken, als ich merkte, wie man plump und ahnungslos zwei Meister in der Kunst der Prosa mit einander verwechselte, Einen, dem die Worte zögernd und kalt herabtropfen, wie von der Decke einer feuchten Höhle – er rechnet auf ihren dumpfen Klang und Wiederklang – und einen Anderen, der seine Sprache wie einen biegsamen Degen handhabt und vom Arme bis zur Zehe hinab das gefährliche Glück der zitternden überscharfen Klinge fühlt, welche beissen, zischen, schneiden will. – 247. Wie wenig der deutsche Stil mit dem Klange und mit den Ohren zu thun hat, zeigt die Thatsache, dass gerade unsre guten Musiker schlecht schreiben. Der Deutsche liest nicht laut, nicht für’s Ohr, sondern bloss mit den Augen : er hat seine Ohren dabei in’s Schubfach gelegt. Der antike Mensch las, wenn er las – es geschah selten genug – sich selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stimme ; man wunderte sich, wenn Je-

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mand leise las und fragte sich insgeheim nach Gründen. Mit lauter Stimme : das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegungen, Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempo’s, an denen die antike öf f e nt l ic h e Welt ihre Freude hatte. Damals waren die Gesetze des Schrift-Stils die selben, wie die des Rede-Stils ; und dessen Gesetze hiengen zum Theil von der erstaunlichen Ausbildung, den raffi nirten Bedürfnissen des Ohrs und Kehlkopfs ab, zum andern Theil von der Stärke, Dauer und Macht der antiken Lunge. Eine Periode ist, im | Sinne der Alten, vor Allem ein physiologisches Ganzes, insofern sie von Einem Athem zusammengefasst wird. Solche Perioden, wie sie bei Demosthenes, bei Cicero vorkommen, zwei Mal schwellend und zwei Mal absinkend und Alles innerhalb Eines Athemzugs : das sind Genüsse für a nt i k e Menschen, welche die Tugend daran, das Seltene und Schwierige im Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eignen Schulung zu schätzen wussten : – w i r haben eigentlich kein Recht auf die g r o s s e Periode, wir Modernen, wir Kurzathmigen in jedem Sinne ! Diese Alten waren ja insgesammt in der Rede selbst Dilettanten, folglich Kenner, folglich Kritiker, – damit trieben sie ihre Redner zum Äussersten ; in gleicher Weise, wie im vorigen Jahrhundert, als alle Italiäner und Italiänerinnen zu singen verstanden, bei ihnen das Gesangs-Virtuosenthum (und damit auch die Kunst der Melodik –) auf die Höhe kam. In Deutschland aber gab es (bis auf die jüngste Zeit, wo eine Art Tribünen-Beredtsamkeit schüchtern und plump genug ihre jungen Schwingen regt) eigentlich nur Eine Gattung öffentlicher und u n g e f ä h r kunstmässiger Rede : das ist die von der Kanzel herab. Der Prediger allein wusste in Deutschland, was eine Silbe, was ein Wort wiegt, inwiefern ein Satz schlägt, springt, stürzt, läuft, ausläuft, er allein hatte Gewissen in seinen Ohren, oft genug ein böses Gewissen : denn es fehlt nicht an Gründen dafür, dass gerade von einem Deutschen Tüchtigkeit in der Rede selten, fast immer

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zu spät erreicht wird. Das Meisterstück der deutschen Prosa ist deshalb billigerweise das Meisterstück ihres grössten Predigers : die Bi b e l war bisher das beste deutsche Buch. Gegen Luther’s Bibel gehalten ist fast alles Übrige nur „Litteratur“ – ein Ding, das nicht in Deutschland ge|wachsen ist und darum auch nicht in deutsche Herzen hinein wuchs und wächst : wie es die Bibel gethan hat. 248. Es giebt zwei Arten des Genie’s : eins, welches vor allem zeugt und zeugen will, und ein andres, welches sich gern befruchten lässt und gebiert. Und ebenso giebt es unter den genialen Völkern solche, denen das Weibsproblem der Schwangerschaft und die geheime Aufgabe des Gestaltens, Ausreifens, Vollendens zugefallen ist – die Griechen zum Beispiel waren ein Volk dieser Art, insgleichen die Franzosen – ; und andre, welche befruchten müssen und die Ursache neuer Ordnungen des Lebens werden, – gleich den Juden, den Römern und, in aller Bescheidenheit gefragt, den Deutschen ? – Völker gequält und entzückt von unbekannten Fiebern und unwiderstehlich aus sich herausgedrängt, verliebt und lüstern nach fremden Rassen (nach solchen, welche sich „befruchten lassen“ –) und dabei herrschsüchtig wie Alles, was sich voller Zeugekräfte und folglich „von Gottes Gnaden“ weiss. Diese zwei Arten des Genie’s suchen sich, wie Mann und Weib ; aber sie missverstehen auch einander, – wie Mann und Weib. 249. Jedes Volk hat seine eigne Tartüfferie, und heisst sie seine Tugenden. – Das Beste, was man ist, kennt man nicht, – kann man nicht kennen. 250. Was Europa den Juden verdankt ? – Vielerlei, Gutes und Schlimmes, und vor allem Eins, das vom Besten und Schlimmsten zugleich ist : den grossen Stil | in der Moral, die Furcht-

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barkeit und Majestät unendlicher Forderungen, unendlicher Bedeutungen, die ganze Romantik und Erhabenheit der moralischen Fragwürdigkeiten – und folglich gerade den anziehendsten, verfänglichsten und ausgesuchtesten Theil jener Farbenspiele und Verführungen zum Leben, in deren Nachschimmer heute der Himmel unsrer europäischen Cultur, ihr Abend-Himmel, glüht, – vielleicht verglüht. Wir Artisten unter den Zuschauern und Philosophen sind dafür den Juden – dankbar. 251. Man muss es in den Kauf nehmen, wenn einem Volke, das am nationalen Nervenfieber und politischen Ehrgeize leidet, leiden w i l l – , mancherlei Wolken und Störungen über den Geist ziehn, kurz, kleine Anfälle von Verdummung : zum Beispiel bei den Deutschen von Heute bald die antifranzösische Dummheit, bald die antijüdische, bald die antipolnische, bald die christlich-romantische, bald die Wagnerianische, bald die teutonische, bald die preussische (man sehe sich doch diese armen Historiker, diese Sybel und Treitzschke und ihre dick verbundenen Köpfe an –), und wie sie Alle heissen mögen, diese kleinen Benebelungen des deutschen Geistes und Gewissens. Möge man mir verzeihn, dass auch ich, bei einem kurzen gewagten Aufenthalt auf sehr inficirtem Gebiete, nicht völlig von der Krankheit verschont blieb und mir, wie alle Welt, bereits Gedanken über Dinge zu machen anfieng, die mich nichts angehn : erstes Zeichen der politischen Infektion. Zum Beispiel über die Juden : man höre. – Ich bin noch keinem Deutschen begegnet, der den Juden gewogen gewesen wäre ; und so unbedingt auch die Ablehnung der eigent|lichen Antisemiterei von Seiten aller Vorsichtigen und Politischen sein mag, so richtet sich doch auch diese Vorsicht und Politik nicht etwa gegen die Gattung des Gefühls selber, sondern nur gegen seine gefährliche Unmässigkeit, insbesondere gegen den abgeschmackten und schandbaren Ausdruck die-

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ses unmässigen Gefühls, – darüber darf man sich nicht täuschen. Dass Deutschland reichlich g e nu g Juden hat, dass der deutsche Magen, das deutsche Blut Noth hat (und noch auf lange Noth haben wird), um auch nur mit diesem Quantum „Jude“ fertig zu werden – so wie der Italiäner, der Franzose, der Engländer fertig geworden sind, in Folge einer kräftigeren Verdauung – : das ist die deutliche Aussage und Sprache eines allgemeinen Instinktes, auf welchen man hören, nach welchem man handeln muss. „Keine neuen Juden mehr hinein lassen ! Und namentlich nach dem Osten (auch nach Östreich) zu die Thore zusperren !“ also gebietet der Instinkt eines Volkes, dessen Art noch schwach und unbestimmt ist, so dass sie leicht verwischt, leicht durch eine stärkere Rasse ausgelöscht werden könnte. Die Juden sind aber ohne allen Zweifel die stärkste, zäheste und reinste Rasse, die jetzt in Europa lebt ; sie verstehen es, selbst noch unter den schlimmsten Bedingungen sich durchzusetzen (besser sogar, als unter günstigen), vermöge irgend welcher Tugenden, die man heute gern zu Lastern stempeln möchte, – Dank, vor Allem, einem resoluten Glauben, der sich vor den „modernen Ideen“ nicht zu schämen braucht ; sie verändern sich, we n n sie sich verändern, immer nur so, wie das russische Reich seine Eroberungen macht, – als ein Reich, das Zeit hat und nicht von Gestern ist – : nämlich nach dem Grundsatze „so langsam als möglich !“ Ein Denker, der die Zukunft | Europa’s auf seinem Gewissen hat, wird, bei allen Entwürfen, welche er bei sich über diese Zukunft macht, mit den Juden rechnen wie mit den Russen, als den zunächst sichersten und wahrscheinlichsten Faktoren im grossen Spiel und Kampf der Kräfte. Das, was heute in Europa „Nation“ genannt wird und eigentlich mehr eine res facta als nata ist (ja mitunter einer res ficta et picta zum Verwechseln ähnlich sieht –) ist in jedem Falle etwas Werdendes, Junges, Leicht-Verschiebbares, noch keine Rasse, geschweige denn ein solches aere perennius, wie es

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die Juden-Art ist : diese „Nationen“ sollten sich doch vor jeder hitzköpfigen Concurrenz und Feindseligkeit sorgfältig in Acht nehmen ! Dass die Juden, wenn sie wollten – oder, wenn man sie dazu zwänge, wie es die Antisemiten zu wollen scheinen – jetzt schon das Übergewicht, ja ganz wörtlich die Herrschaft über Europa haben k ö n nt e n , steht fest ; dass sie n ic ht darauf hin arbeiten und Pläne machen, ebenfalls. Einstweilen wollen und wünschen sie vielmehr, sogar mit einiger Zudringlichkeit, in Europa, von Europa ein- und aufgesaugt zu werden, sie dürsten darnach, endlich irgendwo fest, erlaubt, geachtet zu sein und dem Nomadenleben, dem „ewigen Juden“ ein Ziel zu setzen – ; und man sollte diesen Zug und Drang (der vielleicht selbst schon eine Milderung der jüdischen Instinkte ausdrückt) wohl beachten und ihm entgegenkommen : wozu es vielleicht nützlich und billig wäre, die antisemitischen Schreihälse des Landes zu verweisen. Mit aller Vorsicht entgegenkommen, mit Auswahl ; ungefähr so wie der englische Adel es thut. Es liegt auf der Hand, dass am unbedenklichsten noch sich die stärkeren und bereits fester geprägten Typen des neuen Deutschthums mit ihnen einlassen könnten, zum Beispiel der | adelige Offi zier aus der Mark : es wäre von vielfachem Interesse, zu sehen, ob sich nicht zu der erblichen Kunst des Befehlens und Gehorchens – in Beidem ist das bezeichnete Land heute klassisch – das Genie des Geldes und der Geduld (und vor allem etwas Geist und Geistigkeit, woran es reichlich an der bezeichneten Stelle fehlt –) hinzuthun, hinzuzüchten liesse. Doch hier ziemt es sich, meine heitere Deutschthümelei und Festrede abzubrechen : denn ich rühre bereits an meinen E r n s t , an das „europäische Problem“, wie ich es verstehe, an die Züchtung einer neuen über Europa regierenden Kaste. –

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252. Das ist keine philosophische Rasse – diese Engländer : Bacon bedeutet einen A n g r i f f auf den philosophischen Geist überhaupt, Hobbes, Hume und Locke eine Erniedrigung und Werth-Minderung des Begriffs „Philosoph“ für mehr als ein Jahrhundert. G e g e n Hume erhob und hob sich Kant ; Locke war es, von dem Schelling sagen d u r f t e : „je méprise Locke“ ; im Kampfe mit der englisch-mechanistischen Welt-Vertölpelung waren Hegel und Schopenhauer (mit Goethe) einmüthig, jene beiden feindlichen Brüder-Genies in der Philosophie, welche nach den entgegengesetzten Polen des deutschen Geistes auseinander strebten und sich dabei Unrecht thaten, wie sich eben nur Brüder Unrecht thun. – Woran es in England fehlt und immer gefehlt hat, das wusste jener Halb-Schauspieler und Rhetor gut genug, der abgeschmackte Wirrkopf Carlyle, welcher es unter leidenschaftlichen Fratzen zu verbergen suchte, was er von sich selbst wusste : nämlich woran es in Carlyle f e h lt e – an eigentlicher M ac ht der Geistigkeit, an eigentlicher Tie f e des | geistigen Blicks, kurz, an Philosophie. – Es kennzeichnet eine solche unphilosophische Rasse, dass sie streng zum Christenthume hält : sie b r auc ht seine Zucht zur „Moralisirung“ und Veranmenschlichung. Der Engländer, düsterer, sinnlicher, willensstärker und brutaler als der Deutsche – ist eben deshalb, als der Gemeinere von Beiden, auch frömmer als der Deutsche : er hat das Christenthum eben noch nöt h i g e r. Für feinere Nüstern hat selbst dieses englische Christenthum noch einen ächt englischen Nebengeruch von Spleen und alkoholischer Ausschweifung, gegen welche es aus guten Gründen als Heilmittel gebraucht wird, – das feinere Gift nämlich gegen das gröbere : eine feinere Vergiftung ist in der That bei plumpen Völkern schon ein Fortschritt, eine Stufe zur Vergeistigung. Die englische Plumpheit und BauernErnsthaftigkeit wird durch die christliche Gebärdensprache und durch Beten und Psalmensingen noch am erträglichsten

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verkleidet, richtiger : ausgelegt und umgedeutet ; und für jenes Vieh von Trunkenbolden und Ausschweifenden, welches ehemals unter der Gewalt des Methodismus und neuerdings wieder als „Heilsarmee“ moralisch grunzen lernt, mag wirklich ein Busskrampf die verhältnissmässig höchste Leistung von „Humanität“ sein, zu der es gesteigert werden kann : so viel darf man billig zugestehn. Was aber auch noch am humansten Engländer beleidigt, das ist sein Mangel an Musik, im Gleichniss (und ohne Gleichniss –) zu reden : er hat in den Bewegungen seiner Seele und seines Leibes keinen Takt und Tanz, ja noch nicht einmal die Begierde nach Takt und Tanz, nach „Musik“. Man höre ihn sprechen ; man sehe die schönsten Engländerinnen g e h n – es giebt in keinem Lande der Erde schönere Tauben und Schwäne, – | endlich : man höre sie singen ! Aber ich verlange zu viel … 253. Es giebt Wahrheiten, die am besten von mittelmässigen Köpfen erkannt werden, weil sie ihnen am gemässesten sind, es giebt Wahrheiten, die nur für mittelmässige Geister Reize und Verführungskräfte besitzen : – auf diesen vielleicht unangenehmen Satz wird man gerade jetzt hingestossen, seitdem der Geist achtbarer, aber mittelmässiger Engländer – ich nenne Darwin, John Stuart Mill und Herbert Spencer – in der mittleren Region des europäischen Geschmacks zum Übergewicht zu gelangen anhebt. In der That, wer möchte die Nützlichkeit davon anzweifeln, dass zeitweilig s olc he Geister herrschen ? Es wäre ein Irrthum, gerade die hochgearteten und abseits fl iegenden Geister für besonders geschickt zu halten, viele kleine gemeine Thatsachen festzustellen, zu sammeln und in Schlüsse zu drängen : – sie sind vielmehr, als Ausnahmen, von vornherein in keiner günstigen Stellung zu den „Regeln“. Zuletzt haben sie mehr zu thun, als nur zu erkennen – nämlich etwas Neues zu s e i n , etwas Neues zu b e d eut e n , neue

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Werthe d a r z u s t e l le n ! Die Kluft zwischen Wissen und Können ist vielleicht grösser, auch unheimlicher als man denkt : der Könnende im grossen Stil, der Schaffende wird möglicherweise ein Unwissender sein müssen, – während andererseits zu wissenschaftlichen Entdeckungen nach der Art Darwin’s eine gewisse Enge, Dürre und fleissige Sorglichkeit, kurz, etwas Englisches nicht übel disponiren mag. – Vergesse man es zuletzt den Engländern nicht, dass sie schon Ein Mal mit ihrer tiefen Durchschnittlichkeit eine Gesammt-Depression des europäischen | Geistes verursacht haben : Das, was man „die modernen Ideen“ oder „die Ideen des achtzehnten Jahrhunderts“ oder auch „die französischen Ideen“ nennt – Das also, wogegen sich der d eut s c he Geist mit tiefem Ekel erhoben hat  – , war englischen Ursprungs, daran ist nicht zu zweifeln. Die Franzosen sind nur die Affen und Schauspieler dieser Ideen gewesen, auch ihre besten Soldaten, insgleichen leider ihre ersten und gründlichsten O pf e r : denn an der verdammlichen Anglomanie der „modernen Ideen“ ist zuletzt die âme française so dünn geworden und abgemagert, dass man sich ihres sechszehnten und siebzehnten Jahrhunderts, ihrer tiefen leidenschaftlichen Kraft, ihrer erfi nderischen Vornehmheit heute fast mit Unglauben erinnert. Man muss aber diesen Satz historischer Billigkeit mit den Zähnen festhalten und gegen den Augenblick und Augenschein vertheidigen : die europäische noblesse – des Gefühls, des Geschmacks, der Sitte, kurz, das Wort in jedem hohen Sinne genommen – ist F r a n k r e i c h ’s Werk und Erfi ndung, die europäische Gemeinheit, der Plebejismus der modernen Ideen – E n g l a nd s. – 254. Auch jetzt noch ist Frankreich der Sitz der geistigsten und raffi nirtesten Cultur Europa’s und die hohe Schule des Geschmacks : aber man muss dies „Frankreich des Geschmacks“ zu fi nden wissen. Wer zu ihm gehört, hält sich gut verborgen : –

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es mag eine kleine Zahl sein, in denen es leibt und lebt, dazu vielleicht Menschen, welche nicht auf den kräftigsten Beinen stehn, zum Theil Fatalisten, Verdüsterte, Kranke, zum Theil Verzärtelte und Verkünstelte, solche, welche den E h r g e i z haben, sich zu verbergen. Etwas ist Allen | gemein : sie halten sich die Ohren zu vor der rasenden Dummheit und dem lärmenden Maulwerk des demokratischen bourgeois. ln der That wälzt sich heut im Vordergrunde ein verdummtes und vergröbertes Frankreich, – es hat neuerdings, bei dem Leichenbegängniss Victor Hugo’s, eine wahre Orgie des Ungeschmacks und zugleich der Selbstbewunderung gefeiert. Auch etwas Anderes ist ihnen gemeinsam : ein guter Wille, sich der geistigen Germanisirung zu erwehren – und ein noch besseres Unvermögen dazu ! Vielleicht ist jetzt schon Schopenhauer in diesem Frankreich des Geistes, welches auch ein Frankreich des Pessimismus ist, mehr zu Hause und heimischer geworden, als er es je in Deutschland war ; nicht zu reden von Heinrich Heine, der den feineren und anspruchsvolleren Lyrikern von Paris lange schon in Fleisch und Blut übergegangen ist, oder von Hegel, der heute in Gestalt Taine’s – das heisst des e r s t e n lebenden Historikers – einen beinahe tyrannischen Einfluss ausübt. Was aber Richard Wagner betriff t : je mehr sich die französische Musik nach den wirklichen Bedürfnissen der âme moderne gestalten lernt, um so mehr wird sie „wagnerisiren“, das darf man vorhersagen, – sie thut es jetzt schon genug ! Es ist dennoch dreierlei, was auch heute noch die Franzosen mit Stolz als ihr Erb und Eigen und als unverlornes Merkmal einer alten Cultur-Überlegenheit über Europa aufweisen können, trotz aller freiwilligen oder unfreiwilligen Germanisirung und Verpöbelung des Geschmacks : einmal die Fähigkeit zu artistischen Leidenschaften, zu Hingebungen an die „Form“, für welche das Wort l’art pour l’art, neben tausend anderen, erfunden ist : – dergleichen hat in Frankreich seit drei Jahrhunderten nicht gefehlt und immer wieder,

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Dank | der Ehrfurcht vor der „kleinen Zahl“, eine Art Kammermusik der Litteratur ermöglicht, welche im übrigen Europa sich suchen lässt –. Das Zweite, worauf die Franzosen eine Überlegenheit über Europa begründen können, ist ihre alte vielfache mor a l i s t i s c he Cultur, welche macht, dass man im Durchschnitt selbst bei kleinen romanciers der Zeitungen und zufälligen boulevardiers de Paris eine psychologische Reizbarkeit und Neugierde fi ndet, von der man zum Beispiel in Deutschland keinen Begriff (geschweige denn die Sache !) hat. Den Deutschen fehlen dazu ein paar Jahrhunderte moralistischer Arbeit, welche, wie gesagt, Frankreich sich nicht erspart hat ; wer die Deutschen darum „naiv“ nennt, macht ihnen aus einem Mangel ein Lob zurecht. (Als Gegensatz zu der deutschen Unerfahrenheit und Unschuld in voluptate psychologica, die mit der Langweiligkeit des deutschen Verkehrs nicht gar zu fern verwandt ist, – und als gelungenster Ausdruck einer ächt französischen Neugierde und Erfi ndungsgabe für dieses Reich zarter Schauder mag Henri Beyle gelten, jener merkwürdige vorwegnehmende und vorauslaufende Mensch, der mit einem Napoleonischen Tempo durch s e i n Europa, durch mehrere Jahrhunderte der europäischen Seele lief, als ein Ausspürer und Entdecker dieser Seele : – es hat zweier Geschlechter bedurft, um ihn irgendwie e i n z uhole n , um einige der Räthsel nachzurathen, die ihn quälten und entzückten, diesen wunderlichen Epicureer und Fragezeichen-Menschen, der Frankreichs letzter grosser Psycholog war –). Es giebt noch einen dritten Anspruch auf Überlegenheit : im Wesen der Franzosen ist eine halbwegs gelungene Synthesis des Nordens und Südens gegeben, welche sie viele Dinge begreifen macht und | andre Dinge thun heisst, die ein Engländer nie begreifen wird ; ihr dem Süden periodisch zugewandtes und abgewandtes Temperament, in dem von Zeit zu Zeit das provençalische und ligurische Blut überschäumt, bewahrt sie vor dem schauerlichen nordischen Grau in Grau

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und der sonnenlosen Begriffs-Gespensterei und Blutarmuth, – unsrer d eut s c he n Krankheit des Geschmacks, gegen deren Übermaass man sich augenblicklich mit grosser Entschlossenheit Blut und Eisen, will sagen : die „grosse Politik“ verordnet hat (gemäss einer gefährlichen Heilkunst, welche mich warten und warten, aber bis jetzt noch nicht hoffen lehrt –). Auch jetzt noch giebt es in Frankreich ein Vorverständniss und ein Entgegenkommen für jene seltneren und selten befriedigten Menschen, welche zu umfänglich sind, um in irgend einer Vaterländerei ihr Genüge zu fi nden und im Norden den Süden, im Süden den Norden zu lieben wissen, – für die geborenen Mittelländler, die „guten Europäer“. – Für sie hat Bi z et Musik gemacht, dieses letzte Genie, welches eine neue Schönheit und Verführung gesehn, – der ein Stück S ü d e n d e r Mu s i k entdeckt hat. 255. Gegen die deutsche Musik halte ich mancherlei Vorsicht für geboten. Gesetzt, dass Einer den Süden liebt, wie ich ihn liebe, als eine grosse Schule der Genesung, im Geistigsten und Sinnlichsten, als eine unbändige Sonnenfülle und Sonnen-Verklärung, welche sich über ein selbstherrliches, an sich glaubendes Dasein breitet : nun, ein Solcher wird sich etwas vor der deutschen Musik in Acht nehmen lernen, weil sie, indem sie seinen Geschmack zurück verdirbt, ihm die Gesundheit mit zurück verdirbt. Ein solcher Südländer, | nicht der Abkunft, sondern dem G l au b e n nach, muss, falls er von der Zukunft der Musik träumt, auch von einer Erlösung der Musik vom Norden träumen und das Vorspiel einer tieferen, mächtigeren, vielleicht böseren und geheimnissvolleren Musik in seinen Ohren haben, einer überdeutschen Musik, welche vor dem Anblick des blauen wollüstigen Meers und der mittelländischen Himmels-Helle nicht verklingt, vergilbt, verblasst, wie es alle deutsche Musik thut, einer übereuropäischen Musik, die noch vor den braunen Sonnen-Untergängen der Wüste Recht be-

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hält, deren Seele mit der Palme verwandt ist und unter grossen schönen einsamen Raubthieren heimisch zu sein und zu schweifen versteht ... Ich könnte mir eine Musik denken, deren seltenster Zauber darin bestünde, dass sie von Gut und Böse nichts mehr wüsste, nur dass vielleicht irgend ein Schiffer-Heimweh, irgend welche goldne Schatten und zärtliche Schwächen hier und da über sie hinwegliefen : eine Kunst, welche von grosser Ferne her die Farben einer untergehenden, fast unverständlich gewordenen mor a l i s c he n Welt zu sich flüchten sähe, und die gastfreundlich und tief genug zum Empfang solcher späten Flüchtlinge wäre. – 256. Dank der krankhaften Entfremdung, welche der Nationalitäts-Wahnsinn zwischen die Völker Europa’s gelegt hat und noch legt, Dank ebenfalls den Politikern des kurzen Blicks und der raschen Hand, die heute mit seiner Hülfe obenauf sind und gar nicht ahnen, wie sehr die auseinanderlösende Politik, welche sie treiben, nothwendig nur ZwischenaktsPolitik sein kann, – Dank Alledem und manchem heute ganz Unaussprechbaren werden jetzt die unzweideutigsten Anzeichen | übersehn oder willkürlich und lügenhaft umgedeutet, in denen sich ausspricht, dass Eu r o p a E i n s we r d e n w i l l . Bei allen tieferen und umfänglicheren Menschen dieses Jahrhunderts war es die eigentliche Gesammt-Richtung in der geheimnissvollen Arbeit ihrer Seele, den Weg zu jener neuen S y nt he s i s vorzubereiten und versuchsweise den Europäer der Zukunft vorwegzunehmen : nur mit ihren Vordergründen, oder in schwächeren Stunden, etwa im Alter, gehörten sie zu den „Vaterländern“, – sie ruhten sich nur von sich selber aus, wenn sie „Patrioten“ wurden. Ich denke an Menschen wie Napoleon, Goethe, Beethoven, Stendhal, Heinrich Heine, Schopenhauer : man verarge mir es nicht, wenn ich auch Richard Wagner zu ihnen rechne, über den man sich nicht

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durch seine eignen Missverständnisse verführen lassen darf, – Genies seiner Art haben selten das Recht, sich selbst zu verstehen. Noch weniger freilich durch den ungesitteten Lärm, mit dem man sich jetzt in Frankreich gegen Richard Wagner sperrt und wehrt : – die Thatsache bleibt nichtsdestoweniger bestehen, dass die f r a n z ös i sc he Spät-Roma nt i k der Vierziger Jahre und Richard Wagner auf das Engste und Innigste zu einander gehören. Sie sind sich in allen Höhen und Tiefen ihrer Bedürfnisse verwandt, grundverwandt : Europa ist es, das Eine Europa, dessen Seele sich durch ihre vielfältige und ungestüme Kunst hinaus, hinauf drängt und sehnt – wohin ? in ein neues Licht ? nach einer neuen Sonne ? Aber wer möchte genau aussprechen, was alle diese Meister neuer Sprachmittel nicht deutlich auszusprechen wussten ? Gewiss ist, dass der gleiche Sturm und Drang sie quälte, dass sie auf gleiche Weise s uc ht e n , diese letzten grossen Suchenden ! Allesammt beherrscht von | der Litteratur bis in ihre Augen und Ohren – die ersten Künstler von weltlitterarischer Bildung – meistens sogar selber Schreibende, Dichtende, Vermittler und Vermischer der Künste und der Sinne (Wagner gehört als Musiker unter die Maler, als Dichter unter die Musiker, als Künstler überhaupt unter die Schauspieler) ; allesammt Fanatiker des Au s d r uc k s „um jeden Preis“ – ich hebe Delacroix hervor, den Nächstverwandten Wagner’s – , allesammt grosse Entdekker im Reiche des Erhabenen, auch des Hässlichen und Grässlichen, noch grössere Entdecker im Effekte, in der Schaustellung, in der Kunst der Schauläden, allesammt Talente weit über ihr Genie hinaus – , Virtuosen durch und durch, mit unheimlichen Zugängen zu Allem, was verführt, lockt, zwingt, umwirft, geborene Feinde der Logik und der geraden Linien, begehrlich nach dem Fremden, dem Exotischen, dem Ungeheuren, dem Krummen, dem Sich-Widersprechenden ; als Menschen Tantalusse des Willens, heraufgekommene Plebejer, welche sich im Leben und Schaffen eines vornehmen

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tempo, eines lento unfähig wussten, – man denke zum Beispiel an Balzac – zügellose Arbeiter, beinahe Selbst-Zerstörer durch Arbeit ; Antinomisten und Aufrührer in den Sitten, Ehrgeizige und Unersättliche ohne Gleichgewicht und Genuss ; allesammt zuletzt an dem christlichen Kreuze zerbrechend und niedersinkend (und das mit Fug und Recht : denn wer von ihnen wäre tief und ursprünglich genug zu einer Philosophie des A n t i c h r i s t gewesen ? –) im Ganzen eine verwegenwagende, prachtvoll-gewaltsame, hochfl iegende und hoch empor reissende Art höherer Menschen, welche ihrem Jahrhundert – und es ist das Jahrhundert der Me n g e ! – den Begriff „höherer Mensch“ erst zu lehren hatte … Mögen | die deutschen Freunde Richard Wagner’s darüber mit sich zu Rathe gehn, ob es in der Wagnerischen Kunst etwas schlechthin Deutsches giebt, oder ob nicht gerade deren Auszeichnung ist, aus ü b e r d e ut s c h e n Quellen und Antrieben zu kommen : wobei nicht unterschätzt werden mag, wie zur Ausbildung seines Typus gerade Paris unentbehrlich war, nach dem ihn in der entscheidendsten Zeit die Tiefe seiner Instinkte verlangen hiess, und wie die ganze Art seines Auftretens, seines Selbst-Apostolats erst Angesichts des französischen Socialisten-Vorbilds sich vollenden konnte. Vielleicht wird man, bei einer feineren Vergleichung, zu Ehren der deutschen Natur Richard Wagner’s fi nden, dass er es in Allem stärker, verwegener, härter, höher getrieben hat, als es ein Franzose des neunzehnten Jahrhunderts treiben könnte, – Dank dem Umstande, dass wir Deutschen der Barbarei noch näher stehen als die Franzosen – ; vielleicht ist sogar das Merkwürdigste, was Richard Wagner geschaffen hat, der ganzen so späten lateinischen Rasse für immer und nicht nur für heute unzugänglich, unnachfühlbar, unnachahmbar : die Gestalt des Siegfried, jenes s e h r f r e ie n Menschen, der in der That bei weitem zu frei, zu hart, zu wohlgemuth, zu gesund, zu a nt i k at hol i s c h für den Geschmack alter und mürber Culturvölker sein mag.

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Er mag sogar eine Sünde wider die Romantik gewesen sein, dieser antiromanische Siegfried : nun, Wagner hat diese Sünde reichlich quitt gemacht, in seinen alten trüben Tagen, als er – einen Geschmack vorwegnehmend, der inzwischen Politik geworden ist – mit der ihm eignen religiösen Vehemenz d e n We g n ac h Rom , wenn nicht zu gehn, so doch zu predigen anfieng. – Damit man mich, mit diesen letzten Worten, | nicht missverstehe, will ich einige kräftige Reime zu Hülfe nehmen, welche auch weniger feinen Ohren es verrathen werden, was ich will, – was ich g e g e n den „letzten Wagner“ und seine Parsifal-Musik will. – Ist Das noch deutsch ? – Aus deutschem Herzen kam dies schwüle Kreischen ? Und deutschen Leibs ist dies Sich-selbst-Entfleischen ? Deutsch ist dies Priester-Händespreitzen, Dies weihrauch-düftelnde Sinne-Reizen ? Und deutsch dies Stocken, Stürzen, Taumeln, Dies ungewisse Bimbambaumeln ? Dies Nonnen-Äugeln, Ave-Glocken-Bimmeln, Dies ganze falsch verzückte Himmel-Überhimmeln ? – Ist Das noch deutsch ? – Erwägt ! Noch steht ihr an der Pforte : – Denn, was ihr hört, ist Rom , – Rom’s G l au b e oh n e Wor t e ! |

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Neuntes Hauptstück : was ist vornehm ? |

257. Jede Erhöhung des Typus „Mensch“ war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft – und so wird es immer wieder sein : als einer Gesellschaft, welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nöthig hat. Ohne das P at ho s d e r D i s t a n z , wie es aus dem eingefleischten Unterschied der Stände, aus dem beständigen Ausblick und Herabblick der herrschenden Kaste auf Unterthänige und Werkzeuge und aus ihrer ebenso beständigen Übung im Gehorchen und Befehlen, Nieder- und Fernhalten erwächst, könnte auch jenes andre geheimnissvollere Pathos gar nicht erwachsen, jenes Verlangen nach immer neuer Distanz-Erweiterung innerhalb der Seele selbst, die Herausbildung immer höherer, seltnerer, fernerer, weitgespannterer, umfänglicherer Zustände, kurz eben die Erhöhung des Typus „Mensch“, die fortgesetzte „Selbst-Überwindung des Menschen“, um eine moralische Formel in einem übermoralischen Sinne zu nehmen. Freilich : man darf sich über die Entstehungsgeschichte einer aristokratischen Gesellschaft (also der Voraussetzung jener Erhöhung des Typus „Mensch“ –) keinen humanitären Täuschungen hingeben : die Wahrheit ist hart. Sagen wir es uns ohne Schonung, wie bisher jede höhere Cultur auf Erden a n g e f a n g e n hat ! Menschen mit einer noch natürlichen Natur, Barbaren in jedem furchtbaren Verstande des Wortes, Raubmenschen, noch im Besitz ungebrochner | Willenskräfte und Macht-Begierden, warfen sich auf schwächere, gesittetere, friedlichere, vielleicht handeltreibende oder viehzüchtende Rassen, oder auf alte mürbe Culturen, in denen

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eben die letzte Lebenskraft in glänzenden Feuerwerken von Geist und Verderbniss verflackerte. Die vornehme Kaste war im Anfang immer die Barbaren-Kaste : ihr Übergewicht lag nicht vorerst in der physischen Kraft, sondern in der seelischen, – es waren die g a n z e r e n Menschen (was auf jeder Stufe auch so viel mit bedeutet als „die ganzeren Bestien“ –). 258. Corruption, als der Ausdruck davon, dass innerhalb der Instinkte Anarchie droht, und dass der Grundbau der Affekte, der „Leben“ heisst, erschüttert ist : Corruption ist, je nach dem Lebensgebilde, an dem sie sich zeigt, etwas Grundverschiedenes. Wenn zum Beispiel eine Aristokratie, wie die Frankreichs am Anfange der Revolution, mit einem sublimen Ekel ihre Privilegien wegwirft und sich selbst einer Ausschweifung ihres moralischen Gefühls zum Opfer bringt, so ist dies Corruption : – es war eigentlich nur der Abschlussakt jener Jahrhunderte dauernden Corruption, vermöge deren sie Schritt für Schritt ihre herrschaftlichen Befugnisse abgegeben und sich zur F u n k t io n des Königthums (zuletzt gar zu dessen Putz und Prunkstück) herabgesetzt hatte. Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist aber, dass sie sich n ic ht als Funktion (sei es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Si n n und höchste Rechtfertigung fühlt, – dass sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt, welche u m i h r et w i l le n zu unvollständigen Menschen, zu | Sklaven, zu Werkzeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen. Ihr Grundglaube muss eben sein, dass die Gesellschaft n ic ht um der Gesellschaft willen dasein dürfe, sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren S e i n emporzuheben vermag : vergleichbar jenen sonnensüchtigen Kletterpflanzen auf Java – man nennt sie Sipo Matador – , wel-

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che mit ihren Armen einen Eichbaum so lange und oft umklammern, bis sie endlich, hoch über ihm, aber auf ihn gestützt, in freiem Lichte ihre Krone entfalten und ihr Glück zur Schau tragen können. – 259. Sich gegenseitig der Verletzung, der Gewalt, der Ausbeutung enthalten, seinen Willen dem des Andern gleich setzen : dies kann in einem gewissen groben Sinne zwischen Individuen zur guten Sitte werden, wenn die Bedingungen dazu gegeben sind (nämlich deren thatsächliche Ähnlichkeit in Kraftmengen und Werthmaassen und ihre Zusammengehörigkeit innerhalb Eines Körpers). Sobald man aber dies Princip weiter nehmen wollte und womöglich gar als Gr u nd p r i nc i p d e r G e s e l l s c h a f t , so würde es sich sofort erweisen als Das, was es ist : als Wille zur Ve r ne i nu n g des Lebens, als Auflösungsund Verfalls-Princip. Hier muss man gründlich auf den Grund denken und sich aller empfi ndsamen Schwächlichkeit erwehren : Leben selbst ist we s e nt l ic h Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrükkung, Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung, – aber wozu sollte man immer gerade solche Worte gebrauchen, denen von | Alters her eine verleumderische Absicht eingeprägt ist ? Auch jener Körper, innerhalb dessen, wie vorher angenommen wurde, die Einzelnen sich als gleich behandeln – es geschieht in jeder gesunden Aristokratie – muss selber, falls er ein lebendiger und nicht ein absterbender Körper ist, alles Das gegen andre Körper thun, wessen sich die Einzelnen in ihm gegen einander enthalten : er wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen, er wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht gewinnen wollen, – nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er lebt , und weil Leben eben Wille zur Macht i s t . In keinem Punkte ist aber das gemeine Bewusstsein der Europäer widerwilliger gegen

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Belehrung, als hier ; man schwärmt jetzt überall, unter wissenschaftlichen Verkleidungen sogar, von kommenden Zuständen der Gesellschaft, denen „der ausbeuterische Charakter“ abgehn soll : – das klingt in meinen Ohren, als ob man ein Leben zu erfi nden verspräche, welches sich aller organischen Funktionen enthielte. Die „Ausbeutung“ gehört nicht einer verderbten oder unvollkommnen und primitiven Gesellschaft an : sie gehört in’s We s e n des Lebendigen, als organische Grundfunktion, sie ist eine Folge des eigentlichen Willens zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist. – Gesetzt, dies ist als Theorie eine Neuerung, – als Realität ist es das Ur - Fa k t u m aller Geschichte : man sei doch so weit gegen sich ehrlich ! – 260. Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und an|einander geknüpft : bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt H e r r e n - M o r a l und S k l a v e n Mor a l ; – ich füge sofort hinzu, dass in allen höheren und gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander – sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele. Die moralischen Werthunterscheidungen sind entweder unter einer herrschenden Art entstanden, welche sich ihres Unterschieds gegen die beherrschte mit Wohlgefühl bewusst wurde, – oder unter den Beherrschten, den Sklaven und Abhängigen jeden Grades. Im ersten Falle, wenn die Herrschenden es sind, die den Begriff „gut“ bestimmen, sind es die erhobenen stolzen Zustände der Seele, welche als das Auszeichnende und die Rangordnung Bestimmende empfunden werden. Der vornehme Mensch trennt die Wesen von

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sich ab, an denen das Gegentheil solcher gehobener stolzer Zustände zum Ausdruck kommt : er verachtet sie. Man bemerke sofort, dass in dieser ersten Art Moral der Gegensatz „gut“ und „schlecht“ so viel bedeutet wie „vornehm“ und „verächtlich“ : – der Gegensatz „gut“ und „b ö s e“ ist anderer Herkunft. Verachtet wird der Feige, der Ängstliche, der Kleinliche, der an die enge Nützlichkeit Denkende ; ebenso der Misstrauische mit seinem unfreien Blicke, der Sich-Erniedrigende, die Hunde-Art von Mensch, welche sich misshandeln lässt, der bettelnde Schmeichler, vor Allem der Lügner : – es ist ein Grundglaube aller Aristokraten, dass das gemeine Volk lügnerisch ist. „Wir Wahrhaftigen“ – so nannten sich im alten Griechen|land die Adeligen. Es liegt auf der Hand, dass die moralischen Werthbezeichnungen überall zuerst auf Me n s c he n und erst abgeleitet und spät auf H a nd lu n g e n gelegt worden sind : weshalb es ein arger Fehlgriff ist, wenn MoralHistoriker von Fragen den Ausgang nehmen wie „warum ist die mitleidige Handlung gelobt worden ?“ Die vornehme Art Mensch fühlt s ic h als werthbestimmend, sie hat nicht nöthig, sich gutheissen zu lassen, sie urtheilt „was mir schädlich ist, das ist an sich schädlich“, sie weiss sich als Das, was überhaupt erst Ehre den Dingen verleiht, sie ist we r t he s c h a f f e nd . Alles, was sie an sich kennt, ehrt sie : eine solche Moral ist Selbstverherrlichung. Im Vordergrunde steht das Gefühl der Fülle, der Macht, die überströmen will, das Glück der hohen Spannung, das Bewusstsein eines Reichthums, der schenken und abgeben möchte : – auch der vornehme Mensch hilft dem Unglücklichen, aber nicht oder fast nicht aus Mitleid, sondern mehr aus einem Drang, den der Überfluss von Macht erzeugt. Der vornehme Mensch ehrt in sich den Mächtigen, auch Den, welcher Macht über sich selbst hat, der zu reden und zu schweigen versteht, der mit Lust Strenge und Härte gegen sich übt und Ehrerbietung vor allem Strengen und Harten hat. „Ein hartes Herz legte Wotan mir in die Brust“ heisst es in

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einer alten skandinavischen Saga : so ist es aus der Seele eines stolzen Wikingers heraus mit Recht gedichtet. Eine solche Art Mensch ist eben stolz darauf, n ic ht zum Mitleiden gemacht zu sein : weshalb der Held der Saga warnend hinzufügt „wer jung schon kein hartes Herz hat, dem wird es niemals hart“. Vornehme und Tapfere, welche so denken, sind am entferntesten von jener Moral, welche gerade im Mitleiden | oder im Handeln für Andere oder im désintéressement das Abzeichen des Moralischen sieht ; der Glaube an sich selbst, der Stolz auf sich selbst, eine Grundfeindschaft und Ironie gegen „Selbstlosigkeit“ gehört eben so bestimmt zur vornehmen Moral wie eine leichte Geringschätzung und Vorsicht vor den Mitgefühlen und dem „warmen Herzen“. – Die Mächtigen sind es, welche zu ehren ve r s t e he n , es ist ihre Kunst, ihr Reich der Erfi ndung. Die tiefe Ehrfurcht vor dem Alter und vor dem Herkommen – das ganze Recht steht auf dieser doppelten Ehrfurcht – , der Glaube und das Vorurtheil zu Gunsten der Vorfahren und zu Ungunsten der Kommenden ist typisch in der Moral der Mächtigen ; und wenn umgekehrt die Menschen der „modernen Ideen“ beinahe instinktiv an den „Fortschritt“ und „die Zukunft“ glauben und der Achtung vor dem Alter immer mehr ermangeln, so verräth sich damit genugsam schon die unvornehme Herkunft dieser „Ideen“. Am meisten ist aber eine Moral der Herrschenden dem gegenwärtigen Geschmacke fremd und peinlich in der Strenge ihres Grundsatzes, dass man nur gegen Seinesgleichen Pfl ichten habe ; dass man gegen die Wesen niedrigeren Ranges, gegen alles Fremde nach Gutdünken oder „wie es das Herz will“ handeln dürfe und jedenfalls „jenseits von Gut und Böse“ – : hierhin mag Mitleiden und dergleichen gehören. Die Fähigkeit und Pfl icht zu langer Dankbarkeit und langer Rache – beides nur innerhalb seines Gleichen – , die Feinheit in der Wiedervergeltung, das Begriffs-Raffi nement in der Freundschaft, eine gewisse Nothwendigkeit, Feinde zu haben (gleichsam als

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Abzugsgräben für die Affekte Neid Streitsucht Übermuth, – im Grunde, um gut f r eu nd sein zu können) : | Alles das sind typische Merkmale der vornehmen Moral, welche, wie angedeutet, nicht die Moral der „modernen Ideen“ ist und deshalb heute schwer nachzufühlen, auch schwer auszugraben und aufzudecken ist. – Es steht anders mit dem zweiten Typus der Moral, der S k l ave n - Mor a l . Gesetzt, dass die Vergewaltigten, Gedrückten, Leidenden, Unfreien, Ihrer-selbst-Ungewissen und Müden moralisiren : was wird das Gleichartige ihrer moralischen Werthschätzungen sein ? Wahrscheinlich wird ein pessimistischer Argwohn gegen die ganze Lage des Menschen zum Ausdruck kommen, vielleicht eine Verurtheilung des Menschen mitsammt seiner Lage. Der Blick des Sklaven ist abgünstig für die Tugenden des Mächtigen : er hat Skepsis und Misstrauen, er hat Fe i n he it des Misstrauens gegen alles „Gute“, was dort geehrt wird – , er möchte sich überreden, dass das Glück selbst dort nicht ächt sei. Umgekehrt werden die Eigenschaften hervorgezogen und mit Licht übergossen, welche dazu dienen, Leidenden das Dasein zu erleichtern : hier kommt das Mitleiden, die gefällige hülf bereite Hand, das warme Herz, die Geduld, der Fleiss, die Demuth, die Freundlichkeit zu Ehren – , denn das sind hier die nützlichsten Eigenschaften und beinahe die einzigen Mittel, den Druck des Daseins auszuhalten. Die Sklaven-Moral ist wesentlich Nützlichkeits-Moral. Hier ist der Herd für die Entstehung jenes berühmten Gegensatzes „gut“ und „b ö s e“ : – in’s Böse wird die Macht und Gefährlichkeit hinein empfunden, eine gewisse Furchtbarkeit, Feinheit und Stärke, welche die Verachtung nicht aufkommen lässt. Nach der Sklaven-Moral erregt also der „Böse“ Furcht ; nach der Herren-Moral ist es gerade der „Gute“, der Furcht erregt und erregen will, während der „schlechte“ | Mensch als der verächtliche empfunden wird. Der Gegensatz kommt auf seine Spitze, wenn sich, gemäss der Sklavenmoral-Consequenz, zuletzt nun auch an den „Guten“

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dieser Moral ein Hauch von Geringschätzung hängt – sie mag leicht und wohlwollend sein – , weil der Gute innerhalb der Sklaven-Denkweise jedenfalls der u n g e f ä h rl ic he Mensch sein muss : er ist gutmüthig, leicht zu betrügen, ein bischen dumm vielleicht, un bonhomme. Überall, wo die SklavenMoral zum Übergewicht kommt, zeigt die Sprache eine Neigung, die Worte „gut“ und „dumm“ einander anzunähern. – Ein letzter Grundunterschied : das Verlangen nach Fr e i he it , der Instinkt für das Glück und die Feinheiten des FreiheitsGefühls gehört ebenso nothwendig zur Sklaven-Moral und -Moralität, als die Kunst und Schwärmerei in der Ehrfurcht, in der Hingebung das regelmässige Symptom einer aristokratischen Denk- und Werthungsweise ist. – Hieraus lässt sich ohne Weiteres verstehn, warum die Liebe a l s P a s s io n – es ist unsre europäische Spezialität – schlechterdings vornehmer Abkunft sein muss : bekanntlich gehört ihre Erfi ndung den provençalischen Ritter-Dichtern zu, jenen prachtvollen erfi nderischen Menschen des „gai saber“, denen Europa so Vieles und beinahe sich selbst verdankt. – 261. Zu den Dingen, welche einem vornehmen Menschen vielleicht am schwersten zu begreifen sind, gehört die Eitelkeit : er wird versucht sein, sie noch dort zu leugnen, wo eine andre Art Mensch sie mit beiden Händen zu fassen meint. Das Problem ist für ihn, sich Wesen vorzustellen, die eine gute Meinung über sich | zu erwecken suchen, welche sie selbst von sich nicht haben – und also auch nicht „verdienen“ – , und die doch hinterdrein an diese gute Meinung selber g l aub e n . Das erscheint ihm zur Hälfte so geschmacklos und unehrerbietig vor sich selbst, zur andren Hälfte so barock-unvernünftig, dass er die Eitelkeit gern als Ausnahme fassen möchte und sie in den meisten Fällen, wo man von ihr redet, anzweifelt. Er wird zum Beispiel sagen : „ich kann mich über mei-

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nen Werth irren und andererseits doch verlangen, dass mein Werth gerade so, wie ich ihn ansetze, auch von Andern anerkannt werde, – aber das ist keine Eitelkeit (sondern Dünkel oder, in den häufigeren Fällen, Das, was „Demuth“, auch „Bescheidenheit“ genannt wird).“ Oder auch : „ich kann mich aus vielen Gründen über die gute Meinung Anderer freuen, vielleicht weil ich sie ehre und liebe und mich an jeder ihrer Freuden erfreue, vielleicht auch weil ihre gute Meinung den Glauben an meine eigne gute Meinung bei mir unterschreibt und kräftigt, vielleicht weil die gute Meinung Anderer, selbst in Fällen, wo ich sie nicht theile, mir doch nützt oder Nutzen verspricht, – aber das ist Alles nicht Eitelkeit.“ Der vornehme Mensch muss es sich erst mit Zwang, namentlich mit Hülfe der Historie, vorstellig machen, dass, seit unvordenklichen Zeiten, in allen irgendwie abhängigen Volksschichten der gemeine Mensch nur Das w a r, was er g a lt : – gar nicht daran gewöhnt, Werthe selbst anzusetzen, mass er auch sich keinen andern Werth bei, als seine Herren ihm beimassen (es ist das eigentliche He r r e n r e c ht , Werthe zu schaffen). Mag man es als die Folge eines ungeheuren Atavismus begreifen, dass der gewöhnliche Mensch auch jetzt noch immer erst auf eine Meinung über sich w a r t et und sich dann der|selben instinktiv unterwirft : aber durchaus nicht bloss einer „guten“ Meinung, sondern auch einer schlechten und unbilligen (man denke zum Beispiel an den grössten Theil der Selbstschätzungen und Selbstunterschätzungen, welche gläubige Frauen ihren Beichtvätern ablernen, und überhaupt der gläubige Christ seiner Kirche ablernt). Thatsächlich wird nun, gemäss dem langsamen Heraufkommen der demokratischen Ordnung der Dinge (und seiner Ursache, der Blutvermischung von Herren und Sklaven), der ursprünglich vornehme und seltne Drang, sich selbst von sich aus einen Werth zuzuschreiben und von sich „gut zu denken“, mehr und mehr ermuthigt und ausgebreitet werden : aber er hat jeder Zeit einen älteren, breiteren

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und gründlicher einverleibten Hang gegen sich, – und im Phänomene der „Eitelkeit“ wird dieser ältere Hang Herr über den jüngeren. Der Eitle freut sich über je d e gute Meinung, die er über sich hört (ganz abseits von allen Gesichtspunkten ihrer Nützlichkeit, und ebenso abgesehn von wahr und falsch), ebenso wie er an jeder schlechten Meinung leidet : denn er unterwirft sich beiden, er f ü h lt sich ihnen unterworfen, aus jenem ältesten Instinkte der Unterwerfung, der an ihm ausbricht. – Es ist „der Sklave“ im Blute des Eitlen, ein Rest von der Verschmitztheit des Sklaven – und wie viel „Sklave“ ist zum Beispiel jetzt noch im Weibe rückständig ! – , welcher zu guten Meinungen über sich zu ve r f ü h r e n sucht ; es ist ebenfalls der Sklave, der vor diesen Meinungen nachher sofort selbst niederfällt, wie als ob er sie nicht hervorgerufen hätte. – Und nochmals gesagt : Eitelkeit ist ein Atavismus. | 262. Eine A r t entsteht, ein Typus wird fest und stark unter dem langen Kampfe mit wesentlich gleichen u n g ü n s t i g e n Bedingungen. Umgekehrt weiss man aus den Erfahrungen der Züchter, dass Arten, denen eine überreichliche Ernährung und überhaupt ein Mehr von Schutz und Sorgfalt zu Theil wird, alsbald in der stärksten Weise zur Variation des Typus neigen und reich an Wundern und Monstrositäten (auch an monströsen Lastern) sind. Nun sehe man einmal ein aristokratisches Gemeinwesen, etwa eine alte griechische Polis oder Venedig, als eine, sei es freiwillige, sei es unfreiwillige Veranstaltung zum Zweck der Züc ht u n g an : es sind da Menschen bei einander und auf sich angewiesen, welche ihre Art durchsetzen wollen, meistens, weil sie sich durchsetzen mü s s e n oder in furchtbarer Weise Gefahr laufen, ausgerottet zu werden. Hier fehlt jene Gunst, jenes Übermaass, jener Schutz, unter denen die Variation begünstigt ist ; die Art hat sich als Art nöthig, als Etwas, das sich gerade vermöge

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seiner Härte, Gleichförmigkeit, Einfachheit der Form überhaupt durchsetzen und dauerhaft machen kann, im beständigen Kampfe mit den Nachbarn oder mit den aufständischen oder Aufstand drohenden Unterdrückten. Die mannichfaltigste Erfahrung lehrt sie, welchen Eigenschaften vornehmlich sie es verdankt, dass sie, allen Göttern und Menschen zum Trotz, noch da ist, dass sie noch immer obgesiegt hat : diese Eigenschaften nennt sie Tugenden, diese Tugenden allein züchtet sie gross. Sie thut es mit Härte, ja sie will die Härte ; jede aristokratische Moral ist unduldsam, in der Erziehung der Jugend, in der Verfügung über die Weiber, in den Ehesitten, im Verhältnisse von Alt und Jung, | in den Strafgesetzen (welche allein die Abartenden in’s Auge fassen) : – sie rechnet die Unduldsamkeit selbst unter die Tugenden, unter dem Namen „Gerechtigkeit“. Ein Typus mit wenigen, aber sehr starken Zügen, eine Art strenger kriegerischer klug-schweigsamer, geschlossener und verschlossener Menschen (und als solche vom feinsten Gefühle für die Zauber und nuances der Societät) wird auf diese Weise über den Wechsel der Geschlechter hinaus festgestellt ; der beständige Kampf mit immer gleichen u n g ü n s t i g e n Bedingungen ist, wie gesagt, die Ursache davon, dass ein Typus fest und hart wird. Endlich aber entsteht einmal eine Glückslage, die ungeheure Spannung lässt nach ; es giebt vielleicht keine Feinde mehr unter den Nachbarn, und die Mittel zum Leben, selbst zum Genusse des Lebens sind überreichlich da. Mit Einem Schlage reisst das Band und der Zwang der alten Zucht : sie fühlt sich nicht mehr als nothwendig, als Dasein-bedingend, – wollte sie fortbestehn, so könnte sie es nur als eine Form des Lu x u s , als archaisirender G e s c h m a c k . Die Variation, sei es als Abartung (in’s Höhere, Feinere, Seltnere), sei es als Entartung und Monstrosität, ist plötzlich in der grössten Fülle und Pracht auf dem Schauplatz, der Einzelne wagt einzeln zu sein und sich abzuheben. An diesen Wendepunkten der Geschichte zeigt sich neben

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einander und oft in einander verwickelt und verstrickt ein herrliches vielfaches urwaldhaftes Heraufwachsen und Emporstreben, eine Art t r o p i s c he s Tempo im Wetteifer des Wachsthums und ein ungeheures Zugrundegehen und Sichzu-Grunde-Richten, Dank den wild gegeneinander gewendeten, gleichsam explodirenden Egoismen, welche „um Sonne und Licht“ mit einander ringen und keine Grenze, | keine Zügelung, keine Schonung mehr aus der bisherigen Moral zu entnehmen wissen. Diese Moral selbst war es, welche die Kraft in’s Ungeheure aufgehäuft, die den Bogen auf so bedrohliche Weise gespannt hat : – jetzt ist, jetzt wird sie „überlebt“. Der gefährliche und unheimliche Punkt ist erreicht, wo das grössere, vielfachere, umfänglichere Leben über die alte Moral h i nwe g lebt ; das „Individuum“ steht da, genöthigt zu einer eigenen Gesetzgebung, zu eigenen Künsten und Listen der Selbst-Erhaltung, Selbst-Erhöhung, Selbst-Erlösung. Lauter neue Wozu’s, lauter neue Womit’s, keine gemeinsamen Formeln mehr, Missverständniss und Missachtung mit einander im Bunde, der Verfall, Verderb und die höchsten Begierden schauerlich verknotet, das Genie der Rasse aus allen Füllhörnern des Guten und Schlimmen überquellend, ein verhängnissvolles Zugleich von Frühling und Herbst, voll neuer Reize und Schleier, die der jungen, noch unausgeschöpften, noch unermüdeten Verderbniss zu eigen sind. Wieder ist die Gefahr da, die Mutter der Moral, die grosse Gefahr, dies Mal in’s Individuum verlegt, in den Nächsten und Freund, auf die Gasse, in’s eigne Kind, in’s eigne Herz, in alles Eigenste und Geheimste von Wunsch und Wille : was werden jetzt die Moral-Philosophen zu predigen haben, die um diese Zeit heraufkommen ? Sie entdecken, diese scharfen Beobachter und Eckensteher, dass es schnell zum Ende geht, dass Alles um sie verdirbt und verderben macht, dass Nichts bis übermorgen steht, Eine Art Mensch ausgenommen, die unheilbar M it t e lm ä s s i g e n . Die Mittelmässigen allein haben Aussicht, sich

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fortzusetzen, sich fortzupflanzen, – sie sind die Menschen der Zukunft, die einzig Überlebenden ; „seid wie sie ! werdet | mittelmässig !“ heisst nunmehr die alleinige Moral, die noch Sinn hat, die noch Ohren fi ndet. – Aber sie ist schwer zu predigen, diese Moral der Mittelmässigkeit ! – sie darf es ja niemals eingestehn, was sie ist und was sie will ! sie muss von Maass und Würde und Pfl icht und Nächstenliebe reden, – sie wird Noth haben, d ie I r o n i e z u ve r b e r g e n ! – 263. Es giebt einen I n s t i n k t f ü r d e n R a n g , welcher, mehr als Alles, schon das Anzeichen eines hohe n Ranges ist ; es giebt eine Lu s t an den Nuancen der Ehrfurcht, die auf vornehme Abkunft und Gewohnheiten rathen lässt. Die Feinheit, Güte und Höhe einer Seele wird gefährlich auf die Probe gestellt, wenn Etwas an ihr vorüber geht, das ersten Ranges ist, aber noch nicht von den Schaudern der Autorität vor zudringlichen Griffen und Plumpheiten gehütet wird : Etwas, das, unabgezeichnet, unentdeckt, versuchend, vielleicht willkürlich verhüllt und verkleidet, wie ein lebendiger Prüfstein seines Weges geht. Zu wessen Aufgabe und Übung es gehört, Seelen auszuforschen, der wird sich in mancherlei Formen gerade dieser Kunst bedienen, um den letzten Werth einer Seele, die unverrückbare eingeborne Rangordnung, zu der sie gehört, festzustellen : er wird sie auf ihren I n s t i n k t d e r E h r f u r c ht hin auf die Probe stellen. Différence engendre haine : die Gemeinheit mancher Natur sprützt plötzlich wie schmutziges Wasser hervor, wenn irgend ein heiliges Gefäss, irgend eine Kostbarkeit aus verschlossenen Schreinen, irgend ein Buch mit den Zeichen des grossen Schicksals vorübergetragen wird ; und andrerseits giebt es ein unwillkürliches Verstummen, ein Zögern | des Auges, ein Stillewerden aller Gebärden, woran sich ausspricht, dass eine Seele die Nähe des Verehrungswürdigsten f ü h lt . Die Art, mit der im Ganzen

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bisher die Ehrfurcht vor der Bi b e l in Europa aufrecht erhalten wird, ist vielleicht das beste Stück Zucht und Verfeinerung der Sitte, das Europa dem Christenthume verdankt : solche Bücher der Tiefe und der letzten Bedeutsamkeit brauchen zu ihrem Schutz eine von Aussen kommende Tyrannei von Autorität, um jene Jahrtausende von D aue r zu gewinnen, welche nöthig sind, sie auszuschöpfen und auszurathen. Es ist Viel erreicht, wenn der grossen Menge (den Flachen und Geschwind-Därmen aller Art) jenes Gefühl endlich angezüchtet ist, dass sie nicht an Alles rühren dürfe ; dass es heilige Erlebnisse giebt, vor denen sie die Schuhe auszuziehn und die unsaubere Hand fern zu halten hat, – es ist beinahe ihre höchste Steigerung zur Menschlichkeit. Umgekehrt wirkt an den sogenannten Gebildeten, den Gläubigen der „modernen Ideen“, vielleicht Nichts so ekelerregend, als ihr Mangel an Scham, ihre bequeme Frechheit des Auges und der Hand, mit der von ihnen an Alles gerührt, geleckt, getastet wird ; und es ist möglich, dass sich heut im Volke, im niedern Volke, namentlich unter Bauern, immer noch mehr r e l at i ve Vornehmheit des Geschmacks und Takt der Ehrfurcht vorfi ndet, als bei der zeitunglesenden Halbwelt des Geistes, den Gebildeten. 264. Es ist aus der Seele eines Menschen nicht wegzuwischen, was seine Vorfahren am liebsten und beständigsten gethan haben : ob sie etwa emsige Sparer waren und Zubehör eines Schreibtisches und Geldkastens, bescheiden und bürgerlich in ihren Begierden, | bescheiden auch in ihren Tugenden ; oder ob sie an’s Befehlen von früh bis spät gewöhnt lebten, rauhen Vergnügungen hold und daneben vielleicht noch rauheren Pfl ichten und Verantwortungen ; oder ob sie endlich alte Vorrechte der Geburt und des Besitzes irgendwann einmal geopfert haben, um ganz ihrem Glauben – ihrem „Gotte“ – zu leben, als die Menschen eines unerbittlichen und zarten Gewissens,

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welches vor jeder Vermittlung erröthet. Es ist gar nicht möglich, dass ein Mensch n ic ht die Eigenschaften und Vorlieben seiner Eltern und Altvordern im Leibe habe : was auch der Augenschein dagegen sagen mag. Dies ist das Problem der Rasse. Gesetzt, man kennt Einiges von den Eltern, so ist ein Schluss auf das Kind erlaubt : irgend eine widrige Unenthaltsamkeit, irgend ein Winkel-Neid, eine plumpe Sich-Rechtgeberei – wie diese Drei zusammen zu allen Zeiten den eigentlichen PöbelTypus ausgemacht haben – dergleichen muss auf das Kind so sicher übergehn, wie verderbtes Blut ; und mit Hülfe der besten Erziehung und Bildung wird man eben nur erreichen, über eine solche Vererbung zu t äu s c he n . – Und was will heute Erziehung und Bildung Anderes ! In unsrem sehr volksthümlichen, will sagen pöbelhaften Zeitalter mu s s „Erziehung“ und „Bildung“ wesentlich die Kunst, zu täuschen, sein, – über die Herkunft, den vererbten Pöbel in Leib und Seele hinweg zu täuschen. Ein Erzieher, der heute vor Allem Wahrhaftigkeit predigte und seinen Züchtlingen beständig zuriefe „seid wahr ! seid natürlich ! gebt euch, wie ihr seid !“ – selbst ein solcher tugendhafter und treuherziger Esel würde nach einiger Zeit zu jener furca des Horaz greifen lernen, um naturam expellere : mit welchem Erfolge ? „Pöbel“ usque recurret. – | 265. Auf die Gefahr hin, unschuldige Ohren missvergnügt zu machen, stelle ich hin : der Egoismus gehört zum Wesen der vornehmen Seele, ich meine jenen unverrückbaren Glauben, dass einem Wesen, wie „wir sind“, andre Wesen von Natur unterthan sein müssen und sich ihm zu opfern haben. Die vornehme Seele nimmt diesen Thatbestand ihres Egoismus ohne jedes Fragezeichen hin, auch ohne ein Gefühl von Härte, Zwang, Willkür darin, vielmehr wie Etwas, das im Urgesetz der Dinge begründet sein mag : – suchte sie nach einem Namen dafür, so würde sie sagen „es ist die Gerechtigkeit selbst“.

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Sie gesteht sich, unter Umständen, die sie anfangs zögern lassen, zu, dass es mit ihr Gleichberechtigte giebt ; sobald sie über diese Frage des Rangs im Reinen ist, bewegt sie sich unter diesen Gleichen und Gleichberechtigten mit der gleichen Sicherheit in Scham und zarter Ehrfurcht, welche sie im Verkehre mit sich selbst hat, – gemäss einer eingebornen himmlischen Mechanik, auf welche sich alle Sterne verstehn. Es ist ein Stück ihres Egoismus me h r, diese Feinheit und Selbstbeschränkung im Verkehre mit ihres Gleichen – jeder Stern ist ein solcher Egoist – : sie ehrt s ic h in ihnen und in den Rechten, welche sie an dieselben abgiebt, sie zweifelt nicht, dass der Austausch von Ehren und Rechten als We s e n alles Verkehrs ebenfalls zum naturgemässen Zustand der Dinge gehört. Die vornehme Seele giebt, wie sie nimmt, aus dem leidenschaftlichen und reizbaren Instinkte der Vergeltung heraus, welcher auf ihrem Grunde liegt. Der Begriff „Gnade“ hat inter pares keinen Sinn und Wohlgeruch ; es mag eine sublime Art geben, Geschenke von Oben her gleichsam über sich ergehen zu lassen | und wie Tropfen durstig aufzutrinken : aber für diese Kunst und Gebärde hat die vornehme Seele kein Geschick. Ihr Egoismus hindert sie hier : sie blickt ungern überhaupt nach „Oben“, – sondern entweder vor sich, horizontal und langsam, oder hinab : – s ie we i s s s ic h i n d e r Höhe. – 266. „Wahrhaft hochachten kann man nur, wer sich nicht selbst s uc ht“. – Goethe an Rath Schlosser. 267. Es giebt ein Sprüchwort bei den Chinesen, das die Mütter schon ihre Kinder lehren : siao-sin „mache dein Herz k le i n !“ Dies ist der eigentliche Grundhang in späten Civilisationen : ich zweifle nicht, dass ein antiker Grieche auch an uns Europäern von Heute zuerst die Selbstverkleinerung herauserken-

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nen würde, – damit allein schon giengen wir ihm „wider den Geschmack“. – 268. Was ist zuletzt die Gemeinheit ? – Worte sind Tonzeichen für Begriffe ; Begriffe aber sind mehr oder weniger bestimmte Bildzeichen für oft wiederkehrende und zusammen kommende Empfi ndungen, für Empfi ndungs-Gruppen. Es genügt noch nicht, um sich einander zu verstehen, dass man die selben Worte gebraucht : man muss die selben Worte auch für die selbe Gattung innerer Erlebnisse gebrauchen, man muss zuletzt seine Erfahrung mit einander g e me i n haben. Deshalb verstehen sich die Menschen Eines Volkes besser unter einander, als Zugehörige verschiedener Völker, selbst wenn sie sich der gleichen Sprache bedienen ; oder | vielmehr, wenn Menschen lange unter ähnlichen Bedingungen (des Klima’s, des Bodens, der Gefahr, der Bedürfnisse, der Arbeit) zusammen gelebt haben, so e nt s t e ht daraus Etwas, das „sich versteht“, ein Volk. ln allen Seelen hat eine gleiche Anzahl oft wiederkehrender Erlebnisse die Oberhand gewonnen über seltner kommende : auf sie hin versteht man sich, schnell und immer schneller – die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses – ; auf dies schnelle Verstehen hin verbindet man sich, enger und immer enger. Je grösser die Gefährlichkeit, um so grösser ist das Bedürfniss, schnell und leicht über Das, was noth thut, übereinzukommen ; sich in der Gefahr nicht misszuverstehn, das ist es, was die Menschen zum Verkehre schlechterdings nicht entbehren können. Noch bei jeder Freundschaft oder Liebschaft macht man diese Probe : Nichts derart hat Dauer, sobald man dahinter kommt, dass Einer von Beiden bei gleichen Worten anders fühlt, meint, wittert, wünscht, fürchtet, als der Andere. (Die Furcht vor dem „ewigen Missverständniss“ : das ist jener wohlwollende Genius, der Personen verschiedenen Geschlechts so oft von übereilten Verbindungen abhält, zu denen Sinne und

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Herz rathen – und n ic ht irgend ein Schopenhauerischer „Genius der Gattung“ – !) Welche Gruppen von Empfi ndungen innerhalb einer Seele am schnellsten wach werden, das Wort ergreifen, den Befehl geben, das entscheidet über die gesammte Rangordnung ihrer Werthe, das bestimmt zuletzt ihre Gütertafel. Die Werthschätzungen eines Menschen verrathen etwas vom Au f b au seiner Seele, und worin sie ihre Lebensbedingungen, ihre eigentliche Noth sieht. Gesetzt nun, dass die Noth von jeher nur solche Menschen einander angenähert hat, welche mit | ähnlichen Zeichen ähnliche Bedürfnisse, ähnliche Erlebnisse andeuten konnten, so ergiebt sich im Ganzen, dass die leichte M it t he i l b a r k e it der Noth, das heisst im letzten Grunde das Erleben von nur durchschnittlichen und g e me i ne n Erlebnissen, unter allen Gewalten, welche über den Menschen bisher verfügt haben, die gewaltigste gewesen sein muss. Die ähnlicheren, die gewöhnlicheren Menschen waren und sind immer im Vortheile, die Ausgesuchteren, Feineren, Seltsameren, schwerer Verständlichen bleiben leicht allein, unterliegen, bei ihrer Vereinzelung, den Unfällen und pflanzen sich selten fort. Man muss ungeheure Gegenkräfte anrufen, um diesen natürlichen, allzunatürlichen progressus in simile, die Fortbildung des Menschen in’s Ähnliche, Gewöhnliche, Durchschnittliche, Heerdenhafte – in’s G e me i ne ! – zu kreuzen. 269. Je mehr ein Psycholog – ein geborner, ein unvermeidlicher Psycholog und Seelen-Errather – sich den ausgesuchteren Fällen und Menschen zukehrt, um so grösser wird seine Gefahr, am Mitleiden zu ersticken ; er hat Härte und Heiterkeit nöt h i g , mehr als ein andrer Mensch. Die Verderbniss, das Zugrundegehen der höheren Menschen, der fremder gearteten Seelen ist nämlich die Regel : es ist schrecklich, eine solche Regel immer vor Augen zu haben. Die vielfache Marter des Psychologen, der dieses Zugrundegehen entdeckt hat, der diese gesammte

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innere „Heillosigkeit“ des höheren Menschen, dieses ewige „Zu spät !“ in jedem Sinne, erst einmal und dann f a s t immer wieder entdeckt, durch die ganze Geschichte hindurch, – kann vielleicht eines Tages zur Ursache davon werden, dass er mit | Erbitterung sich gegen sein eignes Loos wendet und einen Versuch der Selbst-Zerstörung macht, – dass er selbst „verdirbt“. Man wird fast bei jedem Psychologen eine verrätherische Vorneigung und Lust am Umgange mit alltäglichen und wohlgeordneten Menschen wahrnehmen : daran verräth sich, dass er immer einer Heilung bedarf, dass er eine Art Flucht und Vergessen braucht, weg von dem, was ihm seine Einblicke und Einschnitte, was ihm sein „Handwerk“ auf ’s Gewissen gelegt hat. Die Furcht vor seinem Gedächtniss ist ihm eigen. Er kommt vor dem Urtheile Anderer leicht zum Verstummen : er hört mit einem unbewegten Gesichte zu, wie dort verehrt, bewundert, geliebt, verklärt wird, wo er g e s e he n hat, – oder er verbirgt noch sein Verstummen, indem er irgend einer Vordergrunds-Meinung ausdrücklich zustimmt. Vielleicht geht die Paradoxie seiner Lage so weit in’s Schauerliche, dass die Menge, die Gebildeten, die Schwärmer gerade dort, wo er das grosse Mitleiden neben der grossen Verachtung gelernt hat, ihrerseits die grosse Verehrung lernen, – die Verehrung für „grosse Männer“ und Wunderthiere, um derentwillen man das Vaterland, die Erde, die Würde der Menschheit, sich selber segnet und in Ehren hält, auf welche man die Jugend hinweist, hinerzieht  … Und wer weiss, ob sich nicht bisher in allen grossen Fällen eben das Gleiche begab : dass die Menge einen Gott anbetete, – und dass der „Gott“ nur ein armes Opferthier war ! Der Erfolg war immer der grösste Lügner, – und das „Werk“ selbst ist ein Erfolg ; der grosse Staatsmann, der Eroberer, der Entdecker ist in seine Schöpfungen verkleidet, bis in’s Unerkennbare ; das „Werk“, das des Künstlers, des Philosophen, erfi ndet erst Den, welcher es geschaffen | hat, geschaffen haben soll ; die „grossen Männer“, wie sie verehrt werden,

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sind kleine schlechte Dichtungen hinterdrein ; in der Welt der geschichtlichen Werthe he r r s c ht die Falschmünzerei. Diese grossen Dichter zum Beispiel, diese Byron, Musset, Poe, Leopardi, Kleist, Gogol, – so wie sie nun einmal sind, vielleicht sein müssen : Menschen der Augenblicke, begeistert, sinnlich, kindsköpfisch, im Misstrauen und Vertrauen leichtfertig und plötzlich ; mit Seelen, an denen gewöhnlich irgend ein Bruch verhehlt werden soll ; oft mit ihren Werken Rache nehmend für eine innere Besudelung, oft mit ihren Aufflügen Vergessenheit suchend vor einem allzutreuen Gedächtniss, oft in den Schlamm verirrt und beinahe verliebt, bis sie den Irrlichtern um die Sümpfe herum gleich werden und sich zu Sternen ve r s t e l le n – das Volk nennt sie dann wohl Idealisten – , oft mit einem langen Ekel kämpfend, mit einem wiederkehrenden Gespenst von Unglauben, der kalt macht und sie zwingt, nach gloria zu schmachten und den „Glauben an sich“ aus den Händen berauschter Schmeichler zu fressen : – welche M a r t e r sind diese grossen Künstler und überhaupt die höheren Menschen für Den, der sie einmal errathen hat ! Es ist so begreiflich, dass s ie gerade vom Weibe – welches hellseherisch ist in der Welt des Leidens und leider auch weit über seine Kräfte hinaus hülf- und rettungssüchtig – so leicht jene Ausbrüche unbegrenzten hingebendsten M it le id s erfahren, welche die Menge, vor Allem die verehrende Menge, nicht versteht und mit neugierigen und selbstgefälligen Deutungen überhäuft. Dieses Mitleiden täuscht sich regelmässig über seine Kraft ; das Weib möchte glauben, dass Liebe A l le s vermag, – es ist sein eigentlicher G l au b e. | Ach, der Wissende des Herzens erräth, wie arm, dumm, hülflos, anmaasslich, fehlgreifend, leichter zerstörend als rettend auch die beste tiefste Liebe ist ! – Es ist möglich, dass unter der heiligen Fabel und Verkleidung von Jesu Leben einer der schmerzlichsten Fälle vom Martyrium des W i s s e n s u m d ie L ieb e verborgen liegt : das Martyrium des unschuldigsten und begehrendsten Herzens, das

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an keiner Menschen-Liebe je genug hatte, das Liebe, Geliebtwerden und Nichts ausserdem ve r l a n g t e , mit Härte, mit Wahnsinn, mit furchtbaren Ausbrüchen gegen Die, welche ihm Liebe verweigerten ; die Geschichte eines armen Ungesättigten und Unersättlichen in der Liebe, der die Hölle erfi nden musste, um Die dorthin zu schicken, welche ihn nicht lieben wol lt e n , – und der endlich, wissend geworden über menschliche Liebe, einen Gott erfi nden musste, der ganz Liebe, ganz Lieben- k ö n ne n ist, – der sich der Menschen-Liebe erbarmt, weil sie gar so armselig, so unwissend ist ! Wer so fühlt, wer dergestalt um die Liebe we i s s – , s u c h t den Tod. – Aber warum solchen schmerzlichen Dingen nachhängen ? Gesetzt, dass man es nicht muss. – 270. Der geistige Hochmuth und Ekel jedes Menschen, der tief gelitten hat – es bestimmt beinahe die Rangordnung, w ie tief Menschen leiden können – , seine schaudernde Gewissheit, von der er ganz durchtränkt und gefärbt ist, vermöge seines Leidens me h r z u w i s s e n , als die Klügsten und Weisesten wissen können, in vielen fernen entsetzlichen Welten bekannt und einmal „zu Hause“ gewesen zu sein, von denen „ i h r nichts wisst !“… dieser geistige schweigende Hoch|muth des Leidenden, dieser Stolz des Auserwählten der Erkenntniss, des „Eingeweihten“, des beinahe Geopferten fi ndet alle Formen von Verkleidung nöthig, um sich vor der Berührung mit zudringlichen und mitleidigen Händen und überhaupt vor Allem, was nicht Seinesgleichen im Schmerz ist, zu schützen. Das tiefe Leiden macht vornehm ; es trennt. Eine der feinsten Verkleidungs-Formen ist der Epicureismus und eine gewisse fürderhin zur Schau getragene Tapferkeit des Geschmacks, welche das Leiden leichtfertig nimmt und sich gegen alles Traurige und Tiefe zur Wehre setzt. Es giebt „heitere Menschen“, welche sich der Heiterkeit bedienen, weil sie um ihretwillen missverstanden werden : – sie wol le n missverstan-

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den sein. Es giebt „wissenschaftliche Menschen“, welche sich der Wissenschaft bedienen, weil dieselbe einen heiteren Anschein giebt, und weil Wissenschaftlichkeit darauf schliessen lässt, dass der Mensch oberflächlich ist : – sie wol le n zu einem falschen Schlusse verführen. Es giebt freie freche Geister, welche verbergen und verleugnen möchten, dass sie zerbrochene stolze unheilbare Herzen sind ; und bisweilen ist die Narrheit selbst die Maske für ein unseliges allzugewisses Wissen. – Woraus sich ergiebt, dass es zur feineren Menschlichkeit gehört, Ehrfurcht „vor der Maske“ zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologie und Neugierde zu treiben. 271. Was am tiefsten zwei Menschen trennt, das ist ein verschiedener Sinn und Grad der Reinlichkeit. Was hilft alle Bravheit und gegenseitige Nützlichkeit, was hilft aller guter Wille für einander : zuletzt bleibt es dabei – sie „können sich nicht riechen !“ Der höchste | Instinkt der Reinlichkeit stellt den mit ihm Behafteten in die wunderlichste und gefährlichste Vereinsamung, als einen Heiligen : denn eben das ist Heiligkeit – die höchste Vergeistigung des genannten Instinktes. Irgend ein Mitwissen um eine unbeschreibliche Fülle im Glück des Bades, irgend eine Brunst und Durstigkeit, welche die Seele beständig aus der Nacht in den Morgen und aus dem Trüben, der „Trübsal“, in’s Helle, Glänzende, Tiefe, Feine treibt – : eben so sehr als ein solcher Hang au s z e ic h net – es ist ein vornehmer Hang – , t r e n nt er auch. – Das Mitleiden des Heiligen ist das Mitleiden mit dem S c h mut z des Menschlichen, Allzumenschlichen. Und es giebt Grade und Höhen, wo das Mitleiden selbst von ihm als Verunreinigung, als Schmutz gefühlt wird … 272. Zeichen der Vornehmheit : nie daran denken, unsre Pfl ichten zu Pfl ichten für Jedermann herabzusetzen ; die eigene Ver-

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antwortlichkeit nicht abgeben wollen, nicht theilen wollen ; seine Vorrechte und deren Ausübung unter seine P f l ic ht e n rechnen. 273. Ein Mensch, der nach Grossem strebt, betrachtet Jedermann, dem er auf seiner Bahn begegnet, entweder als Mittel oder als Verzögerung und Hemmniss – oder als zeitweiliges Ruhebett. Seine ihm eigenthümliche hochgeartete G ü t e gegen Mitmenschen ist erst möglich, wenn er auf seiner Höhe ist und herrscht. Die Ungeduld und sein Bewusstsein, bis dahin immer zur Komödie verurtheilt zu sein – denn selbst der Krieg ist eine Komödie und verbirgt, wie jedes Mittel den Zweck ver|birgt – , verdirbt ihm jeden Umgang : diese Art Mensch kennt die Einsamkeit und was sie vom Giftigsten an sich hat. 274. D a s P r o b l e m d e r Wa r t e n d e n . – Es sind Glücksfälle dazu nöthig und vielerlei Unberechenbares, dass ein höherer Mensch, in dem die Lösung eines Problems schläft, noch zur rechten Zeit zum Handeln kommt – „zum Ausbruch“, wie man sagen könnte. Es geschieht durchschnittlich n ic ht , und in allen Winkeln der Erde sitzen Wartende, die es kaum wissen, in wiefern sie warten, noch weniger aber, dass sie umsonst warten. Mitunter auch kommt der Weckruf zu spät, jener Zufall, der die „Erlaubniss“ zum Handeln giebt, – dann, wenn bereits die beste Jugend und Kraft zum Handeln durch Stillsitzen verbraucht ist ; und wie Mancher fand, eben als er „aufsprang“, mit Schrecken seine Glieder eingeschlafen und seinen Geist schon zu schwer ! „Es ist zu spät“ – sagte er sich, ungläubig über sich geworden und nunmehr für immer unnütz. – Sollte, im Reiche des Genie’s, der „Raffael ohne Hände“, das Wort im weitesten Sinn verstanden, vielleicht nicht die Ausnahme, sondern die Regel sein ? – Das Genie ist vielleicht gar nicht so selten : aber die fünfhundert H ä nd e,

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die es nöthig hat, um den καιρς, „die rechte Zeit“ – zu tyrannisiren, um den Zufall am Schopf zu fassen ! 275. Wer das Hohe eines Menschen nicht sehen w i l l , blickt um so schärfer nach dem, was niedrig und Vordergrund an ihm ist – und verräth sich selbst damit. | 276. Bei aller Art von Verletzung und Verlust ist die niedere und gröbere Seele besser daran, als die vornehmere : die Gefahren der letzteren müssen grösser sein, ihre Wahrscheinlichkeit, dass sie verunglückt und zu Grunde geht, ist sogar, bei der Vielfachheit ihrer Lebensbedingungen, ungeheuer. – Bei einer Eidechse wächst ein Finger nach, der ihr verloren ging : nicht so beim Menschen. – 277. – Schlimm genug ! Wieder die alte Geschichte ! Wenn man sich sein Haus fertig gebaut hat, merkt man, unversehens Etwas dabei gelernt zu haben, das man schlechterdings hätte wissen mü s s e n , bevor man zu bauen – anfieng. Das ewige leidige „Zu spät !“ – Die Melancholie alles Fe r t i g e n ! … 278. – Wanderer, wer bist du ? Ich sehe dich deines Weges gehn, ohne Hohn, ohne Liebe, mit unerrathbaren Augen ; feucht und traurig wie ein Senkblei, das ungesättigt aus jeder Tiefe wieder an’s Licht gekommen – was suchte es da unten ? – , mit einer Brust, die nicht seufzt, mit einer Lippe, die ihren Ekel verbirgt, mit einer Hand, die nur noch langsam greift : wer bist du ? was thatest du ? Ruhe dich hier aus : diese Stelle ist gastfreundlich für Jedermann, – erhole dich ! Und wer du auch sein magst : was gefällt dir jetzt ? Was dient dir zur Erholung ?

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Nenne es nur : was ich habe, biete ich dir an ! – „Zur Erholung ? Zur Erholung ? Oh du Neugieriger, was sprichst du da ! Aber gieb mir, ich | bitte – –“ Was ? Was ? sprich es aus ! – „Eine Maske mehr ! Eine zweite Maske !“ … 279. Die Menschen der tiefen Traurigkeit verrathen sich, wenn sie glücklich sind : sie haben eine Art, das Glück zu fassen, wie als ob sie es erdrücken und ersticken möchten, aus Eifersucht, – ach, sie wissen zu gut, dass es ihnen davonläuft ! 280. „Schlimm ! Schlimm ! Wie ? geht er nicht – zurück ?“ – Ja ! Aber ihr versteht ihn schlecht, wenn ihr darüber klagt. Er geht zurück, wie Jeder, der einen grossen Sprung thun will. – – 281. – „Wird man es mir glauben ? aber ich verlange, dass man mir es glaubt : ich habe immer nur schlecht an mich, über mich gedacht, nur in ganz seltnen Fällen, nur gezwungen, immer ohne Lust „zur Sache“, bereit, von „mir“ abzuschweifen, immer ohne Glauben an das Ergebniss, Dank einem unbezwinglichen Misstrauen gegen die Mög l ic h k e it der SelbstErkenntniss, das mich so weit geführt hat, selbst am Begriff „unmittelbare Erkenntniss“, welchen sich die Theoretiker erlauben, eine contradictio in adjecto zu empfi nden : – diese ganze Thatsache ist beinahe das Sicherste, was ich über mich weiss. Es muss eine Art Widerwillen in mir geben, etwas Bestimmtes über mich zu g l au b e n . – Steckt darin vielleicht ein Räthsel ? Wahrscheinlich ; aber glücklicherweise keins für meine eigenen Zähne. – Vielleicht verräth es die species, zu der ich gehöre ? – Aber nicht mir : wie es mir selbst erwünscht genug ist. –“ |

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282. „Aber was ist dir begegnet ?“ – „Ich weiss es nicht, sagte er zögernd ; vielleicht sind mir die Harpyien über den Tisch geflogen.“ – Es kommt heute bisweilen vor, dass ein milder mässiger zurückhaltender Mensch plötzlich rasend wird, die Teller zerschlägt, den Tisch umwirft, schreit, tobt, alle Welt beleidigt – und endlich bei Seite geht, beschämt, wüthend über sich, – wohin ? wozu ? Um abseits zu verhungern ? Um an seiner Erinnerung zu ersticken ? – Wer die Begierden einer hohen wählerischen Seele hat und nur selten seinen Tisch gedeckt, seine Nahrung bereit fi ndet, dessen Gefahr wird zu allen Zeiten gross sein : heute aber ist sie ausserordentlich. In ein lärmendes und pöbelhaftes Zeitalter hineingeworfen, mit dem er nicht aus Einer Schüssel essen mag, kann er leicht vor Hunger und Durst, oder, falls er endlich dennoch „zugreift“ – vor plötzlichem Ekel zu Grunde gehn. – Wir haben wahrscheinlich Alle schon an Tischen gesessen, wo wir nicht hingehörten ; und gerade die Geistigsten von uns, die am schwersten zu ernähren sind, kennen jene gefährliche dyspepsia, welche aus einer plötzlichen Einsicht und Enttäuschung über unsre Kost und Tischnachbarschaft entsteht, – den Nac ht i s c h - E k e l . 283. Es ist eine feine und zugleich vornehme Selbstbeherrschung, gesetzt, dass man überhaupt loben will, immer nur da zu loben, wo man n ic ht übereinstimmt : – im andern Falle würde man ja sich selbst loben, was wider den guten Geschmack geht – freilich eine Selbstbeherrschung, die einen artigen Anlass und Anstoss bietet, um beständig m i s s ve r s t a nd e n zu wer|den. Man muss, um sich diesen wirklichen Luxus von Geschmack und Moralität gestatten zu dürfen, nicht unter Tölpeln des Geistes leben, vielmehr unter Menschen, bei denen Missverständnisse und Fehlgriffe noch durch ihre Feinheit belustigen, – oder man wird es theuer büssen müssen ! – „Er

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lobt mich : a l s o giebt er mir Recht“ – diese Eselei von Schlussfolgerung verdirbt uns Einsiedlern das halbe Leben, denn es bringt die Esel in unsre Nachbarschaft und Freundschaft. 284. Mit einer ungeheuren und stolzen Gelassenheit leben ; immer jenseits –. Seine Affekte, sein Für und Wider willkürlich haben und nicht haben, sich auf sie herablassen, für Stunden ; sich auf sie s et z e n , wie auf Pferde, oft wie auf Esel : – man muss nämlich ihre Dummheit so gut wie ihr Feuer zu nützen wissen. Seine dreihundert Vordergründe sich bewahren ; auch die schwarze Brille : denn es giebt Fälle, wo uns Niemand in die Augen, noch weniger in unsre „Gründe“ sehn darf. Und jenes spitzbübische und heitre Laster sich zur Gesellschaft wählen, die Höflichkeit. Und Herr seiner vier Tugenden bleiben, des Muthes, der Einsicht, des Mitgefühls, der Einsamkeit. Denn die Einsamkeit ist bei uns eine Tugend, als ein sublimer Hang und Drang der Reinlichkeit, welcher erräth, wie es bei Berührung von Mensch und Mensch – „in Gesellschaft“ – unvermeidlich-unreinlich zugehn muss. Jede Gemeinschaft macht, irgendwie, irgendwo, irgendwann – „gemein“. 285. Die grössten Ereignisse und Gedanken – aber die grössten Gedanken sind die grössten Ereignisse – wer|den am spätesten begriffen : die Geschlechter, welche mit ihnen gleichzeitig sind, e rleb e n solche Ereignisse nicht, – sie leben daran vorbei. Es geschieht da Etwas, wie im Reich der Sterne. Das Licht der fernsten Sterne kommt am spätesten zu den Menschen ; und bevor es nicht angekommen ist, leu g net der Mensch, dass es dort – Sterne giebt. „Wie viel Jahrhunderte braucht ein Geist, um begriffen zu werden ?“ – das ist auch ein Maassstab, damit schaff t man auch eine Rangordnung und Etiquette, wie sie noth thut : für Geist und Stern. –

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286. „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“. – Es giebt aber eine umgekehrte Art von Menschen, welche auch auf der Höhe ist und auch die Aussicht frei hat – aber h i n a b blickt. 287. – Was ist vornehm ? Was bedeutet uns heute noch das Wort „vornehm“ ? Woran verräth sich, woran erkennt man, unter diesem schweren verhängten Himmel der beginnenden Pöbelherrschaft, durch den Alles undurchsichtig und bleiern wird, der vornehme Mensch ? – Es sind nicht die Handlungen, die ihn beweisen, – Handlungen sind immer vieldeutig, immer unergründlich – ; es sind auch die „Werke“ nicht. Man fi ndet heute unter Künstlern und Gelehrten genug von Solchen, welche durch ihre Werke verrathen, wie eine tiefe Begierde nach dem Vornehmen hin sie treibt : aber gerade dies Bedürfniss n ac h dem Vornehmen ist von Grund aus verschieden von den Bedürfnissen der vornehmen Seele selbst, und geradezu das beredte und gefährliche Merkmal ihres Mangels. Es sind nicht die | Werke, es ist der G l au b e, der hier entscheidet, der hier die Rangordnung feststellt, um eine alte religiöse Formel in einem neuen und tieferen Verstande wieder aufzunehmen : irgend eine Grundgewissheit, welche eine vornehme Seele über sich selbst hat, Etwas, das sich nicht suchen, nicht fi nden und vielleicht auch nicht verlieren lässt. – D ie vor ne h me S e e le h at E h r f u r c ht vor s ic h . – 288. Es giebt Menschen, welche auf eine unvermeidliche Weise Geist haben, sie mögen sich drehen und wenden, wie sie wollen, und die Hände vor die verrätherischen Augen halten (– als ob die Hand kein Verräther wäre ! –) : schliesslich kommt es immer heraus, dass sie Etwas haben, das sie verbergen, nämlich Geist. Eins der feinsten Mittel, um wenigstens so lange als

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möglich zu täuschen und sich mit Erfolg dümmer zu stellen als man ist – was im gemeinen Leben oft so wünschenswerth ist wie ein Regenschirm – heisst B e g e i s t e r u n g : hinzugerechnet, was hinzu gehört, zum Beispiel Tugend. Denn, wie Galiani sagt, der es wissen musste – : vertu est enthousiasme. 289. Man hört den Schriften eines Einsiedlers immer auch Etwas von dem Wiederhall der Oede, Etwas von dem Flüstertone und dem scheuen Umsichblicken der Einsamkeit an ; aus seinen stärksten Worten, aus seinem Schrei selbst klingt noch eine neue und gefährlichere Art des Schweigens, Verschweigens heraus. Wer Jahraus, Jahrein und Tags und Nachts allein mit seiner Seele im vertraulichen Zwiste und Zwiegespräche zu|sammengesessen hat, wer in seiner Höhle – sie kann ein Labyrinth, aber auch ein Goldschacht sein – zum Höhlenbär oder Schatzgräber oder Schatzwächter und Drachen wurde : dessen Begriffe selber erhalten zuletzt eine eigne ZwielichtFarbe, einen Geruch ebenso sehr der Tiefe als des Moders, etwas Unmittheilsames und Widerwilliges, das jeden Vorübergehenden kalt anbläst. Der Einsiedler glaubt nicht daran, dass jemals ein Philosoph – gesetzt, dass ein Philosoph immer vorerst ein Einsiedler war – seine eigentlichen und letzten Meinungen in Büchern ausgedrückt habe : schreibt man nicht gerade Bücher, um zu verbergen, was man bei sich birgt ? – ja er wird zweifeln, ob ein Philosoph „letzte und eigentliche“ Meinungen überhaupt haben k ö n ne, ob bei ihm nicht hinter jeder Höhle noch eine tiefere Höhle liege, liegen müsse – eine umfänglichere fremdere reichere Welt über einer Oberfläche, ein Abgrund hinter jedem Grunde, unter jeder „Begründung“. Jede Philosophie ist eine Vordergrunds-Philosophie – das ist ein Einsiedler-Urtheil : „es ist etwas Willkürliches daran, dass e r hier stehen blieb, zurückblickte, sich umblickte, dass er h ie r nicht mehr tiefer grub und den Spaten weglegte, – es ist

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auch etwas Misstrauisches daran.“ Jede Philosophie ve r b i r g t auch eine Philosophie ; jede Meinung ist auch ein Versteck, jedes Wort auch eine Maske. 290. Jeder tiefe Denker fürchtet mehr das Verstanden-werden, als das Missverstanden-werden. Am Letzteren leidet vielleicht seine Eitelkeit ; am Ersteren aber sein Herz, sein Mitgefühl, welches immer spricht : „ach, warum wollt i h r es auch so schwer haben, wie ich ?“ | 291. Der Mensch, ein vielfaches, verlogenes, künstliches und undurchsichtiges Thier, den andern Thieren weniger durch Kraft, als durch List und Klugheit unheimlich, hat das gute Gewissen erfunden, um seine Seele einmal als e i n f ac h zu geniessen ; und die ganze Moral ist eine beherzte lange Fälschung, vermöge deren überhaupt ein Genuss im Anblick der Seele möglich wird. Unter diesem Gesichtspunkte gehört vielleicht viel Mehr in den Begriff „Kunst“ hinein, als man gemeinhin glaubt. 292. Ein Philosoph : das ist ein Mensch, der beständig ausserordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hoff t, träumt ; der von seinen eignen Gedanken wie von Aussen her, wie von Oben und Unten her, als von s e i n e r Art Ereignissen und Blitzschlägen getroffen wird ; der selbst vielleicht ein Gewitter ist, welches mit neuen Blitzen schwanger geht ; ein verhängnissvoller Mensch, um den herum es immer grollt und brummt und klaff t und unheimlich zugeht. Ein Philosoph : ach, ein Wesen, das oft von sich davon läuft, oft vor sich Furcht hat, – aber zu neugierig ist, um nicht immer wieder „zu sich zu kommen“ … 293. Ein Mann, der sagt : „das gefällt mir, das nehme ich zu eigen und will es schützen und gegen Jedermann vertheidigen“ ; ein

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Mann, der eine Sache führen, einen Entschluss durchführen, einem Gedanken Treue wahren, ein Weib festhalten, einen Verwegenen strafen und niederwerfen kann ; ein Mann, der seinen Zorn und sein Schwert hat, und dem die Schwachen, Leidenden, Bedrängten, auch die Thiere gern zufallen und von Natur | zugehören, kurz ein Mann, der von Natur He r r ist, – wenn ein solcher Mann Mitleiden hat, nun ! d ie s Mitleiden hat Werth ! Aber was liegt am Mitleiden Derer, welche leiden ! Oder Derer, welche gar Mitleiden predigen ! Es giebt heute fast überall in Europa eine krankhafte Empfi ndlichkeit und Reizbarkeit für Schmerz, insgleichen eine widrige Unenthaltsamkeit in der Klage, eine Verzärtlichung, welche sich mit Religion und philosophischem Krimskrams zu etwas Höherem aufputzen möchte, – es giebt einen förmlichen Cultus des Leidens. Die Un m ä n n l ic h k e it dessen, was in solchen Schwärmerkreisen „Mitleid“ getauft wird, springt, wie ich meine, immer zuerst in die Augen. – Man muss diese neueste Art des schlechten Geschmacks kräftig und gründlich in den Bann thun ; und ich wünsche endlich, dass man das gute Amulet „gai saber“ sich dagegen um Herz und Hals lege, – „fröhliche Wissenschaft“, um es den Deutschen zu verdeutlichen. 294. D a s ol y m p i s c he L a s t e r. – Jenem Philosophen zum Trotz, der als ächter Engländer dem Lachen bei allen denkenden Köpfen eine üble Nachrede zu schaffen suchte – „das Lachen ist ein arges Gebreste der menschlichen Natur, welches jeder denkende Kopf zu überwinden bestrebt sein wird“ (Hobbes) – würde ich mir sogar eine Rangordnung der Philosophen erlauben, je nach dem Range ihres Lachens – bis hinauf zu denen, die des g old ne n Gelächters fähig sind. Und gesetzt, dass auch Götter philosophiren, wozu mich mancher Schluss schon gedrängt hat – , so zweifle ich nicht, dass sie dabei auch auf eine übermenschliche und neue Weise zu lachen wissen –

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und auf Unkosten | aller ernsten Dinge ! Götter sind spottlustig : es scheint, sie können selbst bei heiligen Handlungen das Lachen nicht lassen. 295. Das Genie des Herzens, wie es jener grosse Verborgene hat, der Versucher-Gott und geborene Rattenfänger der Gewissen, dessen Stimme bis in die Unterwelt jeder Seele hinabzusteigen weiss, welcher nicht ein Wort sagt, nicht einen Blick blickt, in dem nicht eine Rücksicht und Falte der Lockung läge, zu dessen Meisterschaft es gehört, dass er zu scheinen versteht – und nicht Das, was er ist, sondern was Denen, die ihm folgen, ein Zwang me h r ist, um sich immer näher an ihn zu drängen, um ihm immer innerlicher und gründlicher zu folgen : – das Genie des Herzens, das alles Laute und Selbstgefällige verstummen macht und horchen lehrt, das die rauhen Seelen glättet und ihnen ein neues Verlangen zu kosten giebt, – still zu liegen wie ein Spiegel, dass sich der tiefe Himmel auf ihnen spiegele – ; das Genie des Herzens, das die tölpische und überrasche Hand zögern und zierlicher greifen lehrt ; das den verborgenen und vergessenen Schatz, den Tropfen Güte und süsser Geistigkeit unter trübem dickem Eise erräth und eine Wünschelruthe für jedes Korn Goldes ist, welches lange im Kerker vielen Schlamms und Sandes begraben lag ; das Genie des Herzens, von dessen Berührung Jeder reicher fortgeht, nicht begnadet und überrascht, nicht wie von fremdem Gute beglückt und bedrückt, sondern reicher an sich selber, sich neuer als zuvor, aufgebrochen, von einem Thauwinde angeweht und ausgehorcht, unsicherer vielleicht, zärtlicher zerbrechlicher zerbrochener, aber voll Hoff nungen, die noch keinen Namen haben, voll neuen | Willens und Strömens, voll neuen Unwillens und Zurückströmens … aber was thue ich, meine Freunde ? Von wem rede ich zu euch ? Vergass ich mich soweit, dass ich euch nicht einmal seinen Namen nannte ? Es sei denn, dass ihr nicht schon von selbst erriethet, wer die-

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ser fragwürdige Geist und Gott ist, der in solcher Weise g e lo bt sein will. Wie es nämlich einem Jeden ergeht, der von Kindesbeinen an immer unterwegs und in der Fremde war, so sind auch mir manche seltsame und nicht ungefährliche Geister über den Weg gelaufen, vor Allem aber der, von dem ich eben sprach, und dieser immer wieder, kein Geringerer nämlich, als der Gott D io ny s o s , jener grosse Zweideutige und Versucher Gott, dem ich einstmals, wie ihr wisst, in aller Heimlichkeit und Ehrfurcht meine Erstlinge dargebracht habe – als der Letzte, wie mir scheint, der ihm ein O pf e r dargebracht hat : denn ich fand Keinen, der es verstanden hätte, was ich damals that. Inzwischen lernte ich Vieles, Allzuvieles über die Philosophie dieses Gottes hinzu, und, wie gesagt, von Mund zu Mund, – ich, der letzte Jünger und Eingeweihte des Gottes Dionysos : und ich dürfte wohl endlich einmal damit anfangen, euch, meinen Freunden, ein Wenig, so weit es mir erlaubt ist, von dieser Philosophie zu kosten zu geben ? Mit halber Stimme, wie billig : denn es handelt sich dabei um mancherlei Heimliches, Neues, Fremdes, Wunderliches, Unheimliches. Schon dass Dionysos ein Philosoph ist, und dass also auch Götter philosophiren, scheint mir eine Neuigkeit, welche nicht unverfänglich ist und die vielleicht gerade unter Philosophen Misstrauen erregen möchte, – unter euch, meine Freunde, hat sie schon weniger gegen sich, es sei denn, dass sie zu spät und nicht zur rech|ten Stunde kommt : denn ihr glaubt heute ungern, wie man mir verrathen hat, an Gott und Götter. Vielleicht auch, dass ich in der Freimüthigkeit meiner Erzählung weiter gehn muss, als den strengen Gewohnheiten eurer Ohren immer liebsam ist ? Gewisslich gieng der genannte Gott bei dergleichen Zwiegesprächen weiter, sehr viel weiter, und war immer um viele Schritte mir voraus … Ja ich würde, falls es erlaubt wäre, ihm nach Menschenbrauch schöne feierliche Prunk- und Tugendnamen beizulegen, viel Rühmens von seinem Forscher- und Entdecker-Muthe, von seiner gewagten

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Neuntes Hauptstück

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Redlichkeit, Wahrhaftigkeit und Liebe zur Weisheit zu machen haben. Aber mit all diesem ehrwürdigen Plunder und Prunk weiss ein solcher Gott nichts anzufangen. „Behalte dies, würde er sagen, für dich und deines Gleichen und wer sonst es nöthig hat ! Ich – habe keinen Grund, meine Blösse zu decken !“ – Man erräth : es fehlt dieser Art von Gottheit und Philosophen vielleicht an Scham ? – So sagte er einmal : „unter Umständen liebe ich den Menschen – und dabei spielte er auf Ariadne an, die zugegen war – : der Mensch ist mir ein angenehmes tapferes erfi nderisches Thier, das auf Erden nicht seines Gleichen hat, es fi ndet sich in allen Labyrinthen noch zurecht. Ich bin ihm gut : ich denke oft darüber nach, wie ich ihn noch vorwärts bringe und ihn stärker, böser und tiefer mache, als er ist.“ – „Stärker, böser und tiefer ?“ fragte ich erschreckt. „Ja, sagte er noch Ein Mal, stärker, böser und tiefer ; auch schöner“ – und dazu lächelte der Versucher-Gott mit seinem halkyonischen Lächeln, wie als ob er eben eine bezaubernde Artigkeit gesagt habe. Man sieht hier zugleich : es fehlt dieser Gottheit nicht nur an Scham – ; und es giebt überhaupt gute Gründe | dafür, zu muthmaassen, dass in einigen Stükken die Götter insgesammt bei uns Menschen in die Schule gehn könnten. Wir Menschen sind – menschlicher … 296. Ach, was seid ihr doch, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken ! Es ist nicht lange her, da wart ihr noch so bunt, jung und boshaft, voller Stacheln und geheimer Würzen, dass ihr mich niesen und lachen machtet – und jetzt ? Schon habt ihr eure Neuheit ausgezogen, und einige von euch sind, ich fürchte es, bereit, zu Wahrheiten zu werden : so unsterblich sehn sie bereits aus, so herzbrechend rechtschaffen, so langweilig ! Und war es jemals anders ? Welche Sachen schreiben und malen wir denn ab, wir Mandarinen mit chinesischem Pinsel, wir Verewiger der Dinge, welche sich schreiben l a s -

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was ist vornehm ?

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s e n , was vermögen wir denn allein abzumalen ? Ach, immer nur Das, was eben welk werden will und anfängt, sich zu verriechen ! Ach, immer nur abziehende und erschöpfte Gewitter und gelbe späte Gefühle ! Ach, immer nur Vögel, die sich müde flogen und verflogen und sich nun mit der Hand haschen lassen, – mit u n s e r e r Hand ! Wir verewigen, was nicht mehr lange leben und fl iegen kann, müde und mürbe Dinge allein ! Und nur euer Nac h m it t a g ist es, ihr meine geschriebenen und gemalten Gedanken, für den allein ich Farben habe, viel Farben vielleicht, viel bunte Zärtlichkeiten und fünfzig Gelbs und Brauns und Grüns und Roths : – aber Niemand erräth mir daraus, wie ihr in eurem Morgen aussahet, ihr plötzlichen Funken und Wunder meiner Einsamkeit, ihr meine alten geliebten – – s c h l i m me n Gedanken ! * * * |

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Aus hohen Bergen. Nachgesang.

Oh Lebens Mittag ! Feierliche Zeit ! Oh Sommergarten ! Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten : – Der Freunde harr’ ich, Tag und Nacht bereit, Wo bleibt ihr Freunde ? Kommt ! ’s ist Zeit ! ’s ist Zeit ! War’s nicht für euch, dass sich des Gletschers Grau Heut schmückt mit Rosen ? Euch sucht der Bach, sehnsüchtig drängen, stossen Sich Wind und Wolke höher heut in’s Blau, Nach euch zu spähn aus fernster Vogel-Schau. Im Höchsten ward für euch mein Tisch gedeckt : – Wer wohnt den Sternen So nahe, wer des Abgrunds grausten Fernen ? Mein Reich – welch Reich hat weiter sich gereckt ? Und meinen Honig – wer hat ihn geschmeckt ? … – Da s e id ihr, Freunde ! – Weh, doch ic h bin’s nicht, Zu dem ihr wolltet ? Ihr zögert, staunt – ach, dass ihr lieber grolltet ! Ich – bin’s nicht mehr ? Vertauscht Hand, Schritt, Gesicht ? Und w a s ich bin, euch Freunden – bin ich’s nicht ? Ein Andrer ward ich ? Und mir selber fremd ? Mir selbst entsprungen ? Ein Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen ? Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt, Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt ? |

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Aus hohen Bergen.

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Ich suchte, wo der Wind am schärfsten weht ? Ich lernte wohnen, Wo Niemand wohnt, in öden Eisbär-Zonen, Verlernte Mensch und Gott, Fluch und Gebet ? Ward zum Gespenst, das über Gletscher geht ? – Ihr alten Freunde ! Seht ! Nun blickt ihr bleich, Voll Lieb’ und Grausen ! Nein, geht ! Zürnt nicht ! Hier – könntet i h r nicht hausen : Hier zwischen fernstem Eis- und Felsenreich – Hier muss man Jäger sein und gemsengleich. Ein s c h l i m me r Jäger ward ich ! – Seht, wie steil Gespannt mein Bogen ! Der Stärkste war’s, der solchen Zug gezogen – – : Doch wehe nun ! Gefährlich ist d e r Pfeil, Wie k e i n Pfeil, – fort von hier ! Zu eurem Heil ! … Ihr wendet euch ? – Oh Herz, du trugst genung, Stark blieb dein Hoffen : Halt n eue n Freunden deine Thüren offen ! Die alten lass ! Lass die Erinnerung ! Warst einst du jung, jetzt – bist du besser jung ! Was je uns knüpfte, Einer Hoff nung Band, – Wer liest die Zeichen, Die Liebe einst hineinschrieb, noch, die bleichen ? Dem Pergament vergleich ich’s, das die Hand Zu fassen s c heut , – ihm gleich verbräunt, verbrannt. Nicht Freunde mehr, das sind – wie nenn’ ich’s doch ? – Nur Freunds-Gespenster ! Das klopft mir wohl noch Nachts an Herz und Fenster, Das sieht mich an und spricht : „wir w a r e n’s doch ?“ – – Oh welkes Wort, das einst wie Rosen roch ! |

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Nachgesang

Oh Jugend-Sehnen, das sich missverstand ! Die ic h ersehnte, Die ich mir selbst verwandt-verwandelt wähnte, Dass a lt sie wurden, hat sie weggebannt : Nur wer sich wandelt, bleibt mit mir verwandt. Oh Lebens Mittag ! Zweite Jugendzeit ! Oh Sommergarten ! Unruhig Glück im Stehn und Spähn und Warten ! Der Freunde harr’ ich, Tag und Nacht bereit, Der n eue n Freunde ! Kommt ! ’s ist Zeit ! ’s ist Zeit ! * * *

D ie s Lied ist aus, – der Sehnsucht süsser Schrei Erstarb im Munde : Ein Zaubrer that’s, der Freund zur rechten Stunde, Der Mittags-Freund – nein ! fragt nicht, wer es sei – Um Mittag war’s, da wurde Eins zu Zwei … Nun feiern wir, vereinten Siegs gewiss, Das Fest der Feste : Freund Z a r at hu s t r a kam, der Gast der Gäste ! Nun lacht die Welt, der grause Vorhang riss, Die Hochzeit kam für Licht und Finsterniss … * * *

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Friedrich Nietzsche

Die Geburt der Tragödie. Oder : Griechenthum und Pessimismus. Neue Ausgabe mit dem Versuch einer Selbstkritik.

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Versuch einer Selbstkritik.

1. Was auch diesem fragwürdigen Buche zu Grunde liegen mag : es muss eine Frage ersten Ranges und Reizes gewesen sein, noch dazu eine tief persönliche Frage, – Zeugniss dafür ist die Zeit, in der es entstand, t r ot z der es entstand, die aufregende Zeit des deutsch-französischen Krieges von 1870/71. Während die Donner der Schlacht von Wörth über Europa weggiengen, sass der Grübler und Räthselfreund, dem die Vaterschaft dieses Buches zu Theil ward, irgendwo in einem Winkel der Alpen, sehr vergrübelt und verräthselt, folglich sehr bekümmert und unbekümmert zugleich, und schrieb seine Gedanken über die Gr ie c he n nieder, – den Kern des wunderlichen und schlecht zugänglichen Buches, dem diese späte Vorrede (oder Nachrede) gewidmet sein soll. Einige Wochen darauf : und er befand sich selbst unter den Mauern von Metz, immer noch nicht losgekommen von den Fragezeichen, die er zur vorgeblichen „Heiterkeit“ der Griechen und der griechischen Kunst gesetzt hatte ; bis er endlich, in jenem Monat tiefster Span|nung, als man in Versailles über den Frieden berieth, auch mit sich zum Frieden kam und, langsam von einer aus dem Felde heimgebrachten Krankheit genesend, die „Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Mu s i k“ letztgültig bei sich feststellte. – Aus der Musik ? Musik und Tragödie ? Griechen und Tragödien-Musik ? Griechen und das Kunstwerk des Pessimismus ? Die wohlgerathenste, schönste, bestbeneidete, zum Leben verführendste Art der bisherigen Menschen, die Griechen – wie ? gerade sie hatten die Tragödie nöt h i g ? Mehr noch – die Kunst ? Wozu – griechische Kunst ? … Man erräth, an welche Stelle hiermit das grosse Fragezeichen vom Werth des Daseins gesetzt war. Ist Pessimis-

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Die Geburt der Tragödie

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mus n ot hwe n d i g das Zeichen des Niedergangs, Verfalls, des Missrathenseins, der ermüdeten und geschwächten Instinkte ? – wie er es bei den Indern war, wie er es, allem Anschein nach, bei uns, den „modernen“ Menschen und Europäern ist ? Giebt es einen Pessimismus der S t ä r k e ? Eine intellektuelle Vorneigung für das Harte, Schauerliche, Böse, Problematische des Daseins aus Wohlsein, aus überströmender Gesundheit, aus F ü l le des Daseins ? Giebt es vielleicht ein Leiden an der Ueberfülle selbst ? Eine versucherische Tapferkeit des schärfsten Blicks, die nach dem Furchtbaren ve r l a n g t , als nach dem Feinde, dem würdigen Feinde, an dem sie ihre Kraft erproben kann ? an dem sie lernen will, was „das Fürchten“ ist ? Was bedeutet, gerade bei den Griechen der besten, stärksten, tapfersten Zeit, der t r a g i s c he Mythus ? Und das ungeheure Phänomen des Dionysischen ? Was, aus ihm geboren, die Tragödie ? – | Und wiederum : das, woran die Tragödie starb, der Sokratismus der Moral, die Dialektik, Genügsamkeit und Heiterkeit des theoretischen Menschen  – wie ? könnte nicht gerade dieser Sokratismus ein Zeichen des Niedergangs, der Ermüdung, Erkrankung, der anarchisch sich lösenden Instinkte sein ? Und die „griechische Heiterkeit“ des späteren Griechenthums nur eine Abendröthe ? Der epikurische Wille g e g e n den Pessimismus nur eine Vorsicht des Leidenden ? Und die Wissenschaft selbst, unsere Wissenschaft – ja, was bedeutet überhaupt, als Symptom des Lebens angesehen, alle Wissenschaft ? Wozu, schlimmer noch, wo he r – alle Wissenschaft ? Wie ? Ist Wissenschaftlichkeit vielleicht nur eine Furcht und Ausflucht vor dem Pessimismus ? Eine feine Nothwehr gegen – die Wa h r h e it ? Und, moralisch geredet, etwas wie Feig- und Falschheit ? Unmoralisch geredet, eine Schlauheit ? Oh Sokrates, Sokrates, war das vielleicht d e i n Geheimniss ? Oh geheimnissvoller Ironiker, war dies vielleicht deine – Ironie ? – –

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Versuch einer Selbstkritik

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2. Was ich damals zu fassen bekam, etwas Furchtbares und Gefährliches, ein Problem mit Hörnern, nicht nothwendig gerade ein Stier, jedenfalls ein neue s Problem : heute würde ich sagen, dass es das P r o ble m d e r W i s s e n s c h a f t selbst war – Wissenschaft zum ersten Male als problematisch, als fragwürdig gefasst. Aber das Buch, in dem mein jugendlicher Muth und Argwohn sich damals ausliess – was für ein u n mög l ic he s Buch musste aus einer so jugendwidrigen Aufgabe erwachsen ! | Aufgebaut aus lauter vorzeitigen übergrünen Selbsterlebnissen, welche alle hart an der Schwelle des Mittheilbaren lagen, hingestellt auf den Boden der K u n s t – denn das Problem der Wissenschaft kann nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden –, ein Buch vielleicht für Künstler mit dem Nebenhange analytischer und retrospektiver Fähigkeiten (das heisst für eine Ausnahme-Art von Künstlern, nach denen man suchen muss und nicht einmal suchen möchte …), voller psychologischer Neuerungen und Artisten-Heimlichkeiten, mit einer Artisten-Metaphysik im Hintergrunde, ein Jugendwerk voller Jugendmuth und Jugend-Schwermuth, unabhängig, trotzig-selbstständig auch noch, wo es sich einer Autorität und eignen Verehrung zu beugen scheint, kurz ein Erstlingswerk auch in jedem schlimmen Sinne des Wortes, trotz seines greisenhaften Problems, mit jedem Fehler der Jugend behaftet, vor allem mit ihrem „Viel zu lang“, ihrem „Sturm und Drang“ : andererseits, in Hinsicht auf den Erfolg, den es hatte (in Sonderheit bei dem grossen Künstler, an den es sich wie zu einem Zwiegespräch wendete, bei Richard Wagner) ein b e w ie s e n e s Buch, ich meine ein solches, das jedenfalls „den Besten seiner Zeit“ genug gethan hat. Darauf hin sollte es schon mit einiger Rücksicht und Schweigsamkeit behandelt werden ; trotzdem will ich nicht gänzlich unterdrücken, wie unangenehm es mir jetzt erscheint, wie fremd es jetzt nach sechzehn Jahren vor

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Die Geburt der Tragödie

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mir steht, – vor einem älteren, hundert Mal verwöhnteren, aber keineswegs kälter gewordenen Auge, das auch jener Aufgabe selbst nicht fremder wurde, an welche sich jenes | verwegene Buch zum ersten Male herangewagt hat, – d ie W i s s e n s c h a f t u nt e r d e r O pt i k d e s K ü n s t le r s z u s e h e n , d ie K u n s t a b e r u nt e r d e r d e s L eb e n s … 3. Nochmals gesagt, heute ist es mir ein unmögliches Buch, – ich heisse es schlecht geschrieben, schwerfällig, peinlich, bilderwüthig und bilderwirrig, gefühlsam, hier und da verzuckert bis zum Femininischen, ungleich im Tempo, ohne Willen zur logischen Sauberkeit, sehr überzeugt und deshalb des Beweisens sich überhebend, misstrauisch selbst gegen die S c h ic kl ic h k e it des Beweisens, als Buch für Eingeweihte, als „Musik“ für Solche, die auf Musik getauft, die auf gemeinsame und seltene Kunst-Erfahrungen hin von Anfang der Dinge an verbunden sind, als Erkennungszeichen für Blutsverwandte in artibus, – ein hochmüthiges und schwärmerisches Buch, das sich gegen das profanum vulgus der „Gebildeten“ von vornherein noch mehr als gegen das „Volk“ abschliesst, welches aber, wie seine Wirkung bewies und beweist, sich gut genug auch darauf verstehen muss, sich seine Mitschwärmer zu suchen und sie auf neue Schleichwege und Tanzplätze zu locken. Hier redete jedenfalls – das gestand man sich mit Neugierde ebenso als mit Abneigung ein – eine f r e md e Stimme, der Jünger eines noch „unbekannten Gottes“, der sich einstweilen unter die Kapuze des Gelehrten, unter die Schwere und dialektische Unlustigkeit des Deutschen, selbst unter die schlechten Manieren des Wagnerianers versteckt hat ; hier war ein Geist mit fremden, noch namenlosen Be|dürfnissen, ein Gedächtniss strotzend von Fragen, Erfahrungen, Verborgenheiten, welchen der Name Dionysos wie ein Fragezeichen mehr beigeschrieben war ; hier sprach – so sagte man sich mit

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Versuch einer Selbstkritik

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Argwohn – etwas wie eine mystische und beinahe mänadische Seele, die mit Mühsal und willkürlich, fast unschlüssig darüber, ob sie sich mittheilen oder verbergen wolle, gleichsam in einer fremden Zunge stammelt. Sie hätte s i n g e n sollen, diese „neue Seele“ – und nicht reden ! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte : ich hätte es vielleicht gekonnt ! Oder mindestens als Philologe : – bleibt doch auch heute noch für den Philologen auf diesem Gebiete beinahe Alles zu entdecken und auszugraben ! Vor allem das Problem, d a s s hier ein Problem vorliegt, – und dass die Griechen, so lange wir keine Antwort auf die Frage „was ist dionysisch ?“ haben, nach wie vor gänzlich unerkannt und unvorstellbar sind … 4. Ja, was ist dionysisch ? – In diesem Buche steht eine Antwort darauf, – ein „Wissender“ redet da, der Eingeweihte und Jünger seines Gottes. Vielleicht würde ich jetzt vorsichtiger und weniger beredt von einer so schweren psychologischen Frage reden, wie sie der Ursprung der Tragödie bei den Griechen ist. Eine Grundfrage ist das Verhältniss des Griechen zum Schmerz, sein Grad von Sensibilität, – blieb dies Verhältniss sich gleich ? oder drehte es sich um ? – jene Frage, ob wirklich sein immer stärkeres Verla n g en n ac h Sc hön|heit , nach Festen, Lustbarkeiten, neuen Culten, aus Mangel, aus Entbehrung, aus Melancholie, aus Schmerz erwachsen ist ? Gesetzt nämlich, gerade dies wäre wahr – und Perikles (oder Thukydides) giebt es uns in der grossen Leichenrede zu verstehen – : woher müsste dann das entgegengesetzte Verlangen, das der Zeit nach früher hervortrat, stammen, das Ve rl a n g e n n ac h d e m H ä s s l ic he n , der gute strenge Wille des älteren Hellenen zum Pessimismus, zum tragischen Mythus, zum Bilde alles Furchtbaren, Bösen, Räthselhaften, Vernichtenden, Verhängnissvollen auf dem Grunde des Daseins, – woher müsste

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dann die Tragödie stammen ? Vielleicht aus der Lu s t , aus der Kraft, aus überströmender Gesundheit, aus übergrosser Fülle ? Und welche Bedeutung hat dann, physiologisch gefragt, jener Wahnsinn, aus dem die tragische wie die komische Kunst erwuchs, der dionysische Wahnsinn ? Wie ? Ist Wahnsinn vielleicht nicht nothwendig das Symptom der Entartung, des Niedergangs, der überspäten Cultur ? Giebt es vielleicht – eine Frage für Irrenärzte – Neurosen der Ges u nd heit ? der VolksJugend und -Jugendlichkeit ? Worauf weist jene Synthesis von Gott und Bock im Satyr ? Aus welchem Selbsterlebniss, auf welchen Drang hin musste sich der Grieche den dionysischen Schwärmer und Urmenschen als Satyr denken ? Und was den Ursprung des tragischen Chors betriff t : gab es in jenen Jahrhunderten, wo der griechische Leib blühte, die griechische Seele von Leben überschäumte, vielleicht endemische Entzückungen ? Visionen und Hallucinationen, welche sich ganzen Gemeinden, ganzen Cultversammlungen mittheil|ten ? Wie ? wenn die Griechen, gerade im Reichthum ihrer Jugend, den Willen z u m Tragischen hatten und Pessimisten waren ? wenn es gerade der Wahnsinn war, um ein Wort Plato’s zu gebrauchen, der die g r ö s s t e n Segnungen über Hellas gebracht hat ? Und wenn, andererseits und umgekehrt, die Griechen gerade in den Zeiten ihrer Auflösung und Schwäche, immer optimistischer, oberflächlicher, schauspielerischer, auch nach Logik und Logisirung der Welt brünstiger, also zugleich „heiterer“ und „wissenschaftlicher“ wurden ? Wie ? könnte vielleicht, allen „modernen Ideen“ und Vorurtheilen des demokratischen Geschmacks zum Trotz, der Sieg des O p t i m i s mu s , die vorherrschend gewordene Ve r nü n f t i g k e it , der praktische und theoretische Ut i l it a r i s mu s , gleich der Demokratie selbst, mit der er gleichzeitig ist, – ein Symptom der absinkenden Kraft, des nahenden Alters, der physiologischen Ermüdung sein ? Und gerade n ic ht  – der Pessimismus ? War Epikur ein Optimist – gerade als L e id e nd e r ? – Man

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sieht, es ist ein ganzes Bündel schwerer Fragen, mit dem sich dieses Buch belastet hat, – fügen wir seine schwerste Frage noch hinzu ! Was bedeutet, unter der Optik des L eb e n s gesehen, – die Moral ? … 5. Bereits im Vorwort an Richard Wagner wird die Kunst – und n ic ht die Moral – als die eigentlich met a phy s i s c he Thätigkeit des Menschen hingestellt ; im Buche selbst kehrt der anzügliche Satz mehrfach wieder, dass nur als ästhetisches Phänomen das Dasein | der Welt g e r e c ht f e r t i g t ist. In der That, das ganze Buch kennt nur einen Künstler-Sinn und -Hintersinn hinter allem Geschehen, – einen „Gott“, wenn man will, aber gewiss nur einen gänzlich unbedenklichen und unmoralischen Künstler-Gott, der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit inne werden will, der sich, Welten schaffend, von der Not h der Fülle und Ueb e r f ü l le, vom L e id e n der in ihm gedrängten Gegensätze löst. Die Welt, in jedem Augenblicke die e r r e ic h t e Erlösung Gottes, als die ewig wechselnde, ewig neue Vision des Leidendsten, Gegensätzlichsten, Widerspruchreichsten, der nur im S c he i ne sich zu erlösen weiss : diese ganze Artisten-Metaphysik mag man willkürlich, müssig, phantastisch nennen –, das Wesentliche daran ist, dass sie bereits einen Geist verräth, der sich einmal auf jede Gefahr hin gegen die mor a l i s c he Ausdeutung und Bedeutsamkeit des Daseins zur Wehre setzen wird. Hier kündigt sich, vielleicht zum ersten Male, ein Pessimismus „jenseits von Gut und Böse“ an, hier kommt jene „Perversität der Gesinnung“ zu Wort und Formel, gegen welche Schopenhauer nicht müde geworden ist, im Voraus seine zornigsten Flüche und Donnerkeile zu schleudern, – eine Philosophie, welche es wagt, die Moral selbst in die Welt der Erscheinung zu setzen, herabzusetzen und nicht nur unter die „Erscheinungen“ (im Sinne des idealistischen terminus technicus), sondern unter

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die „Täuschungen“, als Schein, Wahn, Irrthum, Ausdeutung, Zurechtmachung, Kunst. Vielleicht lässt sich die Tiefe dieses w i d e r m o r a l i s c h e n Hanges am besten aus dem | behutsamen und feindseligen Schweigen ermessen, mit dem in dem ganzen Buche das Christenthum behandelt ist, – das Christenthum als die ausschweifendste Durchfigurirung des moralischen Thema’s, welche die Menschheit bisher anzuhören bekommen hat. In Wahrheit, es giebt zu der rein ästhetischen Weltauslegung und Welt-Rechtfertigung, wie sie in diesem Buche gelehrt wird, keinen grösseren Gegensatz als die christliche Lehre, welche nu r moralisch ist und sein will und mit ihren absoluten Maassen, zum Beispiel schon mit ihrer Wahrhaftigkeit Gottes, die Kunst, je d e Kunst in’s Reich der Lüge verweist, – das heisst verneint, verdammt, verurtheilt. Hinter einer derartigen Denk- und Werthungsweise, welche kunstfeindlich sein muss, so lange sie irgendwie ächt ist, empfand ich von jeher auch das L eben sfei nd l ic he, den ingrimmigen rachsüchtigen Widerwillen gegen das Leben selbst : denn alles Leben ruht auf Schein, Kunst, Täuschung, Optik, Nothwendigkeit des Perspektivischen und des Irrthums. Christenthum war von Anfang an, wesentlich und gründlich, Ekel und Ueberdruss des Lebens am Leben, welcher sich unter dem Glauben an ein „anderes“ oder „besseres“ Leben nur verkleidete, nur versteckte, nur aufputzte. Der Hass auf die „Welt“, der Fluch auf die Affekte, die Furcht vor der Schönheit und Sinnlichkeit, ein Jenseits, erfunden, um das Diesseits besser zu verleumden, im Grunde ein Verlangen in’s Nichts, an’s Ende, in’s Ausruhen, hin zum „Sabbat der Sabbate“ – dies Alles dünkte mich, ebenso wie der unbedingte Wille des Christenthums, nu r moralische Werthe gelten zu lassen, immer wie die gefähr|lichste und unheimlichste Form aller möglichen Formen eines „Willens zum Untergang“, zum Mindesten ein Zeichen tiefster Erkrankung, Müdigkeit, Missmuthigkeit, Erschöpfung, Verarmung an Leben, – denn vor der Moral (in

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Sonderheit christlichen, das heisst unbedingten Moral) mu s s das Leben beständig und unvermeidlich Unrecht bekommen, weil Leben etwas essentiell Unmoralisches i s t , – mu s s endlich das Leben, erdrückt unter dem Gewichte der Verachtung und des ewigen Nein’s, als begehrens-unwürdig, als unwerth an sich empfunden werden. Moral selbst – wie ? sollte Moral nicht ein „Wille zur Verneinung des Lebens“, ein heimlicher Instinkt der Vernichtung, ein Verfalls-, Verkleinerungs-, Verleumdungsprincip, ein Anfang vom Ende sein ? Und, folglich, die Gefahr der Gefahren ?  … G e g e n die Moral also kehrte sich damals, mit diesem fragwürdigen Buche, mein Instinkt, als ein fürsprechender Instinkt des Lebens, und erfand sich eine grundsätzliche Gegenlehre und Gegenwerthung des Lebens, eine rein artistische, eine a nt ic h r i s t l ic h e. Wie sie nennen ? Als Philologe und Mensch der Worte taufte ich sie, nicht ohne einige Freiheit – denn wer wüsste den rechten Namen des Antichrist ? – auf den Namen eines griechischen Gottes : ich hiess sie die d io ny s i s c he. – 6. Man versteht, an welche Aufgabe ich bereits mit diesem Buche zu rühren wagte ? … Wie sehr bedauere ich es jetzt, dass ich damals noch nicht den Muth (oder die Unbescheidenheit ?) hatte, um mir in jedem Betrachte | für so eigne Anschauungen und Wagnisse auch eine e i g ne S p r ac he zu erlauben, – dass ich mühselig mit Schopenhauerischen und Kantischen Formeln fremde und neue Werthschätzungen auszudrükken suchte, welche dem Geiste Kantens und Schopenhauers, ebenso wie ihrem Geschmacke, von Grund aus entgegen giengen ! Wie dachte doch Schopenhauer über die Tragödie ? „Was allem Tragischen den eigenthümlichen Schwung zur Erhebung giebt – sagt er, Welt als Wille und Vorstellung II,495 – ist das Aufgehen der Erkenntniss, dass die Welt, das Leben kein rechtes Genügen geben könne, mithin unsrer Anhänglichkeit

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n ic ht we r t h s e i : darin besteht der tragische Geist –, er leitet demnach zur R e s i g n at io n hin“. Oh wie anders redete Dionysos zu mir ! Oh wie ferne war mir damals gerade dieser ganze Resignationismus ! – Aber es giebt etwas viel Schlimmeres an dem Buche, das ich jetzt noch mehr bedauere, als mit Schopenhauerischen Formeln dionysische Ahnungen verdunkelt und verdorben zu haben : dass ich mir nämlich überhaupt das grandiose g r ie c h i s c he P r o ble m , wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der modernsten Dinge ve r d a r b ! Dass ich Hoff nungen anknüpfte, wo Nichts zu hoffen war, wo Alles allzudeutlich auf ein Ende hinwies ! Dass ich, auf Grund der deutschen letzten Musik, vom „deutschen Wesen“ zu fabeln begann, wie als ob es eben im Begriff sei, sich selbst zu entdecken und wiederzufi nden – und das zu einer Zeit, wo der deutsche Geist, der nicht vor Langem noch den Willen zur Herrschaft über Europa, die Kraft zur Führung Europa’s gehabt hatte, eben letztwillig und endgültig a b d a n k t e | und, unter dem pomphaften Vorwande einer Reichs-Begründung, seinen Uebergang zur Vermittelmässigung, zur Demokratie und den „modernen Ideen“ machte ! In der That, inzwischen lernte ich hoff nungslos und schonungslos genug von diesem „deutschen Wesen“ denken, insgleichen von der jetzigen d eut s c he n Mu s i k , als welche Romantik durch und durch ist und die ungriechischeste aller möglichen Kunstformen : überdies aber eine Nervenverderberin ersten Ranges, doppelt gefährlich bei einem Volke, das den Trunk liebt und die Unklarheit als Tugend ehrt, nämlich in ihrer doppelten Eigenschaft als berauschendes und zugleich b e n eb e l nd e s Narkotikum. – Abseits freilich von allen übereilten Hoff nungen und fehlerhaften Nutzanwendungen auf Gegenwärtigstes, mit denen ich mir damals mein erstes Buch verdarb, bleibt das grosse dionysische Fragezeichen, wie es darin gesetzt ist, auch in Betreff der Musik, fort und fort bestehen : wie müsste eine Musik beschaffen sein, welche nicht

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mehr romantischen Ursprungs wäre, gleich der deutschen, – sondern d io ny s i s c he n ? … 7. – Aber, mein Herr, was in aller Welt ist Romantik, wenn nicht I h r Buch Romantik ist ? Lässt sich der tiefe Hass gegen „Jetztzeit“, „Wirklichkeit“ und „moderne Ideen“ weiter treiben, als es in Ihrer Artisten-Metaphysik geschehen ist ? – welche lieber noch an das Nichts, lieber noch an den Teufel, als an das „Jetzt“ glaubt ? Brummt nicht ein Grundbass von Zorn und Vernichtungs|lust unter aller Ihrer contrapunktischen Stimmen-Kunst und Ohren-Verführerei hinweg, eine wüthende Entschlossenheit gegen Alles, was „jetzt“ ist, ein Wille, welcher nicht gar zu ferne vom praktischen Nihilismus ist und zu sagen scheint „lieber mag Nichts wahr sein, als dass i h r Recht hättet, als dass eu r e Wahrheit Recht behielte !“ Hören Sie selbst, mein Herr Pessimist und Kunstvergöttlicher, mit aufgeschlossnerem Ohre eine einzige ausgewählte Stelle Ihres Buches an, jene nicht unberedte Drachentödter-Stelle, welche für junge Ohren und Herzen verfänglich-rattenfängerisch klingen mag : wie ? ist das nicht das ächte rechte RomantikerBekenntniss von 1830, unter der Maske des Pessimismus von 1850 ? hinter dem auch schon das übliche Romantiker-Finale präludirt, – Bruch, Zusammenbruch, Rückkehr und Niedersturz vor einem alten Glauben, vor d e m alten Gotte … Wie ? ist Ihr Pessimisten-Buch nicht selbst ein Stück Antigriechenthum und Romantik, selbst etwas „ebenso Berauschendes als Benebelndes“, ein Narkotikum jedenfalls, ein Stück Musik sogar, d eut s c he r Musik ? Aber man höre : Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug in’s Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die stolze Verwegenheit, mit der sie allen den

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Schwächlichkeitsdoktrinen des Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen „resolut zu leben“ : s ol lt e e s n ic ht nöt h i g s e i n , dass der tragische Mensch dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrekken, eine neue Kunst, d ie K u n s t d e s met a phy s i s c he n Tr o s t e s , die Tragödie als die ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss : Und sollt’ ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, In’s Leben zieh’n die einzigste Gestalt ? |

„Sollte es nicht nöt h i g sein ?“ … Nein, drei Mal nein ! ihr jungen Romantiker : es sollte n ic ht nöthig sein ! Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass es so e nd et , dass i h r so endet, nämlich „getröstet“, wie geschrieben steht, trotz aller Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, „metaphysisch getröstet“, kurz, wie Romantiker enden, c h r i s t l ic h  … Nein ! Ihr solltet vorerst die Kunst des d ie s s e it i g e n Trostes lernen, – ihr solltet l ac he n lernen, meine jungen Freunde, wenn anders ihr durchaus Pessimisten bleiben wollt ; vielleicht dass ihr darauf hin, als Lachende, irgendwann einmal alle metaphysische Trösterei zum Teufel schickt – und die Metaphysik voran ! Oder, um es in der Sprache jenes dionysischen Unholds zu sagen, der Z a r at hu s t r a heisst : „Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch, höher ! Und vergesst mir auch die Beine nicht ! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch : ihr steht auch auf dem Kopf ! Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone : ich selber setzte mir diese Krone auf, ich selber sprach heilig mein Gelächter. Keinen Anderen fand ich heute stark genug dazu. Zarathustra der Tänzer, Zarathustra der Leichte, der mit den Flügeln winkt, ein Flugbereiter, allen Vögeln zuwinkend, bereit und fertig, ein Selig-Leichtfertiger : – Zarathustra der Wahrsager, Zarathustra der Wahrlacher,

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Versuch einer Selbstkritik

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kein Ungeduldiger, kein Unbedingter, Einer, der Sprünge und Seitensprünge liebt : ich selber setzte mir diese Krone auf ! | Diese Krone des Lachenden, diese Rosenkranz-Krone : euch, meinen Brüdern, werfe ich diese Krone zu ! Das Lachen sprach ich heilig : ihr höheren Menschen, le r nt mir – lachen !“ A l s o s p r a c h Z a r a t hu s t r a , vierter Theil S. 87.

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Vorwort an Richard Wagner.

Um mir alle die möglichen Bedenklichkeiten, Aufregungen und Missverständnisse ferne zu halten, zu denen die in dieser Schrift vereinigten Gedanken bei dem eigenthümlichen Charakter unserer ästhetischen Oeffentlichkeit Anlass geben werden, und um auch die Einleitungsworte zu derselben mit der gleichen beschaulichen Wonne schreiben zu können, deren Zeichen sie selbst, als das Petrefact guter und erhebender Stunden, auf jedem Blatte trägt, vergegenwärtige ich mir den Augenblick, in dem Sie, mein hochverehrter Freund, diese Schrift empfangen werden : wie Sie, vielleicht nach einer abendlichen Wanderung im Winterschnee, den entfesselten Prometheus auf dem Titelblatte betrachten, meinen Namen lesen und sofort überzeugt sind, dass, mag in dieser Schrift stehen, was da wolle, der Verfasser etwas Ernstes und Eindringliches zu sagen hat, ebenfalls dass er, bei allem, was er sich erdachte, mit Ihnen wie mit einem Gegenwärtigen verkehrte und nur etwas dieser Gegenwart Entsprechendes niederschreiben durfte. Sie werden dabei sich erinnern, dass ich zu gleicher | Zeit, als Ihre herrliche Festschrift über Beethoven entstand, das heisst in den Schrecken und Erhabenheiten des eben ausgebrochnen Krieges mich zu diesen Gedanken sammelte. Doch würden diejenigen irren, welche etwa bei dieser Sammlung an den Gegensatz von patriotischer Erregung und ästhetischer Schwelgerei, von tapferem Ernst und heiterem Spiel denken sollten : denen möchte vielmehr, bei einem wirklichen Lesen dieser Schrift, zu ihrem Erstaunen deutlich werden, mit welchem ernsthaft deutschen Problem wir zu thun haben, das von uns recht eigentlich in die Mitte deutscher Hoff nungen, als Wirbel und Wendepunkt hingestellt wird. Vielleicht aber wird es für eben dieselben überhaupt anstössig sein, ein ästhetisches Pro-

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Vorwort an Richard Wagner

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blem so ernst zu nehmen, falls sie nämlich in der Kunst nicht mehr als ein lustiges Nebenbei, als ein auch wohl zu missendes Schellengeklingel zum „Ernst des Daseins“ zu erkennen im Stande sind : als ob Niemand wüsste, was es bei dieser Gegenüberstellung mit einem solchen „Ernste des Daseins“ auf sich habe. Diesen Ernsthaften diene zur Belehrung, dass ich von der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens im Sinne des Mannes überzeugt bin, dem ich hier, als meinem erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, diese Schrift gewidmet haben will. |

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1. Wir werden viel für die ästhetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des A p ol l i n i s c he n und des D io ny s i s c he n gebunden ist : in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. Diese Namen entlehnen wir von den Griechen, welche die tiefsinnigen Geheimlehren ihrer Kunstanschauung zwar nicht in Begriffen, aber in den eindringlich deutlichen Gestalten ihrer Götterwelt dem Einsichtigen vernehmbar machen. An ihre beiden Kunstgottheiten, Apollo und Dionysus, knüpft sich unsere Erkenntniss, dass in der griechischen Kunst ein Stilgegensatz besteht ; zwei verschiedene Triebe gehen in ihr neben einander her, zumeist im Zwiespalt mit einander und sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten reizend, um in ihnen den Kampf jenes Gegensatzes zu perpetuiren : bis sie endlich, im Blüthemoment des hellenischen „Willens“, zu gemeinsamer Erzeugung des Kunstwerkes der attischen Tragödie verschmolzen erscheinen. Um uns jene beiden Triebe näher zu bringen, denken wir sie uns zunächst als die getrennten Kunstwelten des Tr aume s und des R au s c he s ; zwischen welchen physiologischen Erscheinungen ein analoger Gegensatz, wie zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen zu bemerken ist. Im | Traume traten zuerst, nach der Vorstellung des Lucretius, die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen, im Traume sah der grosse Bildner den entzückenden Gliederbau

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übermenschlicher Wesen, im Traume erfuhr der hellenische Dichter an sich, was ein tiefes Epigramm Friedrich Hebbels mit diesen Worten ausspricht : In die wirkliche Welt sind viele mögliche andre Eingesponnen, der Schlaf wickelt sie wieder heraus, Sei es der dunkle der Nacht, der alle Menschen bewältigt, Sei es der helle des Tags, der nur den Dichter befällt ; Und so treten auch sie, damit das All sich erschöpfe, Durch den menschlichen Geist in ein verflatterndes Sein.

Der schöne Schein der Traumwelten, in deren Erzeugung jeder Mensch voller Künstler ist, ist die Voraussetzung aller bildenden Kunst, ja auch, wie wir sehen werden, einer wichtigen Hälfte der Poesie. Wir geniessen im unmittelbaren Verständnisse der Gestalt, alle Formen sprechen zu uns, es giebt nichts Gleichgültiges und Unnöthiges. Bei dem höchsten Leben dieser Traumwirklichkeit haben wir doch noch die durchschimmernde Empfi ndung ihres S c he i n s : wenigstens ist dies meine Erfahrung, für deren Häufigkeit, ja Normalität, ich manches Zeugniss und die Aussprüche der Dichter beizubringen hätte. Wo diese Scheinempfi ndung völlig aufhört, beginnen die krankhaften und pathologischen Wirkungen, in denen die heilende Naturkraft der Traumzustände nachlässt. Innerhalb jener Grenze aber sind es nicht etwa nur die angenehmen und freundlichen Bilder, die wir mit jener Allverständigkeit an uns erfahren : auch das Ernste, Trübe, Traurige, Finstere, die plötzlichen Hemmungen, die Neckereien des Zufalls, die bänglichen Erwartungen, kurz die ganze „göttliche Komödie“ des Lebens, mit dem Inferno, zieht an uns vorbei, nicht nur wie ein Schattenspiel – denn wir leben und leiden mit in diesen Scenen – und doch auch nicht ohne jene flüchtige Empfi ndung des Scheins ; ja ich | erinnere mich, in den Gefährlichkeiten und Schrecken des Traumes mir mitunter ermuthigend und mit Erfolg zugerufen zu haben : „Es ist ein

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Traum ! Ich will ihn weiter träumen !“ Wie man mir auch von Personen erzählt hat, die die Causalität eines und desselben Traumes über drei und mehr aufeinanderfolgende Nächte hin fortzusetzen im Stande waren : als welche Thatsachen deutlich Zeugniss dafür abgeben, dass unser innerstes Wesen, der gemeinsame Untergrund von uns allen, mit tiefer Lust und freudiger Nothwendigkeit den Traum an sich erfährt. Diese freudige Nothwendigkeit der Traumerfahrung ist gleichfalls von den Griechen in ihrem Apollo ausgedrückt worden : Apollo als der Gott der Traumesvorstellungen ist zugleich der wahrsagende und künstlerische Gott. Er, der seiner Wurzel nach der „Scheinende“, die Lichtgottheit ist, beherrscht auch den schönen Schein der Traumwelt. Die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit, sodann das tiefe Bewusstsein von der in Schlaf und Traum heilenden und helfenden Natur ist zugleich das symbolische Analogon der wahrsagenden Fähigkeit und überhaupt der Kunst, durch die das Leben lebenswerth und die Zukunft zur Gegenwart gemacht wird. Aber auch jene zarte Linie, die das Traumbild nicht überschreiten darf, um nicht pathologisch zu wirken, widrigenfalls der Schein nicht nur täuschen, sondern betrügen würde – darf nicht im Bilde des Apollo fehlen : jene maassvolle Begrenzung, jene Freiheit von den wilderen Regungen, jene weisheitsvolle Ruhe des Bildnergottes. Sein Auge muss „sonnenhaft“, gemäss seinem Ursprunge, sein ; auch wenn es zürnt und unmuthig blickt, liegt die Weihe des schönen Scheines auf ihm. Und so möchte von Apollo in einem excentrischen Sinne das gelten, was unser grosser S c ho p e n h aue r von dem im Schleier der | Maja befangenen Menschen sagt. Welt als Wille und Vorstellung I S. 416 : „Wie auf dem tobenden Meere, das, nach allen Seiten unbegränzt, heulend Wellenberge erhebt und senkt, auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend ; so sitzt, mitten in einer

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Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, gestützt und vertrauend auf das principium individuationis“. Ja es wäre von Apollo zu sagen, dass in ihm das unwankende Vertrauen auf jenes principium und das ruhige Dasitzen des in ihm Befangenen seinen erhabensten Ausdruck bekommen habe, und man möchte selbst Apollo als das herrliche Götterbild des principii individuationis bezeichnen, aus dessen Gebärden und Blicken die ganze Lust und Weisheit des „Scheines“, sammt seiner Schönheit, zu uns spräche. An derselben Stelle hat uns Schopenhauer das ungeheure Gr au s e n geschildert, welches den Menschen ergreift, wenn er plötzlich an den Erkenntnissformen der Erscheinung irre wird, indem der Satz vom Grunde, in irgend einer seiner Gestaltungen, eine Ausnahme zu erleiden scheint. Wenn wir zu diesem Grausen die wonnevolle Verzückung hinzunehmen, die bei demselben Zerbrechen des principii individuationis aus dem innersten Grunde des Menschen, ja der Natur emporsteigt, so thun wir einen Blick in das Wesen des D io ny s i s c h e n , das uns am nächsten noch durch die Analogie des R au s c he s gebracht wird. Entweder durch den Einfluss des narkotischen Getränkes, von dem alle ursprünglichen Menschen und Völker in Hymnen sprechen, oder bei dem gewaltigen, die ganze Natur lustvoll durchdringenden Nahen des Frühlings erwachen jene dionysischen Regungen, in deren Steigerung das Subjective zu völliger Selbstvergessenheit hinschwindet. Auch im deutschen Mittelalter wälzten sich unter der gleichen dionysischen Gewalt immer wachsende Schaaren, singend und tanzend, von Ort zu Ort : in diesen Sanct-| Johann- und Sanct-Veittänzern erkennen wir die bacchischen Chöre der Griechen wieder, mit ihrer Vorgeschichte in Kleinasien, bis hin zu Babylon und den orgiastischen Sakäen. Es ist nicht rathsam, sich von solchen Erscheinungen wie von „Volkskrankheiten“, spöttisch oder bedauernd im Gefühl der eigenen Gesundheit abzuwenden : man giebt damit eben zu

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verstehen, dass man „gesund“ ist, und dass die an einem Waldesrande sitzenden Musen, mit Dionysus in ihrer Mitte, erschreckt in das Gebüsch, ja in die Wellen des Meeres flüchten, wenn so ein gesunder „Meister Zettel“ plötzlich vor ihnen erscheint. Unter dem Zauber des Dionysischen schliesst sich nicht nur der Bund zwischen Mensch und Mensch wieder zusammen : auch die entfremdete, feindliche oder unterjochte Natur feiert wieder ihr Versöhnungsfest mit ihrem verlorenen Sohne, dem Menschen. Freiwillig beut die Erde ihre Gaben, und friedfertig nahen die Raubthiere der Felsen und der Wüste. Mit Blumen und Kränzen ist der Wagen des Dionysus überschüttet : unter seinem Joche schreiten Panther und Tiger. Man verwandele das Beethoven’sche Jubellied der „Freude“ in ein Gemälde und bleibe mit seiner Einbildungskraft nicht zurück, wenn die Millionen schauervoll in den Staub sinken : so kann man sich dem Dionysischen nähern. Jetzt ist der Sclave freier Mann, jetzt zerbrechen alle die starren, feindseligen Abgrenzungen, die Noth, Willkür oder „freche Mode“ zwischen den Menschen festgesetzt haben. Jetzt, bei dem Evangelium der Weltenharmonie, fühlt sich Jeder mit seinem Nächsten nicht nur vereinigt, versöhnt, verschmolzen, sondern eins, als ob der Schleier der Maja zerrissen wäre und nur noch in Fetzen vor dem geheimnissvollen Ur-Einen herumflattere. Singend und tanzend äussert sich der Mensch als Mitglied einer höheren Gemeinsamkeit : er hat das Gehen und das Sprechen verlernt und ist auf dem Wege, tanzend | in die Lüfte emporzufl iegen. Aus seinen Gebärden spricht die Verzauberung. Wie jetzt die Thiere reden, und die Erde Milch und Honig giebt, so tönt auch aus ihm etwas Uebernatürliches : als Gott fühlt er sich, er selbst wandelt jetzt so verzückt und erhoben, wie er die Götter im Traume wandeln sah. Der Mensch ist nicht mehr Künstler, er ist Kunstwerk geworden : die Kunstgewalt der ganzen Natur, zur höchsten Wonnebefriedigung

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des Ur-Einen, offenbart sich hier unter den Schauern des Rausches. Der edelste Thon, der kostbarste Marmor wird hier geknetet und behauen, der Mensch, und zu den Meisselschlägen des dionysischen Weltenkünstlers tönt der eleusinische Mysterienruf : „Ihr stürzt nieder, Millionen !“ 2. Wir haben bis jetzt das Apollinische und seinen Gegensatz, das Dionysische, als künstlerische Mächte betrachtet, die aus der Natur selbst, oh ne Ve r m it t e lu n g d e s me n s c h l ic he n K ü n s t le r s , hervorbrechen, und in denen sich ihre Kunsttriebe zunächst und auf directem Wege befriedigen : einmal als die Bilderwelt des Traumes, deren Vollkommenheit ohne jeden Zusammenhang mit der intellectuellen Höhe oder künstlerischen Bildung des Einzelnen ist, andererseits als rauschvolle Wirklichkeit, die wiederum des Einzelnen nicht achtet, sondern sogar das Individuum zu vernichten und durch eine mystische Einheitsempfi ndung zu erlösen sucht. Diesen unmittelbaren Kunstzuständen der Natur gegenüber ist jeder Künstler „Nachahmer“, und zwar entweder apollinischer Traumkünstler oder dionysischer Rauschkünstler oder endlich – wie beispielsweise in der griechischen Tragödie – zugleich Rausch- und Traumkünstler : als welchen wir uns etwa zu denken haben, wie er, in der dionysischen | Trunkenheit und mystischen Selbstentäusserung, einsam und abseits von den schwärmenden Chören niedersinkt und wie sich ihm nun, durch apollinische Traumeinwirkung, sein eigener Zustand d. h. seine Einheit mit dem innersten Grunde der Welt i n e i ne m g le ic h n i s s a r t i g e n Tr au m b i ld e offenbart. Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen und Gegenüberstellungen nahen wir uns jetzt den Gr ie c he n , um zu erkennen, in welchem Grade und bis zu welcher Höhe jene K u n s t t r ieb e d e r Nat u r in ihnen entwickelt gewesen sind : wodurch wir in den Stand gesetzt werden, das Verhältniss des

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griechischen Künstlers zu seinen Urbildern, oder, nach dem aristotelischen Ausdrucke, „die Nachahmung der Natur“ tiefer zu verstehn und zu würdigen. Von den Tr äu me n der Griechen ist trotz aller Traumlitteratur derselben und zahlreichen Traumanecdoten nur vermuthungsweise, aber doch mit ziemlicher Sicherheit zu sprechen : bei der unglaublich bestimmten und sicheren plastischen Befähigung ihres Auges, sammt ihrer hellen und aufrichtigen Farbenlust, wird man sich nicht entbrechen können, zur Beschämung aller Spätergeborenen, auch für ihre Träume eine logische Causalität der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen, eine ihren besten Reliefs ähnelnde Folge der Scenen vorauszusetzen, deren Vollkommenheit uns, wenn eine Vergleichung möglich wäre, gewiss berechtigen würde, die Griechen als träumende Homere und Homer als einen träumenden Griechen zu bezeichnen : in einem tieferen Sinne als wenn der moderne Mensch sich hinsichtlich seines Traumes mit Shakespeare zu vergleichen wagt. Dagegen brauchen wir nicht nur vermuthungsweise zu sprechen, wenn die ungeheure Kluft aufgedeckt werden soll, welche die d io ny s i s c he n Gr ie c he n von den dionysischen Barbaren trennt. Aus allen Enden der alten Welt – um die neuere hier bei Seite zu lassen – von Rom bis Babylon | können wir die Existenz dionysischer Feste nachweisen, deren Typus sich, besten Falls, zu dem Typus der griechischen verhält, wie der bärtige bocksbeinige Satyr zu Dionysus selbst. Fast überall lag das Centrum dieser Feste in einer überschwänglichen geschlechtlichen Zuchtlosigkeit, deren Wellen über jedes Familienthum und dessen ehrwürdige Satzungen hinweg flutheten ; gerade die wildesten Bestien der Natur wurden hier entfesselt, bis zu jener abscheulichen Mischung von Wollust und Grausamkeit, die mir immer als der eigentliche „Hexentrank“ erschienen ist. Gegen die fieberhaften Regungen jener Feste, deren Kenntniss auf allen Land- und Seewegen zu den

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Griechen drang, waren sie, scheint es, eine Zeit lang völlig gesichert und geschützt durch die hier in seinem ganzen Stolz sich aufrichtende Gestalt des Apollo, der das Medusenhaupt keiner gefährlicheren Macht entgegenhalten konnte als dieser fratzenhaft ungeschlachten dionysischen. Es ist die dorische Kunst, in der sich jene majestätisch-ablehnende Haltung des Apollo verewigt hat. Bedenklicher und sogar unmöglich wurde dieser Widerstand, als endlich aus der tiefsten Wurzel des Hellenischen heraus sich ähnliche Triebe Bahn brachen : jetzt beschränkte sich das Wirken des delphischen Gottes darauf, dem gewaltigen Gegner durch eine zur rechten Zeit abgeschlossene Versöhnung die vernichtenden Waffen aus der Hand zu nehmen. Diese Versöhnung ist der wichtigste Moment in der Geschichte des griechischen Cultus : wohin man blickt, sind die Umwälzungen dieses Ereignisses sichtbar. Es war die Versöhnung zweier Gegner, mit scharfer Bestimmung ihrer von jetzt ab einzuhaltenden Grenzlinien und mit periodischer Uebersendung von Ehrengeschenken ; im Grunde war die Kluft nicht überbrückt. Sehen wir aber, wie sich unter dem Drucke jenes Friedensschlusses die dionysische Macht offenbarte, so erkennen wir jetzt, im Vergleiche mit jenen baby|lonischen Sakäen und ihrem Rückschritte des Menschen zum Tiger und Affen, in den dionysischen Orgien der Griechen die Bedeutung von Welterlösungsfesten und Verklärungstagen. Erst bei ihnen erreicht die Natur ihren künstlerischen Jubel, erst bei ihnen wird die Zerreissung des principii individuationis ein künstlerisches Phänomen. Jener scheussliche Hexentrank aus Wollust und Grausamkeit war hier ohne Kraft : nur die wundersame Mischung und Doppelheit in den Affecten der dionysischen Schwärmer erinnert an ihn – wie Heilmittel an tödtliche Gifte erinnern –, jene Erscheinung, dass Schmerzen Lust erwecken, dass der Jubel der Brust qualvolle Töne entreisst. Aus der höchsten Freude tönt der Schrei des Entsetzens oder der sehnende Klagelaut über

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einen unersetzlichen Verlust. In jenen griechischen Festen bricht gleichsam ein sentimentalischer Zug der Natur hervor, als ob sie über ihre Zerstückelung in Individuen zu seufzen habe. Der Gesang und die Gebärdensprache solcher zwiefach gestimmter Schwärmer war für die homerisch-griechische Welt etwas Neues und Unerhörtes : und insbesondere erregte ihr die dionysische Mu s i k Schrecken und Grausen. Wenn die Musik bereits als apollinische Kunst bekannt war, so war sie dies doch nur, genau genommen, als Wellenschlag des Rhythmus, dessen bildnerische Kraft zur Darstellung apollinischer Zustände entwickelt wurde. Die Musik des Apollo war dorische Architektonik in Tönen, aber in nur angedeuteten Tönen, wie sie der Kithara zu eigen sind. Behutsam ist gerade das Element, als unapollinisch, ferngehalten, das den Charakter der dionysischen Musik und damit der Musik überhaupt ausmacht, die erschütternde Gewalt des Tones und die durchaus unvergleichliche Welt der Harmonie. Im dionysischen Dithyrambus wird der Mensch zur höchsten Steigerung aller seiner symbolischen Fähigkeiten gereizt ; etwas Nieempfundenes drängt sich zur Aeusserung, die Ver|nichtung des Schleiers der Maja, das Einssein als Genius der Gattung, ja der Natur. Jetzt soll sich das Wesen der Natur symbolisch ausdrücken ; eine neue Welt der Symbole ist nöthig, einmal die ganze leibliche Symbolik, nicht nur die Symbolik des Mundes, des Gesichts, des Wortes, sondern die volle, alle Glieder rhythmisch bewegende Tanzgebärde. Sodann wachsen die anderen symbolischen Kräfte, die der Musik, in Rhythmik, Dynamik und Harmonie, plötzlich ungestüm. Um diese Gesammtentfesselung aller symbolischen Kräfte zu fassen, muss der Mensch bereits auf jener Höhe der Selbstentäusserung angelangt sein, die in jenen Kräften sich symbolisch aussprechen will : der dithyrambische Dionysusdiener wird somit nur von Seinesgleichen verstanden ! Mit welchem Erstaunen musste der apollinische Grieche auf ihn blicken ! Mit einem Erstaunen, das

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um so grösser war, als sich ihm das Grausen beimischte, dass ihm jenes Alles doch eigentlich so fremd nicht sei, ja dass sein apollinisches Bewusstsein nur wie ein Schleier diese dionysische Welt vor ihm verdecke. 3. Um dies zu begreifen, müssen wir jenes kunstvolle Gebäude der a p ol l i n i s c he n C u lt u r gleichsam Stein um Stein abtragen, bis wir die Fundamente erblicken, auf die es begründet ist. Hier gewahren wir nun zuerst die herrlichen ol y m p i s c h e n Göttergestalten, die auf Dach und Giebel dieses Gebäudes stehen, und deren Thaten in weithin leuchtenden Reliefs dargestellt Fries und Wände desselben zieren. Wenn unter ihnen auch Apollo steht, als eine einzelne Gottheit neben anderen und ohne den Anspruch einer ersten Stellung, so dürfen wir uns dadurch nicht beirren lassen. Derselbe Trieb, der sich in Apollo versinnlichte, hat überhaupt jene | ganze olympische Welt geboren, und in diesem Sinne darf uns Apollo als Vater derselben gelten. Welches war das ungeheure Bedürfniss, aus dem eine so leuchtende Gesellschaft olympischer Wesen entsprang ? Wer, mit einer anderen Religion im Herzen, an diese Olympier herantritt und nun nach sittlicher Höhe, ja Heiligkeit, nach unleiblicher Vergeistigung, nach erbarmungsvollen Liebesblicken bei ihnen sucht, der wird unmuthig und enttäuscht ihnen bald den Rücken kehren müssen. Hier erinnert nichts an Askese, Geistigkeit und Pfl icht : hier redet nur ein üppiges, ja triumphirendes Dasein zu uns, in dem alles Vorhandene vergöttlicht ist, gleichviel ob es gut oder böse ist. Und so mag der Beschauer recht betroffen vor diesem phantastischen Ueberschwang des Lebens stehn, um sich zu fragen, mit welchem Zaubertrank im Leibe diese übermüthigen Menschen das Leben genossen haben mögen, dass, wohin sie sehen, Helena, das „in süsser Sinnlichkeit schwebende“ Idealbild ihrer

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eignen Existenz, ihnen entgegenlacht. Diesem bereits rückwärts gewandten Beschauer müssen wir aber zurufen : „Geh’ nicht von dannen, sondern höre erst, was die griechische Volksweisheit von diesem selben Leben aussagt, das sich hier mit so unerklärlicher Heiterkeit vor dir ausbreitet.“ Es geht die alte Sage, dass König Midas lange Zeit nach dem weisen S i le n , dem Begleiter des Dionysus, im Walde gejagt habe, ohne ihn zu fangen. Als er ihm endlich in die Hände gefallen ist, fragt der König, was für den Menschen das Allerbeste und Allervorzüglichste sei. Starr und unbeweglich schweigt der Dämon ; bis er, durch den König gezwungen, endlich unter gellem Lachen in diese Worte ausbricht : „Elendes Eintagsgeschlecht, des Zufalls Kinder und der Mühsal, was zwingst du mich dir zu sagen, was nicht zu hören für dich das Erspriesslichste ist ? Das Allerbeste ist für dich gänzlich unerreichbar : nicht geboren zu | sein, nicht zu s e i n , n ic ht s zu sein. Das Zweitbeste aber ist für dich – bald zu sterben“. Wie verhält sich zu dieser Volksweisheit die olympische Götterwelt ? Wie die entzückungsreiche Vision des gefolterten Märtyrers zu seinen Peinigungen. Jetzt öff net sich uns gleichsam der olympische Zauberberg und zeigt uns seine Wurzeln. Der Grieche kannte und empfand die Schrecken und Entsetzlichkeiten des Daseins : um überhaupt leben zu können, musste er vor sie hin die glänzende Traumgeburt der Olympischen stellen. Jenes ungeheure Misstrauen gegen die titanischen Mächte der Natur, jene über allen Erkenntnissen erbarmungslos thronende Moira, jener Geier des grossen Menschenfreundes Prometheus, jenes Schreckensloos des weisen Oedipus, jener Geschlechtsfluch der Atriden, der Orest zum Muttermorde zwingt, jene Gorgonen und Medusen, kurz jene ganze Philosophie des Waldgottes, sammt ihren mythischen Exempeln, an der die schwermüthigen Etrurier zu Grunde gegangen sind – wurde von den Griechen durch jene künstlerische M it t e lwe lt der Olympier

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überwunden, jedenfalls verhüllt und dem Anblick entzogen. Um leben zu können, mussten die Griechen diese Götter, aus tiefster Nöthigung, schaffen : welchen Hergang wir uns wohl so vorzustellen haben, dass aus der ursprünglichen titanischen Götterordnung des Schreckens durch jenen apollinischen Schönheitstrieb in langsamen Uebergängen die olympische Götterordnung der Freude entwickelt wurde : wie Rosen aus dornigem Gebüsch hervorbrechen. Wie anders hätte jenes unendlich sensible, zum L e id e n so einzig befähigte Volk das Dasein ertragen können, wenn ihm nicht dasselbe, von einer höheren Glorie umflossen, in seinen Göttern gezeigt worden wäre. Derselbe Trieb, der die Kunst in’s Leben ruft, als die zum Weiterleben verführende Ergänzung und Vollendung des Daseins, liess auch die olympische | Welt entstehn, in der sich der hellenische „Wille“ einen verklärenden Spiegel vorhielt. So rechtfertigen die Götter das Menschenleben, indem sie es selbst leben – die allein genügende Theodicee ! Das Dasein unter dem hellen Sonnenscheine solcher Götter wird als das an sich Erstrebenswerthe empfunden, und der eigentliche S c h me r z der homerischen Menschen bezieht sich auf das Abscheiden aus ihm, vor allem auf das baldige Abscheiden : so dass man jetzt von ihnen, mit Umkehrung der silenischen Weisheit, sagen könnte, „das Allerschlimmste sei für sie, bald zu sterben, das Zweitschlimmste, überhaupt einmal zu sterben“. Wenn die Klage einmal ertönt, so klingt sie wieder vom kurzlebenden Achilles, von dem blättergleichen Wechsel und Wandel des Menschengeschlechts, von dem Untergang der Heroenzeit. Es ist des grössten Helden nicht unwürdig, sich nach dem Weiterleben zu sehnen, sei es selbst als Tagelöhner. So ungestüm verlangt, auf der apollinischen Stufe, der „Wille“ nach diesem Dasein, so eins fühlt sich der homerische Mensch mit ihm, dass selbst die Klage zu seinem Preisliede wird. Hier muss nun ausgesprochen werden, dass diese von den neueren Menschen so sehnsüchtig angeschaute Harmonie,

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ja Einheit des Menschen mit der Natur, für die Schiller das Kunstwort „naiv“ in Geltung gebracht hat, keinesfalls ein so einfacher, sich von selbst ergebender, gleichsam unvermeidlicher Zustand ist, dem wir an der Pforte jeder Cultur, als einem Paradies der Menschheit begegnen mü s s t e n : dies konnte nur eine Zeit glauben, die den Emil Rousseau’s sich auch als Künstler zu denken suchte und in Homer einen solchen am Herzen der Natur erzogenen Künstler Emil gefunden zu haben wähnte. Wo uns das „Naive“ in der Kunst begegnet, haben wir die höchste Wirkung der apollinischen Cultur zu erkennen : als welche immer erst ein Titanenreich | zu stürzen und Ungethüme zu tödten hat und durch kräftige Wahnvorspiegelungen und lustvolle Illusionen über eine schreckliche Tiefe der Weltbetrachtung und reizbarste Leidensfähigkeit Sieger geworden sein muss. Ach, wie selten wird das Naive, jenes völlige Verschlungensein in der Schönheit des Scheines, erreicht ! Wie unaussprechbar erhaben ist deshalb Ho m e r, der sich, als Einzelner, zu jener apollinischen Volkscultur verhält, wie der einzelne Traumkünstler zur Traumbefähigung des Volks und der Natur überhaupt. Die homerische „Naivetät“ ist nur als der vollkommene Sieg der apollinischen Illusion zu begreifen : es ist dies eine solche Illusion, wie sie die Natur, zur Erreichung ihrer Absichten, so häufig verwendet. Das wahre Ziel wird durch ein Wahnbild verdeckt : nach diesem strecken wir die Hände aus, und jenes erreicht die Natur durch unsre Täuschung. In den Griechen wollte der „Wille“ sich selbst, in der Verklärung des Genius und der Kunstwelt, anschauen ; um sich zu verherrlichen, mussten seine Geschöpfe sich selbst als verherrlichenswerth empfi nden, sie mussten sich in einer höheren Sphäre wiedersehn, ohne dass diese vollendete Welt der Anschauung als Imperativ oder als Vorwurf wirkte. Dies ist die Sphäre der Schönheit, in der sie ihre Spiegelbilder, die Olympischen, sahen. Mit dieser Schönheitsspiegelung kämpfte der hellenische „Wille“

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gegen das dem künstlerischen correlative Talent zum Leiden und zur Weisheit des Leidens : und als Denkmal seines Sieges steht Homer vor uns, der naive Künstler. 4. Ueber diesen naiven Künstler giebt uns die Traumanalogie einige Belehrung. Wenn wir uns den Träumenden vergegenwärtigen, wie er, mitten in der Illusion der Traumwelt und ohne sie zu stören, sich zuruft : „es ist ein Traum, | ich will ihn weiter träumen“, wenn wir hieraus auf eine tiefe innere Lust des Traumanschauens zu schliessen haben, wenn wir andererseits, um überhaupt mit dieser inneren Lust am Schauen träumen zu können, den Tag und seine schreck liche Zudringlichkeit völlig vergessen haben müssen : so dürfen wir uns alle diese Erscheinungen etwa in folgender Weise, unter der Leitung des traumdeutenden Apollo, interpretiren. So gewiss von den beiden Hälften des Lebens, der wachen und der träumenden Hälfte, uns die erstere als die ungleich bevorzugtere, wichtigere, würdigere, lebenswerthere, ja allein gelebte dünkt : so möchte ich doch, bei allem Anscheine einer Paradoxie, für jenen geheimnissvollen Grund unseres Wesens, dessen Erscheinung wir sind, gerade die entgegengesetzte Werthschätzung des Traumes behaupten. Je mehr ich nämlich in der Natur jene allgewaltigen Kunsttriebe und in ihnen eine inbrünstige Sehnsucht zum Schein, zum Erlöstwerden durch den Schein gewahr werde, um so mehr fühle ich mich zu der metaphysischen Annahme gedrängt, dass das Wahrhaft-Seiende und Ur-Eine, als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle, zugleich die entzückende Vision, den lustvollen Schein, zu seiner steten Erlösung braucht : welchen Schein wir, völlig in ihm befangen und aus ihm bestehend, als das Wahrhaft-Nichtseiende d. h. als ein fortwährendes Werden in Zeit, Raum und Causalität, mit anderen Worten, als empirische Realität zu empfi nden genöthigt sind. Sehen wir also einmal von unsrer

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eignen „Realität“ für einen Augenblick ab, fassen wir unser empirisches Dasein, wie das der Welt überhaupt, als eine in jedem Moment erzeugte Vorstellung des Ur-Einen, so muss uns jetzt der Traum als der S c h e i n d e s S c h e i n s , somit als eine noch höhere Befriedigung der Urbegierde nach dem Schein hin gelten. Aus diesem selben Grunde hat der innerste Kern der Natur jene unbeschreibliche Lust an dem naiven Künstler und dem | naiven Kunstwerke, das gleichfalls nur „Schein des Scheins“ ist. R a f ae l , selbst einer jener unsterblichen „Naiven“, hat uns in einem gleichnissartigen Gemälde jenes Depotenziren des Scheins zum Schein, den Urprozess des naiven Künstlers und zugleich der apollinischen Cultur, dargestellt. In seiner Tr a n s f i g u r at io n zeigt uns die untere Hälfte, mit dem besessenen Knaben, den verzweifelnden Trägern, den rathlos geängstigten Jüngern, die Wiederspiegelung des ewigen Urschmerzes, des einzigen Grundes der Welt : der „Schein“ ist hier Wiederschein des ewigen Widerspruchs, des Vaters der Dinge. Aus diesem Schein steigt nun, wie ein ambrosischer Duft, eine visionsgleiche neue Scheinwelt empor, von der jene im ersten Schein Befangenen nichts sehen – ein leuchtendes Schweben in reinster Wonne und schmerzlosem, aus weiten Augen strahlenden Anschauen. Hier haben wir, in höchster Kunstsymbolik, jene apollinische Schönheitswelt und ihren Untergrund, die schreckliche Weisheit des Silen, vor unseren Blicken und begreifen, durch Intuition, ihre gegenseitige Nothwendigkeit. Apollo aber tritt uns wiederum als die Vergöttlichung des principii individuationis entgegen, in dem allein das ewig erreichte Ziel des Ur-Einen, seine Erlösung durch den Schein, sich vollzieht : er zeigt uns, mit erhabensten Gebärden, wie die ganze Welt der Qual nöthig ist, damit durch sie der Einzelne zur Erzeugung der erlösenden Vision gedrängt werde und dann, ins Anschauen versunken, ruhig auf seinem schwankenden Kahne, inmitten des Meeres, sitze.

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Diese Vergöttlichung der Individuation kennt, wenn sie überhaupt imperativisch und Vorschriften gebend gedacht wird, nur ein Gesetz, das Individuum d. h. die Einhaltung der Grenzen des Individuums, das M a a s s im hellenischen Sinne. Apollo, als ethische Gottheit, fordert von den Seinigen das Maass und, um es einhalten zu können, | Selbstkenntniss. Und so läuft neben der ästhetischen Nothwendigkeit der Schönheit die Forderung des „Erkenne dich selbst“ und des „Nicht zu viel !“ her, während Selbstüberhebung und Uebermaass als die eigentlich feindseligen Dämonen der nicht-apollinischen Sphäre, daher als Eigenschaften der vor-apollinischen Zeit, des Titanenzeitalters, und der ausser-apollinischen Welt d. h. der Barbarenwelt, erachtet wurden. Seiner titanenhaften Liebe zu den Menschen wegen musste Prometheus von den Geiern zerrissen werden, seiner übermässigen Weisheit halber, die das Räthsel der Sphinx löste, musste Oedipus in einen verwirrenden Strudel von Unthaten stürzen : so interpretirte der delphische Gott die griechische Vergangenheit. „Titanenhaft“ und „barbarisch“ dünkte dem apollinischen Griechen auch die Wirkung, die das D io ny s i s c he erregte : ohne dabei sich verhehlen zu können, dass er selbst doch zugleich auch innerlich mit jenen gestürzten Titanen und Heroen verwandt sei. Ja er musste noch mehr empfi nden : sein ganzes Dasein mit aller Schönheit und Mässigung ruhte auf einem verhüllten Untergrunde des Leidens und der Erkenntniss, der ihm wieder durch jenes Dionysische aufgedeckt wurde. Und siehe ! Apollo konnte nicht ohne Dionysus leben ! Das „Titanische“ und das „Barbarische“ war zuletzt eine eben solche Nothwendigkeit als das Apollinische ! Und nun denken wir uns, wie in diese auf den Schein und die Mässigung gebaute und künstlich gedämmte Welt der ekstatische Ton der Dionysusfeier in immer lockenderen Zauberweisen hineinklang, wie in diesen das ganze Ueb e r m a a s s der Natur in Lust, Leid und Erkenntniss, bis zum durchdringenden Schrei,

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laut wurde : denken wir uns, was diesem dämonischen Volksgesange gegenüber der psalmodirende Künstler des Apollo, mit dem gespensterhaften Harfenklang, bedeuten konnte ! Die Musen der Künste des „Scheins“ | verblassten vor einer Kunst, die in ihrem Rausche die Wahrheit sprach, die Weisheit des Silen rief Wehe ! Wehe ! aus gegen die heiteren Olympier. Das Individuum, mit all seinen Grenzen und Maassen, ging hier in der Selbstvergessenheit der dionysischen Zustände unter und vergass die apollinischen Satzungen. Das Ueb e r m a a s s enthüllte sich als Wahrheit, der Widerspruch, die aus Schmerzen geborene Wonne sprach von sich aus dem Herzen der Natur heraus. Und so war, überall dort, wo das Dionysische durchdrang, das Apollinische aufgehoben und vernichtet. Aber eben so gewiss ist, dass dort, wo der erste Ansturm ausgehalten wurde, das Ansehen und die Majestät des delphischen Gottes starrer und drohender als je sich äusserte. Ich vermag nämlich den d or i s c he n Staat und die dorische Kunst mir nur als ein fortgesetztes Kriegslager des Apollinischen zu erklären : nur in einem unausgesetzten Widerstreben gegen das titanisch-barbarische Dionysusthum konnte eine so trotzigspröde, mit Bollwerken umschlossene Kunst, eine so kriegsgemässe und herbe Erziehung, ein so grausames und rücksichtsloses Staatswesen von längerer Dauer sein. Bis zu diesem Punkte ist des Weiteren ausgeführt worden, was ich am Eingange dieser Abhandlung bemerkte : wie das Dionysische und das Apollinische in auf einander folgenden Geburten, und sich gegenseitig steigernd das hellenische Wesen beherrscht haben : wie aus dem „erzenen“ Zeitalter, mit seinen Titanenkämpfen und seiner herben Volksphilosophie, sich unter dem Walten des apollinischen Schönheitstriebes, die homerische Welt entwickelt, wie diese „naive“ Herrlichkeit wieder von dem einbrechenden Strome des Dionysischen verschlungen wird, und wie dieser neuen Macht gegenüber sich das Apollinische zur starren Majestät der dorischen Kunst

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und Weltbetrachtung erhebt. Wenn auf diese Weise die ältere hellenische Geschichte, im Kampf jener zwei feindseligen Principien, | in vier grosse Kunstperioden zerfällt : so sind wir jetzt gedrängt, weiter nach dem letzten Plane dieses Werdens und Treibens zu fragen, falls uns nicht etwa die letzterreichte Periode, die der dorischen Kunst, als die Spitze und Absicht jener Kunsttriebe gelten sollte : und hier bietet sich unseren Blicken das erhabene und hochgepriesene Kunstwerk der at t i s c he n Tr a g ö d ie und des dramatischen Dithyrambus, als das gemeinsame Ziel beider Triebe, deren geheimnissvolles Ehebündniss, nach langem vorhergehenden Kampfe, sich in einem solchen Kinde – das zugleich Antigone und Kassandra ist – verherrlicht hat. 5. Wir nahen uns jetzt dem eigentlichen Ziele unsrer Untersuchung, die auf die Erkenntniss des dionysisch-apollinischen Genius und seines Kunstwerkes, wenigstens auf das ahnungsvolle Verständniss jenes Einheitsmysteriums gerichtet ist. Hier fragen wir nun zuerst, wo jener springende Lebenspunkt sich zuerst in der hellenischen Welt bemerkbar macht, der sich nachher bis zur Tragödie und zum dramatischen Dithyrambus steigert. Hierüber giebt uns das Alterthum selbst bildlich Aufschluss, wenn es als die Urväter und Fackelträger der griechischen Dichtung Home r u nd A r c h i lo c hu s auf Bildwerken, Gemmen u. s. w. neben einander stellt, in der sicheren Empfi ndung, dass nur diese Beiden gleich völlig originalen Naturen, von denen aus ein Feuerstrom auf die gesammte griechische Nachwelt fortfl iesse, zu erachten seien. Homer, der in sich versunkene greise Träumer, der Typus des apollinischen, naiven Künstlers, sieht nun staunend den leidenschaftlichen Kopf des wild durch’s Dasein getriebenen kriegerischen Musendieners Archilochus : und die neuere Aesthetik wusste nur deutend hinzuzufügen, dass hier dem „objectiven“ | Künstler der erste „subjective“ entgegengestellt sei. Uns

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ist mit dieser Deutung wenig gedient, weil wir den subjectiven Künstler nur als schlechten Künstler kennen und in jeder Art und Höhe der Kunst vor allem und zuerst Besiegung des Subjectiven, Erlösung vom „Ich“ und Stillschweigen jedes individuellen Willens und Gelüstens fordern, ja ohne Objectivität, ohne reines interesseloses Anschauen nie an die geringste wahrhaft künstlerische Erzeugung glauben können. Darum muss unsre Aesthetik erst jenes Problem lösen, wie der „Lyriker“ als Künstler möglich ist : er, der, nach der Erfahrung aller Zeiten, immer „ich“ sagt und die ganze chromatische Ton leiter seiner Leidenschaften und Begehrungen vor uns absingt. Gerade dieser Archilochus erschreckt uns, neben Homer, durch den Schrei seines Hasses und Hohnes, durch die trunknen Ausbrüche seiner Begierde ; ist er, der erste subjectiv genannte Künstler, nicht damit der eigentliche Nichtkünstler ? Woher aber dann die Verehrung, die ihm, dem Dichter, gerade auch das delphische Orakel, der Herd der „objectiven“ Kunst, in sehr merkwürdigen Aussprüchen erwiesen hat ? Ueber den Prozess seines Dichtens hat uns S c h i l le r durch eine ihm selbst unerklärliche, doch nicht bedenklich scheinende psychologische Beobachtung Licht gebracht ; er gesteht nämlich als den vorbereitenden Zustand vor dem Actus des Dichtens nicht etwa eine Reihe von Bildern, mit geordneter Causalität der Gedanken, vor sich und in sich gehabt zu haben, sondern vielmehr eine mu s i k a l i s c h e S t i m mu n g („Die Empfi ndung ist bei mir anfangs ohne bestimmten und klaren Gegenstand ; dieser bildet sich erst später. Eine gewisse musikalische Gemüthsstimmung geht vorher, und auf diese folgt bei mir erst die poetische Idee“). Nehmen wir jetzt das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik hinzu, die überall als natürlich geltende Vereinigung, ja Identität d e s Ly r i k e r s m it | d e m Mu s i k e r – der gegenüber unsre neuere Lyrik wie ein Götterbild ohne Kopf erscheint – so können wir jetzt, auf Grund unsrer früher dargestellten aesthetischen Metaphysik,

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uns in folgender Weise den Lyriker erklären. Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik, die wir eine Wiederholung der Welt und einen zweiten Abguss derselben genannt haben ; jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem g le ic h n i s s a r t i g e n Tr au m b i ld e, unter der apollinischen Traumeinwirkung sichtbar. Jener bild- und begrifflose Wiederschein des Urschmerzes in der Musik, mit seiner Erlösung im Scheine, erzeugt jetzt eine zweite Spiegelung, als einzelnes Gleichniss oder Exempel. Seine Subjectivität hat der Künstler bereits in dem dionysischen Prozess aufgegeben : das Bild, das ihm jetzt seine Einheit mit dem Herzen der Welt zeigt, ist eine Traumscene, die jenen Urwiderspruch und Urschmerz, sammt der Urlust des Scheines, versinnlicht. Das „Ich“ des Lyrikers tönt also aus dem Abgrunde des Seins : seine „Subjectivität“ im Sinne der neueren Aesthetiker ist eine Einbildung. Wenn Archilochus, der erste Lyriker der Griechen, seine rasende Liebe und zugleich seine Verachtung den Töchtern des Lykambes kundgiebt, so ist es nicht seine Leidenschaft, die vor uns in orgiastischem Taumel tanzt : wir sehen Dionysus und die Mänaden, wir sehen den berauschten Schwärmer Archilochus zum Schlafe niedergesunken – wie ihn uns Euripides in den Bacchen beschreibt, den Schlaf auf hoher Alpentrift, in der Mittagssonne – : und jetzt tritt Apollo an ihn heran und berührt ihn mit dem Lorbeer. Die dionysisch-musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleichsam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben heissen. | Der Plastiker und zugleich der ihm verwandte Epiker ist in das reine Anschauen der Bilder versunken. Der dionysische Musiker ist ohne jedes Bild völlig nur selbst Urschmerz und Urwiederklang desselben. Der lyrische Genius fühlt aus dem mystischen Selbstentäusserungs- und Einheitszustande eine

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Bilder- und Gleichnisswelt hervorwachsen, die eine ganz andere Färbung, Causalität und Schnelligkeit hat als jene Welt des Plastikers und Epikers. Während der Letztgenannte in diesen Bildern und nur in ihnen mit freudigem Behagen lebt und nicht müde wird, sie bis auf die kleinsten Züge hin liebevoll anzuschauen, während selbst das Bild des zürnenden Achilles für ihn nur ein Bild ist, dessen zürnenden Ausdruck er mit jener Traumlust am Scheine geniesst – so dass er, durch diesen Spiegel des Scheines, gegen das Einswerden und Zusammenschmelzen mit seinen Gestalten geschützt ist –, so sind dagegen die Bilder des Lyrikers nichts als e r selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt „ich“ sagen darf : nur ist diese Ichheit nicht dieselbe, wie die des wachen, empirisch-realen Menschen, sondern die einzige überhaupt wahrhaft seiende und ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit, durch deren Abbilder der lyrische Genius bis auf jenen Grund der Dinge hindurchsieht. Nun denken wir uns einmal, wie er unter diesen Abbildern auch s ic h s e l b s t als Nichtgenius erblickt d. h. sein „Subject“, das ganze Gewühl subjectiver, auf ein bestimmtes, ihm real dünkendes Ding gerichteter Leidenschaften und Willensregungen ; wenn es jetzt scheint als ob der lyrische Genius und der mit ihm verbundene Nichtgenius eins wäre und als ob der Erstere von sich selbst jenes Wörtchen „ich“ spräche, so wird uns jetzt dieser Schein nicht mehr verführen können, wie er allerdings diejenigen verführt hat, die den Lyriker als den subjectiven Dichter bezeichnet haben. In Wahrheit ist Archi|lochus, der leidenschaftlich entbrannte liebende und hassende Mensch nur eine Vision des Genius, der bereits nicht mehr Archilochus, sondern Weltgenius ist und der seinen Urschmerz in jenem Gleichnisse vom Menschen Archilochus symbolisch ausspricht : während jener subjectiv wollende und begehrende Mensch Archilochus überhaupt nie und nimmer Dichter sein

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kann. Es ist aber gar nicht nöthig, dass der Lyriker gerade nur das Phänomen des Menschen Archilochus vor sich sieht als Wiederschein des ewigen Seins ; und die Tragödie beweist, wie weit sich die Visionswelt des Lyrikers von jenem allerdings zunächst stehenden Phänomen entfernen kann. S c ho p e n h aue r, der sich die Schwierigkeit, die der Lyriker für die philosophische Kunstbetrachtung macht, nicht verhehlt hat, glaubt einen Ausweg gefunden zu haben, den ich nicht mit ihm gehen kann, während ihm allein, in seiner tiefsinnigen Metaphysik der Musik, das Mittel in die Hand gegeben war, mit dem jene Schwierigkeit entscheidend beseitigt werden konnte : wie ich dies, in seinem Geiste und zu seiner Ehre hier gethan zu haben glaube. Dagegen bezeichnet er als das eigenthümliche Wesen des Liedes Folgendes (Welt als Wille und Vorstellung I S. 295) : „Es ist das Subject des Willens, d. h. das eigene Wollen, was das Bewusstsein des Singenden füllt, oft als ein entbundenes, befriedigtes Wollen (Freude), wohl noch öfter aber als ein gehemmtes (Trauer), immer als Affect, Leidenschaft, bewegter Gemüthszustand. Neben diesem jedoch und zugleich damit wird durch den Anblick der umgebenden Natur der Singende sich seiner bewusst als Subjects des reinen, willenlosen Erkennens, dessen unerschütterliche, selige Ruhe nunmehr in Contrast tritt mit dem Drange des immer beschränkten, immer noch dürftigen Wollens : die Empfi ndung dieses Contrastes, dieses Wechselspieles ist eigentlich, was sich im Ganzen des Liedes ausspricht und was über|haupt den lyrischen Zustand ausmacht. In diesem tritt gleichsam das reine Erkennen zu uns heran, um uns vom Wollen und seinem Drange zu erlösen : wir folgen ; doch nur auf Augenblicke : immer von Neuem entreisst das Wollen, die Erinnerung an unsere persönlichen Zwecke, uns der ruhigen Beschauung ; aber auch immer wieder entlockt uns dem Wollen die nächste schöne Umgebung, in welcher sich die reine willenlose Erkenntniss uns darbietet. Darum geht im Liede

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und der lyrischen Stimmung das Wollen (das persönliche Interesse des Zwecks) und das reine Anschauen der sich darbietenden Umgebung wundersam gemischt durch einander : es werden Beziehungen zwischen beiden gesucht und imaginirt ; die subjective Stimmung, die Affection des Willens, theilt der angeschauten Umgebung und diese wiederum jener ihre Farbe im Reflex mit : von diesem ganzen so gemischten und getheilten Gemüthszustande ist das ächte Lied der Abdruck“. Wer vermöchte in dieser Schilderung zu verkennen, dass hier die Lyrik als eine unvollkommen erreichte, gleichsam im Sprunge und selten zum Ziele kommende Kunst charakterisirt wird, ja als eine Halbkunst, deren We s e n darin bestehen solle, dass das Wollen und das reine Anschauen d. h. der unaesthetische und der aesthetische Zustand wundersam durch einander gemischt seien ? Wir behaupten vielmehr, dass der ganze Gegensatz, nach dem wie nach einem Werthmesser auch noch Schopenhauer die Künste eintheilt, der des Subjectiven und des Objectiven, überhaupt in der Aesthetik ungehörig ist, da das Subject, das wollende und seine egoistischen Zwecke fördernde Individuum nur als Gegner, nicht als Ursprung der Kunst gedacht werden kann. Insofern aber das Subject Künstler ist, ist es bereits von seinem individuellen Willen erlöst und gleichsam Medium geworden, durch das hindurch das eine wahrhaft seiende Subject seine Er|lösung im Scheine feiert. Denn dies muss uns vor allem, zu unserer Erniedrigung u nd Erhöhung, deutlich sein, dass die ganze Kunstkomödie durchaus nicht für uns, etwa unsrer Besserung und Bildung wegen, aufgeführt wird, ja dass wir ebensowenig die eigentlichen Schöpfer jener Kunstwelt sind : wohl aber dürfen wir von uns selbst annehmen, dass wir für den wahren Schöpfer derselben schon Bilder und künstlerische Projectionen sind und in der Bedeutung von Kunstwerken unsre höchste Würde haben – denn nur als ae st het i sc he s Ph ä nomen ist das Dasein und die Welt ewig gerec ht fer t ig t : – während

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freilich unser Bewusstsein über diese unsre Bedeutung kaum ein andres ist als es die auf Leinwand gemalten Krieger von der auf ihr dargestellten Schlacht haben. Somit ist unser ganzes Kunstwissen im Grunde ein völlig illusorisches, weil wir als Wissende mit jenem Wesen nicht eins und identisch sind, das sich, als einziger Schöpfer und Zuschauer jener Kunstkomödie einen ewigen Genuss bereitet. Nur soweit der Genius im Actus der künstlerischen Zeugung mit jenem Urkünstler der Welt verschmilzt, weiss er etwas über das ewige Wesen der Kunst ; denn in jenem Zustande ist er, wunderbarer Weise, dem unheimlichen Bild des Mährchens gleich, das die Augen drehn und sich selber anschaun kann ; jetzt ist er zugleich Subject und Object, zugleich Dichter, Acteur und Zuschauer. 6. Von Archilochus sagt uns die griechische Geschichte, dass er das Vol k s l ie d in die Litteratur eingeführt habe, und dass ihm, dieser That halber, jene einzige Stellung neben Homer, zukomme. Was aber ist das Volkslied im Gegensatz zu dem völlig apollinischen Epos ? Was anders als das perpetuum vestigium einer Vereinigung des Apollinischen und | des Dionysischen ; seine ungeheure, über alle Völker sich erstreckende und in immer neuen Geburten sich steigernde Verbreitung ist uns ein Zeugniss dafür, wie stark jener künstlerische Doppeltrieb der Natur ist : der in analoger Weise seine Spuren im Volkslied hinterlässt, wie die orgiastischen Bewegungen eines Volkes sich in seiner Musik verewigen. Ja es müsste auch historisch nachweisbar sein, wie jede an Volksliedern reich productive Periode zugleich auf das Stärkste durch dionysische Strömungen erregt worden ist, welche wir immer als Untergrund und Voraussetzung des Volksliedes zu betrachten haben. Das Volkslied aber gilt uns zu allernächst als musikalischer Weltspiegel, als ursprüngliche Melodie, die sich jetzt eine parallele Traumerscheinung sucht und diese in der Dich-

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tung ausspricht. D ie Me lo d ie i s t a l s o d a s Er s t e u nd A l l g e me i ne, das deshalb auch mehrere Objectivationen, in mehreren Texten, an sich erleiden kann. Sie ist auch das bei weitem wichtigere und nothwendigere in der naiven Schätzung des Volkes. Die Melodie gebiert die Dichtung aus sich und zwar immer wieder von Neuem ; nichts Anderes will uns d ie St r ophen for m de s Vol k sl iede s sagen : welches Phänomen ich immer mit Erstaunen betrachtet habe, bis ich endlich diese Erklärung fand. Wer eine Sammlung von Volksliedern z. B. des Knaben Wunderhorn auf diese Theorie hin ansieht, der wird unzählige Beispiele fi nden, wie die fortwährend gebärende Melodie Bilderfunken um sich aussprüht : die in ihrer Buntheit, ihrem jähen Wechsel, ja ihrem tollen Sichüberstürzen eine dem epischen Scheine und seinem ruhigen Fortströmen wildfremde Kraft offenbaren. Vom Standpunkte des Epos ist diese ungleiche und unregelmässige Bilderwelt der Lyrik einfach zu verurtheilen : und dies haben gewiss die feierlichen epischen Rhapsoden der apollinischen Feste im Zeitalter des Terpander gethan. | In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das Stärkste angespannt, d ie Mu s i k n ac h z u a h me n : deshalb beginnt mit Archilochus eine neue Welt der Poesie, die der homerischen in ihrem tiefsten Grunde widerspricht. Hiermit haben wir das einzig mögliche Verhältniss zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet : das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich. In diesem Sinne dürfen wir in der Sprachgeschichte des griechischen Volkes zwei Hauptströmungen unterscheiden, jenachdem die Sprache die Erscheinungs- und Bilderwelt oder die Musikwelt nachahmte. Man denke nur einmal tiefer über die sprachliche Differenz der Farbe, des syntaktischen Bau’s, des Wortmaterial’s bei Homer und Pindar nach, um die Bedeutung dieses Gegensatzes zu begreifen ; ja es wird Einem dabei hand-

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greiflich deutlich, dass inzwischen (zwischen Homer und Pindar) die or g i a s t i s c he n F löt e nwe i s e n d e s Oly m pu s erklungen sein müssen, die noch im Zeitalter des Aristoteles, inmitten einer unendlich entwickelteren Musik, zu trunkner Begeisterung hinrissen und gewiss in ihrer ursprünglichen Wirkung alle dichterischen Ausdrucksmittel der gleichzeitigen Menschen zur Nachahmung aufgereizt haben. Ich erinnere hier an ein bekanntes, unserer Aesthetik nur anstössig dünkendes Phänomen unserer Tage. Wir erleben es immer wieder, wie eine Beethoven’sche Symphonie die einzelnen Zuhörer zu einer Bilderrede nöthigt, sei es auch dass eine Zusammenstellung der verschiedenen, durch ein Tonstück erzeugten Bilderwelten sich recht phantastisch bunt, ja widersprechend ausnimmt : an solchen Zusammenstellungen ihren armen Witz zu üben und das doch wahrlich erklärenswerthe Phänomen zu übersehen, ist recht in der Art jener Aesthetik. Ja selbst wenn der Tondichter in Bildern über eine Composition geredet hat, etwa wenn er eine Symphonie als pasto|rale und einen Satz als „Scene am Bach“, einen anderen als „lustiges Zusammensein der Landleute“ bezeichnet, so sind das ebenfalls nur gleichnissartige, aus der Musik geborne Vorstellungen – und nicht etwa die nachgeahmten Gegenstände der Musik – Vorstellungen, die über den d io ny s i s c he n Inhalt der Musik uns nach keiner Seite hin belehren können, ja die keinen ausschliesslichen Werth neben anderen Bildern haben. Diesen Prozess einer Entladung der Musik in Bildern haben wir uns nun auf eine jugendfrische, sprachlich schöpferische Volksmenge zu übertragen, um zur Ahnung zu kommen, wie das strophische Volkslied entsteht, und wie das ganze Sprachvermögen durch das neue Princip der Nachahmung der Musik aufgeregt wird. Dürfen wir also die lyrische Dichtung als die nachahmende Eff ulguration der Musik in Bildern und Begriffen betrachten, so können wir jetzt fragen : „als was er sc hei nt die Musik im

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Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe ?“ Sie er s c he i nt a l s W i l le, das Wort im Schopenhauer’schen Sinne genommen, d. h. als Gegensatz der ästhetischen, rein beschaulichen willenlosen Stimmung. Hier unterscheide man nun so scharf als möglich den Begriff des Wesens von dem der Erscheinung : denn die Musik kann, ihrem Wesen nach, unmöglich Wille sein, weil sie als solcher gänzlich aus dem Bereich der Kunst zu bannen wäre – denn der Wille ist das an sich Unaesthetische – ; aber sie erscheint als Wille. Denn um ihre Erscheinung in Bildern auszudrücken, braucht der Lyriker alle Regungen der Leidenschaft, vom Flüstern der Neigung bis zum Grollen des Wahnsinns ; unter dem Triebe, in apollinischen Gleichnissen von der Musik zu reden, versteht er die ganze Natur und sich in ihr nur als das ewig Wollende, Begehrende, Sehnende. Insofern er aber die Musik in Bildern deutet, ruht er selbst in der stillen Meeresruhe der apollinischen Betrachtung, so sehr auch alles, was er durch das | Medium der Musik anschaut, um ihn herum in drängender und treibender Bewegung ist. Ja wenn er sich selbst durch dasselbe Medium erblickt, so zeigt sich ihm sein eignes Bild im Zustande des unbefriedigten Gefühls : sein eignes Wollen, Sehnen, Stöhnen, Jauchzen ist ihm ein Gleichniss, mit dem er die Musik sich deutet. Dies ist das Phänomen des Lyrikers : als apollinischer Genius interpretirt er die Musik durch das Bild des Willens, während er selbst völlig losgelöst von der Gier des Willens, reines ungetrübtes Sonnenauge ist. Diese ganze Erörterung hält daran fest, dass die Lyrik eben so abhängig ist vom Geiste der Musik als die Musik selbst, in ihrer völligen Unumschränktheit, das Bild und den Begriff nicht b r au c ht , sondern ihn nur neben sich e r t r ä g t . Die Dichtung des Lyrikers kann nichts aussagen, was nicht in der ungeheuersten Allgemeinheit und Allgültigkeit bereits in der Musik lag, die ihn zur Bilderrede nöthigte. Der Weltsymbolik der Musik ist eben deshalb mit der Sprache auf keine Weise

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erschöpfend beizukommen, weil sie sich auf den Urwiderspruch und Urschmerz im Herzen des Ur-Einen symbolisch bezieht, somit eine Sphäre symbolisirt, die über alle Erscheinung und vor aller Erscheinung ist. Ihr gegenüber ist vielmehr jede Erscheinung nur Gleichniss : daher kann die S p r ac he, als Organ und Symbol der Erscheinungen, nie und nirgends das tiefste Innere der Musik nach Aussen kehren, sondern bleibt immer, sobald sie sich auf Nachahmung der Musik einlässt, nur in einer äusserlichen Berührung mit der Musik, während deren tiefster Kern, durch alle lyrische Beredsamkeit, uns auch keinen Schritt näher gebracht werden kann. | 7. Alle die bisher erörterten Kunstprincipien müssen wir jetzt zu Hülfe nehmen, um uns in dem Labyrinth zurecht zu fi nden, als welches wir den Ur s pr u ng der g r iec h i sc hen Tragöd ie bezeichnen müssen. Ich denke nichts Ungereimtes zu behaupten, wenn ich sage, dass das Problem dieses Ursprungs bis jetzt noch nicht einmal ernsthaft aufgestellt, geschweige denn gelöst ist, so oft auch die zerflatternden Fetzen der antiken Ueberlieferung schon combinatorisch an einander genäht und wieder aus einander gerissen sind. Diese Ueberlieferung sagt uns mit voller Entschiedenheit, dass d ie Tragöd ie aus dem t rag i sc hen Chore ent sta nden i st und ursprünglich nur Chor und nichts als Chor war : woher wir die Verpfl ichtung nehmen, diesem tragischen Chore als dem eigentlichen Urdrama in’s Herz zu sehen, ohne uns an den geläufigen Kunstredensarten – dass er der idealische Zuschauer sei oder das Volk gegenüber der fürstlichen Region der Scene zu bedeuten habe – irgendwie genügen zu lassen. Jener zuletzt erwähnte, für manchen Politiker erhaben klingende Erläuterungsgedanke – als ob das unwandelbare Sittengesetz von den demokratischen Athenern in dem Volkschore dargestellt sei, der über die leidenschaftlichen Ausschreitun-

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gen und Ausschweifungen der Könige hinaus immer Recht behalte  – mag noch so sehr durch ein Wort des Aristoteles nahegelegt sein : auf die ursprüngliche Formation der Tragödie ist er ohne Einfluss, da von jenen rein religiösen Ursprüngen der ganze Gegensatz von Volk und Fürst, kurz jegliche politisch-sociale Sphäre ausgeschlossen ist ; aber wir möchten es auch in Hinsicht auf die uns bekannte classische Form des Chors bei Aeschylus und Sophokles für Blasphemie erachten, hier von der Ahnung einer „constitutionellen Volks|vertretung“ zu reden, vor welcher Blasphemie Andere nicht zurückgeschrocken sind. Eine constitutionelle Volksvertretung kennen die antiken Staatsverfassungen in praxi nicht und haben sie hoffentlich auch in ihrer Tragödie nicht einmal „geahnt“. Viel berühmter als diese politische Erklärung des Chors ist der Gedanke A. W. Schlegel’s, der uns den Chor gewissermaassen als den Inbegriff und Extract der Zuschauermenge, als den „idealischen Zuschauer“ zu betrachten anempfiehlt. Diese Ansicht, zusammengehalten mit jener historischen Ueberlieferung, dass ursprünglich die Tragödie nur Chor war, erweist sich als das, was sie ist, als eine rohe unwissenschaftliche, doch glänzende Behauptung, die ihren Glanz aber nur durch ihre concentrirte Form des Ausdrucks, durch die echt germanische Voreingenommenheit für Alles, was „idealisch“ genannt wird und durch unser momentanes Erstauntsein erhalten hat. Wir sind nämlich erstaunt, sobald wir das uns gut bekannte Theaterpublicum mit jenem Chore vergleichen und uns fragen, ob es wohl möglich sei, aus diesem Publicum je etwas dem tragischen Chore Analoges herauszuidealisiren. Wir leugnen dies im Stillen und wundern uns jetzt eben so über die Kühnheit der Schlegel’schen Behauptung wie über die total verschiedene Natur des griechischen Publicums. Wir hatten nämlich doch immer gemeint, dass der rechte Zuschauer, er sei, wer er wolle, sich immer bewusst bleiben

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müsse, ein Kunstwerk vor sich zu haben, nicht eine empirische Realität : während der tragische Chor der Griechen in den Gestalten der Bühne leibhafte Existenzen zu erkennen genöthigt ist. Der Okeanidenchor glaubt wirklich den Titan Prometheus vor sich zu sehen und hält sich selbst für eben so real wie den Gott der Scene. Und das sollte die höchste und reinste Art des Zuschauers sein, gleich den Okeaniden den Prometheus für leiblich vorhanden und | real zu halten ? Und es wäre das Zeichen des idealischen Zuschauers, auf die Bühne zu laufen und den Gott von seinen Martern zu befreien ? Wir hatten an ein ästhetisches Publicum geglaubt und den einzelnen Zuschauer für um so befähigter gehalten, je mehr er im Stande war, das Kunstwerk als Kunst d. h. ästhetisch zu nehmen ; und jetzt deutete uns der Schlegel’sche Ausdruck an, dass der vollkommne idealische Zuschauer die Welt der Scene gar nicht ästhetisch, sondern leibhaft empirisch auf sich wirken lasse. O über diese Griechen ! seufzten wir ; sie werfen uns unsre Aesthetik um ! Daran aber gewöhnt, wiederholten wir den Schlegel’schen Spruch, so oft der Chor zur Sprache kam. Aber jene so ausdrückliche Ueberlieferung redet hier gegen Schlegel : der Chor an sich, ohne Bühne, also die primitive Gestalt der Tragödie und jener Chor idealischer Zuschauer vertragen sich nicht mit einander. Was wäre das für eine Kunstgattung, die aus dem Begriff des Zuschauers herausgezogen wäre, als deren eigentliche Form der „Zuschauer an sich“ zu gelten habe. Der Zuschauer ohne Schauspiel ist ein widersinniger Begriff. Wir fürchten, dass die Geburt der Tragödie weder aus der Hochachtung vor der sittlichen Intelligenz der Masse, noch aus dem Begriff des schauspiellosen Zuschauers zu erklären sei und halten dies Problem für zu tief, um von so flachen Betrachtungsarten auch nur berührt zu werden. Eine unendlich werthvollere Einsicht über die Bedeutung des Chors hatte bereits Schiller in der berühmten Vorrede

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zur Braut von Messina verrathen, der den Chor als eine lebendige Mauer betrachtete, die die Tragödie um sich herum zieht, um sich von der wirklichen Welt rein abzuschliessen und sich ihren idealen Boden und ihre poetische Freiheit zu bewahren. Schiller kämpft mit dieser seiner Hauptwaffe gegen den gemeinen Begriff des Natürlichen, gegen die bei der dramatischen | Poesie gemeinhin geheischte Illusion. Während der Tag selbst auf dem Theater nur ein künstlicher, die Architektur nur eine symbolische sei und die metrische Sprache einen idealen Charakter trage, herrsche immer noch der Irrthum im Ganzen : es sei nicht genug, dass man das nur als eine poetische Freiheit dulde, was doch das Wesen aller Poesie sei. Die Einführung des Chores wäre der entscheidende Schritt, mit dem jedem Naturalismus in der Kunst offen und ehrlich der Krieg erklärt sei. – Eine solche Betrachtungsart ist es, scheint mir, für die unser sich überlegen wähnendes Zeitalter das wegwerfende Schlagwort „Pseudoidealismus“ gebraucht. Ich fürchte, wir sind dagegen mit unserer jetzigen Verehrung des Natürlichen und Wirklichen am Gegenpol alles Idealismus angelangt, nämlich in der Region der Wachsfigurencabinette. Auch in ihnen giebt es eine Kunst, wie bei gewissen beliebten Romanen der Gegenwart : nur quäle man uns nicht mit dem Anspruch, dass mit dieser Kunst der Schiller-Goethesche „Pseudoidealismus“ überwunden sei. Freilich ist es ein „idealer“ Boden, auf dem, nach der richtigen Einsicht Schillers, der griechische Satyrchor, der Chor der ursprünglichen Tragödie, zu wandeln pflegt, ein Boden hoch emporgehoben über die wirkliche Wandelbahn der Sterblichen. Der Grieche hat sich für diesen Chor die Schwebegerüste eines fi ngirten Nat u r z u s t a n d e s gezimmert und auf sie hin fi ngirte Nat u r we s e n gestellt. Die Tragödie ist auf diesem Fundamente emporgewachsen und freilich schon deshalb von Anbeginn an einem peinlichen Abkonterfeien der Wirklichkeit enthoben gewesen. Dabei ist es doch keine

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willkürlich zwischen Himmel und Erde hineinphantasirte Welt ; vielmehr eine Welt von gleicher Realität und Glaubwürdigkeit wie sie der Olymp sammt seinen Insassen für den gläubigen Hellenen besass. Der Satyr als der dionysische Choreut lebt in einer religiös zugestandenen Wirklichkeit | unter der Sanction des Mythus und des Cultus. Dass mit ihm die Tragödie beginnt, dass aus ihm die dionysische Weisheit der Tragödie spricht, ist ein hier uns eben so befremdendes Phänomen wie überhaupt die Entstehung der Tragödie aus dem Chore. Vielleicht gewinnen wir einen Ausgangspunkt der Betrachtung, wenn ich die Behauptung hinstelle, dass sich der Satyr, das fi ngirte Naturwesen, zu dem Culturmenschen in gleicher Weise verhält, wie die dionysische Musik zur Civilisation. Von letzterer sagt Richard Wagner, dass sie von der Musik aufgehoben werde wie der Lampenschein vom Tageslicht. In gleicher Weise, glaube ich, fühlte sich der griechische Culturmensch im Angesicht des Satyrchors aufgehoben : und dies ist die nächste Wirkung der dionysischen Tragödie, dass der Staat und die Gesellschaft, überhaupt die Klüfte zwischen Mensch und Mensch einem übermächtigen Einheitsgefühle weichen, welches an das Herz der Natur zurückführt. Der metaphysische Trost, – mit welchem, wie ich schon hier andeute, uns jede wahre Tragödie entlässt – dass das Leben im Grunde der Dinge, trotz allem Wechsel der Erscheinungen unzerstörbar mächtig und lustvoll sei, dieser Trost erscheint in leibhafter Deutlichkeit als Satyrchor, als Chor von Naturwesen, die gleichsam hinter aller Civilisation unvertilgbar leben und trotz allem Wechsel der Generationen und der Völkergeschichte ewig dieselben bleiben. Mit diesem Chore tröstet sich der tiefsinnige und zum zartesten und schwersten Leiden einzig befähigte Hellene, der mit schneidigem Blicke mitten in das furchtbare Vernichtungstreiben der sogenannten Weltgeschichte, eben so wie in die Grausamkeit der Natur geschaut hat und in Gefahr ist,

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sich nach einer buddhaistischen Verneinung des Willens zu sehnen. Ihn rettet die Kunst, und durch die Kunst rettet ihn sich – das Leben. | Die Verzückung des dionysischen Zustandes mit seiner Vernichtung der gewöhnlichen Schranken und Grenzen des Daseins enthält nämlich während seiner Dauer ein let h a r g i s c he s Element, in das sich alles persönlich in der Vergangenheit Erlebte eintaucht. So scheidet sich durch diese Kluft der Vergessenheit die Welt der alltäglichen und der dionysischen Wirklichkeit von einander ab. Sobald aber jene alltägliche Wirklichkeit wieder ins Bewusstsein tritt, wird sie mit Ekel als solche empfunden ; eine asketische, willenverneinende Stimmung ist die Frucht jener Zustände. In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet : beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben e r k a n nt , und es ekelt sie zu handeln ; denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfi nden es als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion – das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der aus zu viel Reflexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Möglichkeiten nicht zum Handeln kommt ; nicht das Reflectiren, nein ! – die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen. Jetzt verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine Welt nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den Göttern oder in einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins, jetzt versteht er

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das Symbolische im Schicksal der Ophelia, jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen : es ekelt ihn. | Hier, in dieser höchsten Gefahr des Willens, naht sich, als rettende, heilkundige Zauberin, die K u n s t ; sie allein vermag jene Ekelgedanken über das Entsetzliche oder Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben lässt : diese sind das E r h a b e ne als die künstlerische Bändigung des Entsetzlichen und das K om i s c he als die künstlerische Entladung vom Ekel des Absurden. Der Satyrchor des Dithyrambus ist die rettende That der griechischen Kunst ; an der Mittelwelt dieser dionysischen Begleiter erschöpften sich jene vorhin beschriebenen Anwandlungen. 8. Der Satyr wie der idyllische Schäfer unserer neueren Zeit sind Beide Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche gerichteten Sehnsucht ; aber mit welchem festen unerschrocknen Griffe fasste der Grieche nach seinem Waldmenschen, wie verschämt und weichlich tändelte der moderne Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden weichgearteten Hirten ! Die Natur, an der noch keine Erkenntniss gearbeitet, in der die Riegel der Cultur noch unerbrochen sind – das sah der Grieche in seinem Satyr, der ihm deshalb noch nicht mit dem Affen zusammenfiel. Im Gegentheil : es war das Urbild des Menschen, der Ausdruck seiner höchsten und stärksten Regungen, als begeisterter Schwärmer, den die Nähe des Gottes entzückt, als mitleidender Genosse, in dem sich das Leiden des Gottes wiederholt, als Weisheitsverkünder aus der tiefsten Brust der Natur heraus, als Sinnbild der geschlechtlichen Allgewalt der Natur, die der Grieche gewöhnt ist mit ehrfürchtigem Staunen zu betrachten. Der Satyr war etwas Erhabenes und Göttliches : so musste er besonders dem schmerzlich gebrochnen Blick des dionysischen Menschen dünken. Ihn hätte der geputzte, erlogene

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Schäfer | beleidigt : auf den unverhüllten und unverkümmert grossartigen Schriftzügen der Natur weilte sein Auge in erhabener Befriedigung ; hier war die Illusion der Cultur von dem Urbilde des Menschen weggewischt, hier enthüllte sich der wahre Mensch, der bärtige Satyr, der zu seinem Gotte aufjubelt. Vor ihm schrumpfte der Culturmensch zur lügenhaften Caricatur zusammen. Auch für diese Anfänge der tragischen Kunst hat Schiller Recht : der Chor ist eine lebendige Mauer gegen die anstürmende Wirklichkeit, weil er – der Satyrchor – das Dasein wahrhaftiger, wirklicher, vollständiger abbildet als der gemeinhin sich als einzige Realität achtende Culturmensch. Die Sphäre der Poesie liegt nicht ausserhalb der Welt, als eine phantastische Unmöglichkeit eines Dichterhirns : sie will das gerade Gegentheil sein, der ungeschminkte Ausdruck der Wahrheit und muss eben deshalb den lügenhaften Aufputz jener vermeinten Wirklichkeit des Culturmenschen von sich werfen. Der Contrast dieser eigentlichen Naturwahrheit und der sich als einzige Realität gebärdenden Culturlüge ist ein ähnlicher wie zwischen dem ewigen Kern der Dinge, dem Ding an sich, und der gesammten Erscheinungswelt : und wie die Tragödie mit ihrem metaphysischen Troste auf das ewige Leben jenes Daseinskernes, bei dem fortwährenden Untergange der Erscheinungen, hinweist, so spricht bereits die Symbolik des Satyrchors in einem Gleichniss jenes Urverhältniss zwischen Ding an sich und Erscheinung aus. Jener idyllische Schäfer des modernen Menschen ist nur ein Konterfei der ihm als Natur geltenden Summe von Bildungsillusionen ; der dionysische Grieche will die Wahrheit und die Natur in ihrer höchsten Kraft – er sieht sich zum Satyr verzaubert. Unter solchen Stimmungen und Erkenntnissen jubelt die schwärmende Schaar der Dionysusdiener : deren Macht sie selbst, vor ihren eignen Augen verwandelt, so dass sie sich | als wiederhergestellte Naturgenien, als Satyrn, zu erblicken

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wähnen. Die spätere Constitution des Tragödienchors ist die künstlerische Nachahmung jenes natürlichen Phänomens ; bei der nun allerdings eine Scheidung von dionysischen Zuschauern und dionysischen Verzauberten nöthig wurde. Nur muss man sich immer gegenwärtig halten, dass das Publicum der attischen Tragödie sich selbst in dem Chore der Orchestra wiederfand, dass es im Grunde keinen Gegensatz von Publicum und Chor gab : denn alles ist nur ein grosser erhabener Chor von tanzenden und singenden Satyrn oder von solchen, welche sich durch diese Satyrn repräsentiren lassen. Das Schlegel’sche Wort muss sich uns hier in einem tieferen Sinne erschliessen. Der Chor ist der „idealische Zuschauer“, insofern er der einzige S c h aue r ist, der Schauer der Visionswelt der Scene. Ein Publicum von Zuschauern, wie wir es kennen, war den Griechen unbekannt : in ihren Theatern war es Jedem, bei dem amphitheatralischen Bau des Zuschauerraumes, möglich, die gesammte Culturwelt um sich herum ganz eigentlich zu ü b e r s e h e n und in gesättigtem Hinschauen selbst Choreut sich zu wähnen. Nach dieser Einsicht dürfen wir den Chor, auf seiner primitiven Stufe in der Urtragödie, eine Selbstspiegelung des dionysischen Menschen nennen : als welches Phänomen am deutlichsten durch den Prozess des Schauspielers zu machen ist, der, bei wahrhafter Begabung, sein von ihm darzustellendes Rollenbild zum Greifen wahrnehmbar vor seinen Augen schweben sieht. Der Satyrchor ist zu allererst eine Vision der dionysischen Masse, wie wiederum die Welt der Bühne eine Vision dieses Satyrchors ist : die Kraft dieser Vision ist stark genug, um gegen den Eindruck der „Realität“, gegen die rings auf den Sitzreihen gelagerten Bildungsmenschen den Blick stumpf und unempfi ndlich zu machen. Die Form des griechischen Theaters erinnert an ein einsames Gebirgsthal : die Architektur der | Scene erscheint wie ein leuchtendes Wolkenbild, welches die im Gebirge herumschwärmenden Bacchen von der Höhe aus erblik-

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ken, als die herrliche Umrahmung, in deren Mitte ihnen das Bild des Dionysus offenbar wird. Jene künstlerische Urerscheinung, die wir hier zur Erklärung des Tragödienchors zur Sprache bringen, ist, bei unserer gelehrtenhaften Anschauung über die elementaren künstlerischen Prozesse, fast anstössig ; während nichts ausgemachter sein kann, als dass der Dichter nur dadurch Dichter ist, dass er von Gestalten sich umringt sieht, die vor ihm leben und handeln und in deren innerstes Wesen er hineinblickt. Durch eine eigenthümliche Schwäche der modernen Begabung sind wir geneigt, uns das ästhetische Urphänomen zu complicirt und abstract vorzustellen. Die Metapher ist für den ächten Dichter nicht eine rhetorische Figur, sondern ein stellvertretendes Bild, das ihm wirklich, an Stelle eines Begriffes, vorschwebt. Der Charakter ist für ihn nicht etwas aus zusammengesuchten Einzelzügen componirtes Ganzes, sondern eine vor seinen Augen aufdringlich lebendige Person, die von der gleichen Vision des Malers sich nur durch das fortwährende Weiterleben und Weiterhandeln unterscheidet. Wodurch schildert Homer so viel anschaulicher als alle Dichter ? Weil er um so viel mehr anschaut. Wir reden über Poesie so abstract, weil wir alle schlechte Dichter zu sein pflegen. Im Grunde ist das ästhetische Phänomen einfach ; man habe nur die Fähigkeit, fortwährend ein lebendiges Spiel zu sehen und immerfort von Geisterschaaren umringt zu leben, so ist man Dichter ; man fühle nur den Trieb, sich selbst zu verwandeln und aus anderen Leibern und Seelen herauszureden, so ist man Dramatiker. Die dionysische Erregung ist im Stande, einer ganzen Masse diese künstlerische Begabung mitzutheilen, sich von einer solchen Geisterschaar umringt zu sehen, mit der sie | sich innerlich eins weiss. Dieser Prozess des Tragödienchors ist das d r a m at i s c he Urphänomen : sich selbst vor sich verwandelt zu sehen und jetzt zu handeln, als ob man wirklich in einen

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andern Leib, in einen andern Charakter eingegangen wäre. Dieser Prozess steht an dem Anfang der Entwickelung des Dramas. Hier ist etwas Anderes als der Rhapsode, der mit seinen Bildern nicht verschmilzt, sondern sie, dem Maler ähnlich, mit betrachtendem Auge ausser sich sieht ; hier ist bereits ein Aufgeben des Individuums durch Einkehr in eine fremde Natur. Und zwar tritt dieses Phänomen epidemisch auf : eine ganze Schaar fühlt sich in dieser Weise verzaubert. Der Dithyramb ist deshalb wesentlich von jedem anderen Chorgesange unterschieden. Die Jungfrauen, die, mit Lorbeerzweigen in der Hand, feierlich zum Tempel des Apollo ziehn und dabei ein Prozessionslied singen, bleiben, wer sie sind, und behalten ihren bürgerlichen Namen : der dithyrambische Chor ist ein Chor von Verwandelten, bei denen ihre bürgerliche Vergangenheit, ihre sociale Stellung völlig vergessen ist : sie sind die zeitlosen, ausserhalb aller Gesellschaftssphären lebenden Diener ihres Gottes geworden. Alle andere Chorlyrik der Hellenen ist nur eine ungeheure Steigerung des apollinischen Einzelsängers : während im Dithyramb eine Gemeinde von unbewussten Schauspielern vor uns steht, die sich selbst unter einander als verwandelt ansehen. Die Verzauberung ist die Voraussetzung aller dramatischen Kunst. In dieser Verzauberung sieht sich der dionysische Schwärmer als Satyr, u nd a l s Sat y r w ieder u m sc haut er den G ot t d. h. er sieht in seiner Verwandlung eine neue Vision ausser sich, als apollinische Vollendung seines Zustandes. Mit dieser neuen Vision ist das Drama vollständig. Nach dieser Erkenntniss haben wir die griechische Tragödie als den dionysischen Chor zu verstehen, der sich immer von neuem wieder in einer apollinischen Bilderwelt ent ladet. | Jene Chorpartien, mit denen die Tragödie durchflochten ist, sind also gewissermaassen der Mutterschooss des ganzen sogenannten Dialogs d. h. der gesammten Bühnenwelt, des eigentlichen Dramas. In mehreren auf einander folgenden

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Entladungen strahlt dieser Urgrund der Tragödie jene Vision des Dramas aus : die durchaus Traumerscheinung und insofern epischer Natur ist, andrerseits aber, als Objectivation eines dionysischen Zustandes, nicht die apollinische Erlösung im Scheine, sondern im Gegentheil das Zerbrechen des Individuums und sein Einswerden mit dem Ursein darstellt. Somit ist das Drama die apollinische Versinnlichung dionysischer Erkenntnisse und Wirkungen und dadurch wie durch eine ungeheure Kluft vom Epos abgeschieden. Der C hor der griechischen Tragödie, das Symbol der gesammten dionysisch erregten Masse, fi ndet an dieser unserer Auffassung seine volle Erklärung. Während wir, mit der Gewöhnung an die Stellung eines Chors auf der modernen Bühne, zumal eines Opernchors, gar nicht begreifen konnten, wie jener tragische Chor der Griechen älter, ursprünglicher, ja wichtiger sein sollte, als die eigentliche „Action“, – wie dies doch so deutlich überliefert war – während wir wiederum mit jener überlieferten hohen Wichtigkeit und Ursprünglichkeit nicht reimen konnten, warum er doch nur aus niedrigen dienenden Wesen, ja zuerst nur aus bocksbeinigen Satyrn zusammengesetzt worden sei, während uns die Orchestra vor der Scene immer ein Räthsel blieb, sind wir jetzt zu der Einsicht gekommen, dass die Scene sammt der Action im Grunde und ursprünglich nur als V i s io n gedacht wurde, dass die einzige „Realität“ eben der Chor ist, der die Vision aus sich erzeugt und von ihr mit der ganzen Symbolik des Tanzes, des Tones und des Wortes redet. Dieser Chor schaut in seiner Vision seinen Herrn und Meister Dionysus und ist darum ewig der d ie ne nd e Chor : er sieht, wie dieser, der Gott, | leidet und sich verherrlicht, und h a nd e lt deshalb selbst nicht. Bei dieser, dem Gotte gegenüber durchaus dienenden Stellung ist er doch der höchste, nämlich dionysische Ausdruck der Nat u r und redet darum, wie diese, in der Begeisterung Orakel- und Weisheitssprüche : als der m it le id e nd e ist er zugleich der

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we i s e, aus dem Herzen der Welt die Wahrheit verkündende. So entsteht denn jene phantastische und so anstössig scheinende Figur des weisen und begeisterten Satyrs, der zugleich „der tumbe Mensch“ im Gegensatz zum Gotte ist : Abbild der Natur und ihrer stärksten Triebe, ja Symbol derselben und zugleich Verkünder ihrer Weisheit und Kunst : Musiker, Dichter, Tänzer, Geisterseher in einer Person. D io ny s u s , der eigentliche Bühnenheld und Mittelpunkt der Vision, ist gemäss dieser Erkenntniss und gemäss der Ueberlieferung, zuerst, in der allerältesten Periode der Tragödie, nicht wahrhaft vorhanden, sondern wird nur als vorhanden vorgestellt : d. h. ursprünglich ist die Tragödie nur „Chor“ und nicht „Drama“. Später wird nun der Versuch gemacht, den Gott als einen realen zu zeigen und die Visionsgestalt sammt der verklärenden Umrahmung als jedem Auge sichtbar darzustellen : damit beginnt das „Drama“ im engeren Sinne. Jetzt bekommt der dithyrambische Chor die Aufgabe, die Stimmung der Zuhörer bis zu dem Grade dionysisch anzuregen, dass sie, wenn der tragische Held auf der Bühne erscheint, nicht etwa den unförmlich maskirten Menschen sehen, sondern eine gleichsam aus ihrer eignen Verzückung geborene Visionsgestalt. Denken wir uns Admet mit tiefem Sinnen seiner jüngst abgeschiedenen Gattin Alcestis gedenkend und ganz im geistigen Anschauen derselben sich verzehrend – wie ihm nun plötzlich ein ähnlich gestaltetes, ähnlich schreitendes Frauenbild in Verhüllung entgegengeführt wird : denken wir uns seine plötzliche zitternde Unruhe, sein stürmisches Vergleichen, seine instinctive Ueberzeugung – so haben wir | ein Analogon zu der Empfi ndung, mit der der dionysisch erregte Zuschauer den Gott auf der Bühne heranschreiten sah, mit dessen Leiden er bereits eins geworden ist. Unwillkürlich übertrug er das ganze magisch vor seiner Seele zitternde Bild des Gottes auf jene maskirte Gestalt und löste ihre Realität gleichsam in eine geisterhafte Unwirklichkeit auf. Dies

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ist der apollinische Traumeszustand, in dem die Welt des Tages sich verschleiert und eine neue Welt, deutlicher, verständlicher, ergreifender als jene und doch schattengleicher, in fortwährendem Wechsel sich unserem Auge neu gebiert. Demgemäss erkennen wir in der Tragödie einen durchgreifenden Stilgegensatz : Sprache, Farbe, Beweglichkeit, Dynamik der Rede treten in der dionysischen Lyrik des Chors und andrerseits in der apollinischen Traumwelt der Scene als völlig gesonderte Sphären des Ausdrucks aus einander. Die apollinischen Erscheinungen, in denen sich Dionysus objectivirt, sind nicht mehr „ein ewiges Meer, ein wechselnd Weben, ein glühend Leben“, wie es die Musik des Chors ist, nicht mehr jene nur empfundenen, nicht zum Bilde verdichteten Kräfte, in denen der begeisterte Dionysusdiener die Nähe des Gottes spürt : jetzt spricht, von der Scene aus, die Deutlichkeit und Festigkeit der epischen Gestaltung zu ihm, jetzt redet Dionysus nicht mehr durch Kräfte, sondern als epischer Held, fast mit der Sprache Homers. 9. Alles, was im apollinischen Theile der griechischen Tragödie, im Dialoge, auf die Oberfläche kommt, sieht einfach, durchsichtig, schön aus. In diesem Sinne ist der Dialog ein Abbild des Hellenen, dessen Natur sich im Tanze offenbart, weil im Tanze die grösste Kraft nur potenziell ist, aber sich in der Geschmeidigkeit und Ueppigkeit der Bewegung verräth. | So überrascht uns die Sprache der sophokleischen Helden durch ihre apollinische Bestimmtheit und Helligkeit, so dass wir sofort bis in den innersten Grund ihres Wesens zu blicken wähnen, mit einigem Erstaunen, dass der Weg bis zu diesem Grunde so kurz ist. Sehen wir aber einmal von dem auf die Oberfläche kommenden und sichtbar werdenden Charakter des Helden ab – der im Grunde nichts mehr ist als das auf eine dunkle Wand geworfene Lichtbild d. h. Erscheinung durch und durch – dringen wir vielmehr in den Mythus ein, der

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in diesen hellen Spiegelungen sich projicirt, so erleben wir plötzlich ein Phänomen, das ein umgekehrtes Verhältniss zu einem bekannten optischen hat. Wenn wir bei einem kräftigen Versuch, die Sonne in’s Auge zu fassen, uns geblendet abwenden, so haben wir dunkle farbige Flecken gleichsam als Heilmittel vor den Augen : umgekehrt sind jene Lichtbilderscheinungen des sophokleischen Helden, kurz das Apollinische der Maske, nothwendige Erzeugungen eines Blickes in’s Innere und Schreckliche der Natur, gleichsam leuchtende Flecken zur Heilung des von grausiger Nacht versehrten Blikkes. Nur in diesem Sinne dürfen wir glauben, den ernsthaften und bedeutenden Begriff der „griechischen Heiterkeit“ richtig zu fassen ; während wir allerdings den falsch verstandenen Begriff dieser Heiterkeit im Zustande ungefährdeten Behagens auf allen Wegen und Stegen der Gegenwart antreffen. Die leidvollste Gestalt der griechischen Bühne, der unglückselige O e d i pu s , ist von Sophokles als der edle Mensch verstanden worden, der zum Irrthum und zum Elend trotz seiner Weisheit bestimmt ist, der aber am Ende durch sein ungeheures Leiden eine magische segensreiche Kraft um sich ausübt, die noch über sein Verscheiden hinaus wirksam ist. Der edle Mensch sündigt nicht, will uns der tiefsinnige Dichter sagen : durch sein Handeln mag jedes Gesetz, jede natürliche Ordnung, ja die sittliche Welt zu Grunde gehen, eben durch | dieses Handeln wird ein höherer magischer Kreis von Wirkungen gezogen, die eine neue Welt auf den Ruinen der umgestürzten alten gründen. Das will uns der Dichter, insofern er zugleich religiöser Denker ist, sagen : als Dichter zeigt er uns zuerst einen wunderbar geschürzten Prozessknoten, den der Richter langsam, Glied für Glied, zu seinem eigenen Verderben löst ; die echt hellenische Freude an dieser dialektischen Lösung ist so gross, dass hierdurch ein Zug von überlegener Heiterkeit über das ganze Werk kommt, der den schauderhaften Voraussetzungen jenes Prozesses überall die Spitze

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abbricht. Im „Oedipus auf Kolonos“ treffen wir diese selbe Heiterkeit, aber in eine unendliche Verklärung emporgehoben : dem vom Uebermaasse des Elends betroffenen Greise gegenüber, der allem, was ihn betriff t, rein als L e id e nd e r preisgegeben ist – steht die überirdische Heiterkeit, die aus göttlicher Sphäre herniederkommt und uns andeutet, dass der traurige Held in seinem rein passiven Verhalten seine höchste Activität erlangt, die weit über sein Leben hinausgreift, während sein bewusstes Tichten und Trachten im früheren Leben ihn nur zur Passivität geführt hat. So wird der für das sterbliche Auge unauflöslich verschlungene Prozessknoten der Oedipusfabel langsam entwirrt – und die tiefste menschliche Freude überkommt uns bei diesem göttlichen Gegenstück der Dialektik. Wenn wir mit dieser Erklärung dem Dichter gerecht geworden sind, so kann doch immer noch gefragt werden, ob damit der Inhalt des Mythus erschöpft ist : und hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung des Dichters nichts ist als eben jenes Lichtbild, welches uns, nach einem Blick in den Abgrund, die heilende Natur vorhält. Oedipus der Mörder seines Vaters, der Gatte seiner Mutter, Oedipus der Räthsellöser der Sphinx ! Was sagt uns die geheimnissvolle Dreiheit dieser Schicksalsthaten ? Es giebt einen uralten, besonders persischen Volksglauben, dass ein weiser Magier nur | aus Incest geboren werden könne : was wir uns, im Hinblick auf den räthsellösenden und seine Mutter freienden Oedipus, sofort so zu interpretiren haben, dass dort, wo durch weissagende und magische Kräfte der Bann von Gegenwart und Zukunft, das starre Gesetz der Individuation, und überhaupt der eigentliche Zauber der Natur gebrochen ist, eine ungeheure Naturwidrigkeit – wie dort der Incest – als Ursache vorausgegangen sein muss ; denn wie könnte man die Natur zum Preisgeben ihrer Geheimnisse zwingen, wenn nicht dadurch, dass man ihr siegreich widerstrebt, d. h. durch das Unnatürliche ? Diese Erkenntniss sehe ich in jener entsetzlichen Drei-

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heit der Oedipusschicksale ausgeprägt : derselbe, der das Räthsel der Natur  – jener doppeltgearteten Sphinx – löst, muss auch als Mörder des Vaters und Gatte der Mutter die heiligsten Naturordnungen zerbrechen. Ja, der Mythus scheint uns zuraunen zu wollen, dass die Weisheit und gerade die dionysische Weisheit ein naturwidriger Greuel sei, dass der, welcher durch sein Wissen die Natur in den Abgrund der Vernichtung stürzt, auch an sich selbst die Auflösung der Natur zu erfahren habe. „Die Spitze der Weisheit kehrt sich gegen den Weisen : Weisheit ist ein Verbrechen an der Natur“ : solche schreck liche Sätze ruft uns der Mythus zu : der hellenische Dichter aber berührt wie ein Sonnenstrahl die erhabene und furchtbare Memnonssäule des Mythus, so dass er plötzlich zu tönen beginnt – in sophokleischen Melodien ! Der Glorie der Passivität stelle ich jetzt die Glorie der Activität gegenüber, welche den P r o m e t h e u s des Aeschylus umleuchtet. Was uns hier der Denker Aeschylus zu sagen hatte, was er aber als Dichter durch sein gleichnissartiges Bild uns nur ahnen lässt, das hat uns der jugendliche Goethe in den verwegenen Worten seines Prometheus zu enthüllen gewusst : | „Hier sitz ich, forme Menschen Nach meinem Bilde, Ein Geschlecht, das mir gleich sei, Zu leiden, zu weinen, Zu geniessen und zu freuen sich, Und dein nicht zu achten, Wie ich !“

Der Mensch, in’s Titanische sich steigernd, erkämpft sich selbst seine Cultur und zwingt die Götter sich mit ihm zu verbinden, weil er in seiner selbsteignen Weisheit die Existenz und die Schranken derselben in seiner Hand hat. Das Wunderbarste an jenem Prometheusgedicht, das seinem Grundgedanken

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nach der eigentliche Hymnus der Unfrömmigkeit ist, ist aber der tiefe aeschyleische Zug nach G e r e c ht i g k e it : das unermessliche Leid des kühnen „Einzelnen“ auf der einen Seite, und die göttliche Noth, ja Ahnung einer Götterdämmerung auf der andern, die zur Versöhnung, zum metaphysischen Einssein zwingende Macht jener beiden Leidenswelten – dies alles erinnert auf das Stärkste an den Mittelpunkt und Hauptsatz der aeschyleischen Weltbetrachtung, die über Göttern und Menschen die Moira als ewige Gerechtigkeit thronen sieht. Bei der erstaunlichen Kühnheit, mit der Aeschylus die olympische Welt auf seine Gerechtigkeitswagschalen stellt, müssen wir uns vergegenwärtigen, dass der tiefsinnige Grieche einen unverrückbar festen Untergrund des metaphysischen Denkens in seinen Mysterien hatte, und dass sich an den Olympiern alle seine skeptischen Anwandelungen entladen konnten. Der griechische Künstler insbesondere empfand im Hinblick auf diese Gottheiten ein dunkles Gefühl wechselseitiger Abhängigkeit : und gerade im Prometheus des Aeschylus ist dieses Gefühl symbolisirt. Der titanische Künstler fand in sich den trotzigen Glauben, Menschen schaffen und olympische Götter wenigstens vernichten zu können : und dies durch seine höhere Weisheit, die er freilich durch ewiges | Leiden zu büssen gezwungen war. Das herrliche „Können“ des grossen Genius, das selbst mit ewigem Leide zu gering bezahlt ist, der herbe Stolz des K ü n s t le r s – das ist Inhalt und Seele der aeschyleischen Dichtung, während Sophokles in seinem Oedipus das Siegeslied des He i l i g e n präludirend anstimmt. Aber auch mit jener Deutung, die Aeschylus dem Mythus gegeben hat, ist dessen erstaunliche Schreckenstiefe nicht ausgemessen : vielmehr ist die Werdelust des Künstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen Schaffens nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt. Die Prometheussage ist ein ursprüngliches Eigenthum der gesammten arischen

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Völkergemeinde und ein Document für deren Begabung zum Tiefsinnig-Tragischen, ja es möchte nicht ohne Wahrscheinlichkeit sein, dass diesem Mythus für das arische Wesen eben dieselbe charakteristische Bedeutung innewohnt, die der Sündenfallmythus für das semitische hat, und dass zwischen beiden Mythen ein Verwandtschaftsgrad existirt, wie zwischen Bruder und Schwester. Die Voraussetzung jenes Prometheusmythus ist der überschwängliche Werth, den eine naive Menschheit dem Feue r beilegt als dem wahren Palladium jeder aufsteigenden Cultur : dass aber der Mensch frei über das Feuer waltet und es nicht nur durch ein Geschenk vom Himmel, als zündenden Blitzstrahl oder wärmenden Sonnenbrand empfängt, erschien jenen beschaulichen Ur-Menschen als ein Frevel, als ein Raub an der göttlichen Natur. Und so stellt gleich das erste philosophische Problem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die Pforte jeder Cultur. Das Beste und Höchste, dessen die Menschheit theilhaftig werden kann, erringt sie durch einen Frevel und muss nun wieder seine Folgen dahinnehmen, nämlich die ganze Fluth von Leiden und von Kümmernissen, | mit denen die beleidigten Himmlischen das edel emporstrebende Menschengeschlecht heimsuchen – müssen : ein herber Gedanke, der durch die Wü r d e, die er dem Frevel ertheilt, seltsam gegen den semitischen Sündenfallmythus absticht, in welchem die Neugierde, die lügnerische Vorspiegelung, die Verführbarkeit, die Lüsternheit, kurz eine Reihe vornehmlich weiblicher Affectionen als der Ursprung des Uebels angesehen wurde. Das, was die arische Vorstellung auszeichnet, ist die erhabene Ansicht von der ac t i ve n S ü nd e als der eigentlich prometheischen Tugend : womit zugleich der ethische Untergrund der pessimistischen Tragödie gefunden ist, als die R e c ht f e r t i g u n g des menschlichen Uebels, und zwar sowohl der menschlichen Schuld als des dadurch verwirkten Leidens. Das Unheil im

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Wesen der Dinge – das der beschauliche Arier nicht geneigt ist wegzudeuteln –, der Widerspruch im Herzen der Welt offenbart sich ihm als ein Durcheinander verschiedener Welten, z. B. einer göttlichen und einer menschlichen, von denen jede als Individuum im Recht ist, aber als einzelne neben einer andern für ihre Individuation zu leiden hat. Bei dem heroischen Drange des Einzelnen ins Allgemeine, bei dem Versuche, über den Bann der Individuation hinauszuschreiten und das e i ne Weltwesen selbst sein zu wollen, erleidet er an sich den in den Dingen verborgenen Urwiderspruch d. h. er frevelt und leidet. So wird von den Ariern der Frevel als Mann, von den Semiten die Sünde als Weib verstanden, so wie auch der Urfrevel vom Manne, die Ursünde vom Weibe begangen wird. Uebrigens sagt der Hexenchor : „Wir nehmen das nicht so genau : Mit tausend Schritten macht’s die Frau ; Doch wie sie auch sich eilen kann, Mit einem Sprunge macht’s der Mann“.

Wer jenen innersten Kern der Prometheussage versteht – nämlich die dem titanisch strebenden Individuum gebotene | Nothwendigkeit des Frevels – der muss auch zugleich das Unapollinische dieser pessimistischen Vorstellung empfi nden ; denn Apollo will die Einzelwesen gerade dadurch zur Ruhe bringen, dass er Grenzlinien zwischen ihnen zieht und dass er immer wieder an diese als an die heiligsten Weltgesetze mit seinen Forderungen der Selbsterkenntniss und des Maasses erinnert. Damit aber bei dieser apollinischen Tendenz die Form nicht zu ägyptischer Steifigkeit und Kälte erstarre, damit nicht unter dem Bemühen, der einzelnen Welle ihre Bahn und ihr Bereich vorzuschreiben, die Bewegung des ganzen See’s ersterbe, zerstörte von Zeit zu Zeit wieder die hohe Fluth des Dionysischen alle jene kleinen Zirkel, in die der einseitig apollinische „Wille“ das Hellenenthum zu bannen suchte.

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Jene plötzlich anschwellende Fluth des Dionysischen nimmt dann die einzelnen kleinen Wellenberge der Individuen auf ihren Rücken, wie der Bruder des Prometheus, der Titan Atlas, die Erde. Dieser titanische Drang, gleichsam der Atlas aller Einzelnen zu werden und sie mit breitem Rücken höher und höher, weiter und weiter zu tragen, ist das Gemeinsame zwischen dem Prometheischen und dem Dionysischen. Der aeschyleische Prometheus ist in diesem Betracht eine dionysische Maske, während in jenem vorhin erwähnten tiefen Zuge nach Gerechtigkeit Aeschylus seine väterliche Abstammung von Apollo, dem Gotte der Individuation und der Gerechtigkeitsgrenzen, dem Einsichtigen verräth. Und so möchte das Doppelwesen des aeschyleischen Prometheus, seine zugleich dionysische und apollinische Natur in begrifflicher Formel so ausgedrückt werden können : „Alles Vorhandene ist gerecht und ungerecht und in beidem gleich berechtigt“. Das ist deine Welt ! Das heisst eine Welt ! – | 10. Es ist eine unanfechtbare Ueberlieferung, dass die griechische Tragödie in ihrer ältesten Gestalt nur die Leiden des Dionysus zum Gegenstand hatte und dass der längere Zeit hindurch einzig vorhandene Bühnenheld eben Dionysus war. Aber mit der gleichen Sicherheit darf behauptet werden, dass niemals bis auf Euripides Dionysus aufgehört hat, der tragische Held zu sein, sondern dass alle die berühmten Figuren der griechischen Bühne Prometheus, Oedipus u. s. w. nur Masken jenes ursprünglichen Helden Dionysus sind. Dass hinter allen diesen Masken eine Gottheit steckt, das ist der eine wesentliche Grund für die so oft angestaunte typische „Idealität“ jener berühmten Figuren. Es hat ich weiss nicht wer behauptet, dass alle Individuen als Individuen komisch und damit untragisch seien : woraus zu entnehmen wäre, dass die Griechen überhaupt Individuen auf der tragischen Bühne nicht ertragen

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k o n nt e n . In der That scheinen sie so empfunden zu haben : wie überhaupt jene platonische Unterscheidung und Werthabschätzung der „Idee“ im Gegensatze zum „Idol“, zum Abbild tief im hellenischen Wesen begründet liegt. Um uns aber der Terminologie Plato’s zu bedienen, so wäre von den tragischen Gestalten der hellenischen Bühne etwa so zu reden : der eine wahrhaft reale Dionysus erscheint in einer Vielheit der Gestalten, in der Maske eines kämpfenden Helden und gleichsam in das Netz des Einzelwillens verstrickt. So wie jetzt der erscheinende Gott redet und handelt, ähnelt er einem irrenden strebenden leidenden Individuum : und dass er überhaupt mit dieser epischen Bestimmtheit und Deutlichkeit e r s c he i nt , ist die Wirkung des Traumdeuters Apollo, der dem Chore seinen dionysischen Zustand durch jene gleich|nissartige Erscheinung deutet. In Wahrheit aber ist jener Held der leidende Dionysus der Mysterien, jener die Leiden der Individuation an sich erfahrende Gott, von dem wundervolle Mythen erzählen, wie er als Knabe von den Titanen zerstückelt worden sei und nun in diesem Zustande als Zagreus verehrt werde : wobei angedeutet wird, dass diese Zerstückelung, das eigentlich dionysische L e id e n , gleich einer Umwandlung in Luft, Wasser, Erde und Feuer sei, dass wir also den Zustand der Individuation als den Quell und Urgrund alles Leidens, als etwas an sich Verwerfliches, zu betrachten hätten. Aus dem Lächeln dieses Dionysus sind die olympischen Götter, aus seinen Thränen die Menschen entstanden. In jener Existenz als zerstückelter Gott hat Dionysus die Doppelnatur eines grausamen verwilderten Dämons und eines milden sanftmüthigen Herrschers. Die Hoff nung der Epopten ging aber auf eine Wiedergeburt des Dionysus, die wir jetzt als das Ende der Individuation ahnungsvoll zu begreifen haben : diesem kommenden dritten Dionysus erscholl der brausende Jubelgesang der Epopten. Und nur in dieser Hoff nung giebt es einen Strahl von Freude auf dem Antlitze der zerrissenen, in Individuen

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zertrümmerten Welt : wie es der Mythus durch die in ewige Trauer versenkte Demeter verbildlicht, welche zum ersten Male wieder sich f r eut , als man ihr sagt, sie könne den Dionysus no c h e i n m a l gebären. In den angeführten Anschauungen haben wir bereits alle Bestandtheile einer tiefsinnigen und pessimistischen Weltbetrachtung und zugleich damit d ie My s t e r ie n le h r e d e r Tr a g ö d ie zusammen : die Grunderkenntniss von der Einheit alles Vorhandenen, die Betrachtung der Individuation als des Urgrundes des Uebels, das Schöne und die Kunst als die freudige Hoff nung, dass der Bann der Individuation zu zerbrechen sei, als die Ahnung einer wiederhergestellten Einheit. – | Es ist früher angedeutet worden, dass das homerische Epos die Dichtung der olympischen Cultur ist, mit der sie ihr eignes Siegeslied über die Schrecken des Titanenkampfes gesungen hat. Jetzt, unter dem übermächtigen Einflusse der tragischen Dichtung, werden die homerischen Mythen von Neuem umgeboren und zeigen in dieser Metempsychose, dass inzwischen auch die olympische Cultur von einer noch tieferen Weltbetrachtung besiegt worden ist. Der trotzige Titan Prometheus hat es seinem olympischen Peiniger angekündigt, dass einst seiner Herrschaft die höchste Gefahr drohe, falls er nicht zur rechten Zeit sich mit ihm verbinden werde. In Aeschylus erkennen wir das Bündniss des erschreckten, vor seinem Ende bangenden Zeus mit dem Titanen. So wird das frühere Titanenzeitalter nachträglich wieder aus dem Tartarus ans Licht geholt. Die Philosophie der wilden und nackten Natur schaut die vorübertanzenden Mythen der homerischen Welt mit der unverhüllten Miene der Wahrheit an : sie erbleichen, sie zittern vor dem blitzartigen Auge dieser Göttin – bis sie die mächtige Faust des dionysischen Künstlers in den Dienst der neuen Gottheit zwingt. Die dionysische Wahrheit übernimmt das gesammte Bereich des Mythus als Symbolik i h r e r Erkenntnisse und spricht diese theils in dem öffentlichen Cultus

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der Tragödie, theils in den geheimen Begehungen dramatischer Mysterienfeste, aber immer unter der alten mythischen Hülle aus. Welche Kraft war dies, die den Prometheus von seinen Geiern befreite und den Mythus zum Vehikel dionysischer Weisheit umwandelte ? Dies ist die heraklesmässige Kraft der Musik : als welche, in der Tragödie zu ihrer höchsten Erscheinung gekommen, den Mythus mit neuer tiefsinnigster Bedeutsamkeit zu interpretiren weiss ; wie wir dies als das mächtigste Vermögen der Musik früher schon zu charakterisiren hatten. Denn es ist das Loos jedes Mythus, allmählich in die Enge einer angeb|lich historischen Wirklichkeit hineinzukriechen und von irgend einer späteren Zeit als einmaliges Factum mit historischen Ansprüchen behandelt zu werden : und die Griechen waren bereits völlig auf dem Wege, ihren gan zen mythischen Jugendtraum mit Scharfsinn und Willkür in eine historisch-pragmatische Ju g e nd g e s c h ic ht e umzustempeln. Denn dies ist die Art, wie Religionen abzusterben pflegen : wenn nämlich die mythischen Voraussetzungen einer Religion unter den strengen, verstandesmässigen Augen eines rechtgläubigen Dogmatismus als eine fertige Summe von historischen Ereignissen systematisirt werden und man anfängt, ängstlich die Glaubwürdigkeit der Mythen zu vertheidigen, aber gegen jedes natürliche Weiterleben und Weiterwuchern derselben sich zu sträuben, wenn also das Gefühl für den Mythus abstirbt und an seine Stelle der Anspruch der Religion auf historische Grundlagen tritt. Diesen absterbenden Mythus ergriff jetzt der neugeborne Genius der dionysischen Musik : und in seiner Hand blühte er noch einmal, mit Farben, wie er sie noch nie gezeigt, mit einem Duft, der eine sehnsüchtige Ahnung einer metaphysischen Welt erregte. Nach diesem letzten Aufglänzen fällt er zusammen, seine Blätter werden welk, und bald haschen die spöttischen Luciane des Alterthums nach den von allen Winden fortgetragnen, entfärbten und verwüsteten Blumen. Durch die Tragödie kommt

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der Mythus zu seinem tiefsten Inhalt, seiner ausdrucksvollsten Form ; noch einmal erhebt er sich, wie ein verwundeter Held, und der ganze Ueberschuss von Kraft, sammt der weisheitsvollen Ruhe des Sterbenden, brennt in seinem Auge mit letztem, mächtigen Leuchten. Was wolltest du, frevelnder Euripides, als du diesen Sterbenden noch einmal zu deinem Frohndienste zu zwingen suchtest ? Er starb unter deinen gewaltsamen Händen : und jetzt brauchtest du einen nachgemachten, maskirten Mythus, | der sich wie der Affe des Herakles mit dem alten Prunke nur noch aufzuputzen wusste. Und wie dir der Mythus starb, so starb dir auch der Genius der Musik : mochtest du auch mit gierigem Zugreifen alle Gärten der Musik plündern, auch so brachtest du es nur zu einer nachgemachten maskirten Musik. Und weil du Dionysus verlassen, so verliess dich auch Apollo ; jage alle Leidenschaften von ihrem Lager auf und banne sie in deinen Kreis, spitze und feile dir für die Reden deiner Helden eine sophistische Dialektik zurecht – auch deine Helden haben nur nachgeahmte maskirte Leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskirte Reden. 11. Die griechische Tragödie ist anders zu Grunde gegangen als sämmtliche ältere schwesterliche Kunstgattungen : sie starb durch Selbstmord, in Folge eines unlösbaren Confl ictes, also tragisch, während jene alle in hohem Alter des schönsten und ruhigsten Todes verblichen sind. Wenn es nämlich einem glücklichen Naturzustande gemäss ist, mit schöner Nachkommenschaft und ohne Krampf vom Leben zu scheiden, so zeigt uns das Ende jener älteren Kunstgattungen einen solchen glücklichen Naturzustand : sie tauchen langsam unter, und vor ihren ersterbenden Blicken steht schon ihr schönerer Nachwuchs und reckt mit muthiger Gebärde ungeduldig das Haupt. Mit dem Tode der griechischen Tragödie dagegen ent-

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stand eine ungeheure, überall tief empfundene Leere ; wie einmal griechische Schiffer zu Zeiten des Tiberius an einem einsamen Eiland den erschütternden Schrei hörten „der grosse Pan ist todt“ : so klang es jetzt wie ein schmerzlicher Klageton durch die hellenische Welt : „die Tragödie ist todt ! Die Poesie selbst ist mit ihr verloren gegangen ! | Fort, fort mit euch verkümmerten, abgemagerten Epigonen ! Fort in den Hades, damit ihr euch dort an den Brosamen der vormaligen Meister einmal satt essen könnt !“ Als aber nun doch noch eine neue Kunstgattung auf blühte, die in der Tragödie ihre Vorgängerin und Meisterin verehrte, da war mit Schrecken wahrzunehmen, dass sie allerdings die Züge ihrer Mutter trage, aber dieselben, die jene in ihrem langen Todeskampfe gezeigt hatte. Diesen Todeskampf der Tragödie kämpfte Eu r i p id e s ; jene spätere Kunstgattung ist als neue r e at t i s c he K omö d ie bekannt. In ihr lebte die entartete Gestalt der Tragödie fort, zum Denkmale ihres überaus mühseligen und gewaltsamen Hinscheidens. Bei diesem Zusammenhange ist die leidenschaftliche Zuneigung begreiflich, welche die Dichter der neueren Komödie zu Euripides empfanden ; so dass der Wunsch des Philemon nicht weiter befremdet, der sich sogleich aufhängen lassen mochte, nur um den Euripides in der Unterwelt aufsuchen zu können : wenn er nur überhaupt überzeugt sein dürfte, dass der Verstorbene auch jetzt noch bei Verstande sei. Will man aber in aller Kürze und ohne den Anspruch, damit etwas Erschöpfendes zu sagen, dasjenige bezeichnen, was Euripides mit Menander und Philemon gemein hat und was für jene so aufregend vorbildlich wirkte : so genügt es zu sagen, dass d e r Zu s c h aue r von Euripides auf die Bühne gebracht worden ist. Wer erkannt hat, aus welchem Stoffe die prometheischen Tragiker vor Euripides ihre Helden formten und wie ferne ihnen die Absicht lag, die treue Maske der Wirklichkeit auf die Bühne zu bringen, der wird auch über die gänz-

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lich abweichende Tendenz des Euripides im Klaren sein. Der Mensch des alltäglichen Lebens drang durch ihn aus den Zuschauerräumen auf die Scene, der Spiegel, in dem früher nur die grossen und kühnen Züge zum Ausdruck kamen, zeigte jetzt eine peinliche Treue, die auch die misslungenen | Linien der Natur gewissenhaft wiedergiebt. Odysseus, der typische Hellene der älteren Kunst, sank jetzt unter den Händen der neueren Dichter zur Figur des Graeculus herab, der von jetzt ab als gutmüthig-verschmitzter Haussclave im Mittelpunkte des dramatischen Interesse’s steht. Was Euripides sich in den aristophanischen „Fröschen“ zum Verdienst anrechnet, dass er die tragische Kunst durch seine Hausmittel von ihrer pomphaften Beleibtheit befreit habe, das ist vor allem an seinen tragischen Helden zu spüren. Im Wesentlichen sah und hörte jetzt der Zuschauer seinen Doppelgänger auf der euripideischen Bühne und freute sich, dass jener so gut zu reden verstehe. Bei dieser Freude blieb es aber nicht : man lernte selbst bei Euripides sprechen, und dessen rühmt er sich selbst im Wettkampfe mit Aeschylus : wie durch ihn jetzt das Volk kunstmässig und mit den schlausten Sophisticationen zu beobachten, zu verhandeln und Folgerungen zu ziehen gelernt habe. Durch diesen Umschwung der öffentlichen Sprache hat er überhaupt die neuere Komödie möglich gemacht. Denn von jetzt ab war es kein Geheimniss mehr, wie und mit welchen Sentenzen die Alltäglichkeit sich auf der Bühne vertreten könne. Die bürgerliche Mittelmässigkeit, auf die Euripides alle seine politischen Hoff nungen auf baute, kam jetzt zu Wort, nachdem bis dahin in der Tragödie der Halbgott, in der Komödie der betrunkene Satyr oder der Halbgott den Sprachcharakter bestimmt hatten. Und so hebt der aristophanische Euripides zu seinem Preise hervor, wie er das allgemeine, allbekannte, alltägliche Leben und Treiben dargestellt habe, über das ein Jeder zu urtheilen befähigt sei. Wenn jetzt die ganze Masse philosophiere und mit unerhörter Klugheit Land

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und Gut verwalte, Prozesse führe u. s. w., so sei dies sein Verdienst und der Erfolg der von ihm dem Volke eingeimpften Weisheit. An eine derartig zubereitete und aufgeklärte Masse durfte | sich jetzt die neuere Komödie wenden, für die Euripides gewissermaassen der Chorlehrer geworden ist ; nur dass diesmal der Chor der Zuschauer eingeübt werden musste. Sobald dieser in der euripideischen Tonart zu singen geübt war, erhob sich die schachspielartige Gattung des Schauspiels, die neuere Komödie mit ihrem fortwährenden Triumphe der Schlauheit und Verschlagenheit. Euripides aber – der Chorlehrer – wurde unaufhörlich gepriesen : ja man würde sich getödtet haben, um noch mehr von ihm zu lernen, wenn man nicht gewusst hätte, dass die tragischen Dichter eben so todt seien wie die Tragödie. Mit ihr aber hatte der Hellene den Glauben an seine Unsterblichkeit aufgegeben, nicht nur den Glauben an eine ideale Vergangenheit, sondern auch den Glauben an eine ideale Zukunft. Das Wort aus der bekannten Grabschrift „als Greis leichtsinnig und grillig“ gilt auch vom greisen Hellenenthume. Der Augenblick, der Witz, der Leichtsinn, die Laune sind seine höchsten Gottheiten ; der fünfte Stand, der des Sclaven, kommt, wenigstens der Gesinnung nach, jetzt zur Herrschaft : und wenn jetzt überhaupt noch von „griechischer Heiterkeit“ die Rede sein darf, so ist es die Heiterkeit des Sclaven, der nichts Schweres zu verantworten, nichts Grosses zu erstreben, nichts Vergangenes oder Zukünftiges höher zu schätzen weiss als das Gegenwärtige. Dieser Schein der „griechischen Heiterkeit“ war es, der die tiefsinnigen und furchtbaren Naturen der vier ersten Jahrhunderte des Christenthums so empörte : ihnen erschien diese weibische Flucht vor dem Ernst und dem Schrecken, dieses feige Sichgenügenlassen am bequemen Genuss nicht nur verächtlich, sondern als die eigentlich antichristliche Gesinnung. Und ihrem Einfluss ist es zuzuschreiben, dass die durch Jahrhunderte fortlebende

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Anschauung des griechischen Alterthums mit fast unüberwindlicher Zähigkeit jene blassrothe Heiterkeitsfarbe festhielt – als ob es nie ein sechstes Jahrhundert mit | seiner Geburt der Tragödie, seinen Mysterien, seinen Pythagoras und Heraklit gegeben habe, ja als ob die Kunstwerke der grossen Zeit gar nicht vorhanden wären, die doch – jedes für sich – aus dem Boden einer solchen greisenhaften und sclavenmässigen Daseinslust und Heiterkeit gar nicht zu erklären sind und auf eine völlig andere Weltbetrachtung als ihren Existenzgrund hinweisen. Wenn zuletzt behauptet wurde, dass Euripides den Zuschauer auf die Bühne gebracht habe, um zugleich damit den Zuschauer zum Urtheil über das Drama erst wahrhaft zu befähigen, so entsteht der Schein, als ob die ältere tragische Kunst aus einem Missverhältniss zum Zuschauer nicht herausgekommen sei : und man möchte versucht sein, die radicale Tendenz des Euripides, ein entsprechendes Verhältniss zwischen Kunstwerk und Publicum zu erzielen, als einen Fortschritt über Sophokles hinaus zu preisen. Nun aber ist „Publicum“ nur ein Wort und durchaus keine gleichartige und in sich verharrende Grösse. Woher soll dem Künstler die Verpfl ichtung kommen, sich einer Kraft zu accommodieren, die ihre Stärke nur in der Zahl hat ? Und wenn er sich, seiner Begabung und seinen Absichten nach, über jeden einzelnen dieser Zuschauer erhaben fühlt, wie dürfte er vor dem gemeinsamen Ausdruck aller dieser ihm untergeordneten Capacitäten mehr Achtung empfi nden als vor dem relativ am höchsten begabten einzelnen Zuschauer ? In Wahrheit hat kein griechischer Künstler mit grösserer Verwegenheit und Selbstgenugsamkeit sein Publicum durch ein langes Leben hindurch behandelt als gerade Euripides : er, der selbst da noch, als die Masse sich ihm zu Füssen warf, in erhabenem Trotze seiner eigenen Tendenz öffentlich in’s Gesicht schlug, derselben Tendenz, mit der er über die Masse gesiegt hatte. Wenn dieser Genius die geringste Ehr-

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furcht vor dem Pandämonium des Publicums gehabt hätte, so wäre er unter den Keulen|schlägen seiner Misserfolge längst vor der Mitte seiner Lauf bahn zusammengebrochen. Wir sehen bei dieser Erwägung, dass unser Ausdruck, Euripides habe den Zuschauer auf die Bühne gebracht, um den Zuschauer wahrhaft urtheilsfähig zu machen, nur ein provisorischer war, und dass wir nach einem tieferen Verständniss seiner Tendenz zu suchen haben. Umgekehrt ist es ja allerseits bekannt, wie Aeschylus und Sophokles Zeit ihres Lebens, ja weit über dasselbe hinaus, im Vollbesitze der Volksgunst standen, wie also bei diesen Vorgängern des Euripides keineswegs von einem Missverhältniss zwischen Kunstwerk und Publicum die Rede sein kann. Was trieb den reichbegabten und unablässig zum Schaffen gedrängten Künstler so gewaltsam von dem Wege ab, über dem die Sonne der grössten Dichternamen und der unbewölkte Himmel der Volksgunst leuchteten ? Welche sonderbare Rücksicht auf den Zuschauer führte ihn dem Zuschauer entgegen ? Wie konnte er aus zu hoher Achtung vor seinem Publicum – sein Publicum missachten ? Euripides fühlte sich – das ist die Lösung des eben dargestellten Räthsels – als Dichter wohl über die Masse, nicht aber über zwei seiner Zuschauer erhaben : die Masse brachte er auf die Bühne, jene beiden Zuschauer verehrte er als die allein urtheilsfähigen Richter und Meister aller seiner Kunst : ihren Weisungen und Mahnungen folgend übertrug er die ganze Welt von Empfi ndungen, Leidenschaften und Zuständen, die bis jetzt auf den Zuschauerbänken als unsichtbarer Chor zu jeder Festvorstellung sich einstellten, in die Seelen seiner Bühnenhelden, ihren Forderungen gab er nach, als er für diese neuen Charaktere auch das neue Wort und den neuen Ton suchte, in ihren Stimmen allein hörte er die gültigen Richtersprüche seines Schaffens eben so wie die siegverheissende Ermuthigung, wenn er von der Justiz des Publicums sich wieder einmal verurtheilt sah. |

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Von diesen beiden Zuschauern ist der eine – Euripides selbst, Euripides a l s D e n k e r, nicht als Dichter. Von ihm könnte man sagen, dass die ausserordentliche Fülle seines kritischen Talentes, ähnlich wie bei Lessing, einen productiv künstlerischen Nebentrieb wenn nicht erzeugt, so doch fortwährend befruchtet habe. Mit dieser Begabung, mit aller Helligkeit und Behendigkeit seines kritischen Denkens hatte Euripides im Theater gesessen und sich angestrengt, an den Meisterwerken seiner grossen Vorgänger wie an dunkelgewordenen Gemälden Zug um Zug, Linie um Linie wiederzuerkennen. Und hier nun war ihm begegnet, was dem in die tieferen Geheimnisse der aeschyleischen Tragödie Eingeweihten nicht unerwartet sein darf : er gewahrte etwas Incommensurables in jedem Zug und in jeder Linie, eine gewisse täuschende Bestimmtheit und zugleich eine räthselhafte Tiefe, ja Unendlichkeit des Hintergrundes. Die klarste Figur hatte immer noch einen Kometenschweif an sich, der in’s Ungewisse, Unaufhellbare zu deuten schien. Dasselbe Zwielicht lag über dem Bau des Drama’s, zumal über der Bedeutung des Chors. Und wie zweifelhaft blieb ihm die Lösung der ethischen Probleme ! Wie fragwürdig die Behandlung der Mythen ! Wie ungleichmässig die Vertheilung von Glück und Unglück ! Selbst in der Sprache der älteren Tragödie war ihm vieles anstössig, mindestens räthselhaft ; besonders fand er zu viel Pomp für einfache Verhältnisse, zu viel Tropen und Ungeheuerlichkeiten für die Schlichtheit der Charaktere. So sass er, unruhig grübelnd, im Theater, und er, der Zuschauer, gestand sich, dass er seine grossen Vorgänger nicht verstehe. Galt ihm aber der Verstand als die eigentliche Wurzel alles Geniessens und Schaffens, so musste er fragen und um sich schauen, ob denn Niemand so denke wie er und sich gleichfalls jene Incommensurabilität eingestehe. Aber die Vielen und mit ihnen die besten Ein|zelnen hatten nur ein misstrauisches Lächeln für ihn ; erklären aber konnte ihm Keiner, warum seinen Bedenken

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und Einwendungen gegenüber die grossen Meister doch im Rechte seien. Und in diesem qualvollen Zustande fand er d e n a n d e r e n Z u s c h au e r, der die Tragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete. Mit diesem im Bunde durfte er es wagen, aus seiner Vereinsamung heraus den ungeheuren Kampf gegen die Kunstwerke des Aeschylus und Sophokles zu beginnen – nicht mit Streitschriften, sondern als dramatischer Dichter, der s e i ne Vorstellung von der Tragödie der überlieferten entgegenstellt. – 12. Bevor wir diesen anderen Zuschauer bei Namen nennen, verharren wir hier einen Augenblick, um uns jenen früher geschilderten Eindruck des Zwiespältigen und Incommensurabeln im Wesen der aeschyleischen Tragödie selbst in’s Gedächtniss zurückzurufen. Denken wir an unsere eigene Befremdung dem C hor e und dem t r a g i s c he n He ld e n jener Tragödie gegenüber, die wir beide mit unseren Gewohnheiten ebensowenig wie mit der Ueberlieferung zu reimen wussten – bis wir jene Doppelheit selbst als Ursprung und Wesen der griechischen Tragödie wiederfanden, als den Ausdruck zweier in einander gewobenen Kunsttriebe, d e s A p ol l i n i s c he n u nd d e s D iony s i s c he n . Jenes ursprüngliche und allmächtige dionysische Element aus der Tragödie auszuscheiden und sie rein und neu auf undionysischer Kunst, Sitte und Weltbetrachtung aufzubauen – dies ist die jetzt in heller Beleuchtung sich uns enthüllende Tendenz des Euripides. Euripides selbst hat am Abend seines Lebens die Frage nach dem Werth und der Bedeutung dieser Tendenz in einem | Mythus seinen Zeitgenossen auf das Nachdrücklichste vorgelegt. Darf überhaupt das Dionysische bestehn ? Ist es nicht mit Gewalt aus dem hellenischen Boden auszurotten ? Gewiss, sagt uns der Dichter, wenn es nur möglich wäre : aber der Gott Dionysus ist zu mächtig ; der verständigste Gegner – wie Pentheus

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in den „Bacchen“ – wird unvermuthet von ihm bezaubert und läuft nachher mit dieser Verzauberung in sein Verhängniss. Das Urtheil der beiden Greise Kadmus und Tiresias scheint auch das Urtheil des greisen Dichters zu sein : das Nachdenken der klügsten Einzelnen werfe jene alten Volkstraditionen, jene sich ewig fortpflanzende Verehrung des Dionysus nicht um, ja es gezieme sich, solchen wunderbaren Kräften gegenüber, mindestens eine diplomatisch vorsichtige Theilnahme zu zeigen : wobei es aber immer noch möglich sei, dass der Gott an einer so lauen Betheiligung Anstoss nimmt und den Diplomaten – wie hier den Kadmus – schliesslich in einen Drachen verwandelt. Dies sagt uns ein Dichter, der mit heroischer Kraft ein langes Leben hindurch dem Dionysus widerstanden hat – um am Ende desselben mit einer Glorification seines Gegners und einem Selbstmorde seine Lauf bahn zu schliessen, einem Schwindelnden gleich, der, um nur dem entsetzlichen, nicht mehr erträglichen Wirbel zu entgehn, sich vom Thurme herunterstürzt. Jene Tragödie ist ein Protest gegen die Ausführbarkeit seiner Tendenz ; ach, und sie war bereits ausgeführt ! Das Wunderbare war geschehn : als der Dichter widerrief, hatte bereits seine Tendenz gesiegt. Dionysus war bereits von der tragischen Bühne verscheucht und zwar durch eine aus Euripides redende dämonische Macht. Auch Euripides war in gewissem Sinne nur Maske : die Gottheit, die aus ihm redete, war nicht Dionysus, auch nicht Apollo, sondern ein ganz neugeborner Dämon, genannt S ok r at e s . Dies ist der neue Gegensatz : | das Dionysische und das Sokratische, und das Kunstwerk der griechischen Tragödie ging an ihm zu Grunde. Mag nun auch Euripides uns durch seinen Widerruf zu trösten suchen, es gelingt ihm nicht : der herrlichste Tempel liegt in Trümmern ; was nützt uns die Wehklage des Zerstörers und sein Geständniss, dass es der schönste aller Tempel gewesen sei ? Und selbst dass Euripides zur Strafe von den Kunstrichtern aller Zeiten in einen Drachen verwandelt

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worden ist – wen möchte diese erbärmliche Compensation befriedigen ? Nähern wir uns jetzt jener s ok r at i s c he n Tendenz, mit der Euripides die äschyleische Tragödie bekämpfte und besiegte. Welches Ziel – so müssen wir uns jetzt fragen – konnte die euripideische Absicht, das Drama allein auf das Undionysische zu gründen, in der höchsten Idealität ihrer Durchführung überhaupt haben ? Welche Form des Drama’s blieb noch übrig, wenn es nicht aus dem Geburtsschoosse der Musik, in jenem geheimnissvollen Zwielicht des Dionysischen geboren werden sollte ? Allein d a s d r a m at i s i r t e E p o s : in welchem apollinischen Kunstgebiete nun freilich die t r a g i s c he Wirkung unerreichbar ist. Es kommt hierbei nicht auf den Inhalt der dargestellten Ereignisse an ; ja ich möchte behaupten, dass es Goethe in seiner projectirten „Nausikaa“ unmöglich gewesen sein würde, den Selbstmord jenes idyllischen Wesens – der den fünften Act ausfüllen sollte – tragisch ergreifend zu machen ; so ungemein ist die Gewalt des Episch-Apollinischen, dass es die schreckensvollsten Dinge mit jener Lust am Scheine und der Erlösung durch den Schein vor unseren Augen verzaubert. Der Dichter des dramatisirten Epos kann eben so wenig wie der epische Rhapsode mit seinen Bildern völlig verschmelzen : er ist immer noch ruhig unbewegte, aus weiten Augen blickende An|schauung, die die Bilder vor sich sieht. Der Schauspieler in diesem dramatisirten Epos bleibt im tiefsten Grunde immer noch Rhapsode ; die Weihe des inneren Träumens liegt auf allen seinen Actionen, so dass er niemals ganz Schauspieler ist. Wie verhält sich nun diesem Ideal des apollinischen Drama’s gegenüber das euripideische Stück ? Wie der feierliche Rhapsode der alten Zeit zu jenem jüngeren, der sein Wesen im platonischen „Jon“ also beschreibt : „Wenn ich etwas Trauriges sage, füllen sich meine Augen mit Thränen ; ist aber das, was ich sage, schrecklich und entsetzlich, dann stehen die Haare

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meines Hauptes vor Schauder zu Berge, und mein Herz klopft“. Hier merken wir nichts mehr von jenem epischen Verlorensein im Scheine, von der affectlosen Kühle des wahren Schauspielers, der gerade in seiner höchsten Thätigkeit, ganz Schein und Lust am Scheine ist. Euripides ist der Schauspieler mit dem klopfenden Herzen, mit den zu Berge stehenden Haaren ; als sokratischer Denker entwirft er den Plan, als leidenschaftlicher Schauspieler führt er ihn aus. Reiner Künstler ist er weder im Entwerfen noch im Ausführen. So ist das euripideische Drama ein zugleich kühles und feuriges Ding, zum Erstarren und zum Verbrennen gleich befähigt ; es ist ihm unmöglich, die apollinische Wirkung des Epos zu erreichen, während es andererseits sich von den dionysischen Elementen möglichst gelöst hat, und jetzt, um überhaupt zu wirken, neue Erregungsmittel braucht, die nun nicht mehr innerhalb der beiden einzigen Kunsttriebe, des apollinischen und des dionysischen, liegen können. Diese Erregungsmittel sind kühle paradoxe G e d a n k e n – an Stelle der apollinischen Anschauungen – und feurige A f f e c t e – an Stelle der dionysischen Entzückungen – und zwar höchst realistisch nachgemachte, keineswegs in den Aether der Kunst getauchte Gedanken und Affecte. | Haben wir demnach so viel erkannt, dass es Euripides überhaupt nicht gelungen ist, das Drama allein auf das Apollinische zu gründen, dass sich vielmehr seine undionysische Tendenz in eine naturalistische und unkünstlerische verirrt hat, so werden wir jetzt dem Wesen des ä s t het i s c he n S ok r at i s mu s schon näher treten dürfen ; dessen oberstes Gesetz ungefähr so lautet : „alles muss verständig sein, um schön zu sein“ ; als Parallelsatz zu dem sokratischen „nur der Wissende ist tugendhaft“. Mit diesem Kanon in der Hand maass Euripides alles Einzelne und rectificirte es gemäss diesem Princip : die Sprache, die Charaktere, den dramaturgischen Auf bau, die Chormusik. Was wir im Vergleich mit der sophokleischen Tragödie so häufig dem Euripides als dichterischen Mangel

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und Rückschritt anzurechnen pflegen, das ist zumeist das Product jenes eindringenden kritischen Prozesses, jener verwegenen Verständigkeit. Der euripideische P r olog diene uns als Beispiel für die Productivität jener rationalistischen Methode. Nichts kann unserer Bühnentechnik widerstrebender sein als der Prolog im Drama des Euripides. Dass eine einzelne auftretende Person am Eingange des Stückes erzählt, wer sie sei, was der Handlung vorangehe, was bis jetzt geschehen, ja was im Verlaufe des Stückes geschehen werde, das würde ein moderner Theaterdichter als ein muthwilliges und nicht zu verzeihendes Verzichtleisten auf den Effect der Spannung bezeichnen. Man weiss ja alles, was geschehen wird ; wer wird abwarten wollen, dass dies wirklich geschieht ? – da ja hier keinesfalls das aufregende Verhältniss eines wahrsagenden Traumes zu einer später eintretenden Wirklichkeit stattfi ndet. Ganz anders reflectirte Euripides. Die Wirkung der Tragödie beruhte niemals auf der epischen Spannung, auf der anreizenden Ungewissheit, was sich jetzt und nachher ereignen werde : vielmehr auf jenen grossen rhetorischlyrischen Scenen, in denen die Lei|denschaft und die Dialektik des Haupthelden zu einem breiten und mächtigen Strome anschwoll. Zum Pathos, nicht zur Handlung bereitete Alles vor : und was nicht zum Pathos vorbereitete, das galt als verwerflich. Das aber, was die genussvolle Hingabe an solche Scenen am stärksten erschwert, ist ein dem Zuhörer fehlendes Glied, eine Lücke im Gewebe der Vorgeschichte ; so lange der Zuhörer noch ausrechnen muss, was diese und jene Person bedeute, was dieser und jener Confl ict der Neigungen und Absichten für Voraussetzungen habe, ist seine volle Versenkung in das Leiden und Thun der Hauptpersonen, ist das athemlose Mitleiden und Mitfürchten noch nicht möglich. Die aeschyleisch-sophokleische Tragödie verwandte die geistreichsten Kunstmittel, um dem Zuschauer in den ersten Scenen gewissermaassen zufällig alle jene zum Verständniss nothwendigen

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Fäden in die Hand zu geben : ein Zug, in dem sich jene edle Künstlerschaft bewährt, die das n ot hwe n d i g e Formelle gleichsam maskirt und als Zufälliges erscheinen lässt. Immerhin aber glaubte Euripides zu bemerken, dass während jener ersten Scenen der Zuschauer in eigenthümlicher Unruhe sei, um das Rechenexempel der Vorgeschichte auszurechnen, so dass die dichterischen Schönheiten und das Pathos der Exposition für ihn verloren ginge. Deshalb stellte er den Prolog noch vor die Exposition und legte ihn einer Person in den Mund, der man Vertrauen schenken durfte : eine Gottheit musste häufig den Verlauf der Tragödie dem Publicum gewissermaassen garantieren und jeden Zweifel an der Realität des Mythus nehmen : in ähnlicher Weise, wie Descartes die Realität der empirischen Welt nur durch die Appellation an die göttliche Wahrhaftigkeit und Unfähigkeit zur Lüge zu beweisen vermochte. Dieselbe göttliche Wahrhaftigkeit braucht Euripides noch einmal am Schlusse seines Drama’s, um die Zukunft seiner Helden dem Publicum sicher zu stellen ; dies ist die | Aufgabe des berüchtigten deus ex machina. Zwischen der epischen Vorschau und Hinausschau liegt die dramatischlyrische Gegenwart, das eigentliche „Drama“. So ist Euripides vor allem als Dichter der Wiederhall seiner bewussten Erkenntnisse ; und gerade dies verleiht ihm eine so denkwürdige Stellung in der Geschichte der griechischen Kunst. Ihm muss im Hinblick auf sein kritisch-productives Schaffen oft zu Muthe gewesen sein als sollte er den Anfang der Schrift des Anaxagoras für das Drama lebendig machen, deren erste Worte lauten : „im Anfang war alles beisammen ; da kam der Verstand und schuf Ordnung“. Und wenn Anaxagoras mit seinem „Nous“ unter den Philosophen wie der erste Nüchterne unter lauter Trunkenen erschien, so mag auch Euripides sein Verhältniss zu den anderen Dichtern der Tragödie unter einem ähnlichen Bilde begriffen haben. So lange der einzige Ordner und Walter des Alls, der Nous, noch vom

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künstlerischen Schaffen ausgeschlossen war, war noch alles in einem chaotischen Urbrei beisammen ; so musste Euripides urtheilen, so musste er die „trunkenen“ Dichter als der erste „Nüchterne“ verurtheilen. Das, was Sophokles von Aeschylus gesagt hat, er thue das Rechte, obschon unbewusst, war gewiss nicht im Sinne des Euripides gesagt : der nur so viel hätte gelten lassen, dass Aeschylus, we i l er unbewusst schaffe, das Unrechte schaffe. Auch der göttliche Plato redet vom schöpferischen Vermögen des Dichters, insofern dies nicht die bewusste Einsicht ist, zu allermeist nur ironisch und stellt es der Begabung des Wahrsagers und Traumdeuters gleich ; sei doch der Dichter nicht eher fähig zu dichten als bis er bewusstlos geworden sei, und kein Verstand mehr in ihm wohne. Euripides unternahm es, wie es auch Plato unternommen hat, das Gegenstück des „unverständigen“ Dichters der Welt zu zeigen ; sein ästhetischer Grundsatz „alles muss bewusst sein, um | schön zu sein“, ist, wie ich sagte, der Parallelsatz zu dem sokratischen „alles muss bewusst sein, um gut zu sein“. Demgemäss darf uns Euripides als der Dichter des ästhetischen Sokratismus gelten. Sokrates aber war jener z we it e Zu s c h aue r, der die ältere Tragödie nicht begriff und deshalb nicht achtete ; mit ihm im Bunde wagte Euripides, der Herold eines neuen Kunstschaffens zu sein. Wenn an diesem die ältere Tragödie zu Grunde ging, so ist also der aesthetische Sokratismus das mörderische Princip : insofern aber der Kampf gegen das Dionysische der älteren Kunst gerichtet war, erkennen wir in Sokrates den Gegner des Dionysus, den neuen Orpheus, der sich gegen Dionysus erhebt und, obschon bestimmt, von den Mänaden des athenischen Gerichtshofs zerrissen zu werden, doch den übermächtigen Gott selbst zur Flucht nöthigt : als welcher, wie damals, als er vor dem Edonerkönig Lykurgos floh, sich in die Tiefen des Meeres rettete, nämlich in die mystischen Fluthen eines die ganze Welt allmählich überziehenden Geheimcultus.

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13. Dass Sokrates eine enge Beziehung der Tendenz zu Euripides habe, entging dem gleichzeitigen Alterthume nicht ; und der beredteste Ausdruck für diesen glücklichen Spürsinn ist jene in Athen umlaufende Sage, Sokrates pflege dem Euripides im Dichten zu helfen. Beide Namen wurden von den Anhängern der „guten alten Zeit“ in einem Athem genannt, wenn es galt, die Volksverführer der Gegenwart aufzuzählen : von deren Einflusse es abhänge, dass die alte marathonische vierschrötige Tüchtigkeit an Leib und Seele immer mehr einer zweifelhaften Aufklärung, bei fortschreitender Verkümmerung der leiblichen und seelischen Kräfte, zum | Opfer falle. In dieser Tonart, halb mit Entrüstung, halb mit Verachtung, pflegt die aristophanische Komödie von jenen Männern zu reden, zum Schrecken der Neueren, welche zwar Euripides gerne preisgeben, aber sich nicht genug darüber wundern können, dass Sokrates als der erste und oberste S o ph i s t , als der Spiegel und Inbegriff aller sophistischen Bestrebungen bei Aristophanes erscheine : wobei es einzig einen Trost gewährt, den Aristophanes selbst als einen lüderlich lügenhaften Alcibiades der Poesie an den Pranger zu stellen. Ohne an dieser Stelle die tiefen Instincte des Aristophanes gegen solche Angriffe in Schutz zu nehmen, fahre ich fort, die enge Zusammengehörigkeit des Sokrates und des Euripides aus der antiken Empfi ndung heraus zu erweisen ; in welchem Sinne namentlich daran zu erinnern ist, dass Sokrates als Gegner der tragischen Kunst sich des Besuchs der Tragödie enthielt, und nur, wenn ein neues Stück des Euripides aufgeführt wurde, sich unter den Zuschauern einstellte. Am berühmtesten ist aber die nahe Zusammenstellung beider Namen in dem delphischen Orakelspruche, welcher Sokrates als den Weisesten unter den Menschen bezeichnet, zugleich aber das Urtheil abgab, dass dem Euripides der zweite Preis im Wettkampfe der Weisheit gebühre.

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Als der dritte in dieser Stufenleiter war Sophokles genannt ; er, der sich gegen Aeschylus rühmen durfte, er thue das Rechte und zwar, weil er w i s s e, was das Rechte sei. Offenbar ist gerade der Grad der Helligkeit dieses W i s s e n s dasjenige, was jene drei Männer gemeinsam als die drei „Wissenden“ ihrer Zeit auszeichnet. Das schärfste Wort aber für jene neue und unerhörte Hochschätzung des Wissens und der Einsicht sprach Sokrates, als er sich als den Einzigen vorfand, der sich eingestehe, n ic ht s z u w i s s e n ; während er, auf seiner kritischen Wanderung durch Athen, bei den grössten Staatsmännern, Rednern, | Dichtern und Künstlern vorsprechend, überall die Einbildung des Wissens antraf. Mit Staunen erkannte er, dass alle jene Berühmtheiten selbst über ihren Beruf ohne richtige und sichere Einsicht seien und denselben nur aus Instinct trieben. „Nur aus Instinct“ : mit diesem Ausdruck berühren wir Herz und Mittelpunkt der sokratischen Tendenz. Mit ihm verurtheilt der Sokratismus eben so die bestehende Kunst wie die bestehende Ethik : wohin er seine prüfenden Blicke richtet, sieht er den Mangel der Einsicht und die Macht des Wahns und schliesst aus diesem Mangel auf die innerliche Verkehrtheit und Verwerflichkeit des Vorhandenen. Von diesem einen Punkte aus glaubte Sokrates das Dasein corrigieren zu müssen : er, der Einzelne, tritt mit der Miene der Nichtachtung und der Ueberlegenheit, als der Vorläufer einer ganz anders gearteten Cultur, Kunst und Moral, in eine Welt hinein, deren Zipfel mit Ehrfurcht zu erhaschen wir uns zum grössten Glücke rechnen würden. Dies ist die ungeheuere Bedenklichkeit, die uns jedesmal, Angesichts des Sokrates, ergreift und die uns immer und immer wieder anreizt, Sinn und Absicht dieser fragwürdigsten Erscheinung des Alterthums zu erkennen. Wer ist das, der es wagen darf, als ein Einzelner das griechische Wesen zu verneinen, das als Homer, Pindar und Aeschylus, als Phidias, als

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Perikles, als Pythia und Dionysus, als der tiefste Abgrund und die höchste Höhe unserer staunenden Anbetung gewiss ist ? Welche dämonische Kraft ist es, die diesen Zaubertrank in den Staub zu schütten sich erkühnen darf ? Welcher Halbgott ist es, dem der Geisterchor der Edelsten der Menschheit zurufen muss : „Weh ! Weh ! Du hast sie zerstört, die schöne Welt, mit mächtiger Faust ; sie stürzt, sie zerfällt !“ Einen Schlüssel zu dem Wesen des Sokrates bietet uns jene wunderbare Erscheinung, die als „Dämonion des Sokrates“ | bezeichnet wird. In besonderen Lagen, in denen sein ungeheurer Verstand in’s Schwanken gerieth, gewann er einen festen Anhalt durch eine in solchen Momenten sich äussernde göttliche Stimme. Diese Stimme m a h nt , wenn sie kommt, immer a b. Die instinctive Weisheit zeigt sich bei dieser gänzlich abnormen Natur nur, um dem bewussten Erkennen hier und da h i nd er nd entgegenzutreten. Während doch bei allen productiven Menschen der Instinct gerade die schöpferischaffi rmative Kraft ist, und das Bewusstsein kritisch und abmahnend sich gebärdet : wird bei Sokrates der Instinct zum Kritiker, das Bewusstsein zum Schöpfer – eine wahre Monstrosität per defectum ! Und zwar nehmen wir hier einen monstrosen defectus jeder mystischen Anlage wahr, so dass Sokrates als der specifische Nic ht-Myst i k er zu bezeichnen wäre, in dem die logische Natur durch eine Superfötation eben so excessiv entwickelt ist wie im Mystiker jene instinctive Weisheit. Andrerseits aber war es jenem in Sokrates erscheinenden logischen Triebe völlig versagt, sich gegen sich selbst zu kehren ; in diesem fessellosen Dahinströmen zeigt er eine Naturgewalt, wie wir sie nur bei den allergrössten instinctiven Kräften zu unsrer schaudervollen Ueberraschung antreffen. Wer nur einen Hauch von jener göttlichen Naivetät und Sicherheit der sokratischen Lebensrichtung aus den platonischen Schriften gespürt hat, der fühlt auch, wie das ungeheure Triebrad des logischen Sokratismus gleichsam h i nt e r Sokrates in

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Bewegung ist, und wie dies durch Sokrates wie durch einen Schatten hindurch angeschaut werden muss. Dass er aber selbst von diesem Verhältniss eine Ahnung hatte, das drückt sich in dem würdevollen Ernste aus, mit dem er seine göttliche Berufung überall und noch vor seinen Richtern geltend machte. Ihn darin zu widerlegen war im Grunde eben so unmöglich als seinen die Instincte auflösenden Einfluss gut zu heissen. Bei diesem unlösbaren Confl icte | war, als er einmal vor das Forum des griechischen Staates gezogen war, nur eine einzige Form der Verurtheilung geboten, die Verbannung ; als etwas durchaus Räthselhaftes, Unrubricirbares, Unaufklärbares hätte man ihn über die Grenze weisen dürfen, ohne dass irgend eine Nachwelt im Recht gewesen wäre, die Athener einer schmählichen That zu zeihen. Dass aber der Tod und nicht nur die Verbannung über ihn ausgesprochen wurde, das scheint Sokrates selbst, mit völliger Klarheit und ohne den natürlichen Schauder vor dem Tode, durchgesetzt zu haben : er ging in den Tod, mit jener Ruhe, mit der er nach Plato’s Schilderung als der letzte der Zecher im frühen Tagesgrauen das Symposion verlässt, um einen neuen Tag zu beginnen ; indess hinter ihm, auf den Bänken und auf der Erde, die verschlafenen Tischgenossen zurückbleiben, um von Sokrates, dem wahrhaften Erotiker, zu träumen. Der sterbende Sok r ate s wurde das neue, noch nie sonst geschaute Ideal der edlen griechischen Jugend : vor allen hat sich der typische hellenische Jüngling, Plato, mit aller inbrünstigen Hingebung seiner Schwärmerseele vor diesem Bilde niedergeworfen. 14. Denken wir uns jetzt das eine grosse Cyklopenauge des Sokrates auf die Tragödie gewandt, jenes Auge, in dem nie der holde Wahnsinn künstlerischer Begeisterung geglüht hat – denken wir uns, wie es jenem Auge versagt war, in die dionysischen Abgründe mit Wohlgefallen zu schauen – was eigentlich

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musste es in der „erhabenen und hochgepriesenen“ tragischen Kunst, wie sie Plato nennt, erblicken ? Etwas recht Unvernünftiges, mit Ursachen, die ohne Wirkungen, und mit Wirkungen, die ohne Ursachen zu sein schienen, dazu das Ganze so bunt und mannichfaltig, dass es einer besonnenen | Gemüthsart widerstreben müsse, für reizbare und empfi ndliche Seelen aber ein gefährlicher Zunder sei. Wir wissen, welche einzige Gattung der Dichtkunst von ihm begriffen wurde, die ae s o p i s c he Fa b e l : und dies geschah gewiss mit jener lächelnden Anbequemung, mit der der ehrliche gute Gellert in der Fabel von der Biene und der Henne das Lob der Poesie singt : „Du siehst an mir, wozu sie nützt, Dem, der nicht viel Verstand besitzt, Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen“.

Nun aber schien Sokrates die tragische Kunst nicht einmal „die Wahrheit zu sagen“ : abgesehen davon, dass sie sich an den wendet, der „nicht viel Verstand besitzt“, also nicht an den Philosophen : ein zweifacher Grund, von ihr fern zu bleiben. Wie Plato, rechnete er sie zu den schmeichlerischen Künsten, die nur das Angenehme, nicht das Nützliche darstellen und verlangte deshalb bei seinen Jüngern Enthaltsamkeit und strenge Absonderung von solchen unphilosophischen Reizungen ; mit solchem Erfolge, dass der jugendliche Tragödiendichter Plato zu allererst seine Dichtungen verbrannte, um Schüler des Sokrates werden zu können. Wo aber unbesiegbare Anlagen gegen die sokratischen Maximen ankämpften, war die Kraft derselben, sammt der Wucht jenes ungeheuren Charakters, immer noch gross genug, um die Poesie selbst in neue und bis dahin unbekannte Stellungen zu drängen. Ein Beispiel dafür ist der eben genannte Plato : er, der in der Verurtheilung der Tragödie und der Kunst überhaupt gewiss nicht hinter dem naiven Cynismus seines Meisters zurückge-

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blieben ist, hat doch aus voller künstlerischer Nothwendigkeit eine Kunstform schaffen müssen, die gerade mit den vorhandenen und von ihm abgewiesenen Kunstformen innerlich verwandt ist. Der Hauptvorwurf, den Plato der | älteren Kunst zu machen hatte, – dass sie Nachahmung eines Scheinbildes sei, also noch einer niedrigeren Sphäre als die empirische Welt ist angehöre – durfte vor allem nicht gegen das neue Kunstwerk gerichtet werden : und so sehen wir denn Plato bestrebt über die Wirklichkeit hinaus zu gehn und die jener PseudoWirklichkeit zu Grunde liegende Idee darzustellen. Damit aber war der Denker Plato auf einem Umwege ebendahin gelangt, wo er als Dichter stets heimisch gewesen war und von wo aus Sophokles und die ganze ältere Kunst feierlich gegen jenen Vorwurf protestirten. Wenn die Tragödie alle früheren Kunstgattungen in sich aufgesaugt hatte, so darf dasselbe wiederum in einem excentrischen Sinne vom platonischen Dialoge gelten, der, durch Mischung aller vorhandenen Stile und Formen erzeugt, zwischen Erzählung, Lyrik, Drama, zwischen Prosa und Poesie in der Mitte schwebt und damit auch das strenge ältere Gesetz der einheitlichen sprachlichen Form durchbrochen hat ; auf welchem Wege die c y n i s c he n Schriftsteller noch weiter gegangen sind, die in der grössten Buntscheckigkeit des Stils, im Hin- und Herschwanken zwischen prosaischen und metrischen Formen auch das litterarische Bild des „rasenden Sokrates“, den sie im Leben darzustellen pflegten, erreicht haben. Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn, auf dem sich die schiff brüchige ältere Poesie sammt allen ihren Kindern rettete : auf einen engen Raum zusammengedrängt und dem einen Steuermann Sokrates ängstlich unterthänig fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die an dem phantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt sehen konnte. Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben, das Vorbild des Rom a n’s : der als die unendlich gesteigerte aesopische

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Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rangordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wie viele Jahr|hunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie : nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die sie Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte. Hier überwächst der p h i l o s o p h i s c h e G e d a n k e die Kunst und zwingt sie zu einem engen Sich-Anklammern an den Stamm der Dialektik. In dem logischen Schematismus hat sich die ap ol l i n i s c he Tendenz verpuppt : wie wir bei Euripides etwas Entsprechendes und ausserdem eine Uebersetzung des D i o n y s i s c h e n in den naturwahren Affect wahrzunehmen hatten. Sokrates, der dialektische Held im platonischen Drama, erinnert uns an die verwandte Natur des euripideischen Helden, der durch Grund und Gegengrund seine Handlungen vertheidigen muss und dadurch so oft in Gefahr geräth, unser tragisches Mitleiden einzubüssen ; denn wer vermöchte das opt i m i s t i s c he Element im Wesen der Dialektik zu verkennen, das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in kühler Helle und Bewusstheit athmen kann : das optimistische Element, das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischen Regionen allmählich überwuchern und sie nothwendig zur Selbstvernichtung treiben muss – bis zum Todessprunge in’s bürgerliche Schauspiel. Man vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze : „Tugend ist Wissen ; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit ; der Tugendhafte ist der Glückliche“ : in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie. Denn jetzt muss der tugendhafte Held Dialektiker sein, jetzt muss zwischen Tugend und Wissen, Glaube und Moral ein nothwendiger sichtbarer Verband sein, jetzt ist die transscendentale Gerechtigkeitslösung des Aeschylus zu dem flachen und frechen Princip der „poetischen Gerechtigkeit“ mit seinem üblichen deus ex machina erniedrigt.

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Wie erscheint dieser neuen sokratisch-optimistischen Bühnenwelt gegenüber jetzt der C hor und überhaupt der | ganze musikalisch-dionysische Untergrund der Tragödie ? Als etwas Zufälliges, als eine auch wohl zu missende Reminiscenz an den Ursprung der Tragödie ; während wir doch eingesehen haben, dass der Chor nur als Ur s ac he der Tragödie und des Tragischen überhaupt verstanden werden kann. Schon bei Sophokles beginnt jene Verlegenheit in Betreff des Chor’s – ein wichtiges Zeichen, dass schon bei ihm der dionysische Boden der Tragödie zu zerbröckeln beginnt. Er wagt es nicht mehr, dem Chor den Hauptantheil der Wirkung anzuvertrauen, sondern schränkt sein Bereich dermaassen ein, dass er jetzt fast den Schauspielern coordinirt erscheint, gleich als ob er aus der Orchestra in die Scene hineingehoben würde : womit freilich sein Wesen völlig zerstört ist, mag auch Aristoteles gerade dieser Auffassung des Chors seine Beistimmung geben. Jene Verrückung der Chorposition, welche Sophokles jedenfalls durch seine Praxis und, der Ueberlieferung nach, sogar durch eine Schrift anempfohlen hat, ist der erste Schritt zur Ve r n ic h t u n g des Chors, deren Phasen in Euripides, Agathon und der neueren Komödie mit erschreckender Schnelligkeit auf einander folgen. Die optimistische Dialektik treibt mit der Geissel ihrer Syllogismen die Mu s i k aus der Tragödie : d. h. sie zerstört das Wesen der Tragödie, welches sich einzig als eine Manifestation und Verbildlichung dionysischer Zustände, als sichtbare Symbolisirung der Musik, als die Traumwelt eines dionysischen Rausches interpretiren lässt. Haben wir also sogar eine schon vor Sokrates wirkende antidionysische Tendenz anzunehmen, die nur in ihm einen unerhört grossartigen Ausdruck gewinnt : so müssen wir nicht vor der Frage zurückschrecken, wohin denn eine solche Erscheinung wie die des Sokrates deute : die wir doch nicht im Stande sind, Angesichts der platonischen Dialoge, als eine nur auflösende negative Macht zu begreifen. Und so gewiss | die

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allernächste Wirkung des sokratischen Triebes auf eine Zersetzung der dionysischen Tragödie ausging, so zwingt uns eine tiefsinnige Lebenserfahrung des Sokrates selbst zu der Frage, ob denn zwischen dem Sokratismus und der Kunst not hwe nd i g nur ein antipodisches Verhältniss bestehe und ob die Geburt eines „künstlerischen Sokrates“ überhaupt etwas in sich Widerspruchsvolles sei. Jener despotische Logiker hatte nämlich hier und da der Kunst gegenüber das Gefühl einer Lücke, einer Leere, eines halben Vorwurfs, einer vielleicht versäumten Pfl icht. Oefters kam ihm, wie er im Gefängniss seinen Freunden erzählt, ein und dieselbe Traumerscheinung, die immer dasselbe sagte : „Sokrates, treibe Musik !“ Er beruhigt sich bis zu seinen letzten Tagen mit der Meinung, sein Philosophieren sei die höchste Musenkunst, und glaubt nicht recht, dass eine Gottheit ihn an jene „gemeine, populäre Musik“ erinnern werde. Endlich im Gefängniss versteht er sich, um sein Gewissen gänzlich zu entlasten, auch dazu, jene von ihm gering geachtete Musik zu treiben. Und in dieser Gesinnung dichtet er ein Proömium auf Apollo und bringt einige aesopische Fabeln in Verse. Das war etwas der dämonischen warnenden Stimme Aehnliches, das ihn zu diesen Uebungen drängte, es war seine apollinische Einsicht, dass er wie ein Barbarenkönig ein edles Götterbild nicht verstehe und in der Gefahr sei, sich an einer Gottheit zu versündigen – durch sein Nichtverstehn. Jenes Wort der sokratischen Traumerscheinung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur : vielleicht – so musste er sich fragen – ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch sofort das Unverständige ? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist ? Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft ? |

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15. Im Sinne dieser letzten ahnungsvollen Fragen muss nun ausgesprochen werden, wie der Einfluss des Sokrates, bis auf diesen Moment hin, ja in alle Zukunft hinaus, sich, gleich einem in der Abendsonne immer grösser werdenden Schatten, über die Nachwelt hin ausgebreitet hat, wie derselbe zur Neuschaffung der K u n s t – und zwar der Kunst im bereits metaphysischen, weitesten und tiefsten Sinne – immer wieder nöthigt und, bei seiner eignen Unendlichkeit, auch deren Unendlichkeit verbürgt. Bevor dies erkannt werden konnte, bevor die innerste Abhängigkeit jeder Kunst von den Griechen, den Griechen von Homer bis auf Sokrates überzeugend dargethan war, musste es uns mit diesen Griechen ergehen wie den Athenern mit Sokrates. Fast jede Zeit und Bildungsstufe hat einmal sich mit tiefem Missmuthe von den Griechen zu befreien gesucht, weil Angesichts derselben alles Selbstgeleistete, scheinbar völlig Originelle, und recht aufrichtig Bewunderte plötzlich Farbe und Leben zu verlieren schien und zur misslungenen Copie, ja zur Caricatur zusammenschrumpfte. Und so bricht immer von Neuem einmal der herzliche Ingrimm gegen jenes anmaassliche Völkchen hervor, das sich erkühnte, alles Nichteinheimische für alle Zeiten als „barbarisch“ zu bezeichnen : wer sind jene, fragte man sich, die, obschon sie nur einen ephemeren historischen Glanz, nur lächerlich engbegrenzte Institutionen, nur eine zweifelhafte Tüchtigkeit der Sitte aufzuweisen haben und sogar mit hässlichen Lastern gekennzeichnet sind, doch die Würde und Sonderstellung unter den Völkern in Anspruch nehmen, die dem Genius unter der Masse zukommt ? Leider war man nicht so glücklich den Schierlingsbecher zu fi nden, mit dem ein solches Wesen ein|fach abgethan werden konnte : denn alles Gift, das Neid, Verläumdung und Ingrimm in sich erzeugten, reichte nicht hin, jene selbstgenugsame Herrlichkeit zu vernichten. Und so schämt und

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fürchtet man sich vor den Griechen ; es sei denn, dass Einer die Wahrheit über alles achte und so sich auch diese Wahrheit einzugestehn wage, dass die Griechen unsere und jegliche Cultur als Wagenlenker in den Händen haben, dass aber fast immer Wagen und Pferde von zu geringem Stoffe und der Glorie ihrer Führer unangemessen sind, die dann es für einen Scherz erachten, ein solches Gespann in den Abgrund zu jagen : über den sie selbst, mit dem Sprunge des Achilles, hinwegsetzen. Um diese Führerstellung von Sokrates zu erweisen, genügt es in ihm den Typus einer vor ihm unerhörten Daseinsform zu erkennen, den Typus des t heor et i s c he n Me n s c he n , über dessen Bedeutung und Ziel zur Einsicht zu kommen unsre nächste Aufgabe ist. Auch der theoretische Mensch hat ein unendliches Genügen am Vorhandenen, wie der Künstler, und ist wie jener vor der praktischen Ethik des Pessimismus und vor seinen nur im Finsteren leuchtenden Lynkeusaugen, durch jenes Genügen geschützt. Wenn nämlich der Künstler bei jeder Enthüllung der Wahrheit immer nur mit verzückten Blicken an dem hängen bleibt, was auch jetzt, nach der Enthüllung, noch Hülle bleibt, geniesst und befriedigt sich der theoretische Mensch an der abgeworfenen Hülle und hat sein höchstes Lustziel in dem Prozess einer immer glücklichen, durch eigne Kraft gelingenden Enthüllung. Es gäbe keine Wissenschaft, wenn ihr nur um jene e i ne nackte Göttin und um nichts Anderes zu thun wäre. Denn dann müsste es ihren Jüngern zu Muthe sein, wie Solchen, die ein Loch gerade durch die Erde graben wollten : von denen ein Jeder einsieht, dass er, bei grösster und lebenslänglicher Anstrengung, nur ein ganz kleines Stück der ungeheuren Tiefe zu | durchgraben im Stande sein, welches vor seinen Augen durch die Arbeit des Nächsten wieder überschüttet wird, so dass ein Dritter wohl daran zu thun scheint, wenn er auf eigne Faust eine neue Stelle für seine Bohrversuche wählt. Wenn jetzt nun Einer zur

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Ueberzeugung beweist, dass auf diesem directen Wege das Antipodenziel nicht zu erreichen sei, wer wird noch in den alten Tiefen weiterarbeiten wollen, es sei denn, dass er sich nicht inzwischen genügen lasse, edles Gestein zu fi nden oder Naturgesetze zu entdecken. Darum hat Lessing, der ehrlichste theoretische Mensch, es auszusprechen gewagt, dass ihm mehr am Suchen der Wahrheit als an ihr selbst gelegen sei : womit das Grundgeheimniss der Wissenschaft, zum Erstaunen, ja Aerger der Wissenschaftlichen, aufgedeckt worden ist. Nun steht freilich neben dieser vereinzelten Erkenntniss, als einem Excess der Ehrlichkeit, wenn nicht des Uebermuthes, eine tiefsinnige Wa h nvor s t e l l u n g , welche zuerst in der Person des Sokrates zur Welt kam, jener unerschütterliche Glaube, dass das Denken, an dem Leitfaden der Causalität, bis in die tiefsten Abgründe des Seins reiche, und dass das Denken das Sein nicht nur zu erkennen, sondern sogar zu cor r i g i r e n im Stande sei. Dieser erhabene metaphysische Wahn ist als Instinct der Wissenschaft beigegeben und führt sie immer und immer wieder zu ihren Grenzen, an denen sie in K u n s t umschlagen muss : a ls au f welc he es eigent l ic h, bei d iesem Mec ha n i smus, abgeseh n i st. Schauen wir jetzt, mit der Fackel dieses Gedankens, auf Sokrates hin : so erscheint er uns als der Erste, der an der Hand jenes Instinctes der Wissenschaft nicht nur leben, sondern – was bei weitem mehr ist – auch sterben konnte : und deshalb ist das Bild des s t e r b e nd e n S ok r at e s als des durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen das Wappenschild, das über dem Eingangsthor der Wissenschaft einen Jeden an deren Bestimmung erinnert, | nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen : wozu freilich, wenn die Gründe nicht reichen, schliesslich auch der M y t hu s dienen muss, den ich sogar als nothwendige Consequenz, ja als Absicht der Wissenschaft soeben bezeichnete.

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Wer sich einmal anschaulich macht, wie nach Sokrates, dem Mystagogen der Wissenschaft, eine Philosophenschule nach der anderen, wie Welle auf Welle, sich ablöst, wie eine nie geahnte Universalität der Wissensgier in dem weitesten Bereich der gebildeten Welt und als eigentliche Aufgabe für jeden höher Befähigten die Wissenschaft auf die hohe See führte, von der sie niemals seitdem wieder völlig vertrieben werden konnte, wie durch diese Universalität erst ein gemeinsames Netz des Gedankens über den gesammten Erdball, ja mit Ausblicken auf die Gesetzlichkeit eines ganzen Sonnensystems, gespannt wurde ; wer dies Alles, sammt der erstaunlich hohen Wissenspyramide der Gegenwart sich vergegenwärtigt, der kann sich nicht entbrechen, in Sokrates den einen Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte zu sehen. Denn dächte man sich einmal diese ganze unbezifferbare Summe von Kraft, die für jene Welttendenz verbraucht worden ist, n ic ht im Dienste des Erkennens, sondern auf die praktischen d. h. egoistischen Ziele der Individuen und Völker verwendet, so wäre wahrscheinlich in allgemeinen Vernichtungskämpfen und fortdauernden Völkerwanderungen die instinctive Lust zum Leben so abgeschwächt, dass, bei der Gewohnheit des Selbstmordes, der Einzelne vielleicht den letzten Rest von Pfl ichtgefühl empfi nden müsste, wenn er, wie der Bewohner der Fidschi-Inseln, als Sohn seine Eltern, als Freund seinen Freund erdrosselt : ein praktischer Pessimismus, der selbst eine grausenhafte Ethik des Völkermordes aus Mitleid erzeugen könnte – der übrigens überall in der Welt vorhanden ist und vorhanden war, wo nicht die | Kunst in irgend welchen Formen, besonders als Religion und Wissenschaft, zum Heilmittel und zur Abwehr jenes Pesthauchs erschienen ist. Angesichts dieses praktischen Pessimismus ist Sokrates das Urbild des theoretischen Optimisten, der in dem bezeichneten Glauben an die Ergründlichkeit der Natur der Dinge dem Wissen und der Erkenntniss die Kraft einer Universalmedi-

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zin beilegt und im Irrthum das Uebel an sich begreift. In jene Gründe einzudringen und die wahre Erkenntniss vom Schein und vom Irrthum zu sondern, dünkte dem sokratischen Menschen der edelste, selbst der einzige wahrhaft menschliche Beruf zu sein : so wie jener Mechanismus der Begriffe, Urtheile und Schlüsse von Sokrates ab als höchste Bethätigung und bewunderungswürdigste Gabe der Natur über alle anderen Fähigkeiten geschätzt wurde. Selbst die erhabensten sittlichen Thaten, die Regungen des Mitleids, der Aufopferung, des Heroismus und jene schwer zu erringende Meeresstille der Seele, die der apollinische Grieche Sophrosyne nannte, ward von Sokrates und seinen gleichgesinnten Nachfolgern bis auf die Gegenwart hin aus der Dialektik des Wissens abgeleitet und demgemäss als lehrbar bezeichnet. Wer die Lust einer sokratischen Erkenntniss an sich erfahren hat und spürt, wie diese, in immer weiteren Ringen, die ganze Welt der Erscheinungen zu umfassen sucht, der wird von da an keinen Stachel, der zum Dasein drängen könnte, heftiger empfi nden als die Begierde, jene Eroberung zu vollenden und das Netz undurchdringbar fest zu spinnen. Einem so Gestimmten erscheint dann der platonische Sokrates als der Lehrer einer ganz neuen Form der „griechischen Heiterkeit“ und Daseinsseligkeit, welche sich in Handlungen zu entladen sucht und diese Entladung zumeist in maeeutischen und erziehenden Einwirkungen auf edle Jünglinge, zum Zweck der endlichen Erzeugung des Genius, fi nden wird. | Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert. Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so triff t doch der edle und begabte Mensch, noch vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich, auf solche Grenzpunkte der Peri-

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pherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst – da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, d ie t r a g i s c he E r k e n nt n i s s , die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht. Schauen wir, mit gestärkten und an den Griechen erlabten Augen, auf die höchsten Sphären derjenigen Welt, die uns umfluthet, so gewahren wir die in Sokrates vorbildlich erscheinende Gier der unersättlichen optimistischen Erkenntniss in tragische Resignation und Kunstbedürftigkeit umgeschlagen : während allerdings dieselbe Gier, auf ihren niederen Stufen, sich kunstfeindlich äussern und vornehmlich die dionysischtragische Kunst innerlich verabscheuen muss, wie dies an der Bekämpfung der aeschyleischen Tragödie durch den Sokratismus beispielsweise dargestellt wurde. Hier nun klopfen wir, bewegten Gemüthes, an die Pforten der Gegenwart und Zukunft : wird jenes „Umschlagen“ zu immer neuen Configurationen des Genius und gerade des mu s i k t r e i b e n d e n S ok r at e s führen ? Wird das über das Dasein gebreitete Netz der Kunst, sei es auch unter dem Namen der Religion oder der Wissenschaft, immer fester und zarter geflochten werden oder ist ihm bestimmt, unter dem ruhelos barbarischen Treiben und Wirbeln, das sich jetzt „die Gegen|wart“ nennt, in Fetzen zu reissen ? –Besorgt, doch nicht trostlos stehen wir eine kleine Weile bei Seite, als die Beschaulichen, denen es erlaubt ist, Zeugen jener ungeheuren Kämpfe und Uebergänge zu sein. Ach ! Es ist der Zauber dieser Kämpfe, dass, wer sie schaut, sie auch kämpfen muss ! 16. An diesem ausgeführten historischen Beispiel haben wir klar zu machen gesucht, wie die Tragödie an dem Entschwinden des Geistes der Musik eben so gewiss zu Grunde geht, wie

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sie aus diesem Geiste allein geboren werden kann. Das Ungewöhnliche dieser Behauptung zu mildern und andererseits den Ursprung dieser unserer Erkenntniss aufzuzeigen, müssen wir uns jetzt freien Blicks den analogen Erscheinungen der Gegenwart gegenüber stellen ; wir müssen mitten hinein in jene Kämpfe treten, welche, wie ich eben sagte, zwischen der unersättlichen optimistischen Erkenntniss und der tragischen Kunstbedürftigkeit in den höchsten Sphären unserer jetzigen Welt gekämpft werden. Ich will hierbei von allen den anderen gegnerischen Trieben absehn, die zu jeder Zeit der Kunst und gerade der Tragödie entgegenarbeiten und die auch in der Gegenwart in dem Maasse siegesgewiss um sich greifen, dass von den theatralischen Künsten z. B. allein die Posse und das Ballet in einem einigermaassen üppigen Wuchern ihre vielleicht nicht für Jedermann wohlriechenden Blüthen treiben. Ich will nur von der e r l au c ht e s t e n G e g ne r s c h a f t der tragischen Weltbetrachtung reden und meine damit die in ihrem tiefsten Wesen optimistische Wissenschaft, mit ihrem Ahnherrn Sokrates an der Spitze. Alsbald sollen auch die Mächte bei Namen genannt werden, welche mir e i ne W ie d e r g ebu r t d e r Tr a g ö d ie – und welche andere | selige Hoff nungen für das deutsche Wesen ! – zu verbürgen scheinen. Bevor wir uns mitten in jene Kämpfe hineinstürzen, hüllen wir uns in die Rüstung unsrer bisher eroberten Erkenntnisse. Im Gegensatz zu allen denen, welche befl issen sind, die Künste aus einem einzigen Princip, als dem nothwendigen Lebensquell jedes Kunstwerks abzuleiten, halte ich den Blick auf jene beiden künstlerischen Gottheiten der Griechen, Apollo und Dionysus, geheftet und erkenne in ihnen die lebendigen und anschaulichen Repräsentanten z we ie r in ihrem tiefsten Wesen und ihren höchsten Zielen verschiedenen Kunstwelten. Apollo steht vor mir, als der verklärende Genius des principii individuationis, durch den allein die Erlösung im

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Scheine wahrhaft zu erlangen ist : während unter dem mystischen Jubelruf des Dionysus der Bann der Individuation zersprengt wird und der Weg zu den Müttern des Sein’s, zu dem innersten Kern der Dinge offen liegt. Dieser ungeheuere Gegensatz, der sich zwischen der plastischen Kunst als der apollinischen und der Musik als der dionysischen Kunst klaffend aufthut, ist einem Einzigen der grossen Denker in dem Maasse offenbar geworden, dass er, selbst ohne jene Anleitung der hellenischen Göttersymbolik, der Musik einen verschiedenen Charakter und Ursprung vor allen anderen Künsten zuerkannte, weil sie nicht, wie jene alle, Abbild der Erscheinung, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst sei und also z u a l le m Phy s i s c he n d e r We lt d a s M e t a p hy s i s c he , zu aller Erscheinung das Ding an sich darstelle. (Schopenhauer, Welt als Wille und Vorstellung I p. 310.) Auf diese wichtigste Erkenntniss aller Aesthetik, mit der, in einem ernstern Sinne genommen, die Aesthetik erst beginnt, hat Richard Wagner, zur Bekräftigung ihrer ewigen Wahrheit, seinen Stempel gedrückt, wenn er im „Beethoven“ feststellt, dass die Musik nach ganz anderen | aesthetischen Principien als alle bildenden Künste und überhaupt nicht nach der Kategorie der Schönheit zu bemessen sei : obgleich eine irrige Aesthetik, an der Hand einer missleiteten und entarteten Kunst, von jenem in der bildnerischen Welt geltenden Begriff der Schönheit aus sich gewöhnt habe, von der Musik eine ähnliche Wirkung wie von den Werken der bildenden Kunst zu fordern, nämlich die Erregung de s G ef a l len s a n sc hönen For men. Nach der Erkenntniss jenes ungeheuren Gegensatzes fühlte ich eine starke Nöthigung, mich dem Wesen der griechischen Tragödie und damit der tiefsten Offenbarung des hellenischen Genius zu nahen ; denn erst jetzt glaubte ich des Zaubers mächtig zu sein, über die Phraseologie unserer üblichen Aesthetik hinaus, das Urproblem der Tragödie mir leibhaft vor die Seele stellen zu können : wodurch mir ein so befremdlich eigen-

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thümlicher Blick in das Hellenische vergönnt war, dass es mir scheinen musste, als ob unsre so stolz sich gebärdende classisch-hellenische Wissenschaft in der Hauptsache bis jetzt nur an Schattenspielen und Aeusserlichkeiten sich zu ernähren gewusst habe. Jenes Urproblem möchten wir vielleicht mit dieser Frage berühren : welche aesthetische Wirkung entsteht, wenn jene an sich getrennten Kunstmächte des Apollinischen und des Dionysischen neben einander in Thätigkeit gerathen ? Oder in kürzerer Form : wie verhält sich die Musik zu Bild und Begriff ? – Schopenhauer, dem Richard Wagner gerade für diesen Punkt eine nicht zu überbietende Deutlichkeit und Durchsichtigkeit der Darstellung nachrühmt, äussert sich hierüber am ausführlichsten in der folgenden Stelle, die ich hier in ihrer ganzen Länge wiedergeben werde. Welt als Wille und Vorstellung I p. 309 : „Diesem allen zufolge können wir die erscheinende Welt, oder die Natur, und die Musik als zwei verschiedene Ausdrücke derselben Sache ansehen, welche selbst daher das allein Vermittelnde der Ana|logie beider ist, dessen Erkenntniss erfordert wird, um jene Analogie einzusehen. Die Musik ist demnach, wenn als Ausdruck der Welt angesehen, eine im höchsten Grad allgemeine Sprache, die sich sogar zur Allgemeinheit der Begriffe ungefähr verhält wie diese zu den einzelnen Dingen. Ihre Allgemeinheit ist aber keineswegs jene leere Allgemeinheit der Abstraction, sondern ganz anderer Art und ist verbunden mit durchgängiger deutlicher Bestimmtheit. Sie gleicht hierin den geometrischen Figuren und den Zahlen, welche als die allgemeinen Formen aller möglichen Objecte der Erfahrung und auch alle a priori anwendbar, doch nicht abstract, sondern anschaulich und durchgängig bestimmt sind. Alle möglichen Bestrebungen, Erregungen und Aeusserungen des Willens, alle jene Vorgänge im Innern des Menschen, welche die Vernunft in den weiten negativen Begriff Gefühl wirft, sind durch die unendlich vielen möglichen

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Melodien auszudrücken, aber immer in der Allgemeinheit blosser Form, ohne den Stoff, immer nur nach dem Ansich, nicht nach der Erscheinung, gleichsam die innerste Seele derselben, ohne Körper. Aus diesem innigen Verhältniss, welches die Musik zum wahren Wesen aller Dinge hat, ist auch dies zu erklären, dass, wenn zu irgend einer Scene, Handlung, Vorgang, Umgebung, eine passende Musik ertönt, diese uns den geheimsten Sinn derselben aufzuschliessen scheint und als der richtigste und deutlichste Commentar dazu auftritt ; imgleichen, dass es Dem, der sich dem Eindruck einer Symphonie ganz hingiebt, ist, als sähe er alle möglichen Vorgänge des Lebens und der Welt an sich vorüberziehen : dennoch kann er, wenn er sich besinnt, keine Aehnlichkeit angeben zwischen jenem Tonspiel und den Dingen, die ihm vorschwebten. Denn die Musik ist, wie gesagt, darin von allen anderen Künsten verschieden, dass sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objectität | des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt. Man könnte demnach die Welt ebensowohl verkörperte Musik, als verkörperten Willen nennen : daraus also ist es erklärlich, warum Musik jedes Gemälde, ja jede Scene des wirklichen Lebens und der Welt, sogleich in erhöhter Bedeutsamkeit hervortreten lässt ; freilich um so mehr, je analoger ihre Melodie dem innern Geiste der gegebenen Erscheinung ist. Hierauf beruht es, dass man ein Gedicht als Gesang, oder eine anschauliche Darstellung als Pantomime, oder beides als Oper der Musik unterlegen kann. Solche einzelne Bilder des Menschenlebens, der allgemeinen Sprache der Musik untergelegt, sind nie mit durchgängiger Nothwendigkeit ihr verbunden oder entsprechend ; sondern sie stehen zu ihr nur im Verhältniss eines beliebigen Beispiels zu einem allgemeinen Begriff : sie stellen in der Bestimmtheit der Wirklichkeit Dasjenige dar, was die Musik in der Allgemeinheit blos-

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ser Form aussagt. Denn die Melodien sind gewissermaassen, gleich den allgemeinen Begriffen, ein Abstractum der Wirklichkeit. Diese nämlich, also die Welt der einzelnen Dinge, liefert das Anschauliche, das Besondere und Individuelle, den einzelnen Fall, sowohl zur Allgemeinheit der Begriffe, als zur Allgemeinheit der Melodien, welche beide Allgemeinheiten einander aber in gewisser Hinsicht entgegengesetzt sind ; indem die Begriffe nur die allererst aus der Anschauung abstrahirten Formen, gleichsam die abgezogene äussere Schale der Dinge enthalten, also ganz eigentlich Abstracta sind ; die Musik hingegen den innersten aller Gestaltung vorhergängigen Kern, oder das Herz der Dinge giebt. Dies Verhältniss liesse sich recht gut in der Sprache der Scholastiker ausdrücken, indem man sagte : die Begriffe sind die universalia post rem, die Musik aber giebt die universalia ante rem, | und die Wirklichkeit die universalia in re. – Dass aber überhaupt eine Beziehung zwischen einer Composition und einer anschaulichen Darstellung möglich ist, beruht, wie gesagt, darauf, dass beide nur ganz verschiedne Ausdrücke desselben innern Wesens der Welt sind. Wann nun im einzelnen Fall eine solche Beziehung wirklich vorhanden ist, also der Componist die Willensregungen, welche den Kern einer Begebenheit ausmachen, in der allgemeinen Sprache der Musik auszusprechen gewusst hat : dann ist die Melodie des Liedes, die Melodie der Oper ausdrucksvoll. Die vom Componisten aufgefundene Analogie zwischen jenen beiden muss aber aus der unmittelbaren Erkenntniss des Wesens der Welt, seiner Vernunft unbewusst, hervorgegangen und darf nicht, mit bewusster Absichtlichkeit, durch Begriffe vermittelte Nachahmung sein : sonst spricht die Musik nicht das innere Wesen, den Willen selbst aus ; sondern ahmt nur seine Erscheinung ungenügend nach ; wie dies alle eigentlich nachbildende Musik thut“. – Wir verstehen also, nach der Lehre Schopenhauer’s, die Musik als die Sprache des Willens unmittelbar und fühlen

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unsere Phantasie angeregt, jene zu uns redende, unsichtbare und doch so lebhaft bewegte Geisterwelt zu gestalten und sie in einem analogen Beispiel uns zu verkörpern. Andrerseits kommt Bild und Begriff, unter der Einwirkung einer wahrhaft entsprechenden Musik zu einer erhöhten Bedeutsamkeit. Zweierlei Wirkungen pflegt also die dionysische Kunst auf das apollinische Kunstvermögen auszuüben : die Musik reizt zum g le ic h n i s s a r t i g e n A n s c h aue n der dionysischen Allgemeinheit, die Musik lässt sodann das gleichnissartige Bild i n h ö c h s t e r B e d e u t s a m k e i t hervortreten. Aus diesen an sich verständlichen und keiner tieferen Beobachtung unzugänglichen Thatsachen erschliesse ich die Befähigung der Musik, d e n My t hu s d. h. das bedeutsamste Exempel zu gebären und | gerade den t r a g i s c he n Mythus : den Mythus, der von der dionysischen Erkenntniss in Gleichnissen redet. An dem Phänomen des Lyrikers habe ich dargestellt, wie die Musik im Lyriker darnach ringt, in apollinischen Bildern über ihr Wesen sich kund zu geben : denken wir uns jetzt, dass die Musik in ihrer höchsten Steigerung auch zu einer höchsten Verbildlichung zu kommen suchen muss, so müssen wir für möglich halten, dass sie auch den symbolischen Ausdruck für ihre eigentliche dionysische Weisheit zu fi nden wisse ; und wo anders werden wir diesen Ausdruck zu suchen haben, wenn nicht in der Tragödie und überhaupt im Begriff des Tr a g i s c he n ? Aus dem Wesen der Kunst, wie sie gemeinhin nach der einzigen Kategorie des Scheines und der Schönheit begriffen wird, ist das Tragische in ehrlicher Weise gar nicht abzuleiten ; erst aus dem Geiste der Musik heraus verstehen wir eine Freude an der Vernichtung des Individuums. Denn an den einzelnen Beispielen einer solchen Vernichtung wird uns nur das ewige Phänomen der dionysischen Kunst deutlich gemacht, die den Willen in seiner Allmacht gleichsam hinter dem principio individuationis, das ewige Leben jenseit aller Erschei-

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nung und trotz aller Vernichtung zum Ausdruck bringt. Die metaphysische Freude am Tragischen ist eine Uebersetzung der instinctiv-unbewussten dionysischen Weisheit in die Sprache des Bildes : der Held, die höchste Willenserscheinung, wird zu unserer Lust verneint, weil er doch nur Erscheinung ist, und das ewige Leben des Willens durch seine Vernichtung nicht berührt wird. „Wir glauben an das ewige Leben“, so ruft die Tragödie ; während die Musik die unmittelbare Idee dieses Lebens ist. Ein ganz verschiednes Ziel hat die Kunst des Plastikers : hier überwindet Apollo das Leiden des Individuums durch die leuchtende Verherrlichung der Ew i g k e it d e r E r s c he i nu n g , hier siegt die Schönheit über das | dem Leben inhärirende Leiden, der Schmerz wird in einem gewissen Sinne aus den Zügen der Natur hinweggelogen. In der dionysischen Kunst und in deren tragischer Symbolik redet uns dieselbe Natur mit ihrer wahren, unverstellten Stimme an : „Seid wie ich bin ! Unter dem unaufhörlichen Wechsel der Erscheinungen die ewig schöpferische, ewig zum Dasein zwingende, an diesem Erscheinungswechsel sich ewig befriedigende Urmutter !“ 17. Auch die dionysische Kunst will uns von der ewigen Lust des Daseins überzeugen : nur sollen wir diese Lust nicht in den Erscheinungen, sondern hinter den Erscheinungen suchen. Wir sollen erkennen, wie alles, was entsteht, zum leidvollen Untergange bereit sein muss, wir werden gezwungen in die Schrecken der Individualexistenz hineinzublicken – und sollen doch nicht erstarren : ein metaphysischer Trost reisst uns momentan aus dem Getriebe der Wandelgestalten heraus. Wir sind wirklich in kurzen Augenblicken das Urwesen selbst und fühlen dessen unbändige Daseinsgier und Daseinslust ; der Kampf, die Qual, die Vernichtung der Erscheinungen dünkt uns jetzt wie nothwendig, bei dem Uebermaass von unzähligen, sich in’s Leben drängenden und stossenden

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Daseinsformen, bei der überschwänglichen Fruchtbarkeit des Weltwillens ; wir werden von dem wüthenden Stachel dieser Qualen in demselben Augenblicke durchbohrt, wo wir gleichsam mit der unermesslichen Urlust am Dasein eins geworden sind und wo wir die Unzerstörbarkeit und Ewigkeit dieser Lust in dionysischer Entzückung ahnen. Trotz Furcht und Mitleid sind wir die glücklich-Lebendigen, nicht als Individuen, sondern als das e i ne Lebendige, mit dessen Zeugungslust wir verschmolzen sind. | Die Entstehungsgeschichte der griechischen Tragödie sagt uns jetzt mit lichtvoller Bestimmtheit, wie das tragische Kunstwerk der Griechen wirklich aus dem Geiste der Musik herausgeboren ist : durch welchen Gedanken wir zum ersten Male dem ursprünglichen und so erstaunlichen Sinne des Chors gerecht geworden zu sein glauben. Zugleich aber müssen wir zugeben, dass die vorhin aufgestellte Bedeutung des tragischen Mythus den griechischen Dichtern, geschweige den griechischen Philosophen, niemals in begrifflicher Deutlichkeit durchsichtig geworden ist ; ihre Helden sprechen gewissermaassen oberflächlicher als sie handeln ; der Mythus fi ndet in dem gesprochnen Wort durchaus nicht seine adäquate Objectivation. Das Gefüge der Scenen und die anschaulichen Bilder offenbaren eine tiefere Weisheit als der Dichter selbst in Worte und Begriffe fassen kann : wie das Gleiche auch bei Shakespeare beobachtet wird, dessen Hamlet z. B. in einem ähnlichen Sinne oberflächlicher redet als er handelt, so dass nicht aus den Worten heraus, sondern aus dem vertieften Anschauen und Ueberschauen des Ganzen jene früher erwähnte Hamletlehre zu entnehmen ist. In Betreff der griechischen Tragödie, die uns freilich nur als Wortdrama entgegentritt, habe ich sogar angedeutet, dass jene Incongruenz zwischen Mythus und Wort uns leicht verführen könnte, sie für flacher und bedeutungsloser zu halten, als sie ist, und demnach auch eine oberflächlichere Wirkung für sie vorauszusetzen, als sie

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nach den Zeugnissen der Alten gehabt haben muss : denn wie leicht vergisst man, dass, was dem Wortdichter nicht gelungen war, die höchste Vergeistigung und Idealität des Mythus zu erreichen, ihm als schöpferischem Musiker in jedem Augenblick gelingen musste ! Wir freilich müssen uns die Uebermacht der musikalischen Wirkung fast auf gelehrtem Wege reconstruiren, um etwas von jenem unvergleichlichen Troste zu empfangen, der der wahren Tragödie zu eigen sein muss. | Selbst diese musikalische Uebermacht aber würden wir nur, wenn wir Griechen wären, als solche empfunden haben : während wir in der ganzen Entfaltung der griechischen Musik – der uns bekannten und vertrauten, so unendlich reicheren gegenüber – nur das in schüchternem Kraftgefühle angestimmte Jünglingslied des musikalischen Genius zu hören glauben. Die Griechen sind, wie die ägyptischen Priester sagen, die ewigen Kinder, und auch in der tragischen Kunst nur die Kinder, welche nicht wissen, welches erhabene Spielzeug unter ihren Händen entstanden ist und – zertrümmert wird. Jenes Ringen des Geistes der Musik nach bildlicher und mythischer Offenbarung, welches von den Anfängen der Lyrik bis zur attischen Tragödie sich steigert, bricht plötzlich, nach eben erst errungener üppiger Entfaltung, ab und verschwindet gleichsam von der Oberfläche der hellenischen Kunst : während die aus diesem Ringen geborne dionysische Weltbetrachtung in den Mysterien weiterlebt und in den wunderbarsten Metamorphosen und Entartungen nicht aufhört, ernstere Naturen an sich zu ziehen. Ob sie nicht aus ihrer mystischen Tiefe einst wieder als Kunst emporsteigen wird ? Hier beschäftigt uns die Frage, ob die Macht, an deren Entgegenwirken die Tragödie sich brach, für alle Zeit genug Stärke hat, um das künstlerische Wiedererwachen der Tragödie und der tragischen Weltbetrachtung zu verhindern. Wenn die alte Tragödie durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise ge-

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drängt wurde, so wäre aus dieser Thatsache auf einen ewigen Kampf zwischen d e r t heor et i s c he n und d e r t r a g i s c he n We lt b e t r a c h t u n g zu schliessen ; und erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf universale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu | hoffen sein : für welche Culturform wir das Symbol des mu s i k t r e i b e nd e n S ok r at e s , in dem früher erörterten Sinne, hinzustellen hätten. Bei dieser Gegenüberstellung verstehe ich unter dem Geiste der Wissenschaft jenen zuerst in der Person des Sokrates an’s Licht gekommenen Glauben an die Ergründlichkeit der Natur und an die Universalheilkraft des Wissens. Wer sich an die nächsten Folgen dieses rastlos vorwärtsdringenden Geistes der Wissenschaft erinnert, wird sich sofort vergegenwärtigen, wie durch ihn der My t hu s vernichtet wurde und wie durch diese Vernichtung die Poesie aus ihrem natürlichen idealen Boden, als eine nunmehr heimathlose, verdrängt war. Haben wir mit Recht der Musik die Kraft zugesprochen, den Mythus wieder aus sich gebären zu können, so werden wir den Geist der Wissenschaft auch auf der Bahn zu suchen haben, wo er dieser mythenschaffenden Kraft der Musik feindlich entgegentritt. Dies geschieht in der Entfaltung des neueren at t i sc hen D it hy r a mbu s, dessen Musik nicht mehr das innere Wesen, den Willen selbst aussprach, sondern nur die Erscheinung ungenügend, in einer durch Begriffe vermittelten Nachahmung wiedergab : von welcher innerlich entarteten Musik sich die wahrhaft musikalischen Naturen mit demselben Widerwillen abwandten, den sie vor der kunstmörderischen Tendenz des Sokrates hatten. Der sicher zugreifende Instinct des Aristophanes hat gewiss das Rechte erfasst, wenn er Sokrates selbst, die Tragödie des Euripides und die Musik der neueren Dithyrambiker in dem gleichen Gefühle des Hasses zusammenfasste und in allen drei Phäno-

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menen die Merkmale einer degenerirten Cultur witterte. Durch jenen neueren Dithyrambus ist die Musik in frevelhafter Weise zum imitatorischen Conterfei der Erscheinung z. B. einer Schlacht, eines Seesturmes gemacht und damit allerdings ihrer mythenschaffenden Kraft gänzlich beraubt worden. Denn wenn sie unsere Ergetzung nur dadurch zu erregen sucht, dass sie uns zwingt, | äusserliche Analogien zwischen einem Vorgange des Lebens und der Natur und gewissen rhythmischen Figuren und charakteristischen Klängen der Musik zu suchen, wenn sich unser Verstand an der Erkenntniss dieser Analogien befriedigen soll, so sind wir in eine Stimmung herabgezogen, in der eine Empfängniss des Mythischen unmöglich ist ; denn der Mythus will als ein einziges Exempel einer in’s Unendliche hinein starrenden Allgemeinheit und Wahrheit anschaulich empfunden werden. Die wahrhaft dionysische Musik tritt uns als ein solcher allgemeiner Spiegel des Weltwillens gegenüber : jedes anschauliche Ereigniss, das sich in diesem Spiegel bricht, erweitert sich sofort für unser Gefühl zum Abbilde einer ewigen Wahrheit. Umgekehrt wird ein solches anschauliches Ereigniss durch die Tonmalerei des neueren Dithyrambus sofort jedes mythischen Charakters entkleidet ; jetzt ist die Musik zum dürftigen Abbilde der Erscheinung geworden und darum unendlich ärmer als die Erscheinung selbst : durch welche Armuth sie für unsere Empfi ndung die Erscheinung selbst noch herabzieht, so dass jetzt z. B. eine derartig musikalisch imitirte Schlacht sich in Marschlärm, Signalklängen u. s. w. erschöpft, und unsere Phantasie gerade bei diesen Oberflächlichkeiten festgehalten wird. Die Tonmalerei ist also in jeder Beziehung das Gegenstück zu der mythenschaffenden Kraft der wahren Musik : durch sie wird die Erscheinung noch ärmer als sie ist, während durch die dionysische Musik die Erscheinung sich zum einzelnen Weltbilde bereichert und erweitert. Es war ein mächtiger Sieg des undionysischen Geistes,

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als er, in der Entfaltung des neueren Dithyrambus, die Musik sich selbst entfremdet und sie zur Sclavin der Erscheinung herabgedrückt hatte. Euripides, der in einem höhern Sinne eine durchaus unmusikalische Natur genannt werden muss, ist aus eben diesem Grunde leidenschaftlicher Anhänger der neueren dithyrambi|schen Musik und verwendet mit der Freigebigkeit eines Diebes alle ihre Effectstücke und Manieren. Nach einer anderen Seite sehen wir die Kraft dieses undionysischen, gegen den Mythus gerichteten Geistes in Thätigkeit, wenn wir unsere Blicke auf das Ueberhandnehmen der C h a r a k t e r d a r s t e l lu n g und des psychologischen Raffi nements in der Tragödie von Sophokles ab richten. Der Charakter soll sich nicht mehr zum ewigen Typus erweitern lassen, sondern im Gegentheil so durch künstliche Nebenzüge und Schattirungen, durch feinste Bestimmtheit aller Linien individuell wirken, dass der Zuschauer überhaupt nicht mehr den Mythus, sondern die mächtige Porträtwahrheit und die Imitationskraft des Künstlers empfi ndet. Auch hier gewahren wir den Sieg der Erscheinung über das Allgemeine und die Lust an dem einzelnen gleichsam anatomischen Präparat, wir athmen bereits die Luft einer theoretischen Welt, welcher die wissenschaftliche Erkenntniss höher gilt als die künstlerische Wiederspiegelung einer Weltregel. Die Bewegung auf der Linie des Charakteristischen geht schnell weiter : während noch Sophokles ganze Charaktere malt und zu ihrer raffi nirten Entfaltung den Mythus ins Joch spannt, malt Euripides bereits nur noch grosse einzelne Charakterzüge, die sich in heftigen Leidenschaften zu äussern wissen ; in der neuern attischen Komödie giebt es nur noch Masken mit e i ne m Ausdruck, leichtsinnige Alte, geprellte Kuppler, verschmitzte Sclaven in unermüdlicher Wiederholung. Wohin ist jetzt der mythenbildende Geist der Musik ? Was jetzt noch von Musik übrig ist, das ist entweder Aufregungs- oder Erinnerungsmusik d. h.

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entweder ein Stimulanzmittel für stumpfe und verbrauchte Nerven oder Tonmalerei. Für die erstere kommt es auf den untergelegten Text kaum noch an : schon bei Euripides geht es, wenn seine Helden oder Chöre erst | zu singen anfangen, recht lüderlich zu ; wohin mag es bei seinen frechen Nachfolgern gekommen sein ? Am allerdeutlichsten aber offenbart sich der neue undionysische Geist in den S c h lü s s e n der neueren Dramen. In der alten Tragödie war der metaphysische Trost am Ende zu spüren gewesen, ohne den die Lust an der Tragödie überhaupt nicht zu erklären ist ; am reinsten tönt vielleicht im Oedipus auf Kolonos der versöhnende Klang aus einer anderen Welt. Jetzt, als der Genius der Musik aus der Tragödie entflohen war, ist, im strengen Sinne, die Tragödie todt : denn woher sollte man jetzt jenen metaphysischen Trost schöpfen können ? Man suchte daher nach einer irdischen Lösung der tragischen Dissonanz ; der Held, nachdem er durch das Schicksal hinreichend gemartert war, erntete in einer stattlichen Heirat, in göttlichen Ehrenbezeugungen einen wohlverdienten Lohn. Der Held war zum Gladiator geworden, dem man, nachdem er tüchtig geschunden und mit Wunden überdeckt war, gelegentlich die Freiheit schenkte. Der deus ex machina ist an Stelle des metaphysischen Trostes getreten. Ich will nicht sagen, dass die tragische Weltbetrachtung überall und völlig durch den andrängenden Geist des Undionysischen zerstört wurde : wir wissen nur, dass sie sich aus der Kunst gleichsam in die Unterwelt, in einer Entartung zum Geheimcult, flüchten musste. Aber auf dem weitesten Gebiete der Oberfläche des hellenischen Wesens wüthete der verzehrende Hauch jenes Geistes, als welcher sich in jener Form der „griechischen Heiterkeit“ kundgiebt, von der bereits früher, als von einer greisenhaft unproductiven Daseinslust, die Rede war ; diese Heiterkeit ist ein Gegenstück zu der herrlichen „Naivetät“ der älteren Griechen, wie sie, nach der gegebenen Charakteristik,

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zu fassen ist als die aus einem düsteren Abgrunde hervorwachsende Blüthe der apollinischen Cultur, als der Sieg, den der hellenische Wille | durch seine Schönheitsspiegelung über das Leiden und die Weisheit des Leidens davonträgt. Die edelste Form jener anderen Form der „griechischen Heiterkeit“, der alexandrinischen, ist die Heiterkeit d e s t heor et i s c he n Men sc hen : sie zeigt dieselben charakteristischen Merkmale, die ich soeben aus dem Geiste des Undionysischen ableitete – dass sie die dionysische Weisheit und Kunst bekämpft, dass sie den Mythus aufzulösen trachtet, dass sie an Stelle eines metaphysischen Trostes eine irdische Consonanz, ja einen eigenen deus ex machina setzt, nämlich den Gott der Maschinen und Schmelztiegel, d. h. die im Dienste des höheren Egoismus erkannten und verwendeten Kräfte der Naturgeister, dass sie an eine Correctur der Welt durch das Wissen, an ein durch die Wissenschaft geleitetes Leben glaubt und auch wirklich im Stande ist, den einzelnen Menschen in einen allerengsten Kreis von lösbaren Aufgaben zu bannen, innerhalb dessen er heiter zum Leben sagt : „Ich will dich : du bist werth erkannt zu werden“. 18. Es ist ein ewiges Phänomen : immer fi ndet der gierige Wille ein Mittel, durch eine über die Dinge gebreitete Illusion seine Geschöpfe im Leben festzuhalten und zum Weiterleben zu zwingen. Diesen fesselt die sokratische Lust des Erkennens und der Wahn, durch dasselbe die ewige Wunde des Daseins heilen zu können, jenen umstrickt der vor seinen Augen wehende verführerische Schönheitsschleier der Kunst, jenen wiederum der metaphysische Trost, dass unter dem Wirbel der Erscheinungen das ewige Leben unzerstörbar weiterfl iesst : um von den gemeineren und fast noch kräftigeren Illusionen, die der Wille in jedem Augenblick bereit hält, zu schweigen. Jene drei Illusionsstufen sind überhaupt nur für die | edler ausgestatteten Naturen, von denen die Last und Schwere des

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Daseins überhaupt mit tieferer Unlust empfunden wird und die durch ausgesuchte Reizmittel über diese Unlust hinwegzutäuschen sind. Aus diesen Reizmitteln besteht alles, was wir Cultur nennen ; je nach der Proportion der Mischungen haben wir eine vorzugsweise s ok r at i s c he oder k ü n s t le r i s c he oder t r a g i s c he Cultur : oder wenn man historische Exemplificationen erlauben will : es giebt entweder eine alexandrinische oder eine hellenische oder eine buddhaistische Cultur. Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandri nischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden t heor et i s c he n Me n s c he n , dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist. Alle unsere Erziehungsmittel haben ursprünglich dieses Ideal im Auge : jede andere Existenz hat sich mühsam nebenbei emporzuringen, als erlaubte, nicht als beabsichtigte Existenz. In einem fast erschreckenden Sinne ist hier eine lange Zeit der Gebildete allein in der Form des Gelehrten gefunden worden ; selbst unsere dichterischen Künste haben sich aus gelehrten Imitationen entwickeln müssen, und in dem Haupteffect des Reimes erkennen wir noch die Entstehung unserer poetischen Form aus künstlichen Experimenten mit einer nicht heimischen, recht eigentlich gelehrten Sprache. Wie unverständlich müsste einem ächten Griechen der an sich verständliche moderne Culturmensch Fau s t erscheinen, der durch alle Facultäten unbefriedigt stürmende, aus Wissenstrieb der Magie und dem Teufel ergebene Faust, den wir nur zur Vergleichung neben Sokrates zu stellen haben, um zu erkennen, dass der moderne Mensch die Grenzen jener sokratischen Erkenntnisslust zu ahnen beginnt und aus dem weiten wüsten Wissensmeere nach einer Küste verlangt. Wenn Goethe einmal zu Eckermann, mit Bezug auf Napoleon, äussert : „Ja mein Guter, | es giebt auch eine Productivität der Thaten“, so hat er, in anmuthig naiver Weise, daran erinnert, dass der nicht theore-

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tische Mensch für den modernen Menschen etwas Unglaubwürdiges und Staunenerregendes ist, so dass es wieder der Weisheit eines Goethe bedarf, um auch eine so befremdende Existenzform begreiflich, ja verzeihlich zu fi nden. Und nun soll man sich nicht verbergen, was im Schoosse dieser sokratischen Cultur verborgen liegt ! Der unumschränkt sich wähnende Optimismus ! Nun soll man nicht erschrecken, wenn die Früchte dieses Optimismus reifen, wenn die von einer derartigen Cultur bis in die niedrigsten Schichten hinein durchsäuerte Gesellschaft allmählich unter üppigen Wallungen und Begehrungen erzittert, wenn der Glaube an das Erdenglück Aller, wenn der Glaube an die Möglichkeit einer solchen allgemeinen Wissenscultur allmählich in die drohende Forderung eines solchen alexandrinischen Erdenglückes, in die Beschwörung eines Euripideischen deus ex machina umschlägt ! Man soll es merken : die alexandrinische Cultur braucht einen Sclavenstand, um auf die Dauer existieren zu können : aber sie leugnet, in ihrer optimistischen Betrachtung des Daseins, die Nothwendigkeit eines solchen Standes und geht deshalb, wenn der Effect ihrer schönen Verführungs- und Beruhigungsworte von der „Würde des Menschen“ und der „Würde der Arbeit“ verbraucht ist, allmählich einer grauenvollen Vernichtung entgegen. Es giebt nichts Furchtbareres als einen barbarischen Sclavenstand, der seine Existenz als ein Unrecht zu betrachten gelernt hat und sich anschickt, nicht nur für sich, sondern für alle Generationen Rache zu nehmen. Wer wagt es, solchen drohenden Stürmen entgegen, sicheren Muthes an unsere blassen und ermüdeten Religionen zu appelliren, die selbst in ihren Fundamenten zu Gelehrtenreligionen entartet sind : so dass der Mythus, die nothwendige Voraussetzung jeder Religion, bereits überall gelähmt ist, und | selbst auf diesem Bereich jener optimistische Geist zur Herrschaft gekommen ist, den wir als den Vernichtungskeim unserer Gesellschaft eben bezeichnet haben.

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Während das im Schoosse der theoretischen Cultur schlummernde Unheil allmählich den modernen Menschen zu ängstigen beginnt, und er, unruhig, aus dem Schatze seiner Erfahrungen nach Mitteln greift, um die Gefahr abzuwenden, ohne selbst an diese Mittel recht zu glauben ; während er also seine eigenen Consequenzen zu ahnen beginnt : haben grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen : bei welchem Nachweise zum ersten Male jene Wahnvorstellung als solche erkannt wurde, welche, an der Hand der Causalität, sich anmaasst, das innerste Wesen der Dinge ergründen zu können. Der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit K a nt ’s und S c ho p e n h aue r ’s ist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist. Wenn dieser an die Erkennbarkeit und Ergründlichkeit aller Welträthsel, gestützt auf die ihm unbedenklichen aeternae veritates, geglaubt und Raum, Zeit und Causalität als gänzlich unbedingte Gesetze von allgemeinster Gültigkeit behandelt hatte, offenbarte Kant, wie diese eigentlich nur dazu dienten, die blosse Erscheinung, das Werk der Maja, zur einzigen und höchsten Realität zu erheben und sie an die Stelle des innersten und wahren Wesens der Dinge zu setzen und die wirkliche Erkenntniss von diesem dadurch unmöglich zu machen, d. h., nach einem Schopenhauer’schen Ausspruche, den Träumer noch fester einzuschläfern (W. a. W. u. V. I p. 498). Mit dieser Erkenntniss ist eine Cultur | eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage : deren wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablen-

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kungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfi ndung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht. Denken wir uns eine heranwachsende Generation mit dieser Unerschrockenheit des Blicks, mit diesem heroischen Zug in’s Ungeheure, denken wir uns den kühnen Schritt dieser Drachentödter, die stolze Verwegenheit, mit der sie allen den Schwächlichkeitsdoctrinen jenes Optimismus den Rücken kehren, um im Ganzen und Vollen „resolut zu leben“ : sollte es nicht nöthig sein, dass der tragische Mensch dieser Cultur, bei seiner Selbsterziehung zum Ernst und zum Schrecken, eine neue Kunst, die Kunst des metaphysischen Trostes, die Tragödie als die ihm zugehörige Helena begehren und mit Faust ausrufen muss : Und sollt’ ich nicht, sehnsüchtigster Gewalt, In’s Leben ziehn die einzigste Gestalt ?

Nachdem aber die sokratische Cultur von zwei Seiten aus erschüttert ist und das Scepter ihrer Unfehlbarkeit nur noch mit zitternden Händen zu halten vermag, einmal aus Furcht vor ihren eigenen Consequenzen, die sie nachgerade zu ahnen beginnt, sodann weil sie selbst von der ewigen Gültigkeit ihres Fundamentes nicht mehr mit dem früheren naiven Zutrauen überzeugt ist : so ist es ein trauriges Schauspiel, wie sich der Tanz ihres Denkens sehnsüchtig immer auf neue Gestalten stürzt, um sie zu umarmen und sie dann plötzlich wieder, wie Mephistopheles die verführerischen Lamien, schaudernd fahren lässt. Das ist ja das Merkmal jenes „Bruches“, von dem Jedermann als von dem Urleiden der modernen Cultur zu reden pflegt, dass der theoretische Mensch | vor seinen Consequenzen erschrickt und unbefriedigt es nicht mehr wagt sich dem furchtbaren Eisstrome des Daseins anzuvertrauen : ängstlich läuft er am Ufer auf und ab. Er will nichts mehr ganz haben, ganz auch mit aller der natürlichen Grausamkeit der Dinge.

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Soweit hat ihn das optimistische Betrachten verzärtelt. Dazu fühlt er, wie eine Cultur, die auf dem Princip der Wissenschaft aufgebaut ist, zu Grunde gehen muss, wenn sie anfängt, u n log i s c h zu werden d. h. vor ihren Consequenzen zurück zu fl iehen. Unsere Kunst offenbart diese allgemeine Noth : umsonst dass man sich an alle grossen productiven Perioden und Naturen imitatorisch anlehnt, umsonst dass man die ganze „Weltlitteratur“ zum Troste des modernen Menschen um ihn versammelt und ihn mitten unter die Kunststile und Künstler aller Zeiten hinstellt, damit er ihnen, wie Adam den Thieren, einen Namen gebe : er bleibt doch der ewig Hungernde, der „Kritiker“ ohne Lust und Kraft, der alexandrinische Mensch, der im Grunde Bibliothekar und Corrector ist und an Bücherstaub und Druckfehlern elend erblindet. 19. Man kann den innersten Gehalt dieser sokratischen Cultur nicht schärfer bezeichnen als wenn man sie d ie C u lt u r d e r O p e r nennt : denn auf diesem Gebiete hat sich diese Cultur mit eigener Naivetät über ihr Wollen und Erkennen ausgesprochen, zu unserer Verwunderung, wenn wir die Genesis der Oper und die Thatsachen der Opernentwicklung mit den ewigen Wahrheiten des Apollinischen und des Dionysischen zusammenhalten. Ich erinnere zunächst an die Entstehung des stilo rappresentativo und des Recitativs. Ist es glaublich, dass diese gänzlich veräusserlichte, der Andacht unfähige Musik der Oper von einer Zeit mit schwärmerischer Gunst, gleich|sam als die Wiedergeburt aller wahren Musik, empfangen und gehegt werden konnte, aus der sich soeben die unaussprechbar erhabene und heilige Musik Palestrina’s erhoben hatte ? Und wer möchte andrerseits nur die zerstreuungssüchtige Üppigkeit jener Florentiner Kreise und die Eitelkeit ihrer dramatischen Sänger für die so ungestüm sich verbreitende Lust an der Oper verantwortlich machen ? Dass in der-

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selben Zeit, ja in demselben Volke neben dem Gewölbebau Palestrinischer Harmonien, an dem das gesammte christliche Mittelalter gebaut hatte, jene Leidenschaft für eine halbmusikalische Sprechart erwachte, vermag ich mir nur aus einer im Wesen des Recitativs mitwirkenden au s s e r k ü n s t le r i s c he n Te nd e n z zu erklären. Dem Zuhörer, der das Wort unter dem Gesange deutlich vernehmen will, entspricht der Sänger dadurch, dass er mehr spricht als singt und dass er den pathetischen Wortausdruck in diesem Halbgesange verschärft : durch diese Verschärfung des Pathos erleichtert er das Verständniss des Wortes und überwindet jene übrig gebliebene Hälfte der Musik. Die eigentliche Gefahr, die ihm jetzt droht, ist die, dass er der Musik einmal zur Unzeit das Übergewicht ertheilt, wodurch sofort Pathos der Rede und Deutlichkeit des Wortes zu Grunde gehen müsste : während er andrerseits immer den Trieb zu musikalischer Entladung und zu virtuosenhafter Präsentation seiner Stimme fühlt. Hier kommt ihm der „Dichter“ zu Hülfe, der ihm genug Gelegenheiten zu lyrischen Interjectionen, Wort- und Sentenzenwiederholungen u. s. w. zu bieten weiss : an welchen Stellen der Sänger jetzt in dem rein musikalischen Elemente, ohne Rücksicht auf das Wort, ausruhen kann. Dieser Wechsel affectvoll eindringlicher, doch nur halb gesungener Rede und ganz gesungener Interjection, der im Wesen des stilo rappresentativo liegt, dies rasch wechselnde Bemühen, bald auf den Begriff und die Vorstellung, | bald auf den musikalischen Grund des Zuhörers zu wirken, ist etwas so gänzlich Unnatürliches und den Kunsttrieben des Dionysischen und des Apollinischen in gleicher Weise so innerlich Widersprechendes, dass man auf einen Ursprung des Recitativs zu schliessen hat, der ausserhalb aller künstlerischen Instincte liegt. Das Recitativ ist nach dieser Schilderung zu defi nieren als die Vermischung des epischen und des lyrischen Vortrags und zwar keinesfalls die innerlich beständige Mischung, die bei

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so gänzlich disparaten Dingen nicht erreicht werden konnte, sondern die äusserlichste mosaikartige Conglutination, wie etwas Derartiges im Bereich der Natur und der Erfahrung gänzlich vorbildlos ist. D i e s w a r a b e r n i c h t d i e M e i nu n g je n e r E r f i n d e r d e s R e c it at i v s : vielmehr glauben sie selbst und mit ihnen ihr Zeitalter, dass durch jenen stilo rappresentativo das Geheimniss der antiken Musik gelöst sei, aus dem sich allein die ungeheure Wirkung eines Orpheus, Amphion, ja auch der griechischen Tragödie erklären lasse. Der neue Stil galt als die Wiedererweckung der wirkungsvollsten Musik, der altgriechischen : ja man durfte sich, bei der allgemeinen und ganz volksthümlichen Auffassung der homerischen Welt a l s der Ur welt, dem Traume überlassen, jetzt wieder in die paradiesischen Anfänge der Menschheit hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik jene unübertroff ne Reinheit, Macht und Unschuld gehabt haben müsste, von der die Dichter in ihren Schäferspielen so rührend zu erzählen wussten. Hier sehen wir in das innerlichste Werden dieser recht eigentlich modernen Kunstgattung, der Oper : ein mächtiges Bedürfniss erzwingt sich hier eine Kunst, aber ein Bedürfniss unästhetischer Art : die Sehnsucht zum Idyll, der Glaube an eine urvorzeitliche Existenz des künstlerischen und guten Menschen. Das Recitativ galt als die wiederentdeckte Sprache jenes Urmenschen ; die Oper als das wiederaufgefundene Land jenes idyllisch oder heroisch | guten Wesens, das zugleich in allen seinen Handlungen einem natürlichen Kunsttriebe folgt, das bei allem, was es zu sagen hat, wenigstens etwas singt, um, bei der leisesten Gefühlserregung, sofort mit voller Stimme zu singen. Es ist für uns jetzt gleichgültig, dass mit diesem neugeschaff nen Bilde des paradiesischen Künstlers die damaligen Humanisten gegen die alte kirchliche Vorstellung vom an sich verderbten und verlornen Menschen ankämpften : so dass die Oper als das Oppositionsdogma vom guten Menschen zu verstehen ist, mit dem

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aber zugleich ein Trostmittel gegen jenen Pessimismus gefunden war, zu dem gerade die Ernstgesinnten jener Zeit, bei der grauenhaften Unsicherheit aller Zustände, am stärksten gereizt waren. Genug, wenn wir erkannt haben, wie der eigentliche Zauber und damit die Genesis dieser neuen Kunstform in der Befriedigung eines gänzlich unaesthetischen Bedürfnisses liegt, in der optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich, in der Auffassung des Urmenschen als des von Natur guten und künstlerischen Menschen : als welches Princip der Oper sich allmählich in eine drohende und entsetzliche For d e r u n g umgewandelt hat, die wir, im Angesicht der socialistischen Bewegungen der Gegenwart, nicht mehr überhören können. Der „gute Urmensch“ will seine Rechte : welche paradiesischen Aussichten ! Ich stelle daneben noch eine eben so deutliche Bestätigung meiner Ansicht, dass die Oper auf den gleichen Principien mit unserer alexandrinischen Cultur aufgebaut ist. Die Oper ist die Geburt des theoretischen Menschen, des kritischen Laien, nicht des Künstlers : eine der befremdlichsten Thatsachen in der Geschichte aller Künste. Es war die Forderung recht eigentlich unmusikalischer Zuhörer, dass man vor allem das Wort verstehen müsse ; so dass eine Wiedergeburt der Tonkunst nur zu erwarten sei, wenn man irgend eine Gesangesweise entdecken werde, bei welcher das Textwort über | den Contrapunkt wie der Herr über den Diener herrsche. Denn die Worte seien um so viel edler als das begleitende harmonische System, um wie viel die Seele edler als der Körper sei. Mit der laienhaft unmusikalischen Rohheit dieser Ansichten wurde in den Anfängen der Oper die Verbindung von Musik, Bild und Wort behandelt ; im Sinne dieser Aesthetik kam es auch in den vornehmen Laienkreisen von Florenz, durch hier patronisirte Dichter und Sänger, zu den ersten Experimenten. Der kunstohnmächtige Mensch erzeugt sich eine Art von Kunst, gerade dadurch, dass er der unkünstlerische Mensch

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an sich ist. Weil er die dionysische Tiefe der Musik nicht ahnt, verwandelt er sich den Musikgenuss zur verstandesmässigen Wort- und Tonrhetorik der Leidenschaft im stilo rappresentativo und zur Wohllust der Gesangeskünste ; weil er keine Vision zu schauen vermag, zwingt er den Maschinisten und Decorationskünstler in seinen Dienst ; weil er das wahre Wesen des Künstlers nicht zu erfassen weiss, zaubert er vor sich den „künstlerischen Urmenschen“ nach seinem Geschmack hin d. h. den Menschen, der in der Leidenschaft singt und Verse spricht. Er träumt sich in eine Zeit hinein, in der die Leidenschaft ausreicht, um Gesänge und Dichtungen zu erzeugen : als ob je der Affect im Stande gewesen sei, etwas Künstlerisches zu schaffen. Die Voraussetzung der Oper ist ein falscher Glaube über den künstlerischen Process und zwar jener idyllische Glaube, dass eigentlich jeder empfi ndende Mensch Künstler sei. Im Sinne dieses Glaubens ist die Oper der Ausdruck des Laienthums in der Kunst, das seine Gesetze mit dem heitern Optimismus des theoretischen Menschen dictirt. Sollten wir wünschen, die beiden eben geschilderten, bei der Entstehung der Oper wirksamen Vorstellungen unter einen Begriff zu vereinigen, so würde uns nur übrig bleiben, von einer id yl l i s c he n Te nd e n z d e r O p er zu sprechen : wobei wir | uns allein der Ausdrucksweise und Erklärung Schillers zu bedienen hätten. Entweder, sagt dieser, ist die Natur und das Ideal ein Gegenstand der Trauer, wenn jene als verloren, dieses als unerreicht dargestellt wird. Oder beide sind ein Gegenstand der Freude, indem sie als wirklich vorgestellt werden. Das erste giebt die Elegie in engerer, das andere die Idylle in weitester Bedeutung. Hier ist nun sofort auf das gemeinsame Merkmal jener beiden Vorstellungen in der Operngenesis aufmerksam zu machen, dass in ihnen das Ideal nicht als unerreicht, die Natur nicht als verloren empfunden wird. Es gab nach dieser Empfi ndung eine Urzeit des Menschen, in der er am Herzen der Natur lag und bei dieser Natürlich-

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keit zugleich das Ideal der Menschheit, in einer paradiesischen Güte und Künstlerschaft, erreicht hatte : als von welchem vollkommnen Urmenschen wir alle abstammen sollten, ja dessen getreues Ebenbild wir noch wären : nur müssten wir Einiges von uns werfen, um uns selbst wieder als diesen Urmenschen zu erkennen, vermöge einer freiwilligen Entäusserung von überflüssiger Gelehrsamkeit, von überreicher Cultur. Der Bildungsmensch der Renaissance liess sich durch seine opernhafte Imitation der griechischen Tragödie zu einem solchen Zusammenklang von Natur und Ideal, zu einer idyllischen Wirklichkeit zurückgeleiten, er benutzte diese Tragödie, wie Dante den Virgil benutzte, um bis an die Pforten des Paradieses geführt zu werden : während er von hier aus selbständig noch weiter schritt und von einer Imitation der höchsten griechischen Kunstform zu einer „Wiederbringung aller Dinge“, zu einer Nachbildung der ursprünglichen Kunstwelt des Menschen überging. Welche zuversichtliche Gutmüthigkeit dieser verwegenen Bestrebungen, mitten im Schoosse der theoretischen Cultur ! – einzig nur aus dem tröstenden Glauben zu erklären, dass „der Mensch an sich“ der ewig tugendhafte Opernheld, der ewig flötende oder singende Schäfer sei, der sich endlich | immer als solchen wiederfi nden müsse, falls er sich selbst irgendwann einmal wirklich auf einige Zeit verloren habe, einzig die Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefe der sokratischen Weltbetrachtung hier wie eine süsslich verführerische Duftsäule emporsteigt. Es liegt also auf den Zügen der Oper keinesfalls jener elegische Schmerz eines ewigen Verlustes, vielmehr die Heiterkeit des ewigen Wiederfi ndens, die bequeme Lust an einer idyllischen Wirklichkeit, die man wenigstens sich als wirklich in jedem Augenblicke vorstellen kann : wobei man vielleicht einmal ahnt, dass diese vermeinte Wirklichkeit nichts als ein phantastisch läppisches Getändel ist, dem jeder, der es an dem furchtbaren Ernst der wahren Natur zu messen und mit den

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eigentlichen Urscenen der Menschheitsanfänge zu vergleichen vermöchte, mit Ekel zurufen müsste : Weg mit dem Phantom ! Trotzdem würde man sich täuschen, wenn man glaubte, ein solches tändelndes Wesen, wie die Oper ist, einfach durch einen kräftigen Anruf, wie ein Gespenst, verscheuchen zu können. Wer die Oper vernichten will, muss den Kampf gegen jene alexandrinische Heiterkeit aufnehmen, die sich in ihr so naiv über ihre Lieblingsvorstellung ausspricht, ja deren eigentliche Kunstform sie ist. Was ist aber für die Kunst selbst von dem Wirken einer Kunstform zu erwarten, deren Ursprünge überhaupt nicht im aesthetischen Bereiche liegen, die sich vielmehr aus einer halb moralischen Sphäre auf das künstlerische Gebiet hinübergestohlen hat und über diese hybride Entstehung nur hier und da einmal hinwegzutäuschen vermochte ? Von welchen Säften nährt sich dieses parasitische Opernwesen, wenn nicht von denen der wahren Kunst ? Wird nicht zu muthmaassen sein, dass, unter seinen idyllischen Verführungen, unter seinen alexandrinischen Schmeichelkünsten, die höchste und wahrhaftig ernst zu nennende Aufgabe der Kunst  – das Auge | vom Blick in’s Grauen der Nacht zu erlösen und das Subject durch den heilenden Balsam des Scheins aus dem Krampfe der Willensregungen zu retten – zu einer leeren und zerstreuenden Ergetzlichkeitstendenz entarten werde ? Was wird aus den ewigen Wahrheiten des Dionysischen und des Apollinischen, bei einer solchen Stilvermischung, wie ich sie am Wesen des stilo rappresentativo dargelegt habe ? wo die Musik als Diener, das Textwort als Herr betrachtet, die Musik mit dem Körper, das Textwort mit der Seele verglichen wird ? wo das höchste Ziel bestenfalls auf eine umschreibende Tonmalerei gerichtet sein wird, ähnlich wie ehedem im neuen attischen Dithyrambus ? wo der Musik ihre wahre Würde, dionysischer Weltspiegel zu sein, völlig entfremdet ist, so dass ihr nur übrig bleibt, als Sclavin der Erscheinung, das Formenwesen der Erscheinung nachzuahmen

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und in dem Spiele der Linien und Proportionen eine äusserliche Ergetzung zu erregen. Einer strengen Betrachtung fällt dieser verhängnissvolle Einfluss der Oper auf die Musik geradezu mit der gesammten modernen Musikentwicklung zusammen ; dem in der Genesis der Oper und im Wesen der durch sie repräsentirten Cultur lauernden Optimismus ist es in beängstigender Schnelligkeit gelungen, die Musik ihrer dionysischen Weltbestimmung zu entkleiden und ihr einen formenspielerischen, vergnüglichen Charakter aufzuprägen : mit welcher Veränderung nur etwa die Metamorphose des aeschyleischen Menschen in den alexandrinischen Heiterkeitsmenschen verglichen werden dürfte. Wenn wir aber mit Recht in der hiermit angedeuteten Exemplification das Entschwinden des dionysischen Geistes mit einer höchst auff älligen, aber bisher unerklärten Umwandlung und Degeneration des griechischen Menschen in Zusammenhang gebracht haben – welche Hoff nungen müssen in uns aufleben, wenn uns die allersichersten Auspicien d e n u m g e k e h r t e n P r o c e s s , d a s a l l m ä h l ic he E r w a c he n d e s d iony|s i s c he n G e i s t e s in unserer gegenwärtigen Welt, verbürgen ! Es ist nicht möglich, dass die göttliche Kraft des Herakles ewig im üppigen Frohndienste der Omphale erschlaff t. Aus dem dionysischen Grunde des deutschen Geistes ist eine Macht emporgestiegen, die mit den Urbedingungen der sokratischen Cultur nichts gemein hat und aus ihnen weder zu erklären noch zu entschuldigen ist, vielmehr von dieser Cultur als das Schrecklich-Unerklärliche, als das Uebermächtig-Feindselige empfunden wird, d ie d eut s c he Mu s i k , wie wir sie vornehmlich in ihrem mächtigen Sonnenlaufe von Bach zu Beethoven, von Beethoven zu Wagner zu verstehen haben. Was vermag die erkenntnisslüsterne Sokratik unserer Tage günstigsten Falls mit diesem aus unerschöpflichen Tiefen emporsteigenden Dämon zu beginnen ? Weder von dem Zacken- und Arabeskenwerk der Opernmelo-

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die aus, noch mit Hülfe des arithmetischen Rechenbretts der Fuge und der contrapunktischen Dialektik will sich die Formel fi nden lassen, in deren dreimal gewaltigen Licht man jenen Dämon sich unterwürfig zu machen und zum Reden zu zwingen vermöchte. Welches Schauspiel, wenn jetzt unsere Aesthetiker, mit dem Fangnetz einer ihnen eignen „Schönheit“, nach dem vor ihnen mit unbegreiflichem Leben sich tummelnden Musikgenius schlagen und haschen, unter Bewegungen, die nach der ewigen Schönheit ebensowenig als nach dem Erhabenen beurtheilt werden wollen. Man mag sich nur diese Musikgönner einmal leibhaft und in der Nähe besehen, wenn sie so unermüdlich Schönheit ! Schönheit ! rufen, ob sie sich dabei wie die im Schoosse des Schönen gebildeten und verwöhnten Lieblingskinder der Natur ausnehmen oder ob sie nicht vielmehr für die eigne Rohheit eine lügnerisch verhüllende Form, für die eigne empfi ndungsarme Nüchternheit einen aesthetischen Vorwand suchen : wobei ich z. B. an Otto Jahn denke. Vor der deutschen Musik aber mag sich der Lügner und Heuchler | in Acht nehmen : denn gerade sie ist, inmitten aller unserer Cultur, der einzig reine, lautere und läuternde Feuergeist, von dem aus und zu dem hin, wie in der Lehre des grossen Heraklit von Ephesus, sich alle Dinge in doppelter Kreisbahn bewegen : alles, was wir jetzt Cultur, Bildung, Civilisation nennen, wird einmal vor dem untrüglichen Richter Dionysus erscheinen müssen. Erinnern wir uns sodann, wie dem aus gleichen Quellen strömenden Geiste d e r d e ut s c h e n Ph i lo s o p h ie , durch Kant und Schopenhauer, es ermöglicht war, die zufriedne Daseinslust der wissenschaftlichen Sokratik, durch den Nachweis ihrer Grenzen, zu vernichten, wie durch diesen Nachweis eine unendlich tiefere und ernstere Betrachtung der ethischen Fragen und der Kunst eingeleitet wurde, die wir geradezu als die in Begriffe gefasste d ionys i sc he Wei sheit bezeichnen können : wohin weist uns das Mysterium dieser Einheit zwi-

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schen der deutschen Musik und der deutschen Philosophie, wenn nicht auf eine neue Daseinsform, über deren Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien ahnend unterrichten können ? Denn diesen unausmessbaren Werth behält für uns, die wir an der Grenzscheide zweier verschiedener Daseinsformen stehen, das hellenische Vorbild, dass in ihm auch alle jene Uebergänge und Kämpfe zu einer classisch-belehrenden Form ausgeprägt sind : nur dass wir gleichsam in u m g e k e h r t e r Ordnung die grossen Hauptepochen des hellenischen Wesens analogisch durcherleben und zum Beispiel jetzt aus dem alexandrinischen Zeitalter rückwärts zur Periode der Tragödie zu schreiten scheinen. Dabei lebt in uns die Empfi ndung, als ob die Geburt eines tragischen Zeitalters für den deutschen Geist nur eine Rückkehr zu sich selbst, ein seliges Sichwiederfi nden zu bedeuten habe, nachdem für eine lange Zeit ungeheure von aussen her eindringende Mächte den in hülfloser Barbarei der Form dahinlebenden zu einer Knecht|schaft unter ihrer Form gezwungen hatten. Jetzt endlich darf er, nach seiner Heimkehr zum Urquell seines Wesens, vor allen Völkern kühn und frei, ohne das Gängelband einer romanischen Civilisation, einherzuschreiten wagen : wenn er nur von einem Volke unentwegt zu lernen versteht, von dem überhaupt lernen zu können schon ein hoher Ruhm und eine auszeichnende Seltenheit ist, von den Griechen. Und wann brauchten wir diese allerhöchsten Lehrmeister mehr als jetzt, wo wir d ie W ie d e r g ebu r t d e r Tr a g ö d i e erleben und in Gefahr sind, weder zu wissen, woher sie kommt, noch uns deuten zu können, wohin sie will ? 20. Es möchte einmal, unter den Augen eines unbestochenen Richters, abgewogen werden, in welcher Zeit und in welchen Männern bisher der deutsche Geist von den Griechen zu lernen am kräftigsten gerungen hat ; und wenn wir mit Zuversicht annehmen, dass dem edelsten Bildungskampfe Goethe’s,

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Schiller’s und Winckelmann’s dieses einzige Lob zugesprochen werden müsste, so wäre jedenfalls hinzuzufügen, dass seit jener Zeit und den nächsten Einwirkungen jenes Kampfes, das Streben, auf einer gleichen Bahn zur Bildung und zu den Griechen zu kommen, in unbegreiflicher Weise schwächer und schwächer geworden ist. Sollten wir, um nicht ganz an dem deutschen Geist verzweifeln zu müssen, nicht daraus den Schluss ziehen dürfen, dass in irgend welchem Hauptpunkte es auch jenen Kämpfern nicht gelungen sein möchte, in den Kern des hellenischen Wesens einzudringen und einen dauernden Liebesbund zwischen der deutschen und der griechischen Cultur herzustellen ? So dass vielleicht ein unbewusstes Erkennen jenes Mangels auch in den ernsteren Naturen den verzagten Zweifel erregte, ob sie, | nach solchen Vorgängern, auf diesem Bildungswege noch weiter als jene und überhaupt zum Ziele kommen würden. Deshalb sehen wir seit jener Zeit das Urtheil über den Bildungswerth der Griechen in der bedenklichsten Weise entarten ; der Ausdruck mitleidiger Ueberlegenheit ist in den verschiedensten Feldlagern des Geistes und des Ungeistes zu hören ; anderwärts tändelt eine gänzlich wirkungslose Schönrednerei mit der „griechischen Harmonie“, der „griechischen Schönheit“, der „griechischen Heiterkeit“. Und gerade in den Kreisen, deren Würde es sein könnte, aus dem griechischen Strombett unermüdet, zum Heile deutscher Bildung, zu schöpfen, in den Kreisen der Lehrer an den höheren Bildungsanstalten hat man am besten gelernt, sich mit den Griechen zeitig und in bequemer Weise abzufi nden, nicht selten bis zu einem sceptischen Preisgeben des hellenischen Ideals und bis zu einer gänzlichen Verkehrung der wahren Tendenz aller Alterthumsstudien. Wer überhaupt in jenen Kreisen sich nicht völlig in dem Bemühen, ein zuverlässiger Corrector von alten Texten oder ein naturhistorischer Sprachmikroskopiker zu sein, erschöpft hat, der sucht vielleicht auch das griechische Alterthum, neben anderen Alter-

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thümern, sich „historisch“ anzueignen, aber jedenfalls nach der Methode und mit der Ueberlegenheitsmiene unserer jetzigen gebildeten Geschichtschreibung. Wenn demnach die eigentliche Bildungskraft der höheren Lehranstalten wohl noch niemals niedriger und schwächlicher gewesen ist, wie in der Gegenwart, wenn der „Journalist“, der papierne Sclave des Tages, jeder Bildungsrücksicht den Sieg über den höheren Lehrer davongetragen hat, und Letzterem nur noch die bereits oft erlebte Metamorphose übrig bleibt, sich jetzt nun auch in der Sprechweise des Journalisten, mit der „leichten Eleganz“ dieser Sphäre, als heiterer gebildeter Schmetterling zu bewegen – in welcher peinlichen Verwirrung müssen die | derartig Gebildeten einer solchen Gegenwart jenes Phänomen anstarren, das nur etwa aus dem tiefsten Grunde des bisher unbegriff nen hellenischen Genius analogisch zu begreifen wäre, das Wiedererwachen des dionysischen Geistes und die Wiedergeburt der Tragödie ? Es giebt keine andere Kunstperiode, in der sich die sogenannte Bildung und die eigentliche Kunst so befremdet und abgeneigt gegenübergestanden hätten, als wir das in der Gegenwart mit Augen sehn. Wir verstehen es, warum eine so schwächliche Bildung die wahre Kunst hasst ; denn sie fürchtet durch sie ihren Untergang. Aber sollte nicht eine ganze Culturtendenz, nämlich jene sokratisch-alexandrinische, sich ausgelebt haben, nachdem sie in eine so zierlich-schmächtige Spitze, wie die gegenwärtige Bildung ist, auslaufen konnte ! Wenn es solchen Helden, wie Schiller und Goethe, nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg führt, wenn es bei ihrem muthigsten Ringen nicht weiter gekommen ist als bis zu jenem Sehnsuchtsblick, den die Goethe’sche Iphigenie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat über das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcher Helden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer ganz anderen, von allen Bemühungen der bisherigen Cultur unberührten Seite

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die Pforte von selbst aufthäte – unter dem mystischen Klange der wiedererweckten Tragödienmusik. Möge uns Niemand unsern Glauben an eine noch bevorstehende Wiedergeburt des hellenischen Alterthums zu verkümmern suchen ; denn in ihm fi nden wir allein unsre Hoff nung für eine Erneuerung und Läuterung des deutschen Geistes durch den Feuerzauber der Musik. Was wüssten wir sonst zu nennen, was in der Verödung und Ermattung der jetzigen Cultur irgend welche tröstliche Erwartung für die Zukunft erwecken könnte ? Vergebens spähen wir nach einer einzigen kräftig geästeten Wurzel, nach einem Fleck | fruchtbaren und gesunden Erdbodens : überall Staub, Sand, Erstarrung, Verschmachten. Da möchte sich ein trostlos Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den Ritter mit Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet hat, den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, der seinen Schrekkensweg, unbeirrt durch seine grausen Gefährten, und doch hoff nungslos, allein mit Ross und Hund zu nehmen weiss. Ein solcher Dürerscher Ritter war unser Schopenhauer : ihm fehlte jede Hoff nung, aber er wollte die Wahrheit. Es giebt nicht Seinesgleichen. – Aber wie verändert sich plötzlich jene eben so düster geschilderte Wildniss unserer ermüdeten Cultur, wenn sie der dionysische Zauber berührt ! Ein Sturmwind packt alles Abgelebte, Morsche, Zerbrochne, Verkümmerte, hüllt es wirbelnd in eine rothe Staubwolke und trägt es wie ein Geier in die Lüfte. Verwirrt suchen unsere Blicke nach dem Entschwundenen : denn was sie sehen, ist wie aus einer Versenkung an’s goldne Licht gestiegen, so voll und grün, so üppig lebendig, so sehnsuchtsvoll unermesslich. Die Tragödie sitzt inmitten dieses Ueberflusses an Leben, Leid und Lust, in erhabener Entzückung, sie horcht einem fernen schwermüthigen Gesange – er erzählt von den Müttern des Seins, deren Namen lauten : Wahn, Wille, Wehe. – Ja, meine Freunde, glaubt mit mir an

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das dionysische Leben und an die Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber : kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen. Jetzt sollt ihr tragische Menschen werden ! Ihr sollt den dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten ! Rüstet euch zu hartem Streite, aber glaubt an die Wunder eures Gottes ! | 21. Von diesen exhortativen Tönen in die Stimmung zurückgleitend, die dem Beschaulichen geziemt, wiederhole ich, dass nur von den Griechen gelernt werden kann, was ein solches wundergleiches plötzliches Aufwachen der Tragödie für den innersten Lebensgrund eines Volkes zu bedeuten hat. Es ist das Volk der tragischen Mysterien, das die Perserschlachten schlägt : und wiederum braucht das Volk, das jene Kriege geführt hat, die Tragödie als nothwendigen Genesungstrank. Wer möchte gerade bei diesem Volke, nachdem es durch mehrere Generationen von den stärksten Zuckungen des dionysischen Dämon bis in’s Innerste erregt wurde, noch einen so gleichmässig kräftigen Erguss des einfachsten politischen Gefühls, der natürlichsten Heimatsinstincte, der ursprünglichen männlichen Kampflust vermuthen dürfen ? Ist es doch bei jedem bedeutenden Umsichgreifen dionysischer Erregungen immer zu spüren, wie die dionysische Lösung von den Fesseln des Individuums sich am allerersten in einer bis zur Gleichgültigkeit, ja Feindseligkeit gesteigerten Beeinträchtigung der politischen Instincte fühlbar macht, so gewiss andererseits der staatenbildende Apollo auch der Genius des principii individuationis ist und Staat und Heimatssinn nicht ohne Bejahung der individuellen Persönlichkeit leben können. Von dem Orgiasmus aus führt für ein Volk nur ein Weg, der Weg zum indischen Buddhaismus, der, um überhaupt mit seiner Sehnsucht

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in’s Nichts ertragen zu werden, jener seltnen ekstatischen Zustände mit ihrer Erhebung über Raum, Zeit und Individuum bedarf : wie diese wiederum eine Philosophie fordern, die es lehrt, die unbeschreibliche Unlust der Zwischenzustände durch eine Vorstellung zu überwinden. Eben so nothwendig geräth ein Volk, von der unbedingten | Geltung der politischen Triebe aus, in eine Bahn äusserster Verweltlichung, deren grossartigster, aber auch erschrecklichster Ausdruck das römische imperium ist. Zwischen Indien und Rom hingestellt und zu verführerischer Wahl gedrängt, ist es den Griechen gelungen, in classischer Reinheit eine dritte Form hinzuzuerfi nden, freilich nicht zu langem eigenen Gebrauche, aber eben darum für die Unsterblichkeit. Denn dass die Lieblinge der Götter früh sterben, gilt in allen Dingen, aber eben so gewiss, dass sie mit den Göttern dann ewig leben. Man verlange doch von dem Alleredelsten nicht, dass es die haltbare Zähigkeit des Leders habe ; die derbe Dauerhaftigkeit, wie sie z. B. dem römischen Nationaltriebe zu eigen war, gehört wahrscheinlich nicht zu den nothwendigen Prädicaten der Vollkommenheit. Wenn wir aber fragen, mit welchem Heilmittel es den Griechen ermöglicht war, in ihrer grossen Zeit, bei der ausserordentlichen Stärke ihrer dionysischen und politischen Triebe, weder durch ein ekstatisches Brüten, noch durch ein verzehrendes Haschen nach Weltmacht und Weltehre sich zu erschöpfen, sondern jene herrliche Mischung zu erreichen, wie sie ein edler, zugleich befeuernder und beschaulich stimmender Wein hat, so müssen wir der ungeheuren, das ganze Volksleben erregenden, reinigenden und entladenden Gewalt der Tr a g ö d ie eingedenk sein ; deren höchsten Werth wir erst ahnen werden, wenn sie uns, wie bei den Griechen, als Inbegriff aller prophylaktischen Heilkräfte, als die zwischen den stärksten und an sich verhängnissvollsten Eigenschaften des Volkes waltende Mittlerin entgegentritt.

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Die Tragödie saugt den höchsten Musikorgiasmus in sich hinein, so dass sie geradezu die Musik, bei den Griechen, wie bei uns, zur Vollendung bringt, stellt dann aber den tragischen Mythus und den tragischen Helden daneben, der dann, einem mächtigen Titanen gleich, die ganze dionysische | Welt auf seinen Rücken nimmt und uns davon entlastet : während sie andrerseits durch denselben tragischen Mythus, in der Person des tragischen Helden, von dem gierigen Drange nach diesem Dasein zu erlösen weiss, und mit mahnender Hand an ein anderes Sein und an eine höhere Lust erinnert, zu welcher der kämpfende Held durch seinen Untergang, nicht durch seine Siege sich ahnungsvoll vorbereitet. Die Tragödie stellt zwischen die universale Geltung ihrer Musik und den dionysisch empfänglichen Zuhörer ein erhabenes Gleichniss, den Mythus, und erweckt bei jenem den Schein, als ob die Musik nur ein höchstes Darstellungsmittel zur Belebung der plastischen Welt des Mythus sei. Dieser edlen Täuschung vertrauend darf sie jetzt ihre Glieder zum dithyrambischen Tanze bewegen und sich unbedenklich einem orgiastischen Freiheitsgefühle hingeben, in welchem sie als Musik an sich, ohne jene Täuschung, nicht zu schwelgen wagen dürfte. Der Mythus schützt uns vor der Musik, wie er ihr andrerseits erst die höchste Freiheit giebt. Dafür verleiht die Musik, als Gegengeschenk, dem tragischen Mythus eine so eindringliche und überzeugende metaphysische Bedeutsamkeit, wie sie Wort und Bild, ohne jene einzige Hülfe, nie zu erreichen vermögen ; und insbesondere überkommt durch sie den tragischen Zuschauer gerade jenes sichere Vorgefühl einer höchsten Lust, zu der der Weg durch Untergang und Verneinung führt, so dass er zu hören meint, als ob der innerste Abgrund der Dinge zu ihm vernehmlich spräche. Habe ich dieser schwierigen Vorstellung mit den letzten Sätzen vielleicht nur einen vorläufigen, für Wenige sofort verständlichen Ausdruck zu geben vermocht, so darf ich gerade

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an dieser Stelle nicht ablassen, meine Freunde zu einem nochmaligen Versuche anzureizen und sie zu bitten, an einem einzelnen Beispiele unsrer gemeinsamen Erfahrung sich für die Erkenntniss des allgemeinen Satzes vorzubereiten. Bei | diesem Beispiele darf ich mich nicht auf jene beziehn, welche die Bilder der scenischen Vorgänge, die Worte und Affecte der handelnden Personen benutzen, um sich mit dieser Hülfe der Musikempfi ndung anzunähern ; denn diese alle reden nicht Musik als Muttersprache und kommen auch, trotz jener Hülfe, nicht weiter als in die Vorhallen der Musikperception, ohne je deren innerste Heiligthümer berühren zu dürfen ; manche von diesen, wie Gervinus, gelangen auf diesem Wege nicht einmal in die Vorhallen. Sondern nur an diejenigen habe ich mich zu wenden, die, unmittelbar verwandt mit der Musik, in ihr gleichsam ihren Mutterschooss haben und mit den Dingen fast nur durch unbewusste Musikrelationen in Verbindung stehen. An diese ächten Musiker richte ich die Frage, ob sie sich einen Menschen denken können, der den dritten Act von „Tristan und Isolde“ ohne alle Beihülfe von Wort und Bild rein als ungeheuren symphonischen Satz zu percipiren im Stande wäre, ohne unter einem krampfartigen Ausspannen aller Seelenflügel zu verathmen ? Ein Mensch, der wie hier das Ohr gleichsam an die Herzkammer des Weltwillens gelegt hat, der das rasende Begehren zum Dasein als donnernden Strom oder als zartesten zerstäubten Bach von hier aus in alle Adern der Welt sich ergiessen fühlt, er sollte nicht jählings zerbrechen ? Er sollte es ertragen, in der elenden gläsernen Hülle des menschlichen Individuums, den Wiederklang zahlloser Lust- und Weherufe aus dem „weiten Raum der Weltennacht“ zu vernehmen, ohne bei diesem Hirtenreigen der Metaphysik sich seiner Urheimat unaufhaltsam zuzuflüchten ? Wenn aber doch ein solches Werk als Ganzes percipirt werden kann, ohne Verneinung der Individualexistenz, wenn eine solche Schöpfung geschaffen werden konnte, ohne

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ihren Schöpfer zu zerschmettern – woher nehmen wir die Lösung solches sonderbaren Widerspruches ? | Hier drängt sich zwischen unsre höchste Musikerregung und jene Musik der tragische Mythus und der tragische Held, im Grunde nur als Gleichniss der alleruniversalsten Thatsachen, von denen allein die Musik auf directem Wege reden kann. Als Gleichniss würde nun aber der Mythus, wenn wir als rein dionysische Wesen empfänden, gänzlich wirkungslos und unbeachtet neben uns stehen bleiben, und uns keinen Augenblick abwendig davon machen, unser Ohr dem Wiederklang der universalia ante rem zu bieten. Hier bricht jedoch die a p ol l i n i s c he Kraft, auf Wiederherstellung des fast zersprengten Individuums gerichtet, mit dem Heilbalsam einer wonnevollen Täuschung hervor : plötzlich glauben wir nur noch Tristan zu sehen, wie er bewegungslos und dumpf sich fragt : „die alte Weise ; was weckt sie mich ?“ Und was uns früher wie ein hohles Seufzen aus dem Mittelpunkte des Seins anmuthete, das will uns jetzt nur sagen, wie „öd und leer das Meer“. Und wo wir athemlos zu erlöschen wähnten, im krampfartigen Sichausrecken aller Gefühle, und nur ein Weniges uns mit dieser Existenz zusammenknüpfte, hören und sehen wir jetzt nur den zum Tode verwundeten und doch nicht sterbenden Helden, mit seinem verzweiflungsvollen Rufe : „Sehnen ! Sehnen ! Im Sterben mich zu sehnen, vor Sehnsucht nicht zu sterben !“ Und wenn früher der Jubel des Horn’s nach solchem Uebermaass und solcher Ueberzahl verzehrender Qualen fast wie der Qualen höchste uns das Herz zerschnitt, so steht jetzt zwischen uns und diesem „Jubel an sich“ der jauchzende Kurwenal, dem Schiffe, das Isolden trägt, zugewandt. So gewaltig auch das Mitleiden in uns hineingreift, in einem gewissen Sinne rettet uns doch das Mitleiden vor dem Urleiden der Welt, wie das Gleichnissbild des Mythus uns vor dem unmittelbaren Anschaun der höchsten Weltidee, wie der Gedanke und das Wort uns vor dem un-

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gedämmten Erguss des unbewussten Willens rettet. | Durch jene herrliche apollinische Täuschung dünkt es uns, als ob uns selbst das Tonreich wie eine plastische Welt gegenüber träte, als ob auch in ihr nur Tristan’s und Isoldens Schicksal, wie in einem allerzartesten und ausdrucksfähigsten Stoffe, geformt und bildnerisch ausgeprägt worden sei. So entreisst uns das Apollinische der dionysischen Allgemeinheit und entzückt uns für die Individuen ; an diese fesselt es unsre Mitleidserregung, durch diese befriedigt es den nach grossen und erhabenen Formen lechzenden Schönheitssinn ; es führt an uns Lebensbilder vorbei und reizt uns zu gedankenhaftem Erfassen des in ihnen enthaltenen Lebenskernes. Mit der ungeheuren Wucht des Bildes, des Begriffs, der ethischen Lehre, der sympathischen Erregung reisst das Apollinische den Menschen aus seiner orgiastischen Selbstvernichtung empor und täuscht ihn über die Allgemeinheit des dionysischen Vorganges hinweg zu dem Wahne, dass er ein einzelnes Weltbild, z. B. Tristan und Isolde, sehe und es, d u r c h d ie Mu s i k , nur noch besser und innerlicher s e he n solle. Was vermag nicht der heilkundige Zauber des Apollo, wenn er selbst in uns die Täuschung aufregen kann, als ob wirklich das Dionysische, im Dienste des Apollinischen, dessen Wirkungen zu steigern vermöchte, ja als ob die Musik sogar wesentlich Darstellungskunst für einen apollinischen Inhalt sei ? Bei jener prästabilirten Harmonie, die zwischen dem vollendeten Drama und seiner Musik waltet, erreicht das Drama einen höchsten, für das Wortdrama sonst unzugänglichen Grad von Schaubarkeit. Wie alle lebendigen Gestalten der Scene in den selbständig bewegten Melodienlinien sich zur Deutlichkeit der geschwungenen Linie vor uns vereinfachen, ertönt uns das Nebeneinander dieser Linien in dem mit dem bewegten Vorgange auf zarteste Weise sympathisirenden Harmonienwechsel : als durch welchen uns die Relationen

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der Dinge in sinnlich wahrnehmbarer, keinesfalls abstracter Weise, | unmittelbar vernehmbar werden, wie wir gleichfalls durch ihn erkennen, dass erst in diesen Relationen das Wesen eines Charakters und einer Melodienlinie sich rein offenbare. Und während uns so die Musik zwingt, mehr und innerlicher als sonst zu sehen, und den Vorgang der Scene wie ein zartes Gespinnst vor uns auszubreiten, ist für unser vergeistigtes, in’s Innere blickendes Auge die Welt der Bühne eben so unendlich erweitert als von innen heraus erleuchtet. Was vermöchte der Wortdichter Analoges zu bieten, der mit einem viel unvollkommneren Mechanismus, auf indirectem Wege, vom Wort und vom Begriff aus, jene innerliche Erweiterung der schaubaren Bühnenwelt und ihre innere Erleuchtung zu erreichen sich abmüht ? Nimmt nun zwar auch die musikalische Tragödie das Wort hinzu, so kann sie doch zugleich den Untergrund und die Geburtsstätte des Wortes danebenstellen und uns das Werden des Wortes, von innen heraus, verdeutlichen. Aber von diesem geschilderten Vorgang wäre doch eben so bestimmt zu sagen, dass er nur ein herrlicher Schein, nämlich jene vorhin erwähnte apollinische T äu s c hu n g sei, durch deren Wirkung wir von dem dionysischen Andrange und Ueber maasse entlastet werden sollen. Im Grunde ist ja das Verhältniss der Musik zum Drama gerade das umgekehrte : die Musik ist die eigentliche Idee der Welt, das Drama nur ein Abglanz dieser Idee, ein vereinzeltes Schattenbild derselben. Jene Identität zwischen der Melodienlinie und der lebendigen Gestalt, zwischen der Harmonie und den Charakterrelationen jener Gestalt ist in einem entgegengesetzten Sinne wahr, als es uns, beim Anschaun der musikalischen Tragödie, dünken möchte. Wir mögen die Gestalt uns auf das Sichtbarste bewegen, beleben und von innen heraus beleuchten, sie bleibt immer nur die Erscheinung, von der es keine Brücke giebt, die in die wahre Realität, in’s Herz der Welt führte. | Aus diesem

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Herzen heraus aber redet die Musik ; und zahllose Erscheinungen jener Art dürften an der gleichen Musik vorüberziehn, sie würden nie das Wesen derselben erschöpfen, sondern immer nur ihre veräusserlichten Abbilder sein. Mit dem populären und gänzlich falschen Gegensatz von Seele und Körper ist freilich für das schwierige Verhältniss von Musik und Drama nichts zu erklären und alles zu verwirren ; aber die unphilosophische Rohheit jenes Gegensatzes scheint gerade bei unseren Aesthetikern, wer weiss aus welchen Gründen, zu einem gern bekannten Glaubensartikel geworden zu sein, während sie über einen Gegensatz der Erscheinung und des Dinges an sich nichts gelernt haben oder, aus ebenfalls unbekannten Gründen, nichts lernen mochten. Sollte es sich bei unserer Analysis ergeben haben, dass das Apollinische in der Tragödie durch seine Täuschung völlig den Sieg über das dionysische Urelement der Musik davongetragen und sich diese zu ihren Absichten, nämlich zu einer höchsten Verdeutlichung des Drama’s, nutzbar gemacht habe, so wäre freilich eine sehr wichtige Einschränkung hinzuzufügen : in dem allerwesentlichsten Punkte ist jene apollinische Täuschung durchbrochen und vernichtet. Das Drama, das in so innerlich erleuchteter Deutlichkeit aller Bewegungen und Gestalten, mit Hülfe der Musik, sich vor uns ausbreitet, als ob wir das Gewebe am Webstuhl im Auf- und Niederzukken entstehen sehen – erreicht als Ganzes eine Wirkung, die je n s e it s a l le r ap ol l i n i s c he n K u n s t w i r k u n g e n liegt. In der Gesammtwirkung der Tragödie erlangt das Dionysische wieder das Uebergewicht ; sie schliesst mit einem Klange, der niemals von dem Reiche der apollinischen Kunst her tönen könnte. Und damit erweist sich die apollinische Täuschung als das, was sie ist, als die während der Dauer der Tragödie anhaltende Umschleierung der eigentlichen dionysischen Wirkung : die doch so mächtig ist, am Schluss das apollinische | Drama selbst in eine Sphäre zu drängen, wo es mit dionysischer Weis-

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heit zu reden beginnt und wo es sich selbst und seine apollinische Sichtbarkeit verneint. So wäre wirklich das schwierige Verhältniss des Apollinischen und des Dionysischen in der Tragödie durch einen Bruderbund beider Gottheiten zu symbolisiren : Dionysus redet die Sprache des Apollo, Apollo aber schliesslich die Sprache des Dionysus : womit das höchste Ziel der Tragödie und der Kunst überhaupt erreicht ist. 22. Mag der aufmerksame Freund sich die Wirkung einer wahren musikalischen Tragödie rein und unvermischt, nach seinen Erfahrungen vergegenwärtigen. Ich denke das Phänomen dieser Wirkung nach beiden Seiten hin so beschrieben zu haben, dass er sich seine eignen Erfahrungen jetzt zu deuten wissen wird. Er wird sich nämlich erinnern, wie er, im Hinblick auf den vor ihm sich bewegenden Mythus, zu einer Art von Allwissenheit sich gesteigert fühlte, als ob jetzt die Sehkraft seiner Augen nicht nur eine Flächenkraft sei, sondern in’s Innere zu dringen vermöge, und als ob er die Wallungen des Willens, den Kampf der Motive, den anschwellenden Strom der Leidenschaften, jetzt, mit Hülfe der Musik, gleichsam sinnlich sichtbar, wie eine Fülle lebendig bewegter Linien und Figuren vor sich sehe und damit bis in die zartesten Geheimnisse unbewusster Regungen hinabtauchen könne. Während er so einer höchsten Steigerung seiner auf Sichtbarkeit und Verklärung gerichteten Triebe bewusst wird, fühlt er doch eben so bestimmt, dass diese lange Reihe apollinischer Kunstwirkungen doch n ic ht jenes beglückte Verharren in willenlosem Anschauen erzeugt, das der Plastiker und der epische Dichter, also die eigentlich | apollinischen Künstler, durch ihre Kunstwerke bei ihm hervorbringen : das heisst die in jenem Anschauen erreichte Rechtfertigung der Welt der individuatio, als welche die Spitze und der Inbegriff der apollinischen Kunst ist. Er schaut die verklärte Welt der Bühne und verneint

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sie doch. Er sieht den tragischen Helden vor sich in epischer Deutlichkeit und Schönheit und erfreut sich doch an seiner Vernichtung. Er begreift bis in’s Innerste den Vorgang der Scene und flüchtet sich gern in’s Unbegreifliche. Er fühlt die Handlungen des Helden als gerechtfertigt und ist doch noch mehr erhoben, wenn diese Handlungen den Urheber vernichten. Er schaudert vor den Leiden, die den Helden treffen werden und ahnt doch bei ihnen eine höhere, viel übermächtigere Lust. Er schaut mehr und tiefer als je und wünscht sich doch erblindet. Woher werden wir diese wunderbare Selbstentzweiung, dies Umbrechen der apollinischen Spitze, abzuleiten haben, wenn nicht aus dem d io ny s i s c he n Zauber, der, zum Schein die apollinischen Regungen auf ’s Höchste reizend, doch noch diesen Ueberschwang der apollinischen Kraft in seinen Dienst zu zwingen vermag. D e r t r a g i s c he Myt hu s ist nur zu verstehen als eine Verbild lichung dionysischer Weisheit durch apollinische Kunstmittel ; er führt die Welt der Erscheinung an die Grenzen, wo sie sich selbst verneint und wieder in den Schooss der wahren und einzigen Realität zurückzuflüchten sucht ; wo sie dann, mit Isolden, ihren metaphysischen Schwanengesang also anzustimmen scheint : In dem wogenden Schwall, in dem tönenden Schall, In des Weltathem’s wehendem All, – Ertrinken, versinken, – unbewusst, – höchste Lust !

So vergegenwärtigen wir uns, an den Erfahrungen des wahrhaft aesthetischen Zuhörers, den tragischen Künstler selbst, wie er, gleich einer üppigen Gottheit der individuatio, seine | Gestalten schaff t, in welchem Sinne sein Werk kaum als „Nachahmung der Natur“ zu begreifen wäre – wie dann aber sein ungeheurer dionysischer Trieb diese ganze Welt der Erscheinungen verschlingt, um hinter ihr und durch ihre Vernichtung eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse

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des Ur-Einen ahnen zu lassen. Freilich wissen von dieser Rückkehr zur Urheimat, von dem Bruderbunde der beiden Kunstgottheiten in der Tragödie und von der sowohl apollinischen als dionysischen Erregung des Zuhörers unsere Aesthetiker nichts zu berichten, während sie nicht müde werden, den Kampf des Helden mit dem Schicksal, den Sieg der sittlichen Weltordnung oder eine durch die Tragödie bewirkte Entladung von Affecten als das eigentlich Tragische zu charakterisiren : als welche Unverdrossenheit mich auf den Gedanken bringt sie möchten überhaupt keine aesthetisch erregbaren Menschen sein und beim Anhören der Tragödie vielleicht nur als moralische Wesen in Betracht kommen. Noch nie, seit Aristoteles, ist eine Erklärung der tragischen Wirkung gegeben worden, aus der auf künstlerische Zustände, auf eine aesthetische Thätigkeit der Zuhörer geschlossen werden dürfte. Bald soll Mitleid und Furchtsamkeit durch die ernsten Vorgänge zu einer erleichternden Entladung gedrängt werden, bald sollen wir uns bei dem Sieg guter und edler Principien, bei der Aufopferung des Helden im Sinne einer sittlichen Weltbetrachtung erhoben und begeistert fühlen ; und so gewiss ich glaube, dass für zahlreiche Menschen gerade das und nur das die Wirkung der Tragödie ist, so deutlich ergiebt sich daraus, dass diese alle, sammt ihren interpretirenden Aesthetikern, von der Tragödie als einer höchsten K u n s t nichts erfahren haben. Jene pathologische Entladung, die Katharsis des Aristoteles, von der die Philologen nicht recht wissen, ob sie unter die medicinischen oder die moralischen Phänomene zu rechnen sei, erinnert an eine merk|würdige Ahnung Goethe’s. „Ohne ein lebhaftes pathologisches Interesse“, sagt er, „ist es auch mir niemals gelungen, irgend eine tragische Situation zu bearbeiten, und ich habe sie daher lieber vermieden als aufgesucht. Sollte es wohl auch einer von den Vorzügen der Alten gewesen sein, dass das höchste Pathetische auch nur aesthetisches Spiel bei ihnen gewesen wäre, da bei uns die

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Naturwahrheit mitwirken muss, um ein solches Werk hervorzubringen ?“ Diese so tiefsinnige letzte Frage dürfen wir jetzt, nach unseren herrlichen Erfahrungen, bejahen, nachdem wir gerade an der musikalischen Tragödie mit Staunen erlebt haben, wie wirklich das höchste Pathetische doch nur ein aesthetisches Spiel sein kann : weshalb wir glauben dürfen, dass erst jetzt das Urphänomen des Tragischen mit einigem Erfolg zu beschreiben ist. Wer jetzt noch nur von jenen stellvertretenden Wirkungen aus ausseraesthetischen Sphären zu erzählen hat und über den pathologisch-moralischen Process sich nicht hinausgehoben fühlt, mag nur an seiner aesthetischen Natur verzweifeln : wogegen wir ihm die Interpretation Shakespeare’s nach der Manier des Gervinus und das fleissige Aufspüren der „poetischen Gerechtigkeit“ als unschuldigen Ersatz anempfehlen. So ist mit der Wiedergeburt der Tragödie auch der aest het i sc he Zu hör er wieder geboren, an dessen Stelle bisher in den Theaterräumen ein seltsames Quidproquo, mit halb moralischen und halb gelehrten Ansprüchen, zu sitzen pflegte, der „Kritiker“. In seiner bisherigen Sphäre war Alles künstlich und nur mit einem Scheine des Lebens übertüncht. Der darstellende Künstler wusste in der That nicht mehr, was er mit einem solchen, kritisch sich gebärdenden Zuhörer zu beginnen habe und spähte daher, sammt dem ihn inspirirenden Dramatiker oder Operncomponisten, unruhig nach den letzten Resten des Lebens in diesem anspruchsvoll öden und zum Geniessen unfähigen Wesen. Aus derartigen „Kritikern“ | bestand aber bisher das Publicum ; der Student, der Schulknabe, ja selbst das harmloseste weibliche Geschöpf war wider sein Wissen bereits durch Erziehung und Journale zu einer gleichen Perception eines Kunstwerks vorbereitet. Die edleren Naturen unter den Künstlern rechneten bei einem solchen Publicum auf die Erregung moralisch-religiöser Kräfte, und der Anruf der „sittlichen Weltordnung“ trat vikarirend ein,

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wo eigentlich ein gewaltiger Kunstzauber den ächten Zuhörer packen sollte. Oder es wurde vom Dramatiker eine grossartigere, mindestens aufregende Tendenz der politischen und socialen Gegenwart so deutlich vorgetragen, dass der Zuhörer seine kritische Erschöpfung vergessen und sich ähnlichen Affecten überlassen konnte, wie in patriotischen oder kriegerischen Momenten, oder vor der Rednerbühne des Parlaments oder bei der Verurtheilung des Verbrechens und des Lasters : als welche Entfremdung der eigentlichen Kunstabsichten hier und da geradezu zu einem Cultus der Tendenz führen musste. Doch hier trat ein, was bei allen erkünstelten Künsten von jeher eingetreten ist, eine reissend schnelle Depravation jener Tendenzen, so dass zum Beispiel die Tendenz, das Theater als Veranstaltung zur moralischen Volksbildung zu verwenden, die zu Schiller’s Zeit ernsthaft genommen wurde, bereits unter die unglaubwürdigen Antiquitäten einer überwundenen Bildung gerechnet wird. Während der Kritiker in Theater und Concert, der Journalist in der Schule, die Presse in der Gesellschaft zur Herrschaft gekommen war, entartete die Kunst zu einem Unterhaltungsobject der niedrigsten Art, und die aesthetische Kritik wurde als das Bindemittel einer eiteln, zerstreuten, selbstsüchtigen und überdies ärmlich-unoriginalen Geselligkeit benutzt, deren Sinn jene Schopenhauerische Parabel von den Stachelschweinen zu verstehen giebt ; so dass zu keiner Zeit so viel über Kunst geschwatzt und so wenig von der Kunst gehalten worden ist. | Kann man aber mit einem Menschen noch verkehren, der im Stande ist, sich über Beethoven und Shakespeare zu unterhalten ? Mag Jeder nach seinem Gefühl diese Frage beantworten : er wird mit der Antwort jedenfalls beweisen, was er sich unter „Bildung“ vorstellt, vorausgesetzt dass er die Frage überhaupt zu beantworten sucht und nicht vor Ueberraschung bereits verstummt ist. Dagegen dürfte mancher edler und zarter von der Natur Befähigte, ob er gleich in der geschilderten Weise allmählich

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zum kritischen Barbaren geworden war, von einer eben so unerwarteten als gänzlich unverständlichen Wirkung zu erzählen haben, die etwa eine glücklich gelungene Lohengrinauff ührung auf ihn ausübte : nur dass ihm vielleicht jede Hand fehlte, die ihn mahnend und deutend anfasste, so dass auch jene unbegreiflich verschiedenartige und durchaus unvergleichliche Empfi ndung, die ihn damals erschütterte, vereinzelt blieb und wie ein räthselhaftes Gestirn nach kurzem Leuchten erlosch. Damals hatte er geahnt, was der aesthetische Zuhörer ist. 23. Wer recht genau sich selber prüfen will, wie sehr er dem wahren aesthetischen Zuhörer verwandt ist oder zur Gemeinschaft der sokratisch-kritischen Menschen gehört, der mag sich nur aufrichtig nach der Empfi ndung fragen, mit der er das auf der Bühne dargestellte Wu nd er empfängt : ob er etwa dabei seinen historischen, auf strenge psychologische Causalität gerichteten Sinn beleidigt fühlt, ob er mit einer wohlwollenden Concession gleichsam das Wunder als ein der Kindheit verständliches, ihm entfremdetes Phänomen zulässt oder ob er irgend etwas Anderes dabei erleidet. Daran nämlich wird er messen können, wie weit er über|haupt befähigt ist, den Myt hu s, das zusammengezogene Weltbild, zu verstehen, der, als Abbreviatur der Erscheinung, das Wunder nicht entbehren kann. Das Wahrscheinliche ist aber, dass fast Jeder, bei strenger Prüfung, sich so durch den kritisch-historischen Geist unserer Bildung zersetzt fühlt, um nur etwa auf gelehrtem Wege, durch vermittelnde Abstractionen, sich die einstmalige Existenz des Mythus glaublich zu machen. Ohne Mythus aber geht jede Cultur ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig : erst ein mit Mythen umstellter Horizont schliesst eine ganze Culturbewegung zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet.

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Die Bilder des Mythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigen dämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und seine Kämpfe deutet : und selbst der Staat kennt keine mächtigeren ungeschriebnen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt. Man stelle jetzt daneben den abstracten, ohne Mythen geleiteten Menschen, die abstracte Erziehung, die abstracte Sitte, das abstracte Recht, den abstracten Staat : man vergegenwärtige sich das regellose, von keinem heimischen Mythus gezügelte Schweifen der künstlerischen Phantasie : man denke sich eine Cultur, die keinen festen und heiligen Ursitz hat, sondern alle Möglichkeiten zu erschöpfen und von allen Culturen sich kümmerlich zu nähren verurtheilt ist – das ist die Gegenwart, als das Resultat jenes auf Vernichtung des Mythus gerichteten Sokratismus. Und nun steht der mythenlose Mensch, ewig hungernd, unter allen Vergangenheiten und sucht grabend und wühlend nach Wurzeln, sei es dass er auch in den entlegensten Alterthümern nach ihnen graben müsste. Worauf weist das un|geheure historische Bedürfniss der unbefriedigten modernen Cultur, das Umsichsammeln zahlloser anderer Culturen, das verzehrende Erkennenwollen, wenn nicht auf den Verlust des Mythus, auf den Verlust der mythischen Heimat, des mythischen Mutterschoosses ? Man frage sich, ob das fieberhafte und so unheimliche Sichregen dieser Cultur etwas Anderes ist als das gierige Zugreifen und Nach-NahrungHaschen des Hungernden – und wer möchte einer solchen Cultur noch etwas geben wollen, die durch alles, was sie verschlingt, nicht zu sättigen ist und bei deren Berührung sich die kräftigste, heilsamste Nahrung in „Historie und Kritik“ zu verwandeln pflegt ? Man müsste auch an unserem deutschen Wesen schmerzlich verzweifeln, wenn es bereits in gleicher Weise mit seiner

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Cultur unlösbar verstrickt, ja eins geworden wäre, wie wir das an dem civilisirten Frankreich zu unserem Entsetzen beobachten können ; und das, was lange Zeit der grosse Vorzug Frankreichs und die Ursache seines ungeheuren Uebergewichts war, eben jenes Einssein von Volk und Cultur, dürfte uns, bei diesem Anblick, nöthigen, darin das Glück zu preisen, dass diese unsere so fragwürdige Cultur bis jetzt mit dem edeln Kerne unseres Volkscharakters nichts gemein hat. Alle unsere Hoff nungen strecken sich vielmehr sehnsuchtsvoll nach jener Wahrnehmung aus, dass unter diesem unruhig auf und nieder zuckenden Culturleben und Bildungskrampfe eine herrliche, innerlich gesunde, uralte Kraft verborgen liegt, die freilich nur in ungeheuren Momenten sich gewaltig einmal bewegt und dann wieder einem zukünftigen Erwachen entgegenträumt. Aus diesem Abgrunde ist die deutsche Reformation hervorgewachsen : in deren Choral die Zukunftsweise der deutschen Musik zuerst erklang. So tief, muthig und seelenvoll, so überschwänglich gut und zart tönte dieser Choral Luther’s, als der erste dionysische Lockruf, der | aus dichtverwachsenem Gebüsch, im Nahen des Frühlings, hervordringt. Ihm antwortete in wetteiferndem Wiederhall jener weihevoll übermüthige Festzug dionysischer Schwärmer, denen wir die deutsche Musik danken – und denen wir d ie W ie d e r g e bu r t d e s d eut s c he n My t hu s danken werden ! Ich weiss, dass ich jetzt den theilnehmend folgenden Freund auf einen hochgelegenen Ort einsamer Betrachtung führen muss, wo er nur wenige Gefährten haben wird, und rufe ihm ermuthigend zu, dass wir uns an unseren leuchtenden Führern, den Griechen, festzuhalten haben. Von ihnen haben wir bis jetzt, zur Reinigung unserer aesthetischen Erkenntniss, jene beiden Götterbilder entlehnt, von denen jedes ein gesondertes Kunstreich für sich beherrscht und über deren gegenseitige Berührung und Steigerung wir durch die griechische Tragödie zu einer Ahnung kamen. Durch ein merk-

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würdiges Auseinanderreissen beider künstlerischen Urtriebe musste uns der Untergang der griechischen Tragödie herbeigeführt erscheinen : mit welchem Vorgange eine Degeneration und Umwandlung des griechischen Volkscharakters im Einklang war, uns zu ernstem Nachdenken auffordernd, wie nothwendig und eng die Kunst und das Volk, Mythus und Sitte, Tragödie und Staat, in ihren Fundamenten verwachsen sind. Jener Untergang der Tragödie war zugleich der Untergang des Mythus. Bis dahin waren die Griechen unwillkürlich genöthigt, alles Erlebte sofort an ihre Mythen anzuknüpfen, ja es nur durch diese Anknüpfung zu begreifen : wodurch auch die nächste Gegenwart ihnen sofort sub specie aeterni und in gewissem Sinne als zeitlos erscheinen musste. In diesen Strom des Zeitlosen aber tauchte sich eben so der Staat wie die Kunst, um in ihm vor der Last und der Gier des Augenblicks Ruhe zu fi nden. Und gerade nur so viel ist ein Volk – wie übrigens auch ein Mensch – werth, als es auf seine Erlebnisse den Stempel des Ewigen zu drücken | vermag : denn damit ist es gleichsam entweltlicht und zeigt seine unbewusste innerliche Ueberzeugung von der Relativität der Zeit und von der wahren, d. h. der metaphysischen Bedeutung des Lebens. Das Gegentheil davon tritt ein, wenn ein Volk anfängt, sich historisch zu begreifen und die mythischen Bollwerke um sich herum zu zertrümmern : womit gewöhnlich eine entschiedene Verweltlichung, ein Bruch mit der unbewussten Metaphysik seines früheren Daseins, in allen ethischen Consequenzen, verbunden ist. Die griechische Kunst und vornehmlich die griechische Tragödie hielt vor Allem die Vernichtung des Mythus auf : man musste sie mit vernichten, um, losgelöst von dem heimischen Boden, ungezügelt in der Wildniss des Gedankens, der Sitte und der That leben zu können. Auch jetzt noch versucht jener metaphysische Trieb, sich eine, wenngleich abgeschwächte Form der Verklärung zu schaffen, in dem zum Leben drängenden Sokratismus der Wissenschaft : aber auf

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den niederen Stufen führte derselbe Trieb nur zu einem fieberhaften Suchen, das sich allmählich in ein Pandämonium überallher zusammengehäufter Mythen und Superstitionen verlor : in dessen Mitte der Hellene dennoch ungestillten Herzens sass, bis er es verstand, mit griechischer Heiterkeit und griechischem Leichtsinn, als Graeculus, jenes Fieber zu maskiren oder in irgend einem orientalisch dumpfen Aberglauben sich völlig zu betäuben. Diesem Zustande haben wir uns, seit der Wiedererwekkung des alexandrinisch-römischen Alterthums im fünfzehnten Jahrhundert, nach einem langen schwer zu beschreibenden Zwischenacte, in der auff älligsten Weise angenähert. Auf den Höhen dieselbe überreiche Wissenslust, dasselbe ungesättigte Finderglück, dieselbe ungeheure Verweltlichung, daneben ein heimatloses Herumschweifen, ein gieriges Sichdrängen an fremde Tische, eine leichtsinnige Vergötterung | der Gegenwart oder stumpf betäubte Abkehr, Alles sub specie saeculi, der „Jetztzeit“ : als welche gleichen Symptome auf einen gleichen Mangel im Herzen dieser Cultur zu rathen geben, auf die Vernichtung des Mythus. Es scheint kaum möglich zu sein, mit dauerndem Erfolge einen fremden Mythus überzupflanzen, ohne den Baum durch dieses Ueberpflanzen heillos zu beschädigen : als welcher vielleicht einmal stark und gesund genug ist, jenes fremde Element mit furchtbarem Kampfe wieder auszuscheiden, für gewöhnlich aber siech und verkümmert oder in krankhaftem Wuchern sich verzehren muss. Wir halten so viel von dem reinen und kräftigen Kerne des deutschen Wesens, dass wir gerade von ihm jene Ausscheidung gewaltsam eingepflanzter fremder Elemente zu erwarten wagen und es für möglich erachten, dass der deutsche Geist sich auf sich selbst zurückbesinnt. Vielleicht wird Mancher meinen, jener Geist müsse seinen Kampf mit der Ausscheidung des Romanischen beginnen : wozu er eine äusserliche Vorbereitung und Ermuthigung in der siegreichen

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Tapferkeit und blutigen Glorie des letzten Krieges erkennen dürfte, die innerliche Nöthigung aber in dem Wetteifer suchen muss, der erhabenen Vorkämpfer auf dieser Bahn, Luther’s ebensowohl als unserer grossen Künstler und Dichter, stets werth zu sein. Aber nie möge er glauben, ähnliche Kämpfe ohne seine Hausgötter, ohne seine mythische Heimat, ohne ein „Wiederbringen“ aller deutschen Dinge, kämpfen zu können ! Und wenn der Deutsche zagend sich nach einem Führer umblicken sollte, der ihn wieder in die längst verlorne Heimat zurückbringe, deren Wege und Stege er kaum mehr kennt – so mag er nur dem wonnig lockenden Rufe des dionysischen Vogels lauschen, der über ihm sich wiegt und ihm den Weg dahin deuten will. | 24. Wir hatten unter den eigenthümlichen Kunstwirkungen der musikalischen Tragödie eine apollinische Täu s c hu n g hervorzuheben, durch die wir vor dem unmittelbaren Einssein mit der dionysischen Musik gerettet werden sollen, während unsre musikalische Erregung sich auf einem apollinischen Gebiete und an einer dazwischengeschobenen sichtbaren Mittelwelt entladen kann. Dabei glaubten wir beobachtet zu haben, wie eben durch diese Entladung jene Mittelwelt des scenischen Vorgangs, überhaupt das Drama, in einem Grade von innen heraus sichtbar und verständlich wurde, der in aller sonstigen apollinischen Kunst unerreichbar ist : so dass wir hier, wo diese gleichsam durch den Geist der Musik beschwingt und emporgetragen war, die höchste Steigerung ihrer Kräfte und somit in jenem Bruderbunde des Apollo und des Dionysus die Spitze ebensowohl der apollinischen als der dionysischen Kunstabsichten anerkennen mussten. Freilich erreichte das apollinische Lichtbild gerade bei der inneren Beleuchtung durch die Musik nicht die eigenthümliche Wirkung der schwächeren Grade apollinischer Kunst ; was das Epos oder der beseelte Stein vermögen, das anschau-

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ende Auge zu jenem ruhigen Entzücken an der Welt der individuatio zu zwingen, das wollte sich hier, trotz einer höheren Beseeltheit und Deutlichkeit, nicht erreichen lassen. Wir schauten das Drama an und drangen mit bohrendem Blick in seine innere bewegte Welt der Motive – und doch war uns, als ob nur ein Gleichnissbild an uns vorüberzöge, dessen tiefsten Sinn wir fast zu errathen glaubten und das wir, wie einen Vorhang, fortzuziehen wünschten, um hinter ihm das Urbild zu erblicken. Die hellste Deutlichkeit des Bildes genügte uns nicht : denn dieses schien eben so | wohl Etwas zu offenbaren als zu verhüllen ; und während es mit seiner gleichnissartigen Offenbarung zum Zerreissen des Schleiers, zur Enthüllung des geheimnissvollen Hintergrundes aufzufordern schien, hielt wiederum gerade jene durchleuchtete Allsichtbarkeit das Auge gebannt und wehrte ihm, tiefer zu dringen. Wer dies nicht erlebt hat, zugleich schauen zu müssen und zugleich über das Schauen hinaus sich zu sehnen, wird sich schwerlich vorstellen, wie bestimmt und klar diese beiden Processe bei der Betrachtung des tragischen Mythus nebeneinander bestehen und nebeneinander empfunden werden : während die wahrhaft aesthetischen Zuschauer mir bestätigen werden, dass unter den eigenthümlichen Wirkungen der Tragödie jenes Nebeneinander die merkwürdigste sei. Man übertrage sich nun dieses Phänomen des aesthetischen Zuschauers in einen analogen Process im tragischen Künstler, und man wird die Genesis des t r a g i s c h e n My t hu s verstanden haben. Er theilt mit der apollinischen Kunstsphäre die volle Lust am Schein und am Schauen, und zugleich verneint er diese Lust und hat eine noch höhere Befriedigung an der Vernichtung der sichtbaren Scheinwelt. Der Inhalt des tragischen Mythus ist zunächst ein episches Ereigniss mit der Verherrlichung des kämpfenden Helden : woher stammt aber jener an sich räthselhafte Zug, dass das Leiden im Schicksale des Helden, die schmerzlichsten Ueberwindungen, die qualvoll-

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sten Gegensätze der Motive, kurz die Exemplification jener Weisheit des Silen, oder, aesthetisch ausgedrückt, das Hässliche und Disharmonische, in so zahllosen Formen, mit solcher Vorliebe immer von Neuem dargestellt wird und gerade in dem üppigsten und jugendlichsten Alter eines Volkes, wenn nicht gerade an diesem Allen eine höhere Lust percipirt wird ? Denn dass es im Leben wirklich so tragisch zugeht, würde am wenigsten die Entstehung einer Kunstform er|klären : wenn anders die Kunst nicht nur Nachahmung der Naturwirklichkeit, sondern gerade ein metaphysisches Supplement der Naturwirklichkeit ist, zu deren Ueberwindung neben sie gestellt. Der tragische Mythus, sofern er überhaupt zur Kunst gehört, nimmt auch vollen Antheil an dieser metaphysischen Verklärungsabsicht der Kunst überhaupt : was verklärt er aber, wenn er die Erscheinungswelt unter dem Bilde des leidenden Helden vorführt ? Die „Realität“ dieser Erscheinungswelt am wenigsten, denn er sagt uns gerade : „Seht hin ! Seht genau hin ! Dies ist euer Leben ! Dies ist der Stundenzeiger an eurer Daseinsuhr !“ Und dieses Leben zeigte der Mythus, um es vor uns damit zu verklären ? Wenn aber nicht, worin liegt dann die aesthetische Lust, mit der wir auch jene Bilder an uns vorüberziehen lassen ? Ich frage nach der aesthetischen Lust und weiss recht wohl, dass viele dieser Bilder ausserdem mitunter noch eine moralische Ergetzung, etwa unter der Form des Mitleides oder eines sittlichen Triumphes, erzeugen können. Wer die Wirkung des Tragischen aber allein aus diesen moralischen Quellen ableiten wollte, wie es freilich in der Aesthetik nur allzu lange üblich war, der mag nur nicht glauben, etwas für die Kunst damit gethan zu haben : die vor Allem Reinheit in ihrem Bereiche verlangen muss. Für die Erklärung des tragischen Mythus ist es gerade die erste Forderung, die ihm eigenthümliche Lust in der rein aesthetischen Sphäre zu suchen, ohne in das Gebiet des Mitleids, der Furcht, des Sittlich-

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Erhabenen überzugreifen. Wie kann das Hässliche und das Disharmonische, der Inhalt des tragischen Mythus, eine aesthetische Lust erregen ? Hier nun wird es nöthig, uns mit einem kühnen Anlauf in eine Metaphysik der Kunst hinein zu schwingen, indem ich den früheren Satz wiederhole, dass nur als ein aesthetisches Phänomen das Dasein und die Welt gerecht|fertigt erscheint : in welchem Sinne uns gerade der tragische Mythus zu überzeugen hat, dass selbst das Hässliche und Disharmonische ein künstlerisches Spiel ist, welches der Wille, in der ewigen Fülle seiner Lust, mit sich selbst spielt. Dieses schwer zu fassende Urphänomen der dionysischen Kunst wird aber auf directem Wege einzig verständlich und unmittelbar erfasst in der wunderbaren Bedeutung der mu s i k a l i s c he n D i s s o n a n z : wie überhaupt die Musik, neben die Welt hingestellt, allein einen Begriff davon geben kann, was unter der Rechtfertigung der Welt als eines aesthetischen Phänomens zu verstehen ist. Die Lust, die der tragische Mythus erzeugt, hat eine gleiche Heimat, wie die lustvolle Empfi ndung der Dissonanz in der Musik. Das Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz percipirten Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschooss der Musik und des tragischen Mythus. Sollte sich nicht inzwischen, dadurch, dass wir die Musikrelation der Dissonanz zu Hülfe nahmen, jenes schwierige Problem der tragischen Wirkung wesentlich erleichtert haben ? Verstehen wir doch jetzt, was es heissen will, in der Tragödie zugleich schauen zu wollen und sich über das Schauen hinaus zu sehnen : welchen Zustand wir in Betreff der künstlerisch verwendeten Dissonanz eben so zu charakterisiren hätten, dass wir hören wollen und über das Hören uns zugleich hinaussehnen. Jenes Streben in’s Unendliche, der Flügelschlag der Sehnsucht, bei der höchsten Lust an der deutlich percipirten Wirklichkeit, erinnern daran, dass wir in beiden Zuständen ein dionysisches Phänomen zu erkennen haben,

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das uns immer von Neuem wieder das spielende Auf bauen und Zertrümmern der Individualwelt als den Ausfluss einer Urlust offenbart, in einer ähnlichen Weise, wie wenn von Hera klit dem Dunklen die weltbildende Kraft einem Kinde verglichen wird, das spielend Steine hin und her setzt und Sandhaufen auf baut und wieder einwirft. | Um also die dionysische Befähigung eines Volkes richtig abzuschätzen, dürften wir nicht nur an die Musik des Volkes, sondern eben so nothwendig an den tragischen Mythus dieses Volkes als den zweiten Zeugen jener Befähigung zu denken haben. Es ist nun, bei dieser engsten Verwandtschaft zwischen Musik und Mythus, in gleicher Weise zu vermuthen, dass mit einer Entartung und Depravation des Einen eine Verkümmerung der Anderen verbunden sein wird : wenn anders in der Schwächung des Mythus überhaupt eine Abschwächung des dionysischen Vermögens zum Ausdruck kommt. Ueber Beides dürfte uns aber ein Blick auf die Entwicklung des deutschen Wesens nicht in Zweifel lassen : in der Oper wie in dem abstracten Charakter unseres mythenlosen Daseins, in einer zur Ergetzlichkeit herabgesunkenen Kunst, wie in einem vom Begriff geleiteten Leben, hatte sich uns jene gleich unkünstlerische, als am Leben zehrende Natur des sokratischen Optimismus enthüllt. Zu unserem Troste aber gab es Anzeichen dafür, dass trotzdem der deutsche Geist in herrlicher Gesundheit, Tiefe und dionysischer Kraft unzerstört, gleich einem zum Schlummer niedergesunknen Ritter, in einem unzugänglichen Abgrunde ruhe und träume : aus welchem Abgrunde zu uns das dionysische Lied emporsteigt, um uns zu verstehen zu geben, dass dieser deutsche Ritter auch jetzt noch seinen uralten dionysischen Mythus in seligernsten Visionen träumt. Glaube Niemand, dass der deutsche Geist seine mythische Heimat auf ewig verloren habe, wenn er so deutlich noch die Vogelstimmen versteht, die von jener Heimat erzählen. Eines Tages wird er sich wach fi nden, in

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aller Morgenfrische eines ungeheuren Schlafes : dann wird er Drachen tödten, die tückischen Zwerge vernichten und Brünnhilde erwecken – und Wotan’s Speer selbst wird seinen Weg nicht hemmen können ! Meine Freunde, ihr, die ihr an die dionysische Musik | glaubt, ihr wisst auch, was für uns die Tragödie bedeutet. In ihr haben wir, wiedergeboren aus der Musik, den tragischen Mythus – und in ihm dürft ihr Alles hoffen und das Schmerzlichste vergessen ! Das Schmerzlichste aber ist für uns alle – die lange Entwürdigung, unter der der deutsche Genius, entfremdet von Haus und Heimat, im Dienst tückischer Zwerge lebte. Ihr versteht das Wort – wie ihr auch, zum Schluss, meine Hoff nungen verstehen werdet. 25. Musik und tragischer Mythus sind in gleicher Weise Ausdruck der dionysischen Befähigung eines Volkes und von einander untrennbar. Beide entstammen einem Kunstbereiche, das jenseits des Apollinischen liegt ; beide verklären eine Region, in deren Lustaccorden die Dissonanz eben so wie das schreckliche Weltbild reizvoll verklingt ; beide spielen mit dem Stachel der Unlust, ihren überaus mächtigen Zauberkünsten vertrauend ; beide rechtfertigen durch dieses Spiel die Existenz selbst der „schlechtesten Welt“. Hier zeigt sich das Dionysische, an dem Apollinischen gemessen, als die ewige und ursprüngliche Kunstgewalt, die überhaupt die ganze Welt der Erscheinung in’s Dasein ruft : in deren Mitte ein neuer Verklärungsschein nöthig wird, um die belebte Welt der Individuation im Leben festzuhalten. Könnten wir uns eine Menschwerdung der Dissonanz denken – und was ist sonst der Mensch ? – so würde diese Dissonanz, um leben zu können, eine herrliche Illusion brauchen, die ihr einen Schönheitsschleier über ihr eignes Wesen decke. Dies ist die wahre Kunstabsicht des Apollo : in dessen Namen wir alle jene zahllosen Illusionen des

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schönen Scheins zusammenfassen, die in jedem Augenblick das Dasein überhaupt lebenswerth machen und zum Erleben des nächsten Augenblicks drängen. | Dabei darf von jenem Fundamente aller Existenz, von dem dionysischen Untergrunde der Welt, genau nur soviel dem menschlichen Individuum in’s Bewusstsein treten, als von jener apollinischen Verklärungskraft wieder überwunden werden kann : so dass diese beiden Kunsttriebe ihre Kräfte in strenger wechselseitiger Proportion, nach dem Gesetze ewiger Gerechtigkeit, zu entfalten genöthigt sind. Wo sich die dionysischen Mächte so ungestüm erheben, wie wir dies erleben, da muss auch bereits Apollo, in eine Wolke gehüllt, zu uns herniedergestiegen sein ; dessen üppigste Schönheitswirkungen wohl eine nächste Generation schauen wird. Dass diese Wirkung aber nöthig sei, dies würde Jeder am sichersten, durch Intuition, nachempfi nden, wenn er einmal, sei es auch im Traume, in eine althellenische Existenz sich zurückversetzt fühlte : im Wandeln unter hohen ionischen Säulengängen, aufwärtsblickend zu einem Horizont, der durch reine und edle Linien abgeschnitten ist, neben sich Wiederspiegelungen seiner verklärten Gestalt in leuchtendem Marmor, rings um sich feierlich schreitende oder zart bewegte Menschen, mit harmonisch tönenden Lauten und rhythmischer Gebärdensprache – würde er nicht, bei diesem fortwährenden Einströmen der Schönheit, zu Apollo die Hand erhebend ausrufen müssen : „Seliges Volk der Hellenen ! Wie gross muss unter euch Dionysus sein, wenn der delische Gott solche Zauber für nöthig hält, um euren dithyrambischen Wahnsinn zu heilen“ ! – Einem so Gestimmten dürfte aber ein greiser Athener, mit dem erhabenen Auge des Aeschylus zu ihm aufblickend, entgegnen : „Sage aber auch dies, du wunderlicher Fremdling : wie viel musste dies Volk leiden, um so schön werden zu können ! Jetzt aber folge mir zur Tragödie und opfere mit mir im Tempel beider Gottheiten“ !

Nachworte von Claus-Artur Scheier

Jenseits von Gut und Böse Vorspiel einer Philosophie der Zukunft Freilich thut, um […] das Lesen als Kunst zu üben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist – und darum hat es noch Zeit bis zur ‚Lesbarkeit‘ meiner Schriften – […] : das Wiederkäuen … (GM, Vorrede 8)

Was uns von allen Platonischen und Leibnitzischen Denkweisen am Gründlichsten abtrennt, das ist : wir glauben an keine ewigen Begriffe, ewigen Werthe, ewigen Formen, ewigen Seelen; und Philosophie, soweit sie Wissenschaft und nicht Gesetzgebung ist, bedeutet uns nur die weiteste Ausdehnung des Begriff s ‚Historie‘. Von der Etymologie und der Geschichte der Sprache her nehmen wir alle Begriffe als geworden, viele als noch werdend; und zwar so, daß die allgemeinsten Begriffe, als die falschesten, auch die ältesten sein müssen. ‚Sein‘, ‚Substanz‘ und ‚Unbedingtes‘, ‚Gleichheit‘, ‚Ding‘ –“1

Wie die Moderne sich dem alten Europa und dessen Metaphysik gegenüber herausgefordert fühlt, jede gegebene Identität als kontingent, geschichtlich geworden, veränderbar, als inszeniert zu entlarven, muß sie umgekehrt die eigne Identität im allgemeinen wie im einzelnen immer erst konstituieren.2 1 2

VII-3.38[14] (1885).

Vgl. Niklas Luhmann : Die Religion der Gesellschaft, hg. von André Kieserling, Frankfurt a. M. 2002 (12000), S. 73 : „Im operativen Konstruktivismus muß […] der logische Satz der Identität umformuliert werden. Er lautet dann nicht mehr ‚A ist A‘, sondern ‚wenn A dann A‘. Damit ist gesagt, daß die Identität nur in operativen Sequenzen konstituiert werden kann […]. Jede Wiederholung muß das Wiederholte identifi zieren und dabei kondensieren auf das, was aus dem vorigen Kontext übernommen wird. Und sie muß diese Identität konfirmieren, also sicherstellen, daß sie auch zu einem anderen Kontext paßt.“

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Nachworte

Die Wiederholung wird ihr darum zum integralen Bestandteil ihrer Strategien, 1843 schon hat Kierkegaards Wiederholung das indiziert. Nietzsche seinerseits orientiert sich an Schopenhauer : Die „rein erkennbare Seite der Welt und die Wiederholung derselben in irgend einer Kunst ist das Element des Künstlers“,3 und „das ‚Werk‘, das des Künstlers, des Philosophen, erfi ndet erst Den, welcher es geschaffen hat, geschaffen haben soll“ ( JGB 269). Die fünf Vorreden von 18864 sind in diesem schöpferischen Sinn die Realisierung von Zarathustras „so erzähle ich mir mich selber“,5 die Ecce Homo umfassend wiederholen wird : „Und so erzähle ich mir mein Leben.“ (EH, Vorspruch) Was schien zu tun geblieben nach dem Zarathustra ? Die Aufgabe für die nunmehr folgenden Jahre war so streng als möglich vorgezeichnet. Nachdem der jasagende Theil meiner Aufgabe gelöst war, kam die neinsagende, neinthuende Hälfte derselben an die Reihe : die Umwerthung der bisherigen Werthe selbst, der große Krieg, – die Herauf beschwörung eines Tags der Entscheidung. (EH, JGB 1)

Bereits die Morgenröthe war „ein jasagendes Buch“ (EH, FW ) und mehr noch die Fröhliche Wissenschaft; aber erst mit Also sprach Zarathustra bewältigt Nietzsche das innerste Problem des Jasagens. Es war – zunächst, wie ihm schien – nur vorläufig zu lösen, nur in Gestalt eines Mythos als Lehrgedicht 6 3

Arthur Schopenhauer : Die Welt als Wille und Vorstellung [ WWV ] I, § 52, Werke [W], hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1991 (11988), Bd. 1, S. 353. 4 Zur Geburt der Tragödie, zu Menschliches, Allzumenschliches I und II, zur Morgenröthe und zur Fröhlichen Wissenschaft. 5 Za 3.12 : Von alten und neuen Tafeln 1. 6 Schon der Fröhlichen Wissenschaft ist ein Vorspiel in deutschen Reimen beigegeben, und vgl. IV-3.30[117] (1887) : „Wagners’s Natur macht zum Dichter, man erfi ndet eine noch höhere Natur. Eine seiner herrlichsten Wirkungen, welche gegen ihn zuletzt sich wendet. So muss jeder Mensch

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in der Tradition von Parmenides, Empedokles, Lukrez und Dante.7 Daß aber Bewältigung8 nicht schon Lösung ist9 – diese Einsicht spricht Zarathustra selber aus : Wo ist Unschuld ? Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen. / Wo ist Schönheit ? Wo ich mit allem Willen wollen muß; wo ich lieben und untergehn will, daß ein Bild nicht nur Bild bleibe.10

Denn Zarathustra ist selber nur Bild : der Eine Gedanke Nietzsches umgeschaffen in den Mythos vom Schaffen als vom tätigen Jasagen. Dies Tun ist von Anfang an auch nur Eines, der „Untergang“,11 nämlich Zarathustras Verwandlung12 als die Verwirklichung des Bilds. Und wie sich im Bild namens Zarathustra der höchste Gedanke versammelt hat, kann die Versich über sich erheben, die Einsicht über sein Können sich erheben : der Mensch wird zu einer Stufenfolge von Alpenthälern, immer höher hinauf“ – eine Nietzschesche Parallele zu Dantes trasumanar (Divina Commedia, III.1.70). 7 Also sprach Zarathustra ist auch ein Anti-Dante, vgl. EH, Za 6 : „dass Dante, gegen Zarathustra gehalten, bloss ein Gläubiger ist und nicht Einer, der die Wahrheit erst schaff t […]“. 8 So im Blick auf „Logik und Mechanik“ : „eine Bewältigung der Vielheit durch eine Kunst des Ausdrucks, – kein ‚Verstehen‘, sondern ein Bezeichnen zum Zweck der Verständigung“ ( VIII-1.5[16], 1886/87). 9 „Eine […] vorläufige Conception zur Gewinnung der höchsten Kraft ist der Fatalismus (ego – Fatum) (extremste Form ‚ewige Wiederkehr‘) / Um ihn zu ertragen, und um nicht Optimist [Metaphysiker] zu sein, muß man ‚gut‘ und ‚böse‘ beseitigen. / Meine erste Lösung : die tragische Lust am Untergange des Höchsten und Besten (es wird als beschränkt empfunden in Hinsicht des Ganzen) : doch ist dies Mystik in Ahnung eines noch höheren ‚Guten‘ / Meine zweite Lösung : das höchste Gute und Böse fallen zusammen.“ ( VII-2.27[67], 1884) 10 Za 2.15 : Von der unbefleckten Erkenntniss. 11 Vgl. Za : Zarathustra’s Vorrede 1 und 10 : „– Also begann Zarathustra’s Untergang.“ 12 Vgl. Za 1.1 : Von den drei Verwandlungen.

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wandlung ihrerseits nur die höchste sein : Metamorphose13 der dichterischen Bewältigung des Problems des Jasagens-zu-sich in seine wirkliche Lösung – die Verwandlung Zarathustras in den „grosse[n] Löser,“14 Lyaîos, Dionysos selbst : „Aber dass ich euch ganz mein Herz offenbare, ihr Freunde : wenn es Götter gäbe, wie hielte ich’s aus, kein Gott zu sein ! Also giebt es keine Götter. / Wohl zog ich den Schluss; nun aber zieht er mich.-“15 Die Gefahr, hier auf halbem Weg stehen zu bleiben, sich an die „höheren Menschen“ zu halten als deren Vor-Bild, vergegenwärtigt Also sprach Zarathustra. Vierter und letzter Theil, den Nietzsche als bloße Probe aufs Exempel nicht in die Ausgabe von 1887 aufnahm : [I]ch habe als ‚Versuchung Zarathustra’s‘ einen Fall gedichtet, wo ein grosser Nothschrei an ihn kommt, wo das Mitleiden wie eine letzte Sünde ihn überfallen, ihn von sich abspenstig machen will. Hier Herr bleiben, hier die Höhe seiner Aufgabe rein halten […], das ist die Probe, die letzte Probe vielleicht, die ein Zarathustra abzulegen hat […].16

Zarathustra von sich abspenstig machen – das logische Problem des zu sich Neinsagens hatte Nietzsche am Schopenhauerschen Willen zum Leben studiert. Der Wille kann sich gar nicht verneinen, war das Resultat, weil der verneinende Wille schon ein andrer ist als der verneinte, es ist seine „Grundthat13

„Sie alle [die frühen griechischen Philosophen] besitzen die tugendhafte Energie der Alten, durch die sie alle Späteren übertreffen, ihre eigne Form zu fi nden und diese bis ins Feinste und Größte durch Metamorphose fortzubilden.“ (PhtZ, KGW III-2, S. 298). Vgl. GD, Streifzüge 10. 14 Za 3.14 : Von der grossen Sehnsucht. 15 Za 2.2 : Auf den glückseligen Inseln. 16 EH, Warum ich so weise bin 4. Also sprach Zarathustra I – III ist Eine in sich geschlossene Komposition von präzis kalkulierter Tektonik; Also sprach Zarathustra IV setzt mit seinen zweimal 10 Stücken auf einem dem didaktischen Plan entsprechend abgesenkten Niveau neu an.

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sache“, daß er noch als Widerwille gegen sich Wille bleibt : „er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen.“ (GM 3.1) Schopenhauer mußte darum seine Zuflucht bei der Askesis suchen, bei der graduellen Verneinung, Abschwächung des Willens, die Nietzsche als kulturelles Phänomen begreift und décadence nennt : „Was mich am tiefsten beschäftigt hat, das ist in der That das Problem der décadence, – […] ‚Gut und Böse‘ ist nur eine Spielart jenes Problems.“ (WA, Vorwort) Das emphatisch gegen den Regreß des Willens zum Nichts ins Spiel gebrachte Jasagen ist freilich nicht minder problematisch, der logische Kern derselbe, die Reflexivität. Denn das Jasagen zu sich ist eben darum nicht Jasagen zu sich selbst, das bejahte Jasagen sogleich ein anderes als das bejahende Jasagen, das identifi zierte ein anderes als das identifi zierende, die Produktion nicht identisch mit dem Produkt. Die Geburt der Tragödie hatte den Logiker aus ihrem Reich der Weisheit verbannen wollen (GT 14), aber die noch nicht als solche begriffene neue Logik des Entwurfs, die funktionale Logik der Moderne, war auch im neuen Arkadien zu Hause, Nietzsche hatte es früh geahnt : „Spiel der Gedanken, es führt / eine der Grazien dich : / o wie weidest den Sinn du mir ! – / Weh ! Was seh’ ich ! Es fällt / Larve und Schleier der Führerin / und voran dem Reigen / schreitet die grause Nothwendigkeit.“17 Wie Schopenhauers Wille zum Leben, der “an sich selber zehren muß, weil außer ihm nichts da ist und er ein hungriger Wille ist“,18 hatte auch die Logik des Jasagens begonnen, sich um sich selbst zu ringeln, um sich endlich in den Schwanz zu beißen.19 Zarathustras Gefahr, da zu zögern und sich zu be17 18

IV-2.25[2] (1877).

Schopenhauer : WWV I, § 28, W I, S. 217. GT 15. Vgl. GD, Streifzüge 24 : „zwecklos, ziellos, sinnlos, kurz l’art pour l’art – ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst“. 19

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gnügen mit einem bloß „höheren“ Jasagen, macht nur einen relativen Unterschied gegen das Jasagen der Morgenröte und der Fröhlichen Wissenschaft. Aber seine fi nale Beschwörung : „herauf nun, herauf, du grosser Mittag !“20 hat durchaus etwas von : um jeden Preis. Und mit Jenseits von Gut und Böse und Wir Furchtlosen macht Nietzsche sich bereit, ihn zu zahlen. „Die Schönheit und die Großartigkeit einer Weltconstruktion (alias Philosophie) entscheidet jetzt über ihren Werth – d. h. sie wird als Kunst beurtheilt“, notiert er 1872 (III-4.19[47]). Ist Also sprach Zarathustra als moderne Mythologie noch ein Nachfahre von Schellings romantischem Projekt „des absoluten Lehrgedichts oder des speculativen Epos“,21 dann präsentiert das Vorspiel einer Philosophie der Zukunft eine Welt-Konstruktion, die in unüberhörbarem Anklang an Feuerbachs Grundsätze der Philosophie der Zukunft22 unumwunden Philosophie ist, aber als Welt-Konstruktion auch keine ästhetische Beurteilung scheuen will, ja dieser sich erst eigentlich als Konstruktion erschließt. So ist Jenseits von Gut und Böse, nach dem Lehrgedicht das Lehrbuch, Nietzsches funkelndstes Werk geworden, eine „Erholung“ (EH, JGB 2) zwischen dem epischen Andante des Zarathustra und dem Tempo feroce (EH, GM) des Finales von 1888. Eine militante Erholung gleichwohl : Die Herauf beschwörung eines Tags der Entscheidung scheint dringender denn je, weil jetzt erst eigentlich legitimiert. Wohl hat die Allianz des Künstlers und des Denkers Stich gehalten, nur daß an die 20

Za 4.20 : Das Zeichen. Schelling : Philosophie der Kunst, Sämmtliche Werke [SW ], hg. von K. F. A. Schelling, Stuttgart und Augsburg 1856 – 1861, Bd. 5, S. 667. 22 Vgl. GM 3.3 : „Man erinnere sich, wie begeistert seiner Zeit Wagner in den Fusstapfen des Philosophen Feuerbach gegangen ist : Feuerbach's Wort von der ‚gesunden Sinnlichkeit‘ – das klang in den dreissiger und vierziger Jahren Wagner’n gleich vielen Deutschen (– sie nannten sich die ‚jungen Deutschen‘) wie das Wort der Erlösung.“ 21

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Stelle des „Cagliostro der Modernität“23 Nietzsche selbst getreten ist und Zarathustra an die Stelle des Denkers.24 So wird das Neinsagen einerseits zur Wiederholung der Unzeitgemäßen Betrachtungen und das Buch „in allem Wesentlichen eine Kritik der Modernität, die modernen Wissenschaften, die modernen Künste, selbst die moderne Politik nicht ausgeschlossen“ (EH, JGB 2); anderseits zur Wiederholung des Wegs hinauf zu Zarathustra, wie er nach der vierten und letzten Unzeitgemäßen, Richard Wagner in Bayreuth, begonnen hatte mit Menschliches, Allzumenschliches, dessen Programm die Einteilung spiegelt.25 Die Vorreden von 1886 werden diesen Weg hinauf als die Genese eines synthetischen Ich beschreiben.26 Aber schon Jenseits von Gut und Böse ist voll von „Fingerzeigen zu einem Ge23

WA 5, vgl. V-1.6[267] (1880) : „Die Vollkommenheit eines Napoleon,

eines Cagliostro entzückt“. 24 FW, Lieder des Prinzen Vogelfrei : Sils-Maria : „Hier sass ich, wartend, wartend, – doch auf Nichts, / Jenseits von Gut und Böse […] / Da, plötzlich, Freundin ! wurde Eins zu Zwei – / – Und Zarathustra gieng an mir vorbei …“ 25 Vgl. die trotz Umstellung (2/5) und durchgängiger Reformulierung sichtbar gebliebene Korrespondenz der Titel der jeweils neun Hauptstücke plus Nachspiel/Nachgesang. In „Hauptstücke“ gegliedert sind nur Menschliches, Allzumenschliches I und Jenseits von Gut und Böse, obwohl Nietzsche sie auch für andere geplante Titel erwog. Die erste Ausgabe von Menschliches, Allzumenschliches I war „Dem Andenken Voltaire’s geweiht“, dem Jenseits von Gut und Böse inzwischen den Abbé Galiani vorzieht, den „tiefsten, scharfsichtigsten und vielleicht auch schmutzigsten Menschen seines Jahrhunderts“ ( JGB 26, vgl. 35). 26 So schon Schopenhauer : „Die Identität […] des Subjekts des Wol lens mit dem erkennenden Subjekt, vermöge welcher (und zwar nothwendig) das Wort ‚Ich‘ beide einschließt und bezeichnet, ist der Weltknoten und daher unerklärlich.“ (Ueber die vierfache Wurzel, § 42, W III, S. 152) Vgl. Rimbauds Brief an Georges Izambard, 13. Mai 1871 : „Es ist falsch zu sagen : Ich denke. Man sollte sagen : Man denkt mich. Pardon für das Wortspiel. / Ich ist ein anderer ( Je est un autre). So ergeht es dem Holz, das sich als Geige wiederfi ndet.“

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gensatz-Typus, der so wenig modern als möglich ist“ – „modern“ verstanden auf dem Stand von 1886 –, und wird so zu einer „Schule des gentilhomme“ (EH, JGB 2), zur ersten Skizze eines Systems „des synthetischen Begriffs ‚ich‘“ ( JGB 19) als der neuen Synthesis Zarathustra-Nietzsche : Dass die einzelnen philosophischen Begriffe nichts Beliebiges, nichts Für-sich-Wachsendes sind, sondern in Beziehung und Verwandtschaft zu einander emporwachsen, dass sie, so plötzlich und willkürlich sie auch in der Geschichte des Denkens anscheinend heraustreten, doch eben so gut einem Systeme angehören ( JGB 20)

– das ist an Jenseits von Gut und Böse zu studieren unbeschadet der immerwachen Skepsis Nietzsches gegenüber allen Systematikern. Zum geplanten „Willen zur Macht“ wird er notieren : „Vielleicht erräth man bei einem Blick unter und hinter dies Buch, welchem Systematiker es selbst mit Mühe ausgewichen ist – mir selber …“ :27 dem Systematiker, nicht dem System : Die Philosophie „schaff t immer die Welt nach ihrem Bilde, sie kann nicht anders; Philosophie ist dieser tyrannische Trieb selbst, der geistigste Wille zur Macht, zur ‚Schaff ung der Welt‘, zur causa prima“ ( JGB 9). Hier ist der Weg hinauf : „Allmählich hat sich mir herausgestellt, was jede grosse Philosophie bisher war : nämlich das Selbstbekenntnis ihres Urhebers und eine Art ungewollter und unvermerkter mémoires“ ( JGB 6) – zuletzt also Psychologie : Die gesammte Psychologie ist bisher an moralischen Vorurtheilen und Befürchtungen hängen geblieben : sie hat sich nicht in die Tiefe gewagt. Dieselbe als Morphologie28 und Entwicklungslehre des Wil27

VIII-2.11[410] (1887/88). Vgl. JGB 292 : „Ein Philosoph : ach, ein We-

sen, das oft von sich davon läuft, oft vor sich Furcht hat, – aber zu neugierig ist, um nicht immer wieder ‚zu sich zu kommen‘ …“ 28 Der Terminus wurde 1800 von Karl Friedrich Burdach geprägt und sogleich von Goethe aufgenommen, von dem Nietzsche ihn erbt.

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lens zur Macht zu fassen, wie ich sie fasse – daran hat noch Niemand in seinen Gedanken selbst gestreift […]- aber was liegt an uns ! Niemals noch hat sich verwegenen Reisenden und Abenteurern eine tiefere Welt der Einsicht eröff net : und der Psychologe, welcher dergestalt ‚Opfer bringt‘ – es ist nicht das sacrifi zio dell’intelletto, im Gegentheil ! – wird zum Mindesten dafür verlangen dürfen, dass die Psychologie wieder als Herrin der Wissenschaften anerkannt werde, zu deren Dienste und Vorbereitung die übrigen Wissenschaften da sind. Denn Psychologie ist nunmehr wieder der Weg zu den Grundproblemen. ( JGB 23)

Die Freudsche Psychoanalyse des Unbewußten und der Verdrängung (Verdichtung, Verschiebung) klopft an, aber Nietzsches Psychologie will noch nicht, soll noch nicht Wissenschaft sein, sondern „Weisheit“, die sophia in der philo-sophia – als Herrin der Wissenschaften zwar wie diese eine WeltInterpretation auf der Höhe der begriffl ichen Möglichkeiten ihres Jahrhunderts, aber im Unterschied zu ihnen allen die ihrer selbst bewußte Interpretation : Welt-Entwurf : Man vergebe es mir als einem alten Philologen, der von der Bosheit nicht lassen kann, auf schlechte Interpretations-Künste den Finger zu legen : aber jene ‚Gesetzmässigkeit der Natur‘, von der ihr Physiker so stolz redet, wie als ob – – besteht nur Dank eurer Ausdeutung und schlechten ‚Philologie‘, – sie ist kein Thatbestand, kein ‚Text‘ […]. Gesetzt, dass auch dies nur Interpretation ist – und ihr werdet eifrig genug sein, dies einzuwenden ? – nun, um so besser. – ( JGB 22)

Den Schritt zur politischen Instrumentalisierung tut Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (Bd. 1, Wien 1918, Bd. 2, München 1922).

Die Geburt der Tragödie Oder : Griechenthum und Pessimismus1

In den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts arbeitete der Mathematiker Gottlob Frege (*1848) in Jena eine „Formelsprache des reinen Denkens“ aus, die die bisherige Logik überhaupt revolutionieren und für das zwanzigste Jahrhundert maßgebend werden sollte. Vor allem die Ersetzung der beiden Eckpfeiler der aristotelischen Logik „Subject und Praedicat durch Argument und Function“2 eröff nete dem funktionalen Denken der industriellen Moderne die Möglichkeit, sich auch seiner bloßen Form nach als nicht länger abhängig von klassisch-metaphysischen Prämissen ins Werk zu setzen. Anfangs desselben Jahrzehnts hatte Nietzsches Entdeckung der unhintergehbaren Differenz des Apollinischen und des Dionysischen dieselbe Funktionalität ins Spiel gebracht zur Revolutionierung der „Kultur“ schlechthin – kraft der „Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens“,3 einer Kunst, jetzt und jetzt erst, die als weltverändernde Tätigkeit die alte, hinfort als bloße “Interpretation“ interpretierte ontotheologische Theorie abzulösen hatte. Dies ganz im Sinn von Marx’ 11. These über Feuerbach : „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.“4 Marx parodiert Hegel, der in der Vorrede zur Phänomenologie des Gei1

In der ersten Ausgabe (mit dem „entfesselten Prometheus auf dem Titelblatte“, GT, Vorwort an Richard Wagner) : Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. 2 Gottlob Frege : Begriff sschrift, einer der arithmetischen nachgebildete Formelsprache des reinen Denkens, Halle a. d. Saale 1879, S. XIII. 3 GT, Vorwort an Richard Wagner. 4 Karl Marx : MEW 3, S. 7.

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stes geschrieben hatte : „Es kömmt nach meiner Einsicht […] alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz, sondern eben so sehr als Subject aufzufassen und auszudrücken.“5 Hegels Subjekt war der absolute Geist, Marx’ Subjekt die Arbeiterklasse, Nietzsches Subjekt wird das „Stück Persönlichkeit“ sein, das „zu jenem Unwiderleglichen Undiskutirbaren gehört, das die Geschichte aufzubewahren hat“6 und das ihm selber, wie die letzten Schriften zeigen, zum Schicksal wurde. Nietzsche glaubte, seine Entdeckung als Altphilologe gemacht und dabei zugleich „viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen [zu] haben“ (GT 1),7 aber der klassische Philologe Hermann Usener hatte so unrecht nicht, als er bemerkte, „jemand, der so etwas geschrieben habe, sei wissenschaftlich todt“.8 Wissenschaftlich tot war Nietzsche de facto nicht, dazu war er bis zum Ausbruch der letzten Krankheit viel zu wach und selbstdiszipliniert, aber tot war er als Wissenschaftler und nahm es sehr bewußt in Kauf : Wenn die alte Tragödie durch den dialektischen Trieb zum Wissen und zum Optimismus der Wissenschaft aus ihrem Gleise gedrängt wurde, so wäre aus dieser Thatsache auf einen ewigen Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung zu schliessen; und erst nachdem der Geist der Wissenschaft bis an seine Grenze geführt ist, und sein Anspruch auf universale Gültigkeit durch den Nachweis jener Grenzen vernichtet ist, dürfte auf eine Wiedergeburt der Tragödie zu hoffen sein. (GT 17)

5

Hegel : Phänomenologie des Geistes, Vorrede, Abs. 17, Gesammelte Werke [GW ] 9, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Düsseldorf 1980, S. 18. 6 PhtZ, KGW III-2, S. 295. 7 Vgl. den Brief an Friedrich Ritschl, 6. April 1872 : „ein so esoterisches und im höchsten Sinn wissenschaftliches Buch“. 8 An Erwin Rohde, 25. Oktober 1872.

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Kant und Schopenhauer waren es, die dem wissenschaftlichen Optimismus seine Grenze gewiesen hatten. Mit ihrer Erkenntniss ist eine Cultur eingeleitet, welche ich als eine tragische zu bezeichnen wage : deren wichtigstes Merkmal ist, dass an die Stelle der Wissenschaft als höchstes Ziel die Weisheit gerückt wird, die sich, ungetäuscht durch die verführerischen Ablenkungen der Wissenschaften, mit unbewegtem Blicke dem Gesammtbilde der Welt zuwendet und in diesem das ewige Leiden mit sympathischer Liebesempfi ndung als das eigne Leiden zu ergreifen sucht. (GT 18)

Freilich liest Nietzsche Kant bereits unter der Optik Schopenhauers.9 Kants „Sieg“ (wenn man so will) über den empfi ndsamen Anthropologismus des achtzehnten Jahrhunderts war ja alles andre als „der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus“ (GT 18), vielmehr die Bedingung der Möglichkeit der letzten spekulativen Theodizeen des alten Europa, Hegels Wissenschaft der Logik und Schellings nur achtzehn Jahre vor der Geburt der Tragödie beendeter Philosophie der Offenbarung. Beide Systeme, das „im göttlichen Verstande“ gefundene10 wie das dialektisch sich vollziehende, gründen in jener von Freges Begriffsschrift endgültig geschleiften Logik der Beziehung von Subjekt und Prädikat. Als „transzendentale Logik“ war sie eine Logik der Welt. Denn indem die Urteile „gegebene Erkenntnisse zur objectiven Einheit der Apperception“ bringen, erscheint in ihnen das Sein in dem Sinn, in dem zuerst Heraklit vom „seienden Urteil“ (logos eôn) gesprochen hatte.11 „Darauf zielt das Verhältnißwörtchen ist in denselben, um die objective Ein heit gegebener Vorstellun9

Curt Paul Janz : Friedrich Nietzsche. Biographie, 3 Bände, München 1981 [11978/79], Bd. 1, S. 404 : „Kant lernte er aus der Darstellung von Kuno Fischer kennen, original las er nur die ‚Kritik der Urteilskraft‘“. 10 Schelling : Stuttgarter Privatvorlesungen (1810), SW 7, S. 421. 11 Heraklit : B 1, in : Hermann Diels & Walther Kranz : Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 61952, 22.

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gen von der subjectiven zu unterscheiden“ :12 Etwas „ist“ – ein „Seiendes“ –, indem es als Erscheinung eine notwendige Beziehung auf die Vernunft hat. Diese „reine“ Vernunft, der lateinische intellectus, der griechische noys, war nun schon für die Welt als Wille und Vorstellung zur Sprachfunktion geworden. Indem Schopenhauer die Vernunft nämlich als Prädikat des Prädikats oder ‚Begriff des Begriffs‘ bestimmt, ist sie zersetzt in die Menge der „Vorstellungen aus Vorstellungen“, die „durch willkürliche Zeichen fi xirt und festgehalten“ werden : „dies sind die Worte“.13 Und, sekundiert Nietzsche, „Was ist ein Wort ? Die Abbildung eines Nervenreizes in Lauten. Von dem Nervenreiz aber weiterzuschliessen auf eine Ursache ausser uns, ist bereits das Resultat einer falschen und unberechtigten Anwendung des Satzes vom Grunde.“14 Konsequent also, daß Nietzsche sich an seinen, an einen modern gedachten Heraklit hält und die klassische Copula so positivistisch wie psychologistisch, aber durchaus im Sinn seines „Erziehers“ Schopenhauer, ganz wörtlich bloß als Verhältniswörtchen bestimmt.15 Dessen ontologisches Korrelat, das „Sein“, sei allenthalben als überständiges Theologumenon zu tilgen und allein noch das Werden gelten zu lassen : „es giebt kein ‚Sein‘ hinter dem Thun, Wirken, Werden; ‚der Thäter‘ [das Subjekt] ist zum Thun bloss hinzugedichtet, – das Thun ist Alles.“ (GM 1.13) „Auch hinter aller Logik […] stehen Werthschätzungen, deutlicher gesprochen, physiologische Forderungen zur Er12

Kant : Kritik der reinen Vernunft, § 19, B 141. Schopenhauer : Ueber die vierfache Wurzel, § 26, W III, S. 107 f. 14 Nietzsche : Ueber Wahrheit und Luege im aussermoralischen Sinn, KGW III-2, S. 372. 15 Schopenhauer : WWV II, Kap. 9, W II, S. 123 : „Demnach ist die Bedeutung der Kopula, daß im Subjekt das Prädikat mitzudenken sei – nichts weiter. Jetzt erwäge man, worauf der Inhalt des Infi nitivs der Kopula, ‚Seyn‘, hinausläuft.“ 13

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Nachworte

haltung einer bestimmten Art von Leben.“ ( JGB 3) Und was nützt dann noch, wird Husserl 1907 seufzen, „die Berufung auf Widersprüche“, wenn die Logik selbst in Frage ist und problematisch wird. In der Tat, die reale Bedeutung der logischen Gesetzlichkeit, die für das natürliche Denken außer aller Frage steht, wird nun fraglich und selbst zweifelhaft. Biologische Gedankenreihen drängen sich auf. Wir werden an die moderne Entwicklungstheorie erinnert, wonach sich der Mensch etwa im Kampf ums Dasein und durch natürliche Zuchtwahl entwickelt hat, und mit ihm natürlich auch sein Intellekt und mit dem Intellekt auch alle die ihm eigentümlichen Formen, näher die logischen For men.16

Die reale Bedeutung der logischen Gesetzlichkeit war dem Schopenhauer-Zögling Nietzsche schon „vor der Mitte seines Daseins und unvermeidlich“ (GT 15) zweifelhaft geworden und letzter Fragen würdig : „die Logik beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z. B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit“ (MA 1.11) : Denn die Peripherie des Kreises der Wissenschaft hat unendlich viele Punkte, und während noch gar nicht abzusehen ist, wie jemals der Kreis völlig ausgemessen werden könnte, so triff t doch der edle und begabte Mensch […] auf solche Grenzpunkte der Peripherie, wo er in das Unaufhellbare starrt. Wenn er hier zu seinem Schrecken sieht, wie die Logik sich an diesen Grenzen um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst – da bricht die neue Form der Erkenntniss durch, die tragische Erkenntniss, die, um nur ertragen zu werden, als Schutz und Heilmittel die Kunst braucht. (GT 15)

16

Edmund Husserl : Die Idee der Phänomenologie. Fünf Vorlesungen, hg. und eingel. von P. Janssen, Hamburg 1986, S. 20 f.

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Das starrenmachende „Unaufhellbare“ ist eine Entdeckung der Moderne. Nur wenige Jahre nachdem Schelling und Hegel17 – beide im Blick auf Fichte – das Ich als den lichten Punkt im Bewußtsein bestimmt und damit zugleich den Glauben ihrer Zeit wie der klassischen Vernunft überhaupt ausgesprochen hatten, befand Schopenhauer, das Ich sei vielmehr „der finstere Punkt im Bewußtseyn, wie auf der Netzhaut gerade der Eintrittspunkt des Sehnerven blind ist, wie das Gehirn selbst völlig unempfi ndlich, der Sonnen körper fi nster ist und das Auge Alles sieht, nur sich selbst nicht“.18 Das logische Korrelat, das Schopenhauer als Ich jetzt nur noch interpretieren kann, ist die Differenz zwischen Funktion und Argument, die weder das eine noch das andre ist : Sie konstituiert die Logik der Funktion genau indem sie sich ihr entzieht : Schon die benannte Differenz ist nicht die Differenz, sondern die identifizierte Differenz. Was daher die moderne Logik (be)greift, ist immer nur das (von ihr selber konstituierte) Sein, nie das Werden. Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne anzunehmen, – als wir sie noch schärfen, bewaff nen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist […] 17

Schelling : System des transzendentalen Idealismus (1800), SW 3, S. 357; „Das Selbstbewußtseyn ist der lichte Punkt im ganzen System des Wissens, der aber nur vorwärts, nicht rückwärts leuchtet.“ – Hegel (Wissenschaft der Logik, Zweiter Band, Die subjektive Logik, Vom Begriff im Allgemeinen, GW 12, hg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Düsseldorf 1981, S. 15 – 17) : „Im Begriffe hat sich das Reich der Freyheit eröff net. […] Die Dunkelheit der im Causalverhältnisse stehenden Substanzen für einander, ist verschwunden, denn die Ursprünglichkeit ihres Selbstbestehens ist in Gesetztseyn übergegangen, und dadurch zur sich selbst durchsichtigen Klarheit geworden […]. Der Begriff, insofern er zu einer solchen Existenz gediehen ist, welche selbst frey ist, ist nichts anderes als Ich oder das reine Selbstbewußtseyn.“ 18 Schopenhauer : WWV II, Kap. 41, W II, S. 570 (Hervorh. v. mir).

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Nachworte

Noch-nicht-Wissenschaft : will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie. Oder Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre : wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathematik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht einmal als Problem (GD, Die Vernunft in der Philosophie 3).

Das konnte Nietzsche schon von Schopenhauer oder John Stuart Mill lernen, und das Tertium non datur zwischen „FormalWissenschaft“ und „Zeugniss der Sinne“ genügt, die spezifische Differenz zwischen der bisherigen und der zukünftigen Ästhetik als Sache einer „logischen Einsicht“ zu formulieren, die den Anfang der Geburt der Tragödie macht : Wir werden viel für die aesthetische Wissenschaft gewonnen haben, wenn wir nicht nur zur logischen Einsicht, sondern zur unmittelbaren Sicherheit der Anschauung gekommen sind, dass die Fortentwickelung der Kunst an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen gebunden ist : in ähnlicher Weise, wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt. (GT 1)

Nietzsches ganze logische Einsicht sammelt sich in diesem Stichwort Duplizität. Es reicht hin, Logik und Welt zu scheiden – „Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist ?“ (GT 14) – und in der Logik selbst eine Leere auszumachen, eine Ungesättigtheit, in deren Sog sie sich „um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst“, geschlagen von der Paradoxie der Differenz, die einst die Domäne von Religion und Metaphysik war. Jetzt kann die Paradoxie nur noch aufgefangen werden in der Kunst, die darüber notwendig zur Weisheit reifen muß : „Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft ?“ (ebd.) Diese supplementäre Kunst ist es, und nicht die „aesthetische Wissenschaft“, die sich sogleich geltend macht in der „unmittelbaren Sicherheit der Anschau-

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ung“, daß die progressive Wirklichkeit der Duplizität die des Apollinischen und des Dionysischen sei. Deren bloße Anschauung wäre nicht viel mehr als ein Hinweis für die Ästhetik; ihre unmittelbare Sicherheit aber verdankt sich der Erfahrung des Künstlers selbst – Nietzsche verdankt sie Wagner : Uns muß es dünken, daß die Musik der Hel lenen die Welt der Erscheinung selbst innig durchdrang, und mit den Gesetzen ihrer Wahr nehmbarkeit sich verschmolz. Die Zahlen des Pythagoras sind gewiß nur aus der Musik lebendig zu verstehen; nach den Gesetzen der Eurhythmie baute der Architekt, nach denen der Harmonie erfaßte der Bildner die menschliche Gestalt; die Regeln der Melodik machten den Dichter zum Sänger, und aus dem Chorgesange projizierte sich das Drama auf die Bühne, wir sehen überall das innere, nur aus dem Geiste der Musik zu verstehende Gesetz, das äußere, die Welt der Anschaulichkeit ordnende Gesetz bestimmen […].19

Wagner konstruiert einen Schluß, worin Bildner und Musiker die bewußt gestaltenden und unbewußt hervorbringenden Extreme sind und der Dichter (Wagner hat namentlich Goethe im Blick) die ihrerseits wieder duplizitäre und also nach „Erlösung“ strebende Mitte : „Sehr ersichtlich tritt die hier gemeinte Diversität beim Bildner hervor, wenn wir ihn mit dem Musiker zusammenhalten, zwischen welchen beiden der Dichter in der Weise in der Mitte steht, daß er mit seinem bewußten Gestalten sich dem Bildner zuneigt, während er auf dem dunklen Boden seines Unbewußtseins sich mit dem Musiker berührt.“ (ebd., S. 65) Der Duplizität von apollinisch-konstruierendem Gestalten und dionysisch-organischem Hervorbringen blieb nur noch die Folie von Schopenhauers „Metaphysik der Geschlechts-

19

Richard Wagner : Beethoven, Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. Leipzig 61912/14 [SSD], Bd. 9, S. 120 f.

408

Nachworte

liebe“20 zu hinterschieben, und die Fortentwicklung der Kunst erscheint so durchgreifend sexualisiert wie die Knoten der Wagnerschen Musikdramen. Die Identität „des Subjekts des Wollens mit dem erkennenden Subjekt, vermöge welcher (und zwar nothwendig) das Wort ‚Ich‘ beide einschließt und bezeichnet, ist der Weltknoten und daher unerklärlich“,21 war Schopenhauers Erfahrung, und der „Kern“, die „größte Koncentration“ des Willens zum Leben ist der Coitus, der in Schopenhauers radikal anthropologisierendem Denken die metaphysische Copula ersetzt : „Der Generationsakt ist der Weltknoten, indem er besagt : ‚der Wille zum Leben hat sich aufs Neue bejaht‘.“22 Was nämlich in Feuerbachs Wesen des Christentums „sozusagen a priori bewiesen wird : daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie ist“,23 erweist sich bereits bei Schopenhauer als der Rechtsgrund, den verlassenen Ort der alten schaffenden Natur (natura naturans) mit dem Willen zu besetzen,24 bezeichne dies Wort doch „ein durchaus unmittelbar Erkanntes und so sehr Bekanntes, daß wir, was Wille sei, viel besser wissen und verstehen, als sonst irgend etwas, was immer es auch sei. – Bisher subsumirte man den Begriff Wille unter den Begriff Kraft : dagegen mache ich es 20

Vgl. Schopenhauer : WWV II, Kap. 44. Schopenhauer : Ueber die vierfache Wurzel, § 42, W III, S. 152. 22 Schopenhauer : Parerga und Paralipomena II, Kap. XIV : Nachträge zur Lehre von der Bejahung und Verneinung des Willens zum Leben, § 166, zit. n. der Ausgabe v. Eduard Grisebach, Leipzig o. J., Bd. V, S. 330 f. 23 Feuerbach : Das Wesen des Christentums, Vorwort, Abs. 11, Gesammelte Werke [GW ], hg. von Werner Schuffenhauer, Berlin 1967 ff., Bd. 5, S. 7. 24 Vgl. Schopenhauer : Ueber den Willen in der Natur, Vorrede, W III, S. 171 : „Denn ausgehend vom rein Empirischen, von den Bemerkungen unbefangener, den Faden ihrer Specialwissenschaft verfolgender Naturforscher, gelange ich hier unmittelbar zum eigentlichen Kern meiner Metaphysik, weise die Berührungspunkte dieser mit den Naturwissenschaften nach und liefere so gewissermaaßen die Rechnungsprobe zu meinem Fundamentaldogma“ (Hervorh. v. mir). 21

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gerade umgekehrt und will jede Kraft in der Natur als Wille gedacht wissen“.25 Der Schopenhauerianer Wagner bleibt bei seinem alten Thema der Sublimierung der Liebe, wie sie von Anfang an den jungen Feuerbachianer bestimmte, der sich durch Schopenhauer nachmals nur bestätigt fi nden konnte : das Weib sei „die Erkenntniß, welche den Weg zur Erlösung eröff net“.26 Auch bei Schopenhauer schon tendiert das „Nichts“ dazu, kraft „genauester Verbindung“ mit dem „Mysticismus“ (nicht nur von Brahm oder Nirwana) die Phantasie zu entfesseln,27 „als welche ein dem Genie unentbehrliches Werkzeug ist“,28 und droht dadurch, sich als eine ursprünglich-produktive Kraft zu offenbaren, die das ganze Konzept einer kraft des reproduktiven Willens zum Leben sinnlos perpetuierten Welt zunichte machen würde. Wagner war ein solches Genie. Sein Werk macht die Probe aufs Exempel der Feuerbachschen Prophezeiung einer „Kunst, die an Energie, Tiefe und Feuer alle bisherige übertreffen“29 werde (und die vom Rossini-Verehrer Schopenhauer nicht mehr verstanden werden durfte). So kann Wagner ein „wahres Paradies von Produktivität des menschlichen Geistes“ vorstellen,30 und Nietzsche kann auf die Allianz des Denkers mit dem Künstler drängen, um dies Paradies jetzt und hier zu verwirklichen : „Hier ist die Rose, hier tanze.“31 25

Schopenhauer : WWV I, § 22, W I, S. 165. Schopenhauer : Parerga und Paralipomena II, Kap. XIV : Nachträge zur Lehre, § 166, W V, S. 282. 27 Schopenhauer WWV II, Kap. 48, W II, S. 712. 28 Schopenhauer, WWV II, Kap. 31, W II, S. 441. 29 Feuerbach : Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, Abs. 23, GW 9, S. 248. 30 Wagner : Beethoven, SSW 9, S. 115. 31 Hegel : Grundlinien der Philosophie des Rechts, Vorrede, GW 14,1, hg. von Klaus Grotsch und Elisabeth Weisser-Lohmann, Düsseldorf 2009, S. 15. 26

410

Nachworte

Die „sich immer wieder anbietende Befriedigung des Willens, d. i. der Lust“, hatte Schopenhauer behauptet, sei „ein stetes Hinderniß der Verneinung des Willens und eine stete Verführung zu erneueter Bejahung desselben“.32 Nietzsche hat auch hier genau hingehört : Die Lust kommt nicht hinzu als die Befriedigung des Willens – der Wille selbst ist Lust, die sich von der Reflexion 33 nicht bereden läßt, bloß ein Hindernis und eine Verführung zu sein. In der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral – abermals einer Auseinandersetzung mit Wagner – fragt Nietzsche nach der Bedeutung asketischer Ideale und verweist auf „die Grundthatsache des menschlichen Willens“ : „er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen.“ (GM 3.1) Eine Lust nicht nur jenseits von Gut und Böse, sondern jenseits noch der Unterscheidung von Lust und Schmerz. Die Schmerzen der Lust selbst aber sind wie die Schmerzen der Einsicht „Geburtswehen“ (MA 1.107) – die Geburt der Tragödie ist in der Tat kein bloßer Ursprung oder Entstehen : Die Fortentwicklung der Kunst ist an die Duplicität des Apollinischen und des Dionysischen als „verschiedne[r] Triebe“ gebunden, ähnlich „wie die Generation von der Zweiheit der Geschlechter, bei fortwährendem Kampfe und nur periodisch eintretender Versöhnung, abhängt“. Beide Triebe reizen „sich gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten“, wodurch sie „mit einander gepaart erscheinen und in dieser Paarung zuletzt das ebenso dionysische als apollinische Kunstwerk der attischen Tragödie erzeugen.“ (GT 1)

32

Schopenhauer : WWV I, § 68, W I, S. 505. Vgl. Schopenhauer (WWV I, § 55, W I, S. 381) : „Der Intellekt nämlich erfährt die Beschlüsse des Willens erst a posteriori und empirisch. Demnach hat er, bei einer vorliegenden Wahl, kein Datum darüber, wie der Wille sich entscheiden werde.“ 33

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Bei Schopenhauer war „das Weib […] die Erkenntniß, welche den Weg zur Erlösung eröff net“,34 wie das Kind „vom Vater den Willen, […] von der Mutter den Intellekt“ hatte.35 Indem Nietzsche im reproduktiven Willen die ursprüngliche Produktivität als solche freisetzt und und damit den Willen zum Leben in den Willen zur Macht verwandelt, muß er das Geschlechtsverhältnis umkehren und es gegen Schopenhauer und Wagner fassen wie Feuerbach : „Die Einheit von Denken und Sein. Sein ist das Weib, Denken der Mann.“36 Das männliche Denken (Zarathustra) erzieht das weibliche Sein (das Leben jetzt als die schaffende Seele) dazu, als Ariadne37 Dionysos empfangen zu können zur heiligen Hochzeit (hieròs gámos), die das Kunstwerk der Tragödie zur Welt bringt – nicht als „Einheit“, die ursprüngliche Duplizität bleibt ja als Schmerz und Geburtswehe erhalten, sondern als immer neu ins Werk zu setzende „Paarung“ : „Dieses schwer zu fassende Urphänomen der dionysischen Kunst wird aber auf directem Wege einzig verständlich und unmittelbar erfasst in der wunderbaren Bedeutung der musikalischen Dissonanz […]. Das Dionysische, mit seiner selbst am Schmerz percipirten Urlust, ist der gemeinsame Geburtsschooss der Musik und des tragischen Mythus.“38 34

Schopenhauer : Parerga und Paralipomena II, Kap. XIV : Nachträge zur Lehre, § 166, W V, S. 282. 35 Schopenhauer : WWV II, Kap. 44 : Metaphysik der Geschlechtsliebe, W II, S. 622. 36 Feuerbach : Fragmente zur Charakteristik meines philosophischen curriculum vitae, GW 10, S. 164. 37 Vgl. EH, Za 8 : „Wer weiss ausser mir, was Ariadne ist ! …“ 38 GT 24. Mit der Rückkehr aus der „schmerzlichsten Dissonanz“ zum Grundton, heißt es bei Schopenhauer, ist „weiter nichts mehr zu machen“, weil „dessen längeres Anhalten nur lästige und nichtssagende Monotonie wäre, der Langenweile entsprechend“ (WWV I, § 58, W I, S. 417 f.).

412

Nachworte

In den „vier Attentaten“ (EH, UB 2) der Unzeitgemäßen Betrachtungen (1873 – 1876) wird Nietzsche diese noch unerhörte Dissonanz vernehmlich werden lassen : Sie „sind durchaus kriegerisch“ (ebd. 1).

Editorische Notiz

Die Wiedergabe des Textes von Jenseits und Gut und Böse erfolgt nach der ersten Ausgabe von 1886, die des Textes von Die Geburt der Tragödie. Oder: Griechenthum und Pessimismus nach der Neuen Ausgabe von 1886 der 1872 in erster und 1874 in zweiter Auflage unter dem Titel Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik erschienenen Schrift, der Nietzsche jetzt mit dem „Versuch einer Selbstkritik“ die erste seiner 1886 verfaßten Vorreden zur Neuen Ausgabe seiner Werke voranstellte. Die Eigentümlichkeiten der Orthographie der Zeit und der Interpunktion Nietzsches bleiben unverändert erhalten; offenkundige Fehler wurden stillschweigend korrigiert, die Edition der beiden Texte in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Colli und Montinari (Berlin 1967 ff.) wurde durchgängig vergleichend herangezogen. Der Seitenumbruch der Originalausgaben wird in den jeweiligen Texten fortlaufend durch einen senkrechten Strich | markiert und im Kolumnentitel innen mit Angabe der Seitenzahlen angezeigt.

Siglenverzeichnis

AC

Der Antichrist (1888)

EH

Ecce homo (1888/89)

FW

Die fröhliche Wissenschaft (1882)

GD

Götzen-Dämmerung (1889)

GM

Zur Genealogie der Moral (1887)

GT

Die Geburt der Tragödie (1872)

HL

Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874)

JGB

Jenseits von Gut und Böse (1886)

KGB

Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1975 ff.

KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1967 ff. M

Morgenröthe (1881)

MA

Menschliches, Allzumenschliches

NW

Nietzsche contra Wagner (1894)

PhtZ

Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873)

SE

Schopenhauer als Erzieher (1874)

UB

Unzeitgemässe Betrachtungen

WA

Der Fall Wagner (1888)

WB

Richard Wagner in Bayreuth (1878)

Za

Also sprach Zarathustra

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Philosophische Werke in sechs Bänden H e r au s g e g e b e n von c l au s -a r t u r s c h e i e r

BAND 2

F E L I X M E I N ER V ER L AG H A M BU RG

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Menschliches, Allzumenschliches Erster Band (Neue Ausgabe 1886)

M i t e i n e m N ac h wor t von c l au s -A r t u r S c h e i e r

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 652

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http ://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN 978-3-7873-2422-4 ISBN eBook: 978-3-7873-2429-3

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Viervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz : Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung : C. H. Beck, Nördlingen. Werkdruck papier : alterungsbeständig nach DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlor frei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt

Menschliches, Allzumenschliches Ein Buch für freie Geister Erster Band

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Erstes Hauptstück: Von den ersten und letzten Dingen

15

Zweites Hauptstück: Zur Geschichte der moralischen Empfi ndungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Drittes Hauptstück: Das religiöse Leben . . . . . . . . . . . . .

95

Viertes Hauptstück: Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Fünftes Hauptstück: Anzeichen höherer und niederer Cultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Sechstes Hauptstück: Der Mensch im Verkehr . . . . . . . . 225 Siebentes Hauptstück: Weib und Kind . . . . . . . . . . . . . . . 249 Achtes Hauptstück: Ein Blick auf den Staat . . . . . . . . . . . 267 Neuntes Hauptstück: Der Mensch mit sich allein . . . . . . 299 Nachwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 357

Friedrich Nietzsche

Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band.

Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede.

3

iii | iv

Vorrede.

1. Es ist mir oft genug und immer mit grossem Befremden ausgedrückt worden, dass es etwas Gemeinsames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gäbe, von der „Geburt der Tragödie“ an bis zum letzthin veröffentlichten „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft“ : sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt, Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohnheiten. Wie ? A l le s nur – menschlich-allzumenschlich ? Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen : wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien ? Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts genannt, noch mehr der Verachtung, glück|licherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer Gottes ; und wer etwas von den Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Frösten und Aengsten der Vereinsamung, zu denen jede unbedingte Ve r s c h ie d e n he it d e s Bl ic k s den mit ihr Behafteten verurtheilt, wird auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbstvergessen, irgendwo unterzutreten suchte – in irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlichkeit oder Leichtfertigkeit oder Dummheit ; auch warum ich, wo ich nicht fand, was ich b r auc ht e,

4

Vorrede

iv | v

es mir künstlich erzwingen, zurecht fälschen, zurecht dichten musste (– und was haben Dichter je Anderes gethan ? und wozu wäre alle Kunst in der Welt da ?). Was ich aber immer wieder am nöthigsten brauchte, zu meiner Kur und SelbstWiederherstellung, das war der Glaube, n ic ht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu s e h n , – ein zauberhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen, Oberflächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut und Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in diesem Betrachte mancherlei „Kunst“, mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken könnte : zum Beispiel, dass ich | wissentlich-willentlich die Augen vor Schopenhauer’s blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war ; insgleichen dass ich mich über Richard Wagner’s unheilbare Romantik betrogen hätte, wie als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei ; insgleichen über die Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft – und es gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen ? – gesetzt aber, dies Alles wäre wahr und mit gutem Grunde mir vorgerückt, was wisst i h r davon, was k ön nt et ihr davon wissen, wie viel List der Selbst-Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut in solchem Selbst-Betruge enthalten ist, – und wie viel Falschheit mir noch not h t hut , damit ich mir immer wieder den Luxus me i ne r Wahrhaftigkeit gestatten darf ? … Genug, ich lebe noch ; und das Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht : es w i l l Täuschung, es lebt von der Täuschung … aber nicht wahr ? da beginne ich bereits wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller  – und rede unmoralisch, aussermoralisch, „jenseits von Gut und Böse“ ? –

v – vii

Vorrede

5

2. – So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die „freien Geister“ e r f u nd e n , denen dieses schwermüthigmuthige Buch mit dem Titel „Menschliches, Allzumenschliches“ gewidmet ist : dergleichen „freie Geister“ giebt es nicht, gab es nicht, – aber ich hatte | sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Krankheit, Vereinsamung, Fremde, Acedia, Unthätigkeit) : als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, – als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie Geister einmal geben k ö n nt e, dass unser Europa unter seinen Söhnen von Morgen und Uebermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als Schemen und Einsiedler-Schattenspiel : daran möchte ic h am wenigsten zweifeln. Ich sehe sie bereits k om me n , langsam, langsam ; und vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleunigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen Wegen ich sie kommen s e he ? – – 3. Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus „freier Geist“ einmal bis zur Vollkommenheit reif und süss werden soll, sein entscheidendes Ereignis in einer g r o s s e n L o s lö s u n g gehabt hat, und dass er vorher um so mehr ein gebundener Geist war und für immer an seine Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet am festesten ? welche Stricke sind beinahe unzerreissbar ? Bei Menschen einer hohen und ausgesuchten Art werden es die Pfl ichten sein : jene Ehrfurcht, wie sie der Jugend | eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und Würdigen, jene Dankbarkeit für den

6

Vorrede

vii | viii

Boden, aus dem sie wuchsen, für die Hand, die sie führte, für das Heiligthum, wo sie anbeten lernten, – ihre höchsten Augenblicke selbst werden sie am festesten binden, am dauerndsten verpfl ichten. Die grosse Loslösung kommt für solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss : die junge Seele wird mit Einem Male erschüttert, losgerissen, herausgerissen, – sie selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl ; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis ; eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen. „Lieber sterben als h ie r leben“ – so klingt die gebieterische Stimme und Verführung : und dies „hier“, dies „zu Hause“ ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte ! Ein plötzlicher Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie liebte, ein Blitz von Verachtung gegen Das, was ihr „Pfl icht“ hiess, ein aufrührerisches, willkürliches, vulkanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick r üc k w ä r t s , dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der Scham über Das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, d a s s sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verräth – ein Sieg ? über was ? über wen ? ein räthselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der | e r s t e Sieg immerhin : – dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der grossen Loslösung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Menschen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst-Werthsetzung, dieser Wille zum f r e ie n Willen : und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste sich nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht ! Er schweift grausam umher, mit einer unbe-

viii | ix

Vorrede

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friedigten Lüsternheit ; was er erbeutet, muss die gefährliche Spannung seines Stolzes abbüssen ; er zerreisst, was ihn reizt. Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont fi ndet : er versucht, wie diese Dinge aussehn, we n n man sie umkehrt. Es ist Willkür und Lust an der Willkür darin, wenn er vielleicht nun seine Gunst dem zuwendet, was bisher in schlechtem Rufe stand, – wenn er neugierig und versucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hintergrunde seines Treibens und Schweifens – denn er ist unruhig und ziellos unterwegs wie in einer Wüste – steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren Neugierde. „Kann man nicht a l le Werthe umdrehn ? und ist Gut vielleicht Böse ? und Gott nur eine Erfi ndung und Feinheit des Teufels ? Ist Alles vielleicht im letzten Grunde falsch ? Und wenn wir Betrogene sind, sind wir nicht ebendadurch auch Betrüger ? mü s s e n wir nicht auch Betrüger sein ?“ – solche Gedanken führen und verführen ihn, immer weiter fort, immer weiter ab. Die | Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer drohender, würgender, herzzuschnürender, jene furchtbare Göttin und mater saeva cupidinum – aber wer weiss es heute, was E i n s a m k e it ist ? … 4. Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher Versuchs-Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntnis, bis zu jener r e i f e n Freiheit des Geistes, welche ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und die Wege zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt –, bis zu jener inneren Umfänglichkeit und Verwöhnung des Ueberreichthums, welche die Gefahr ausschliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen Wege verlöre und verliebte und in irgend einem Winkel berauscht sitzen bliebe, bis zu jenem Ueberschuss an plastischen, aus-

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heilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das Zeichen der g r o s s e n Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, au f d e n Ve r s uc h hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen : das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes ! Dazwischen mögen lange Jahre der Genesung liegen, Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen, beherrscht und am Zügel geführt durch einen zähen W i lle n z u r G e s u nd he it , der sich oft schon als | Gesundheit zu kleiden und zu verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen ein Mensch solchen Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist : ein blasses feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen, ein Gefühl von Vogel-Freiheit, Vogel-Umblick, Vogel-Uebermuth, etwas Drittes, in dem sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein „freier Geist“ – dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe. Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne Ja, ohne Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend, ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder empor fl iegend ; man ist verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei u nt e r sich gesehn hat, – und man ward zum Gegenstück Derer, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen nunmehr lauter Dinge an – und wie viele Dinge ! – welche ihn nicht mehr b e k ü m me r n … 5. Ein Schritt weiter in der Genesung : und der freie Geist nähert sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspänstig, fast misstrauisch. Es wird wieder wärmer um ihn, gelber gleichsam ; Gefühl und Mitgefühl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen über ihn weg. Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen für das Na h e aufgiengen. Er ist verwundert und sitzt stille : wo w a r er doch ? Diese

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nahen und nächsten Dinge : wie scheinen sie ihm verwandelt ! welchen Flaum | und Zauber haben sie inzwischen bekommen ! Er blickt dankbar zurück, – dankbar seiner Wanderschaft, seiner Härte und Selbstentfremdung, seinen Fernblikken und Vogelflügen in kalte Höhen. Wie gut, dass er nicht wie ein zärtlicher dumpfer Eckensteher immer „zu Hause“, immer „bei sich“ geblieben ist ! er war au s s e r sich : es ist kein Zweifel. Jetzt erst sieht er sich selbst –, und welche Ueberraschungen fi ndet er dabei ! Welche unerprobten Schauder ! Welches Glück noch in der Müdigkeit, der alten Krankheit, den Rückfällen des Genesenden ! Wie es ihm gefällt, leidend stillzusitzen, Geduld zu spinnen, in der Sonne zu liegen ! Wer versteht sich gleich ihm auf das Glück im Winter, auf die Sonnenflecke an der Mauer ! Es sind die dankbarsten Thiere von der Welt, auch die bescheidensten, diese dem Leben wieder halb zugewendeten Genesenden und Eidechsen : – es giebt solche unter ihnen, die keinen Tag von sich lassen, ohne ihm ein kleines Loblied an den nachschleppenden Saum zu hängen. Und ernstlich geredet : es ist eine gründliche K u r gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden alter Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt –), auf die Art dieser freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank zu bleiben und dann, noch länger, noch länger, gesund, ich meine „gesünder“ zu werden. Es ist Weisheit darin, Lebens-Weisheit, sich die Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen. | 6. Um jene Zeit mag es endlich geschehn, unter den plötzlichen Lichtern einer noch ungestümen, noch wechselnden Gesundheit, dass dem freien, immer freieren Geiste sich das Räthsel jener grossen Loslösung zu entschleiern beginnt, welches bis dahin dunkel, fragwürdig, fast unberührbar in seinem Gedächtniss gewartet hatte. Wenn er sich lange kaum zu fragen wagte „warum so abseits ? so allein ? Allem entsagend, was

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ich verehrte ? der Verehrung selbst entsagend ? warum diese Härte, dieser Argwohn, dieser Hass auf die eigenen Tugenden ?“ – jetzt wagt und fragt er es laut und hört auch schon etwas wie Antwort darauf. „Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren s ie deine Herren ; aber sie dürfen nur deine Werkzeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Gewalt über dein Für und Wider bekommen und es verstehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspektivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen – die Verschiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspektivischen gehört ; auch das Stück Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellektuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest die not h we nd i g e Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unablösbar vom Leben, das Leben selbst als b e d i n g t durch das Perspektivische und seine Ungerechtigkeit. Du soll|test vor Allem mit Augen sehn, wo die Ungerechtigkeit immer am grössten ist : dort nämlich, wo das Leben am kleinsten, engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und dennoch nicht umhin kann, s ic h als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung zu Liebe das Höhere, Grössere, Reichere heimlich und kleinlich und unablässig anzubröckeln und in Frage zu stellen, – du solltest das Problem der R a n g o r d nu n g mit Augen sehn und wie Macht und Recht und Umfänglichkeit der Perspektive mit einander in die Höhe wachsen. Du solltest“ – genug, der freie Geist we i s s nunmehr, welchem „du sollst“ er gehorcht hat, und auch, was er jetzt k a n n , was er jetzt erst – d a r f … 7. Dergestalt giebt der freie Geist sich in Bezug auf jenes Räthsel von Loslösung Antwort und endet damit, indem er seinen Fall

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verallgemeinert, sich über sein Erlebniss also zu entscheiden. „Wie es mir ergieng, sagt er sich, muss es Jedem ergehn, in dem eine Au f g a b e leibhaft werden und „zur Welt kommen“ will“. Die heimliche Gewalt und Nothwendigkeit dieser Aufgabe wird unter und in seinen einzelnen Schicksalen walten gleich einer unbewussten Schwangerschaft, – lange, bevor er diese Aufgabe selbst in’s Auge gefasst hat und ihren Namen weiss. Unsre Bestimmung verfügt über uns, auch wenn wir sie noch nicht kennen ; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt. Gesetzt, dass es d a s P r o ble m d e r R a n gor d nu n g ist, von dem wir sagen | dürfen, dass es u n s er Problem ist, wir freien Geister : jetzt, in dem Mittage unsres Lebens, verstehn wir es erst, was für Vorbereitungen, Umwege, Proben, Versuchungen, Verkleidungen das Problem nöthig hatte, ehe es vor uns aufsteigen d u r f t e , und wie wir erst die vielfachsten und widersprechendsten Noth- und Glücksstände an Seele und Leib erfahren mussten, als Abenteurer und Weltumsegler jener inneren Welt, die „Mensch“ heisst, als Ausmesser jedes „Höher“ und „Uebereinander“, das gleichfalls „Mensch“ heisst – überallhin dringend, fast ohne Furcht, nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend, alles vom Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend – bis wir endlich sagen durften, wir freien Geister : „Hier – ein neue s Problem ! Hier eine lange Leiter, auf deren Sprossen wir selbst gesessen und gestiegen sind, – die wir selbst irgend wann g ewe s e n sind ! Hier ein Höher, ein Tiefer, ein Unteruns, eine ungeheure lange Ordnung, eine Rangordnung, die wir s e he n : hier – u n s e r Problem !“ – – 8. – Es wird keinem Psychologen und Zeichendeuter einen Augenblick verborgen bleiben, an welche Stelle der eben geschilderten Entwicklung das vorliegende Buch gehört (oder gestel lt ist –). Aber wo giebt es heute Psychologen ? In

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Frank reich, gewiss ; vielleicht in Russland ; sicherlich nicht in Deutschland. Es fehlt nicht an Gründen, weshalb sich dies die heutigen Deutschen sogar noch zur Ehre anrechnen könnten : schlimm genug für | Einen, der in diesem Stücke undeutsch geartet und gerathen ist ! Dies d eut s c he Buch, welches in einem weiten Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu fi nden gewusst hat – es ist ungefähr zehn Jahr unterwegs – und sich auf irgend welche Musik und Flötenkunst verstehn muss, durch die auch spröde Ausländer-Ohren zum Horchen verführt werden, – gerade in Deutschland ist dies Buch am nachlässigsten gelesen, am schlechtesten g e hör t worden : woran liegt das ? – „Es verlangt zu viel, hat man mir geantwortet, es wendet sich an Menschen ohne die Drangsal grober Pfl ichten, es will feine und verwöhnte Sinne, es hat Ueberfluss nöthig, Ueberfluss an Zeit, an Helligkeit des Himmels und Herzens, an otium im verwegensten Sinne : – lauter gute Dinge, die wir Deutschen von Heute nicht haben und also auch nicht geben können.“ – Nach einer so artigen Antwort räth mir meine Philosophie, zu schweigen und nicht mehr weiter zu fragen ; zumal man in gewissen Fällen, wie das Sprüchwort andeutet, nur dadurch Philosoph ble i bt , dass man – schweigt. N i z z a , im Frühling 1886.

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Inhalt. Seite1

Von den ersten und letzten Dingen . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Geschichte der moralischen Empfi ndungen . . . . .

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Das religiöse Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller . . . . . . . .

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Anzeichen höherer und niederer Cultur . . . . . . . . . . . .

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Der Mensch im Verkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

243

Weib und Kind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

Ein Blick auf den Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

293

Der Mensch mit sich allein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Seitenangaben beziehen sich auf die Paginierung der Originalausgabe.

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Erstes Hauptstück. Von den ersten und letzten Dingen. |

1. C hem ie der B e g r i f fe u nd Empf i ndu n g e n. – Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stükken dieselbe Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren : wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfi ndendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern ? Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen Wunder-Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des „Dinges an sich“ heraus. Die historische Philosophie dagegen, welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist, die allerjüngste aller philosophischen Methoden, ermittelte in einzelnen Fällen (und vermuthlich wird diess in allen ihr Ergebniss sein), dass es keine Gegensätze sind, ausser in der gewohnten Übertreibung der populären oder metaphysischen Auffassung und dass ein Irrthum der Vernunft dieser Gegenüberstellung zu Grunde liegt : nach ihrer Erklärung | giebt es, streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen, es sind beides nur Sublimirungen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint und nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist. – Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine C he m ie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfi ndungen, ebenso aller

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Erstes Hauptstück

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jener Regungen, welche wir im Gross- und Kleinverkehr der Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben : wie, wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschlösse, dass auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind ? Werden Viele Lust haben, solchen Untersuchungen zu folgen ? Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinn zu schlagen : muss man nicht fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten Hang in sich zu spüren ? – 2. Erbfeh ler der Ph i losophen. – Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Analyse desselben an’s Ziel zu kommen meinen. Unwillkürlich schwebt ihnen „der Mensch“ als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sicheres Maass der Dinge vor. Alles, was der Philosoph über den Menschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss über den Menschen eines s e h r b e s c h r ä n k t e n Zeitraumes. Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen ; manche sogar nehmen unversehens die allerjüngste Gestaltung des | Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als die feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist ; während Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissvermögen sich herausspinnen lassen. – Nun ist alles We s e nt l ic he der menschlichen Entwickelung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen vier tausend Jahren, die wir ungefähr kennen ; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr verändert haben. Da sieht aber der Philosoph „Instincte“ am gegenwärtigen Menschen und nimmt an, dass diese zu den unveränderlichen That-

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sachen des Menschen gehören und insofern einen Schlüssel zum Verständniss der Welt überhaupt abgeben können ; die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem ew i g e n redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung haben. Alles aber ist geworden ; es giebt k e i ne ew i g e n T h at s ac he n : sowie es keine absoluten Wahrheiten giebt. – Demnach ist das h i s t or i s c he Ph i lo s o ph i r e n von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung. 3. S c h ät z u n g d e r u n s c he i n ba r e n Wa h r he it e n . – Es ist das Merkmal einer höhern Cultur, die kleinen unscheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen, als die beglückenden und blendenden Irr thümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltern und Menschen entstammen. Zunächst hat man gegen erstere den Hohn auf den Lippen, | als könne hier gar nichts Gleichberechtigtes gegen einander stehen : so bescheiden, schlicht, nüchtern, ja scheinbar entmuthigend stehen diese, so schön, prunkend, berauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da. Aber das mühsam Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb für jede weitere Erkenntniss noch Folgenreiche ist doch das Höhere, zu ihm sich zu halten ist männlich und zeigt Tapferkeit, Schlichtheit, Enthaltsamkeit an. Allmählich wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesammte Menschheit zu dieser Männlichkeit emporgehoben werden, wenn sie sich endlich an die höhere Schätzung der haltbaren, dauerhaften Erkenntnisse gewöhnt und allen Glauben an Inspiration und wundergleiche Mittheilung von Wahrheiten verloren hat. – Die Verehrer der For me n freilich, mit ihrem Maassstabe des Schönen und Erhabenen, werden zunächst gute Gründe zu spotten haben, sobald die Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten und der wissenschaftliche

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Geist anfängt zur Herrschaft zu kommen : aber nur weil entweder ihr Auge sich noch nicht dem Reiz der s c h l ic h t e s t e n Form erschlossen hat oder weil die in jenem Geiste erzogenen Menschen noch lange nicht völlig und innerlich von ihm durchdrungen sind, so dass sie immer noch gedankenlos alte Formen nachmachen (und diess schlecht genug, wie es Jemand thut, dem nicht mehr viel an einer Sache liegt). Ehemals war der Geist nicht durch strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen von Symbolen und Formen. Das hat sich verändert ; jener Ernst des Symbolischen ist zum Kennzeichen der niederen Cultur geworden ; wie unsere Künste selber immer intellectualer, unsere Sinne geistiger werden, und wie man zum Beispiel jetzt ganz anders darüber urtheilt, was sinnlich wohltönend ist, als vor hundert Jahren : so | werden auch die Formen unseres Lebens immer g e i s t i g e r, für das Auge älterer Zeiten vielleicht h ä s s l ic he r, aber nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das Reich der inneren, geistigen Schönheit sich fortwährend vertieft und erweitert und in wie fern uns Allen der geistreiche Blick jetzt mehr gelten darf, als der schönste Gliederbau und das erhabenste Bauwerk. 4. A s t r olog i e u n d Ve r w a n d t e s . – Es ist wahrscheinlich, dass die Objecte des religiösen, moralischen und ästhetischen Empfi ndens ebenfalls nur zur Oberfläche der Dinge gehören, während der Mensch gerne glaubt, dass er hier wenigstens an das Herz der Welt rühre ; er täuscht sich, weil jene Dinge ihn so tief beseligen und so tief unglücklich machen, und zeigt also hier denselben Stolz wie bei der Astrologie. Denn diese meint, der Sternenhimmel drehe sich um das Loos des Menschen ; der moralische Mensch aber setzt voraus, Das, was ihm wesentlich am Herzen liege, müsse auch Wesen und Herz der Dinge sein.

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5. M i ssverstä nd n i ss des Trau mes. – Im Traume glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfänglicher Cultur eine z we it e r e a le We lt kennen zu lernen ; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch die Zerlegung in Seele und Leib hängt mit der ältesten Auffassung des Traumes zusammen, ebenso die Annahme eines Seelenscheinleibes, also die Herkunft alles Geisterglaubens, und wahrscheinlich auch des Götterglaubens. „Der Todte lebt fort ; d e n n er erscheint dem Lebenden im Traume“ : so schloss man ehedem, durch viele Jahrtausende hindurch. | 6. Der Gei st der Wi ssen sc ha f t i m T hei l, n ic ht i m Ga nz en mäc ht i g. – Die abgetrennten k le i n s t e n Gebiete der Wissenschaft werden rein sachlich behandelt : die allgemeinen grossen Wissenschaften dagegen legen, als Ganzes betrachtet, die Frage – eine recht unsachliche Frage freilich – auf die Lippen : wozu ? zu welchem Nutzen ? Wegen dieser Rücksicht auf den Nutzen werden sie, als Ganzes, weniger unpersönlich, als in ihren Theilen behandelt. Bei der Philosophie nun gar, als bei der Spitze der gesammten Wissenspyramide, wird unwillkürlich die Frage nach dem Nutzen der Erkenntniss überhaupt aufgeworfen, und jede Philosophie hat unbewusst die Absicht, ihr den hö c h s t e n Nutzen zuzuschreiben. Desshalb giebt es in allen Philosophien so viel hochfl iegende Metaphysik und eine solche Scheu vor den unbedeutend erscheinenden Lösungen der Physik ; denn die Bedeutsamkeit der Erkenntniss für das Leben s ol l so gross als möglich erscheinen. Hier ist der Antagonismus zwischen den wissenschaftlichen Einzelgebieten und der Philosophie. Letztere will, was die Kunst will, dem Leben und Handeln möglichste Tiefe und Bedeutung geben ; in ersteren sucht man Erkennt-

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niss und Nichts weiter, – was dabei auch herauskomme. Es hat bis jetzt noch keinen Philosophen gegeben, unter dessen Händen die Philosophie nicht zu einer Apologie der Erkenntniss geworden wäre ; in diesem Puncte wenigstens ist ein jeder Optimist, dass dieser die höchste Nützlichkeit zugesprochen werden müsse. Sie alle werden von der Logik tyrannisirt : und diese ist ihrem Wesen nach Optimismus. 7. Der Stören f r ied i n der Wissenschaf t. – Die Philosophie schied sich von der Wissenschaft, als sie die | Frage stellte : welches ist diejenige Erkenntniss der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am glücklichsten lebt ? Diess geschah in den sokratischen Schulen : durch den Gesichtspunct des Glüc k s unterband man die Blutadern der wissenschaftlichen Forschung – und thut es heute noch. 8. Pneumatische Erk lär ung der Nat ur. – Die Metaphysik erklärt die Schrift der Natur gleichsam p neu m at i s c h , wie die Kirche und ihre Gelehrten es ehemals mit der Bibel thaten. Es gehört sehr viel Verstand dazu, um auf die Natur die selbe Art der strengeren Erklärungskunst anzuwenden, wie jetzt die Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben : mit der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber nicht einen d o p p e lt e n Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen. Wie aber selbst in Betreff der Bücher die schlechte Erklärungskunst keineswegs völlig überwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft noch fortwährend auf Ueberreste allegorischer und mystischer Ausdeutung stösst : so steht es auch in Betreff der Natur – ja noch viel schlimmer.

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9. Met a phy s i s c he We lt . – Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben ; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden ; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte. Diess ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorgen zu machen ; aber Alles, was ihnen bisher | metaphysische Annahmen we r t hvol l , s c h r e c k e n vol l , lu s t vol l gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug ; die allerschlechtesten Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken, aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt. Dann bleibt immer noch jene Möglichkeit übrig ; aber mit ihr kann man gar Nichts anfangen, geschweige denn, dass man Glück, Heil und Leben von den Spinnenfäden einer solchen Möglichkeit abhängen lassen dürfte. – Denn man könnte von der metaphysischen Welt gar Nichts aussagen, als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifl iches Anderssein ; es wäre ein Ding mit negativen Eigenschaften. – Wäre die Existenz einer solchen Welt noch so gut bewiesen, so stünde doch fest, dass die gleichgültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wäre : noch gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von der chemischen Analysis des Wassers sein muss. 10. H a r m lo s i g k e it d e r M e t a p hy s i k i n d e r Z u k u n f t . – Sobald die Religion, Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie vollständig sich erklären kann, ohne zur Annahme metaphysisc her Ei ng r i f fe am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflucht zu nehmen, hört das

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stärkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom „Ding an sich“ und der „Erscheinung“ auf. Denn wie es hier auch stehe : mit Religion, Kunst und Moral rühren wir nicht an das „Wesen der Welt an sich“ ; wir sind im Bereiche der Vorstellung, keine „Ahnung“ kann uns weitertragen. Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unser Welt|bild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt unterscheiden könne, der Physiologie und der Entwickelungsgeschichte der Organismen und Begriffe überlassen. 11. D ie Spr ac he a l s ve r me i nt l ic he W i s s e n s c h a f t . – Die Bedeutung der Sprache für die Entwickelung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigene Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herrn derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an aet e r n ae ve r it at e s durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob : er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprachbildner war nicht so bescheiden, zu glauben, dass er den Dingen eben nur Bezeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste Wissen über die Dinge mit den Worten aus ; in der That ist die Sprache die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft. Der G l au b e a n d ie g e f u nd e ne Wa h r he it ist es auch hier, aus dem die mächtigsten Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachträglich – jetzt erst dämmert es den Menschen auf, dass sie einen ungeheuren Irrthum in ihrem Glauben an die Sprache propagirt haben. Glücklicherweise ist es zu spät, als dass es die Entwikkelung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rückgängig machen könnte. – Auch die L og i k beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt ent-

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spricht, z. B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität des selben Dinges in verschiedenen Puncten der Zeit : aber jene Wissenschaft | entstand durch den entgegengesetzten Glauben (dass es dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es mit der M at he m at i k , welche gewiss nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang an gewusst hätte, dass es in der Natur keine exact gerade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Grössenmaass gebe. 12. Tr au m u nd C u lt u r. – Die Gehirnfunction, welche durch den Schlaf am meisten beeinträchtigt wird, ist das Gedächtniss : nicht dass es ganz pausirte, – aber es ist auf einen Zustand der Unvollkommenheit zurückgebracht, wie es in Urzeiten der Menschheit bei Jedermann am Tage und im Wachen gewesen sein mag. Willkürlich und verworren, wie es ist, verwechselt es fortwährend die Dinge auf Grund der flüchtigsten Aehnlichkeiten : aber mit der selben Willkür und Verworrenheit dichteten die Völker ihre Mythologien, und noch jetzt pflegen Reisende zu beobachten, wie sehr der Wilde zur Vergesslichkeit neigt, wie sein Geist nach kurzer Anspannung des Gedächtnisses hin und her zu taumeln beginnt und er, aus blosser Erschlaff ung, Lügen und Unsinn hervorbringt. Aber wir Alle gleichen im Traume diesem Wilden ; das schlechte Wiedererkennen und irrthümliche Gleichsetzen ist der Grund des schlechten Schliessens, dessen wir uns im Traume schuldig machen : so dass wir, bei deutlicher Vergegenwärtigung eines Traumes, vor uns erschrecken, weil wir so viel Narrheit in uns bergen. – Die vollkommene Deutlichkeit aller TraumVorstellungen, welche den unbedingten Glauben an ihre Realität zur Voraussetzung hat, erinnert uns wieder an Zustände früherer Menschheit, in der die Hallucination ausserordentlich häufig war und mitunter ganze Gemeinden, ganze Völker gleichzeitig ergriff. | Also : im Schlaf und Traum ma-

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chen wir das Pensum früheren Menschenthums noch einmal durch. 13. L og i k d e s Tr au me s . – Im Schlafe ist fortwährend unser Nervensystem durch mannichfache innere Anlässe in Erregung, fast alle Organe secerniren und sind in Thätigkeit, das Blut macht seinen ungestümen Kreislauf, die Lage des Schlafenden drückt einzelne Glieder, seine Decken beeinflussen die Empfi ndung verschiedenartig, der Magen verdaut und beunruhigt mit seinen Bewegungen andere Organe, die Gedärme winden sich, die Stellung des Kopfes bringt ungewöhnliche Muskellagen mit sich, die Füsse, unbeschuht, nicht mit den Sohlen den Boden drückend, verursachen das Gefühl des Ungewöhnlichen ebenso wie die andersartige Bekleidung des ganzen Körper’s, – alles diess nach seinem täglichen Wechsel und Grade erregt durch seine Aussergewöhnlichkeit das gesammte System bis in die Gehirnfunction hinein : und so giebt es hundert Anlässe für den Geist, um sich zu verwundern und nach Gr ü nd e n dieser Erregung zu suchen : der Traum aber ist das S uc he n u nd Vor s t e l le n d e r Ur s ac he n für jene erregten Empfi ndungen, das heisst der vermeintlichen Ursachen. Wer zum Beispiel seine Füsse mit zwei Riemen umgürtet, träumt wohl, dass zwei Schlangen seine Füsse umringeln : diess ist zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleitenden bildlichen Vorstellung und Ausdichtung : „diese Schlangen müssen die causa jener Empfi ndung sein, welche ich, der Schlafende, habe“, – so urtheilt der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene nächste Vergangenheit wird durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart. So weiss Jeder aus Erfahrung, wie schnell der Träumende einen starken an ihn | dringenden Ton, zum Beispiel Glockenläuten, Kanonenschüsse in seinen Traum verfl icht, das heisst aus ihm h i nt e r d r e i n erklärt, so dass er zuerst die veranlassenden Umstände, dann jenen Ton zu erleben me i nt . – Wie kommt

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es aber, dass der Geist des Träumenden immer so fehl greift, während der selbe Geist im Wachen so nüchtern, behutsam und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu sein pflegt ? so dass ihm die erste beste Hypothese zur Erklärung eines Gefühls genügt, um sofort an ihre Wahrheit zu glauben ? (denn wir glauben im Traume an den Traum, als sei er Realität, das heisst wir halten unsre Hypothese für völlig erwiesen). – Ich meine : wie jetzt noch der Mensch im Traume schliesst, so schloss die Menschheit auc h i m Wac hen viele Jahrtausende hindurch : die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend Etwas, das der Erklärung bedurfte, zu erklären, genügte ihm und galt als Wahrheit. (So verfahren nach den Erzählungen der Reisenden die Wilden heute noch.) Im Traum übt sich dieses uralte Stück Menschenthum in uns fort, denn es ist die Grundlage, auf der die höhere Vernunft sich entwickelte und in jedem Menschen sich noch entwickelt : der Traum bringt uns in ferne Zustände der menschlichen Cultur wieder zurück und giebt ein Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen. Das Traumdenken wird uns jetzt so leicht, weil wir in ungeheuren Entwickelungsstrecken der Menschheit gerade auf diese Form des phantastischen und wohlfeilen Erklärens aus dem ersten beliebigen Einfalle heraus so gut eingedrillt worden sind. Insofern ist der Traum eine Erholung für das Gehirn, welches am Tage den strengeren Anforderungen an das Denken zu genügen hat, wie sie von der höheren Cultur gestellt werden. – Einen verwandten Vorgang können wir geradezu als Pforte und Vorhalle des Traumes | noch bei wachem Verstande in Augenschein nehmen. Schliessen wir die Augen, so producirt das Gehirn eine Menge von Lichteindrükken und Farben, wahrscheinlich als eine Art Nachspiel und Echo aller jener Lichtwirkungen, welche am Tage auf dasselbe eindringen. Nun verarbeitet aber der Verstand (mit der Phantasie im Bunde) diese an sich formlosen Farbenspiele sofort zu bestimmten Figuren, Gestalten, Landschaften, beleb-

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ten Gruppen. Der eigentliche Vorgang dabei ist wiederum eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache ; indem der Geist fragt : woher diese Lichteindrücke und Farben, supponirt er als Ursachen jene Figuren, Gestalten : sie gelten ihm als die Veranlassungen jener Farben und Lichter, weil er, am Tage, bei offenen Augen, gewohnt ist, zu jeder Farbe, jedem Lichteindrucke eine veranlassende Ursache zu fi nden. Hier also schiebt ihm die Phantasie fortwährend Bilder vor, indem sie an die Gesichtseindrücke des Tages sich in ihrer Production anlehnt, und gerade so macht es die Traumphantasie : – das heisst die vermeintliche Ursache wird aus der Wirkung erschlossen und n a c h der Wirkung vorgestellt : alles diess mit ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim Taschenspieler eine Verwirrung des Urtheils entstehen und ein Nacheinander sich wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander ausnehmen kann. – Wir können aus diesen Vorgängen entnehmen, w ie s p ät das schärfere logische Denken, das Strengnehmen von Ursache und Wirkung, entwickelt worden ist, wenn unsere Vernunft- und Verstandesfunctionen jet z t no c h unwillkürlich nach jenen primitiven Formen des Schliessens zurückgreifen und wir ziemlich die Hälfte unseres Lebens in diesem Zustande leben. – Auch der Dichter, der Künstler s c h iebt seinen Stimmungen und Zuständen Ursachen u nt e r, | welche durchaus nicht die wahren sind ; er erinnert insofern an älteres Menschenthum und kann uns zum Verständnisse desselben verhelfen. 14. M it e r k l i n g e n . – Alle s t ä r k e r e n Stimmungen bringen ein Miterklingen verwandter Empfi ndungen und Stimmungen mit sich ; sie wühlen gleichsam das Gedächtniss auf. Es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird sich ähnlicher Zustände und deren Herkunft bewusst. So bilden sich angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken,

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welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal mehr als Complexe, sondern als E i n he it e n empfunden werden. In diesem Sinne redet man vom moralischen Gefühle, vom religiösen Gefühle, wie als ob diess lauter Einheiten seien : in Wahrheit sind sie Ströme mit hundert Quellen und Zuflüssen. Auch hier, wie so oft, verbürgt die Einheit des Wortes Nichts für die Einheit der Sache. 15. K ei n I n nen u nd Au s sen i n der We lt. – Wie Demokrit die Begriffe Oben und Unten auf den unendlichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben, so die Philosophen überhaupt den Begriff „Innen und Aussen“ auf Wesen und Erscheinung der Welt ; sie meinen, mit tiefen Gefühlen komme man tief in’s Innere, nahe man sich dem Herzen der Natur. Aber diese Gefühle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse complicirte Gedankengruppen regelmässig erregt werden, welche wir tief nennen ; ein Gefühl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken für tief halten. Aber der tiefe Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr fern sein, wie | zum Beispiel jeder metaphysische ; rechnet man vom tiefen Gefühle die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das s t a r k e Gefühl übrig, und dieses verbürgt Nichts für die Erkenntniss, als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist. 16. Erscheinung und Ding an sich. – Die Philosophen pflegen sich vor das Leben und die Erfahrung – vor Das, was sie die Welt der Erscheinung nennen – wie vor ein Gemälde hinzustellen, das ein für alle Mal entrollt ist und unveränderlich fest den selben Vorgang zeigt : diesen Vorgang, meinen sie, müsse man richtig ausdeuten, um damit einen Schluss auf das Wesen zu machen, welches das Gemälde hervorgebracht habe : also

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auf das Ding an sich, das immer als der zureichende Grund der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen haben strengere Logiker, nachdem sie den Begriff des Metaphysischen scharf als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede gestellt : so dass in der Erscheinung eben durchaus n ic ht das Ding an sich erscheine, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von beiden Seiten ist aber die Möglichkeit übersehen, dass jenes Gemälde – Das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst – allmählich g ewor d e n ist, ja noch völlig im We r d e n ist und desshalb nicht als feste Grösse betrachtet werden soll, von welcher aus man einen Schluss über den Urheber (den zureichenden Grund) machen oder auch nur ablehnen dürfte. Dadurch, dass wir seit Jahrtausenden | mit moralischen, ästhetischen, religiösen Ansprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Unarten des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist diese Welt allmählich so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll g ewor d e n , sie hat Farbe bekommen, – aber wir sind die Coloristen gewesen : der menschliche Intellect hat die Erscheinung erscheinen lassen und seine irrthüm lichen Grundauffassungen in die Dinge hineingetragen. Spät, sehr spät – besinnt er sich : und jetzt scheinen ihm die Welt der Erfahrung und das Ding an sich so ausserordentlich verschieden und getrennt, dass er den Schluss von jener auf dieses ablehnt – oder auf eine schauerlich geheimnissvolle Weise zum A u f g e b e n unsers Intellectes, unsers persönlichen Willens auffordert : um d a d u r c h zum Wesenhaften zu kommen, dass man we s e n h a f t we r d e. Wiederum haben Andere alle charakteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung  – das heisst der aus intellectuellen Irrthümern herausgesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der

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Welt – zusammengelesen und a n s t at t d e n I nt e l le c t a l s S c hu ld i g e n a n z u k l a g e n , das Wesen der Dinge als Ursache dieses thatsächlichen, sehr unheimlichen Weltcharakters angeschuldigt und die Erlösung vom Sein gepredigt. – Mit all diesen Auffassungen wird der stetige und mühsame Process der Wissenschaft, welcher zuletzt einmal in einer E nt s t e hu n g s g e s c h i c h t e d e s D e n k e n s seinen höchsten Triumph feiert, in entscheidender Weise fertig werden, dessen Resultat vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen dürfte : Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irrthümern und Phantasien, welche in der gesammten Entwickelung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander | verwachsen und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, – als Schatz : denn der We r t h unseres Menschenthums ruht darauf. Von dieser Welt der Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsächlich nur in geringem Maasse zu lösen – wie es auch gar nicht zu wünschen ist –, insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfi ndung nicht wesentlich zu brechen vermag : aber sie kann die Geschichte der Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmählich und schrittweise aufhellen – und uns wenigstens für Augenblicke über den ganzen Vorgang hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, dass das Ding an sich eines homerischen Gelächters werth ist : dass es so viel, ja Alles s c h ie n und eigentlich leer, nämlich bedeutungsleer ist. 17. Met aphysi sc he Erk lä r u ngen. – Der junge Mensch schätzt metaphysische Erklärungen, weil sie ihm in Dingen, welche er unangenehm oder verächtlich fand, etwas höchst Bedeutungsvolles aufweisen : und ist er mit sich unzufrieden, so erleichtert sich diess Gefühl, wenn er das innerste Welträthsel oder Weltelend in dem wiedererkennt, was er so sehr an sich missbilligt. Sich unverantwortlicher fühlen und die Dinge

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zugleich interessanter fi nden – das gilt ihm als die doppelte Wohlthat, welche er der Metaphysik verdankt. Später freilich bekommt er Misstrauen gegen die ganze metaphysische Erklärungsart, dann sieht er vielleicht ein, dass jene Wirkungen auf einem anderen Wege eben so gut und wissenschaftlicher zu erreichen sind : dass physische und historische Erklärungen mindestens ebenso sehr jenes Gefühl der Unverantwortlichkeit herbeiführen, und dass | jenes Interesse am Leben und sei nen Problemen vielleicht noch mehr dabei entflammt wird. 18. Gr u nd f r a g e n d e r Met a phy s i k . – Wenn einmal die Entstehungsgeschichte des Denkens geschrieben ist, so wird auch der folgende Satz eines ausgezeichneten Logikers von einem neuen Lichte erhellt dastehen : „Das ursprüngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Subjects besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegenstand an sich, in seinem eigenen Wesen als einen mit sich selbst identischen, also selbstexistirenden und im Grunde stets gleichbleibenden und unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen.“ Auch dieses Gesetz, welches hier „ursprünglich“ genannt wird, ist geworden : es wird einmal gezeigt werden, wie allmählich, in den niederen Organismen, dieser Hang entsteht, wie die blöden Maulwurfsaugen dieser Organisationen zuerst Nichts als immer das Gleiche sehen, wie dann, wenn die verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerkbarer werden, allmählich verschiedene Substanzen unterschieden werden, aber jede mit Einem Attribut, das heisst einer einzigen Beziehung zu einem solchen Organismus. – Die erste Stufe des Logischen ist das Urtheil ; dessen Wesen besteht, nach der Feststellung der besten Logiker, im Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die E m pf i nd u n g d e s A n g e ne h me n o d e r S c h mer z h a f t e n in Bezug auf das empfi ndende Subject. Eine neue dritte Empfi ndung als Resultat zweier vorangegangenen

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einzelnen Empfi ndungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form. – Uns organische Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als sein Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. Zwischen den Momenten, in welchen wir uns dieser Beziehung bewusst werden, den | Zuständen des Empfi ndens, liegen solche der Ruhe, des Nichtempfi ndens : da ist die Welt und jedes Ding für uns interesselos, wir bemerken keine Veränderung an ihm (wie jetzt noch ein heftig Interessirter nicht merkt, dass Jemand an ihm vorbeigeht). Für die Pflanze sind gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube vererbt, dass es g le ic he D i n g e giebt (erst die durch höchste Wissenschaft ausgebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der Urglaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass die ganze übrige Welt Eins und unbewegt ist. – Am fernsten liegt für jene Urstufe des Logischen der Gedanke an Cau s a l it ät : ja jetzt noch meinen wir im Grunde, alle Empfi ndungen und Handlungen seien Acte des freien Willens ; wenn das fühlende Individuum sich selbst betrachtet, so hält es jede Empfi ndung, jede Veränderung für etwas I s ol i r t e s , das heisst Unbedingtes, Zusammenhangloses : es taucht aus uns auf, ohne Verbindung mit Früherem oder Späterem. Wir haben Hunger, aber meinen ursprünglich nicht, dass der Organismus erhalten werden will, sondern jenes Gefühl scheint sich oh ne Gr u nd u nd Zwe c k geltend zu machen, es isolirt sich und hält sich für w i l l k ü rl ic h . Also : der Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünglicher Irr thum alles Organischen, so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existiren ; der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein ursprünglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen. Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Substanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrthü-

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mern des Menschen handelt, doch so, als wären es Grundwahrheiten. | 19. D ie Z a h l . – Die Erfi ndung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich schon herrschenden Irrthums gemacht, dass es mehrere gleiche Dinge gebe (aber thatsächlich giebt es nichts Gleiches), mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein „Ding“). Die Annahme der Vielheit setzt immer voraus, dass es E t w a s gebe, das vielfach vorkommt : aber gerade hier schon waltet der Irrthum, schon da fi ngiren wir Wesen, Einheiten, die es nicht giebt. – Unsere Empfi ndungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, consequent geprüft, auf logische Widersprüche. Bei allen wissenschaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Grössen : aber weil diese Grössen wenigstens con s t a nt sind, wie zum Beispiel unsere Zeit- und Raumempfi ndung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange mit einander ; man kann auf ihnen fortbauen – bis an jenes letzte Ende, wo die irrthümliche Grundannahme, jene constanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der Atomenlehre. Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme eines „Dinges“ oder stoffl ichen „Substrats“, das bewegt wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Procedur aber die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffl iche) in Bewegungen aufzulösen : wir scheiden auch hier noch mit unserer Empfi ndung Bewegendes und Bewegtes und kommen aus diesem Zirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von Alters her verknotet ist. – Wenn Kant sagt „der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor“, so ist diess in Hinsicht auf den B e g r i f f d e r Nat u r völlig wahr, welchen wir genöthigt sind, mit ihr zu ver|binden (Natur = Welt als Vorstellung, das heisst als Irrthum), welcher

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aber die Aufsummirung einer Menge von Irrthümern des Verstandes ist. – Auf eine Welt, welche n ic ht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahlen gänzlich unanwendbar : diese gelten allein in der Menschen-Welt. 20. E i n i g e S p r o s s e n z u r ü c k . – Die eine, gewiss sehr hohe Stufe der Bildung ist erreicht, wenn der Mensch über abergläubische und religiöse Begriffe und Aengste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die lieben Englein oder die Erbsünde glaubt, auch vom Heil der Seelen zu reden verlernt hat : ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden. D a n n aber ist eine r ü c k l äu f i g e B e we g u n g nöthig : er muss die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die grösste Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rückläufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde. – In Betreff der philosophischen Metaphysik sehe ich jetzt immer Mehrere, welche an das negative Ziel (dass jede positive Metaphysik Irrthum ist) gelangt sind, aber noch Wenige, welche einige Sprossen rückwärts steigen ; man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen. Die Aufgeklärtesten bringen es nur so weit, sich von der Metaphysik zu befreien und mit Ueberlegenheit auf sie zurückzusehen : während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen. | 21. Mut h maassl ic her Sieg der Skepsi s. – Man lasse einmal den skeptischen Ausgangspunct gelten : gesetzt, es gäbe keine andere, metaphysische Welt und alle aus der Metaphysik

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genommenen Erklärungen der uns einzig bekannten Welt wären unbrauchbar für uns, mit welchem Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen ? Diess kann man sich ausdenken, es ist nützlich, selbst wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches wissenschaftlich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal abgelehnt würde. Denn es ist, nach historischer Wahrscheinlichkeit, sehr gut möglich, dass die Menschen einmal in dieser Beziehung im Ganzen und Allgemeinen s k e p t i s c h werden ; da lautet also die Frage : wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Einfluss einer solchen Gesinnung, gestalten ? Vielleicht ist der w i s s e n s c h a f t l ic he B ewe i s irgend einer metaphysischen Welt schon so s c hw ie r i g , dass die Menschheit ein Misstrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man gegen die Metaphysik Misstrauen hat, so giebt es im Ganzen und Grossen die selben Folgen, wie wenn sie direct widerlegt wäre und man nicht mehr an sie glauben d ü r f t e. Die historische Frage in Betreff einer unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden Fällen die selbe. 22. Un g laube a n d a s „monu ment u m aer e per en n iu s“. – Ein wesentlicher Nachtheil, welchen das Auf hören metaphysischer Ansichten mit sich bringt, liegt darin, dass das Individuum zu streng seine kurze Lebenszeit in’s Auge fasst und keine stärkeren Antriebe empfängt, an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen ; es will die Frucht selbst vom Baume pflücken, | den es pflanzt, und desshalb mag es jene Bäume nicht mehr pflanzen, welche eine jahrhundertlange gleichmässige Pflege erfordern und welche lange Reihenfolgen von Geschlechtern zu überschatten bestimmt sind. Denn metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte endgültige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle Zukunft der Menschheit

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niederzulassen und anzubauen genöthigt sei ; der Einzelne fördert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am ewigen Heil der Seele. – Kann die Wissenschaft auch solchen Glauben an ihre Resultate erwecken ? In der That braucht sie den Zweifel und das Misstrauen als treuesten Bundesgenossen ; trotzdem kann mit der Zeit die Summe der unantastbaren, das heisst alle Stürme der Skepsis, alle Zersetzungen überdauernden Wahrheiten so gross werden (zum Beispiel in der Diätetik der Gesundheit), dass man sich daraufhin entschliesst, „ewige“ Werke zu gründen. Einstweilen wirkt der Co nt r a s t unseres aufgeregten Ephemeren-Daseins gegen die langathmige Ruhe metaphysischer Zeitalter noch zu stark, weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind ; der einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele innere und äussere Entwickelungen, als dass er auch nur auf seine eigene Lebenszeit sich dauerhaft und ein für alle Mal einzurichten wagt. Ein ganz moderner Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern wolle. 23. Z e it a lt e r d e r Ve r g le ic hu n g. – Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so | grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluthen der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengeren Zwang, an einen Ort sich und seine Nachkommen anzubinden ? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes ? Wie alle Stilarten der Künste neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der Moralität, der Sitten, der Culturen. – Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen, Sitten, Culturen

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verglichen und neben einander durchlebt werden können ; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Gebundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit. Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich darbietenden Formen entscheiden : sie wird die meisten, – nämlich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden, – absterben lassen. Ebenso fi ndet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlichkeit statt, deren Ziel kein anderes, als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeitalter der Vergleichung ! Das ist sein Stolz, – aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht ! Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen : so wird uns die Nachwelt darob segnen, – eine Nachwelt, die ebenso sich über die abgeschlossenen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt. | 24. Mög l ic h k e it d e s For t s c h r it t s . – Wenn ein Gelehrter der alten Cultur es verschwört, nicht mehr mit Menschen umzugehen, welche an den Fortschritt glauben, so hat er Recht. Denn die alte Cultur hat ihre Grösse und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann ; es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei nöthig, um diess zu leugnen. Aber die Menschen können m it B ew u s s t s e i n beschliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig entwickelten : sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung, Erziehung, Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der

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Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen. Diese neue bewusste Cultur tödtet die alte, welche, als Ganzes angeschaut, ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben geführt hat ; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt, – er ist mög l ic h . Ich will sagen : es ist voreilig und fast unsinnig, zu glauben, dass der Fortschritt not hwe nd i g erfolgen müsse ; aber wie könnte man leugnen, dass er möglich sei ? Dagegen ist ein Fortschritt im Sinne und auf dem Wege der alten Cultur nicht einmal denkbar. Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort „Fortschritt“ von ihren Zielen (z. B. abgeschlossenen originalen Volks-Culturen) gebraucht : jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit ; ihr Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Originalität. 25. Pr ivat- und Welt-Mora l. – Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt | im Grossen leite und, trotz aller anscheinenden Krümmungen im Pfade der Menschheit, sie doch herrlich hinausführe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die ganze Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral, namentlich die Kant’s, verlangt vom Einzelnen Handlungen, welche man von allen Menschen wünscht : das war eine schöne naive Sache ; als ob ein Jeder ohne Weiteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien ; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie sich nach eingeborenen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben mü s s e. Vielleicht lässt es ein zukünftiger Ueberblick über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus nicht wünschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit specielle, vielleicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein. – Jeden falls

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muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade übersteigende K e n nt n i s s d e r B ed i ng u n g e n d e r C u lt u r, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts. 26. D i e R e a c t i o n a l s Fo r t s c h r i t t . – Mitunter erscheinen schroffe, gewaltsame und fortreissende, aber trotzdem zurückgebliebene Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal herauf beschwören : sie dienen zum Beweis, dass die neuen Richtungen, | welchen sie entgegenwirken, noch nicht kräftig genug sind, dass Etwas an ihnen fehlt : sonst würden sie jenen Beschwörern besseren Widerpart halten. So zeugt zum Beispiel Luther’s Reformation dafür, dass in seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch unsicher, zart, jugendlich waren ; die Wissenschaft konnte noch nicht ihr Haupt erheben. Ja, die gesammte Renaissance erscheint wie ein erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird. Aber auch in unserem Jahrhundert bewies Schopenhauer’s Metaphysik, dass auch jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kräftig genug ist : so konnte die ganze mittelalterliche christliche Weltbetrachtung und MenschEmpfi ndung noch einmal in Schopenhauer’s Lehre, trotz der längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen, eine Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte, wohlbekannte „metaphysische Bedürfniss.“ Es ist gewiss einer der grössten und ganz unschätzbaren Vor theile, welche wir aus Schopenhauer gewinnen, dass er unsere Empfi ndung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zurückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad führen würde. Der Gewinn für die Historie

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und die Gerechtigkeit ist sehr gross : ich glaube, dass es jetzt Niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopenhauer’s Beihülfe dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen : was namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christenthums aus unmöglich ist. Erst nach diesem grossen E r f ol g e d e r G e r ec ht i g k e it , erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Aufklärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Puncte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne | der Aufklärung – die Fahne mit den drei Namen : Petrarca, Erasmus, Voltaire – von Neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht. 27. Er sat z der Rel ig ion. – Man glaubt einer Philosophie etwas Gutes nachzusagen, wenn man sie als Ersatz der Religion für das Volk hinstellt. In der That bedarf es in der geistigen Oekonomie gelegentlich überleitender Gedankenkreise ; so ist der Uebergang aus Religion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer, gefährlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist. Insofern hat man mit jener Anempfehlung Recht. Aber endlich sollte man doch auch lernen, dass die Bedürfnisse, welche die Religion befriedigt hat und nun die Philosophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind ; diese selbst kann man s c hw äc he n und au s r ot t e n . Man denke zum Beispiel an die christliche Seelennoth, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil, – alles Vorstellungen, welche nur aus Irrthümern der Vernunft herrühren und gar keine Befriedigung, sondern Vernichtung verdienen. Eine Philosophie kann entweder so nützen, dass sie jene Bedürfnisse auch b e f r ie d i g t oder dass sie dieselben b e s e it i g t ; denn es sind angelernte, zeitlich begränzte Bedürfnisse, welche auf Voraussetzungen beruhen, die denen der Wissenschaft widersprechen. Hier ist, um einen Uebergang zu machen,

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die K u n s t viel eher zu benutzen, um das mit Empfi ndungen überladene Gemüth zu erleichtern ; denn durch sie werden jene Vorstellungen viel weniger unterhalten, als durch eine metaphysische Philosophie. Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirklich befreiende philosophische Wissenschaft übergehen. | 28. Ve r r u f e ne Wor t e. – Weg mit den bis zum Ueberdruss verbrauchten Wörtern Optimismus und Pessimismus ! Denn der Anlass, sie zu gebrauchen, fehlt von Tag zu Tage mehr : nur die Schwätzer haben sie jetzt noch so unumgänglich nöthig. Denn wesshalb in aller Welt sollte Jemand Optimist sein wollen, wenn er nicht einen Gott zu vertheidigen hat, welcher die beste der Welten geschaffen haben mu s s , falls er selber das Gute und Vollkommene ist, – welcher Denkende hat aber die Hypothese eines Gottes noch nöthig ? – Es fehlt aber auch jeder Anlass zu einem pessimistischen Glaubensbekenntniss , wenn man nicht ein Interesse daran hat, den Advocaten Gottes, den Theologen oder den theologisirenden Philosophen ärgerlich zu werden und die Gegenbehauptung kräftig aufzustellen : dass das Böse regiere, dass die Unlust grösser sei, als die Lust, dass die Welt ein Machwerk, die Erscheinung eines bösen Willens zum Leben sei. Wer aber kümmert sich jetzt noch um die Theologen – ausser den Theologen ? – Abgesehen von aller Theologie und ihrer Bekämpfung liegt es auf der Hand, dass die Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die beste oder die schlechteste ist, und dass diese Begriffe „gut“ und „böse“ nur in Bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in der Weise, wie sie gewöhnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind : der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns in jedem Falle entschlagen.

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29. Vom D u f t e d e r B l ü t h e n b e r au s c ht . – Das Schiff der Menschheit, meint man, hat einen immer stärkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird ; man glaubt, je tiefer | der Mensch denkt, je zarter er fühlt, je höher er sich schätzt, je weiter seine Entfernung von den anderen Thieren wird, – je mehr er als das Genie unter den Thieren erscheint, – um so näher werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss kommen : diess thut er auch wirklich durch die Wissenschaft, aber er me i nt diess noch mehr durch seine Religionen und Künste zu thun. Diese sind zwar eine Blüthe der Welt, aber durchaus nicht d e r Wu r z e l d e r We lt n ä he r, als der Stengel ist : man kann aus ihnen das Wesen der Dinge gerade gar nicht besser verstehen, obschon diess fast Jedermann glaubt. Der I r r t hu m hat den Menschen so tief, zart, erfi nderisch gemacht, eine solche Blüthe, wie Religionen und Künste, herauszutreiben. Das reine Erkennen wäre dazu ausser Stande gewesen. Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns Allen die unangenehmste Enttäuschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich, sondern die Welt als Vorstellung (als Irrthum) ist so bedeutungsreich, tief, wundervoll, Glück und Unglück im Schoosse tragend. Diess Resultat führt zu einer Philosophie der log i s c he n We lt ve r ne i nu n g : welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebensogut wie mit deren Gegentheile vereinigen lässt. 30. Sc h lec hte Gewoh n heiten i m Sc h l iessen. – Die gewöhnlichsten Irrschlüsse der Menschen sind diese : eine Sache existirt, also hat sie ein Recht. Hier wird aus der Lebensfähigkeit auf die Zweckmässigkeit, aus der Zweckmässigkeit auf die Rechtmässigkeit geschlossen. Sodann : eine Meinung beglückt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also ist sie selber gut und wahr. Hier legt man der Wirkung das Prädicat

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beglückend, | gut, im Sinne des Nützlichen, bei und versieht nun die Ursache mit dem selben Prädicat gut, aber hier im Sinne des Logisch-Gültigen. Die Umkehrung der Sätze lautet : eine Sache kann sich nicht durchsetzen, erhalten, also ist sie unrecht ; eine Meinung quält, regt auf, also ist sie falsch. Der Freigeist, der das Fehlerhafte dieser Art zu schliessen nur allzu häufig kennen lernt und an ihren Folgen zu leiden hat, unterliegt oft der Verführung, die entgegengesetzten Schlüsse zu machen, welche im Allgemeinen natürlich ebenso sehr Irrschlüsse sind : eine Sache kann sich nicht durchsetzen, also ist sie gut ; eine Meinung macht Noth, beunruhigt, also ist sie wahr. 31. D a s Un log i s c he not hwe nd i g. – Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweifelung bringen können, gehört die Erkenntniss, dass das Unlogische für den Menschen nöthig ist, und dass aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leidenschaften, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion und überhaupt in Allem, was dem Leben Werth verleiht, dass man es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schönen Dinge heillos zu beschädigen. Es sind nur die allzu naiven Menschen, welche glauben können, dass die Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt werden könne ; wenn es aber Grade der Annäherung an dieses Ziel geben sollte, was würde da nicht Alles auf diesem Wege verloren gehen müssen ! Auch der vernünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit wieder der Natur, das heisst seiner u n log i s c he n Gr u nd s t e l lu n g z u a l le n D i n g e n . 32. Un g e r e c h t s e i n n ot hwe n d i g. – Alle Urtheile über den Werth des Lebens sind unlogisch entwickelt und | desshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urtheils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, nämlich sehr unvollständig,

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zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar diess mit voller Nothwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein logisches Recht zu einer Gesammtabschätzung desselben hätten ; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maass, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Grösse, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maass kennen, um das Verhältniss irgend einer Sache zu uns gerecht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urtheilen sollte ; wenn man aber nur leb e n könnte, ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben ! – denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schäd lichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth des Zieles, existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen, u n d k ö n ne n d ie s s e r k e n ne n : diess ist eine der grössten und unauflösbarsten Disharmonien des Daseins. 33. D e r I r r t hu m ü b e r d a s L eb e n z u m L eb e n n ot hwe n d i g. – Jeder Glaube an Werth und Würdigkeit des Lebens beruht auf unreinem Denken ; er ist allein dadurch möglich, dass das Mitgefühl für das all|gemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist. Auch die seltneren Menschen, welche überhaupt über sich hinaus denken, fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegränzte Theile desselben in’s Auge. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf Ausnahmen, ich meine auf die

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hohen Begabungen und die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der ganzen Weltentwickelung und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben, weil man nämlich die anderen Menschen dabei ü b e r s ie ht : also unrein denkt. Und ebenso, wenn man zwar alle Menschen in’s Auge fasst, aber in ihnen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, gelten lässt und sie in Betreff der anderen Triebe entschuldigt : dann kann man wiederum von der Menschheit im Ganzen Etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens glauben : also auch in diesem Falle durch Unreinheit des Denkens. Mag man sich aber so oder so verhalten, man ist mit diesem Verhalten eine Au s n a h me unter den Menschen. Nun ertragen aber gerade die allermeisten Menschen das Leben, ohne erheblich zu murren, und g l au b e n somit an den Werth des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich Jeder allein will und behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen : alles Ausserpersönliche ist ihnen gar nicht oder höchstens als ein schwacher Schatten bemerkbar. Also darauf allein beruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen, alltäglichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt, als die Welt. Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht, dass er sich nicht in andere Wesen hineinfühlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt. We r dagegen wirklich daran theilnehmen könnte, müsste am Werthe | des Lebens verzweifeln ; gelänge es ihm, das Gesammtbewusstsein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfi nden, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammenbrechen, – denn die Menschheit hat im Ganzen k e i ne Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufes, nicht darin seinen Trost und Halt fi nden, sondern seine Verzweifelung. Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeu-

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dung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso ve r g eu d et zu fühlen, wie wir die einzelne Blüthe von der Natur vergeudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. – Wer ist aber desselben fähig ? Gewiss nur ein Dichter : und Dichter wissen sich immer zu trösten. 34. Zu r B e r u h i g u n g. – Aber wird so unsere Philosophie nicht zur Tragödie ? Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich ? Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen : ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben k ö n ne ? oder, wenn man diess mü s s e, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei ? Denn ein Sollen giebt es nicht mehr ; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja durch unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion. Die Erkenntniss kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden bestehen lassen : wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne für Wahrheit auseinandersetzen ? Auch sie berühren sich ja mit Irrthümern (insofern, wie gesagt, Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten Messungen unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen). Das ganze menschliche Leben | ist tief in die Unwahrheit eingesenkt ; der Einzelne kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehen, ohne dabei seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine gegenwärtigen Motive, wie die der Ehre, ungereimt zu fi nden und den Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen. Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebniss die Verzweifelung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung nach sich zöge ? – Ich glaube, die Entscheidung über die Nachwirkung der Erkenntniss wird durch das Te m p e r a me nt eines Menschen gegeben : ich könnte mir eben so gut, wie jene geschilderte und bei

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einzelnen Naturen mögliche Nachwirkung, eine andere denken, vermöge deren ein viel einfacheres, von Affecten reineres Leben entstünde, als das jetzige ist : so dass zuerst zwar die alten Motive des heftigeren Begehrens noch Kraft hätten, aus alter vererbter Gewöhnung her, allmählich aber unter dem Einflusse der reinigenden Erkenntniss schwächer würden. Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der Nat u r, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte. Man wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung des Gedankens, dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter empfi nden. Freilich gehörte hierzu, wie gesagt, ein gutes Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf der Hut zu sein brauchte und in ihren Aeusserungen Nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trüge, – jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an | der Kette gelegen haben. Vielmehr muss ein Mensch, von dem in solchem Maasse die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, dass er nur desshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf Vieles, ja fast auf Alles, was bei den anderen Menschen Werth hat, ohne Neid und Verdruss verzichten können, ihm muss als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömm lichen Schätzungen der Dinge g e nü g e n . Die Freude an diesem Zustande theilt er gerne mit und er h at vielleicht nichts Anderes mitzutheilen, – worin freilich eine Entbehrung, eine Entsagung mehr liegt. Will man aber trotzdem mehr von ihm, so wird er mit wohlwollendem Kopfschütteln auf seinen Bruder hinweisen, den freien Menschen der That, und vielleicht ein Wenig Spott nicht verhehlen : denn mit dessen „Freiheit“ hat es eine eigene Bewandtniss. |

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35. Vor t he i le d e r p s yc holog i s c he n B eobac ht u n g. – Dass das Nachdenken über Menschliches, Allzumenschliches – oder wie der gelehrtere Ausdruck lautet : die psychologische Beobachtung – zu den Mitteln gehöre, vermöge deren man sich die Last des Lebens erleichtern könne, dass die Uebung in dieser Kunst Geistesgegenwart in schwierigen Lagen und Unterhaltung inmitten einer langweiligen Umgebung verleihe, ja dass man den dornenvollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen Lebens Sentenzen abpflücken und sich dabei ein Wenig wohler fühlen könne : das glaubte man, wusste man – in früheren Jahrhunderten. Warum vergass es dieses Jahrhundert, wo wenigstens in Deutschland, ja in Europa, die Armuth an psychologischer Beobachtung durch viele Zeichen sich zu erkennen giebt ? Nicht gerade in Roman, Novelle und philosophischer Betrachtung, – diese sind das Werk von Ausnahmemenschen ; schon mehr in der Beurtheilung öffentlicher Ereignisse und Persönlichkeiten : vor Allem aber fehlt die Kunst der psychologischen Zergliederung und Zusammenrechnung in der Gesellschaft aller Stände, in der man wohl viel über Menschen, aber gar nicht ü b e r d e n Me n s c he n spricht. Warum doch lässt man sich den reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhaltung | entgehen ? Warum liest man nicht einmal die grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr ? – denn, ohne jede Uebertreibung gesprochen : der Gebildete in Europa, der La Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten gelesen hat, ist selten zu fi nden ; und noch viel seltener Der, welcher sie kennt und sie nicht schmäht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser ungewöhnliche Leser viel

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weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener Künstler ihm geben sollte ; denn selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend, die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat. Man nimmt, ohne solche practische Belehrung, dieses Schaffen und Formen für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene und Reizvolle nicht scharf genug heraus. Desshalb haben die jetzigen Leser von Sentenzen ein verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen, ja kaum einen Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso geht, wie den gewöhnlichen Betrachtern von Kameen : als welche loben, weil sie nicht lieben können und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber noch, fortzulaufen. 36. E i nw a nd . – Oder sollte es gegen jenen Satz, dass die psychologische Beobachtung zu den Reiz-, Heil- und Erleichterungsmitteln des Daseins gehöre, eine Gegenrechnung geben ? Sollte man sich genug von den unangenehmen Folgen dieser Kunst überzeugt haben, um jetzt mit Absichtlichkeit den Blick der sich Bildenden von ihr abzulenken ? In der That, ein gewisser blinder Glaube an die Güte der menschlichen Natur, ein eingepflanzter Widerwille vor der Zerlegung mensch licher Handlungen, eine Art Schamhaftigkeit in Hinsicht auf | die Nacktheit der Seele mögen wirklich für das gesammte Glück eines Menschen wünschenswerthere Dinge sein, als jene, in einzelnen Fällen hilfreiche Eigenschaft der psychologischen Scharfsichtigkeit ; und vielleicht hat der Glaube an das Gute, an tugendhafte Menschen und Handlungen, an eine Fülle des unpersönlichen Wohlwollens in der Welt die Menschen besser gemacht, insofern er dieselben weniger misstrauisch machte. Wenn man die Helden Plutarch’s mit Begeisterung nachahmt, und einen Abscheu davor empfi ndet, den Motiven ihres Handels anzweifelnd nachzuspüren, so hat zwar nicht die Wahr-

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heit, aber die Wohlfahrt der menschlichen Gesellschaft ihren Nutzen dabei : der psychologische Irrthum und überhaupt die Dumpfheit auf diesem Gebiete hilft der Menschlichkeit vorwärts, während die Erkenntniss der Wahrheit vielleicht durch die anregende Kraft einer Hypothese mehr gewinnt, wie sie La Rochefoucauld der ersten Ausgabe seiner „Sentences et maximes morales“ vorangestellt hat : „Ce que le monde nomme vertu n’est d’ordinaire qu’un fantôme formé par nos passions, à qui on donne un nom honnête pour faire impunément ce qu’on veut.“ La Rochefoucauld und jene anderen französischen Meister der Seelenprüfung (denen sich neuerdings auch ein Deutscher, der Verfasser der „Psychologischen Beobachtungen“ zugesellt hat) gleichen scharf zielenden Schützen, welche immer und immer wieder in’s Schwarze treffen, – aber in’s Schwarze der menschlichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen, aber endlich verwünscht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft, sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Verkleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Menschen zu pflanzen scheint. | 37. Tr ot z d e m . – Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung verhalte : in dem gegenwärtigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist die Auferweckung der moralischen Beobachtung nöthig geworden, und der grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben. Denn hier gebietet jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfi ndungen fragt und welche im Fortschreiten die verwickelten sociologischen Probleme aufzustellen und zu lösen hat : – die ältere Philosophie kennt die letzteren gar nicht und ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der moralischen Empfi ndungen unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem

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Wege gegangen. Mit welchen Folgen : das lässt sich jetzt sehr deutlich überschauen, nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der grössten Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunct in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfi ndungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis, zum Beispiel der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik sich auf baut, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches Unwesen zu Hülfe genommen werden, und endlich die Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrachtung hineinfallen. Steht es aber fest, dass die Oberflächlichkeit der psychologischen Beobachtung dem menschlichen Urtheilen und Schliessen die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fortwährend von Neuem legt, so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird, Steine auf Steine, Steinchen auf Steinchen zu häufen, so bedarf es der enthaltsamen Tapfer|keit, um sich einer solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schämen und jeder Missachtung derselben Trotz zu bieten. Es ist wahr : zahllose einzelne Bemerkungen über Menschliches und Allzumenschliches sind in Kreisen der Gesellschaft zuerst entdeckt und ausgesprochen worden, welche gewohnt waren, nicht der wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht jede Art von Opfern darzubringen ; und fast unlösbar hat sich der Duft jener alten Heimath der moralistischen Sentenz – ein sehr verführerischer Duft – der ganzen Gattung angehängt : so dass seinetwegen der wissenschaftliche Mensch unwillkürlich einiges Misstrauen gegen diese Gattung und ihre Ernsthaftigkeit merken lässt. Aber es genügt, auf die Folgen zu verweisen : denn schon jetzt beginnt sich zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem Boden der psychologischen Beobachtung aufwachsen. Welches ist doch der Hauptsatz, zu dem einer der kühnsten und kältesten Denker, der Verfasser des Buches „Ueber den

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Ursprung der moralischen Empfi ndungen“ vermöge seiner ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns gelangt ? „Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen (metaphysischen) Welt nicht näher, als der physische Mensch.“ Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammerschlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht einmal, in irgendwelcher Zukunft, als die Axt dienen, welche dem „metaphysischen Bedürfniss“ der Menschen an die Wurzel gelegt wird, – ob me h r zum Segen, als zum Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wüsste das zu sagen ? – aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und furchtbar zugleich, und mit jenem Doppelgesichte in die Welt sehend, welches alle grossen Erkenntnisse haben. | 38. I nw ie f e r n nüt z l ic h . – Also : ob die psychologische Beobachtung mehr Nutzen oder Nachtheil über die Menschen bringe, das bleibe immerhin unentschieden ; aber fest steht, dass sie nothwendig ist, weil die Wissenschaft ihrer nicht entrathen kann. Die Wissenschaft aber kennt keine Rücksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur sie kennt : sondern wie diese gelegentlich Dinge von der höchsten Zweckmässigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so wird auch die ächte Wissenschaft, a l s d ie Nac h a h mu n g d e r Nat u r i n B e g r i f f e n , den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja vielfach, fördern und das Zweck mässige erreichen, – aber ebenfalls oh ne e s g ewol lt zu haben. Wem es aber bei dem Anhauche einer solchen Betrachtungsart gar zu winterlich zu Muthe wird, der hat vielleicht nur zu wenig Feuer in sich : er möge sich indessen umsehen und er wird Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisumschläge noth thun, und Menschen, welche so aus Gluth und Geist „zusammengeknetet“ sind, dass sie kaum irgendwo die Luft kalt und

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schneidend genug für sich fi nden können. Ueberdiess : wie allzu ernste Einzelne und Völker ein Bedürfniss nach Leichtfertigkeiten haben, wie andere allzu Erregbare und Bewegliche zeitweilig schwere niederdrückende Lasten zu ihrer Gesundheit nöthig haben : sollten wir, die g e i s t i g e r e n Menschen eines Zeitalters, welches ersichtlich immer mehr in Brand geräth, nicht nach allen löschenden und kühlenden Mitteln, die es giebt, greifen müssen, damit wir wenigstens so stetig, harmlos und mässig bleiben, als wir es noch sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden, diesem Zeitalter als Spiegel und Selbstbesinnung über sich zu dienen ? – | 39. D ie Fa b e l vo n d e r i nt e l l i g i b e le n Fr e i he it . – Die Geschichte der Empfi ndungen, vermöge deren wir Jemanden verantwortlich machen, also der sogenannten moralischen Empfi ndungen verläuft in folgenden Hauptphasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen an sich, ohne Rücksicht auf deren Folgen, die Eigenschaft „gut“ oder „böse“ innewohne : mit demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als hart, den Baum selber als grün bezeichnet – also dadurch, dass man, was Wirkung ist, als Ursache fasst. Sodann legt man das Gut- oder Böse-sein in die Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als moralisch zweideutig. Man geht weiter und giebt das Prädicat gut oder böse nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen Wesen eines Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich, herauswächst. So macht man der Reihe nach den Menschen für seine Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und endlich für sein Wesen verantwortlich. Nun entdeckt man

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schliesslich, dass auch dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den Elementen und Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge concrescirt : also dass der Mensch für Nichts verantwortlich zu machen ist, weder für sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntniss gelangt, dass die Geschichte der moralischen Empfi ndungen die Geschichte eines Irr thums, des Irrthums von der Verantwortlichkeit ist : als welcher | auf dem Irrthum von der Freiheit des Willens ruht. – Schopenhauer schloss dagegen so : weil gewisse Handlungen U n mut h („Schuldbewusstsein“) nach sich ziehen, so muss es eine Verantwortlichkeit geben ; denn zu diesem Unmuth wäre k e i n Gr u nd vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln des Menschen mit Nothwendigkeit verliefe – wie es thatsächlich, und auch nach der Einsicht dieses Philosophen, verläuft  –, sondern der Mensch selber mit der selben Nothwendigkeit sein ganzes We s e n erlangte, – was Schopenhauer leugnet. Aus der Thatsache jenes Unmuthes glaubt Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu können, welche der Mensch irgendwie gehabt haben müsse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen, aber in Bezug auf das Wesen : Freiheit also, so oder so zu s e i n , nicht so oder so zu h a nd e l n . Aus dem esse, der Sphäre der Freiheit und Verantwortlichkeit, folgt nach seiner Meinung das operari, die Sphäre der strengen Causalität, Nothwendigkeit und Unverantwortlichkeit. Jener Unmuth beziehe sich zwar scheinbar auf das operari – insofern sei er irrthümlich –, in Wahrheit aber auf das esse, welches die That eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums, sei ; der Mensch werde Das, was er werden wol le, sein Wollen sei früher, als seine Existenz. – Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass aus der Thatsache des Unmuthes die Berechtigung, die vernünftige Zu l ä s s i g k e it dieses Unmuthes geschlossen wird ; und von jenem Fehlschluss aus

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kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Consequenz der sogenannten intelligibelen Freiheit. Aber der Unmuth nach der That braucht gar nicht vernünftig zu sein : ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrthümlichen Voraussetzung, dass die That eben n ic ht nothwendig hätte erfolgen müssen. Also : weil sich der Mensch für frei h ä lt , nicht aber weil er frei ist, | empfi ndet er Reue und Gewissensbisse. – Ueberdiess ist dieser Unmuth Etwas, das man sich abgewöhnen kann, bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfi nden. Er ist eine sehr wandelbare, an die Entwickelung der Sitte und Cultur geknüpfte Sache und vielleicht nur in einer verhältnissmässig kurzen Zeit der Weltgeschichte vorhanden. – Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, Niemand für sein Wesen ; richten ist soviel als ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet. Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht, und doch geht hier Jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück : aus Furcht vor den Folgen. 40. D a s Ueb e r -T h ie r. – Die Bestie in uns will belogen werden ; Moral ist Nothlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die Irrthümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Thier geblieben. So aber hat er sich als etwas Höheres genommen und sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat desshalb einen Hass gegen die der Thierheit näher gebliebenen Stufen : woraus die ehemalige Missachtung des Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache zu erklären ist. 41. Der u nver ä nderl ic he C h a r a k ter. – Dass der Charakter unveränderlich sei, ist nicht im strengen Sinne wahr ; vielmehr heisst dieser beliebte Satz nur so viel, dass während der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden Motive

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gewöhnlich nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man sich aber einen | Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter : so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrthümlichen Behauptungen über die Eigenschaften des Menschen. 42. D ie O rd nu n g der Güter u nd d ie Mor a l. – Die einmal angenommene Rangordnung der Güter, je nachdem ein niedriger, höherer, höchster Egoismus das Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt über das Moralisch-sein oder Unmoralisch-sein. Ein niedriges Gut (zum Beispiel Sinnengenuss) einem höher geschätzten (zum Beispiel Gesundheit) vorziehen, gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit vorziehen. Die Rangordnung der Güter ist aber keine zu allen Zeiten feste und gleiche ; wenn Jemand Rache der Gerechtigkeit vorzieht, so ist er nach dem Maassstabe einer früheren Cultur moralisch, nach dem der jetzigen unmoralisch. „Unmoralisch“ bezeichnet also, dass Einer die höheren, feineren, geistigeren Motive, welche die jeweilen neue Cultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht stark genug empfi ndet : es bezeichnet einen Zurückgebliebenen, aber immer nur dem Gradunterschied nach. – Die Rangordnung der Güter selber wird nicht nach moralischen Gesichtspuncten auf- und umgestellt ; wohl aber wird nach ihrer jedesmaligen Festsetzung darüber entschieden, ob eine Handlung moralisch oder unmoralisch sei. 43. Gr au sa me Men sc hen a l s z u r üc k gebl ieben. – Die Menschen, welche jetzt grausam sind, müssen uns als Stufen f r ühe r e r C u lt u r e n gelten, welche übrig geblieben | sind : das

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Gebirge der Menschheit zeigt hier einmal die tieferen Formationen, welche sonst versteckt liegen, offen. Es sind zurückgebliebene Menschen, deren Gehirn, durch alle möglichen Zufälle im Verlaufe der Vererbung, nicht so zart und vielseitig fortgebildet worden ist. Sie zeigen uns, was wir Alle w a r e n , und machen uns erschrecken : aber sie selber sind so wenig verantwortlich, wie ein Stück Granit dafür, dass es Granit ist. In unserm Gehirne müssen sich auch Rinnen und Windungen fi nden, welche jener Gesinnung entsprechen, wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an Fischzustände fi nden sollen. Aber diese Rinnen und Windungen sind nicht mehr das Bett, in welchem sich jetzt der Strom unserer Empfi ndung wälzt. 44. Dan kbarkeit und Rache. – Der Grund, wesshalb der Mächtige dankbar ist, ist dieser. Sein Wohlthäter hat sich durch seine Wohlthat an der Sphäre des Mächtigen gleichsam vergriffen und sich in sie eingedrängt : nun vergreift er sich zur Vergeltung wieder an der Sphäre des Wohlthäters durch den Act der Dankbarkeit. Es ist eine mildere Form der Rache. Ohne die Genugthuung der Dankbarkeit zu haben, würde der Mächtige sich unmächtig gezeigt haben und fürderhin dafür gelten. Desshalb stellt jede Gesellschaft der Guten, das heisst ursprünglich der Mächtigen, die Dankbarkeit unter die ersten Pfl ichten. – Swift hat den Satz hingeworfen, dass Menschen in dem selben Verhältniss dankbar sind, wie sie Rache hegen. 45. Doppe lte Vorg e sc h ic hte von Gut u nd Böse. – Der Begriff gut und böse hat eine doppelte Vorgeschichte : | nämlich e i n m a l in der Seele der herrschenden Stämme und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem, und auch wirklich Vergeltung übt, also dankbar und

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rachsüchtig ist, der wird gut genannt ; wer unmächtig ist und nicht vergelten kann, gilt als schlecht. Man gehört als Guter zu den „Guten“, einer Gemeinde, welche Gemeingefühl hat, weil alle Einzelnen durch den Sinn der Vergeltung mit einander verflochten sind. Man gehört als Schlechter zu den „Schlechten“, zu einem Haufen unterworfener, ohnmächtiger Menschen, welche kein Gemeingefühl haben. Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse wie Staub. Gut und schlecht ist eine Zeit lang so viel wie vornehm und niedrig, Herr und Sclave. Dagegen sieht man den Feind nicht als böse an : er kann vergelten. Der Troer und der Grieche sind bei Homer beide gut. Nicht Der, welcher uns Schädliches zufügt, sondern Der, welcher verächtlich ist, gilt als schlecht. In der Gemeinde der Guten vererbt sich das Gute ; es ist unmöglich, dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche hervorwachse. Thut trotzdem Einer der Guten Etwas, das der Guten unwürdig ist, so verfällt man auf Ausflüchte ; man schiebt zum Beispiel einem Gott die Schuld zu, indem man sagt : er habe den Guten mit Verblendung und Wahnsinn geschlagen.  – S o d a n n in der Seele der Unterdrückten, Machtlosen. Hier gilt jeder a nd e r e Mensch als feindlich, rücksichtslos, ausbeutend, grausam, listig, sei er vornehm oder niedrig ; böse ist das Charakterwort für Mensch, ja für jedes lebende Wesen, welches man voraussetzt, zum Beispiel für einen Gott ; menschlich, göttlich gilt so viel wie teufl isch, böse. Die Zeichen der Güte, Hülfebereitschaft, Mitleid, werden angstvoll als Tücke, Vorspiel eines schrecklichen Ausgangs, Betäubung und Ueberlistung aufgenommen, | kurz als verfeinerte Bosheit. Bei einer solchen Gesinnung des Einzelnen kann kaum ein Gemeinwesen entstehen, höchstens die roheste Form desselben : so dass überall, wo diese Auffassung von gut und böse herrscht, der Untergang der Einzelnen, ihrer Stämme und Rassen nahe ist. – Unsere jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der he r r s c he nd e n Stämme und Kasten aufgewachsen.

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46. M it le ide n s t ä rk er a l s L e ide n. – Es giebt Fälle, wo das Mitleiden stärker ist, als das eigentliche Leiden. Wir empfi nden es zum Beispiel schmerzlicher, wenn einer unserer Freunde sich etwas Schmähliches zu Schulden kommen lässt, als wenn wir selbst es thun. Einmal nämlich glauben wir mehr an die Reinheit seines Charakters, als er ; sodann ist unsere Liebe zu ihm, wahrscheinlich eben dieses Glaubens wegen, stärker, als seine Liebe zu sich selbst. Wenn auch wirklich sein Egoismus mehr dabei leidet, als unser Egoismus, insofern er die übelen Folgen seines Vergehens stärker zu tragen hat, so wird das Unegoistische in uns – dieses Wort ist nie streng zu verstehen, sondern nur eine Erleichterung des Ausdrucks – doch stärker durch seine Schuld betroffen, als das Unegoistische in ihm. 47. Hy p o c hond r ie. – Es giebt Menschen, welche aus Mitgefühl und Sorge für eine andere Person hypochondrisch werden ; die dabei entstehende Art des Mitleidens ist nichts Anderes, als eine Krankheit. So giebt es auch eine christliche Hypochondrie, welche jene einsamen, religiös bewegten Leute befällt, die sich das Leiden und Sterben Christi fortwährend vor Augen stellen. | 48. Oekonomie der Güte. – Die Güte und Liebe als die heilsamsten Kräuter und Kräfte im Verkehre der Menschen sind so kostbare Funde, dass man wohl wünschen möchte, es werde in der Verwendung dieser balsamischen Mittel so ökonomisch wie möglich verfahren : doch ist diess unmöglich. Die Oekonomie der Güte ist der Traum der verwegensten Utopisten. 49. Woh lwol le n . – Unter die kleinen, aber zahllos häufigen und desshalb sehr wirkungsvollen Dinge, auf welche die Wissen-

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schaft mehr Acht zu geben hat, als auf die grossen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen zu rechnen ; ich meine jene Aeusserungen freundlicher Gesinnung im Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen, von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Thun umsponnen ist. Jeder Lehrer, jeder Beamte bringt diese Zuthat zu dem, was für ihn Pfl icht ist, hinzu ; es ist die fortwährende Bethätigung der Menschlichkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichtes, in denen Alles wächst ; namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, grünt und blüht das Leben nur durch jenes Wohlwollen. Die Gutmüthigkeit, die Freundlichkeit, die Höfl ichkeit des Herzens sind immerquellende Ausflüsse des unegoistischen Triebes und haben viel mächtiger an der Cultur gebaut, als jene viel berühmteren Aeusserungen desselben, die man Mitleiden, Barmherzigkeit und Aufopferung nennt. Aber man pflegt sie geringzuschätzen, und in der That : es ist nicht gerade viel Unegoistisches daran. Die S u m m e dieser geringen Dosen ist trotzdem gewaltig, ihre gesammte Kraft gehört zu den stärksten Kräften. – Ebenso fi ndet man viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen | sehen : wenn man nämlich richtig rechnet, und nur alle jene Momente des Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedrängtesten Menschenleben reich ist, nicht vergisst. 50. M it le id e n e r r e g e n wol le n . – La Rochefoucauld triff t in der bemerkenswerthesten Stelle seines Selbst-Portraits (zuerst gedruckt 1658) gewiss das Rechte, wenn er alle Die, welche Vernunft haben, vor dem Mitleiden warnt, wenn er räth, dasselbe den Leuten aus dem Volke zu überlassen, die der Leidenschaften bedürfen (weil sie nicht durch Vernunft bestimmt werden), um so weit gebracht zu werden, dem Leidenden zu helfen und bei einem Unglück kräftig einzugreifen ; während das Mitleiden, nach seinem (und Plato’s) Urtheil, die

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Seele entkräfte. Freilich solle man Mitleiden b e z eu g e n , aber sich hüten, es zu haben : denn die Unglücklichen seien nun einmal so d u m m , dass bei ihnen das Bezeugen von Mitleid das grösste Gut von der Welt ausmache. – Vielleicht kann man noch stärker vor diesem Mitleid-haben warnen, wenn man jenes Bedürfniss der Unglücklichen nicht gerade als Dummheit und intellectuellen Mangel, als eine Art Geistesstörung fasst, welche das Unglück mit sich bringt (und so scheint es ja La Rochefoucauld zu fassen), sondern als etwas ganz Anderes und Bedenklicheres versteht. Vielmehr beobachte man Kinder, welche weinen und schreien, d a m it sie bemitleidet werden, und desshalb den Augenblick abwarten, wo ihr Zustand in die Augen fallen kann ; man lebe im Verkehr mit Kranken und Geistig-Gedrückten und frage sich, ob nicht das beredte Klagen und Wimmern, das Zur-Schau-tragen des Unglücks im Grunde das Ziel verfolgt, den Anwesenden we h z u t hu n : das Mitleiden, welches Jene dann äussern, | ist insofern eine Tröstung für die Schwachen und Leidenden, als sie daran erkennen, doch wenigstens noch Eine M ac ht z u h a b e n , trotz aller ihrer Schwäche : die M a c h t , we h e z u t hu n . Der Unglückliche gewinnt eine Art von Lust in diesem Gefühl der Ueberlegenheit, welches das Bezeugen des Mitleides ihm zum Bewusstsein bringt ; seine Einbildung erhebt sich, er ist immer noch wichtig genug, um der Welt Schmerzen zu machen. Somit ist der Durst nach Mitleid ein Durst nach Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten der Mitmenschen ; es zeigt den Menschen in der ganzen Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben Selbst : nicht aber gerade in seiner „Dummheit“, wie La Rochefoucauld meint. – Im Zwiegespräche der Gesellschaft werden Dreiviertel aller Fragen gestellt, aller Antworten gegeben, um dem Unterredner ein klein Wenig weh zu thun ; desshalb dürsten viele Menschen so nach Gesellschaft : sie giebt ihnen das Gefühl ihrer Kraft. In solchen unzähligen, aber sehr kleinen Dosen, in welchen die Bosheit sich

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geltend macht, ist sie ein mächtiges Reizmittel des Lebens : ebenso wie das Wohlwollen, in gleicher Form durch die Menschenwelt hin verbreitet, das allezeit bereite Heilmittel ist. – Aber wird es viele Ehrliche geben, welche zugestehen, dass es Vergnügen macht, wehe zu thun ? dass man sich nicht selten damit unterhält – und gut unterhält –, anderen Menschen wenigstens in Gedanken Kränkungen zuzufügen und die Schrotkörner der kleinen Bosheit nach ihnen zu schiessen ? Die Meisten sind zu unehrlich und ein paar Menschen sind zu gut, um von diesem Pudendum Etwas zu wissen ; diese mögen somit immerhin leugnen, dass Prosper Mérimée Recht habe, wenn er sagt : „Sachez aussi qu’il n’y a rien de plus commun que de faire le mal pour le plaisir de le faire.“ | 51. Wie der Sc hei n z u m Sei n w i rd. – Der Schauspieler kann zuletzt auch beim tiefsten Schmerz nicht aufhören, an den Eindruck seiner Person und den gesammten scenischen Effect zu denken, zum Beispiel selbst beim Begräbniss seines Kindes ; er wird über seinen eignen Schmerz und dessen Aeusserungen weinen, als sein eigener Zuschauer. Der Heuchler, welcher immer ein und die selbe Rolle spielt, hört zuletzt auf, Heuchler zu sein ; zum Beispiel Priester, welche als junge Männer gewöhnlich bewusst oder unbewusst Heuchler sind, werden zuletzt natürlich und sind dann wirklich, ohne alle Affectation, eben Priester ; oder wenn es der Vater nicht so weit bringt, dann vielleicht der Sohn, der des Vaters Vorsprung benutzt, seine Gewöhnung übt. Wenn Einer sehr lange und hartnäckig Etwas s c he i ne n will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas Anderes zu s e i n . Der Beruf fast jedes Menschen, sogar des Künstlers, beginnt mit Heuchelei, mit einem Nachmachen von Aussen her, mit einem Copiren des Wirkungsvollen. Der, welcher immer die Maske freundlicher Mienen trägt, muss zuletzt eine Gewalt über wohlwollende Stimmungen bekom-

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men, ohne welche der Ausdruck der Freundlichkeit nicht zu erzwingen ist, – und zuletzt wieder bekommen diese über ihn Gewalt, er i s t wohlwollend. 52. Der P u nct der Eh rl ic h keit bei m Bet r uge. – Bei allen grossen Betrügern ist ein Vorgang bemerkenswerth, dem sie ihre Macht verdanken. Im eigentlichen Acte des Betruges unter all den Vorbereitungen, dem Schauerlichen in Stimme, Ausdruck, Gebärden, inmitten der wirkungsvollen Scenerie, überkommt sie der Gl aub e a n s ic h s e l b s t : dieser ist es, der dann so wundergleich | und bezwingend zu den Umgebenden spricht. Die Religionsstifter unterscheiden sich dadurch von jenen grossen Betrügern, dass sie aus diesem Zustande der Selbsttäuschung nicht herauskommen : oder sie haben ganz selten einmal jene helleren Momente, wo der Zweifel sie überwältigt ; gewöhnlich trösten sie sich aber, diese helleren Momente dem bösen Widersacher zuschiebend. Selbstbetrug muss da sein, damit Diese und Jene grossartig w i rk e n . Denn die Menschen glauben an die Wahrheit dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird. 53. A n g ebl ic he St u f e n d e r Wa h r he it . – Einer der gewöhnlichen Fehlschlüsse ist der : weil Jemand wahr und aufrichtig gegen uns ist, so sagt er die Wahrheit. So glaubt das Kind an die Urtheile der Eltern, der Christ an die Behauptungen des Stifters der Kirche. Ebenso will man nicht zugeben, dass alles Jenes, was die Menschen mit Opfern an Glück und Leben in früheren Jahrhunderten vertheidigt haben, Nichts als Irrthümer waren : vielleicht sagt man, es seien Stufen der Wahrheit gewesen. Aber im Grunde meint man, wenn Jemand ehrlich an Etwas geglaubt und für seinen Glauben gekämpft hat und gestorben ist, wäre es doch gar zu u n b i l l i g , wenn eigentlich nur ein Irrthum ihn beseelt habe. So ein Vorgang scheint

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der ewigen Gerechtigkeit zu widersprechen ; desshalb decretirt das Herz empfi ndender Menschen immer wieder gegen ihren Kopf den Satz : zwischen moralischen Handlungen und intellectuellen Einsichten muss durchaus ein nothwendiges Band sein. Es ist leider anders ; denn es giebt keine ewige Gerechtigkeit. 54. D ie Lü g e. – Wesshalb sagen zu allermeist die Menschen im alltäglichen Leben die Wahrheit ? – Gewiss | nicht, weil ein Gott das Lügen verboten hat. Sondern erstens : weil es bequemer ist ; denn die Lüge erfordert Erfi ndung, Verstellung und Gedächtniss. (Wesshalb Swift sagt : wer eine Lüge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er übernimmt ; er muss nämlich, um eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfi nden.) Sodann : weil es in schlichten Verhältnissen vortheilhaft ist, direct zu sagen : ich will diess, ich habe diess gethan, und dergleichen ; also weil der Weg des Zwangs und der Autorität sicherer ist, als der der List. – Ist aber einmal ein Kind in verwickelten häuslichen Verhältnissen aufgezogen worden, so handhabt es ebenso natürlich die Lüge und sagt unwillkürlich immer Das, was seinem Interesse entspricht ; ein Sinn für Wahrheit, ein Widerwille gegen die Lüge an sich ist ihm ganz fremd und unzugänglich, und so lügt es in aller Unschuld. 55. Des Glauben s wegen d ie Mor a l verd äc ht igen. – Keine Macht lässt sich behaupten, wenn lauter Heuchler sie vertreten ; die katholische Kirche mag noch so viele „weltliche“ Elemente besitzen, ihre Kraft beruht auf jenen auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen, welche sich das Leben schwer und bedeutungstief machen, und deren Blick und abgehärmter Leib von Nachtwachen, Hungern, glühendem Gebete, vielleicht selbst von Geisselhieben redet ; Diese erschüttern die Menschen und machen ihnen Angst : wie, wenn

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es nöt h i g wäre, so zu leben ? – diess ist die schauderhafte Frage, welche ihr Anblick auf die Zunge legt. Indem sie diesen Zweifel verbreiten, gründen sie immer von Neuem wieder einen Pfeiler ihrer Macht ; selbst die Freigesinnten wagen es nicht, dem derartig Selbstlosen mit hartem Wahrheitssinn zu widerstehen | und zu sagen : „Betrogner du, betrüge nicht !“ – Nur die Differenz der Einsichten trennt sie von ihm, durchaus keine Differenz der Güte oder Schlechtigkeit ; aber was man nicht mag, pflegt man gewöhnlich auch ungerecht zu behandeln. So spricht man von der Schlauheit und der verruchten Kunst der Jesuiten, aber übersieht, welche Selbstüberwindung jeder einzelne Jesuit sich auferlegt und wie die erleichterte Lebenspraxis, welche die jesuitischen Lehrbücher predigen, durchaus nicht ihnen, sondern dem Laienstande zu Gute kommen soll. Ja man darf fragen, ob wir Aufgeklärten bei ganz gleicher Taktik und Organisation eben so gute Werkzeuge, ebenso bewundernswürdig durch Selbstbesiegung, Unermüdlichkeit, Hingebung sein würden. 56. Sieg der Erken nt n iss über das rad ica le Böse. – Es trägt Dem, der weise werden will, einen reichlichen Gewinn ein, eine Zeit lang einmal die Vorstellung vom gründlich bösen und verderbten Menschen gehabt zu haben : sie ist falsch, wie die entgegengesetzte ; aber ganze Zeitstrecken hindurch besass sie die Herrschaft und ihre Wurzeln haben sich bis in uns und unsere Welt hinein verästet. Um u n s zu begreifen, müssen wir s ie begreifen ; um aber dann höher zu steigen, müssen wir über sie hinwegsteigen. Wir erkennen dann, dass es keine Sünden im metaphysischen Sinne giebt ; aber, im gleichen Sinne, auch keine Tugenden ; dass dieses ganze Bereich sittlicher Vorstellungen fortwährend im Schwanken ist, dass es höhere und tiefere Begriffe von gut und böse, sittlich und unsittlich giebt. Wer nicht viel mehr von den Dingen begehrt,

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als Erkenntniss derselben, kommt leicht mit seiner Seele zur Ruhe und wird höchstens aus Unwissenheit, aber schwerlich aus Begehrlichkeit fehlgreifen (oder sündi|gen, wie die Welt es heisst). Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und ausrotten wollen ; aber sein einziges ihn völlig beherrschendes Ziel, zu aller Zeit so gut wie möglich zu e rk e n ne n , wird ihn kühl machen und alle Wildheit in seiner Anlage besänftigen. Ueberdiess ist er einer Menge quälender Vorstellungen losgeworden, er empfi ndet Nichts mehr bei dem Worte Höllenstrafen, Sündhaftigkeit, Unfähigkeit zum Guten : er erkennt darin nur die verschwebenden Schattenbilder falscher Welt- und Lebensbetrachtungen. 57. Mora l a ls Selbst zer thei lung des Menschen. – Ein guter Autor, der wirklich das Herz für seine Sache hat, wünscht, dass Jemand komme und ihn selber dadurch vernichte, dass er dieselbe Sache deutlicher darstelle und die in ihr enthaltenen Fragen ohne Rest beantworte. Das liebende Mädchen wünscht, dass sie die hingebende Treue ihrer Liebe an der Untreue des Geliebten bewähren könne. Der Soldat wünscht, dass er für sein siegreiches Vaterland auf dem Schlachtfeld falle : denn in dem Siege seines Vaterlandes siegt sein höchstes Wünschen mit. Die Mutter giebt dem Kinde, was sie sich selber entzieht, Schlaf, die beste Speise, unter Umständen ihre Gesundheit, ihr Vermögen. – Sind das Alles aber unegoistische Zustände ? Sind diese Thaten der Moralität Wu nd e r, weil sie, nach dem Ausdrucke Schopenhauer’s, „unmöglich und doch wirklich“ sind ? Ist es nicht deutlich, dass in all diesen Fällen der Mensch Et w a s vo n s ic h , einen Gedanken, ein Verlangen, ein Erzeugniss mehr liebt, als et wa s A nd e r e s vo n s ic h , dass er also sein Wesen z e r t he i lt und dem einen Theil den anderen zum Opfer bringt ? Ist es etwas we s e nt l ic h Verschiedenes, wenn | ein Trotzkopf sagt : „ich will lieber über den Haufen geschossen werden, als diesem Menschen da einen Schritt

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aus dem Wege gehn ?“ – Die Nei g u n g z u Et wa s (Wunsch, Trieb, Verlangen) ist in allen genannten Fällen vorhanden ; ihr nachzugeben, mit allen Folgen, ist jedenfalls nicht „unegoistisch“. – In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als individuum, sondern als dividuum. 58. Wa s m a n ve r s p r e c h e n k a n n . – Man kann Handlungen versprechen, aber keine Empfi ndungen ; denn diese sind unwillkürlich. Wer Jemandem verspricht, ihn immer zu lieben oder immer zu hassen oder ihm immer treu zu sein, verspricht Etwas, das nicht in seiner Macht steht ; wohl aber kann er solche Handlungen versprechen, welche zwar gewöhnlich die Folgen der Liebe, des Hasses, der Treue sind, aber auch aus anderen Motiven entspringen können : denn zu einer Handlung führen mehrere Wege und Motive. Das Versprechen, Jemanden immer zu lieben, heisst also : so lange ich dich liebe, werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen ; liebe ich dich nicht mehr, so wirst du doch die selben Handlungen, wenn auch aus anderen Motiven, immerfort von mir empfangen : so dass der Schein in den Köpfen der Mitmenschen bestehen bleibt, dass die Liebe unverändert und immer noch die selbe sei. – Man verspricht also die Andauer des Anscheines der Liebe, wenn man ohne Selbstverblendung Jemandem immerwährende Liebe gelobt. 59. I nt e l le c t u nd Mor a l . – Man muss ein gutes Gedächtniss haben, um gegebene Versprechen halten zu können. Man muss eine starke Kraft der Einbildung | haben, um Mitleid haben zu können. So eng ist die Moral an die Güte des Intellects gebunden.

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60. Sic h r äc he n wol le n u nd s ic h r äc he n .– Einen Rachegedanken haben und ausführen heisst einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht : einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Muth, ihn auszuführen, heisst ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen. Die Moral, welche nur auf die Absichten sieht, taxirt beide Fälle gleich ; für gewöhnlich taxirt man den ersten Fall als den schlimmeren (wegen der bösen Folgen, welche die That der Rache vielleicht nach sich zieht). Beide Schätzungen sind kurzsichtig. 61. Wa r t e n - k ö n ne n . – Das Warten-können ist so schwer, dass die grössten Dichter es nicht verschmäht haben, das Nichtwarten-können zum Motiv ihrer Dichtungen zu machen. So Shakespeare im Othello, Sophokles im Ajax : dessen Selbstmord ihm, wenn er nur einen Tag noch seine Empfi ndung hätte abkühlen lassen, nicht mehr nöthig geschienen hätte, wie der Orakelspruch andeutet ; wahrscheinlich würde er den schrecklichen Einflüsterungen der verletzten Eitelkeit ein Schnippchen geschlagen und zu sich gesprochen haben : wer hat denn nicht schon, in meinem Falle, ein Schaf für einen Helden angesehen ? ist es denn so etwas Ungeheures ? Im Gegentheil, es ist nur etwas allgemein Menschliches : Ajax durfte sich dergestalt Trost zusprechen. Die Leidenschaft will nicht warten ; das Tragische im Leben grosser Männer liegt häufig nicht in ihrem Confl icte mit der Zeit und der | Niedrigkeit ihrer Mitmenschen, sondern in ihrer Unfähigkeit, ein Jahr, zwei Jahre ihr Werk zu verschieben ; sie können nicht warten. – Bei allen Duellen haben die zurathenden Freunde das Eine festzustellen, ob die betheiligten Personen noch warten können : ist diess nicht der Fall, so ist ein Duell vernünftig, insofern Jeder von Beiden sich sagt : „entweder lebe ich weiter,

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dann muss Jener augenblicklich sterben, oder umgekehrt.“ Warten hiesse in solchem Falle an jener furchtbaren Marter der verletzten Ehre angesichts ihres Verletzers noch länger leiden ; und diess kann eben mehr Leiden sein, als das Leben überhaupt werth ist. 62. S c hwe l g e r e i d e r R ac he. – Grobe Menschen, welche sich beleidigt fühlen, pflegen den Grad der Beleidigung so hoch als möglich zu nehmen und erzählen die Ursache mit stark übertreibenden Worten, um nur in dem einmal erweckten Hass- und Rachegefühl sich recht ausschwelgen zu können. 63. We r t h d e r Ve r k le i ne r u n g. – Nicht wenige, vielleicht die allermeisten Menschen haben, um ihre Selbstachtung und eine gewisse Tüchtigkeit im Handeln bei sich aufrecht zu erhalten, durchaus nöthig, alle ihnen bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu verkleinern. Da aber die geringen Naturen in der Ueberzahl sind und es sehr viel daran liegt, ob sie jene Tüchtigkeit haben oder verlieren, so – 64. D e r Au f br au s e nd e. – Vor Einem, der gegen uns auf braust, soll man sich in Acht nehmen, wie vor | Einem, der uns einmal nach dem Leben getrachtet hat : denn d a s s wir noch leben, das liegt an der Abwesenheit der Macht zu tödten ; genügten Blicke, so wäre es längst um uns geschehen. Es ist ein Stück roher Cultur, durch Sichtbarwerdenlassen der physischen Wildheit, durch Furchterregen Jemanden zum Schweigen zu bringen. – Ebenso ist jener kalte Blick, welchen Vornehme gegen ihre Bedienten haben, ein Ueberrest jener kastenmässigen Abgränzungen zwischen Mensch und Mensch, ein Stück rohen Alterthums ; die Frauen, die Bewahrerinnen des Alten, haben auch dieses Survival treuer bewahrt.

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65. Woh i n d ie E h rl ic h k e it f ü h r e n k a n n . – Jemand hatte die üble Angewohnheit, sich über die Motive, aus denen er handelte und die so gut und so schlecht waren wie die Motive aller Menschen, gelegentlich ganz ehrlich auszusprechen. Er erregte erst Anstoss, dann Verdacht, wurde allmählich geradezu verfehmt und in die Acht der Gesellschaft erklärt, bis endlich die Justiz sich eines so verworfenen Wesens erinnerte, bei Gelegenheiten, wo sie sonst kein Auge hatte, oder dasselbe zudrückte. Der Mangel an Schweigsamkeit über das allgemeine Geheimniss und der unverantwortliche Hang, zu sehen, was Keiner sehen will – sich selber – brachten ihn zu Gefängniss und frühzeitigem Tod. 66. St r ä f l ic h , n ie g e s t r a f t . – Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte behandeln. 67. S a nc t a s i m pl ic it a s d e r Tu g e nd . – Jede Tugend hat Vorrechte : zum Beispiel diess, zu dem Scheiterhaufen eines Verurtheilten ihr eigenes Bündchen Holz zu liefern. | 68. Mor a l it ät u nd E r f ol g. – Nicht nur die Zuschauer einer That bemessen häufig das Moralische oder Unmoralische an derselben nach dem Erfolge : nein, der Thäter selbst thut diess. Denn die Motive und Absichten sind selten deutlich und einfach genug, und mitunter scheint selbst das Gedächtniss durch den Erfolg der That getrübt, so dass man seiner That selber falsche Motive unterschiebt oder die unwesentlichen Motive als wesentliche behandelt. Der Erfolg giebt oft einer That den vollen ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Misserfolg legt den Schatten von Gewissensbissen über die achtungs-

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würdigste Handlung. Daraus ergiebt sich die bekannte Praxis des Politikers, welcher denkt : „gebt mir nur den Erfolg : mit ihm habe ich auch alle ehrlichen Seelen auf meine Seite gebracht – und mich vor mir selber ehrlich gemacht.“ – Auf ähnliche Weise soll der Erfolg die bessere Begründung ersetzen. Noch jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Christenthums über die griechische Philosophie sei ein Beweis für die grössere Wahrheit des ersteren, – obwohl in diesem Falle nur das Gröbere und Gewaltsamere über das Geistigere und Zarte gesiegt hat. Wie es mit der grösseren Wahrheit steht, ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden Wissenschaften Punct um Punct an Epikur’s Philosophie angeknüpft, das Christenthum aber Punct um Punct zurückgewiesen haben. 69. L ieb e u nd G e r e c ht i g k e it . – Warum überschätzt man die Liebe zu Ungunsten der Gerechtigkeit und sagt die schönsten Dinge von ihr, als ob sie ein viel höheres Wesen als jene sei ? Ist sie denn nicht ersicht|lich dümmer als jene ? – Gewiss, aber gerade desshalb um so viel a n g e ne h me r für Alle. Sie ist dumm und besitzt ein reiches Füllhorn ; aus ihm theilt sie ihre Gaben aus, an Jedermann, auch wenn er sie nicht verdient, ja ihr nicht einmal dafür dankt. Sie ist unparteiisch wie der Regen, welcher, nach der Bibel und der Erfahrung, nicht nur den Ungerechten, sondern unter Umständen auch den Gerechten bis auf die Haut nass macht. 70. H i n r ic ht u n g. – Wie kommt es, dass jede Hinrichtung uns mehr beleidigt, als ein Mord ? Es ist die Kälte der Richter, die peinliche Vorbereitung, die Einsicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt wird, um andere abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht bestraft, selbst wenn es eine gäbe : diese liegt in Erziehern, Eltern, Umgebungen, in uns, nicht im Mörder, – ich meine die veranlassenden Umstände.

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71. D ie Hof f nu n g. – Pandora brachte das Fass mit den Uebeln und öff nete es. Es war das Geschenk der Götter an die Menschen, von Aussen ein schönes verführerisches Geschenk und „Glücksfass“ zubenannt. Da flogen all die Uebel, lebendige beschwingte Wesen heraus : von da an schweifen sie nun herum und thun den Menschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein einziges Uebel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlüpft : da schlug Pandora nach Zeus’ Willen den Deckel zu und so blieb es darin. Für immer hat der Mensch nun das Glücksfass im Hause und meint Wunder was für einen Schatz er in ihm habe ; es steht ihm zu Diensten, er greift darnach : wenn es ihn gelüstet ; denn er weiss nicht, dass jenes Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Uebel | war, und hält das zurückgebliebene Uebel für das grösste Glücksgut, – es ist die Hoff nung. – Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Uebel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe, sondern fortfahre, sich immer von Neuem quälen zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die Hoff nung : sie ist in Wahrheit das übelste der Uebel, weil sie die Qual der Menschen verlängert. 72. Gr ad d er mor a l i s c he n Erh it zba rk e it u n be k a n nt . – Daran, dass man gewisse erschütternde Anblicke und Eindrücke gehabt oder nicht gehabt hat, zum Beispiel eines unrecht gerichteten, getödteten oder gemarterten Vaters, einer untreuen Frau, eines grausamen feindlichen Ueberfalls, hängt es ab, ob unsere Leidenschaften zur Glühhitze kommen und das ganze Leben lenken oder nicht. Keiner weiss, wozu ihn die Umstände, das Mitleid, die Entrüstung treiben können, er kennt den Grad seiner Erhitzbarkeit nicht. Erbärmliche kleine Verhältnisse machen erbärmlich ; es ist gewöhnlich nicht die Qualität der Erlebnisse, sondern ihre Quantität, von welcher der niedere und höhere Mensch abhängt, im Guten und Bösen.

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73. D e r M ä r t y r e r w i d e r W i l le n . – In einer Partei gab es einen Menschen, der zu ängstlich und feige war, um je seinen Kameraden zu widersprechen : man brauchte ihn zu jedem Dienst, man erlangte von ihm Alles, weil er sich vor der schlechten Meinung bei seinen Gesellen mehr als vor dem Tode fürchtete ; es war eine erbärmliche schwache Seele. Sie erkannten diess und machten auf Grund der erwähnten Eigenschaften aus ihm einen Heros und zuletzt gar einen Märtyrer. Obwohl der feige | Mensch innerlich immer Nein sagte, sprach er mit den Lippen immer Ja, selbst noch auf dem Schaffot, als er für die Ansichten seiner Partei starb : neben ihm nämlich stand einer seiner alten Genossen, der ihn durch Wort und Blick so tyrannisirte, dass er wirklich auf die anständigste Weise den Tod erlitt und seitdem als Märtyrer und grosser Charakter gefeiert wird. 74. A l lt a g s - M a a s s s t a b. – Man wird selten irren, wenn man extreme Handlungen auf Eitelkeit, mittelmässige auf Gewöhnung und kleinliche auf Furcht zurückführt. 75. M i ss ver st ä nd n i ss über d ie Tugend. – Wer die Untugend in Verbindung mit der Lust kennen gelernt hat, wie Der, welcher eine genusssüchtige Jugend hinter sich hat, bildet sich ein, dass die Tugend mit der Unlust verbunden sein müsse. Wer dagegen von seinen Leidenschaften und Lastern sehr geplagt worden ist, ersehnt in der Tugend die Ruhe und das Glück der Seele. Daher ist es möglich, dass zwei Tugendhafte einander gar nicht verstehen. 76. D e r A s k et . – Der Asket macht aus der Tugend eine Noth.

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77. Die Eh re von der Person au f d ie Sac he über t ragen. – Man ehrt allgemein die Handlungen der Liebe und Aufopferung zu Gunsten des Nächsten, wo sie sich auch immer zeigen. Dadurch vermehrt man die S c h ät z u n g d e r D i n g e, welche in jener Art geliebt | werden oder für welche man sich aufopfert : obwohl sie vielleicht an sich nicht viel werth sind. Ein tapferes Heer überzeugt von der Sache, für welche es kämpft. 78. E h r g e i z e i n Su r r og at d e s mor a l i s c he n G e f ü h l s. – Das moralische Gefühl darf in solchen Naturen nicht fehlen, welche keinen Ehrgeiz haben. Die Ehrgeizigen behelfen sich auch ohne dasselbe, mit fast gleichem Erfolge. – Desshalb werden Söhne aus bescheidenen, dem Ehrgeiz abgewandten Familien, wenn sie einmal das moralische Gefühl verlieren, gewöhnlich in schneller Steigerung zu vollkommenen Lumpen. 79. E it e l k e it b e r e ic h e r t . – Wie arm wäre der menschliche Geist ohne die Eitelkeit ! So aber gleicht er einem wohlgefüllten und immer neu sich füllenden Waarenmagazin, welches Käufer jeder Art anlockt : Alles fast können sie fi nden, Alles haben, vorausgesetzt, dass sie die gültige Münzsorte (Bewunderung) mit sich bringen. 80. Gr e i s u nd To d . – Abgesehen von den Forderungen, welche die Religion stellt, darf man wohl fragen : warum sollte es für einen alt gewordenen Mann, welcher die Abnahme seiner Kräfte spürt, rühmlicher sein, seine langsame Erschöpfung und Auflösung abzuwarten, als sich mit vollem Bewusstsein ein Ziel zu setzen ? Die Selbsttödtung ist in diesem Falle eine ganz natürliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte : und

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auch erweckt hat, in jenen Zeiten als die Häupter der griechischen Philosophie und die wackersten römischen Patrioten durch | Selbsttödtung zu sterben pflegten. Die Sucht dagegen, sich mit ängstlicher Berathung von Aerzten und peinlichster Lebensart von Tag zu Tage fortzufristen, ohne Kraft, dem eigentlichen Lebensziel noch näher zu kommen, ist viel weniger achtbar. – Die Religionen sind reich an Ausflüchten vor der Forderung der Selbsttödtung : dadurch schmeicheln sie sich bei Denen ein, welche in das Leben verliebt sind. 81. Ir r t hü mer des Leidenden u nd des T häters. – Wenn der Reiche dem Armen ein Besitzthum nimmt (zum Beispiel ein Fürst dem Plebejer die Geliebte), so entsteht in dem Armen ein Irr thum ; er meint, Jener müsse ganz verrucht sein, um ihm das Wenige, was er habe, zu nehmen. Aber jener empfi ndet den Werth eines e i n z e l ne n Besitzthums gar nicht so tief, weil er gewöhnt ist, viele zu haben : so kann er sich nicht in die Seele des Armen versetzen und thut lange nicht so sehr Unrecht, als dieser glaubt. Beide haben von einander eine falsche Vorstellung. Das Unrecht des Mächtigen, welches am meisten in der Geschichte empört, ist lange nicht so gross, wie es scheint. Schon die angeerbte Empfi ndung, ein höheres Wesen mit höheren Ansprüchen zu sein, macht ziemlich kalt und lässt das Gewissen ruhig : wir Alle sogar empfi nden, wenn der Unterschied zwischen uns und einem andern Wesen sehr gross ist, gar Nichts mehr von Unrecht und tödten eine Mücke zum Beispiel ohne jeden Gewissensbiss. So ist es kein Zeichen von Schlechtigkeit bei Xerxes (den selbst alle Griechen als hervorragend edel schildern), wenn er dem Vater seinen Sohn nimmt und ihn zerstückeln lässt, weil dieser ein ängstliches, ominöses Misstrauen gegen den ganzen Heerzug | geäussert hatte : der Einzelne wird in diesem Falle wie ein unangenehmes Insect beseitigt, er steht zu niedrig, um länger quälende

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Empfi ndungen bei einem Weltherrscher erregen zu dürfen. Ja, jeder Grausame ist nicht in d e m Maasse grausam, als es der Misshandelte glaubt ; die Vorstellung des Schmerzes ist nicht das Selbe wie das Leiden desselben. Ebenso steht es mit dem ungerechten Richter, mit dem Journalisten, welcher mit kleinen Unredlichkeiten die öffentliche Meinung irre führt. Ursache und Wirkung sind in allen diesen Fällen von ganz verschiedenen Empfi ndungs- und Gedankengruppen umgeben ; während man unwillkürlich voraussetzt, dass Thäter und Leidender gleich denken und empfi nden, und gemäss dieser Voraussetzung die Schuld des Einen nach dem Schmerz des Andern misst. 82. H aut d e r S e e le. – Wie die Knochen, Fleischstücke, Eingeweide und Blutgefässe mit einer Haut umschlossen sind, die den Anblick des Menschen erträglich macht, so werden die Regungen und Leidenschaften der Seele durch die Eitelkeit umhüllt : sie ist die Haut der Seele. 83. S c h l a f d e r Tu g e nd . – Wenn die Tugend geschlafen hat, wird sie frischer aufstehen. 84. Fe i n he it d e r S c h a m . – Die Menschen schämen sich nicht, etwas Schmutziges zu denken, aber wohl, wenn sie sich vorstellen, dass man ihnen diese schmutzigen Gedanken zutraue. 85. B o s he it i s t s e lt e n . – Die meisten Menschen sind viel zu sehr mit sich beschäftigt, um boshaft zu sein. |

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86. D a s Zü n g le i n a n d e r Wa g e. – Man liebt oder tadelt, je nachdem das Eine oder das Andere mehr Gelegenheit giebt, unsere Urtheilskraft leuchten zu lassen. 87. Luc a s 18, 1 4 ve r b e s s e r t . – Wer sich selbst erniedrigt, will erhöhet werden. 88. Ve r h i nd e r u n g d e s S e l b s t mor d e s . – Es giebt ein Recht, wonach wir einem Menschen das Leben nehmen, aber keines, wonach wir ihm das Sterben nehmen : diess ist nur Grausamkeit. 89. E it e l k e it . – Uns liegt an der guten Meinung der Menschen, einmal weil sie uns nützlich ist, sodann weil wir ihnen Freude machen wollen (Kinder den Eltern, Schüler den Lehrern und wohlwollende Menschen überhaupt allen übrigen Menschen). Nur wo Jemandem die gute Meinung der Menschen wichtig ist, abgesehen vom Vortheil oder von seinem Wunsche, Freude zu machen, reden wir von Eitelkeit. In diesem Falle will sich der Mensch selber eine Freude machen, aber auf Unkosten seiner Mitmenschen, indem er diese entweder zu einer falschen Meinung über sich verführt oder es gar auf einen Grad der „guten Meinung“ absieht, wo diese allen Anderen peinlich werden muss (durch Erregung von Neid). Der Einzelne will gewöhnlich durch die Meinung Anderer die Meinung, die er von sich hat, beglaubigen und vor sich selber bekräftigen ; aber die mächtige Gewöhnung an Autorität – eine Gewöhnung, die so alt als der Mensch ist – bringt Viele auch dazu, ihren eigenen Glauben an | sich auf Autorität zu stützen, also erst aus der Hand Anderer anzunehmen : sie trauen der Urtheilkraft Anderer mehr, als der eigenen. – Das Interesse an sich selbst, der Wunsch, sich zu vergnügen, erreicht bei dem Eitelen eine

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solche Höhe, dass er die Anderen zu einer falschen, allzu hohen Taxation seiner selbst verführt und dann doch sich an die Autorität der Anderen hält : also den Irrthum herbeiführt und doch ihm Glauben schenkt. – Man muss sich also eingestehen, dass die eitelen Menschen nicht sowohl Anderen gefallen wollen, als sich selbst, und dass sie so weit gehen, ihren Vortheil dabei zu vernachlässigen ; denn es liegt ihnen oft daran, ihre Mitmenschen ungünstig, feindlich, neidisch, also schädlich gegen sich zu stimmen, nur um die Freude an sich selber, den Selbstgenuss, zu haben. 90. Gr ä n z e d e r Me n s c he n l ieb e. – Jeder, welcher sich dafür erklärt hat, dass der Andere ein Dummkopf, ein schlechter Geselle sei, ärgert sich, wenn Jener schliesslich zeigt, dass er es nicht ist. 91. Mor a l it é l a r moya nt e. – Wie viel Vergnügen macht die Moralität ! Man denke nur, was für ein Meer angenehmer Thränen schon bei Erzählungen edler, grossmüthiger Handlungen geflossen ist ! – Dieser Reiz des Lebens würde schwinden, wenn der Glaube an die völlige Unverantwortlichkeit überhand nähme. 92. Ur s pr u n g d e r G e r ec ht i g k e it . – Die Gerechtigkeit (Billigkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr g le ic h M äc h t i g e n , wie diess Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten) | richtig begriffen hat ; wo es keine deutlich erkennbare Uebergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen, gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke, sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln : der Charakter des Tau s c he s ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern zufrieden, indem Jeder bekennt, was er mehr schätzt als der Andere. Man giebt Jedem, was er haben

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will als das nunmehr Seinige, und empfängt dagegen das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Vergeltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung : so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit. – Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunct einer einsichtigen Selbsterhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Ueberlegung : „wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen ?“ – Soviel vom Ur s p r u n g der Gerechtigkeit. Dadurch, dass die Menschen, ihrer intellectuellen Gewohnheit gemäss, den ursprünglichen Zweck sogenannter gerechter, billiger Handlungen ve r g e s s e n haben und namentlich weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt worden sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen, ist allmählich der Anschein entstanden, als sei eine gerechte Handlung eine unegoistische : auf diesem Anschein aber beruht die hohe Schätzung derselben, welche überdiess, wie alle Schätzungen, fortwährend noch im Wachsen ist : denn etwas Hochgeschätztes wird mit Aufopferung erstrebt, nachgeahmt, vervielfältigt und wächst dadurch, dass der Werth der aufgewandten Mühe und Beeiferung von jedem Einzelnen noch zum Werthe des geschätzten Dinges hinzugeschlagen wird. – Wie wenig moralisch sähe die Welt ohne die Vergesslichkeit aus ! | Ein Dichter könnte sagen, dass Gott die Vergesslichkeit als Thürhüterin an die Tempelschwelle der Menschenwürde hingelagert habe. 93. Vom Rec hte des Sc hwäc heren. – Wenn sich Jemand unter Bedingungen einem Mächtigeren unterwirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die Gegenbedingung die, dass man sich vernichten, die Stadt verbrennen und so dem Mächtigen eine grosse Einbusse machen kann. Desshalb entsteht hier eine Art G le ic h s t e l lu n g , auf Grund welcher Rechte fest-

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gesetzt werden können. Der Feind hat seinen Vortheil an der Erhaltung. – Insofern giebt es auch Rechte zwischen Sclaven und Herren, das heisst genau in dem Maasse, in welchem der Besitz des Sclaven seinem Herrn nützlich und wichtig ist. Das R e c ht geht ursprünglich s o we it , als Einer dem Andern werthvoll, wesentlich, unverlierbar, unbesiegbar und dergleichen e r s c he i nt . In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch Rechte, aber geringere. Daher das berühmte unusquisque tantum juris habet, quantum potentia valet (oder genauer : quantum potentia valere creditur). 94. Die d rei Phasen der bi sher igen Mora l ität. – Es ist das erste Zeichen, dass das Thier Mensch geworden ist, wenn sein Handeln nicht mehr auf das augenblickliche Wohlbefi nden, sondern auf das dauernde sich bezieht, dass der Mensch also nüt z l ic h , z we c k m ä s s i g wird : da bricht zuerst die freie Herrschaft der Vernunft heraus. Eine noch höhere Stufe ist erreicht, wenn er nach dem Princip der E h r e handelt ; vermöge desselben ordnet er sich ein, unterwirft sich gemeinsamen Empfi ndungen und | das erhebt ihn hoch über die Phase, in der nur die persönlich verstandene Nützlichkeit ihn leitete : er achtet und will geachtet werden, das heisst : er begreift den Nutzen als abhängig von dem, was er über Andere, was Andere über ihn meinen. Endlich handelt er, auf der höchsten Stufe der b i s he r i g e n Moralität nach s e i ne m Maassstab über die Dinge und Menschen, er selber bestimmt für sich und Andere, was ehrenvoll, was nützlich ist ; er ist zum Gesetzgeber der Meinungen geworden, gemäss dem immer höher entwikkelten Begriff des Nützlichen und Ehrenhaften. Die Erkenntniss befähigt ihn, das Nützlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen dem persönlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder Geltung der momentanen voranzustellen ; er lebt und handelt als Collectiv-Individuum.

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95. Mo r a l d e s r e i f e n I n d i v i d u u m s . – Man hat bisher als das eigentliche Kennzeichen der moralischen Handlung das Unpersönliche angesehen ; und es ist nachgewiesen, dass zu Anfang die Rücksicht auf den allgemeinen Nutzen es war, derentwegen man alle unpersönlichen Handlungen lobte und auszeichnete. Sollte nicht eine bedeutende Umwandelung dieser Ansichten bevorstehen, jetzt wo immer besser eingesehen wird, dass gerade in der möglichst p e r s ö n l ic he n Rücksicht auch der Nutzen für das Allgemeine am grössten ist : so dass gerade das streng persönliche Handeln dem jetzigen Begriff der Moralität (als einer allgemeinen Nützlichkeit) entspricht ? Aus sich eine ganze Pe r s o n machen und in Allem, was man thut, deren hö c h s t e s Woh l in’s Auge zu fassen – das bringt weiter, als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten Anderer. Wir Alle leiden freilich noch immer | an der allzugeringen Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht ausgebildet, – gestehen wir es uns ein : man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem Staate, der Wissenschaft, dem Hülfebedürftigen zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das geopfert werden müsste. Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten, aber nur so weit, als wir unsern eigenen höchsten Vortheil in dieser Arbeit fi nden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als s e i ne n Vor t he i l versteht ; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen. 96. Sit t e u nd s it t l ic h . – Moralisch, sittlich, ethisch sein heisst Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz oder Herkommen haben. Ob man mit Mühe oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei gleichgültig, genug, dass man es thut. „Gut“ nennt man Den, welcher wie von Natur, nach langer Vererbung,

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also leicht und gern das Sittliche thut, je nachdem diess ist (zum Beispiel Rache übt, wem Rache-üben, wie bei den älteren Griechen, zur guten Sitte gehört). Er wird gut genannt, weil er „wozu“ gut ist ; da aber Wohlwollen, Mitleiden und dergleichen in dem Wechsel der Sitten immer als „gut wozu“, als nützlich empfunden wurde, so nennt man jetzt vornehmlich den Wohlwollenden, Hülfreichen „gut“. Böse ist „nicht sittlich“ (unsittlich) sein, Unsitte üben, dem Herkommen widerstreben, wie vernünftig oder dumm dasselbe auch sei ; das Schädigen des Nächsten ist aber in allen den Sittengesetzen der verschiedenen Zeiten vornehmlich als schädlich empfunden worden, so dass wir jetzt namentlich bei dem Wort „böse“ an die freiwillige Schä|digung des Nächsten denken. Nicht das „Egoistische“ und das „Unegoistische“ ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von sittlich und unsittlich, gut und böse gebracht hat, sondern : Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung davon. Wie das Herkommen e nt s t a nd e n ist, das ist dabei gleichgültig, jedenfalls ohne Rücksicht auf gut und böse oder irgend einen immanenten kategorischen Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung einer G e me i nd e, eines Volkes ; jeder abergläubische Brauch, der auf Grund eines falsch gedeuteten Zufalls entstanden ist, erzwingt ein Herkommen, welchem zu folgen sittlich ist ; sich von ihm lösen ist nämlich gefährlich, für die G e me i n s c h a f t noch mehr schädlich als für den Einzelnen (weil die Gottheit den Frevel und jede Verletzung ihrer Vorrechte an der Gemeinde und nur insofern auch am Individuum straft). Nun wird jedes Herkommen fortwährend ehrwürdiger, je weiter der Ursprung abliegt, je mehr dieser vergessen ist ; die ihm gezollte Verehrung häuft sich von Generation zu Generation auf, das Herkommen wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht ; und so ist jedenfalls die Moral der Pietät eine viel ältere Moral, als die, welche unegoistische Handlungen verlangt.

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97. D ie Lu s t i n d e r Sit t e. – Eine wichtige Gattung der Lust und damit der Quelle der Moralität entsteht aus der Gewohnheit. Man thut das Gewohnte leichter, besser, also lieber, man empfi ndet dabei eine Lust, und weiss aus der Erfahrung, dass das Gewohnte sich bewährt hat, also nützlich ist ; eine Sitte, mit der sich leben lässt, ist als heilsam, förderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch nicht bewährten Versuchen. Die Sitte ist demnach | die Vereinigung des Angenehmen und des Nützlichen, überdiess macht sie kein Nachdenken nöthig. Sobald der Mensch Zwang ausüben kann, übt er ihn aus, um seine Sit t e n durchzusetzen und einzuführen, denn für ihn sind sie die bewährte Lebensweisheit. Ebenso zwingt eine Gemeinschaft von Individuen jedes einzelne zur selben Sitte. Hier ist der Fehlschluss : weil man sich mit einer Sitte wohl fühlt oder wenigstens weil man vermittelst derselben seine Existenz durchsetzt, so ist diese Sitte nothwendig, denn sie gilt als die e i n z i g e Möglichkeit, unter der man sich wohl fühlen kann ; das Wohlgefühl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzuwachsen. Diese Auffassung des Gewohnten als einer Bedingung des Daseins wird bis auf die kleinsten Einzelheiten der Sitte durchgeführt : da die Einsicht in die wirkliche Causalität bei den niedrig stehenden Völkern und Culturen sehr gering ist, so sieht man mit abergläubischer Furcht darauf, dass Alles seinen gleichen Gang gehe ; selbst wo die Sitte schwer, hart, lästig ist, wird sie ihrer scheinbar höchsten Nützlichkeit wegen bewahrt. Man weiss nicht, dass der selbe Grad von Wohlbefi nden auch bei anderen Sitten bestehen kann und dass selbst höhere Grade sich erreichen lassen. Wohl aber nimmt man wahr, dass alle Sitten, auch die härtesten, mit der Zeit angenehmer und milder werden und dass auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und damit zur Lust werden kann.

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98. Lust u nd soc ia ler I n st i nct. – Aus seinen Beziehungen zu andern Menschen gewinnt der Mensch eine neue Gattung von Lu s t zu jenen Lustempfi ndungen hinzu, welche er aus sich selber nimmt ; wodurch er das Reich der Lustempfi ndung überhaupt bedeutend umfänglicher macht. Vielleicht hat er mancherlei, das hieher gehört, | schon von den Thieren her überkommen, welche ersichtlich Lust empfi nden, wenn sie mit einander spielen, namentlich die Mütter mit den Jungen. Sodann gedenke man der geschlechtlichen Beziehungen, welche jedem Männchen ungefähr jedes Weibchen interessant in Ansehung der Lust erscheinen lassen, und umgekehrt. Die Lustempfi ndung auf Grund menschlicher Beziehungen macht im Allgemeinen den Menschen besser ; die gemeinsame Freude, die Lust mitsammen genossen, erhöht dieselbe, sie giebt dem Einzelnen Sicherheit, macht ihn gutmüthiger, löst das Misstrauen, den Neid : denn man fühlt sich selber wohl und sieht den Andern in gleicher Weise sich wohl fühlen. Die g leic ha r t igen Aeu s ser u ngen der Lu st erwecken die Phantasie der Mitempfi ndung, das Gefühl etwas Gleiches zu sein : das Selbe thun auch die gemeinsamen Leiden, die selben Unwetter, Gefahren, Feinde. Darauf baut sich dann wohl das älteste Bündniss auf : dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und Abwehr einer drohenden Unlust zum Nutzen jedes Einzelnen ist. Und so wächst der sociale Instinct aus der Lust heraus. 99. D a s Un s c hu ld i g e a n d e n s og e n a n nt e n b ö s e n H a ndlu n g e n . – Alle „bösen“ Handlungen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeidung der Unlust des Individuums ; als solchermaassen motivirt, aber nicht böse. „Schmerz bereiten an sich“ e x i s t i r t n ic ht , ausser im Gehirn der Philosophie, ebensowenig „Lust bereiten an sich“ (Mitleid im Schopen-

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hauerischen Sinne). In dem Zustand vor dem Staate tödten wir das Wesen, sei es Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen : wie wir es noch jetzt bei Wan|derungen in unwirthliche Gegenden mit dem Thiere thun würden. – Die bösen Handlungen, welche uns jetzt am meisten empören, beruhen auf dem Irrthume, dass der Andere, welcher sie uns zufügt, freien Willen habe, also dass es in seinem B e l ieb e n gelegen habe, uns diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das Belieben erregt den Hass, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung der Phantasie, während wir einem Thiere viel weniger zürnen, weil wir diess als unverantwortlich betrachten. Leid thun nicht aus Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung – ist Folge eines falschen Urtheils und desshalb ebenfalls unschuldig. Der Einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staate liegt, zur A b s c h r ec k u n g andere Wesen hart und grausam behandeln : um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der Gewaltthätige, Mächtige, der ursprüngliche Staatengründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt ; oder vielmehr : es giebt kein Recht, welches diess hindern kann. Es kann erst dann der Boden für alle Moralität zurecht gemacht werden, wenn ein grösseres Individuum oder ein Collectiv-Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft, der Staat, die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Zw a n g voraus, ja sie selber ist noch eine Zeit lang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instinct : dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft – und heisst nun Tu g e nd .

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100. S c h a m . – Die Scham existirt überall, wo es ein | „Mysterium“ giebt ; diess aber ist ein religiöser Begriff, welcher in der älteren Zeit der menschlichen Cultur einen grossen Umfang hatte. Ueberall gab es umgränzte Gebiete, zu welchen das göttliche Recht den Zutritt versagte, ausser unter bestimmten Bedingungen : zu allererst ganz räumlich, insofern gewisse Stätten vom Fusse der Uneingeweihten nicht zu betreten waren und in deren Nähe Diese Schauder und Angst empfanden. Diess Gefühl wurde vielfach auf andere Verhältnisse übertragen, zum Beispiel auf die geschlechtlichen Verhältnisse, welche als ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den Blikken der Jugend, zu deren Vortheil, entzogen werden sollten : Verhältnisse, zu deren Schutz und Heilighaltung viele Götter thätig und im ehelichen Gemache als Wächter aufgestellt gedacht wurden. (Im Türkischen heisst desshalb diess Gemach Harem „Heiligthum“, wird also mit demselben Worte bezeichnet, welches für die Vorhöfe der Moscheen üblich ist.) So ist das Königthum als ein Centrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt, dem Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und Scham : wovon viele Nachwirkungen noch jetzt, unter Völkern, die sonst keineswegs zu den verschämten gehören, zu fühlen sind. Ebenso ist die ganze Welt innerer Zustände, die sogenannte „Seele“, auch jetzt noch für alle Nicht-Philosophen ein Mysterium, nachdem diese, endlose Zeit hindurch, als göttlichen Ursprungs, als göttlichen Verkehrs würdig geglaubt wurde : sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham. 101. R ic ht et n ic ht . – Man muss sich hüten, bei der Betrachtung früherer Perioden nicht in ein ungerechtes Schimpfen zu gerathen. Die Ungerechtigkeit in der Sclaverei, die Grausamkeit in der Unterwerfung von Personen und Völkern ist nicht mit unserem Maasse zu messen. | Denn damals war der Instinct

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der Gerechtigkeit noch nicht so weit gebildet. Wer darf dem Genfer Calvin die Verbrennung des Arztes Servet vorwerfen ? Es war eine consequente aus seinen Ueberzeugungen fl iessende Handlung, und ebenso hatte die Inquisition ein gutes Recht ; nur waren die herrschenden Ansichten falsch und ergaben eine Consequenz, welche uns hart erscheint, weil uns jene Ansichten fremd geworden sind. Was ist übrigens Verbrennen eines Einzelnen im Vergleich mit ewigen Höllenstrafen für fast Alle ! Und doch beherrschte diese Vorstellung damals alle Welt, ohne mit ihrer viel grösseren Schrecklichkeit der Vorstellung von einem Gotte wesentlich Schaden zu thun. Auch bei uns werden politische Sectirer hart und grausam behandelt, aber weil man an die Nothwendigkeit des Staates zu glauben gelernt hat, so empfi ndet man hier die Grausamkeit nicht so sehr wie dort, wo wir die Anschauungen verwerfen. Die Grausamkeit gegen Thiere bei Kindern und Italiänern geht auf Unverständniss zurück ; das Thier ist namentlich durch die Interessen der kirchlichen Lehre zu weit hinter den Menschen zurückgesetzt worden. – Auch mildert sich vieles Schreckliche und Unmenschliche in der Geschichte, an welches man kaum glauben möchte, durch die Betrachtung, dass der Befehlende und der Ausführende andere Personen sind : ersterer hat den Anblick nicht und daher nicht den starken Phantasie-Eindruck, letzterer gehorcht einem Vorgesetzten und fühlt sich unverantwortlich. Die meisten Fürsten und Militärchefs erscheinen, aus Mangel an Phantasie, leicht grausam und hart, ohne es zu sein. – D e r E g oi s mu s i s t n ic ht b ö s e, weil die Vorstellung vom „Nächsten“ – das Wort ist christlichen Ursprungs und entspricht der Wahrheit nicht – in uns sehr schwach ist ; und wir uns gegen ihn beinahe wie gegen Pflanze und Stein frei und unverantwortlich | fühlen. Dass der Andere leidet, ist zu le r ne n : und völlig kann es nie gelernt werden.

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102. „Der Men sc h ha ndelt i m mer g ut.“ – Wir klagen die Natur nicht als unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass macht : warum nennen wir den schädigenden Menschen unmoralisch ? Weil wir hier einen willkürlich waltenden, freien Willen, dort Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unterscheidung ist ein Irrthum. Sodann : selbst das absichtliche Schädigen nennen wir nicht unter allen Umständen unmoralisch ; man tödtet z. B. eine Mücke unbedenklich mit Absicht, blos weil uns ihr Singen missfällt, man straft den Verbrecher absichtlich und thut ihm Leid an, um uns und die Gesellschaft zu schützen. Im ersten Falle ist es das Individuum, welches, um sich zu erhalten oder selbst um sich keine Unlust zu machen, absichtlich Leid thut ; im zweiten der Staat. Alle Moral lässt absichtliches Schadenthun gelten bei Not hwe h r : das heisst wenn es sich um die S e l b s t e r h a lt u n g handelt ! Aber diese beiden Gesichtspuncte g e nü g e n , um alle bösen Handlungen gegen Menschen, von Menschen ausgeübt, zu erklären : man will für sich Lust oder will Unlust abwehren ; in irgend einem Sinne handelt es sich immer um Selbsterhaltung. Sokrates und Plato haben Recht : was auch der Mensch thue, er thut immer das Gute, das heisst : Das, was ihm gut (nützlich) scheint, je nach dem Grade seines Intellectes, dem jedesmaligen Maasse seiner Vernünftigkeit. 103. D a s H a r m lo s e a n d e r B o s he it . – Die Bosheit hat nicht das Leid des Andern an sich zum Ziele, sondern unsern eigenen Genuss, zum Beispiel als Rachegefühl | oder als stärkere Nervenaufregung. Schon jede Neckerei zeigt, wie es Vergnügen macht, am Andern unsere Macht auszulassen und es zum lustvollen Gefühle des Uebergewichts zu bringen. Ist nun das Un mor a l i s c he daran, Lu s t au f Gr u nd d e r Un lu s t A nd er er zu haben ? Ist Schadenfreude teuflisch, wie Schopen-

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hauer sagt ? Nun machen wir uns in der Natur Lust durch Zerbrechen von Zweigen, Ablösen von Steinen, Kampf mit wilden Thieren und zwar, um unserer Kraft dabei bewusst zu werden. Das W i s s e n darum, dass ein Anderer durch uns leidet, soll also hier die selbe Sache, in Bezug auf welche wir uns sonst unverantwortlich fühlen, unmoralisch machen ? Aber wüsste man diess nicht, so hätte man die Lust an seiner eigenen Ueberlegenheit auch nicht dabei, diese kann eben sich nur im Leide des Anderen z u e r k e n ne n g eb e n , zum Beispiel bei der Neckerei. Alle Lust an sich selber ist weder gut noch böse ; woher sollte die Bestimmung kommen, dass man, um Lust an sich selber zu haben, keine Unlust Anderer erregen dürfe ? Allein vom Gesichtspuncte des Nutzens her, das heisst aus Rücksicht auf die Fol g e n , auf eventuelle Unlust, wenn der Geschädigte oder der stellvertretende Staat Ahndung und Rache erwarten lässt : nur Diess kann ursprünglich den Grund abgegeben haben, solche Handlungen sich zu versagen. – Das Mitleid hat ebensowenig die Lust des Andern zum Ziele, als, wie gesagt, die Bosheit den Schmerz des Andern an sich. Denn es birgt mindestens zwei (vielleicht viel mehr) Elemente einer persönlichen Lust in sich und ist dergestalt Selbstgenuss : einmal als Lust der Emotion, welcher Art das Mitleid in der Tragödie ist, und dann, wenn es zur That treibt, als Lust der Befriedigung in der Ausübung der Macht. Steht uns überdiess eine leidende Person sehr nahe, so nehmen | wir durch Ausübung mitleidvoller Handlungen uns selbst ein Leid ab. – Abgesehen von einigen Philosophen, so haben die Menschen das Mitleid, in der Rangfolge moralischer Empfi ndungen, immer ziemlich tief gestellt : mit Recht. 104. Not hwe h r. – Wenn man überhaupt die Nothwehr als moralisch gelten lässt, so muss man fast alle Aeusserungen des sogenannten unmoralischen Egoismus’ auch gelten lassen : man

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thut Leid an, raubt oder tödtet, um sich zu erhalten oder um sich zu schützen, dem persönlichen Unheil vorzubeugen ; man lügt, wo List und Verstellung das richtige Mittel der Selbsterhaltung sind. A b s ic ht l ic h s c h ä d i g e n , wenn es sich um unsere Existenz oder Sicherheit (Erhaltung unseres Wohlbefi ndens) handelt, wird als moralisch concedirt ; der Staat schädigt selber unter diesem Gesichtspunct, wenn er Strafen verhängt. Im unabsichtlichen Schädigen kann natürlich das Unmoralische nicht liegen, da regiert der Zufall. Giebt es denn eine Art des absichtlichen Schädigens, wo es sich n ic ht um unsere Existenz, um die Erhaltung unseres Wohlbefi ndens handelt ? Giebt es ein Schädigen aus reiner B o s he it , zum Beispiel bei der Grausamkeit ? Wenn man nicht weiss, wie weh eine Handlung thut, so ist sie keine Handlung der Bosheit ; so ist das Kind gegen das Thier nicht boshaft, nicht böse : es untersucht und zerstört dasselbe wie sein Spielzeug. We i s s man aber je völlig, wie weh eine Handlung einem Andern thut ? So weit unser Nervensystem reicht, hüten wir uns vor Schmerz : reichte es weiter, nämlich bis in die Mitmenschen hinein, so würden wir Niemandem ein Leides thun (ausser in solchen Fällen, wo wir es uns selbst thun, also wo wir uns der Heilung halber schneiden, der Gesundheit halber uns mühen und anstrengen). Wir | s c h l ie s s e n aus Analogie, dass Etwas Jemandem weh thut, und durch die Erinnerung und die Stärke der Phantasie kann es uns dabei selber übel werden. Aber welcher Unterschied bleibt immer zwischen dem Zahnschmerz und dem Schmerze (Mitleiden), welchen der Anblick des Zahnschmerzes hervorruft ? Also : bei dem Schädigen aus sogenannter Bosheit ist der Gr a d des erzeugten Schmerzes uns jedenfalls unbekannt ; insofern aber eine L u s t bei der Handlung ist (Gefühl der eignen Macht, der eignen starken Erregung), geschieht die Handlung, um das Wohlbefi nden des Individuums zu erhalten, und fällt somit unter einen ähnlichen Gesichtspunct wie die Nothwehr, die Nothlüge. Ohne

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Lust kein Leben ; der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben. Ob der Einzelne diesen Kampf so kämpft, dass die Menschen ihn g ut , oder so, dass sie ihn b ö s e nennen, darüber entscheidet das Maass und die Beschaffen heit seines Intellects. 105. D ie b e loh ne nd e G e r e c ht i g k e it . – Wer vollständig die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte strafende und belohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff der Gerechtigkeit unterbringen : falls diese darin besteht, dass man Jedem das Seine giebt. Denn Der, welcher gestraft wird, verdient die Strafe nicht : er wird nur als Mittel benutzt, um fürderhin von gewissen Handlungen abzuschrecken ; ebenso verdient Der, welchen man belohnt, diesen Lohn nicht : er konnte ja nicht anders handeln, als er gehandelt hat. Also hat der Lohn nur den Sinn einer Aufmunterung für ihn und Andere, um also zu späteren Handlungen ein Motiv abzugeben ; das Lob wird dem Laufenden in der Rennbahn zugerufen, nicht Dem, | welcher am Ziele ist. Weder Strafe noch Lohn sind Etwas, das Einem als das S e i ne zukommt ; sie werden ihm aus Nützlichkeitsgründen gegeben, ohne dass er mit Gerechtigkeit Anspruch auf sie zu erheben hätte. Man muss ebenso sagen „der Weise belohnt nicht, weil gut gehandelt worden ist“, als man gesagt hat „der Weise straft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist, sondern damit nicht schlecht gehandelt werde“. Wenn Strafe und Lohn fortfielen, so fielen die kräftigsten Motive, welche von gewissen Handlungen weg, zu gewissen Handlungen hin treiben, fort ; der Nutzen der Menschen erheischt ihre Fortdauer ; und insofern Strafe und Lohn, Tadel und Lob am empfi ndlichsten auf die Eitelkeit wirken, so erheischt der selbe Nutzen auch die Fortdauer der Eitelkeit.

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106. A m Wa s s e r f a l l . – Beim Anblick eines Wasserfalles meinen wir in den zahllosen Biegungen, Schlängelungen, Brechungen der Wellen Freiheit des Willens und Belieben zu sehen ; aber Alles ist nothwendig, jede Bewegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch bei den menschlichen Handlungen ; man müsste jede einzelne Handlung vorher ausrechnen können, wenn man allwissend wäre, ebenso jeden Fortschritt der Erkenntniss, jeden Irrthum, jede Bosheit. Der Handelnde selbst steckt freilich in der Illusion der Willkür ; wenn in einem Augenblick das Rad der Welt still stände und ein allwissender, rechnender Verstand da wäre, um diese Pausen zu benützen, so könnte er bis in die fernsten Zeiten die Zukunft jedes Wesens weitererzählen und jede Spur bezeichnen, auf der jenes Rad noch rollen wird. Die Täuschung des Handelnden über sich, die Annahme des freien Willens, gehört mit hinein in diesen auszurechnenden Mechanismus. | 107. Un ve r a n t wo r t l i c h k e i t u n d Un s c hu l d . – Die völlige Unverantwortlichkeit des Menschen für sein Handeln und sein Wesen ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war, in der Verantwortlichkeit und der Pfl icht den Adelsbrief seines Menschenthums zu sehen. Alle seine Schätzungen, Auszeichnungen, Abneigungen sind dadurch entwerthet und falsch geworden : sein tiefstes Gefühl, das er dem Dulder, dem Helden entgegenbrachte, hat einem Irrthume gegolten ; er darf nicht mehr loben, nicht tadeln, denn es ist ungereimt, die Natur und die Nothwendigkeit zu loben und zu tadeln. So wie er das gute Kunstwerk liebt, aber nicht lobt, weil es Nichts für sich selber kann, wie er vor der Pflanze steht, so muss er vor den Handlungen der Menschen, vor seinen eignen stehen. Er kann Kraft, Schönheit, Fülle an ihnen bewundern, aber darf keine Verdienste

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darin fi nden : der chemische Process und der Streit der Elemente, die Qual des Kranken, der nach Genesung lechzt, sind ebensowenig Verdienste, als jene Seelenkämpfe und Nothzustände, bei denen man durch verschiedene Motive hin- und hergerissen wird, bis man sich endlich für das mächtigste entscheidet – wie man sagt (in Wahrheit aber, bis das mächtigste Motiv über uns entscheidet). Alle diese Motive aber, so hohe Namen wir ihnen geben, sind aus den selben Wurzeln gewachsen, in denen wir die bösen Gifte wohnend glauben ; zwischen guten und bösen Handlungen giebt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höchstens des Grades. Gute Handlungen sind sublimirte böse ; böse Handlungen sind vergröberte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums nach Selbstgenuss (sammt der Furcht, desselben verlustig zu gehen) befriedigt sich unter allen Umständen, der | Mensch mag handeln, wie er kann, das heisst wie er muss : sei es in Thaten der Eitelkeit, Rache, Lust, Nützlichkeit, Bosheit, List, sei es in Thaten der Aufopferung, des Mitleids, der Erkenntniss. Die Grade der Urtheilsfähigkeit entscheiden, wohin Jemand sich durch diess Verlangen hinziehen lässt ; fortwährend ist jeder Gesellschaft, jedem Einzelnen eine Rangordnung der Güter gegenwärtig, wonach er seine Handlungen bestimmt und die der Anderen beurtheilt. Aber dieser Maassstab wandelt sich fortwährend, viele Handlungen werden böse genannt und sind nur dumm, weil der Grad der Intelligenz, welcher sich für sie entschied, sehr niedrig war. Ja, in einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch a l le Handlungen dumm, denn der höchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt erreicht werden kann, wird sicherlich noch überboten werden : und dann wird, bei einem Rückblick, all u n s e r Handeln und Urtheilen so beschränkt und übereilt erscheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urtheilen zurückgebliebener wilder Völkerschaften beschränkt und übereilt vorkommt. – Diess Alles einzusehen, kann tiefe Schmerzen machen, aber darnach giebt

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es einen Trost : solche Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterling will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreisst sie : da blendet und verwirrt ihn das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit f ä h i g sind – wie wenige werden es sein ! – wird der erste Versuch gemacht, ob die Menschheit aus einer mor a l i s c he n sich in eine we i s e Me n s c h he it u m wa nd e l n k ön ne. Die Sonne eines neuen Evangeliums wirft ihren ersten Strahl auf die höchsten Gipfel in der Seele jener Einzelnen : da ballen sich die Nebel dichter, als je, und neben einander lagert der hellste Schein und die trübste Dämmerung. | Alles ist Nothwendigkeit, – so sagt die neue Erkenntniss : und diese Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld : und die Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust, Egoismus, Eitelkeit not hwe n d i g zur Erzeugung der moralischen Phänomene und ihrer höchsten Blüthe, des Sinnes für Wahrheit und Gerechtigkeit der Erkenntniss, war der Irrthum und die Verirrung der Phantasie das einzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allmählich zu diesem Grade von Selbsterleuchtung und Selbsterlösung zu erheben vermochte – wer dürfte jene Mittel geringschätzen ? Wer dürfte traurig sein, wenn er das Ziel, zu dem jene Wege führen, gewahr wird ? Alles auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im Flusse, es ist wahr : – aber A l le s i s t auc h i m St r ome : nach Einem Ziele hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrthümlichen Schätzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluss der wachsenden Erkenntniss wird sie schwächer werden : eine neue Gewohnheit, die des Begreifens, Nicht-Liebens, Nicht-Hassens, Ueberschauens, pflanzt sich allmählich in uns auf dem selben Boden an und wird in Tausenden von Jahren vielleicht mächtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen, unschuldigen (unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmässig hervor-

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zubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbilligen, schuldbewussten Menschen – d a s he i s s t d ie not hwe nd i g e Vor st u fe, n ic ht den G eg en sat z von jenem – hervorbringt. |

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108. D e r dop p e lt e K a mpf g e g e n d a s Ueb e l. – Wenn uns ein Uebel triff t, so kann man entweder so über dasselbe hinwegkommen, dass man seine Ursache hebt, oder so, dass man die Wirkung, welche es auf unsere Empfi ndung macht, verändert : also durch ein Umdeuten des Uebels in ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst später ersichtlich sein wird. Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich, auf die Aenderung der Empfi ndung zu wirken, theils durch Aenderung unseres Urtheils über die Erlebnisse (zum Beispiel mit Hülfe des Satzes : „wen Gott lieb hat, den züchtigt er“), theils durch Erweckung einer Lust am Schmerz, an der Emotion überhaupt (woher die Kunst des Tragischen ihren Ausgangspunct nimmt). Je mehr Einer dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger wird er die Ursachen des Uebels in’s Auge fassen und beseitigen ; die augenblickliche Milderung und Narkotisirung, wie sie zum Beispiel bei Zahnschmerz gebräuchlich ist, genügt ihm auch in ernsteren Leiden. Je mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Uebel in’s Auge, | was freilich schlimm für die Tragödiendichter ausfällt – denn zur Tragödie fi ndet sich immer weniger Stoff, weil das Reich des unerbittlichen, unbezwinglichen Schicksals immer enger wird –, noch schlimmer aber für die Priester : denn diese lebten bisher von der Narkotisirung menschlicher Uebel.

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109. Gr a m i s t E r k e n nt n i s s . – Wie gern möchte man die falschen Behauptungen der Priester, es gebe einen Gott, der das Gute von uns verlange, Wächter und Zeuge jeder Handlung, jedes Augenblickes, jedes Gedankens sei, der uns liebe, in allem Unglück unser Bestes wolle, – wie gern möchte man diese mit Wahrheiten vertauschen, welche ebenso heilsam, beruhigend und wohlthuend wären, wie jene Irrthümer ! Doch solche Wahrheiten giebt es nicht ; die Philosophie kann ihnen höchstens wiederum metaphysische Scheinbarkeiten (im Grunde ebenfalls Unwahrheiten) entgegensetzen. Nun ist aber die Tragödie die, dass man jene Dogmen der Religion und Metaphysik nicht g l au b e n kann, wenn man die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und Kopfe hat, andererseits durch die Entwickelung der Menschheit so zart, reizbar, leidend geworden ist, um Heil- und Trostmittel der höchsten Art nöthig zu haben ; woraus also die Gefahr entsteht, dass der Mensch sich an der erkannten Wahrheit verblute. Diess drückt Byron in unsterblichen Versen aus : Sorrow is knowledge : they who know the most must mourn the deepst o’er the fatal truth, the tree of knowledge is not that of life.

Gegen solche Sorgen hilft kein Mittel besser, als den feierlichen Leichtsinn Horazens, wenigstens für die schlimmsten Stunden und Sonnenfi nsternisse der Seele, heraufzubeschwören und mit ihm zu sich selber zu sagen : | quid aeternis minorem consiliis animum fatigas ? cur non sub alta vel platano vel hac pinu jacentes –

Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermuth jeden Grades besser, als eine romantische Rückkehr und Fahnenflucht, eine

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Annäherung an das Christenthum in irgend einer Form : denn mit ihm kann man sich, nach dem gegenwärtigen Stande der Erkenntniss, schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein i n t e l l e c t u a l e s G e w i s s e n heillos zu beschmutzen und vor sich und Anderen preiszugeben. Jene Schmerzen mögen peinlich genug sein : aber man kann ohne Schmerzen nicht zu einem Führer und Erzieher der Menschheit werden ; und wehe Dem, welcher diess versuchen möchte und jenes reine Gewissen nicht mehr hätte ! 110. D ie Wa h r he it i n d e r R e l i g io n . – In der Periode der Aufklärung war man der Bedeutung der Religion nicht gerecht geworden, daran ist nicht zu zweifeln : aber ebenso steht fest, dass man, in dem darauffolgenden Widerspiel der Aufklärung, wiederum um ein gutes Stück über die Gerechtigkeit hinausgieng, indem man die Religionen mit Liebe, selbst mit Verliebtheit behandelte und ihnen zum Beispiel ein tieferes, ja das allertiefste Verständniss der Welt zuerkannte ; welches die Wissenschaft des dogmatischen Gewandes zu entkleiden habe, um dann in unmythischer Form die „Wahrheit“ zu besitzen. Religionen sollen also – diess war die Behauptung aller Gegner der Aufklärung – sensu allegorico, mit Rücksicht auf das Verstehen der Menge, jene uralte Weisheit aussprechen, welche die Weisheit an sich sei, insofern alle wahre Wissenschaft der neueren Zeit immer zu ihr hin, | anstatt von ihr weg, geführt habe : so dass zwischen den ältesten Weisen der Menschheit und allen späteren Harmonie, ja Gleichheit der Einsichten walte und ein Fortschritt der Erkenntnisse – falls man von einem solchen reden wolle – sich nicht auf das Wesen, sondern die Mittheilung desselben beziehe. Diese ganze Auffassung von Religion und Wissenschaft ist durch und durch irrthümlich ; und Niemand würde jetzt noch zu ihr sich zu bekennen wagen, wenn nicht Schopenhauer’s Beredtsamkeit sie

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in Schutz genommen hätte : diese laut tönende und doch erst nach einem Menschenalter ihre Hörer erreichende Beredtsamkeit. So gewiss man aus Schopenhauer’s religiös-moralischer Menschen- und Weltdeutung sehr viel für das Verständniss des Christenthums und anderer Religionen gewinnen kann, so gewiss ist es auch, dass er über den Wer t h der Re l i g ion f ü r d ie Erk en nt n i s s sich geirrt hat. Er selbst war darin ein nur zu folgsamer Schüler der wissenschaftlichen Lehrer seiner Zeit, welche allesammt der Romantik huldigten und dem Geiste der Aufklärung abgeschworen hatten ; in unsere jetzige Zeit hineingeboren, würde er unmöglich vom sensus allegoricus der Religion haben reden können ; er würde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte, mit den Worten : noc h n ie h at ei ne Re l i g ion , weder m ittelba r, noc h u n m it telba r, weder a l s Dog ma, noc h a l s Gle ic h n i s s, e i ne Wa h rhe it e nt h a lt e n . Denn aus der Angst und dem Bedürfniss ist eine jede geboren, auf Irrgängen der Vernunft hat sie sich in’s Dasein geschlichen ; sie hat vielleicht einmal, im Zustande der Gefährdung durch die Wissenschaft, irgend eine philosophische Lehre in ihr System hineingelogen, damit man sie später darin vorfi nde : aber diess ist ein Theologenkunststück, aus der Zeit, in welcher eine Religion schon an | sich selber zweifelt. Diese Kunststücke der Theologie, welche freilich im Christenthum, als der Religion eines gelehrten, mit Philosophie durchtränkten Zeitalters, sehr früh schon geübt wurden, haben auf jenen Aberglauben vom sensus allegoricus hingeleitet, noch mehr aber die Gewohnheit der Philosophen (namentlich der Halbwesen, der dichterischen Philosophen und der philosophirenden Künstler), alle die Empfi ndungen, welche sie in s ic h vorfanden, als Grundwesen des Menschen überhaupt zu behandeln und somit auch ihren eigenen religiösen Empfi ndungen einen bedeutenden Einfluss auf den Gedankenbau ihrer Systeme zu gestatten. Weil die Philosophen vielfach unter dem Herkom-

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men religiöser Gewohnheiten, oder mindestens unter der altvererbten Macht jenes „metaphysischen Bedürfnisses“ philosophirten, so gelangten sie zu Lehrmeinungen, welche in der That den jüdischen oder christlichen oder indischen Religionsmeinungen sehr ähnlich sahen, – ähnlich nämlich, wie Kinder den Müttern zu sehen pflegen, nur dass in diesem Falle die Väter sich nicht über jene Mutterschaft klar waren, wie diess wohl vorkommt, – sondern in der Unschuld ihrer Verwunderung von einer Familien-Aehnlichkeit aller Religion und Wissenschaft fabelten. In der That besteht zwischen der Religion und der wirklichen Wissenschaft nicht Verwandtschaft, noch Freundschaft, noch selbst Feindschaft : sie leben auf verschiedenen Sternen. – Jede Philosophie, welche einen religiösen Kometenschweif in die Dunkelheit ihrer letzten Aussichten hinaus erglänzen lässt, macht Alles an sich verdächtig, was sie als Wissenschaft vorträgt : es ist diess Alles vermuthlich ebenfalls Religion, wenngleich unter dem Aufputz der Wissenschaft. – Uebrigens : wenn alle Völker über gewisse religiöse Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, übereinstimmten (was, | beiläufig gesagt, in Betreff dieses Punctes nicht der Fall ist), so würde diess doch eben nur ein G e g e n a r g u me nt gegen jene behaupteten Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, sein : der consensus gentium und überhaupt hominum kann billigerweise nur einer Narrheit gelten. Dagegen giebt es einen consensus omnium sapientium gar nicht, in Bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der Goethe’sche Vers spricht : Alle die Weisesten aller der Zeiten lächeln und winken und stimmen mit ein : Thöricht, auf Bess’rung der Thoren zu harren ! Kinder der Klugheit, o habet die Narren eben zum Narren auch, wie sich’s gehört !

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Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet : der consensus sapientium besteht darin, dass der consensus gentium einer Narrheit gilt. 111. Ur s p r u n g d e s r e l i g i ö s e n C u l t u s ’. – Versetzen wir uns in die Zeiten zurück, in welchen das religiöse Leben am kräftigsten auf blühte, so fi nden wir eine Grundüberzeugung vor, welche wir jetzt nicht mehr theilen und derentwegen wir ein für alle Mal die Thore zum religiösen Leben uns verschlossen sehen : sie betriff t die Natur und den Verkehr mit ihr. Man weiss in jenen Zeiten noch Nichts von Naturgesetzen ; weder für die Erde noch für den Himmel giebt es ein Müssen ; eine Jahreszeit, der Sonnenschein, der Regen kann kommen oder auch ausbleiben. Es fehlt überhaupt jeder Begriff der n at ü rl ic he n Causalität. Wenn man rudert, ist es nicht das Rudern, was das Schiff bewegt, sondern Rudern ist nur eine magische Ceremonie, durch welche man einen Dämon | zwingt, das Schiff zu bewegen. Alle Erkrankungen, der Tod selbst ist Resultat magischer Einwirkungen. Es geht bei Krankwerden und Sterben nie natürlich zu ; die ganze Vorstellung vom „natürlichen Hergang“ fehlt, – sie dämmert erst bei den älteren Griechen, das heisst in einer sehr späten Phase der Menschheit, in der Conception der über den Göttern thronenden Moira. Wenn Einer mit dem Bogen schiesst, so ist immer noch eine irrationelle Hand und Kraft dabei ; versiegen plötzlich die Quellen, so denkt man zuerst an unterirdische Dämonen und deren Tücken ; der Pfeil eines Gottes muss es sein, unter dessen unsichtbarer Wirkung ein Mensch auf einmal niedersinkt. In Indien pflegt (nach Lubbock) ein Tischler seinem Hammer, seinem Beil und den übrigen Werkzeugen Opfer darzubringen ; ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt, ein Soldat die Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle, ein Arbeiter seinen Pflug in gleicher

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Weise. Die ganze Natur ist in der Vorstellung religiöser Menschen eine Summe von Handlungen bewusster und wollender Wesen, ein ungeheurer Complex von W i l l k ü rl ic h k e it e n . Es ist in Bezug auf Alles, was ausser uns ist, kein Schluss gestattet, dass irgend Etwas so und so sein we r d e, so und so kommen mü s s e ; das ungefähr Sichere, Berechenbare sind w i r : der Mensch ist die R e g e l , die Natur die R e g e l lo s i g k e it , – dieser Satz enthält die Grundüberzeugung, welche rohe, religiös productive Urculturen beherrscht. Wir jetzigen Menschen empfi nden gerade völlig umgekehrt : je reicher jetzt der Mensch sich innerlich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, um so gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur ; wir Alle erkennen mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung für die moderne Seele, wir hören den Pendelschlag | der grössten Uhr mit einer Sehnsucht nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unser selbst erst kommen könnten. Ehemals war es umgekehrt : denken wir an rohe, frühe Zustände von Völkern zurück oder sehen wir die jetzigen Wilden in der Nähe, so fi nden wir sie auf das stärkste durch das G e s et z , das Herk om me n bestimmt : das Individuum ist fast automatisch an dasselbe gebunden und bewegt sich mit der Gleichförmigkeit eines Pendels. Ihm muss die Natur – die unbegriffene, schreck liche, geheimnissvolle Natur – als das R e ic h d e r Fr e i he it , der Willkür, der höheren Macht erscheinen, ja gleichsam als eine übermenschliche Stufe des Daseins, als Gott. Nun aber fühlt jeder Einzelne solcher Zeiten und Zustände, wie von jenen Willkürlichkeiten der Natur seine Existenz, sein Glück, das der Familie, des Staates, das Gelingen aller Unternehmungen abhängen : einige Naturvorgänge müssen zur rechten Zeit eintreten, andere zur rechten Zeit ausbleiben. Wie kann man einen Einfluss auf diese furchtbaren Unbekannten ausüben, wie kann man das Reich der Freiheit binden ? so fragt er sich, so forscht

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er ängstlich : giebt es denn keine Mittel, jene Mächte ebenso durch ein Herkommen und Gesetz regelmässig zu machen, wie du selber regelmässig bist ? – Das Nachdenken der magieund wundergläubigen Menschen geht dahin, d e r Nat u r e i n G e s et z au f z u le g e n – : und kurz gesagt, der religiöse Cultus ist das Ergebniss dieses Nachdenkens. Das Problem, welches jene Menschen sich vorlegen, ist auf das engste verwandt mit diesem : wie kann der s c hw ä c h e r e Stamm dem s t ä r k e r e n doch Gesetze dictiren, ihn bestimmen, seine Handlungen (im Verhalten zum schwächeren) leiten ? Man wird zuerst sich der harmlosesten Art eines Zwanges erinnern, jenes Zwanges, | den man ausübt, wenn man Jemandes N e i g u n g erworben hat. Durch Flehen und Gebete, durch Unterwerfung, durch die Verpfl ichtung zu regelmässigen Abgaben und Geschenken, durch schmeichelhafte Verherrlichungen ist es also auch möglich, auf die Mächte der Natur einen Zwang auszuüben, insofern man sie sich geneigt macht : Liebe bindet und wird gebunden. Dann kann man Ve r t r ä g e schliessen, wobei man sich zu bestimmtem Verhalten gegenseitig verpfl ichtet, Pfänder stellt und Schwüre wechselt. Aber viel wichtiger ist eine Gattung gewaltsameren Zwanges, durch Magie und Zauberei. Wie der Mensch mit Hülfe des Zauberers einem stärkeren Feind doch zu schaden weiss und ihn vor sich in Angst erhält, wie der Liebeszauber in die Ferne wirkt, so glaubt der schwächere Mensch auch die mächtigeren Geister der Natur bestimmen zu können. Das Hauptmittel aller Zauberei ist, dass man Etwas in Gewalt bekommt, das Jemandem zu eigen ist, Haare, Nägel, etwas Speise von seinem Tisch, ja selbst sein Bild, seinen Namen. Mit solchem Apparate kann man dann zaubern ; denn die Grundvoraussetzung lautet : zu allem Geistigen gehört etwas Körperliches ; mit dessen Hülfe vermag man den Geist zu binden, zu schädigen, zu vernichten ; das Körperliche giebt die Handhabe ab, mit der man das Geistige fassen kann. So wie nun der Mensch den Menschen bestimmt,

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so bestimmt er auch irgend einen Naturgeist ; denn dieser hat auch sein Körperliches, an dem er zu fassen ist. Der Baum und, verglichen mit ihm, der Keim, aus dem er entstand, – dieses räthselhafte Nebeneinander scheint zu beweisen, dass in beiden Formen sich ein und der selbe Geist eingekörpert habe, bald klein, bald gross. Ein Stein, der plötzlich rollt, ist der Leib, in welchem ein Geist wirkt ; liegt auf einsamer Haide ein Block, | erscheint es unmöglich, an Menschenkraft zu denken, die ihn hieher gebracht habe, so muss also der Stein sich selbst hinbewegt haben, das heisst : er muss einen Geist beherbergen. Alles, was einen Leib hat, ist der Zauberei zugänglich, also auch die Naturgeister. Ist ein Gott geradezu an sein Bild gebunden, so kann man auch ganz directen Zwang (durch Verweigerung der Opfernahrung, Geisseln, in-Fesseln-Legen und Aehn liches) gegen ihn ausüben. Die geringen Leute in China umwinden, um die fehlende Gunst ihres Gottes zu ertrotzen, das Bild desselben, der sie in Stich gelassen hat, mit Stricken, reissen es nieder, schleifen es über die Strassen durch Lehm- und Düngerhaufen ; „du Hund von einem Geiste, sagen sie, wir liessen dich in einem prächtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich hübsch, wir fütterten dich gut, wir brachten dir Opfer und doch bist du so undankbar.“ Aehnliche Gewaltmaassregeln gegen Heiligen- und Muttergottesbilder, wenn sie etwa bei Pestilenzen oder Regenmangel ihre Schuldigkeit nicht thun wollten, sind noch während dieses Jahrhunderts in katholischen Ländern vorgekommen. Durch alle diese zauberischen Beziehungen zur Natur sind unzählige Ceremonien in’s Leben gerufen : und endlich, wenn der Wirrwarr derselben zu gross geworden ist, bemüht man sich, sie zu ordnen, zu systematisiren, so dass man den günstigen Verlauf des gesammten Ganges der Natur, namentlich des grossen Jahreskreislaufs, sich durch einen entsprechenden Verlauf eines Proceduren-Systems zu verbürgen meint. Der Sinn des religiösen Cultus’ ist, die Natur zu menschlichem

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Vortheil zu bestimmen und zu bannen, also ihr eine G e set z l ic h k eit ei n z upr ä g en , d ie s ie von vor n her ei n n ic ht h at ; während in der jetzigen Zeit man die Gesetzlichkeit der Natur | e r k e n n e n will, um sich in sie zu schicken. Kurz, der religiöse Cultus ruht auf den Vorstellungen der Zauberei zwischen Mensch und Mensch ; und der Zauberer ist älter, als der Priester. Aber eb e n s o ruht er auf anderen und edleren Vorstellungen ; er setzt das sympathische Verhältniss von Mensch zu Mensch, das Dasein von Wohlwollen, Dankbarkeit, Erhörung Bittender, von Verträgen zwischen Feinden, von Verleihung der Unterpfänder, von Anspruch auf Schutz des Eigenthums voraus. Der Mensch steht auch in sehr niederen Culturstufen nicht der Natur als ohnmächtiger Sclave gegenüber, er ist n ic ht nothwendig der willenlose Knecht derselben : auf der griechischen Stufe der Religion, besonders im Verhalten zu den olympischen Göttern, ist sogar an ein Zusammenleben von zwei Kasten, einer vornehmeren, mächtigeren und einer weniger vornehmen zu denken ; aber beide gehören, ihrer Herkunft nach, irgendwie zusammen und sind Einer Art, sie brauchen sich vor einander nicht zu schämen. Das ist das Vornehme in der griechischen Religiosität. 112. Beim A nblick gewisser antiker Opfergeräthschaften. – Wie manche Empfi ndungen uns verloren gehen, ist zum Beispiel an der Vereinigung des Possenhaften, selbst des Obscönen, mit dem religiösen Gefühl zu sehen : die Empfi ndung für die Möglichkeit dieser Mischung schwindet, wir begreifen es nur noch historisch, dass sie existirte, bei den Demeter- und Dionysosfesten, bei den christlichen Osterspielen und Mysterien : aber auch wir kennen noch das Erhabene im Bunde mit dem Burlesken und dergleichen, das Rührende mit dem Lächerlichen verschmolzen : was vielleicht eine spätere Zeit auch nicht mehr verstehen wird. |

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113. C h r i s t e nt hu m a l s A lt e r t hu m . – Wenn wir eines Sonntag Morgens die alten Glocken brummen hören, da fragen wir uns : ist es nur möglich ! diess gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er sei Gottes Sohn. Der Beweis für eine solche Behauptung fehlt. – Sicherlich ist innerhalb unserer Zeiten die christliche Religion ein aus ferner Vorzeit hereinragendes Alterthum, und dass man jene Behauptung glaubt, – während man sonst so streng in der Prüfung von Ansprüchen ist –, ist vielleicht das älteste Stück dieses Erbes. Ein Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder erzeugt ; ein Weiser, der auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber auf die Zeichen des bevorstehenden Weltunterganges zu achten ; eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stellvertretendes Opfer annimmt ; Jemand, der seine Jünger sein Blut trinken heisst ; Gebete um Wundereingriffe ; Sünden an einem Gott verübt, durch einen Gott gebüsst ; Furcht vor einem Jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist ; die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die Bestimmung und die Schmach des Kreuzes nicht mehr kennt, – wie schauerlich weht uns diess Alles, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheit, an ! Sollte man glauben, dass so Etwas noch geglaubt wird ? 114. D a s Un g r ie c h i s c he i m C h r i s t e nt hu m . – Die Griechen sahen über sich die homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte, wie die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der gelungensten Exemplare ihrer eigenen Kaste, also ein Ideal, keinen Gegensatz des eigenen Wesens. Man | fühlt sich mit einander verwandt, es besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Der Mensch denkt vornehm von sich, wenn er sich solche Götter giebt, und stellt sich in ein Verhältniss, wie das des niedrige-

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ren Adels zum höheren ist ; während die italischen Völker eine rechte Bauern-Religion haben, mit fortwährender Aengstlichkeit gegen böse und launische Machtinhaber und Quälgeister. Wo die olympischen Götter zurücktraten, da war auch das griechische Leben düsterer und ängstlicher. – Das Christenthum dagegen zerdrückte und zerbrach den Menschen vollständig und versenkte ihn wie in tiefen Schlamm : in das Gefühl völliger Verworfenheit liess es dann mit Einem Male den Glanz eines göttlichen Erbarmens hineinleuchten, so dass der Ueberraschte, durch Gnade Betäubte, einen Schrei des Entzückens ausstiess und für einen Augenblick den ganzen Himmel in sich zu tragen glaubte. Auf diesen krankhaften Excess des Gefühls, auf die dazu nöthige tiefe Kopf- und Herz-Corruption wirken alle psychologischen Erfi ndungen des Christenthums hin : es will vernichten, zerbrechen, betäuben, berauschen, es will nur Eins nicht : das M a a s s , und desshalb ist es im tiefsten Verstande barbarisch, asiatisch, unvornehm, ungriechisch. 115. M it Vor t he i l r e l i g iö s s e i n . – Es giebt nüchterne und gewerbstüchtige Leute, denen die Religion wie ein Saum höheren Menschenthums angestickt ist : diese thun sehr wohl, religiös zu bleiben, es verschönert sie. – Alle Menschen, welche sich nicht auf irgend ein Waffenhandwerk verstehen – Mund und Feder als Waffen eingerechnet – werden servil : für solche ist die christliche Religion sehr nützlich, denn die Servilität nimmt darin | den Anschein einer christlichen Tugend an und wird erstaunlich verschönert. – Leute, welchen ihr tägliches Leben zu leer und eintönig vorkommt, werden leicht religiös : diess ist begreifl ich und verzeihlich, nur haben sie kein Recht, Religiosität von Denen zu fordern, denen das tägliche Leben nicht leer und eintönig verfl iesst.

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116. D e r A l lt a g s - C h r i s t . – Wenn das Christenthum mit seinen Sätzen vom rächenden Gotte, der allgemeinen Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und der Gefahr einer ewigen Verdammniss, Recht hätte, so wäre es ein Zeichen von Schwachsinn und Charakterlosigkeit, n ic ht Priester, Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht und Zittern einzig am eigenen Heile zu arbeiten ; es wäre unsinnig, den ewigen Vortheil gegen die zeitliche Bequemlichkeit so aus dem Auge zu lassen. Vorausgesetzt, dass überhaupt g e g l au bt wird, so ist der Alltags-Christ eine erbärmliche Figur, ein Mensch, der wirklich nicht bis drei zählen kann, und der übrigens, gerade wegen seiner geistigen Unzurechnungsfähigkeit, es nicht verdiente, so hart bestraft zu werden, als das Christenthum ihm verheisst. 117. Von der K lug heit des Ch r istent hu ms. – Es ist ein Kunstgriff des Christenthums, die völlige Unwürdigkeit, Sündhaftigkeit und Verächtlichkeit des Menschen überhaupt so laut zu lehren, dass die Verachtung der Mitmenschen dabei nicht mehr möglich ist. „Er mag sündigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich von mir : ich bin es, der in jedem Grade unwürdig und verächtlich ist,“ so sagt sich der Christ. Aber auch dieses Gefühl hat seinen spitzigsten Stachel | verloren, weil der Christ nicht an seine individuelle Verächtlichkeit glaubt : er ist böse als Mensch überhaupt und beruhigt sich ein Wenig bei dem Satze : Wir Alle sind Einer Art. 118. Pe r s o ne nwe c h s e l . – Sobald eine Religion herrscht, hat sie alle Die zu ihren Gegnern, welche ihre ersten Jünger gewesen wären.

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119. S c h ic k s a l d e s C h r i s t e nt hu m s . – Das Christenthum entstand, um das Herz zu erleichtern ; aber jetzt müsste es das Herz erst beschweren, um es nachher erleichtern zu können. Folglich wird es zu Grunde gehen. 120. D e r B ewe i s d e r Lu s t . – Die angenehme Meinung wird als wahr angenommen : diess ist der Beweis der Lust (oder, wie die Kirche sagt, der Beweis der Kraft), auf welchen alle Religionen so stolz sind, während sie sich dessen doch schämen sollten. Wenn der Glaube nicht selig machte, so würde er nicht geglaubt werden : wie wenig wird er also werth sein ! 121. G e f ä h rl ic he s Sp ie l . – Wer jetzt der religiösen Empfi ndung wieder in sich Raum giebt, der muss sie dann auch wachsen lassen, er kann nicht anders. Da verändert sich allmählich sein Wesen, es bevorzugt das dem religiösen Element Anhängende, Benachbarte, der ganze Umkreis des Urtheilens und Empfi ndens wird umwölkt, mit religiösen Schatten überflogen. Die Empfi ndung kann nicht still stehen ; man nehme sich also in Acht. | 122. D ie bl i nd e n S c hü le r. – So lange Einer sehr gut die Stärke und Schwäche seiner Lehre, seiner Kunstart, seiner Religion kennt, ist deren Kraft noch gering. Der Schüler und Apostel, welcher für die Schwäche der Lehre, der Religion und so weiter, kein Auge hat, geblendet durch das Ansehen des Meisters und durch seine Pietät gegen ihn, hat desshalb gewöhnlich mehr Macht, als der Meister. Ohne die blinden Schüler ist noch nie der Einfluss eines Mannes und seines Werkes gross geworden. Einer Erkenntniss zum Siege verhelfen heisst oft nur : sie so mit der Dummheit verschwistern, dass das

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Schwergewicht der letzteren auch den Sieg für die erste erzwingt. 123. A b b r uc h d e r K i r c he n . – Es ist nicht genug an Religion in der Welt, um die Religionen auch nur zu vernichten. 124. S ü nd lo s i g k e it d e s Me n s c he n . – Hat man begriffen, „wie die Sünde in die Welt gekommen“ ist, nämlich durch Irrthümer der Vernunft, vermöge deren die Menschen unter einander, ja der einzelne Mensch sich selbst für viel schwärzer und böser nimmt, als es thatsächlich der Fall ist, so wird die ganze Empfi ndung sehr erleichtert, und Menschen und Welt erscheinen mitunter in einer Glorie von Harmlosigkeit, dass es Einem von Grund aus wohl dabei wird. Der Mensch ist inmitten der Natur immer das Kind an sich. Diess Kind träumt wohl einmal einen schweren beängstigenden Traum, wenn es aber die Augen aufschlägt, so sieht es sich immer wieder im Paradiese. | 125. I r r e l i g i o s it ä t d e r K ü n s t le r. – Homer ist unter seinen Göttern so zu Hause und hat als Dichter ein solches Behagen an ihnen, dass er jedenfalls tief unreligiös gewesen sein muss ; mit dem, was der Volksglaube ihm entgegenbrachte – einen dürftigen, rohen, zum Theil schauerlichen Aberglauben  –, verkehrte er so frei, wie der Bildhauer mit seinem Thon, also mit der selben Unbefangenheit, welche Aeschylus und Aristophanes besassen und durch welche sich in neuerer Zeit die grossen Künstler der Renaissance, sowie Shakespeare und Goethe auszeichneten. 126. Ku nst u nd K ra f t der fa lsc hen Inter pretat ion. – Alle die Visionen, Schrecken, Ermattungen, Entzückungen des Heiligen sind bekannte Krankheits-Zustände, welche von ihm, auf

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Grund eingewurzelter religiöser und psychologischer Irrthümer, nur ganz anders, nämlich nicht als Krankheiten, g ed eut et werden. – So ist vielleicht auch das Dämonion des Sokrates ein Ohrenleiden, das er sich, gemäss seiner herrschenden moralischen Denkungsart, nur anders, als es jetzt geschehen würde, au s le g t . Nicht anders steht es mit dem Wahnsinn und Wahnreden der Propheten und Orakelpriester ; es ist immer der Grad von Wissen, Phantasie, Bestrebung, Moralität in Kopf und Herz der I nt e r p r et e n , welcher daraus so viel g e m ac ht hat. Zu den grössten Wirkungen der Menschen, welche man Genie’s und Heilige nennt, gehört es, dass sie sich Interpreten erzwingen, welche sie zum Heile der Menschheit m i s s ve r s t e he n . 127. Ve r e h r u n g d e s Wa h n s i n n s . – Weil man bemerkte, dass eine Erregung häufig den Kopf heller machte und | glückliche Einfälle hervorrief, so meinte man, durch die höchsten Erregungen werde man der glücklichsten Einfälle und Eingebungen theilhaftig : und so verehrte man den Wahnsinnigen als den Weisen und Orakelgebenden. Hier liegt ein falscher Schluss zu Grunde. 128. Verheissu ngen der Wissenschaf t. – Die moderne Wissenschaft hat als Ziel : so wenig Schmerz wie möglich, so lange leben wie möglich, – also eine Art von ewiger Seligkeit, freilich eine sehr bescheidene im Vergleich mit den Verheissungen der Religionen. 129. Ve r b ot e ne Fr e i g eb i g k e it . – Es ist nicht genug Liebe und Güte in der Welt, um noch davon an eingebildete Wesen wegschenken zu dürfen. 130. For t leben des rel ig iösen Cu lt u s’ i m Gemüt h. – Die katholische Kirche, und vor ihr aller antike Cultus, beherrschte

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das ganze Bereich von Mitteln, durch welche der Mensch in ungewöhnliche Stimmungen versetzt wird und der kalten Berechnung des Vortheils oder dem reinen Vernunft-Denken entrissen wird. Eine durch tiefe Töne erzitternde Kirche, dumpfe, regelmässige, zurückhaltende Anrufe einer priesterlichen Schaar, welche ihre Spannung unwillkürlich auf die Gemeinde überträgt und sie fast angstvoll lauschen lässt, wie als wenn eben ein Wunder sich vorbereitete, der Anhauch der Architektur, welche als Wohnung einer Gottheit sich in’s Unbestimmte ausreckt und in allen dunklen Räumen das Sich-Regen derselben fürchten lässt, – wer wollte solche Vorgänge den Menschen zurückbringen, wenn die Voraussetzungen dazu nicht mehr | geglaubt werden ? Aber die Resultate von dem Allen sind trotzdem nicht verloren : die innere Welt der erhabenen, gerührten, ahnungsvollen, tiefzerknirschten, hoff nungsseligen Stimmungen ist den Menschen vornehmlich durch den Cultus eingeboren worden ; was jetzt davon in der Seele existirt, wurde damals, als er keimte, wuchs und blühte, gross gezüchtet. 131. Re l i g iö s e Nac hwe he n . – Glaubt man sich noch so sehr der Religion entwöhnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, dass man nicht Freude hätte, religiösen Empfi ndungen und Stimmungen ohne begriffl ichen Inhalt zu begegnen, zum Beispiel in der Musik ; und wenn eine Philosophie uns die Berechtigung von metaphysischen Hoff nungen, von dem dorther zu erlangenden tiefen Frieden der Seele aufzeigt und zum Beispiel von „dem ganzen sichern Evangelium im Blick der Madonnen bei Rafael“ spricht, so kommen wir solchen Aussprüchen und Darlegungen mit besonders herzlicher Stimmung entgegen : der Philosoph hat es hier leichter, zu beweisen, er entspricht mit dem, was er geben will, einem Herzen, welches gern nehmen will. Daran bemerkt man, wie die weniger bedachtsamen Freigeister eigentlich nur an

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den Dogmen Anstoss nehmen, aber recht wohl den Zauber der religiösen Empfi ndung kennen ; es thut ihnen wehe, letztere fahren zu lassen, um der ersteren willen. – Die wissenschaftliche Philosophie muss sehr auf der Hut sein, nicht auf Grund jenes Bedürfnisses – eines gewordenen und folglich auch vergänglichen Bedürfnisses – Irrthümer einzuschmuggeln : selbst Logiker sprechen von „Ahnungen“ der Wahrheit in Moral und Kunst (zum Beispiel von der Ahnung, „dass das Wesen | der Dinge Eins ist“) : was ihnen doch verboten sein sollte. Zwischen den sorgsam erschlossenen Wahrheiten und solchen „geahnten“ Dingen bleibt unüberbrückbar die Kluft, dass jene dem Intellect, diese dem Bedürfniss verdankt werden. Der Hunger beweist nicht, dass es zu seiner Sättigung eine Speise g iebt , aber er wünscht die Speise. „Ahnen“ bedeutet nicht das Dasein einer Sache in irgend einem Grade erkennen, sondern dasselbe für möglich halten, insofern man sie wünscht oder fürchtet ; die „Ahnung“ trägt keinen Schritt weit in’s Land der Gewissheit. – Man glaubt unwillkürlich, die religiös gefärbten Abschnitte einer Philosophie seien besser bewiesen, als die anderen ; aber es ist im Grunde umgekehrt, man hat nur den inneren Wunsch, dass es so sein mög e, – also dass das Beseligende auch das Wahre sei. Dieser Wunsch verleitet uns, schlechte Gründe als gute einzukaufen. 132. Von dem c h r ist l ic hen Erlösu ng sbedü r f n iss. – Bei sorgsamer Ueberlegung muss es möglich sein, dem Vorgange in der Seele eines Christen, welchen man Erlösungsbedürfniss nennt, eine Erklärung abzugewinnen, die frei von Mythologie ist : also eine rein psychologische. Bis jetzt sind freilich die psychologischen Erklärungen religiöser Zustände und Vorgänge in einigem Verrufe gewesen, insoweit eine sich frei nennende Theologie auf diesem Gebiete ihr unerspriessliches Wesen trieb : denn bei ihr war es von vornherein, sowie es der Geist

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ihres Stifters, Schleiermacher’s, vermuthen lässt, auf die Erhaltung der christlichen Religion und das Fortbestehen der christlichen Theologen abgesehen ; als welche in der psychologischen Analysis der religiösen „Thatsachen“ einen neuen Ankergrund und vor Allem eine neue Be|schäftigung gewinnen sollten. Unbeirrt von solchen Vorgängern, wagen wir folgende Auslegung des bezeichneten Phänomens. Der Mensch ist sich gewisser Handlungen bewusst, welche in der gebräuchlichen Rangordnung der Handlungen tief stehen, ja er entdeckt in sich einen Hang zu dergleichen Handlungen, der ihm fast so unveränderlich wie sein ganzes Wesen erscheint. Wie gerne versuchte er sich in jener anderen Gattung von Handlungen, welche in der allgemeinen Schätzung als die obersten und höchsten anerkannt sind, wie gerne fühlte er sich voll des guten Bewusstseins, welches einer selbstlosen Denkweise folgen soll ! Leider aber bleibt es eben bei diesem Wunsche : die Unzufriedenheit darüber, demselben nicht genügen zu können, kommt zu allen übrigen Arten von Unzufriedenheit hinzu, welche sein Lebensloos überhaupt oder die Folgen jener böse genannten Handlungen in ihm erregt haben ; so dass eine tiefe Verstimmung entsteht, mit dem Ausblicke nach einem Arzte, der diese, und alle ihre Ursachen, zu heben vermöchte. – Dieser Zustand würde nicht so bitter empfunden werden, wenn der Mensch sich nur mit anderen Menschen unbefangen vergliche : dann nämlich hätte er keinen Grund, mit sich in einem besonderen Maasse unzufrieden zu sein, er trüge eben nur an der allgemeinen Last der menschlichen Unbefriedigung und Unvollkommenheit. Aber er vergleicht sich mit einem Wesen, welches allein jener Handlungen fähig ist, die unegoistisch genannt werden, und im fortwährenden Bewusstsein einer selbstlosen Denkweise lebt, mit Gott ; dadurch, dass er in diesen hellen Spiegel schaut, erscheint ihm sein Wesen so trübe, so ungewöhnlich verzerrt. Sodann ängstigt ihn der Gedanke an das selbe Wesen, insofern dieses als strafende Gerechtigkeit

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vor seiner Phantasie schwebt : in allen | möglichen kleinen und grossen Erlebnissen glaubt er seinen Zorn, seine Drohung zu erkennen, ja die Geisselschläge seines Richter- und Henkerthums schon vorzuempfi nden. Wer hilft ihm in dieser Gefahr, welche durch den Hinblick auf eine unermessliche Zeitdauer der Strafe an Grässlichkeit alle anderen Schrecknisse der Vorstellung überbietet ? 133. Bevor wir diesen Zustand in seinen weiteren Folgen uns vorlegen, wollen wir es doch uns eingestehen, dass der Mensch in diesen Zustand nicht durch seine „Schuld“ und „Sünde“, sondern durch eine Reihe von Irrthümern der Vernunft gerathen ist, dass es der Fehler des Spiegels war, wenn ihm sein Wesen in jenem Grade dunkel und hassenswerth vorkam, und dass jener Spiegel s e i n Werk, das sehr unvollkommene Werk der menschlichen Phantasie und Urtheilskraft war. Erstens ist ein Wesen, welches einzig rein unegoistischer Handlungen fähig wäre, noch fabelhafter als der Vogel Phönix ; es ist deutlich nicht einmal vorzustellen, schon desshalb, weil der ganze Begriff „unegoistische Handlung“ bei strenger Untersuchung in die Luft verstiebt. Nie hat ein Mensch Etwas gethan, das allein für Andere und ohne jeden persönlichen Beweggrund gethan wäre ; ja wie sollte er Etwas thun k ön ne n , das ohne Bezug zu ihm wäre, also ohne innere Nöthigung (welche ihren Grund doch in einem persönlichen Bedürfniss haben müsste) ? Wie vermöchte das ego ohne ego zu handeln ? – Ein Gott, der dagegen g a n z Liebe ist, wie gelegentlich angenommen wird, wäre keiner einzigen unegoistischen Handlung fähig : wobei man sich an einen Gedanken Lichtenberg’s, der freilich einer niedrigeren Sphäre entnommen ist, erinnern | sollte ; „Wir können unmöglich für Andere f ü h le n , wie man zu sagen pflegt ; wir fühlen nur für uns. Der Satz klingt hart, er ist es aber nicht, wenn er nur recht verstanden wird. Man liebt weder Vater, noch Mutter, noch Frau, noch Kind, sondern die

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angenehmen Empfi ndungen, die sie uns machen“, oder wie La Rochefoucauld sagt : „si on croit aimer sa maîtresse pour l’amour d’elle, on est bien trompé.“ Wesshalb Handlungen der Liebe höher g e s c h ät z t werden, als andere, nämlich nicht ihres Wesens, sondern ihrer Nützlichkeit halber, darüber vergleiche man die schon vorher erwähnten Untersuchungen „über den Ursprung der moralischen Empfi ndungen“. Sollte aber ein Mensch wünschen, ganz wie jener Gott, Liebe zu sein, Alles für Andere, Nichts für sich zu thun, zu wollen, so ist letzteres schon desshalb unmöglich, weil er s e h r v ie l für sich thun muss, um überhaupt Anderen Etwas zu Liebe thun zu können. Sodann setzt es voraus, dass der Andere Egoist genug ist, um jene Opfer, jenes Leben für ihn, immer und immer wieder anzunehmen : so dass die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse an dem Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten haben, und die höchste Moralität, um bestehen zu können, förmlich die Existenz der Unmoralität e r z w i n g e n müsste (wodurch sie sich freilich selber auf heben würde). – Weiter : die Vorstellung eines Gottes beunruhigt und demüthigt so lange, als sie geglaubt wird, aber wie sie e nt s t a nd e n ist, darüber kann bei dem jetzigen Stande der völkervergleichenden Wissenschaft kein Zweifel mehr sein ; und mit der Einsicht in jene Entstehung fällt jener Glaube dahin. Es geht dem Christen, welcher sein Wesen mit dem Gotte vergleicht, so, wie dem Don Quixote, der seine eigne Tapferkeit unterschätzt, weil er die Wunderthaten der Helden | aus den Ritterromanen im Kopfe hat ; der Maassstab, mit welchem in beiden Fällen gemessen wird, gehört in’s Reich der Fabel. Fällt aber die Vorstellung des Gottes weg, so auch das Gefühl der „Sünde“ als eines Vergehens gegen göttliche Vorschriften, als eines Fleckens an einem gottgeweihten Geschöpfe. Dann bleibt wahrscheinlich noch jener Unmuth übrig, welcher mit der Furcht vor Strafen der weltlichen Gerechtigkeit, oder vor der Missachtung

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der Menschen, sehr verwachsen und verwandt ist ; der Unmuth der Gewissensbisse, der schärfste Stachel im Gefühl der Schuld, ist immerhin abgebrochen, wenn man einsieht, dass man sich durch seine Handlungen wohl gegen menschliches Herkommen, menschliche Satzungen und Ordnungen vergangen habe, aber damit noch nicht das „ewige Heil der Seele“ und ihre Beziehung zur Gottheit gefährdet habe. Gelingt es dem Menschen zuletzt noch, die philosophische Ueberzeugung von der unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer völligen Unverantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch und Blut aufzunehmen, so verschwindet auch jener Rest von Gewissensbissen. 134. Ist nun der Christ, wie gesagt, durch einige Irrthümer in das Gefühl der Selbstverachtung gerathen, also durch eine falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfi ndungen, so muss er mit höchstem Erstaunen bemerken, wie jener Zustand der Verachtung, der Gewissensbisse, der Unlust überhaupt, nicht anhält, wie gelegentlich Stunden kommen, wo ihm dies Alles von der Seele weggeweht ist und er sich wieder frei und muthig fühlt. In Wahrheit hat die Lust an sich selber, das Wohlbehagen an der eigenen Kraft, im Bunde | mit der nothwendigen Abschwächung jeder tiefen Erregung, den Sieg davongetragen ; der Mensch liebt sich wieder, er fühlt es, – aber gerade diese Liebe, diese neue Selbstschätzung, kommt ihm unglaublich vor, er kann in ihr allein das gänzlich unverdiente Herabströmen eines Gnadenglanzes von Oben sehen. Wenn er früher in allen Begebnissen Warnungen, Drohungen, Strafen und jede Art von Anzeichen des göttlichen Zornes zu erblicken glaubte, so d eut et er jetzt in seine Erfahrungen die göttliche Güte h i ne i n : diess Ereigniss kommt ihm liebevoll, jenes wie ein hülfreicher Fingerzeig, ein drittes und namentlich seine ganze freudige Stimmung als Be-

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weis vor, dass Gott gnädig sei. Wie er früher im Zustande des Unmuthes namentlich seine Handlungen falsch ausdeutete, so jetzt namentlich seine Erlebnisse ; die getröstete Stimmung fasst er als Wirkung einer ausser ihm waltenden Macht auf, die Liebe, mit der er sich im Grunde selbst liebt, erscheint als göttliche Liebe ; Das, was er Gnade und Vorspiel der Erlösung nennt, ist in Wahrheit Selbstbegnadigung, Selbsterlösung. 135. Also : eine bestimmte falsche Psychologie, eine gewisse Art von Phantastik in der Ausdeutung der Motive und Erlebnisse ist die nothwendige Voraussetzung davon, dass Einer zum Christen werde und das Bedürfniss der Erlösung empfi nde. Mit der Einsicht in diese Verirrung der Vernunft und Phantasie hört man auf, Christ zu sein. 136. Von der c h r i st l ic hen A skese u nd Hei l ig keit. – So sehr einzelne Denker sich bemüht haben, in den seltenen Erscheinungen der Moralität, welche man Askese und Heiligkeit zu nennen pflegt, ein Wunderding hinzustellen, | dem die Leuchte einer vernünftigen Erklärung in’s Gesicht zu halten, beinahe schon Frevel und Entweihung sei : so stark ist hinwiederum die Verführung zu diesem Frevel. Ein mächtiger Antrieb der Nat u r hat zu allen Zeiten dazu geführt, gegen jene Erscheinungen überhaupt zu protestiren ; die Wissenschaft, insofern sie, wie früher gesagt, eine Nachahmung der Natur ist, erlaubt sich wenigstens gegen die behauptete Unerklärbarkeit, ja Unnahbarkeit derselben Einsprache zu erheben. Freilich gelang es ihr bis jetzt nicht : jene Erscheinungen sind immer noch unerklärt, zum grossen Vergnügen der erwähnten Verehrer des moralisch-Wunderbaren. Denn, allgemein gesprochen : das Unerklärte soll durchaus unerklärlich, das Unerklärliche durchaus unnatürlich, übernatürlich, wunder-

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haft sein, – so lautet die Forderung in den Seelen aller Religiösen und Metaphysiker (auch der Künstler, falls sie zugleich Denker sind) ; während der wissenschaftliche Mensch in dieser Forderung das „böse Princip“ sieht. – Die allgemeine erste Wahrscheinlichkeit, auf welche man bei Betrachtung der Askese und Heiligkeit zuerst geräth, ist diese, dass ihre Natur eine com pl ic i r t e ist : denn fast überall, innerhalb der physischen Welt sowohl wie in der moralischen, hat man mit Glück das angeblich Wunderbare auf das Complicirte und mehrfach Bedingte zurückgeführt. Wagen wir es also, einzelne Antriebe in der Seele der Heiligen und Asketen zunächst zu isoliren und zum Schluss sie in einander uns verwachsen zu denken. 137. Es giebt einen Tr ot z g e g e n s ic h s e l b s t , zu dessen sublimirtesten Aeusserungen manche Formen der Askese gehören. Gewisse Menschen haben nämlich ein | so hohes Bedürfniss, ihre Gewalt und Herrschsucht auszuüben, dass sie, in Ermangelung anderer Objecte, oder, weil es ihnen sonst immer misslungen ist, endlich darauf verfallen, gewisse Theile ihres eigenen Wesens, gleichsam Ausschnitte oder Stufen ihrer selbst, zu tyrannisiren. So bekennt sich mancher Denker zu Ansichten, welche ersichtlich nicht dazu dienen, seinen Ruf zu vermehren oder zu verbessern ; mancher beschwört förmlich die Missachtung Anderer auf sich herab, während er es leicht hätte, durch Stillschweigen ein geachteter Mann zu bleiben ; andere widerrufen frühere Meinungen und scheuen es nicht, fürderhin inconsequent genannt zu werden : im Gegentheil, sie bemühen sich darum und benehmen sich wie übermüthige Reiter, welche das Pferd, erst wenn es wild geworden, mit Schweiss bedeckt, scheu geworden ist, am liebsten mögen. So steigt der Mensch auf gefährlichen Wegen in die höchsten Gebirge, um über seine Aengstlichkeit und seine schlotternden Kniee Hohn zu lachen ; so bekennt sich

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der Philosoph zu Ansichten der Askese, Demuth und Heiligkeit, in deren Glanze sein eigenes Bild auf das ärgste verhässlicht wird. Dieses Zerbrechen seiner selbst, dieser Spott über die eigene Natur, dieses spernere se sperni, aus dem die Religionen so viel gemacht haben, ist eigentlich ein sehr hoher Grad der Eitelkeit. Die ganze Moral der Bergpredigt gehört hieher : der Mensch hat eine wahre Wollust darin, sich durch übertriebene Ansprüche zu vergewaltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner Seele nachher zu vergöttern. In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisiren. – | 138. Der Mensch ist nicht zu allen Stunden gleich moralisch, diess ist bekannt : beurtheilt man seine Moralität nach der Fähigkeit zu grosser aufopfernder Entschliessung und Selbstverleugnung (welche, dauernd und zur Gewohnheit geworden, Heiligkeit ist), so ist er im A f f e c t am moralischsten ; die höhere Erregung reicht ihm ganz neue Motive dar, welcher er, nüchtern und kalt wie sonst, vielleicht nicht einmal fähig zu sein glaubte. Wie kommt diess ? Wahrscheinlich aus der Nachbarschaft alles Grossen und hoch Erregenden ; ist der Mensch einmal in eine ausserordentliche Spannung gebracht, so kann er ebensowohl zu einer furchtbaren Rache, als zu einer furchtbaren Brechung seines Rachebedürfnisses sich entschliessen. Er will, unter dem Einflusse der gewaltigen Emotion, jedenfalls das Grosse, Gewaltige, Ungeheure, und wenn er zufäl lig merkt, dass ihm die Aufopferung seiner selbst ebenso oder noch mehr genugthut, als die Opferung des Anderen, so wählt er sie. Eigentlich liegt ihm also nur an der Entladung seiner Emotion ; da fasst er wohl, um seine Spannung zu erleichtern, die Speere der Feinde zusammen und begräbt sie in seine Brust. Dass in der Selbstverleugnung, und nicht nur in der Rache, etwas Grosses liege, musste der Menschheit erst in langer

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Gewöhnung anerzogen werden ; eine Gottheit, welche sich selbst opfert, war das stärkste und wirkungsvollste Symbol dieser Art von Grösse. Als die Besiegung des schwerst zu besiegenden Feindes, die plötzliche Bemeisterung eines Affectes, – als Diess e r s c he i nt diese Verleugnung ; und insofern gilt sie als der Gipfel des Moralischen. In Wahrheit handelt es sich bei ihr um die Vertauschung der einen Vorstellung mit der andern, während das Gemüth seine gleiche Höhe, seinen gleichen Fluthstand, behält. Ernüch|terte, vom Affect ausruhende Menschen verstehen die Moralität jener Augenblicke nicht mehr, aber die Bewunderung Aller, die jene miterlebten, hält sie aufrecht ; der Stolz ist ihr Trost, wenn der Affect und das Verständniss ihrer That weicht. Also : im Grunde sind auch jene Handlungen der Selbstverleugnung nicht moralisch, insofern sie nicht streng in Hinsicht auf Andere gethan sind ; vielmehr giebt der Andere dem hochgespannten Gemüthe nur eine Gelegenheit, sich zu erleichtern, durch jene Verleugnung. 139. In mancher Hinsicht sucht sich auch der Asket das Leben leicht zu machen, und zwar gewöhnlich durch die vollkommene Unterordnung unter einen fremden Willen oder unter ein umfängliches Gesetz und Ritual ; etwa in der Art, wie der Brahmane durchaus Nichts seiner eigenen Bestimmung überlässt und sich in jeder Minute durch eine heilige Vorschrift bestimmt. Diese Unterordnung ist ein mächtiges Mittel, um über sich Herr zu werden ; man ist beschäftigt, also ohne Langeweile, und hat doch keine Anregung des Eigenwillens und der Leidenschaft dabei ; nach vollbrachter That fehlt das Gefühl der Verantwortung und damit die Qual der Reue. Man hat ein für alle Mal auf eigenen Willen verzichtet, und diess ist leichter, als nur gelegentlich einmal zu verzichten ; sowie es auch leichter ist, einer Begierde ganz zu entsagen, als in ihr Maass zu halten. Wenn wir uns der jetzigen Stellung des

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Mannes zum Staate erinnern, so fi nden wir auch da, dass der unbedingte Gehorsam bequemer ist, als der bedingte. Der Heilige also erleichtert sich durch jenes völlige Aufgeben der Persönlichkeit sein Leben, und man täuscht sich, wenn man in jenem Phänomen | das höchste Heldenstück der Moralität bewundert. Es ist in jedem Falle schwerer, seine Persönlichkeit ohne Schwanken und Unklarheit durchzusetzen, als sich von ihr in der erwähnten Weise zu lösen ; überdiess verlangt es viel mehr Geist und Nachdenken. 140. Nachdem ich, in vielen der schwerer erklärbaren Handlungen, Aeusserungen jener Lust an der E mot io n a n s ic h gefunden habe, möchte ich auch in Betreff der Selbstverachtung, welche zu den Merkmalen der Heiligkeit gehört, und ebenso in den Handlungen der Selbstquälerei (durch Hunger und Geisselschläge, Verrenkungen der Glieder, Erheuchelung des Wahnsinns) ein Mittel erkennen, durch welches jene Naturen gegen die allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (ihrer Nerven) ankämpfen : sie bedienen sich der schmerzhaftesten Reizmittel und Grausamkeiten, um für Zeiten wenigstens aus jener Dumpfheit und Langenweile aufzutauchen, in welche ihre grosse geistige Indolenz und jene geschilderte Unterordnung unter einen fremden Willen sie so häufig verfallen lässt. 141. Das gewöhnlichste Mittel, welches der Asket und Heilige anwendet, um sich das Leben doch noch erträglich und unterhaltend zu machen, besteht in gelegentlichem Kriegführen und in dem Wechsel von Sieg und Niederlage. Dazu braucht er einen Gegner und fi ndet ihn in dem sogenannten „inneren Feinde“. Namentlich nützt er seinen Hang zur Eitelkeit, Ehr- und Herrschsucht, sodann seine sinnlichen Begierden aus, um sein Leben wie eine fortgesetzte Schlacht und sich

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wie ein Schlachtfeld ansehen zu dürfen ; auf dem gute und böse Geister mit wechselndem | Erfolge ringen. Bekanntlich wird die sinnliche Phantasie durch die Regelmässigkeit des geschlechtlichen Verkehrs gemässigt, ja fast unterdrückt, umgekehrt, durch Enthaltsamkeit oder Unordnung im Verkehre entfesselt und wüst. Die Phantasie vieler christlichen Heiligen war in ungewöhnlichem Maasse schmutzig ; vermöge jener Theorie, dass diese Begierden wirkliche Dämonen seien, die in ihnen wütheten, fühlten sie sich nicht allzusehr verantwortlich dabei ; diesem Gefühle verdanken wir die so belehrende Aufrichtigkeit ihrer Selbstzeugnisse. Es war in ihrem Interesse, dass dieser Kampf in irgend einem Grade immer unterhalten wurde, weil durch ihn, wie gesagt, ihr ödes Leben unterhalten wurde. Damit der Kampf aber wichtig genug erscheine, um andauernde Theilnahme und Bewunderung bei den Nicht-Heiligen zu erregen, musste die Sinnlichkeit immer mehr verketzert und gebrandmarkt werden, ja die Gefahr ewiger Verdammniss wurde so eng an diese Dinge geknüpft, dass höchstwahrscheinlich durch ganze Zeitalter hindurch die Christen mit bösem Gewissen Kinder zeugten ; wodurch gewiss der Menschheit ein grosser Schaden angethan worden ist. Und doch steht hier die Wahrheit ganz auf dem Kopfe : was für die Wahrheit besonders unschicklich ist. Zwar hatte das Christenthum gesagt : jeder Mensch sei in Sünden empfangen und geboren, und im unausstehlichen Superlativ-Christenthume des Calderon hatte sich dieser Gedanke noch einmal zusammengeknotet und verschlungen, so dass er die verdrehteste Paradoxie wagte, die es giebt, in dem bekannten Verse : die grösste Schuld des Menschen ist, dass er geboren ward.

In allen pessimistischen Religionen wird der Zeugungsact als schlecht an sich empfunden, aber keineswegs ist diese | Empfi ndung eine allgemein-menschliche ; selbst nicht einmal das

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Urtheil aller Pessimisten ist sich hierin gleich. Empedokles zum Beispiel weiss gar Nichts vom Beschämenden, Teuflischen, Sündhaften in allen erotischen Dingen ; er sieht vielmehr auf der grossen Wiese des Unheils eine einzige heil- und hoff nungsvolle Erscheinung, die Aphrodite ; sie gilt ihm als Bürgschaft, dass der Streit nicht ewig herrschen, sondern einem milderen Dämon einmal das Scepter überreichen werde. Die christlichen Pessimisten der Praxis hatten, wie gesagt, ein Interesse daran, dass eine andere Meinung in der Herrschaft blieb ; sie brauchten für die Einsamkeit und die geistige Wüstenei ihres Lebens einen immer lebendigen Feind : und einen allgemein anerkannten Feind, durch dessen Bekämpfung und Ueberwältigung sie dem Nicht-Heiligen sich immer von Neuem wieder als halb unbegreifl iche, übernatürliche Wesen darstellen. Wenn dieser Feind endlich, in Folge ihrer Lebensweise und ihrer zerstörten Gesundheit, die Flucht für immer ergriff, so verstanden sie es sofort, ihr Inneres mit neuen Dämonen bevölkert zu s e he n . Das Auf- und Niederschwanken der Wagschalen Hochmuth und Demuth unterhielt ihre grübelnden Köpfe so gut, wie der Wechsel von Begierde und Seelenruhe. Damals diente die Psychologie dazu, alles Menschliche nicht nur zu verdächtigen, sondern zu lästern, zu geisseln, zu kreuzigen ; man wol lt e sich möglichst schlecht und böse fi nden, man suchte die Angst um das Heil der Seele, die Verzweiflung an der eignen Kraft. Alles Natürliche, an welches der Mensch die Vorstellung des Schlechten, Sündhaften anhängt (wie er es zum Beispiel noch jetzt in Betreff des Erotischen gewöhnt ist), belästigt, verdüstert die Phantasie, giebt einen scheuen Blick, lässt den Menschen mit sich selber hadern und macht ihn unsicher und vertrauenslos ; | selbst seine Träume bekommen einen Beigeschmack des gequälten Gewissens. Und doch ist dieses Leiden am Natürlichen in der Realität der Dinge völlig unbegründet : es ist nur die Folge von Meinungen üb er die Dinge. Man erkennt leicht, wie die Men-

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schen dadurch schlechter werden, dass sie das unvermeidlichNatürliche als schlecht bezeichnen und später immer als so beschaffen empfi nden. Es ist der Kunstgriff der Religion und jener Metaphysiker, welche den Menschen als böse und sündhaft von Natur wollen, ihm die Natur zu verdächtigen und so ihn selber schlecht zu m ac he n : denn so lernt er sich als schlecht empfi nden, da er das Kleid der Natur nicht ausziehen kann. Allmählich fühlt er sich, bei einem langen Leben im Natürlichen, von einer solchen Last von Sünden bedrückt, dass übernatürliche Mächte nöthig werden, um diese Last heben zu können ; und damit ist das schon besprochene Erlösungsbedürfniss auf den Schauplatz getreten, welches gar keiner wirklichen, sondern nur einer eingebildeten Sündhaftigkeit entspricht. Man gehe die einzelnen moralischen Aufstellungen der Urkunden des Christenthums durch und man wird überall fi nden, dass die Anforderungen überspannt sind, damit der Mensch ihnen nicht genügen k ö n ne ; die Absicht ist nicht, dass er moralischer we r d e, sondern dass er sich mögl ic h s t s ü nd h a f t fühle. Wenn dem Menschen diess Gefühl nicht a n g e ne h m gewesen wäre, – wozu hätte er eine solche Vorstellung erzeugt und sich so lange an sie gehängt ? Wie in der antiken Welt eine unermessliche Kraft von Geist und Erfi ndungsgabe verwendet worden ist, um die Freude am Leben durch festliche Culte zu mehren : so ist in der Zeit des Christenthums ebenfalls unermesslich viel Geist einem andern Streben geopfert worden : der Mensch sollte auf alle Weise sich sündhaft | fühlen und dadurch überhaupt erregt, belebt, beseelt werden. Erregen, beleben, beseelen, um jeden Preis – ist das nicht das Losungswort einer erschlaff ten, überreifen, übercultivirten Zeit ? Der Kreis aller natürlichen Empfi ndungen war hundertmal durchlaufen, die Seele war ihrer müde geworden : da erfanden der Heilige und der Asket eine neue Gattung von Lebensreizen. Sie stellten sich vor Aller Augen hin, nicht eigentlich zur Nachahmung für Viele, sondern als

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schauderhaftes und doch entzückendes Schauspiel, welches an jenen Gränzen zwischen Welt und Ueberwelt aufgeführt werde, wo Jedermann damals bald himmlische Lichtblicke, bald unheimliche, aus der Tiefe lodernde Flammenzungen zu erblicken glaubte. Das Auge des Heiligen, hingerichtet auf die in jedem Betracht furchtbare Bedeutung des kurzen Erdenlebens, auf die Nähe der letzten Entscheidung über endlose neue Lebensstrecken, diess verkohlende Auge, in einem halb vernichteten Leibe, machte die Menschen der alten Welt bis in alle Tiefen erzittern ; hinblicken, schaudernd wegblicken, von Neuem den Reiz des Schauspiels spüren, ihm nachgeben, sich an ihm ersättigen, bis die Seele in Gluth und Fieberfrost erbebt, – das war die letzte Lu s t , we lc he d a s A lt e r t hu m e r f a nd , nachdem es selbst gegen den Anblick von Thier- und Menschenkämpfen stumpf geworden war. 142. Um das Gesagte zusammenzufassen : jener Seelenzustand, dessen sich der Heilige oder Heiligwerdende erfreut, setzt sich aus Elementen zusammen, welche wir Alle recht wohl kennen, nur dass sie sich unter dem Einfluss anderer als religiöser Vorstellungen anders gefärbt zeigen und dann den Tadel der Menschen ebenso | stark zu erfahren pflegen, wie sie, in jener Verbrämung mit Religion und letzter Bedeutsamkeit des Daseins, auf Bewunderung, ja Anbetung rechnen dürfen, – mindestens in früheren Zeiten rechnen durften. Bald übt der Heilige jenen Trotz gegen sich selbst, der ein naher Verwandter der Herrschsucht ist und auch dem Einsamsten noch das Gefühl der Macht giebt ; bald springt seine angeschwellte Empfi ndung aus dem Verlangen, seine Leidenschaften dahinschiessen zu lassen, über in das Verlangen, sie wie wilde Rosse zusammenstürzen zu machen, unter dem mächtigen Druck einer stolzen Seele ; bald will er ein völliges Aufhören aller störenden, quälenden, reizenden Empfi ndungen,

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einen wachen Schlaf, ein dauerndes Ausruhen im Schoosse einer dumpfen, thier- und pflanzenhaften Indolenz ; bald sucht er den Kampf und entzündet ihn in sich, weil ihm die Langeweile ihr gähnendes Gesicht entgegenhält : er geisselt seine Selbstvergötterung mit Selbstverachtung und Grausamkeit, er freut sich an dem wilden Aufruhre seiner Begierden, an dem scharfen Schmerz der Sünde, ja an der Vorstellung des Verlorenseins, er versteht es, seinem Affect, zum Beispiel dem der äussersten Herrschsucht, einen Fallstrick zu legen, so dass er in den der äussersten Erniedrigung übergeht und seine aufgehetzte Seele durch diesen Contrast aus allen Fugen gerissen wird ; und zuletzt wenn es ihn gar nach Visionen, Gesprächen mit Todten oder göttlichen Wesen gelüstet, so ist es im Grunde eine seltene Art von Wollust, welche er begehrt, aber vielleicht jene Wollust, in der alle anderen in einen Knoten zusammengeschlungen sind. Novalis, eine der Autoritäten in Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct, spricht das ganze Geheimniss einmal mit naiver Freude aus : „Es ist wunderbar genug, dass nicht längst die Association von Wollust, Religion und Grausamkeit die | Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat.“ 143. Nicht Das, was der Heilige i s t , sondern Das, was er in den Augen der Nicht-Heiligen b e d eut et , giebt ihm seinen welthistorischen Werth. Dadurch, dass man sich über ihn irrte, dass man seine Seelenzustände falsch auslegte und ihn von sich so stark als möglich abtrennte, als etwas durchaus Unvergleichliches und fremdartig-Uebermenschliches : dadurch gewann er die ausserordentliche Kraft, mit welcher er die Phantasie ganzer Völker, ganzer Zeiten beherrschen konnte. Er selbst kannte sich nicht ; er selbst verstand die Schriftzüge seiner Stimmungen, Neigungen, Handlungen nach einer Kunst der Interpretation, welche ebenso überspannt und künstlich

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war, wie die pneumatische Interpretation der Bibel. Das Verschrobene und Kranke in seiner Natur, mit ihrer Zusammenkoppelung von geistiger Armuth, schlechtem Wissen, verdorbener Gesundheit, überreizten Nerven, blieb seinem Blick ebenso wie dem seiner Beschauer verborgen. Er war kein besonders guter Mensch, noch weniger ein besonders weiser Mensch : aber er b e d eut et e Etwas, das über menschliches Maass in Güte und Weisheit hinausreiche. Der Glaube an ihn unterstützte den Glauben an Göttliches und Wunderhaftes, an einen religiösen Sinn alles Daseins, an einen bevorstehenden letzten Tag des Gerichtes. In dem abendlichen Glanze einer Weltuntergangs-Sonne, welche über die christlichen Völker hinleuchtete, wuchs die Schattengestalt des Heiligen in’s Ungeheure : ja bis zu einer solchen Höhe, dass selbst in unserer Zeit, die nicht mehr an Gott glaubt, es noch genug Denker giebt, welche an den Heiligen glauben. | 144. Es versteht sich von selbst, dass dieser Zeichnung des Heiligen, welche nach dem Durchschnitt der ganzen Gattung entworfen ist, manche Zeichnung entgegengestellt werden kann, welche eine angenehmere Empfi ndung hervorbringen möchte. Einzelne Ausnahmen jener Gattung heben sich heraus, sei es durch grosse Milde und Menschenfreundlichkeit, sei es durch den Zauber ungewöhnlicher Thatkraft ; andere sind im höchsten Grade anziehend, weil bestimmte Wahnvorstellungen über ihr ganzes Wesen Lichtströme ausgiessen : wie es zum Beispiel mit dem berühmten Stifter des Christenthums der Fall ist, der sich für den eingeborenen Sohn Gottes hielt und desshalb sich sündlos fühlte ; so dass er durch eine Einbildung – die man nicht zu hart beurtheilen möge, weil das ganze Alterthum von Göttersöhnen wimmelt – das selbe Ziel erreichte, das Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft Jeder-

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mann sich erwerben kann. – Ebenfalls habe ich abgesehen von den indischen Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen dem christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen stehen und insofern keinen reinen Typus darstellen : die Erkenntniss, die Wissenschaft – soweit es eine solche gab –, die Erhebung über die anderen Menschen durch die logische Zucht und Schulung des Denkens wurde bei den Buddhaisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso gefordert, wie die selben Eigenschaften in der christlichen Welt, als Kennzeichen der Unheiligkeit, abgelehnt und verketzert werden. |

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145. D a s Vol l k om me ne s ol l n ic ht g ewor d e n s e i n . – Wir sind gewöhnt, bei allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen : sondern uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen Zauberschlag aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen wir hier noch unter der Nachwirkung einer uralten mythologischen Empfi ndung. Es ist uns b e i n a he noch so zu Muthe (zum Beispiel in einem griechischen Tempel wie der von Pästum), als ob eines Morgens ein Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein Wohnhaus gebaut habe : anderemale als ob eine Seele urplötzlich in einen Stein hineingezaubert sei und nun durch ihn reden wolle. Der Künstler weiss, dass sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt ; und so hilft er wohl dieser Illusion nach und führt jene Elemente der begeisterten Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden Träumens beim Beginn der Schöpfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um die Seele des Schauers oder Hörers so zu stimmen, dass sie an das plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen glaubt. – Die Wissenschaft der Kunst hat dieser Illusion, | wie es sich von selbst versteht, auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen des Intellects aufzuzeigen, vermöge welcher er dem Künstler in das Netz läuft. 146. D e r Wa h r h e it s s i n n d e s K ü n s t le r s . – Der Künstler hat in Hinsicht auf das Erkennen der Wahrheiten eine schwächere Moralität, als der Denker ; er will sich die glänzenden, tief-

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sinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne, schlichte Methoden und Resultate. Scheinbar kämpft er für die höhere Würde und Bedeutung des Menschen ; in Wahrheit will er die für seine Kunst w i r k u n g s vol l s t e n Voraussetzungen nicht aufgeben, also das Phantastische, Mythische, Unsichere, Extreme, den Sinn für das Symbolische, die Ueberschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges im Genius : er hält also die Fortdauer seiner Art des Schaffens für wichtiger, als die wissenschaftliche Hingebung an das Wahre in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht. 147. Die Kunst a ls Todtenbeschwörer i n. – Die Kunst versieht nebenbei die Aufgabe zu conserviren, auch wohl erloschene, verblichene Vorstellungen ein Wenig wieder aufzufärben ; sie fl icht, wenn sie diese Aufgabe löst, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren Geister wiederkehren. Zwar ist es nur ein Scheinleben wie über Gräbern, welches hierdurch entsteht, oder wie die Wiederkehr geliebter Todten im Traume, aber wenigstens auf Augenblicke wird die alte Empfi ndung noch einmal rege und das Herz klopft nach einem sonst | vergessenen Tacte. Nun muss man wegen dieses allgemeinen Nutzens der Kunst dem Künstler selber es nachsehen, wenn er nicht in den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden Ve r m ä n n l ic hu n g der Menschheit steht : er ist zeitlebens ein Kind oder ein Jüngling geblieben und auf dem Standpunct zurückgehalten, auf welchem er von seinem Kunsttriebe überfallen wurde ; Empfi ndungen der ersten Lebensstufen stehen aber zugestandenermaassen denen früherer Zeitläufte näher, als denen des gegenwärtigen Jahrhunderts. Unwillkürlich wird es zu seiner Aufgabe, die Menschheit zu verkindlichen ; diess ist sein Ruhm und seine Begränztheit.

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148. D ic ht e r a l s E r le i c h t e r e r d e s L eb e n s . – Die Dichter, insofern auch sie das Leben der Menschen erleichtern wollen, wenden den Blick entweder von der mühseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart durch ein Licht, das sie von der Vergangenheit herstrahlen machen, zu neuen Farben. Um diess zu können, müssen sie selbst in manchen Hinsichten rückwärts gewendete Wesen sein : so dass man sie als Brükken zu ganz fernen Zeiten und Vorstellungen, zu absterbenden oder abgestorbenen Religionen und Culturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich immer und nothwendig E p i g o ne n . Es ist freilich von ihren Mitteln zur Erleichterung des Lebens einiges Ungünstige zu sagen : sie beschwichtigen und heilen nur vorläufig, nur für den Augenblick ; sie halten sogar die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft der Unbefriedigten, welche zur That drängen, aufheben und palliativisch entladen. | 149. D e r l a n g s a me P f e i l d e r S c hö n he it . – Die edelste Art der Schönheit ist die, welche nicht auf einmal hinreisst, welche nicht stürmische und berauschende Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel), sondern jene langsam einsikkernde, welche man fast unbemerkt mit sich fortträgt und die Einem im Traum einmal wiederbegegnet, endlich aber, nachdem sie lange mit Bescheidenheit an unserm Herzen gelegen, von uns ganz Besitz nimmt, unser Auge mit Thränen, unser Herz mit Sehnsucht füllt. – Wonach sehnen wir uns beim Anblick der Schönheit ? Darnach, schön zu sein : wir wähnen, es müsse viel Glück damit verbunden sein. – Aber das ist ein Irrthum.

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150. B e s e e lu n g d e r K u n s t . – Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte. Der zum Strome angewachsene Reichthum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern : aber die wachsende Auf klärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen eingeflösst : so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst ; in einzelnen Fällen auch auf das politische Leben, ja selbst direct auf die Wissenschaft. Ueberall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine höhere düstere Färbung wahrnimmt, darf man vermuthen, dass Geistergrauen, Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängen geblieben sind. | 151. Wo du r c h d a s Met r u m ve r s c höner t . – Das Metrum legt Flor über die Realität ; es veranlasst einige Künstlichkeit des Geredes und Unreinheit des Denkens ; durch den Schatten, den es auf den Gedanken wirft, verdeckt es bald, bald hebt es hervor. Wie Schatten nöthig ist, um zu verschönern, so ist das „Dumpfe“ nöthig, um zu verdeutlichen. – Die Kunst macht den Anblick des Lebens erträglich, dadurch dass sie den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt. 152. K u n s t d e r h ä s s l ic he n S e e le. – Man zieht der Kunst viel zu enge Schranken, wenn man verlangt, dass nur die geordnete, sittlich im Gleichgewicht schwebende Seele sich in ihr aussprechen dürfe. Wie in den bildenden Künsten, so auch giebt es in der Musik und Dichtung eine Kunst der hässlichen

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Seele, neben der Kunst der schönen Seele ; und die mächtigsten Wirkungen der Kunst, das Seelenbrechen, Steinebewegen und Thierevermenschlichen ist vielleicht gerade jener Kunst am meisten gelungen. 153. D ie K u n st mac ht dem Den k er d a s Her z sc hwer. – Wie stark das metaphysische Bedürfniss ist und wie sich noch zuletzt die Natur den Abschied von ihm schwer macht, kann man daraus entnehmen, dass noch im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen entschlagen hat, die höchsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen, sei es zum Beispiel, dass er bei einer Stelle der neunten Symphonie Beethoven’s sich über der Erde in einem Sternendome schweben fühlt, mit dem | Traume der Un s t e r bl ic h k e it im Herzen : alle Sterne scheinen um ihn zu fl immern und die Erde immer tiefer hinabzusinken. – Wird er sich dieses Zustandes bewusst, so fühlt er wohl einen tiefen Stich im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe. In solchen Augenblicken wird sein intellectualer Charakter auf die Probe gestellt. 154. M it d e m L eb e n s p ie le n . – Die Leichtigkeit und Leichtfertigkeit der homerischen Phantasie war nöthig, um das übermässig leidenschaftliche Gemüth und den überscharfen Verstand des Griechen zu beschwichtigen und zeitweilig aufzuheben. Spricht bei ihnen der Verstand : wie herbe und grausam erscheint dann das Leben ! Sie täuschen sich nicht, aber sie umspielen absichtlich das Leben mit Lügen. Simonides rieth seinen Landsleuten, das Leben wie ein Spiel zu nehmen ; der Ernst war ihnen als Schmerz allzubekannt (das Elend der

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Menschen ist ja das Thema, über welches die Götter so gern singen hören) und sie wussten, dass einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genusse werden könne. Zur Strafe für diese Einsicht waren sie aber von der Lust, zu fabuliren, so geplagt, dass es ihnen im Alltagsleben schwer wurde, sich von Lug und Trug frei zu halten, wie alles Poetenvolk eine solche Lust an der Lüge hat und obendrein noch die Unschuld dabei. Die benachbarten Völker fanden das wohl mitunter zum Verzweifeln. 155. Glaube an Inspiration. – Die Künstler haben ein Interesse daran, dass man an die plötzlichen Ein|gebungen, die sogenannten Inspirationen glaubt ; als ob die Idee des Kunstwerks, der Dichtung, der Grundgedanke einer Philosophie, wie ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte. In Wahrheit producirt die Phantasie des guten Künstlers oder Denkers fortwährend, Gutes, Mittelmässiges und Schlechtes, aber seine Ur t he i l s k r a f t , höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt aus, knüpft zusammen ; wie man jetzt aus den Notizbüchern Beethoven’s ersieht, dass er die herrlichsten Melodien allmählich zusammengetragen und aus vielfachen Ansätzen gewissermaassen ausgelesen hat. Wer weniger streng scheidet und sich der nachbildenden Erinnerung gern überlässt, der wird unter Umständen ein grosser Improvisator werden können ; aber die künstlerische Improvisation steht tief im Verhältniss zum ernst und mühevoll erlesenen Kunstgedanken. Alle Grossen waren grosse Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfi nden, sondern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen. 156. Noc h ma l s d ie I n s pi r at ion. – Wenn sich die Productionskraft eine Zeit lang angestaut hat und am Ausfl iessen durch ein Hemmniss gehindert worden ist, dann giebt es endlich einen so plötzlichen Erguss, als ob eine unmittelbare Inspira-

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tion, ohne vorhergegangenes inneres Arbeiten, also ein Wunder sich vollziehe. Diess macht die bekannte Täuschung aus, an deren Fortbestehen, wie gesagt, das Interesse aller Künstler ein wenig zu sehr hängt. Das Capital hat sich eben nur a n g e h äu f t , es ist nicht auf einmal vom Himmel gefallen. Es giebt übrigens auch anderwärts solche scheinbare Inspiration, zum Beispiel im Bereiche der Güte, der Tugend, des Lasters. | 157. D ie L e id e n d e s G e n iu s’ u nd i h r We r t h . – Der künstlerische Genius will Freude machen, aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm leicht die Geniessenden ; er bietet Speisen, aber man will sie nicht. Das giebt ihm ein unter Umständen lächerlich-rührendes Pathos ; denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnügen zu zwingen. Seine Pfeife tönt, aber Niemand will tanzen : kann das tragisch sein ? – Vielleicht doch. Zuletzt hat er als Compensation für diese Entbehrung mehr Vergnügen beim Schaffen, als die übrigen Menschen bei allen anderen Gattungen der Thätigkeit haben. Man empfi ndet seine Leiden übertrieben, weil der Ton seiner Klage lauter, sein Mund beredter ist ; und m it u nt e r sind seine Leiden wirklich sehr gross, aber nur desshalb, weil sein Ehrgeiz, sein Neid so gross ist. Der wissende Genius, wie Kepler und Spinoza, ist für gewöhnlich nicht so begehrlich und macht von seinen wirklich grösseren Leiden und Entbehrungen kein solches Aufheben. Er darf mit grösserer Sicherheit auf die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen ; während ein Künstler, der diess thut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt, bei dem ihm wehe um’s Herz werden muss. In ganz seltenen Fällen, – dann, wenn im selben Individuum der Genius des Könnens und des Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen – kommt zu den erwähnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu, welche als die absonderlichsten Ausnahmen in der

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Welt zu nehmen sind : die ausser- und überpersönlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesammten Cultur, allem leidenden Dasein zugewandten Empfi ndungen : welche ihren Werth durch die Verbindung mit besonders schwierigen und entlegenen | Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich ist wenig werth.) – Aber welchen Maassstab, welche Goldwage giebt es für deren Aechtheit ? Ist es nicht fast geboten, misstrauisch gegen Alle zu sein, welche von Empfi ndungen dieser Art bei sich r e d e n ? 158. Ve r h ä n g n i s s d e r G r ö s s e . – Jeder grossen Erscheinung folgt die Entartung nach, namentlich im Bereiche der Kunst. Das Vorbild des Grossen reizt die eitleren Naturen zum äusserlichen Nachmachen oder zum Ueberbieten ; dazu haben alle grossen Begabungen das Verhängnissvolle an sich, viele schwächere Kräfte und Keime zu erdrücken und um sich herum gleichsam die Natur zu veröden. Der glücklichste Fall in der Entwickelung einer Kunst ist der, dass mehrere Genie’s sich gegenseitig in Schranken halten ; bei diesem Kampfe wird gewöhnlich den schwächeren und zarteren Naturen auch Luft und Licht gegönnt. 159. D ie K u n st dem K ü n st ler g ef ä h rl ic h. – Wenn die Kunst ein Individuum gewaltig ergreift, dann zieht es dasselbe zu Anschauungen solcher Zeiten zurück, wo die Kunst am kräftigsten blühte, sie wirkt dann zurückbildend. Der Künstler kommt immer mehr in eine Verehrung der plötzlichen Erregungen, glaubt an Götter und Dämonen, durchseelt die Natur, hasst die Wissenschaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen, wie die Menschen des Alterthums, und begehrt einen Umsturz aller Verhältnisse, welche der Kunst nicht günstig sind, und zwar diess mit der Heftigkeit und Unbilligkeit eines Kindes. An sich ist nun der Künstler schon ein zurückblei|bendes Wesen, weil er beim Spiel stehen bleibt, welches

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zur Jugend und Kindheit gehört : dazu kommt noch, dass er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet wird. So entsteht zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichalterigen Menschen seiner Periode und ein trübes Ende ; so wie, nach den Erzählungen der Alten, Homer und Aeschylus in Melancholie zuletzt lebten und starben. 160. Geschaf fene Menschen. – Wenn man sagt, der Dramatiker (und der Künstler überhaupt) s c h a f f e wirklich Charaktere, so ist diess eine schöne Täuschung und Uebertreibung, in deren Dasein und Verbreitung die Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam überschüssigen Triumphe feiert. In der That verstehen wir von einem wirklichen lebendigen Menschen nicht viel und generalisiren sehr oberflächlich, wenn wir ihm diesen und jenen Charakter zuschreiben : dieser unserer s e h r u n vo l l k o m m e n e n Stellung zum Menschen entspricht nun der Dichter, indem er ebenso oberflächliche Entwürfe zu Menschen macht (in diesem Sinne „schaff t“), als unsere Erkenntniss der Menschen oberflächlich ist. Es ist viel Blendwerk bei diesen geschaffenen Charakteren der Künstler ; es sind durchaus keine leibhaftigen Naturproducte, sondern ähnlich wie die gemalten Menschen ein Wenig allzu dünn, sie vertragen den Anblick aus der Nähe nicht. Gar wenn man sagt, der Charakter des gewöhnlichen lebendigen Menschen widerspreche sich häufig, der vom Dramatiker geschaffene sei das Urbild, welches der Natur vorgeschwebt habe, so ist diess ganz falsch. Ein wirklicher Mensch ist etwas ganz und gar Not hwe n d i g e s (selbst in jenen sogenannten Widersprüchen), aber wir erkennen diese | Nothwendigkeit nicht immer. Der erdichtete Mensch, das Phantasma, will etwas Nothwendiges bedeuten, doch nur vor Solchen, welche auch einen wirklichen Menschen nur in einer rohen, unnatürlichen Simplification verstehen : so dass ein paar starke, oft wieder-

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holte Züge, mit sehr viel Licht darauf und sehr viel Schatten und Halbdunkel herum, ihren Ansprüchen vollständig genügen. Sie sind also leicht bereit, das Phantasma als wirklichen, nothwendigen Menschen zu behandeln, weil sie gewöhnt sind, beim wirklichen Menschen ein Phantasma, einen Schattenriss, eine willkürliche Abbreviatur für das Ganze zu nehmen. – Dass gar der Maler und der Bildhauer die „Idee“ des Menschen ausdrücke, ist eitel Phantasterei und Sinnentrug : man wird vom Auge tyrannisirt, wenn man so Etwas sagt, da dieses vom menschlichen Leibe selbst nur die Oberfläche, die Haut sieht ; der innere Leib gehört aber eben so sehr zur Idee. Die bildende Kunst will Charaktere auf der Haut sichtbar werden lassen ; die redende Kunst nimmt das Wort zu dem selben Zwecke, sie bildet den Charakter im Laute ab. Die Kunst geht von der natürlichen Unw i s s e n he it des Menschen über sein Inneres (in Leib und Charakter) aus : sie ist nicht für Physiker und Philosophen da. 161. S e l b s t ü b e r s c h ät z u n g i m G l au b e n a n K ü n s t le r   u n d Ph i l o s o p h e n . – Wir Alle meinen, es sei die Güte eines Kunstwerks, eines Künstlers bewiesen, wenn er uns ergreift, erschüttert. Aber da müsste doch erst u n s e r e e i g e ne G üt e in Urtheil und Empfi ndung bewiesen sein : was nicht der Fall ist. Wer hat mehr im Reiche der bildenden Kunst ergriffen und entzückt, als Bernini, wer mächtiger gewirkt, als jener nachdemosthenische | Rhetor, welcher den asianischen Stil einführte und durch zwei Jahrhunderte zur Herrschaft brachte ? Diese Herrschaft über ganze Jahrhunderte beweist Nichts für die Güte und dauernde Gültigkeit eines Stils ; desshalb soll man nicht zu sicher in seinem guten Glauben an irgend einen Künstler sein : ein solcher ist ja nicht nur der Glaube an die Wahrhaftigkeit unserer Empfi ndung, sondern auch an die Unfehlbarkeit unseres Urtheils, während Urtheil oder Empfi ndung oder beides selber zu grob oder zu fein geartet,

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überspannt oder roh sein können. Auch die Segnungen und Beseligungen einer Philosophie, einer Religion beweisen für ihre Wahrheit Nichts : ebensowenig als das Glück, welches der Irrsinnige von seiner fi xen Idee her geniesst, Etwas für die Vernünftigkeit dieser Idee beweist. 162. C u lt u s d e s G e n iu s’ au s E it e l k e it . – Weil wir gut von uns denken, aber doch durchaus nicht von uns erwarten, dass wir je den Entwurf eines Rafaelischen Gemäldes oder eine solche Scene wie die eines Shakespeare’schen Drama’s machen könnten, reden wir uns ein, das Vermögen dazu sei ganz übermässig wunderbar, ein ganz seltener Zufall, oder, wenn wir noch religiös empfi nden, eine Begnadigung von Oben. So fördert unsere Eitelkeit, unsere Selbstliebe, den Cultus des Genius’ : denn nur wenn dieser ganz fern von uns gedacht ist, als ein miraculum, verletzt er nicht (selbst Goethe, der Neidlose, nannte Shakespeare seinen Stern der fernsten Höhe ; wobei man sich jenes Verses erinnern mag : „die Sterne, die begehrt man nicht“). Aber von jenen Einflüsterungen unserer Eitelkeit abgesehen, so erscheint die Thätigkeit des Genie’s durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes | von der Thätigkeit des mechanischen Erfi nders, des astronomischen oder historischen Gelehrten, des Meisters der Taktik. Alle diese Thätigkeiten erklären sich, wenn man sich Menschen vergegenwärtigt, deren Denken in Einer Richtung thätig ist, die Alles als Stoff benützen, die immer ihrem innern Leben und dem Anderer mit Eifer zusehen, die überall Vorbilder, Anreizungen erblicken, die in der Combination ihrer Mittel nicht müde werden. Das Genie thut auch Nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thätigkeit des Menschen ist zum Verwundern complicirt, nicht nur die des Genie’s : aber keine ist ein „Wunder.“ – Woher nun der Glaube, dass es allein

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beim Künstler, Redner und Philosophen Genie gebe ? dass nur sie „Intuition“ haben ? (womit man ihnen eine Art von Wunder-Augenglas zuschreibt, mit dem sie direct in’s „Wesen“ sehen !) Die Menschen sprechen ersichtlich dort allein von Genius, wo ihnen die Wirkungen des grossen Intellectes am angenehmsten sind und sie wiederum nicht Neid empfi nden wollen. Jemanden „göttlich“ nennen heisst „hier brauchen wir nicht zu wetteifern.“ Sodann : alles Fertige, Vollkommene wird angestaunt, alles Werdende unterschätzt. Nun kann Niemand beim Werke des Künstlers zusehen, wie es g ewor d e n ist ; das ist sein Vortheil, denn überall, wo man das Werden sehen kann, wird man etwas abgekühlt. Die vollendete Kunst der Darstellung weist alles Denken an das Werden ab ; es tyrannisirt als gegenwärtige Vollkommenheit. Desshalb gelten die Künstler der Darstellung vornehmlich als genial, nicht aber die wissenschaftlichen Menschen. In Wahrheit ist jene Schätzung und diese Unterschätzung nur eine Kinderei der Vernunft. | 163. D e r E r n s t d e s H a nd we r k s . – Redet nur nicht von Begabung, angeborenen Talenten ! Es sind grosse Männer aller Art zu nennen, welche wenig begabt waren. Aber sie b e k a me n Grösse, wurden „Genie’s“ (wie man sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel Niemand gern redet, der sich ihrer bewusst ist : sie hatten Alle jenen tüchtigen Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die Theile vollkommen zu bilden, bis er es wagt, ein grosses Ganzes zu machen ; sie gaben sich Zeit dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen hatten, als an dem Effecte eines blendenden Ganzen. Das Recept zum Beispiel, wie Einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht zu geben, aber die Ausführung setzt Eigenschaften voraus, über die man hinwegzusehen pflegt, wenn man sagt „ich habe nicht genug Talent.“ Man mache nur hundert und mehr Entwürfe zu Novellen, keinen län-

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ger als zwei Seiten, doch von solcher Deutlichkeit, dass jedes Wort darin nothwendig ist ; man schreibe täglich Anekdoten nieder, bis man es lernt, ihre prägnanteste, wirkungsvollste Form zu fi nden, man sei unermüdlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen und Charaktere, man erzähle vor Allem so oft es möglich ist und höre erzählen, mit scharfem Auge und Ohr für die Wirkung auf die anderen Anwesenden, man reise wie ein Landschaftsmaler und Costümzeichner, man excerpire sich aus einzelnen Wissenschaften alles Das, was künstlerische Wirkungen macht, wenn es gut dargestellt wird, man denke endlich über die Motive der menschlichen Handlungen nach, verschmähe keinen Fingerzeig der Belehrung hierüber und sei ein Sammler von dergleichen Dingen bei Tag und Nacht. In dieser mannich|fachen Uebung lasse man einige zehn Jahre vorübergehen : was dann aber in der Werkstätte geschaffen wird, darf auch hinaus an das Licht der Strasse. – Wie machen es aber die Meisten ? Sie fangen nicht mit dem Theile, sondern mit dem Ganzen an. Sie thun vielleicht einmal einen guten Griff, erregen Aufmerksamkeit und thun von da an immer schlechtere Griffe, aus guten, natürlichen Gründen. – Mitunter, wenn Vernunft und Charakter fehlen, um einen solchen künstlerischen Lebensplan zu gestalten, übernimmt das Schicksal und die Noth die Stelle derselben und führt den zukünftigen Meister schrittweise durch alle Bedingungen seines Handwerks. 164. G e f a h r u nd G ew i n n i m C u lt u s d e s G e n iu s’. – Der Glaube an grosse, überlegene, fruchtbare Geister ist nicht nothwendig, aber sehr häufig noch mit jenem ganz- oder halbreligiösen Aberglauben verbunden, dass jene Geister übermenschlichen Ursprungs seien und gewisse wunderbare Vermögen besässen, vermittelst deren sie ihrer Erkenntnisse auf ganz anderem Wege theilhaftig würden, als die übrigen

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Menschen. Man schreibt ihnen wohl einen unmittelbaren Blick in das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung, zu und glaubt, dass sie ohne die Mühsal und Strenge der Wissenschaft, vermöge dieses wunderbaren Seherblickes, etwas Endgültiges und Entscheidendes über Mensch und Welt mittheilen könnten. So lange das Wunder im Bereiche der Erkenntniss noch Gläubige fi ndet, kann man vielleicht zugeben, dass dabei für die Gläubigen selber ein Nutzen herauskomme, insofern diese durch ihre unbedingte Unterordnung unter die grossen Geister, ihrem eigenen Geiste für die Zeit der Entwickelung die beste Dis|ciplin und Schule verschaffen. Dagegen ist mindestens fraglich, ob der Aberglaube vom Genie, von seinen Vorrechten und Sondervermögen für das Genie selber von Nutzen sei, wenn er in ihm sich einwurzelt. Es ist jedenfalls ein gefährliches Anzeichen, wenn den Menschen jener Schauder vor sich selbst überfällt, sei es nun jener berühmte Cäsaren-Schauder oder der hier in Betracht kommende Genie-Schauder ; wenn der Opferduft, welchen man billigerweise allein einem Gotte bringt, dem Genie in’s Gehirn dringt, so dass er zu schwanken und sich für etwas Uebermenschliches zu halten beginnt. Die langsamen Folgen sind : das Gefühl der Unverantwortlichkeit, der exceptionellen Rechte, der Glaube, schon durch seinen Umgang zu begnadigen, wahnsinnige Wuth bei dem Versuche, ihn mit Anderen zu vergleichen oder gar ihn niedriger zu taxiren und das Verfehlte seines Werkes in’s Licht zu setzen. Dadurch, dass er aufhört, Kritik gegen sich selbst zu üben, fällt zuletzt aus seinem Gefieder eine der Schwungfedern nach der anderen aus : jener Aberglaube gräbt die Wurzeln seiner Kraft an und macht ihn vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm gewichen ist. Für grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich nützlicher, wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigenschaften

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in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücksumstände hinzutraten : also einmal anhaltende Energie, entschlossene Hinwendung zu einzelnen Zielen, grosser persönlicher Muth, sodann das Glück einer Erziehung, welche die besten Lehrer, Vorbilder, Methoden frühzeitig darbot. Freilich, wenn ihr Ziel ist, die grösstmögliche W i r k u n g zu machen, so hat die Unklarheit über sich selbst und jene Beigabe eines halben Wahnsinns immer viel gethan ; denn bewundert | und beneidet hat man zu allen Zeiten gerade jene Kraft an ihnen, vermöge deren sie die Menschen willenlos machen und zum Wahne fortreissen, dass übernatürliche Führer vor ihnen her giengen. Ja, es erhebt und begeistert die Menschen, Jemanden im Besitz übernatürlicher Kräfte zu glauben : insofern hat der Wahnsinn, wie Plato sagt, die grössten Segnungen über die Menschen gebracht. – In einzelnen seltenen Fällen mag dieses Stück Wahnsinn wohl auch das Mittel gewesen sein, durch welches eine solche nach allen Seiten hin excessive Natur fest zusammengehalten wurde : auch im Leben der Individuen haben die Wahnvorstellungen häufig den Werth von Heilmitteln, welche an sich Gifte sind ; doch zeigt sich endlich, bei jedem „Genie“, das an seine Göttlichkeit glaubt, das Gift in dem Grade, als das „Genie“ alt wird : man möge sich zum Beispiel Napoleon’s erinnern, dessen Wesen sicherlich gerade durch seinen Glauben an sich und seinen Stern und durch die aus ihm fl iessende Verachtung der Menschen zu der mächtigen Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen modernen Menschen heraushebt, bis endlich aber dieser selbe Glaube in einen fast wahnsinnigen Fatalismus übergieng, ihn seines Schnell- und Scharf blickes beraubte und die Ursache seines Unterganges wurde. 165. D a s G e n ie u nd d a s Nic ht i g e. – Gerade die originellen, aus sich schöpfenden Köpfe unter den Künstlern können unter Umständen das ganz Leere und Schaale hervorbringen,

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während die abhängigeren Naturen, die sogenannten Talente, voller Erinnerungen an alles mögliche Gute stecken und auch im Zustand der Schwäche etwas Leidliches produciren. Sind die Originellen aber | von sich selber verlassen, so giebt die Erinnerung ihnen keine Hülfe : sie werden leer. 166. D a s P u bl ic u m . – Von der Tragödie begehrt das Volk eigentlich nicht mehr, als recht gerührt zu werden, um sich einmal ausweinen zu können ; der Artist dagegen, der die neue Tragödie sieht, hat seine Freude an den geistreichen technischen Erfi ndungen und Kunstgriffen, an der Handhabung und Vertheilung des Stoffes, an der neuen Wendung alter Motive, alter Gedanken. Seine Stellung ist die ästhetische Stellung zum Kunstwerk, die des Schaffenden ; die erstbeschriebene, mit alleiniger Rücksicht auf den Stoff, die des Volkes. Von dem Menschen dazwischen ist nicht zu reden, er ist weder Volk noch Artist und weiss nicht, was er will : so ist auch seine Freude unklar und gering. 167. A r t ist isc he Er ziehu ng des P ubl ic u ms. – Wenn das selbe Motiv nicht hundertfältig durch verschiedene Meister behandelt wird, lernt das Publicum nicht über das Interesse des Stoffes hinauskommen ; aber zuletzt wird es selbst die Nuancen, die zarten, neuen Erfi ndungen in der Behandlung dieses Motives fassen und geniessen, wenn es also das Motiv längst aus zahlreichen Bearbeitungen kennt und dabei keinen Reiz der Neuheit, der Spannung mehr empfi ndet. 168. Kü nst ler u nd sei n Gefolge müssen Sc h r it t ha lten. – Der Fortgang von einer Stufe des Stils zur andern muss so langsam sein, dass nicht nur die Künstler, sondern auch die Zuhörer und Zuschauer diesen | Fortgang mitmachen und

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genau wissen, was vorgeht. Sonst entsteht auf einmal jene grosse Kluft zwischen dem Künstler, der auf abgelegener Höhe seine Werke schaff t, und dem Publicum, welches nicht mehr zu jener Höhe hinaufkann und endlich missmuthig wieder tiefer hinabsteigt. Denn wenn der Künstler sein Publicum nicht mehr hebt, so sinkt es schnell abwärts, und zwar stürzt es um so tiefer und gefährlicher, je höher es ein Genius getragen hat, dem Adler vergleichbar, aus dessen Fängen die in die Wolken hinaufgetragene Schildkröte zu ihrem Unheil hinabfällt. 169. Herk u n f t de s K om i sc hen. – Wenn man erwägt, dass der Mensch manche hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der Furcht zugängliches Thier war und dass alles Plötzliche, Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hiess, ja dass selbst später, in socialen Verhältnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in Meinung und Thätigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, dass bei allem Plötzlichen, Unerwarteten in Wort und That, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, in’s Gegentheil der Furcht übergeht : das vor Angst zitternde, zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit, – der Mensch lacht. Diesen Uebergang aus momentaner Angst in kurz dauernden Uebermuth nennt man das K o m i s c h e . Dagegen geht im Phänomen des Tragischen der Mensch schnell aus grossem, dauerndem Uebermuth in grosse Angst über ; da aber unter Sterblichen der grosse dauernde Uebermuth viel seltener, als der Anlass zur Angst ist, so giebt es viel mehr des | Komischen, als des Tragischen in der Welt ; man lacht viel öfter, als dass man erschüttert ist. 170. K ü n s t le r - E h r g e i z . – Die griechischen Künstler, zum Beispiel die Tragiker dichteten, um zu siegen ; ihre ganze Kunst

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ist nicht ohne Wettkampf zu denken : die hesiodische gute Eris, der Ehrgeiz, gab ihrem Genius die Flügel. Nun verlangte dieser Ehrgeiz vor Allem, dass ihr Werk die höchste Vortrefflichkeit vor i h r e n e i g e ne n Au g e n erhalte, so wie s i e also die Vortreffl ichkeit verstanden, ohne Rücksicht auf einen herrschenden Geschmack und die allgemeine Meinung über das Vortreffl iche an einem Kunstwerk ; und so blieben Aeschylus und Euripides lange Zeit ohne Erfolg, bis sie sich endlich Kunstrichter e r z og e n hatten, welche ihr Werk nach den Maassstäben würdigten, welche sie selber anlegten. Somit erstreben sie den Sieg über Nebenbuhler nach ihrer eigenen Schätzung, vor ihrem eigenen Richterstuhl, sie wollen wirklich vortreffl icher s e i n ; dann fordern sie von Aussen her Zustimmung zu dieser eigenen Schätzung, Bestätigung ihres Urtheils. Ehre erstreben heisst hier „sich überlegen machen und wünschen, dass es auch öffentlich so erscheine.“ Fehlt das Erstere und wird das Zweite trotzdem begehrt, so spricht man von E it e l k e it . Fehlt das Letztere und wird es nicht vermisst, so redet man von St ol z . 171. D a s Not hwe nd i g e a m K u n s t we rk . – Die, welche so viel von dem Nothwendigen an einem Kunstwerk reden, übertreiben, wenn sie Künstler sind, in majorem artis gloriam, oder wenn sie Laien sind, aus Unkenntniss. Die Formen eines Kunstwerkes, welche seine Gedanken | zum Reden bringen, also seine Art zu sprechen sind, haben immer etwas Lässliches, wie alle Art Sprache. Der Bildhauer kann viele kleine Züge hinzuthun oder weglassen : ebenso der Darsteller, sei es ein Schauspieler oder, in Betreff der Musik, ein Virtuos oder Dirigent. Diese vielen kleinen Züge und Ausfeilungen machen ihm heute Vergnügen, morgen nicht, sie sind mehr des Künstlers als der Kunst wegen da, denn auch er bedarf, bei der Strenge und Selbstbezwingung, welche die Darstellung des Hauptgedankens von ihm fordert, gelegentlich des

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Zuckerbrodes und der Spielsachen, um nicht mürrisch zu werden. 172. D e n Me i s t e r ve r g e s s e n m ac he n . – Der Clavierspieler, der das Werk eines Meisters zum Vortrag bringt, wird am besten gespielt haben, wenn er den Meister vergessen liess und wenn es so erschien, als ob er eine Geschichte seines Lebens erzähle oder jetzt eben Etwas erlebe. Freilich : wenn er nichts Bedeutendes i s t , wird Jedermann seine Geschwätzigkeit verwünschen, mit der er uns aus seinem Leben erzählt. Also muss er verstehen, die Phantasie des Zuhörers für sich einzunehmen. Daraus wiederum erklären sich alle Schwächen und Narrheiten des „Virtuosenthums“. 173. Cor r i g e r l a f or t u ne. – Es giebt schlimme Zufälligkeiten im Leben grosser Künstler, welche zum Beispiel den Maler zwingen, sein bedeutendstes Bild nur als flüchtigen Gedanken zu skizziren oder zum Beispiel Beethoven zwangen, uns in manchen grossen Sonaten (wie in der grossen B-dur) nur den ungenügenden Clavierauszug einer Symphonie zu hinterlassen. Hier soll der | späterkommende Künstler das Leben der Grossen nachträglich zu corrigiren suchen : was zum Beispiel Der thun würde, welcher, als ein Meister aller Orchesterwirkungen, uns jene, dem Clavier-Scheintode verfallene Symphonie zum Leben erweckte. 174. Ve r k le i ne r n . – Manche Dinge, Ereignisse oder Personen, vertragen es nicht, im kleinen Maassstabe behandelt zu werden. Man kann die Laokoon-Gruppe nicht zu einer Nippesfigur verkleinern ; sie hat Grösse nothwendig. Aber viel seltener ist es, dass etwas von Natur Kleines die Vergrösserung verträgt ; wesshalb es Biographen immer noch eher gelingen

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wird, einen grossen Mann klein darzustellen, als einen kleinen gross. 175. S i n n l i c h k e i t i n d e r K u n s t d e r G e g e n w a r t . – Die Künstler verrechnen sich jetzt häufig, wenn sie auf eine sinnliche Wirkung ihrer Kunstwerke hinarbeiten ; denn ihre Zuschauer oder Zuhörer haben nicht mehr ihre vollen Sinne und gerathen, ganz wider die Absicht des Künstlers, durch sein Kunstwerk in eine „Heiligkeit“ der Empfi ndung, welche der Langweiligkeit nahe verwandt ist. – Ihre Sinnlichkeit fängt vielleicht dort an, wo die des Künstlers gerade aufhört, sie begegnen sich also höchstens an Einem Puncte. 176. Sha kes pea re a l s Mor a l i st. – Shakespeare hat über die Leidenschaften viel nachgedacht und wohl von seinem Temperamente her zu vielen einen sehr nahen Zugang gehabt (Dramatiker sind im Allgemeinen ziemlich böse Menschen). Aber er vermochte nicht, wie Montaigne, | darüber zu reden, sondern legte die Beobachtungen ü b e r die Passionen den passionirten Figuren in den Mund : was zwar wider die Natur ist, aber seine Dramen so gedankenvoll macht, dass sie alle anderen leer erscheinen lassen und leicht einen allgemeinen Widerwillen gegen sie erwecken. – Die Sentenzen Schiller’s (welchen fast immer falsche oder unbedeutende Einfälle zu Grunde liegen) sind eben Theatersentenzen und wirken als solche sehr stark : während die Sentenzen Shakespeare’s seinem Vorbilde Montaigne Ehre machen und ganz ernsthafte Gedanken in geschliffener Form enthalten, desshalb aber für die Augen des Theaterpublicums zu fern und zu fein, also unwirksam sind. 177. Sic h g ut z u G e hör br i n g e n . – Man muss nicht nur verstehen, gut zu spielen, sondern auch sich gut zu Gehör zu brin-

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gen. Die Geige in der Hand des grössten Meisters giebt nur ein Gezirp von sich, wenn der Raum zu gross ist ; man kann da den Meister mit jedem Stümper verwechseln. 178. Da s Unvol l st ä nd i g e a l s d a s Wi rk sa me. – Wie Relieffiguren dadurch so stark auf die Phantasie wirken, dass sie gleichsam auf dem Wege sind, aus der Wand herauszutreten und plötzlich, irgend wodurch gehemmt, Halt machen : so ist mitunter die reliefartig unvollständige Darstellung eines Gedankens, einer ganzen Philosophie wirksamer, als die erschöpfende Ausführung : man überlässt der Arbeit des Beschauers mehr, er wird aufgeregt, das, was in so starkem Licht und Dunkel vor ihm sich abhebt, fortzubilden, zu Ende zu denken und jenes Hemmniss selber zu überwinden, welches ihrem völligen Heraustreten bis dahin hinderlich war. | 179. G e g e n d ie O r i g i n a le n . – Wenn die Kunst sich in den abgetragensten Stoff kleidet, erkennt man sie am besten als Kunst. 180. Col lect ivgeist. – Ein guter Schriftsteller hat nicht nur seinen eigenen Geist, sondern auch noch den Geist seiner Freunde. 181. Zwe ierle i Verk e n nu n g. – Das Unglück scharfsinniger und klarer Schriftsteller ist, dass man sie für flach nimmt und desshalb ihnen keine Mühe zuwendet : und das Glück der unklaren, dass der Leser sich an ihnen abmüht und die Freude über seinen Eifer ihnen zu Gute schreibt.

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182. Ve r h ä lt n i s s z u r W i s s e n s c h a f t . – Alle Die haben kein wirkliches Interesse an einer Wissenschaft, welche erst dann anfangen, für sie warm zu werden, wenn sie selbst Entdekkungen in ihr gemacht haben. 183. D e r S c h lü s s e l . – Der eine Gedanke, auf den ein bedeutender Mensch, zum Gelächter und Spott der Unbedeutenden, grossen Werth legt, ist für ihn ein Schlüssel zu verborgenen Schatzkammern, für Jene nicht mehr, als ein Stück alten Eisens. 184. Unü b e r s et z b a r. – Es ist weder das Beste, noch das Schlechteste an einem Buche, was an ihm unübersetzbar ist. | 185. Pa r adox ien des Autor s. – Die sogenannten Paradoxien des Autors, an welchen ein Leser Anstoss nimmt, stehen häufig gar nicht im Buche des Autors, sondern im Kopfe des Lesers. 186. W it z . – Die witzigsten Autoren erzeugen das kaum bemerkbarste Lächeln. 187. D ie A nt it he s e. – Die Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich am liebsten der Irrthum zur Wahrheit schleicht. 188. D e n k e r a l s S t i l i s t e n . – Die meisten Denker schreiben schlecht, weil sie uns nicht nur ihre Gedanken, sondern auch das Denken der Gedanken mittheilen.

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189. G e d a n k e n i m G e d ic ht . – Der Dichter führt seine Gedanken festlich daher, auf dem Wagen des Rhythmus’ : gewöhnlich desshalb, weil diese zu Fuss nicht gehen können. 190. Sünde wider den Geist des Lesers. – Wenn der Autor sein Talent verleugnet, blos um sich dem Leser gleich zu stellen, so begeht er die einzige Todsünde, welche ihm Jener nie verzeiht : im Fall er nämlich Etwas davon merkt. Man darf dem Menschen sonst alles Böse nachsagen : aber in der Art, w i e man es sagt, muss man seine Eitelkeit wieder aufzurichten wissen. | 191. Gr ä n z e d e r E h rl ic h k e it . – Auch dem ehrlichsten Schriftsteller entfällt ein Wort zu viel, wenn er eine Periode abrunden will. 192. D e r b e s t e Aut or. – Der beste Autor wird der sein, welcher sich schämt, Schriftsteller zu werden. 193. D r a k o n i s c h e s G e s e t z g e g e n S c h r i f t s t e l le r. – Man sollte einen Schriftsteller als einen Missethäter ansehen, der nur in den seltensten Fällen Freisprechung oder Begnadigung verdient : das wäre ein Mittel gegen das Ueberhandnehmen der Bücher. 194. Die Na r ren der moder nen Cu lt u r. – Die Narren der mittelalterlichen Höfe entsprechen unseren Feuilletonisten ; es ist die selbe Gattung Menschen, halbvernünftig, witzig, übertrieben, albern, mitunter nur dazu da, das Pathos der Stimmung durch Einfälle, durch Geschwätz zu mildern und den allzu schweren, feierlichen Glockenklang grosser Ereignisse durch

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Geschrei zu übertäuben ; ehemals im Dienste der Fürsten und Adeligen, jetzt im Dienste von Parteien (wie in Partei-Sinn und Partei-Zucht ein guter Theil der alten Unterthänigkeit im Verkehr des Volkes mit dem Fürsten jetzt noch fortlebt.) Der ganze moderne Litteratenstand steht aber den Feuilletonisten sehr nahe, es sind die „Narren der modernen Cultur“, welche man milder beurtheilt, wenn man sie als nicht ganz zurechnungsfähig nimmt. Schriftstellerei als Lebensberuf zu betrachten, sollte billigerweise als eine Art Tollheit gelten. | 195. D e n G r ie c h e n n a c h . – Der Erkenntniss steht es gegenwärtig sehr im Wege, dass alle Worte durch hundertjährige Uebertreibung des Gefühls dunstig und aufgeblasen geworden sind. Die höhere Stufe der Cultur, welche sich unter die Herrschaft (wenn auch nicht unter die Tyrannei) der Erkenntniss stellt, hat eine grosse Ernüchterung des Gefühls und eine starke Concentration aller Worte vonnöthen ; worin uns die Griechen im Zeitalter des Demosthenes vorangegangen sind. Das Ueberspannte bezeichnet alle modernen Schriften ; und selbst wenn sie einfach geschrieben sind, so werden die Worte in denselben noch zu excentrisch g e f ü h lt . Strenge Ueberlegung, Gedrängtheit, Kälte, Schlichtheit, selbst absichtlich bis an die Gränze hinab, überhaupt An-sich-halten des Gefühls und Schweigsamkeit, – das kann allein helfen. – Uebrigens ist diese kalte Schreib- und Gefühlsart, als Gegensatz, jetzt sehr reizvoll : und darin liegt freilich eine neue Gefahr. Denn die scharfe Kälte ist so gut ein Reizmittel, als ein hoher Wärmegrad. 196. Gute Er zä h ler sc h lec hte Erk lä rer. – Bei guten Erzählern steht oft eine bewunderungswürdige psychologische Sicherheit und Consequenz, soweit diese in den Handlungen ihrer Personen hervortreten kann, in einem geradezu lächerlichen

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Gegensatz zu der Ungeübtheit ihres psychologischen Denkens : so dass ihre Cultur in dem einen Augenblicke ebenso ausgezeichnet hoch, als im nächsten bedauerlich tief erscheint. Es kommt gar zu häufig vor, dass sie ihre eigenen Helden und deren Handlungen ersichtlich f a l s c h erklären, – es ist daran kein Zweifel, so unwahrscheinlich die Sache klingt. Vielleicht hat der | grösste Clavierspieler nur wenig über die technischen Bedingungen und die specielle Tugend, Untugend, Nutzbarkeit und Erziehbarkeit jedes Fingers (daktylische Ethik) nachgedacht, und macht grobe Fehler, wenn er von solchen Dingen redet. 197. D ie Sc h r i f ten von B ek a n nten u nd i h r e L e ser. – Wir lesen Schriften von Bekannten (Freunden und Feinden) doppelt, insofern fortwährend unsere Erkenntniss daneben flüstert : „das ist von ihm, ein Merkmal seines inneren Wesens, seiner Erlebnisse, seiner Begabung“, und wiederum eine andere Art Erkenntniss dabei festzustellen sucht, was der Ertrag jenes Werkes an sich ist, welche Schätzung es überhaupt, abgesehen von seinem Verfasser, verdient, welche Bereicherung des Wissens es mit sich bringt. Diese beiden Arten des Lesens und Erwägens stören sich, wie das sich von selbst versteht, gegenseitig. Auch eine Unterhaltung mit einem Freunde wird dann erst gute Früchte der Erkenntniss zeitigen, wenn Beide endlich nur noch an die Sache denken, und vergessen, dass sie Freunde sind. 198. R hy t h m i s c he O pf e r. – Gute Schriftsteller verändern den Rhythmus mancher Periode blos desshalb, weil sie den gewöhnlichen Lesern nicht die Fähigkeit zuerkennen, den Tact, welchem die Periode in ihrer ersten Fassung folgte, zu begreifen : desshalb erleichtern sie es ihnen, indem sie bekannteren Rhythmen den Vorzug geben. – Diese Rücksicht auf das rhythmische Unvermögen der jetzigen Leser hat schon man-

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che Seufzer entlockt, denn ihr ist viel schon zum Opfer gefallen. – Ob es guten Musikern nicht ähnlich ergeht ? | 199. Das Unvol lstä nd ige a ls k ü n st ler i sc hes Rei zm it tel. – Das Unvollständige ist oft wirksamer als die Vollständigkeit, so namentlich in der Lobrede : für ihre Zwecke braucht man gerade eine anreizende Unvollständigkeit, als ein irrationales Element, welches der Phantasie des Hörers ein Meer vorspiegelt und gleich einem Nebel die gegenüberliegende Küste, also die Begränztheit des zu lobenden Gegenstandes, verdeckt. Wenn man die bekannten Verdienste eines Menschen erwähnt und dabei ausführlich und breit ist, so lässt diess immer den Argwohn aufkommen, es seien die einzigen Verdienste. Der vollständig Lobende stellt sich über den Gelobten, er scheint ihn zu ü b e r s e he n . Desshalb wirkt das Vollständige abschwächend. 200. Vo r s i c h t i m S c h r e i b e n u n d L e h r e n . – Wer erst geschrieben hat und die Leidenschaft des Schreibens in sich fühlt, lernt fast aus Allem, was er treibt und erlebt, nur Das noch heraus, was schriftstellerisch mittheilbar ist. Er denkt nicht mehr an sich, sondern an den Schriftsteller und sein Publicum ; er will die Einsicht, aber nicht zum eigenen Gebrauche. Wer Lehrer ist, ist meistens unfähig, etwas Eigenes noch für sein eigenes Wohl zu treiben, er denkt immer an das Wohl seiner Schüler und jede Erkenntniss erfreut ihn nur, so weit er sie lehren kann. Er betrachtet sich zuletzt als einen Durchweg des Wissens und überhaupt als Mittel, so dass er den Ernst für sich verloren hat. 201. S c h lec ht e S c h r i f t s t e l le r not hwe nd i g. – Es wird immer schlechte Schriftsteller geben müssen, denn sie entsprechen dem Geschmack der unentwickelten, unreifen | Altersclassen ;

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diese haben so gut ihr Bedürfniss wie die reifern. Wäre das menschliche Leben länger, so würde die Zahl der reif gewordenen Individuen überwiegend oder mindestens gleich gross mit der der unreifen ausfallen ; so aber sterben bei Weitem die meisten zu jung, das heisst es giebt immer viel mehr unentwickelte Intellecte mit schlechtem Geschmack. Diese begehren überdiess, mit der grösseren Heftigkeit der Jugend, nach Befriedigung ihres Bedürfnisses, und sie e r z w i n g e n s ic h schlechte Autoren. 202. Zu n a h u nd z u f e r n . – Der Leser und der Autor verstehen sich häufig desshalb nicht, weil der Autor sein Thema zu gut kennt und es beinahe langweilig fi ndet, so dass er sich die Beispiele erlässt, die er zu Hunderten weiss ; der Leser aber ist der Sache fremd und fi ndet sie leicht schlecht begründet, wenn ihm die Beispiele vorenthalten werden. 203. Ei ne ver sc hw u ndene Vorbereit u ng z u r K u n st. – An Allem, was das Gymnasium trieb, war das Werthvollste die Uebung im lateinischen Stil : diese war eben eine K u n s tü bu n g , während alle anderen Beschäftigungen nur das Wissen zum Zweck hatten. Den deutschen Aufsatz voranzustellen, ist Barbarei, denn wir haben keinen mustergültigen, an öffentlicher Beredtsamkeit emporgewachsenen deutschen Stil ; will man aber durch den deutschen Aufsatz die Uebung im Denken fördern, so ist es gewiss besser, wenn man einstweilen von Stil dabei überhaupt absieht, also zwischen der Uebung im Denken und der im Darstellen scheidet. Letztere sollte sich auf mannichfache Fassung eines gegebenen Inhaltes | beziehen und nicht auf selbständiges Erfi nden eines Inhaltes. Die blose Darstellung bei gegebenem Inhalte war die Aufgabe des lateinischen Stils, für welchen die alten Lehrer eine längst verloren gegangene Feinheit des Gehörs besassen.

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Wer ehemals gut in einer modernen Sprache schreiben lernte, verdankte es dieser Uebung (jetzt muss man sich nothgedrungen zu den älteren Franzosen in die Schule schicken) ; aber noch mehr : er bekam einen Begriff von der Hoheit und Schwierigkeit der Form und wurde für die Kunst überhaupt auf dem einzig richtigen Wege vorbereitet, durch Praxis. 204. D u n k le s u nd Ueb e rhe l le s neb e n e i n a nd er. – Schriftsteller, welche im Allgemeinen ihren Gedanken keine Deutlichkeit zu geben verstehen, werden im Einzelnen mit Vorliebe die stärksten, übertriebensten Bezeichnungen und Superlative wählen : dadurch entsteht eine Lichtwirkung, wie bei Fackelbeleuchtung auf verworrenen Waldwegen. 205. S c h r i f t s t e l le r i s c he s M a le r t hu m . – Einen bedeutenden Gegenstand wird man am besten darstellen, wenn man die Farben zum Gemälde aus dem Gegenstande selber, wie ein Chemiker, nimmt und sie dann wie ein Artist verbraucht : so dass man die Zeichnung aus den Gränzen und Uebergängen der Farben erwachsen lässt. So bekommt das Gemälde Etwas von dem hinreissenden Naturelement, welches den Gegenstand selber bedeutend macht. 206. Büc he r, we lc he t a n z e n le h r e n . – Es giebt Schriftsteller, welche dadurch, dass sie Unmögliches als | möglich darstellen und vom Sittlichen und Genialen so reden, als ob beides nur eine Laune, ein Belieben sei, ein Gefühl von übermüthiger Freiheit hervorbringen, wie wenn der Mensch sich auf die Fussspitzen stellte und vor innerer Lust durchaus tanzen müsste.

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207. Nic ht fer t i g g ewor d e ne G e d a n k e n . – Ebenso wie nicht nur das Mannesalter, sondern auch Jugend und Kindheit einen Werth a n s ic h haben und gar nicht nur als Durchgänge und Brücken zu schätzen sind, so haben auch die nicht fertig gewordenen Gedanken ihren Werth. Man muss desshalb einen Dichter nicht mit subtiler Auslegung quälen und sich an der Unsicherheit seines Horizontes vergnügen, wie als ob der Weg zu mehreren Gedanken noch offen sei. Man steht an der Schwelle ; man wartet wie bei der Ausgrabung eines Schatzes : es ist, als ob ein Glücksfund von Tiefsinn eben gemacht werden sollte. Der Dichter nimmt Etwas von der Lust des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens vorweg und macht uns damit begehrlich, so dass wir nach diesem haschen ; der aber gaukelt an unserm Kopf vorüber und zeigt die schönsten Schmetterlingsflügel – und doch entschlüpft er uns. 208. Das Buch fast zum Menschen geworden. – Jeden Schriftsteller überrascht es von Neuem, wie das Buch, sobald es sich von ihm gelöst hat, ein eigenes Leben für sich weiterlebt ; es ist ihm zu Muthe, als wäre der eine Theil eines Insectes losgetrennt und gienge nun seinen eigenen Weg weiter. Vielleicht vergisst er es fast ganz, vielleicht erhebt er sich über die darin niedergelegten Ansichten, vielleicht selbst versteht er es nicht mehr und | hat jene Schwingen verloren, auf denen er damals flog, als er jenes Buch aussann : währenddem sucht es sich seine Leser, entzündet Leben, beglückt, erschreckt, erzeugt neue Werke, wird die Seele von Vorsätzen und Handlungen – kurz : es lebt wie ein mit Geist und Seele ausgestattetes Wesen und ist doch kein Mensch. – Das glücklichste Loos hat der Autor gezogen, welcher, als alter Mann, sagen kann, dass Alles, was von lebenzeugenden, kräftigenden, erhebenden, aufklärenden Gedanken und Gefühlen in ihm war, in

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seinen Schriften noch fortlebe und dass er selber nur noch die graue Asche bedeute, während das Feuer überall hin gerettet und weiter getragen sei. – Erwägt man nun gar, dass jede Handlung eines Menschen, nicht nur ein Buch, auf irgend eine Art Anlass zu anderen Handlungen, Entschlüssen, Gedanken wird, dass Alles, was geschieht, unlösbar fest sich mit Allem, was geschehen wird, verknotet, so erkennt man die wirkliche Un s t e r bl ic h k e it , die es giebt, die der Bewegung : was einmal bewegt hat, ist in dem Gesammtverbande alles Seienden, wie in einem Bernstein ein Insect, eingeschlossen und verewigt. 209. Fr eu d e i m A lt e r. – Der Denker und ebenso der Künstler, welcher sein besseres Selbst in Werke geflüchtet hat, empfi ndet eine fast boshafte Freude, wenn er sieht, wie sein Leib und Geist langsam von der Zeit angebrochen und zerstört werden, als ob er aus einem Winkel einen Dieb an seinem Geldschranke arbeiten sähe, während er weiss, dass dieser leer ist und alle Schätze gerettet sind. | 210. R u h i g e Fr uc ht b a r k e it . – Die geborenen Aristokraten des Geistes sind nicht zu eifrig ; ihre Schöpfungen erscheinen und fallen an einem ruhigen Herbstabend vom Baume, ohne hastig begehrt, gefördert, durch Neues verdrängt zu werden. Das unablässige Schaffenwollen ist gemein und zeigt Eifersucht, Neid, Ehrgeiz an. Wenn man Etwas ist, so braucht man eigentlich Nichts zu machen, – und thut doch sehr viel. Es giebt über dem „productiven“ Menschen noch eine höhere Gattung. 211. Ac h i l les u nd Homer. – Es ist immer wie zwischen Achilles und Homer : der Eine h at das Erlebniss, die Empfi ndung, der Andere b e s c h r e i bt sie. Ein wirklicher Schriftsteller giebt

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dem Affect und der Erfahrung Anderer nur Worte, er ist Künstler, um aus dem Wenigen, was er empfunden hat, viel zu errathen. Künstler sind keineswegs die Menschen der grossen Leidenschaft, aber häufig g e b e n sie sich als solche in der unbewussten Empfi ndung, dass man ihrer gemalten Leidenschaft mehr traut, wenn ihr eigenes Leben für ihre Erfahrung auf diesem Gebiete spricht. Man braucht sich ja nur gehen zu lassen, sich nicht zu beherrschen, seinem Zorn, seiner Begierde offenen Spielraum zu gönnen, sofort schreit alle Welt : wie leidenschaftlich ist er ! Aber mit der tiefwühlenden, das Individuum anzehrenden und oft verschlingenden Leidenschaft hat es Etwas auf sich : wer sie erlebt, beschreibt sie gewiss nicht in Dramen, Tönen oder Romanen. Künstler sind häufig z ü g e l lo s e Individuen, soweit sie eben nicht Künstler sind : aber das ist etwas Anderes. | 212. A lt e Zwe i f e l ü b e r d ie W i r k u n g d e r K u n s t . – Sollten Mitleid und Furcht wirklich, wie Aristoteles will, durch die Tragödie entladen werden, so dass der Zuhörer kälter und ruhiger nach Hause zurückkehre ? Sollten Geistergeschichten weniger furchtsam und abergläubisch machen ? Es ist bei einigen physischen Vorgängen, zum Beispiel bei dem Liebesgenuss, wahr, dass mit der Befriedigung eines Bedürfnisses eine Linderung und zeitweilige Herabstimmung des Triebes eintritt. Aber die Furcht und das Mitleid sind nicht in diesem Sinne Bedürfnisse bestimmter Organe, welche erleichtert werden wollen. Und auf die Dauer wird selbst jeder Trieb durch Uebung in seiner Befriedigung g e s t ä r k t , trotz jener periodischen Linderungen. Es wäre möglich, dass Mitleid und Furcht in jedem einzelnen Falle durch die Tragödie gemildert und entladen würden : trotzdem könnten sie im Ganzen durch die tragische Einwirkung überhaupt grösser werden, und Plato behielte doch Recht, wenn er meint, dass man

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durch die Tragödie insgesammt ängstlicher und rührseliger werde. Der tragische Dichter selbst würde dann nothwendig eine düstere, furchtvolle Weltbetrachtung und eine weiche, reizbare, thränensüchtige Seele bekommen, desgleichen würde es zu Plato’s Meinung stimmen, wenn die tragischen Dichter und ebenso die ganzen Stadtgemeinden, welche sich besonders an ihnen ergötzen, zu immer grösserer Maass- und Zügellosigkeit ausarten. – Aber welches Recht hat unsere Zeit überhaupt, auf die grosse Frage Plato’s nach dem moralischen Einfluss der Kunst eine Antwort zu geben ? Hätten wir selbst die Kunst, – wo haben wir den Einfluss, i r g e nd e i ne n Einfluss der Kunst ? | 213. Fr eu d e a m Un s i n n . – Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben ? So weit nämlich auf der Welt gelacht wird, ist diess der Fall ; ja man kann sagen, fast überall wo es Glück giebt, giebt es Freude am Unsinn. Das Umwerfen der Erfahrung in’s Gegentheil, des Zweckmässigen in’s Zwecklose, des Nothwendigen in’s Beliebige, doch so, dass dieser Vorgang keinen Schaden macht und nur einmal aus Uebermuth vorgestellt wird, ergötzt, denn es befreit uns momentan von dem Zwange des Nothwendigen, Zweckmässigen und Erfahrungsgemässen, in denen wir für gewöhnlich unsere unerbittlichen Herren sehen ; wir spielen und lachen dann, wenn das Erwartete (das gewöhnlich bange macht und spannt) sich, ohne zu schädigen, entladet. Es ist die Freude der Sclaven am Saturnalienfeste. 214. Ve r e d e lu n g d e r W i rk l ic h k e it . – Dadurch, dass die Menschen in dem aphrodisischen Triebe eine Gottheit sahen und ihn mit anbetender Dankbarkeit in sich wirkend fühlten, ist im Verlaufe der Zeit jener Affect mit höheren Vorstellungsreihen durchzogen und dadurch thatsächlich sehr veredelt worden. So haben sich einige Völker, vermöge dieser Kunst

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des Idealisirens, aus Krankheiten grosse Hülfsmächte der Cultur geschaffen : zum Beispiel die Griechen, welche in früheren Jahrhunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der Art der Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den herrlichen Typus der Bacchantin herausgebildet haben. – Die Griechen besassen nämlich Nichts weniger, als eine vierschrötige Gesundheit ; – ihr Geheimniss war, auch die Krankheit, wenn sie nur M ac ht hatte, als Gott zu verehren. | 215. Mu s i k . – Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser Inneres, so tief erregend, dass sie als u n m it t e lb a r e Sprache des Gefühls gelten dürfte ; sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt w ä h ne n , sie spräche direct zum Inneren und käme au s dem Inneren. Die dramatische Musik ist erst möglich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich symbolischer Mittel erobert hat, durch Lied, Oper und hundertfältige Versuche der Tonmalerei. Die „absolute Musik“ ist entweder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum Verständniss redende Symbolik der Formen, nachdem in langer Entwickelung beide Künste verbunden waren und endlich die musicalische Form ganz mit Begriffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist. Menschen, welche in der Entwickelung der Musik zurückgeblieben sind, können das selbe Tonstück rein formalistisch empfi nden, wo die Fortgeschrittenen Alles symbolisch verstehen. An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom „Willen“, vom „Dinge an sich“ ; das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter wähnen, welches den ganzen Umfang des inneren Lebens für die musicalische Symbolik erobert hatte. Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst

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in den Klang h i ne i n g e le g t , wie er in die Verhältnisse von Linien und Massen bei der Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit gelegt hat, welche aber an sich den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist. | 216. Gebä rde u nd Sprac he. – Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden, welches unwillkürlich vor sich geht und jetzt noch, bei einer allgemeinen Zurückdrängung der Gebärdensprache und gebildeten Beherrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein bewegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichts ansehen können (man kann beobachten, dass fi ngirtes Gähnen bei Einem, der es sieht, natürliches Gähnen hervorruft). Die nachgeahmte Gebärde leitete Den, der nachahmte, zu der Empfi ndung zurück, welche sie im Gesicht oder Körper des Nachgeahmten ausdrückte. So lernte man sich verstehen : so lernt noch das Kind die Mutter verstehen. Im Allgemeinen mögen schmerzhafte Empfi ndungen wohl auch durch Gebärden ausgedrückt worden sein, welche Schmerz ihrerseits verursachen (zum Beispiel durch Haarausraufen, die-Brust-schlagen, gewaltsame Verzerrungen und Anspannungen der Gesichtsmuskeln). Umgekehrt : Gebärden der Lust waren selber lustvoll und eigneten sich dadurch leicht zum Mittheilen des Verständnisses (Lachen als Aeusserung des Gekitzeltwerdens, welches lustvoll ist, diente wiederum zum Ausdruck anderer lustvoller Empfi ndungen).  – Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine S y m b ol i k der Gebärde entstehen : ich meine, man konnte über eine Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar, dass man zuerst Ton u nd Gebärde (zu der er symbolisch hinzutrat), später nur den Ton hervorbrachte. – Es scheint sich da in früher Zeit das Selbe oftmals ereignet zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in der Entwickelung der Musik, namentlich der dramatischen Musik, vor sich geht : während zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz und Mimus (Gebär-

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densprache), leeres Geräusch ist, wird durch | lange Gewöhnung an jenes Nebeneinander von Musik und Bewegung das Ohr zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe des schnellen Verständnisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe ve r s t e ht . Man redet dann von absoluter Musik, das heisst von Musik, in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort symbolisch verstanden wird. 217. Die Entsin n lichung der höheren Kunst. – Unsere Ohren sind, vermöge der ausserordentlichen Uebung des Intellects durch die Kunstentwickelung der neuen Musik, immer intellectualer geworden. Desshalb ertragen wir jetzt viel grössere Tonstärke, viel mehr „Lärm“, weil wir viel besser eingeübt sind, auf die Ve r nu n f t i n i h m hinzuhorchen, als unsere Vorfahren. Thatsächlich sind nun alle unsere Sinne eben dadurch, dass sie sogleich nach der Vernunft, also nach dem „es bedeutet“ und nicht mehr nach dem „es ist“ fragen, etwas abgestumpft worden : wie sich eine solche Abstumpfung zum Beispiel in der unbedingten Herrschaft der Temperatur der Töne verräth ; denn jetzt gehören Ohren, welche die feineren Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen cis und des, noch machen, zu den Ausnahmen. In dieser Hinsicht ist unser Ohr vergröbert worden. Sodann ist die hässliche, den Sinnen ursprünglich feindselige Seite der Welt für die Musik erobert worden ; ihr Machtbereich, namentlich zum Ausdruck des Erhabenen, Furchtbaren, Geheimnissvollen, hat sich damit erstaunlich erweitert ; unsere Musik bringt jetzt Dinge zum Reden, welche früher keine Zunge hatten. In ähnlicher Weise haben einige Maler das Auge intellectualer gemacht und sind weit über Das hinausgegangen, was man früher | Farben- und Formenfreude nannte. Auch hier ist die ursprünglich als hässlich geltende Seite der Welt vom künstlerischen Verstande

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erobert worden. – Was ist von alledem die Consequenz ? Je gedankenfähiger Auge und Ohr werden, um so mehr kommen sie an die Gränze, wo sie unsinnlich werden : die Freude wird in’s Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach, das Symbolische tritt immer mehr an Stelle des Seienden, – und so gelangen wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem anderen. Einstweilen heisst es noch : die Welt ist hässlicher als je, aber sie b e d eut et eine schönere Welt als je gewesen. Aber je mehr der Ambraduft der Bedeutung sich zerstreut und verflüchtigt, um so seltener werden Die, welche ihn noch wahrnehmen : und die Uebrigen bleiben endlich bei dem Hässlichen stehen und suchen es direct zu geniessen, was ihnen aber immer misslingen muss. So giebt es in Deutschland eine doppelte Strömung der musicalischen Entwickelung : hier eine Schaar von Zehntausend mit immer höheren, zarteren Ansprüchen und immer mehr nach dem „es bedeutet“ hinhörend, und dort die ungeheuere Ueberzahl, welche alljährlich immer unfähiger wird, das Bedeutende auch in der Form der sinnlichen Hässlichkeit zu verstehen und desshalb nach dem an sich Hässlichen und Ekelhaften, das heisst dem niedrig Sinnlichen, in der Musik mit immer mehr Behagen greifen lernt. 218. D e r St e i n i s t me h r St e i n a l s f r ü her. – Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenigstens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren | herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhetorik entwöhnt sind, und haben diese Art von Muttermilch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles Etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge : diese Stimmung einer unausschöpfl ichen Bedeutsam-

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keit lag um das Gebäude gleich einem zauberhaften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfi ndung des Unheimlich-Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten, wesentlich zu beeinträchtigen ; Schönheit m i ld e r t e höchstens das Gr aue n , – aber dieses Grauen war überall die Voraussetzung. – Was ist uns jetzt die Schönheit eines Gebäudes ? Das Selbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau : etwas Maskenhaftes. 219. Re l i g iöse Herk u n f t der neuer en Mu s i k . – Die seelenvolle Musik entsteht in dem wiederhergestellten Katholicismus nach dem tridentinischen Concil, durch Palaestrina, welcher dem neu erwachten innigen und tief bewegten Geiste zum Klange verhalf ; später, mit Bach, auch im Protestantismus, soweit dieser durch die Pietisten vertieft und von seinem ursprünglich dogmatischen Grundcharakter losgebunden worden war. Voraussetzung und nothwendige Vorstufe für beide Entstehungen ist die Befassung mit Musik, wie sie dem Zeitalter der Renaissance und Vor-Renaissance zu eigen war, namentlich jene gelehrte Beschäftigung mit Musik, jene im Grunde wissenschaftliche Lust an den Kunststücken der Harmonik und Stimmführung. Andererseits musste auch die Oper vorhergegangen sein : in welcher der Laie seinen | Protest gegen eine zu gelehrt gewordene kalte Musik zu erkennen gab und der Polyhymnia wieder eine Seele schenken wollte. – Ohne jene tief religiöse Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst-erregten Gemüthes wäre die Musik gelehrt oder opernhaft geblieben ; der Geist der Gegenreformation ist der Geist der modernen Musik (denn jener Pietismus in Bach’s Musik ist auch eine Art Gegenreformation). So tief sind wir dem religiösen Leben verschuldet. – Die Musik war die G e g e n r e n a i s s a nc e im Gebiete der Kunst, zu ihr gehört die spätere Malerei des Murillo, zu ihr vielleicht auch

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der Barockstil : mehr jedenfalls als die Architektur der Renaissance oder des Alterthums. Und noch jetzt dürfte man fragen : wenn unsere neuere Musik die Steine bewegen könnte, würde sie diese zu einer antiken Architektur zusammensetzen ? Ich zweifle sehr. Denn Das, was in dieser Musik regiert, der Affect, die Lust an erhöhten, weit gespannten Stimmungen, das Lebendig-werden-wollen um jeden Preis, der rasche Wechsel der Empfi ndung, die starke Reliefwirkung in Licht und Schatten, die Nebeneinanderstellung der Ekstase und des Naiven, – das hat Alles schon einmal in den bildenden Künsten regiert und neue Stilgesetze geschaffen : – es war aber weder im Alterthum noch in der Zeit der Renaissance. 220. D a s Je n s e it s i n d e r K u n s t . – Nicht ohne tiefen Schmerz gesteht man sich ein, dass die Künstler aller Zeiten in ihrem höchsten Aufschwunge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklärung hinaufgetragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen : sie sind die Verherrlicher der religiösen und philosophischen Irrthümer der Menschheit, und sie hätten diess nicht sein | können ohne den Glauben an die absolute Wahrheit derselben. Nimmt nun der Glaube an eine solche Wahrheit überhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um die äussersten Enden des menschlichen Erkennens und Wähnens : so kann jene Gattung von Kunst nie wieder auf blühen, welche, wie die divina comedia, die Bilder Rafael’s, die Fresken Michelangelo’s, die gothischen Münster, nicht nur eine kosmische, sondern auch eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte voraussetzen. Es wird eine rührende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen Künstlerglauben gegeben habe.

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221. D ie Revolut ion i n der Poesie. – Der strenge Zwang, welchen sich die französischen Dramatiker auferlegten, in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl der Worte und Gedanken, war eine so wichtige Schule, wie die des Contrapuncts und der Fuge in der Entwickelung der modernen Musik oder wie die Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredtsamkeit. Sich so zu binden, kann absurd erscheinen ; trotzdem giebt es kein anderes Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen, als sich zuerst auf das allerstärkste (vielleicht allerwillkürlichste) zu beschränken. Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen schreiten, welche schwindelnde Abgründe überbrücken, und bringt die höchste Geschmeidigkeit der Bewegung als Ausbeute mit heim : wie die Geschichte der Musik vor den Augen aller Jetztlebenden beweist. Hier sieht man, wie Schritt vor Schritt, die Fesseln lockerer werden, bis sie endlich ganz abgeworfen scheinen können : dieser S c he i n ist das höchste Ergebniss einer nothwendigen Entwickelung in der Kunst. | In der modernen Dichtkunst gab es keine so glückliche allmähliche Herauswikkelung aus den selbstgelegten Fesseln. Lessing machte die fran zösische Form, das heisst die einzige moderne Kunstform, zum Gespött in Deutschland und verwies auf Shakespeare, und so verlor man die Stetigkeit jener Entfesselung und machte einen Sprung in den Naturalismus – das heisst in die Anfänge der Kunst zurück. Aus ihm versuchte sich Goethe zu retten, indem er sich immer von Neuem wieder auf verschiedene Art zu binden wusste ; aber auch der Begabteste bringt es nur zu einem fortwährenden Experimentiren, wenn der Faden der Entwickelung einmal abgerissen ist. Schiller verdankt die ungefähre Sicherheit seiner Form dem unwillkürlich verehrten, wenn auch verleugneten Vorbilde der französischen Tragödie und hielt sich ziemlich unabhängig von Lessing (des-

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sen dramatische Versuche er bekanntlich ablehnte). Den Franzosen selber fehlten nach Voltaire auf einmal die grossen Talente, welche die Entwickelung der Tragödie aus dem Zwange zu jenem Scheine der Freiheit fortgeführt hätten ; sie machten später nach deutschem Vorbilde auch den Sprung in eine Art von Rousseau’ischem Naturzustand der Kunst und experimentirten. Man lese nur von Zeit zu Zeit Voltaire’s Mahomet, um sich klar vor die Seele zu stellen, was durch jenen Abbruch der Tradition ein für alle Mal der europäischen Cultur verloren gegangen ist. Voltaire war der letzte der grossen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den grössten tragischen Gewitterstürmen gewachsene Seele durch griechisches Maass bändigte, – er vermochte Das, was noch kein Deutscher vermochte, weil die Natur des Franzosen der griechischen viel verwandter ist, als die Natur des Deutschen – ; wie er auch der letzte grosse Schriftsteller war, der in der Behandlung | der Prosa-Rede griechisches Ohr, griechische Künstler-Gewissenhaftigkeit, griechische Schlichtheit und Anmuth hatte ; ja wie er einer der letzten Menschen gewesen ist, welche die höchste Freiheit des Geistes und eine schlechterdings unrevolutionäre Gesinnung in sich vereinigen können, ohne inconsequent und feige zu sein. Seitdem ist der moderne Geist mit seiner Unruhe, seinem Hass gegen Maass und Schranke, auf allen Gebieten zur Herrschaft gekommen, zuerst entzügelt durch das Fieber der Revolution und dann wieder sich Zügel anlegend, wenn ihn Angst und Grauen vor sich selber anwandelte, – aber die Zügel der Logik, nicht mehr des künstlerischen Maasses. Zwar geniessen wir durch jene Entfesselung eine Zeit lang die Poesien aller Völker, alles an verborgenen Stellen Aufgewachsene, Urwüchsige, Wildblühende, Wunderlich-Schöne und Riesenhaft-Unregelmässige, vom Volksliede an bis zum „grossen Barbaren“ Shakespeare hinauf ; wir schmecken die Freuden der Localfarbe und des Zeitcostüms, die allen künstlerischen Völkern bisher fremd waren ; wir benutzen reichlich die

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„barbarischen Avantagen“ unserer Zeit, welche Goethe gegen Schiller geltend machte, um die Formlosigkeit seines Faust in das günstigste Licht zu stellen. Aber auf wie lange noch ? Die hereinbrechende Fluth von Poesien aller Stile aller Völker mu s s ja allmählich das Erdreich hinwegschwemmen, auf dem ein stilles verborgenes Wachsthum noch möglich gewesen wäre ; alle Dichter mü s s e n ja experimentirende Nachahmer, wagehalsige Copisten werden, mag ihre Kraft von Anbeginn noch so gross sein ; das Publicum endlich, welches verlernt hat, in der B ä nd i g u n g der darstellenden Kraft, in der organisirenden Bewältigung aller Kunstmittel die eigentlich künstlerische That zu sehen, mu s s immer mehr die Kraft um der Kraft willen, die Farbe um der | Farbe willen, den Gedanken um des Gedankens willen, ja die Inspiration um der Inspiration willen schätzen, es wird demgemäss die Elemente und Bedingungen des Kunstwerks gar nicht, wenn nicht i s ol i r t , geniessen und zu guterletzt die natürliche Forderung stellen, dass der Künstler isolirt sie ihm auch darreichen mü s s e. Ja, man hat die „unvernünftigen“ Fesseln der französisch-griechischen Kunst abgeworfen, aber unvermerkt sich daran gewöhnt, alle Fesseln, alle Beschränkung unvernünftig zu fi nden ; – und so bewegt sich die Kunst ihrer Auflösung entgegen und streift dabei – was freilich höchst belehrend ist – alle Phasen ihrer Anfänge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen : sie interpretirt, im Zu-Grunde-gehen, ihre Entstehung, ihr Werden. Einer der Grossen, auf dessen Instinct man sich wohl verlassen kann und dessen Theorie Nichts weiter, als ein dreissig Jahre M e h r von Praxis fehlte, – Lord Byron hat einmal ausgesprochen : „Was die Poesie im Allgemeinen anlangt, so bin ich, je mehr ich darüber nachdenke, immer fester der Ueberzeugung, dass wir allesammt auf dem falschen Wege sind, Einer wie der Andere. Wir folgen Alle einem innerlich falschen revolutionären System, – unsere oder

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die nächste Generation wird noch zu der selben Ueberzeugung gelangen.“ Es ist diess der selbe Byron, welcher sagt : „Ich betrachte Shakespeare als das schlechteste Vorbild, wenn auch als den ausserordentlichsten Dichter.“ Und sagt im Grunde Goethe’s gereifte künstlerische Einsicht aus der zweiten Hälfte seines Lebens nicht genau das Selbe ? – jene Einsicht, mit welcher er einen solchen Vorsprung über eine Reihe von Generationen gewann, dass man im Grossen und Ganzen behaupten kann, Goethe habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen ? | Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen Revolution festhielt, gerade weil er am gründlichsten auskostete, was Alles indirect durch jenen Abbruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten, Hülfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spätere Umwandelung und Bekehrung so viel : sie bedeutet, dass er das tiefste Verlangen empfand, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den stehen gebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Vollkommenheit und Ganzheit anzudichten, wenn die Kraft des Armes sich viel zu schwach erweisen sollte, zu bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerstören nöthig waren. So lebte er in der Kunst als in der Erinnerung an die wahre Kunst : sein Dichten war zum Hülfsmittel der Erinnerung, des Verständnisses alter, längst entrückter Kunstzeiten geworden. Seine Forderungen waren zwar in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters unerfüllbar ; der Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die Freude aufgewogen, dass sie einmal erfüllt g ewe s e n sind und dass auch wir noch an dieser Erfüllung theilnehmen können. Nicht Individuen, sondern mehr oder weniger idealische Masken ; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit ; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht ; das gegenwärtige Empfi nden und die

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Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden, spannenden, pathologischen Eigenschaften entkleidet, in jedem andern als dem artistischen Sinne w i r k u n g s lo s gemacht ; keine neuen Stoffe und Charaktere, sondern die alten, längst gewohnten in immerfort währender Neubeseelung und Umbildung : das | ist die Kunst, so wie sie Goethe später ve r s t a nd , so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen ü bt e n . 222. Wa s vo n d e r K u n s t übr i g ble i bt . – Es ist wahr, bei gewissen metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst viel grösseren Werth, zum Beispiel wenn der Glaube gilt, dass der Charakter unveränderlich sei und das Wesen der Welt sich in allen Charakteren und Handlungen fortwährend ausspreche : da wird das Werk des Künstlers zum Bild des ew i g B e h a r r e nd e n , während für unsere Auffassung der Künstler seinem Bilde immer nur Gültigkeit für eine Zeit geben kann, weil der Mensch im Ganzen geworden und wandelbar und selbst der einzelne Mensch nichts Festes und Beharrendes ist. – Ebenso steht es bei einer andern metaphysischen Voraussetzung : gesetzt, dass unsere sichtbare Welt nur Erscheinung wäre, wie es die Metaphysiker annehmen, so käme die Kunst der wirklichen Welt ziemlich nahe zu stehen : denn zwischen der Erscheinungswelt und der Traumbild-Welt des Künstlers gäbe es dann gar zu viel Aehnliches ; und die übrigbleibende Verschiedenheit stellte sogar die Bedeutung der Kunst höher, als die Bedeutung der Natur, weil die Kunst das Gleichförmige, die Typen und Vorbilder der Natur darstellte. – Jene Voraussetzungen sind aber falsch : welche Stellung bleibt nach dieser Erkenntniss jetzt noch der Kunst ? Vor Allem hat sie durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit Interesse und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfi ndung so weit zu bringen, dass wir endlich rufen : „wie es auch sei,

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das Leben, es ist gut.“ Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mitbewegung, als | Gegenstand gesetzmässiger Entwickelung anzusehen, diese Lehre ist in uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Bedürfniss des Erkennens wieder an’s Licht. Man könnte die Kunst aufgeben, würde damit aber nicht die von ihr gelernte Fähigkeit einbüssen : ebenso wie man die Religion aufgegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Gemüths-Steigerungen und -Erhebungen. Wie die bildende Kunst und die Musik der Maassstab des durch die Religion wirklich erworbenen und hinzugewonnenen Gefühls-Reichthumes ist, so würde nach einem Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und Vielartigkeit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern. Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwickelung des künstlerischen. 223. Abendröthe der Kunst. – Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und Gedächtnissfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhältniss einer rührenden Erinnerung an die Freuden der Jugend. Vielleicht dass niemals früher die Kunst so tief und seelenvoll erfasst wurde, wie jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen scheint. Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche an Einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter Wehmuth und Thränen darüber, dass immer mehr die ausländische Barbarei über ihre mitgebrachten Sitten triumphire ; niemals hat man wohl das Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher Wollust geschlürft, als unter diesen absterbenden Hellenen. Den Künstler wird man bald als ein herrliches Ueberbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten | hieng, Ehren erweisen, wie wir sie nicht leicht Unseresgleichen gönnen. Das Beste an uns

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ist vielleicht aus Empfi ndungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können ; die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen. |

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224. Ve r e d e lu n g d u r c h E nt a r t u n g. – Aus der Geschichte ist zu lernen, dass d e r Stamm eines Volkes sich am besten erhält, in welchem die meisten Menschen lebendigen Gemeinsinn in Folge der Gleichheit ihrer gewohnten und undiscutirbaren Grundsätze, also in Folge ihres gemeinsamen Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, tüchtige Sitte, hier wird die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr dieser starken, auf gleichartige, charaktervolle Individuen gegründeten Gemeinwesen ist die allmählich durch Vererbung gesteigerte Verdummung, welche nun einmal aller Stabilität wie ihr Schatten folgt. Es sind die ungebundneren, viel unsichereren und moralisch schwächeren Individuen, an denen das g e i s t i g e For t s c h r e it e n in solchen Gemeinwesen hängt : es sind die Menschen, welche Neues und überhaupt Vielerlei versuchen. Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen, ohne sehr ersichtliche Wirkung zu Grunde ; aber im Allgemeinen, zumal wenn sie Nachkommen haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem stabilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesammten Wesen etwas | Neues gleichsam i n o c u l i r t ; seine Kraft im Ganzen muss aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimiliren. Die abartenden Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll. Jedem Fortschritt im Grossen muss eine theilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Naturen h a lt e n den Typus f e s t , die schwächeren helfen ihn

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f or t b i ld e n . – Etwas Aehnliches ergiebt sich für den einzelnen Menschen ; selten ist eine Entartung, eine Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine körperliche oder sittliche Einbusse ohne einen Vortheil auf einer anderen Seite. Der kränkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines kriegerischen und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, für sich zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden, der Einäugige wird Ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in’s Innere schauen und jedenfalls schärfer hören. Insofern scheint mir der berühmte Kampf um’s Dasein nicht der einzige Gesichtspunct zu sein, aus dem das Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen, einer Rasse erklärt werden kann. Vielmehr muss zweierlei zusammen kommen : einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister in Glauben und Gemeingefühl ; sodann die Möglichkeit, zu höheren Zielen zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, theilweise Schwächungen und Verwundungen der stabilen Kraft vorkommen ; gerade die schwächere Natur, als die zartere und feinere, macht alles Fortschreiten überhaupt möglich. Ein Volk, das irgendwo angebröckelt und schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben. Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Erziehung | so : ihn so fest und sicher hinzustellen, dass er als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schlägt, zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedürfniss entstanden sind, so kann auch in die verwundeten Stellen etwas Neues und Edles inoculirt werden. Seine gesammte Natur wird es in sich hineinnehmen und später, in ihren Früchten, die Veredelung spüren lassen. – Was den Staat betriff t, so sagt Macchiavelli, dass „die Form der Regierungen von sehr geringer Bedeutung ist,

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obgleich halbgebildete Leute anders denken. Das grosse Ziel der Staatskunst sollte D aue r sein, welche alles Andere aufwiegt, indem sie weit werthvoller ist, als Freiheit.“ Nur bei sicher begründeter und verbürgter grösster Dauer ist stetige Entwickelung und veredelnde Inoculation überhaupt möglich. Freilich wird gewöhnlich die gefährliche Genossin aller Dauer, die Autorität, sich dagegen wehren. | 225. Fr e i g e i s t e i n r e l at i ve r B e g r i f f. – Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft, Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet. Er ist die Ausnahme, die gebundenen Geister sind die Regel ; diese werfen ihm vor, dass seine freien Grundsätze ihren Ursprung entweder in der Sucht, aufzufallen, haben oder gar auf freie Handlungen, das heisst auf solche, welche mit der gebundenen Moral unvereinbar sind, schliessen lassen. Bisweilen sagt man auch, diese oder jene freien Grundsätze seien aus Verschrobenheit und Ueberspanntheit des Kopfes herzuleiten ; doch spricht so nur die Bosheit, welche selber an Das nicht glaubt, | was sie sagt, aber damit schaden will : denn das Zeugniss für die grössere Güte und Schärfe seines Intellectes ist dem Freigeist gewöhnlich in’s Gesicht geschrieben, so lesbar, dass es die gebundenen Geister gut genug verstehen. Aber die beiden andern Ableitungen der Freigeisterei sind redlich gemeint ; in der That entstehen auch viele Freigeister auf die eine oder die andere Art. Desshalb könnten aber die Sätze, zu denen sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverlässiger sein, als die der gebundenen Geister. Bei der Erkenntniss der Wahrheit kommt es darauf an, dass man sie h at , nicht darauf, aus welchem Antrieb man sie gesucht, auf welchem Wege man sie gefunden hat. Haben die Freigeister Recht, so haben die gebundenen Geister Unrecht, gleichgültig, ob die

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ersteren aus Unmoralität zur Wahrheit gekommen sind, die anderen aus Moralität bisher an der Unwahrheit festgehalten haben. – Uebrigens gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr, dass er sich von dem Herkömmlichen gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Misserfolg. Für gewöhnlich wird er aber doch die Wahrheit oder mindestens den Geist der Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben : er fordert Gründe, die Anderen Glauben. 226. He r k u n f t d e s G l au b e n s . – Der gebundene Geist nimmt seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung ; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiedenen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte ; er ist Engländer, nicht weil er sich für England entschieden hat, sondern er fand das Christenthum und das Engländerthum vor und | nahm sie an ohne Gründe, wie Jemand, der in einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. Später, als er Christ und Engländer war, hat er vielleicht auch einige Gründe zu Gunsten seiner Gewöhnung ausfi ndig gemacht ; man mag diese Gründe umwerfen, damit wirft man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um. Man nöthige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine Gründe gegen die Bigamie vorzubringen, dann wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer für die Monogamie auf Gründen oder auf Angewöhnung beruht. Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben. 227. Au s d e n Fol g e n au f Gr u nd u nd Un g r u nd z u r üc k g es c h lo s s e n . – Alle Staaten und Ordnungen der Gesellschaft : die Stände, die Ehe, die Erziehung, das Recht, alles diess hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben der gebundenen Geister an sie, – also in der Abwesenheit der Gründe, minde-

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stens in der Abwehr des Fragens nach Gründen. Das wollen die gebundenen Geister nicht gern zugeben und sie fühlen wohl, dass es ein Pudendum ist. Das Christenthum, das sehr unschuldig in seinen intellectuellen Einfällen war, merkte von diesem Pudendum Nichts, forderte Glauben und Nichts als Glauben und wies das Verlangen nach Gründen mit Leidenschaft ab ; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens hin : ihr werdet den Vortheil des Glaubens schon spüren, deutete es an, ihr sollt durch ihn selig werden. Thatsächlich verfährt der Staat ebenso und jeder Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn : halte diess nur für wahr, sagt er, du wirst spüren, wie gut diess thut. Diess bedeutet aber, dass aus dem persönlichen Nut z e n , den eine Meinung einträgt, ihre Wa h r he it erwiesen werden soll, die | Zuträglichkeit einer Lehre soll für die intellectuelle Sicherheit und Begründetheit Gewähr leisten. Es ist diess so, wie wenn der Angeklagte vor Gericht spräche : mein Vertheidiger sagt die ganze Wahrheit, denn seht nur zu, was aus seiner Rede folgt : ich werde freigesprochen. – Weil die gebundenen Geister ihre Grundsätze ihres Nutzens wegen haben, so vermuthen sie auch beim Freigeist, dass er mit seinen Ansichten ebenfalls seinen Nutzen suche und nur Das für wahr halte, was ihm gerade frommt. Da ihm aber das Entgegengesetzte von dem zu nützen scheint, was seinen Landesoder Standesgenossen nützt, so nehmen diese an, dass seine Grundsätze ihnen gefährlich sind ; sie sagen oder fühlen : er darf nicht Recht haben, denn er ist uns schädlich. 228. D e r s t a r k e , g ut e C h a r a k t e r. – Die Gebundenheit der Ansichten, durch Gewöhnung zum Instinct geworden, führt zu dem, was man Charakterstärke nennt. Wenn Jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Motiven handelt, so erlangen seine Handlungen eine grosse Energie ; stehen diese Handlungen im Einklange mit den Grundsätzen der gebunde-

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nen Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen nebenbei in Dem, der sie thut, die Empfi ndung des guten Gewissens. Wenige Motive, energisches Handeln und gutes Gewissen machen Das aus, was man Charakterstärke nennt. Dem Charakterstarken fehlt die Kenntniss der vielen Möglichkeiten und Richtungen des Handelns ; sein Intellect ist unfrei, gebunden, weil er ihm in einem gegebenen Falle vielleicht nur zwei Möglichkeiten zeigt ; zwischen diesen muss er jetzt gemäss seiner ganzen Natur mit Nothwendigkeit wählen, und er thut diess leicht und schnell, weil er nicht zwischen | fünfzig Möglichkeiten zu wählen hat. Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen, indem sie ihm immer die geringste Zahl von Möglichkeiten vor Augen stellt. Das Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas Neues sei, aber eine W ie d e r hol u n g werden solle. Erscheint der Mensch zunächst als etwas Unbekanntes, nie Dagewesenes, so soll er zu etwas Bekanntem, Dagewesenem gemacht werden. Einen guten Charakter nennt man an einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das Dagewesene ; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen Geister stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn ; auf der Grundlage dieses Gemeinsinns aber wird es später seinem Staate oder Stande nützlich. 229. Ma a s s d e r D i n g e b e i d e n g ebu n d e ne n G e i s t e r n . – Von vier Gattungen der Dinge sagen die gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens : alle Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht ; zweitens : alle Dinge, welche uns nicht lästig fallen, sind im Recht ; drittens : alle Dinge, welche uns Vortheil bringen, sind im Recht ; viertens : alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erklärt zum Beispiel, wesshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes begonnen wurde, mit Begeisterung fortgeführt wird, sobald

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erst Opfer gebracht sind. – Die Freigeister, welche ihre Sache vor dem Forum der gebundenen Geister führen, haben nachzuweisen, dass es immer Freigeister gegeben hat, also dass die Freigeisterei Dauer hat, sodann, dass sie nicht lästig fallen wollen, und endlich, dass sie den gebundenen Geistern im Ganzen Vortheil bringen ; aber weil sie von diesem Letzten die gebundenen Geister | nicht überzeugen können, nützt es ihnen Nichts, den ersten und zweiten Punct bewiesen zu haben. 230. E s p r it f or t . – Verglichen mit Dem, welcher das Herkommen auf seiner Seite hat und keine Gründe für sein Handeln braucht, ist der Freigeist immer schwach, namentlich im Handeln ; denn er kennt zu viele Motive und Gesichtspuncte und hat desshalb eine unsichere, ungeübte Hand. Welche Mittel giebt es nun, um ihn doch ve r h ä lt n i s s m ä s s i g s t a r k zu machen, so dass er sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zu Grunde geht ? Wie entsteht der starke Geist (esprit fort) ? Es ist diess in einem einzelnen Falle die Frage nach der Erzeugung des Genius’. Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit welcher der Einzelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle Erkenntniss der Welt zu erwerben trachtet ? 231. Die Entstehung des Gen ie’s. – Der Witz des Gefangenen, mit welchem er nach Mitteln zu seiner Befreiung sucht, die kaltblütigste und langwierigste Benützung jedes kleinsten Vortheils kann lehren, welcher Handhabe sich mitunter die Natur bedient, um das Genie – ein Wort, das ich bitte, ohne allen mythologischen und religiösen Beigeschmack zu verstehen – zu Stande zu bringen : sie fängt es in einen Kerker ein und reizt seine Begierde, sich zu befreien, auf das äusserste. – Oder mit einem anderen Bilde : Jemand, der sich auf seinem

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Wege im Walde völlig verirrt hat, aber mit ungemeiner Energie nach irgend einer Richtung hin in’s Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen Niemand kennt : | so entstehen die Genie’s, denen man Originalität nachrühmt. – Es wurde schon erwähnt, dass eine Verstümmelung, Verkrüppelung, ein erheblicher Mangel eines Organs häufig die Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewöhnlich gut entwickelt, weil es seine eigene Function und noch eine andere zu versehen hat. Hieraus ist der Ursprung mancher glänzenden Begabung zu errathen. – Aus diesen allgemeinen Andeutungen über die Entstehung des Genius’ mache man die Anwendung auf den speciellen Fall, die Entstehung des vollkommenen Freigeistes. 232. Ver muthung über den Urspr ung der Freigeisterei. – Ebenso wie die Gletscher zunehmen, wenn in den Aequatorialgegenden die Sonne mit grösserer Gluth als früher auf die Meere niederbrennt, so mag auch wohl eine sehr starke, um sich greifende Freigeisterei Zeugniss dafür sein, dass irgendwo die Gluth der Empfi ndung ausserordentlich gewachsen ist. 233. D ie St i m me der G e sc h ic hte. – Im Allgemeinen s c he i nt die Geschichte über die Erzeugung des Genius’ folgende Belehrung zu geben : misshandelt und quält die Menschen, – so ruft sie den Leidenschaften Neid, Hass und Wetteifer zu – treibt sie zum Aeussersten, den Einen wider den Andern, das Volk gegen das Volk, und zwar durch Jahrhunderte hindurch, dann flammt vielleicht, gleichsam aus einem bei Seite fl iegenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf einmal das Licht des Genius’ empor ; der Wille, wie ein Ross durch den Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus und | springt auf ein anderes Gebiet über. – Wer zum Bewusstsein über die Erzeugung des Genius’ käme und die Art,

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wie die Natur gewöhnlich verfährt, auch praktisch durchführen wollte, würde gerade so böse und rücksichtslos wie die Natur sein müssen. – Aber vielleicht haben wir uns verhört. 234. Wer t h d er M it t e d e s We g s. – Vielleicht ist die Erzeugung des Genius’ nur einem begränzten Zeitraume der Menschheit vorbehalten. Denn man darf von der Zukunft der Menschheit nicht zugleich alles Das erwarten, was ganz bestimmte Bedingungen irgend welcher Vergangenheit allein hervorzubringen vermochten ; zum Beispiel nicht die erstaunlichen Wirkungen des religiösen Gefühles. Dieses selbst hat seine Zeit gehabt und vieles sehr Gute kann nie wieder wachsen, weil es allein aus ihm wachsen konnte. So wird es nie wieder einen religiös umgränzten Horizont des Lebens und der Cultur geben. Vielleicht ist selbst der Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellectes möglich, mit der es, wie es scheint, für alle Zukunft vorbei ist. Und so ist die Höhe der Intelligenz vielleicht einem einzelnen Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen : sie trat hervor – und tritt hervor, denn wir leben noch in diesem Zeitalter –, als eine ausserordentliche, lang angesammelte Energie des Willens sich ausnahmsweise auf g e i s t i g e Ziele durch Vererbung übertrug. Es wird mit jener Höhe vorbei sein, wenn diese Wildheit und Energie nicht mehr gross gezüchtet werden. Die Menschheit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele näher, als am Ende. Es könnten Kräfte, durch welche zum | Beispiel die Kunst bedingt ist, geradezu aussterben ; die Lust am Lügen, am Ungenauen, am Symbolischen, am Rausche, an der Ekstase könnte in Missachtung kommen. Ja, ist das Leben erst im vollkommenen Staate geordnet, so ist aus der Gegenwart gar kein Motiv zur Dichtung mehr zu entnehmen, und es würden allein die zurückgebliebenen Menschen sein, welche

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nach dichterischer Unwirklichkeit verlangten. Diese würden dann jedenfalls mit Sehnsucht rückwärts schauen, nach den Zeiten des unvollkommenen Staates, der halb-barbarischen Gesellschaft nach u n s e r e n Zeiten. 235. Gen ius und idea ler Staat i n Widerspr uch. – Die Socialisten begehren für möglichst Viele ein Wohlleben herzustellen. Wenn die dauernde Heimath dieses Wohllebens, der vollkommene Staat, wirklich erreicht wäre, so würde durch dieses Wohlleben der Erdboden, aus dem der grosse Intellect und überhaupt das mächtige Individuum wächst, zerstört sein : ich meine die starke Energie. Die Menschheit würde zu matt geworden sein, wenn dieser Staat erreicht ist, um den Genius noch erzeugen zu können. Müsste man somit nicht wünschen, dass das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte und dass immer von Neuem wieder wilde Kräfte und Energien hervorgerufen werden ? Nun will das warme, mitfühlende Herz gerade die B e s e it i g u n g jenes gewaltsamen und wilden Charakters, und das wärmste Herz, das man sich denken kann, würde eben darnach am leidenschaftlichsten verlangen : während doch gerade seine Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charakter des Lebens ihr Feuer, ihre Wärme, ja ihre Existenz genommen hat ; das wärmste Herz will also Beseitigung | seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst, das heisst doch : es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent. Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in einer Person beisammen sein, und der Weise, welcher über das Leben das Urtheil spricht, stellt sich auch über die Güte und betrachtet diese nur als Etwas, das bei der Gesammtrechnung des Lebens mit abzuschätzen ist. Der Weise muss jenen ausschweifenden Wünschen der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus’ und an dem endlichen Entstehen des höchsten Intel-

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lectes gelegen ist ; mindestens wird er der Begründung des „vollkommenen Staates“ nicht förderlich sein, insofern in ihm nur ermattete Individuen Platz haben. Christus dagegen, den wir uns einmal als das wärmste Herz denken wollen, förderte die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der geistig Armen und hielt die Erzeugung des grössten Intellectes auf : und diess war consequent. Sein Gegenbild, der vollkommene Weise – diess darf man wohl vorhersagen – wird ebenso nothwendig der Erzeugung eines Christus hinderlich sein. – Der Staat ist eine kluge Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegen einander : übertreibt man seine Veredelung, so wird zuletzt das Individuum durch ihn geschwächt, ja aufgelöst, – also der ursprüngliche Zweck des Staates am gründlichsten vereitelt. 236. Die Zonen der Cu lt ur. – Man kann gleichnissweise sagen, dass die Zeitalter der Cultur den Gürteln der verschiedenen Klimate entsprechen, nur dass diese hinter einander und nicht, wie die geographischen Zonen, neben einander liegen. Im Vergleich mit der gemässigten Zone der Cultur, in welche überzugehen unsere Aufgabe | ist, macht die vergangene im Ganzen und Grossen den Eindruck eines t r o p i s c he n Klima’s. Gewaltsame Gegensätze, schroffer Wechsel von Tag und Nacht, Gluth und Farbenpracht, die Verehrung alles Plötzlichen, Geheimnissvollen, Schrecklichen, die Schnelligkeit der hereinbrechenden Unwetter, überall das verschwenderische Ueberströmen der Füllhörner der Natur : und dagegen, in unserer Cultur, ein heller, doch nicht leuchtender Himmel, reine, ziemlich gleich verbleibende Luft, Schärfe, ja Kälte gelegentlich : so heben sich beide Zonen gegen einander ab. Wenn wir dort sehen, wie die wüthendsten Leidenschaften durch metaphysische Vorstellungen mit unheimlicher Gewalt niedergerungen und zerbrochen werden, so ist es uns zu Muthe, als ob vor unsern Augen in den Tropen wilde Tiger unter den

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Windungen ungeheurer Schlangen zerdrückt würden ; unserem geistigen Klima fehlen solche Vorkommnisse, unsere Phantasie ist gemässigt, selbst im Traume kommt uns Das nicht bei, was frühere Völker im Wachen sahen. Aber sollten wir über diese Veränderung nicht glücklich sein dürfen, selbst zugegeben, dass die Künstler durch das Verschwinden der tropischen Cultur wesentlich beeinträchtigt sind und uns Nicht-Künstler ein Wenig zu nüchtern fi nden ? Insofern haben Künstler wohl das Recht, den „Fortschritt“ zu leugnen, denn in der That : ob die letzten drei Jahrtausende in den Künsten einen fortschreitenden Verlauf zeigen, das lässt sich mindestens bezweifeln ; ebenso wird ein metaphysischer Philosoph, wie Schopenhauer, keinen Anlass haben, den Fortschritt zu erkennen, wenn er die letzten vier Jahrtausende in Bezug auf metaphysische Philosophie und Religion überblickt. – Uns gilt aber die E x i s t e n z der gemässigten Zone der Cultur selbst als Fortschritt. | 237. R e n a i s s a n c e u nd R e f o r m a t i o n . – Die italiänische Renaissance barg in sich alle die positiven Gewalten, welchen man die moderne Cultur verdankt : also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, Begeisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen, Entfesselung des Individuums, eine Gluth der Wahrhaftigkeit und Abneigung gegen Schein und blosen Effect (welche Gluth in einer ganzen Fülle künstlerischer Charaktere hervorloderte, die Vollkommenheit in ihren Werken und Nichts als Vollkommenheit mit höchster sittlicher Reinheit von sich forderten) ; ja, die Renaissance hatte positive Kräfte, welche in unserer b i s he r i g e n modernen Cultur noch nicht wieder so mächtig geworden sind. Es war das goldene Zeitalter dieses Jahrtausends, trotz aller Flecken und Laster. Dagegen hebt sich nun die deutsche Reformation ab als ein energischer Protest

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zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Auflösung, die ausserordentliche Verflachung und Veräusserlichung des religiösen Lebens, anstatt mit Frohlocken, wie sich gebührt, mit tiefem Unmuthe empfanden. Sie warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit die Menschen wieder zurück, erzwangen die Gegenreformation, das heisst ein katholisches Christenthum der Nothwehr, mit den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes und verzögerten um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen und Herrschen der Wissenschaften, als sie das völlige In-Eins-Verwachsen des antiken und des modernen Geistes vielleicht für immer unmöglich machten. Die | grosse Aufgabe der Renaissance konnte nicht zu Ende gebracht werden, der Protest des inzwischen zurückgebliebenen deutschen Wesens (welches im Mittelalter Vernunft genug gehabt hatte, um immer und immer wieder zu seinem Heile über die Alpen zu steigen) verhinderte diess. Es lag in dem Zufall einer ausserordentlichen Constellation der Politik, dass damals Luther erhalten blieb und jener Protest Kraft gewann : denn der Kaiser schützte ihn, um seine Neuerung gegen den Papst als Werkzeug des Drukkes zu verwenden, und ebenfalls begünstigte ihn im Stillen der Papst, um die protestantischen Reichsfürsten als Gegengewicht gegen den Kaiser zu benutzen. Ohne diess seltsame Zusammenspiel der Absichten wäre Luther verbrannt worden wie Huss – und die Morgenröthe der Aufklärung vielleicht etwas früher und mit schönerem Glanze, als wir jetzt ahnen können, aufgegangen. 238. G e r e c ht i g k e it g e g e n d e n we r d e nd e n G ot t . – Wenn sich die ganze Geschichte der Cultur vor den Blicken aufthut als ein Gewirr von bösen und edlen, wahren und falschen Vorstellungen und es Einem beim Anblick dieses Wellenschlags fast seekrank zu Muthe wird, so begreift man, was für ein

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Trost in der Vorstellung eines we r d e n d e n G ot t e s liegt : dieser enthüllt sich immer mehr in den Verwandelungen und Schicksalen der Menschheit, es ist nicht Alles blinde Mechanik, sinn- und zweckloses Durcheinanderspielen von Kräften. Die Vergottung des Werdens ist ein metaphysischer Ausblick – gleichsam von einem Leuchtthurm am Meere der Geschichte herab –, an welchem eine allzuviel historisirende Gelehrtengeneration ihren Trost fand ; darüber | darf man nicht böse werden, so irrthümlich jene Vorstellung auch sein mag. Nur wer, wie Schopenhauer, die Entwickelung leugnet, fühlt auch Nichts von dem Elend dieses historischen Wellenschlags und darf desshalb, weil er von jenem werdenden Gotte und dem Bedürfniss seiner Annahme Nichts weiss, Nichts fühlt, billigerweise seinen Spott auslassen. 239. Die Fr üc hte nac h der Ja h reszeit. – Jede bessere Zukunft, welche man der Menschheit anwünscht, ist nothwendigerweise auch in manchem Betracht eine schlechtere Zukunft : denn es ist Schwärmerei, zu glauben, dass eine höhere neue Stufe der Menschheit alle die Vorzüge früherer Stufen in sich vereinigen werde und zum Beispiel auch die höchste Gestaltung der Kunst erzeugen müsse. Vielmehr hat jede Jahreszeit ihre Vorzüge und Reize für sich und schliesst die der anderen aus. Das, was aus der Religion und in ihrer Nachbarschaft gewachsen ist, kann nicht wieder wachsen, wenn diese zerstört ist ; höchstens können verirrte, spät kommende Absenker zur Täuschung darüber verleiten, ebenso wie die zeitweilig ausbrechende Erinnerung an die alte Kunst : ein Zustand, der wohl das Gefühl des Verlustes, der Entbehrung verräth, aber kein Beweis für die Kraft ist, aus der eine neue Kunst geboren werden könnte.

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240. Zu ne h me nd e S eve r it ät d e r We lt . – Je höher die Cultur eines Menschen steigt, um so mehr Gebiete entziehen sich dem Scherz, dem Spotte. Voltaire war für die Erfi ndung der Ehe und der Kirche von Herzen dem Himmel dankbar : als welcher damit so gut für unsere Aufheiterung gesorgt habe. Aber er und seine Zeit, und vor ihm das sechszehnte Jahrhundert, haben | diese Themen zu Ende gespottet ; es ist Alles, was jetzt Einer auf diesem Gebiete noch witzelt, verspätet und vor Allem gar zu wohlfeil, als dass es die Käufer begehrlich machen könnte. Jetzt fragt man nach den Ursachen ; es ist das Zeitalter des Ernstes. Wem liegt jetzt noch daran, die Differenzen zwischen Wirklichkeit und anspruchsvollem Schein, zwischen dem, was der Mensch ist und was er vorstellen will, in scherzhaftem Lichte zu sehen ; das Gefühl dieser Contraste wirkt alsbald ganz anders, wenn man nach den Gründen sucht. Je gründlicher Jemand das Leben versteht, desto weniger wird er spotten, nur dass er zuletzt vielleicht noch über die „Gründlichkeit seines Verstehens“ spottet. 241. G e n iu s d e r C u lt u r. – Wenn Jemand einen Genius der Cultur imaginiren wollte, wie würde dieser beschaffen sein ? Er handhabt die Lüge, die Gewalt, den rücksichtslosesten Eigennutz so sicher als seine Werkzeuge, dass er nur ein böses dämonisches Wesen zu nennen wäre ; aber seine Ziele, welche hie und da durchleuchten, sind gross und gut. Es ist ein Centaur, halb Thier, halb Mensch und hat noch Engelsflügel dazu am Haupte. 242. Wu nder -Er z iehu ng. – Das Interesse an der Erziehung wird erst von dem Augenblicke an grosse Stärke bekommen, wo man den Glauben an einen Gott und seine Fürsorge aufgiebt : ebenso wie die Heilkunst erst erblühen konnte, als der Glaube

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an Wunder-Curen aufhörte. Bis jetzt glaubt aber alle Welt noch an die Wunder-Erziehung : aus der grössten Unordnung, Verworrenheit der Ziele, Ungunst der Verhältnisse sah man ja die fruchtbarsten, mächtigsten Menschen erwachsen : wie konnte diess doch mit rechten Dingen zugehen ? – | Jetzt wird man, bald auch in diesen Fällen, näher zusehen, sorgsamer prüfen : Wunder wird man dabei niemals entdecken. Unter gleichen Verhältnissen gehen fortwährend zahlreiche Menschen zu Grunde, das einzelne gerettete Individuum ist dafür gewöhnlich stärker geworden, weil es diese schlimmen Umstände vermöge unverwüstlicher eingeborener Kraft ertrug und diese Kraft noch geübt und vermehrt hat : so erklärt sich das Wunder. Eine Erziehung, welche an kein Wunder mehr glaubt, wird auf dreierlei zu achten haben : erstens, wie viel Energie ist vererbt ? zweitens, wodurch kann noch neue Energie entzündet werden ? drittens, wie kann das Individuum jenen so überaus vielartigen Ansprüchen der Cultur angepasst werden ohne dass diese es beunruhigen und seine Einartigkeit zersplittern, – kurz, wie kann das Individuum in den Contrapunct der privaten und öffentlichen Cultur eingereiht werden, wie kann es zugleich die Melodie führen und als Melodie begleiten ? 243. Die Zukun f t des A rztes. – Es giebt jetzt keinen Beruf, der eine so hohe Steigerung zuliesse, wie der des Arztes ; namentlich nachdem die geistlichen Aerzte, die sogenannten Seelsorger ihre Beschwörungskünste nicht mehr unter öffentlichem Beifalle treiben dürfen und ein Gebildeter ihnen aus dem Wege geht. Die höchste geistige Ausbildung eines Arztes ist jetzt nicht erreicht, wenn er die besten neuesten Methoden kennt und auf sie eingeübt ist und jene fl iegenden Schlüsse von Wirkungen auf Ursachen zu machen versteht, derentwegen die Diagnostiker berühmt sind : er muss ausserdem eine Beredtsamkeit haben, die sich jedem Individuum anpasst und ihm das

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Herz aus dem Leibe zieht, eine Männlichkeit, deren Anblick schon den Kleinmuth (den Wurmfrass | aller Kranken) verscheucht, eine Diplomaten-Geschmeidigkeit im Vermitteln zwischen Solchen, welche Freude zu ihrer Genesung nöthig haben und Solchen, die aus Gesundheitsgründen Freude machen müssen (und können), die Feinheit eines Polizeiagenten und Advocaten, die Geheimnisse einer Seele zu verstehen, ohne sie zu verrathen, – kurz ein guter Arzt bedarf jetzt der Kunstgriffe und Kunstvorrechte aller andern Berufsclassen : so ausgerüstet, ist er dann im Stande, der ganzen Gesellschaft ein Wohlthäter zu werden, durch Vermehrung guter Werke, geistiger Freude und Fruchtbarkeit, durch Verhütung von bösen Gedanken, Vorsätzen, Schurkereien (deren ekler Quell so häufig der Unterleib ist), durch Herstellung einer geistig-leiblichen Aristokratie (als Ehestifter und Eheverhinderer), durch wohlwollende Abschneidung aller sogenannten Seelenqualen und Gewissensbisse : so erst wird er aus einem „Medicinmann“ ein Heiland und braucht doch keine Wunder zu thun, hat auch nicht nöthig, sich kreuzigen zu lassen. 244. In der Nachbarschaf t des Wa h nsi n ns. – Die Summe der Empfi ndungen, Kenntnisse, Erfahrungen, also die ganze Last der Cultur, ist so gross geworden, dass eine Ueberreizung der Nerven- und Denkkräfte die allgemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der europäischen Länder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer grösseren Familien in einem Gliede dem Irrsinn nahe gerückt ist. Nun kommt man zwar der Gesundheit jetzt auf alle Weise entgegen ; aber in der Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gefühls, jener niederdrückenden Cultur-Last vonnöthen, welche, wenn sie selbst mit schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen Hoff nung einer | neue n R e n a i s s a n c e Spielraum giebt. Man hat dem Christenthum,

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den Philosophen, Dichtern, Musikern eine Ueberfülle tief erregter Empfi ndungen zu danken : damit diese uns nicht überwuchern, müssen wir den Geist der Wissenschaft beschwören, welcher im Ganzen etwas kälter und skeptischer macht und namentlich den Gluthstrom des Glaubens an letzte endgültige Wahrheiten abkühlt ; er ist vornehmlich durch das Christenthum so wild geworden. 245. G lo c k e n g u s s d e r C u lt u r. – Die Cultur ist entstanden wie eine Glocke, innerhalb eines Mantels von gröberem, gemeinerem Stoffe : Unwahrheit, Gewaltsamkeit, unbegränzte Ausdehnung aller einzelnen Ich’s, aller einzelnen Völker, waren dieser Mantel. Ist es an der Zeit, ihn jetzt abzunehmen ? Ist das Flüssige erstarrt, sind die guten, nützlichen Triebe, die Gewohnheiten des edleren Gemüthes so sicher und allgemein geworden, dass es keiner Anlehnung an Metaphysik und die Irrthümer der Religionen mehr bedarf, keiner Härten und Gewaltsamkeiten als mächtigster Bindemittel zwischen Mensch und Mensch, Volk und Volk. – Zur Beantwortung dieser Frage ist kein Wink eines Gottes uns mehr hülfreich : unsere eigene Einsicht muss da entscheiden. Die Erdregierung des Menschen im Grossen hat der Mensch selber in die Hand zu nehmen, seine „Allwissenheit“ muss über dem weiteren Schicksal der Cultur mit scharfem Auge wachen. 246. Die Cyk lopen der Cu lt u r. – Wer jene zerfurchten Kessel sieht, in denen Gletscher gelagert haben, hält es kaum für möglich, dass eine Zeit kommt, wo an der selben Stelle ein Wiesen- und Waldthal mit Bächen darin sich hinzieht. So ist es auch in der Geschichte der Menschheit ; die wildesten Kräfte brechen Bahn, zunächst zerstörend, | aber trotzdem war ihre Thätigkeit nöthig, damit später eine mildere Gesit-

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tung hier ihr Haus aufschlage. Die schrecklichen Energien – Das, was man das Böse nennt – sind die cyklopischen Architekten und Wegebauer der Humanität. 247. K r e i s l au f d e s Me n s c he nt hu m s. – Vielleicht ist das ganze Menschenthum nur eine Entwickelungsphase einer bestimmten Thierart von begränzter Dauer : so dass der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder zum Affen werden wird, während Niemand da ist, der an diesem verwunderlichen Komödienausgang irgend ein Interesse nehme. So wie mit dem Verfalle der römischen Cultur und seiner wichtigsten Ursache, der Ausbreitung des Christenthums, eine allgemeine Verhässlichung des Menschen innerhalb des römischen Reiches überhand nahm, so könnte auch durch den einstmaligen Verfall der allgemeinen Erdcultur eine viel höher gesteigerte Verhässlichung und endlich Verthierung des Menschen, bis in’s Affenhafte, herbeigeführt werden. – Gerade weil wir diese Perspective in’s Auge fassen können, sind wir vielleicht im Stande, einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen. 248. Trost rede ei nes desperaten For t sc h r it t s. – Unsere Zeit macht den Eindruck eines Interim-Zustandes ; die alten Weltbetrachtungen, die alten Culturen sind noch theilweise vorhanden, die neuen noch nicht sicher und gewohnheitsmässig und daher ohne Geschlossenheit und Consequenz. Es sieht aus, als ob Alles chaotisch würde, das Alte verloren gienge, das Neue nichts tauge und immer schwächlicher werde. Aber so geht es dem Soldaten, welcher marschiren lernt ; er ist eine Zeit lang | unsicherer und unbeholfener als je, weil die Muskeln bald nach dem alten System, bald nach dem neuen bewegt werden und noch keines entschieden den Sieg behauptet. Wir schwanken, aber es ist nöthig, dadurch nicht ängstlich zu wer-

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den und das Neu-Errungene etwa preiszugeben. Ueberdiess k ö n ne n wir in’s Alte nicht zurück, wir h a b e n die Schiffe verbrannt ; es bleibt nur übrig, tapfer zu sein, mag nun dabei diess oder jenes herauskommen. – S c h r e it e n wir nur zu, kommen wir nur von der Stelle ! Vielleicht sieht sich unser Gebahren doch einmal wie For t s c h r it t an ; wenn aber nicht, so mag Friedrich’s des Grossen Wort auch zu uns gesagt sein und zwar zum Troste : Ah, mon cher Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette race maudite, à laquelle nous appartenons. 249. A n der Verga ngen heit der Cu lt u r leiden. – Wer sich das Problem der Cultur klar gemacht hat, leidet dann an einem ähnlichen Gefühle wie Der, welcher einen durch unrechtmässige Mittel erworbenen Reichthum ererbt hat, oder wie der Fürst, der durch Gewaltthat seiner Vorfahren regiert. Er denkt mit Trauer an seinen Ursprung und ist oft beschämt, oft reizbar. Die ganze Summe von Kraft, Lebenswillen, Freude, welche er seinem Besitze zuwendet, balancirt sich oft mit einer tiefen Müdigkeit : er kann seinen Ursprung nicht vergessen. Die Zukunft sieht er wehmüthig an, seine Nachkommen, er weiss es voraus, werden an der Vergangenheit leiden wie er. 250. M a n i e r e n . – Die guten Manieren verschwinden in dem Maasse, in welchem der Einfluss des Hofes und einer abgeschlossenen Aristokratie nachlässt : man kann diese | Abnahme von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlich beobachten, wenn man ein Auge für die öffentlichen Acte hat : als welche ersichtlich immer pöbelhafter werden. Niemand versteht mehr, auf geistreiche Art zu huldigen und zu schmeicheln ; daraus ergiebt sich die lächerliche Thatsache, dass man in Fällen, wo man gegenwärtig Huldigungen darbringen mu s s (zum Beispiel einem grossen Staatsmanne oder Künstler), die

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Sprache des tiefsten Gefühls, der treuherzigen, ehren festen Biederkeit borgt – aus Verlegenheit und Mangel an Geist und Grazie. So scheint die öffentliche festliche Begegnung der Menschen immer ungeschickter, aber gefühlvoller und biederer, ohne diess zu sein. – Sollte es aber mit den Manieren immerfort bergab gehen ? Es scheint mir vielmehr, dass die Manieren eine tiefe Curve machen und wir uns ihrem niedrigsten Stande nähern. Wenn erst die Gesellschaft ihrer Absichten und Principien sicherer geworden ist, so dass diese formbildend wirken (während jetzt die angelernten Manieren früherer formbildender Zustände immer schwächer vererbt und angelernt werden), so wird es Manieren des Umgangs, Gebärden und Ausdrücke des Verkehrs geben, welche so nothwendig und schlicht natürlich erscheinen müssen, als es diese Absichten und Principien sind. Die bessere Vertheilung der Zeit und Arbeit, die zur Begleiterin jeder schönen Mussezeit umgewandelte gymnastische Uebung, das vermehrte und strenger gewordene Nachdenken, welches selbst dem Körper Klugheit und Geschmeidigkeit giebt, bringt diess Alles mit sich. – Hier könnte man nun freilich mit einigem Spotte unserer Gelehrten gedenken, ob denn sie, die doch Vorläufer jener neuen Cultur sein wollen, sich in der That durch bessere Manieren auszeichnen ? Es ist diess wohl nicht der Fall, obgleich ihr Geist willig genug dazu sein mag : aber ihr Fleisch ist | schwach. Die Vergangenheit ist noch zu mächtig in ihren Muskeln : sie stehen noch in einer unfreien Stellung und sind zur Hälfte weltliche Geistliche, zur Hälfte abhängige Erzieher vornehmer Leute und Stände, und überdiess durch Pedanterie der Wissenschaft, durch veraltete geistlose Methoden verkrüppelt und unlebendig gemacht. Sie sind also, jedenfalls ihrem Körper nach und oft auch zu Dreiviertel ihres Geistes, immer noch die Höfl inge einer alten, ja greisenhaften Cultur und als solche selber greisenhaft ; der neue Geist, der gelegentlich in diesen alten Gehäusen rumort, dient einstweilen

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nur dazu, sie unsicherer und ängstlicher zu machen. In ihnen gehen sowohl die Gespenster der Vergangenheit, als die Gespenster der Zukunft um : was Wunder, wenn sie dabei nicht die beste Miene machen, nicht die gefälligste Haltung haben ? 251. Z u k u n f t d e r W i s s e n s c h a f t . – Die Wissenschaft giebt Dem, welcher in ihr arbeitet und sucht, viel Vergnügen, Dem, welcher ihre Ergebnisse le r nt , sehr wenig. Da allmählich aber alle wichtigen Wahrheiten der Wissenschaft alltäglich und gemein werden müssen, so hört auch dieses wenige Vergnügen auf : so wie wir beim Lernen des so bewunderungswürdigen Einmaleins längst aufgehört haben, uns zu freuen. Wenn nun die Wissenschaft immer weniger Freude durch sich macht und immer mehr Freude, durch Verdächtigung der tröstlichen Metaphysik, Religion und Kunst, nimmt : so verarmt jene grösste Quelle der Lust, welcher die Menschheit fast ihr gesammtes Menschenthum verdankt. Desshalb muss eine höhere Cultur dem Menschen ein Doppelgehirn, gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissenschaft, sodann um Nicht-Wissenschaft zu empfi nden : neben einander liegend, ohne Ver|wirrung, trennbar, abschliessbar ; es ist diess eine Forderung der Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator : mit Illusionen, Einseitigkeiten, Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissenschaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Ueberheizung vorgebeugt werden. – Wird dieser Forderung der höheren Cultur nicht genügt, so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwickelung fast mit Sicherheit vorherzusagen : das Interesse am Wahren hört auf, je weniger es Lust gewährt ; die Illusion, der Irrthum, die Phantastik erkämpfen sich Schritt um Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaupteten Boden : der Ruin der Wissenschaften, das Zurücksinken in Barbarei ist die näch-

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ste Folge ; von Neuem muss die Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es, gleich Penelope, des Nachts zerstört hat. Aber wer bürgt uns dafür, dass sie immer wieder die Kraft dazu fi ndet ? 252. D ie Lu s t a m E r k e n ne n . – Wesshalb ist das Erkennen, das Element des Forschers und Philosophen, mit Lust verknüpft ? Erstens und vor Allem, weil man sich dabei seiner Kraft bewusst wird, also aus dem selben Grunde, aus dem gymnastische Uebungen auch ohne Zuschauer lustvoll sind. Zweitens, weil man, im Verlauf der Erkenntniss, über ältere Vorstellungen und deren Vertreter, hinauskommt, Sieger wird oder wenigstens es zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine noch so kleine neue Erkenntniss über A l le erhaben und uns als die Einzigen fühlen, welche hierin das Richtige wissen. Diese drei Gründe zur Lust sind die wichtigsten, doch giebt es, je nach der Natur des Erkennenden, noch viele Nebengründe. – Ein nicht unbeträchtliches Ver|zeichniss von solchen giebt, an einer Stelle, wo man es nicht suchen würde, meine paraenetische Schrift über Schopenhauer : mit deren Aufstellungen sich jeder erfahrene Diener der Erkenntniss zufrieden geben kann, sei es auch, dass er den ironischen Anflug, der auf jenen Seiten zu liegen scheint, wegwünschen wird. Denn wenn es wahr ist, dass zum Entstehen des Gelehrten „eine Menge sehr menschlicher Triebe und Triebchen zusammengegossen werden muss“, dass der Gelehrte zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und „aus einem verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize besteht“ : so gilt doch das Selbe ebenfalls von Entstehung und Wesen des Künstlers, Philosophen, moralischen Genie’s – und wie die in jener Schrift glorificirten grossen Namen lauten. A l le s Menschliche verdient in Hinsicht auf seine E nt s t e hu n g die ironische Betrachtung : desshalb ist die Ironie in der Welt so ü b e r f lü s s i g.

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253. Tr eue a l s B ewe i s d e r St ic h h a lt i g k e it . – Es ist ein vollkommenes Zeichen für die Güte einer Theorie, wenn ihr Urheber v ie r z i g Ja h r e lang kein Misstrauen gegen sie bekommt ; aber ich behaupte, dass es noch keinen Philosophen gegeben hat, welcher auf die Philosophie, die seine Jugend erfand, nicht endlich mit Geringschätzung – mindestens mit Argwohn – herabgesehen hätte. – Vielleicht hat er aber nicht öffentlich von dieser Umstimmung gesprochen, aus Ehrsucht oder – wie es bei edlen Naturen wahrscheinlicher ist – aus zarter Schonung seiner Anhänger. 254. Zu n a h me d e s I nt e r e s s a nt e n . – Im Verlaufe der höheren Bildung wird dem Menschen Alles interessant, | er weiss die belehrende Seite einer Sache rasch zu fi nden und den Punct anzugeben, wo eine Lücke seines Denkens mit ihr ausgefüllt oder ein Gedanke durch sie bestätigt werden kann. Dabei verschwindet immer mehr die Langeweile, dabei auch die übermässige Erregbarkeit des Gemüthes. Er geht zuletzt wie ein Naturforscher unter Pflanzen, so unter Menschen herum und nimmt sich selber als ein Phänomen wahr, welches nur seinen erkennenden Trieb stark anregt. 255. A berg lauben i m Gleic h z eit i g en. – Etwas Gleichzeitiges hängt zusammen, meint man. Ein Verwandter stirbt in der Ferne, zu gleicher Zeit träumen wir von ihm, – also ! Aber zahllose Verwandte sterben und wir träumen nicht von ihnen. Es ist wie bei den Schiff brüchigen, welche Gelübde thun : man sieht später im Tempel die Votivtafeln Derer, welche zu Grunde giengen, nicht. – Ein Mensch stirbt, eine Eule krächzt, eine Uhr steht still, alles in Einer Nachtstunde : sollte da nicht ein Zusammenhang sein ? Eine solche Vertraulichkeit

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mit der Natur, wie diese Ahnung sie annimmt, schmeichelt den Menschen. – Diese Gattung des Aberglaubens fi ndet sich in verfeinerter Form bei Historikern und Culturmalern wieder, welche vor allem sinnlosen Nebeneinander, an dem doch das Leben der Einzelnen und der Völker so reich ist, eine Art Wasserscheu zu haben pflegen. 256. D a s K ö n ne n , n ic ht d a s W i s s e n d u r c h d ie W i s s e n s c h a f t g eü bt . – Der Werth davon, dass man zeitweilig eine s t r e n g e W i s s e n s c h a f t streng betrieben hat, beruht nicht gerade auf deren Ergebnissen : denn | diese werden, im Verhältniss zum Meere des Wissenswerthen, ein verschwindend kleiner Tropfen sein. Aber es ergiebt einen Zuwachs an Energie, an Schlussvermögen, an Zähigkeit der Ausdauer ; man hat gelernt, einen Zwec k z wec k m ä s s i g zu erreichen. Insofern ist es sehr schätzbar, in Hinsicht auf Alles, was man später treibt, einmal ein wissenschaftlicher Mensch gewesen zu sein. 257. J u g e n d r e i z d e r W i s s e n s c h a f t . – Das Forschen nach Wahrheit hat jetzt noch den Reiz, dass sie sich überall stark gegen den grau und langweilig gewordenen Irrthum abhebt ; dieser Reiz verliert sich immer mehr ; jetzt zwar leben wir noch im Jugendzeitalter der Wissenschaft und pflegen der Wahrheit wie einem schönen Mädchen nachzugehen ; wie aber, wenn sie eines Tages zum ältlichen, mürrisch blickenden Weibe geworden ist ? Fast in allen Wissenschaften ist die Grundeinsicht entweder erst in jüngster Zeit gefunden oder wird noch gesucht ; wie anders reizt diess an, als wenn alles Wesentliche gefunden ist und nur noch eine kümmerliche Herbstnachlese dem Forscher übrig bleibt (welche Empfi ndung man in einigen historischen Disciplinen kennen lernen kann).

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258. Die Stat ue der Men sc h heit. – Der Genius der Cultur verfährt wie Cellini, als dieser den Guss seiner Perseus-Statue machte : die flüssige Masse drohte, nicht auszureichen, aber sie s ol lt e es : so warf er Schüsseln und Teller und was ihm sonst in die Hände kam, hinein. Und ebenso wirft jener Genius Irrthümer, Laster, Hoff nungen, Wahnbilder und andere Dinge von schlechterem wie von edlerem Metalle hinein, denn die Statue der | Menschheit muss herauskommen und fertig werden ; was liegt daran, dass hie und da geringerer Stoff verwendet wurde ? 259. Eine Cult ur der Männer. – Die griechische Cultur der classischen Zeit ist eine Cultur der Männer. Was die Frauen anlangt, so sagt Perikles in der Grabrede Alles mit den Worten : sie seien am besten, wenn unter Männern so wenig als möglich von ihnen gesprochen werde. – Die erotische Beziehung der Männer zu den Jünglingen war in einem, unserem Verständniss unzugänglichen Grade die nothwendige, einzige Voraussetzung aller männlichen Erziehung (ungefähr wie lange Zeit alle höhere Erziehung der Frauen bei uns erst durch die Liebschaft und Ehe herbeigeführt wurde), aller Idealismus der Kraft der griechischen Natur warf sich auf jenes Verhältniss, und wahrscheinlich sind junge Leute niemals wieder so aufmerksam, so liebevoll, so durchaus in Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt worden, wie im sechsten und fünften Jahrhundert, – also gemäss dem schönen Spruche Hölderlin’s „denn liebend giebt der Sterbliche vom Besten“. Je höher dieses Verhältniss genommen wurde, um so tiefer sank der Verkehr mit der Frau : der Gesichtspunct der Kindererzeugung und der Wollust – Nichts weiter kam hier in Betracht ; es gab keinen geistigen Verkehr, nicht einmal eine eigentliche Liebschaft. Erwägt man ferner, dass sie selbst vom Wettkampfe und Schauspiele jeder Art ausgeschlossen waren, so bleiben

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nur die religiösen Culte als einzige höhere Unterhaltung der Weiber. – Wenn man nun allerdings in der Tragödie Elektra und Antigone vorführte, so e r t r u g man diess eben in der Kunst, obschon man es im Leben nicht mochte : so wie wir jetzt alles | Pathetische im L eb e n nicht vertragen, aber in der Kunst gern sehen. – Die Weiber hatten weiter keine Aufgabe, als schöne, machtvolle Leiber hervorzubringen, in denen der Charakter des Vaters möglichst ungebrochen weiter lebte, und damit der überhand nehmenden Nervenüberreizung einer so hochentwickelten Cultur entgegenzuwirken. Diess hielt die griechische Cultur verhältnissmässig so lange jung ; denn in den griechischen Müttern kehrte immer wieder der griechische Genius zur Natur zurück. 260. Das Vor urthei l zu Gunsten der Grösse. – Die Menschen überschätzen ersichtlich alles Grosse und Hervorstechende. Diess kommt aus der bewussten oder unbewussten Einsicht her, dass sie es sehr nützlich fi nden, wenn Einer alle Kraft auf Ein Gebiet wirft und aus sich gleichsam Ein monströses Organ macht. Sicherlich ist dem Menschen selber eine g le ic h m ä s s i g e Ausbildung seiner Kräfte nützlicher und glückbringender ; denn jedes Talent ist ein Vampyr, welcher den übrigen Kräften Blut und Kraft aussaugt, und eine übertriebene Production kann den begabtesten Menschen fast zur Tollheit bringen. Auch innerhalb der Künste erregen die extremen Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit ; aber es ist auch eine viel geringere Cultur nöthig, um von ihnen sich fesseln zu lassen. Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem, was Macht haben will. 261. D ie Ty r a n ne n d e s G e i s t e s . – Nur wohin der Strahl des Mythus fällt, da leuchtet das Leben der Griechen ; sonst ist es

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düster. Nun berauben sich die griechischen Philosophen eben dieses Mythus’ : ist es nicht, als ob sie | aus dem Sonnenschein sich in den Schatten, in die Düsterkeit setzen wollten ? Aber keine Pflanze geht dem Lichte aus dem Wege ; im Grunde suchten jene Philosophen nur eine he l le r e Sonne, der Mythus war ihnen nicht rein, nicht leuchtend genug. Sie fanden diess Licht in ihrer Erkenntniss, in dem, was Jeder von ihnen seine „Wahrheit“ nannte. Damals aber hatte die Erkenntniss noch einen grösseren Glanz ; sie war noch jung und wusste noch wenig von allen Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Pfade ; sie konnte damals noch hoffen, mit einem einzigen Sprung an den Mittelpunct alles Seins zu kommen und von dort aus das Räthsel der Welt zu lösen. Diese Philosophen hatten einen handfesten Glauben an sich und ihre „Wahrheit“ und warfen mit ihr alle ihre Nachbarn und Vorgänger nieder ; Jeder von ihnen war ein streitbarer gewaltthätiger Ty r a n n . Vielleicht war das Glück im Glauben an den Besitz der Wahrheit nie grösser in der Welt, aber auch nie die Härte, der Uebermuth, das Tyrannische und Böse eines solchen Glaubens. Sie waren Tyrannen, also Das, was jeder Grieche sein wollte und was jeder war, wenn er es sein k o n nt e. Vielleicht macht nur Solon eine Ausnahme ; in seinen Gedichten sagt er es, wie er die persönliche Tyrannis verschmäht habe. Aber er that es aus Liebe zu seinem Werke, zu seiner Gesetzgebung ; und Gesetzgeber sein ist eine sublimirtere Form des Tyrannenthums. Auch Parmenides gab Gesetze, wohl auch Pythagoras und Empedokles ; Anaximander gründete eine Stadt. Plato war der fleischgewordene Wunsch, der höchste philosophische Gesetzgeber und Staatengründer zu werden ; er scheint schrecklich an der Nichterfüllung seines Wesens gelitten zu haben, und seine Seele wurde gegen sein Ende hin voll der schwärzesten Galle. Je mehr das griechische Philosophenthum an Macht verlor, | um so mehr litt es innerlich durch diese Galligkeit und Schmähsucht ; als erst die verschie-

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denen Secten ihre Wahrheiten auf den Strassen verfochten, da waren die Seelen aller dieser Freier der Wahrheit durch Eiferund Geifersucht völlig verschlammt, das tyrannische Element wüthete jetzt als Gift in ihrem eigenen Körper. Diese vielen kleinen Tyrannen hätten sich roh fressen mögen ; es war kein Funke mehr von Liebe und allzuwenig Freude an ihrer eigenen Erkenntniss in ihnen übrig geblieben. – Ueberhaupt gilt der Satz, dass Tyrannen meistens ermordet werden und dass ihre Nachkommenschaft kurz lebt, auch von den Tyrannen des Geistes. Ihre Geschichte ist kurz, gewaltsam, ihre Nachwirkung bricht plötzlich ab. Fast von allen grossen Hellenen kann man sagen, dass sie zu spät gekommen scheinen, so von Aeschylus, von Pindar, von Demosthenes, von Thukydides ; ein Geschlecht nach ihnen – und dann ist es immer völlig vorbei. Das ist das Stürmische und Unheimliche in der griechischen Geschichte. Jetzt zwar bewundert man das Evangelium der Schildkröte. Geschichtlich denken heisst jetzt fast so viel, als ob zu allen Zeiten nach dem Satze Geschichte gemacht worden wäre : „möglichst wenig in möglichst langer Zeit !“ Ach, die griechische Geschichte läuft so rasch. Es ist nie wieder so verschwenderisch, so maasslos gelebt worden. Ich kann mich nicht überzeugen, dass die Geschichte der Griechen jenen n at ü rl ic he n Verlauf genommen habe, der so an ihr gerühmt wird. Sie waren viel zu mannichfach begabt dazu, um in jener schrittweisen Manier a l l m ä h l ic h zu sein, wie es die Schildkröte im Wettlauf mit Achilles ist : und das nennt man ja natürliche Entwickelung. Bei den Griechen geht es schnell vorwärts, aber eben so schnell abwärts ; die Bewegung der ganzen Maschine ist so gesteigert, dass ein einziger | Stein, in ihre Räder geworfen, sie zerspringen macht. Ein solcher Stein war zum Beispiel Sokrates ; in einer Nacht war die bis dahin so wunderbar regelmässige, aber freilich allzu schleunige Entwickelung der philosophischen Wissenschaft zerstört. Es ist keine müssige Frage, ob nicht Plato, von der sokratischen Ver-

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zauberung frei geblieben, einen noch höheren Typus des philosophischen Menschen gefunden hätte, der uns auf immer verloren ist. Man sieht in die Zeiten vor ihm wie in eine Bildner-Werkstätte solcher Typen hinein. Das sechste und fünfte Jahrhundert scheint aber doch noch mehr und Höheres zu verheissen, als es selber hervorgebracht hat ; aber es blieb bei dem Verheissen und Ankündigen. Und doch giebt es kaum einen schwereren Verlust, als den Verlust eines Typus’, einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten Mög l ic hk e it d e s ph i lo s o ph i s c he n L eb e n s . Selbst von den älteren Typen sind die meisten schlecht überliefert ; es scheinen mir alle Philosophen von Thales bis Demokrit ausserordentlich schwer erkennbar ; wem es aber gelingt, diese Gestalten nachzuschaffen, der wandelt unter Gebilden von mächtigstem und reinstem Typus. Diese Fähigkeit ist freilich selten, sie fehlte selbst den späteren Griechen, welche sich mit der Kunde der älteren Philosophie befassten ; Aristoteles zumal scheint seine Augen nicht im Kopfe zu haben, wenn er vor den Bezeichneten steht. Und so scheint es, als ob diese herrlichen Philosophen umsonst gelebt hätten oder als ob sie gar nur die streit- und redelustigen Schaaren der sokratischen Schulen hätten vorbereiten sollen. Es ist hier, wie gesagt, eine Lücke, ein Bruch in der Entwickelung ; irgend ein grosses Unglück muss geschehen sein und die einzige Statue, an welcher man Sinn und Zweck jener grossen bildnerischen Vorübung erkannt haben würde, zerbrach | oder misslang : was eigentlich geschehen ist, ist für immer ein Geheimniss der Werkstätte geblieben. – Das, was bei den Griechen sich ereignete – dass jeder grosse Denker im Glauben daran, Besitzer der absoluten Wahrheit zu sein, zum Tyrannen wurde, so dass auch die Geschichte des Geistes bei den Griechen jenen gewaltsamen, übereilten und gefährlichen Charakter bekommen hat, den ihre politische Geschichte zeigt – diese Art von Ereignissen war damit nicht erschöpft : es hat sich vieles Gleiche bis in die

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neueste Zeit hinein begeben, obwohl allmählich seltener und jetzt schwerlich mehr mit dem reinen naiven Gewissen der griechischen Philosophen. Denn im Ganzen redet jetzt die Gegenlehre und die Skepsis zu mächtig, zu laut. Die Periode der Tyrannen des Geistes ist vorbei. In den Sphären der höheren Cultur wird es freilich immer eine Herrschaft geben müssen, – aber diese Herrschaft liegt von jetzt ab in den Händen der Ol i g a r c he n d e s G e i s t e s . Sie bilden, trotz aller räumlichen und politischen Trennung, eine zusammengehörige Gesellschaft, deren Mitglieder sich e r k e n n e n und a n e r k e n ne n , was auch die öffentliche Meinung und die Urtheile der auf die Masse wirkenden Tages- und Zeitschriftsteller für Schätzungen der Gunst oder Abgunst in Umlauf bringen mögen. Die geistige Ueberlegenheit, welche früher trennte und verfeindete, pflegt jetzt zu b i nd e n : wie könnten die Einzelnen sich selbst behaupten und auf eigener Bahn, allen Strömungen entgegen, durch das Leben schwimmen, wenn sie nicht ihres Gleichen hier und dort unter gleichen Bedingungen leben sähen und deren Hand ergriffen, im Kampfe eben so sehr gegen den ochlokratischen Charakter des Halbgeistes und der Halbbildung, als gegen die gelegentlichen Versuche, mit Hülfe der Massenwirkung eine Tyrannei | aufzurichten ? Die Oligarchen sind einander nöthig, sie haben an einander ihre beste Freude, sie verstehen ihre Abzeichen, – aber trotzdem ist ein Jeder von ihnen frei, er kämpft und siegt an s e i ne r Stelle und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen. 262. H o m e r. – Die grösste Thatsache in der griechischen Bildung bleibt doch die, dass Homer so frühzeitig panhellenisch wurde. Alle geistige und menschliche Freiheit, welche die Griechen erreichten, geht auf diese Thatsache zurück. Aber zugleich ist es das eigentliche Verhängniss der griechischen Bildung gewesen, denn Homer verflachte, indem er centra-

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lisirte, und löste die ernsteren Instincte der Unabhängigkeit auf. Von Zeit zu Zeit erhob sich aus dem tiefsten Grunde des Hellenischen der Widerspruch gegen Homer ; aber er blieb immer siegreich. Alle grossen geistigen Mächte üben neben ihrer befreienden Wirkung auch eine unterdrückende aus ; aber freilich ist es ein Unterschied, ob Homer oder die Bibel oder die Wissenschaft die Menschen tyrannisiren. 263. B e g a bu n g. – In einer so hoch entwickelten Menschheit, wie die jetzige ist, bekommt von Natur Jeder den Zugang zu vielen Talenten mit. Jeder hat a n g eb or e ne s Ta le nt , aber nur Wenigen ist der Grad von Zähigkeit, Ausdauer, Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein Talent wird, also w i r d , was er i s t , das heisst : es in Werken und Handlungen entladet. 264. Der G ei st r eic he ent weder über sc h ät z t oder u nter s c h ät z t . – Unwissenschaftliche, aber begabte | Menschen schätzen jedes Anzeichen von Geist, sei es nun, dass er auf wahrer oder falscher Fährte ist ; sie wollen vor Allem, dass der Mensch, der mit ihnen verkehrt, sie gut mit seinem Geist unterhalte, sie ansporne, entflamme, zu Ernst und Scherz fortreisse und jedenfalls vor der Langenweile als kräftigstes Amulet schütze. Die wissenschaftlichen Naturen wissen dagegen, dass die Begabung, allerhand Einfälle zu haben, auf das strengste durch den Geist der Wissenschaft gezügelt werden müsse ; nicht Das, was glänzt, scheint, erregt, sondern die oft unscheinbare Wahrheit ist die Frucht, welche er vom Baum der Erkenntniss zu schütteln wünscht. Er darf, wie Aristoteles, zwischen „Langweiligen“ und „Geistreichen“ keinen Unterschied machen, sein Dämon führt ihn durch die Wüste ebenso wie durch tropische Vegetation, damit er überall nur an dem Wirklichen, Haltbaren, Aechten seine Freude habe. –

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Daraus ergiebt sich, bei unbedeutenden Gelehrten, eine Missachtung und Verdächtigung des Geistreichen überhaupt, und wiederum haben geistreiche Leute häufig eine Abneigung gegen die Wissenschaft : wie zum Beispiel fast alle Künstler. 265. D i e Ve r nu n f t i n d e r S c hu l e . – Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe, als strenges Denken, vorsichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren : desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht für diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der Religion. Sie kann ja darauf rechnen, dass menschliche Unklarheit, Gewöhnung und Bedürfniss später doch wieder den Bogen des allzustraffen Denkens abspannen. Aber so lange ihr Einfluss reicht, soll sie Das erzwingen, was das Wesentliche und Auszeichnende am Menschen ist : „Ver|nunft und Wissenschaft, des Menschen a l le r hö c h s t e Kraft“ – wie wenigstens Goethe urtheilt. – Der grosse Naturforscher von Baer fi ndet die Ueberlegenheit aller Europäer im Vergleich zu Asiaten in der eingeschulten Fähigkeit, dass sie Gründe für Das, was sie glauben, angeben können, wozu Diese aber völlig unfähig sind. Europa ist in die Schule des consequenten und kritischen Denkens gegangen, Asien weiss immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden und ist sich nicht bewusst, ob seine Ueberzeugungen aus eigener Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus Phantasien stammen. – Die Vernunft in der Schule hat Europa zu Europa gemacht : im Mittelalter war es auf dem Wege, wieder zu einem Stück und Anhängsel Asiens zu werden, – also den wissenschaftlichen Sinn, welchen es den Griechen verdankte, einzubüssen. 266. Untersc hät zte Wi rk u ng des g y m nasia len Unterr ic ht s . – Man sucht den Werth des Gymnasiums selten in

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den Dingen, welche wirklich dort gelernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie, so schnell er darf, von sich abzuschütteln. Das Lesen der Classiker – das giebt jeder Gebildete zu – ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Procedur : vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen Mehlthau über einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Werth, der gewöhnlich verkannt wird, – dass diese Lehrer die a b s t r ac t e S p r ac he d e r höhe r n C u lt u r reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen, | wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes ; dass Begriffe, Kunstausdrücke, Methoden, Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur hör e n , so wird ihr Intellect zu einer wissenschaftlichen Betrachtungsweise unwillkürlich präformirt. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht völlig unberührt von der Abstraction als reines Naturkind herauszukommen. 267. V ie le S p r ac he n le r ne n . – Viele Sprachen lernen füllt das Gedächtniss mit Worten, statt mit Thatsachen und Gedanken, aus, während diess ein Behältniss ist, welches bei jedem Menschen nur eine bestimmt begränzte Masse von Inhalt aufnehmen kann. Sodann schadet das Lernen vieler Sprachen, insofern es den Glauben, Fertigkeiten zu haben, erweckt und thatsächlich auch ein gewisses verführerisches Ansehen im Verkehre verleiht ; es schadet sodann auch indirect dadurch, dass es dem Erwerben gründlicher Kenntnisse und der Absicht, auf redliche Weise die Achtung der Menschen zu verdienen, entgegenwirkt. Endlich ist es die Axt, welche dem feineren Sprachgefühl innerhalb der Muttersprache an die Wurzel

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gelegt wird : diess wird dadurch unheilbar beschädigt und zu Grunde gerichtet. Die beiden Völker, welche die grössten Stilisten erzeugten, Griechen und Franzosen, lernten keine fremden Sprachen. – Weil aber der Verkehr der Menschen immer kosmopolitischer werden muss, und zum Beispiel ein rechter Kaufmann in London jetzt schon sich in acht Sprachen schriftlich und mündlich verständlich zu machen hat, so ist freilich das Viele-Sprachen-lernen ein nothwendiges Ueb e l ; welches aber zuletzt zum Aeussersten | kommend, die Menschheit zwingen wird, ein Heilmittel zu fi nden : und in irgend einer fernen Zukunft wird es eine neue Sprache, zuerst als Handelssprache, dann als Sprache des geistigen Verkehres überhaupt, für Alle geben, so gewiss, als es einmal Luft-Schiff fahrt giebt. Wozu hätte auch die Sprachwissenschaft ein Jahrhundert lang die Gesetze der Sprache studirt und das Nothwendige, Werthvolle, Gelungene an jeder einzelnen Sprache abgeschätzt ? 268. Zu r K r ieg sgesc h ic hte des I nd iv iduu m s. – Wir fi nden in ein einzelnes Menschenleben, welches durch mehrere Culturen geht, den Kampf zusammengedrängt, welcher sich sonst zwischen zwei Generationen, zwischen Vater und Sohn, abspielt : die Nähe der Verwandtschaft ve r s c h ä r f t diesen Kampf, weil jede Partei schonungslos das ihnen so gut bekannte Innere der anderen Partei mit hineinzieht ; und so wird dieser Kampf im einzelnen Individuum am erbittertsten sein ; hier schreitet jede neue Phase über die früheren mit grausamer Ungerechtigkeit und Verkennung von deren Mitteln und Zielen hinweg. 269. Um ei ne Vier tel st u nde f r ü her. – Man fi ndet gelegentlich Einen, der mit seinen Ansichten über seiner Zeit steht, aber doch nur um so viel, dass er die Vulgäransichten des nächsten Jahrzehnts vorwegnimmt. Er hat die öffentliche Meinung

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eher, als sie öffentlich ist, das heisst : er ist einer Ansicht, die es verdient trivial zu werden, eine Viertelstunde eher in die Arme gefallen, als Andere. Sein Ruhm pflegt aber viel lauter zu sein, als der Ruhm der wirklichen Grossen und Ueberlegenen. | 270. D ie K u n s t , z u le s e n . – Jede starke Richtung ist einseitig ; sie nähert sich der Richtung der geraden Linie und ist wie diese ausschliessend, das heisst sie berührt nicht viele andere Richtungen, wie diess schwache Parteien und Naturen in ihrem wellenhaften Hin- und Hergehen thun : das muss man also auch den Philologen nachsehen, dass sie einseitig sind. Herstellung und Reinhaltung der Texte, nebst der Erklärung derselben, in einer Zunft jahrhundertelang fortgetrieben, hat endlich jetzt die richtigen Methoden fi nden lassen ; das ganze Mittelalter war tief unfähig zu einer streng philologischen Erklärung, das heisst zum einfachen Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt, – es war Etwas, diese Methoden zu fi nden, man unterschätze es nicht ! Alle Wissenschaft hat dadurch erst Continuität und Stetigkeit gewonnen, dass die Kunst des richtigen Lesens, das heisst die Philologie auf ihre Höhe kam. 271. D ie K u n st , z u sc h l ie s sen. – Der grösste Fortschritt, den die Menschen gemacht haben, liegt darin, dass sie r ic ht i g s c h l ie s s e n lernen. Das ist gar nicht so etwas Natürliches, wie Schopenhauer annimmt, wenn er sagt : „zu schliessen sind Alle, zu urtheilen Wenige fähig“, sondern ist spät erlernt und jetzt noch nicht zur Herrschaft gelangt. Das falsche Schliessen ist in älteren Zeiten die Regel : und die Mythologien aller Völker, ihre Magie und ihr Aberglaube, ihr religiöser Cultus, ihr Recht sind die unerschöpfl ichen Beweis-Fundstätten für diesen Satz. |

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272. Ja h resr i nge der i nd iv iduel len Cu lt u r. – Die Stärke und Schwäche der geistigen Productivität hängt lange nicht so an der angeerbten Begabung, als an dem mitgegebenen Maasse von S p a n n k r a f t . Die meisten jungen Gebildeten von dreissig Jahren gehen um diese Frühsonnenwende ihres Lebens zurück und sind für neue geistige Wendungen von da an unlustig. Desshalb ist dann gleich wieder zum Heile einer fort und fort wachsenden Cultur eine neue Generation nöthig, die es nun aber ebenfalls nicht weit bringt : denn um die Cultur des Vaters n ac h z u hole n , muss der Sohn die angeerbte Energie, welche der Vater auf jener Lebensstufe, als er den Sohn zeugte, selber besass, fast auf brauchen ; mit dem kleinen Ueberschuss kommt er weiter (denn weil hier der Weg zum zweiten Mal gemacht wird, geht es ein Wenig schneller vorwärts ; der Sohn verbraucht, um das Selbe zu lernen, was der Vater wusste, nicht ganz so viel Kraft). Sehr spannkräftige Männer, wie zum Beispiel Goethe, durchmessen so viel als kaum vier Generationen hinter einander vermögen ; desshalb kommen sie aber zu schnell voraus, so dass die anderen Menschen sie erst in dem nächsten Jahrhundert einholen, vielleicht nicht einmal völlig, weil durch die häufigen Unterbrechungen die Geschlossenheit der Cultur, die Consequenz der Entwikkelung geschwächt worden ist. – Die gewöhnlichen Phasen der geistigen Cultur, welche im Verlauf der Geschichte errungen ist, holen die Menschen immer schneller nach. Sie beginnen gegenwärtig in die Cultur als religiös bewegte Kinder einzutreten und bringen es vielleicht im zehnten Lebensjahre zur höchsten Lebhaftigkeit dieser Empfi ndungen, gehen dann in abgeschwächtere | Formen (Pantheismus) über, während sie sich der Wissenschaft nähern ; kommen über Gott, Unsterblichkeit und dergleichen ganz hinaus, aber verfallen den Zaubern einer metaphysischen Philosophie. Auch diese wird ihnen endlich unglaubwürdig ; die Kunst scheint dagegen

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immer mehr zu gewähren, so dass eine Zeit lang die Metaphysik kaum noch in einer Umwandelung zur Kunst oder als künstlerisch verklärende Stimmung übrig bleibt und fortlebt. Aber der wissenschaftliche Sinn wird immer gebieterischer und führt den Mann hin zur Naturwissenschaft und Historie und namentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens, während der Kunst eine immer mildere und anspruchslosere Bedeutung zufällt. Diess Alles pflegt sich jetzt innerhalb der ersten dreissig Jahre eines Mannes zu ereignen. Es ist die Recapitulation eines Pensums, an welchem die Menschheit vielleicht dreissigtausend Jahre sich abgearbeitet hat. 273. Zu r üc k g e g a n g e n , n ic ht z u r üc k g ebl ieb e n . – Wer gegenwärtig seine Entwickelung noch aus religiösen Empfi ndungen heraus anhebt und vielleicht längere Zeit nachher in Metaphysik und Kunst weiterlebt, der hat sich allerdings ein gutes Stück zurückbegeben und beginnt sein Wettrennen mit anderen modernen Menschen unter ungünstigen Voraussetzungen : er verliert scheinbar Raum und Zeit. Aber dadurch, dass er sich in jenen Bereichen aufhielt, wo Gluth und Energie entfesselt werden und fortwährend Macht als vulcanischer Strom aus unversiegbarer Quelle strömt, kommt er dann, sobald er sich nur zur rechten Zeit von jenen Gebieten getrennt hat, um so schneller vorwärts, sein Fuss ist beflügelt, seine Brust hat ruhiger, länger, ausdauernder athmen gelernt.  – Er | hat sich nur zurückgezogen, um zu seinem Sprunge genügenden Raum zu haben : so kann selbst etwas Fürchterliches, Drohendes in diesem Rückgange liegen. 274. Ei n Aussc h n it t u nseres Selbst a ls k ü nst ler isc hes Object. – Es ist ein Zeichen überlegener Cultur, gewisse Phasen der Entwickelung, welche die geringeren Menschen fast

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gedankenlos durchleben und von der Tafel ihrer Seele dann wegwischen, mit Bewusstsein festzuhalten und ein getreues Bild davon zu entwerfen : denn diess ist die höhere Gattung der Malerkunst, welche nur Wenige verstehen. Dazu wird es nöthig, jene Phasen künstlich zu isoliren. Die historischen Studien bilden die Befähigung zu diesem Malerthum aus, denn sie fordern uns fortwährend auf, bei Anlass eines Stückes Geschichte, eines Volkes – oder Menschenlebens uns einen ganz bestimmten Horizont von Gedanken, eine bestimmte Stärke von Empfi ndungen, das Verwalten dieser, das Zurücktreten jener vorzustellen. Darin, dass man solche Gedanken- und Gefühlssysteme aus gegebenen Anlässen schnell reconstruiren kann, wie den Eindruck eines Tempels aus einigen zufällig stehen gebliebenen Säulen und Mauerresten, besteht der historische Sinn. Das nächste Ergebniss desselben ist, dass wir unsere Mitmenschen als ganz bestimmte solche Systeme und Vertreter verschiedener Culturen verstehen, das heisst als nothwendig, aber als veränderlich. Und wiederum, dass wir in unserer eigenen Entwickelung Stücke heraustrennen und selbständig hinstellen können. 275. C y n i k e r u n d E p i k u r e e r. – Der Cyniker erkennt den Zusammenhang zwischen den vermehrten und stärkeren | Schmerzen des höher cultivirten Menschen und der Fülle von Bedürfnissen ; er begreift also, dass die Menge von Meinungen über das Schöne, Schickliche, Geziemende, Erfreuende ebenso sehr reiche Genuss-, aber auch Unlustquellen entspringen lassen mussten. Gemäss dieser Einsicht bildet er sich zurück, indem er viele dieser Meinungen aufgiebt und sich gewissen Anforderungen der Cultur entzieht ; damit gewinnt er ein Gefühl der Freiheit und der Kräftigung ; und allmählich, wenn die Gewohnheit ihm seine Lebensweise erträglich macht, hat er in der That seltnere und schwächere Unlustemp-

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fi ndungen, als die cultivirten Menschen, und nähert sich dem Hausthier an ; überdiess empfi ndet er Alles im Reiz des Contrastes und – schimpfen kann er ebenfalls nach Herzenslust ; so dass er dadurch wieder hoch über die Empfi ndungswelt des Thieres hinauskommt. – Der Epikureer hat den selben Gesichtspunct wie der Cyniker ; zwischen ihm und Jenem ist gewöhnlich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der Epikureer seine höhere Cultur, um sich von den herrschenden Meinungen unabhängig zu machen ; er erhebt sich über dieselbe, während der Cyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in windstillen, wohlgeschützten, halbdunkelen Gängen, während über ihm, im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und ihm verrathen, wie heftig bewegt da draussen die Welt ist. Der Cyniker dagegen geht gleichsam nackt draussen im Windeswehen umher und härtet sich bis zur Gefühllosigkeit ab. 276. M i k r ok o s mu s u nd M a k r ok o s mu s d e r C u lt u r. – Die besten Entdeckungen über die Cultur macht der Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei heterogene | Mächte waltend fi ndet. Gesetzt, es lebe Einer eben so sehr in der Liebe zur bildenden Kunst oder zur Musik als er vom Geiste der Wissenschaft fortgerissen werde, und er sehe es als unmöglich an, diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung der anderen Macht aufzuheben : so bleibt ihm nur übrig, ein so grosses Gebäude der Cultur aus sich zu gestalten, dass jene beiden Mächte, wenn auch an verschiedenen Enden desselben, in ihm wohnen können, während zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte, mit überwiegender Kraft, um nöthigenfalls den ausbrechenden Streit zu schlichten, ihre Herberge haben. Ein solches Gebäude der Cultur im einzelnen Individuum wird aber die grösste Aehnlichkeit mit dem Culturbau in ganzen Zeitperioden haben und eine fortge-

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setzte analogische Belehrung über denselben abgeben. Denn überall, wo sich die grosse Architektur der Cultur entfaltet hat, war ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden Mächte zur Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammelung der weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen, ohne sie desshalb zu unterdrücken und in Fesseln zu schlagen. 277. G lüc k u nd C u lt u r. – Der Anblick der Umgebungen unserer Kindheit erschüttert uns : das Gartenhaus, die Kirche mit den Gräbern, der Teich und der Wald, – diess sehen wir immer als Leidende wieder. Mitleid mit uns selbst ergreift uns, denn was haben wir seitdem Alles durchgelitten ! Und hier steht Jegliches noch so still, so ewig da : nur wir sind so anders, so bewegt ; selbst etliche Menschen fi nden wir wieder, an welchen die Zeit nicht me h r ihren Zahn gewetzt hat, als an einem Eichenbaume : Bauern, Fischer, Waldbe|wohner – sie sind die selben. – Erschütterung, Selbstmitleid im Angesichte der niederen Cultur ist das Zeichen der höheren Cultur ; woraus sich ergiebt, dass durch diese das Glück jedenfalls nicht gemehrt worden ist. Wer eben Glück und Behagen vom Leben ernten will, der mag nur immer der höheren Cultur aus dem Wege gehen. 278. Gleic h n i s s vom Ta n z e. – Jetzt ist es als das entscheidende Zeichen grosser Cultur zu betrachten, wenn Jemand jene Kraft und Biegsamkeit besitzt, um ebenso rein und streng im Erkennen zu sein, als, in andern Momenten, auch befähigt, der Poesie, Religion und Metaphysik gleichsam hundert Schritte vorzugeben und ihre Gewalt und Schönheit nachzuempfi nden. Eine solche Stellung zwischen zwei so verschiedenen Ansprüchen ist sehr schwierig, denn die Wissenschaft drängt zur absoluten Herrschaft ihrer Methode, und wird diesem Drängen nicht nachgegeben, so entsteht die andere

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Gefahr eines schwächlichen Auf- und Niederschwankens zwischen verschiedenen Antrieben. Indessen : um wenigstens mit einem Gleichniss einen Blick auf die Lösung dieser Schwierigkeit zu eröff nen, möge man sich doch daran erinnern, dass der Ta n z nicht das Selbe wie ein mattes Hin- und Hertaumeln zwischen verschiedenen Antrieben ist. Die hohe Cultur wird einem kühnen Tanze ähnlich sehen : wesshalb, wie gesagt, viel Kraft und Geschmeidigkeit noth thut. 279. Von der Erleic hter u ng des Leben s. – Ein Hauptmittel, um sich das Leben zu erleichtern, ist das Idealisiren aller Vorgänge desselben ; man soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisiren heisst. | Der Maler verlangt, dass der Zuschauer nicht zu genau, zu scharf zusehe, er zwingt ihn in eine gewisse Ferne zurück, damit er von dort aus betrachte ; er ist genöthigt, eine ganz bestimmte Entfernung des Betrachters vom Bilde vorauszusetzen ; ja er muss sogar ein ebenso bestimmtes Maass von Schärfe des Auges bei seinem Betrachter annehmen ; in solchen Dingen darf er durchaus nicht schwanken. Jeder also, der sein Leben idealisiren will, muss es nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Entfernung zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum Beispiel Goethe. 280. E r s c hwe r u n g a l s E r le i c h t e r u n g u nd u m g e k e h r t . – Vieles, was auf gewissen Stufen des Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer höheren Stufe als Erleichterung, weil solche Menschen stärkere Erschwerungen des Lebens kennen gelernt haben. Ebenso kommt das Umgekehrte vor : so hat zum Beispiel die Religion ein doppeltes Gesicht, je nachdem ein Mensch zu ihr hinauf blickt, um von ihr sich seine Last und Noth abnehmen zu lassen, oder auf sie hinab-

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sieht, wie auf die Fessel, welche ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch in die Lüfte steige. 281. D ie höhe r e C u lt u r w i r d n ot hwe n d i g m i s s ve r s t a n d e n . – Wer sein Instrument nur mit zwei Saiten bespannt hat, wie die Gelehrten, welche ausser dem W i s s e n s t r ieb nur noch einen anerzogenen r e l i g iö s e n haben, der versteht solche Menschen nicht, welche auf mehr Saiten spielen können. Es liegt im Wesen der höheren v ie l s a it i g e r e n Cultur, dass sie von der niederen | immer falsch gedeutet wird ; wie diess zum Beispiel geschieht, wenn die Kunst als eine verkappte Form des Religiösen gilt. Ja Leute, die nur religiös sind, verstehen selbst die Wissenschaft als Suchen des religiösen Gefühls, so wie Taubstumme nicht wissen, was Musik ist, wenn nicht sichtbare Bewegung. 282. K l a g e l ie d . – Es sind vielleicht die Vorzüge unserer Zeiten, welche ein Zurücktreten und eine gelegentliche Unterschätzung der vita contemplativa mit sich bringen. Aber eingestehen muss man es sich, dass unsere Zeit arm ist an grossen Moralisten, dass Pascal, Epictet, Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit und Fleiss – sonst im Gefolge der grossen Göttin Gesundheit – mitunter wie eine Krankheit zu wüthen scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr : man begnügt sich, sie zu hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewöhnt, und Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen. Selbständige und vorsichtige Haltung der Erkenntniss schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab, der Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an seiner Kunst, die Dinge zu be-

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trachten, ihre Gründlichkeit und ihren Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der Wissenschaft bannen möchten : während er die ganz andere und höhere Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftlichen und gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen. – Eine solche Klage, wie die eben abgesungene, | wird wahrscheinlich ihre Zeit haben und von selber einmal, bei einer gewaltigen Rückkehr des Genius’ der Meditation, verstummen. 283. H aupt m a n g e l d er t h ät i g e n Me n s c he n . – Den Thätigen fehlt gewöhnlich die höhere Thätigkeit : ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte, Kaufleute, Gelehrte, das heisst als Gattungswesen thätig, aber nicht als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen ; in dieser Hinsicht sind sie faul. – Es ist das Unglück der Thätigen, dass ihre Thätigkeit fast immer ein Wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geldsammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen : sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. – Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie ; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, er sei übrigens wer er wolle : Staatsmann, Kaufmann, Beamter, Gelehrter. 284. Zu G u n s t e n d e r Mü s s i g e n . – Zum Zeichen dafür, dass die Schätzung des beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt mit den thätigen Menschen in einer Art von hastigem Genusse, so dass sie also diese Art, zu geniessen, höher zu schätzen scheinen, als die, welche ihnen eigentlich zukommt und welche in der That vielmehr Genuss ist. Die Gelehrten schämen sich des otium. Es ist aber

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ein edel Ding um Musse und Müssiggehen. – Wenn Müssiggang wirklich der A n f a n g aller Laster ist, so befi ndet er sich also wenigstens in der nächsten Nähe aller Tugenden ; der müssige Mensch ist | immer noch ein besserer Mensch als der thätige. – Ihr meint doch nicht, dass ich mit Musse und Müssiggehen auf euch ziele, ihr Faulthiere ? – 285. D ie mo d e r ne Un r u he. – Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit immer grösser, so dass den Amerikanern die Bewohner Europa’s insgesammt sich als ruheliebende und geniessende Wesen darstellen, während diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinander fl iegen. Diese Bewegtheit wird so gross, dass die höhere Cultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen kann ; es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf einander folgten. Aus Mangel an Ruhe läuft unsere Civilisation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Thätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört desshalb zu den nothwendigen Correcturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Maasse zu verstärken. Doch hat schon jeder Einzelne, welcher in Herz und Kopf ruhig und stetig ist, das Recht zu glauben, dass er nicht nur ein gutes Temperament, sondern eine allgemein nützliche Tugend besitze und durch die Bewahrung dieser Tugend sogar eine höhere Aufgabe erfülle. 286. I nw ie f e r n d e r T h ä t i g e f au l i s t . – Ich glaube, dass Jeder über jedes Ding, über welches Meinungen möglich sind, eine eigene Meinung haben muss, weil er selber ein eigenes, nur einmaliges Ding ist, das zu allen anderen Dingen eine neue, nie dagewesene Stellung einnimmt. Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Thätigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser | aus seinem eigenen Brunnen zu schöp-

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fen.  – Mit der Freiheit der Meinungen steht es wie mit der Gesundheit : beide sind individuell, von beiden kann kein allgemein gültiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum zu seiner Gesundheit nöthig hat, ist für ein anderes schon Grund zur Erkrankung, und manche Mittel und Wege zur Freiheit des Geistes dürfen höher entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten. 287. C e n s or v it ae. – Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet für eine lange Zeit den inneren Zustand eines Menschen, welcher frei in seinem Urtheile über das Leben werden will ; er vergisst nicht und trägt den Dingen Alles nach, Gutes und Böses. Zuletzt, wenn die ganze Tafel seiner Seele mit Erfahrungen voll geschrieben ist, wird er das Dasein nicht verachten und hassen, aber es auch nicht lieben, sondern über ihm liegen bald mit dem Auge der Freude, bald mit dem der Trauer, und, wie die Natur, bald sommerlich, bald herbstlich gesinnt sein. 288. Neb e ne r f ol g. – Wer ernstlich frei werden will, wird dabei ohne allen Zwang die Neigung zu Fehlern und Lastern mit verlieren ; auch Aerger und Verdruss werden ihn immer seltener anfallen. Sein Wille nämlich will Nichts angelegentlicher, als Erkennen und das Mittel dazu, das heisst : den andauernden Zustand, in dem er am tüchtigsten zum Erkennen ist. 289. We r t h d e r K r a n k he it . – Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er für | gewöhnlich an seinem Amte, Geschäfte oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit über sich verloren hat : er gewinnt diese Weisheit aus der Musse, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt.

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290. E m pf i nd u n g au f d e m L a nd e. – Wenn man nicht feste, ruhige Linien am Horizonte seines Lebens hat, Gebirgs- und Waldlinien gleichsam, so wird der innerste Wille des Menschen selber unruhig, zerstreut und begehrlich wie das Wesen des Städters : er hat kein Glück und giebt kein Glück. 291. Vor s ic ht der f r eien Gei ster. – Freigesinnte, der Erkenntniss allein lebende Menschen werden ihr äusserliches Lebensziel, ihre endgültige Stellung zu Gesellschaft und Staat bald erreicht fi nden und zum Beispiel mit einem kleinen Amte oder einem Vermögen, das gerade zum Leben ausreicht, gerne sich zufrieden geben ; denn sie werden sich einrichten so zu leben, dass eine grosse Verwandelung der äusseren Güter, ja ein Umsturz der politischen Ordnungen ihr Leben nicht mit umwirft. Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig wie möglich an Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und gleichsam mit einem langen Athem in das Element des Erkennens hinabtauchen. So können sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund zu sehen. – Von einem Ereigniss wird ein solcher Geist gerne nur einen Zipfel nehmen, er liebt die Dinge in der ganzen Breite und Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht : denn er will sich nicht in diese verwickeln. – Auch er kennt die Wochentage der Unfreiheit, der Abhängigkeit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit muss ihm ein | Sonntag der Freiheit kommen, sonst wird er das Leben nicht aushalten. – Es ist wahrscheinlich, dass selbst seine Liebe zu den Menschen vorsichtig und etwas kurzathmig sein wird, denn er will sich nur, so weit es zum Zwecke der Erkenntniss nöthig ist, mit der Welt der Neigungen und der Blindheit einlassen. Er muss darauf vertrauen, dass der Genius der Gerechtigkeit Etwas für seinen Jünger und Schützling sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe

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nennen sollten. – Es giebt in seiner Lebens- und Denkweise einen ve r f e i ne r t e n He r oi s mu s , welcher es verschmäht, sich der grossen Massen-Verehrung, wie sein gröberer Bruder es thut, anzubieten und still durch die Welt und aus der Welt zu gehen pflegt. Was für Labyrinthe er auch durchwandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig durchgequält hat – kommt er an’s Licht, so geht er hell, leicht und fast geräuschlos seinen Gang und lässt den Sonnenschein bis in seinen Grund hinab spielen. 292. Vor w ä r t s . – Und damit vorwärts auf der Bahn der Weisheit, guten Schrittes, guten Vertrauens ! Wie du auch bist, so diene dir selber als Quell der Erfahrung ! Wirf das Missvergnügen über dein Wesen ab, verzeihe dir dein eignes Ich, denn in jedem Falle hast du an dir eine Leiter mit hundert Sprossen, auf welchen du zur Erkenntniss steigen kannst. Das Zeitalter, in welches du dich mit Leidwesen geworfen fühlst, preist dich selig dieses Glückes wegen ; es ruft dir zu, dass dir jetzt noch an Erfahrungen zu Theil werde, was Menschen späterer Zeit vielleicht entbehren müssen. Missachte es nicht, noch religiös gewesen zu sein ; ergründe es völlig, wie du noch einen ächten Zugang zur Kunst gehabt hast. Kannst | du nicht gerade mit Hülfe dieser Erfahrungen ungeheuren Wegstrecken der früheren Menschheit verständnissvoller nachgehen ? Sind nicht gerade auf d e m Boden, welcher dir mitunter so missfällt, auf dem Boden des unreinen Denkens, viele der herrlichsten Früchte älterer Cultur aufgewachsen ? Man muss Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben, – sonst kann man nicht weise werden. Aber man muss über sie hinaus sehen, ihnen entwachsen können ; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie nicht. Ebenso muss dir die Historie vertraut sein und das vorsichtige Spiel mit den Wagschalen : „einerseits– andererseits.“ Wandle zurück, in die Fussstapfen tretend, in

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welchen die Menschheit ihren leidvollen grossen Gang durch die Wüste der Vergangenheit machte : so bist du am gewissesten belehrt, wohin alle spätere Menschheit nicht wieder gehen kann oder darf. Und indem du mit aller Kraft vorauserspähen willst, wie der Knoten der Zukunft noch geknüpft wird, bekommt dein eigenes Leben den Werth eines Werkzeuges und Mittels zur Erkenntniss. Du hast es in der Hand zu erreichen, dass all dein Erlebtes : die Versuche, Irrwege, Fehler, Täuschungen, Leidenschaften, deine Liebe und deine Hoff nung, in deinem Ziele ohne Rest aufgehn. Dieses Ziel ist, selber eine nothwendige Kette von Cultur-Ringen zu werden und von dieser Nothwendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der allgemeinen Cultur zu schliessen. Wenn dein Blick stark genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen Sternbilder zukünftiger Culturen sichtbar werden. Glaubst du, ein solches Leben mit einem solchen Ziele sei zu mühevoll, zu ledig aller Annehmlichkeiten ? So hast du | noch nicht gelernt, dass kein Honig süsser als der der Erkenntniss ist und dass die hängenden Wolken der Trübsal dir noch zum Euter dienen müssen, aus dem du die Milch zu deiner Labung melken wirst. Kommt das Alter, so merkst du erst recht, wie du der Stimme der Natur Gehör gegeben, jener Natur, welche die ganze Welt durch Lust beherrscht : das selbe Leben, welches seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem milden Sonnenglanz einer beständigen geistigen Freudigkeit ; beiden, dem Alter und der Weisheit, begegnest du auf Einem Bergrücken des Lebens, so wollte es die Natur. Dann ist es Zeit und kein Anlass zum Zürnen, dass der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu – deine letzte Bewegung ; ein Jauchzen der Erkenntniss – dein letzter Laut. |

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293. Woh l wol le nd e Ve r s t e l lu n g. – Es ist häufig im Verkehre mit Menschen eine wohlwollende Verstellung nöthig, als ob wir die Motive ihres Handelns nicht durchschauten. 294. Co p ie n . – Nicht selten begegnet man Copien bedeutender Menschen ; und den Meisten gefallen, wie bei Gemälden, so auch hier, die Copien besser als die Originale. 295. D e r R e d ne r. – Man kann höchst passend reden und doch so, dass alle Welt über das Gegentheil schreit : nämlich dann, wenn man nicht zu aller Welt redet. 296. M a n g e l a n Ve r t r au l ic h k e it . – Mangel an Vertraulichkeit unter Freunden ist ein Fehler, der nicht gerügt werden kann, ohne unheilbar zu werden. 297. Zu r K u n s t d e s S c he n k e n s. – Eine Gabe ausschlagen zu müssen, blos weil sie nicht auf die rechte Weise angeboten wurde, erbittert gegen den Geber. | 298. Der gef ä h rl ic h ste Pa r tei ma n n. – In jeder Partei ist Einer, der durch sein gar zu gläubiges Aussprechen der Parteigrundsätze die Uebrigen zum Abfall reizt.

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299. Rathgeber des K ran ken. – Wer einem Kranken seine Rathschläge giebt, erwirbt sich ein Gefühl von Ueberlegenheit über ihn, sei es, dass sie angenommen oder dass sie verworfen werden. Desshalb hassen reizbare und stolze Kranke die Rathgeber noch mehr als ihre Krankheit. 300. Doppelte A r t der Gleich heit. – Die Sucht nach Gleichheit kann sich so äussern, dass man entweder alle Anderen zu sich hinunterziehen möchte (durch Verkleinern, Secretiren, Beinstellen) oder sich mit Allen hinauf (durch Anerkennen, Helfen, Freude an fremdem Gelingen). 301. G e g e n Ve rle g e n he it . – Das beste Mittel, sehr verlegenen Leuten zu Hülfe zu kommen und sie zu beruhigen, besteht darin, dass man sie entschieden lobt. 302. Vorl ieb e f ü r e i n z e l ne Tu g e nd e n . – Wir legen nicht eher besonderen Werth auf den Besitz einer Tugend, bis wir deren völlige Abwesenheit an unserem Gegner wahrnehmen. 303. Wa r u m m a n w id e r s p r ic ht . – Man widerspricht oft einer Meinung, während uns eigentlich nur der Ton, mit dem sie vorgetragen wurde, unsympathisch ist. | 304. Vertrauen und Vertraulich keit. – Wer die Vertraulichkeit mit einer anderen Person gefl issentlich zu erzwingen sucht, ist gewöhnlich nicht sicher darüber, ob er ihr Vertrauen besitzt. Wer des Vertrauens sicher ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Werth.

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305. G le ic h g ew ic ht d e r Fr eu nd s c h a f t . – Manchmal kehrt, im Verhältniss von uns zu einem andern Menschen, das rechte Gleichgewicht der Freundschaft zurück, wenn wir in unsre eigene Wagschale einige Gran Unrecht legen. 306. D ie g e f ä h rl ic h s t e n A e r z t e. – Die gefährlichsten Aerzte sind die, welche es dem geborenen Arzte als geborene Schauspieler mit vollkommener Kunst der Täuschung nachmachen. 307. Wa n n P a r a d ox ie n a m Pl at z e s i nd . – Geistreichen Personen braucht man mitunter, um sie für einen Satz zu gewinnen, denselben nur in der Form einer ungeheuerlichen Paradoxie vorzulegen. 308. W i e mu t h i g e L e u t e g e wo n n e n we r d e n . – Muthige Leute überredet man dadurch zu einer Handlung, dass man dieselbe gefährlicher darstellt, als sie ist. 309. A r t i g k e it e n . – Unbeliebten Personen rechnen wir die Artigkeiten, welche sie uns erweisen, zum Vergehen an. | 310. Wa r t e n l a s s e n . – Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist, sie lange warten zu lassen. Diess macht unmoralisch. 311. G e g e n d ie Ve r t r au l ic he n . – Leute, welche uns ihr volles Vertrauen schenken, glauben dadurch ein Recht auf das unsrige zu haben. Diess ist ein Fehlschluss ; durch Geschenke erwirbt man keine Rechte.

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312. A u s g le ic h s m it t e l . – Es genügt oft, einem Andern, dem man einen Nachtheil zugefügt hat, Gelegenheit zu einem Witze über uns zu geben, um ihm persönlich Genugthuung zu schaffen, ja um ihn für uns gut zu stimmen. 313. E it e l k e it d e r Zu n g e. – Ob der Mensch seine schlechten Eigenschaften und Laster verbirgt oder mit Offenheit sie eingesteht, so wünscht doch in beiden Fällen seine Eitelkeit einen Vortheil dabei zu haben : man beachte nur, wie fein er unterscheidet, vor wem er jene Eigenschaften verbirgt, vor wem er ehrlich und offenherzig wird. 314. R üc k s ic ht s vol l . – Niemanden kränken, Niemanden beeinträchtigen wollen kann ebensowohl das Kennzeichen einer gerechten, als einer ängstlichen Sinnesart sein. 315. Zu m D i s put i r e n e r f or d e rl ic h . – Wer seine Gedanken nicht auf Eis zu legen versteht, der soll sich nicht in die Hitze des Streites begeben. | 316. Um g a n g u nd A n m a a s s u n g. – Man verlernt die Anmaassung, wenn man sich immer unter verdienten Menschen weiss ; Allein-sein pflanzt Uebermuth. Junge Leute sind anmaassend, denn sie gehen mit Ihresgleichen um, welche alle Nichts sind, aber gerne viel bedeuten. 317. Mot i v d e s A n g r i f f s . – Man greift nicht nur an, um Jemandem wehe zu thun, ihn zu besiegen, sondern vielleicht auch nur, um sich seiner Kraft bewusst zu werden.

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318. S c h me ic he le i . – Personen, welche unsere Vorsicht im Verkehr mit ihnen durch Schmeicheleien betäuben wollen, wenden ein gefährliches Mittel an, gleichsam einen Schlaftrunk, welcher, wenn er nicht einschläfert, nur um so mehr wach erhält. 319. Guter Briefschreiber. – Der, welcher keine Bücher schreibt, viel denkt und in unzureichender Gesellschaft lebt, wird gewöhnlich ein guter Briefschreiber sein. 320. A m h ä s s l ic h s t e n . – Es ist zu bezweifeln, ob ein Vielgereister irgendwo in der Welt hässlichere Gegenden gefunden hat, als im menschlichen Gesichte. 321. D ie M it le id i g e n . – Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hülfreichen Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden : beim Glück der Anderen haben sie Nichts zu thun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im Besitz ihrer Ueberlegenheit und zeigen desshalb leicht Missvergnügen. | 322. Ve r w a n d t e e i n e s S e l b s t m ö r d e r s . – Verwandte eines Selbstmörders rechnen es ihm übel an, dass er nicht aus Rücksicht auf ihren Ruf am Leben geblieben ist. 323. Un d a n k vor au s z u s e he n . – Der, welcher etwas Grosses schenkt, fi ndet keine Dankbarkeit ; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zu viel Last.

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324. I n g e i s t lo s e r G e s e l l s c h a f t . – Niemand dankt dem geistreichen Menschen die Höfl ichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der es nicht höfl ich ist, Geist zu zeigen. 325. G e g e nwa r t von Z eu g e n . – Man springt einem Menschen, der in’s Wasser fällt, noch einmal so gern nach, wenn Leute zugegen sind, die es nicht wagen. 326. S c hwe i g e n . – Die für beide Parteien unangenehmste Art, eine Polemik zu erwidern, ist, sich ärgern und schweigen : denn der Angreifende erklärt sich das Schweigen gewöhnlich als Zeichen der Verachtung. 327. D a s G e he i m n i s s d e s Fr eu nd e s . – Es wird Wenige geben, welche, wenn sie um Stoff zur Unterhaltung verlegen sind, nicht die geheimeren Angelegenheiten ihrer Freunde preisgeben. 328. Hu m a n it ät . – Die Humanität der Berühmtheiten des Geistes besteht darin, im Verkehre mit Unberühmten auf eine verbindliche Art Unrecht zu behalten. | 329. D e r B e f a n g e ne. – Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht sicher fühlen, benutzen jede Gelegenheit, um an einem Nahegestellten, dem sie überlegen sind, diese Ueberlegenheit öffentlich, vor der Gesellschaft, zu zeigen, zum Beispiel durch Neckereien.

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330. D a n k . – Eine feine Seele bedrückt es, sich Jemanden zum Dank verpfl ichtet zu wissen ; eine grobe, sich Jemandem. 331. M e r k m a l d e r E nt f r e m d u n g. – Das stärkste Anzeichen von Entfremdung der Ansichten bei zwei Menschen ist diess, dass beide sich gegenseitig einiges Ironische sagen, aber keiner von beiden das Ironische daran fühlt. 332. A n m a a s s u n g b e i Ve r d ie n s t e n . – Anmaassung bei Verdiensten beleidigt noch mehr, als Anmaassung von Menschen ohne Verdienst : denn schon das Verdienst beleidigt. 333. Gefahr in der Stimme. – Mitunter macht uns im Gespräche der Klang der eigenen Stimme verlegen und verleitet uns zu Behauptungen, welche gar nicht unserer Meinung entsprechen. 334. I m G e s p r äc he. – Ob man im Gespräche dem Andern vornehmlich Recht giebt oder Unrecht, ist durchaus die Sache der Angewöhnung : das Eine wie das Andere hat Sinn. | 335. Fu r c ht vor d e m Näc h s t e n . – Wir fürchten die feindselige Stimmung des Nächsten, weil wir befürchten, dass er durch diese Stimmung hinter unsere Heimlichkeiten kommt. 336. D u r c h Ta d e l au s z e ic h ne n . – Sehr angesehene Personen ertheilen selbst ihren Tadel so, dass sie uns damit auszeichnen wollen. Es soll uns aufmerksam machen, wie angelegentlich

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sie sich mit uns beschäftigen. Wir verstehen sie ganz falsch, wenn wir ihren Tadel sachlich nehmen und uns gegen ihn vertheidigen ; wir ärgern sie dadurch und entfremden uns ihnen. 337. Verd r u ss a m Woh lwol len A nderer. – Wir irren uns über den Grad, in welchem wir uns gehasst, gefürchtet glauben : weil wir selber zwar gut den Grad unserer Abweichung von einer Person, Richtung, Partei kennen, jene Andern aber uns sehr oberflächlich kennen und desshalb auch nur oberflächlich hassen. Wir begegnen oft einem Wohlwollen, welches uns unerklärlich ist ; verstehen wir es aber, so beleidigt es uns, weil es zeigt, dass man uns nicht ernst, nicht wichtig genug nimmt. 338. S i c h k r e u z e n d e E it e l k e it e n . – Zwei sich begegnende Personen, deren Eitelkeit gleich gross ist, behalten hinterdrein von einander einen schlechten Eindruck, weil jede so mit dem Eindruck beschäftigt war, den sie bei der andern hervorbringen wollte, dass die andere auf sie keinen Eindruck machte ; beide merken endlich, dass ihr Bemühen verfehlt ist und schieben je der andern die Schuld zu. | 339. Un a r ten a l s g ute A n z eic hen. – Der überlegene Geist hat an den Tactlosigkeiten, Anmaassungen, ja Feindseligkeiten ehrgeiziger Jünglinge gegen ihn sein Vergnügen ; es sind die Unarten feuriger Pferde, welche noch keinen Reiter getragen haben und doch in Kurzem so stolz sein werden, ihn zu tragen. 340. Wa n n e s r at h s a m i s t , Un r e c ht z u b e h a lt e n . – Man thut gut, gemachte Anschuldigungen, selbst wenn sie uns Unrecht thun, ohne Widerlegung hinzunehmen, im Fall der

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Anschuldigende darin ein noch grösseres Unrecht unsererseits sehen würde, wenn wir ihm widersprächen und etwa gar ihn widerlegten. Freilich kann Einer auf diese Weise immer Unrecht haben und immer Recht behalten und zuletzt mit dem besten Gewissen von der Welt der unerträglichste Tyrann und Quälgeist werden ; und was vom Einzelnen gilt, kann auch bei ganzen Classen der Gesellschaft vorkommen. 341. Zu wen ig geeh r t. – Sehr eingebildete Personen, denen man Zeichen von geringerer Beachtung gegeben hat, als sie erwarteten, versuchen lange, sich selbst und Andere darüber irre zu führen und werden spitzfi ndige Psychologiker, um herauszubekommen, dass der Andere sie doch genügend geehrt hat : erreichen sie ihr Ziel nicht, reisst der Schleier der Täuschung, so geben sie sich nun um so grösserem Unmuthe hin. 342. Ur z u s t ä nd e i n d e r R e d e n ac h k l i n g e nd . – In der Art, wie jetzt die Männer im Verkehre Behauptungen | aufstellen, erkennt man oft einen Nachklang der Zeiten, wo dieselben sich besser auf Waffen, als auf irgend Etwas verstanden : sie handhaben ihre Behauptungen bald wie zielende Schützen ihr Gewehr, bald glaubt man das Sausen und Klirren der Klingen zu hören ; und bei einigen Männern poltert eine Behauptung herab wie ein derber Knüttel. – Frauen dagegen sprechen so, wie Wesen, welche Jahrtausende lang am Webstuhl sassen oder die Nadel führten oder mit Kindern kindisch waren. 343. Der Er z ä h ler. – Wer Etwas erzählt, lässt leicht merken, ob er erzählt, weil ihn das Factum interessirt oder weil er durch die Erzählung interessiren will. Im letzteren Falle wird er übertreiben, Superlative gebrauchen und Aehnliches thun.

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Er erzählt dann gewöhnlich schlechter, weil er nicht so sehr an die Sache, als an sich denkt. 344. D e r Vo r l e s e r. – Wer dramatische Dichtungen vorliest, macht Entdeckungen über seinen Charakter : er fi ndet für gewisse Stimmungen und Scenen seine Stimme natürlicher, als für andere, etwa für alles Pathetische oder für das Scurrile, während er vielleicht im gewöhnlichen Leben nur nicht Gelegenheit hatte, Pathos oder Scurrilität zu zeigen. 345. Ei ne Lust spiel-Scene, welc he i m Leben vorkom mt. – Jemand denkt sich eine geistreiche Meinung über ein Thema aus, um sie in einer Gesellschaft vorzutragen. Nun würde man im Lustspiel anhören und ansehen, wie er mit allen Segeln an den Punct zu kommen und die Gesellschaft dort einzuschiffen sucht, wo er seine Bemerkung machen kann : wie er fortwährend die Unter|haltung nach Einem Ziele schiebt, gelegentlich die Richtung verliert, sie wiedergewinnt, endlich den Augenblick erreicht : fast versagt ihm der Athem – und da nimmt ihm Einer aus der Gesellschaft die Bemerkung vom Munde weg. Was wird er thun ? Seiner eigenen Meinung opponiren ? 346. W id e r W i l le n u n höf l ic h . –Wenn Jemand wider Willen einen Andern unhöfl ich behandelt, zum Beispiel nicht grüsst, weil er ihn nicht erkennt, so wurmt ihn diess, obwohl er nicht seiner Gesinnung einen Vorwurf machen kann ; ihn kränkt die schlechte Meinung, welche er bei dem Andern erregt hat, oder er fürchtet die Folgen einer Verstimmung, oder ihn schmerzt es, den Andern verletzt zu haben, – also Eitelkeit, Furcht oder Mitleid können rege werden, vielleicht auch alles zusammen.

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347. Ve r r ät he r -Me i s t e r s t üc k . – Gegen den Mitverschworenen den kränkenden Argwohn zu äussern, ob man nicht von ihm verrathen werde, und diess gerade in dem Augenblicke, wo man selbst Verrath übt, ist ein Meisterstück der Bosheit, weil es den Andern persönlich occupirt und ihn zwingt, eine Zeit lang sich sehr unverdächtig und offen zu benehmen, so dass der wirkliche Verräther sich freie Hand gemacht hat. 348. B e le id i g e n u nd b e le id i g t wer d e n . – Es ist weit angenehmer, zu beleidigen und später um Verzeihung zu bitten, als beleidigt zu werden und Verzeihung zu gewähren. Der, welcher das Erste thut, giebt ein Zeichen von Macht und nachher von Güte des Charakters. Der Andere, | wenn er nicht als inhuman gelten will, mu s s schon verzeihen ; der Genuss an der Demüthigung des Anderen ist dieser Nöthigung wegen gering. 349. I m D i s put . – Wenn man zugleich einer anderen Meinung widerspricht und dabei seine eigene entwickelt, so verrückt gewöhnlich die fortwährende Rücksicht auf die andere Meinung die natürliche Haltung der eigenen : sie erscheint absichtlicher, schärfer, vielleicht etwas übertrieben. 350. K u n s t g r i f f . – Wer etwas Schwieriges von einem Andern erlangen will, muss die Sache überhaupt nicht als Problem fassen, sondern schlicht seinen Plan hinlegen, als sei er die einzige Möglichkeit ; er muss es verstehen, wenn im Auge des Gegners der Einwand, der Widerspruch dämmert, schnell abzubrechen und ihm keine Zeit zu geben.

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351. G ew i s s e n s bi s s e n ac h G e s e l l s c h a f t e n . – Warum haben wir nach gewöhnlichen Gesellschaften Gewissensbisse ? Weil wir wichtige Dinge leicht genommen haben, weil wir bei der Besprechung von Personen nicht mit voller Treue gesprochen oder weil wir geschwiegen haben, wo wir reden sollten, weil wir gelegentlich nicht aufgesprungen und fortgelaufen sind, kurz weil wir uns in der Gesellschaft benahmen, als ob wir zu ihr gehörten. 352. M a n w i r d f a l s c h b eu r t he i lt . – Wer immer darnach hinhorcht, wie er beurtheilt wird, hat immer Aerger. Denn wir werden schon von Denen, welche uns am | nächsten stehen („am besten kennen“), falsch beurtheilt. Selbst gute Freunde lassen ihre Verstimmung mitunter in einem missgünstigen Worte aus ; und würden sie unsere Freunde sein, wenn sie uns genau kennten ? – Die Urtheile der Gleichgültigen thun sehr weh, weil sie so unbefangen, fast sachlich klingen. Merken wir aber gar, dass Jemand, der uns feind ist, uns in einem geheim gehaltenen Puncte so gut kennt, wie wir uns, wie gross ist dann erst der Verdruss ! 353. Ty r a n ne i d e s Por t r a it s. – Künstler und Staatsmänner, die schnell aus einzelnen Zügen das ganze Bild eines Menschen oder Ereignisses combiniren, sind am meisten dadurch ungerecht, dass sie hinterdrein verlangen, das Ereigniss oder der Mensch müsse wirklich so sein, wie sie es malten ; sie verlangen geradezu, dass Einer so begabt, so verschlagen, so ungerecht sei, wie er in ihrer Vorstellung lebt. 354. D e r Ve r w a ndt e a l s d e r b e s t e Fr eu nd . – Die Griechen, die so gut wussten, was ein Freund sei, – sie allein von allen Völkern haben eine tiefe, vielfache philosophische Erörterung

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der Freundschaft ; sodass ihnen zuerst, und bis jetzt zuletzt, der Freund als ein lösenswerthes Problem erschienen ist – diese selben Griechen haben die Ve r w a n d t e n mit einem Ausdrucke bezeichnet, welcher der Superlativ des Wortes „Freund“ ist. Diess bleibt mir unerklärlich. 355. Ve r k a n n t e E h r l i c h k e it . – Wenn Jemand im Gespräche sich selber citirt („ich sagte damals“, „ich pflege zu sagen“), so macht diess den Eindruck der Anmaassung, | während es häufig gerade aus der entgegengesetzten Quelle hervorgeht, mindestens aus Ehrlichkeit, welche den Augenblick nicht mit den Einfällen schmücken und herausputzen will, welche einem früheren Augenblicke angehören. 356. D e r P a r a s it . – Es bezeichnet einen völligen Mangel an vornehmer Gesinnung, wenn Jemand lieber in Abhängigkeit, auf Anderer Kosten, leben will, um nur nicht arbeiten zu müssen, gewöhnlich mit einer heimlichen Erbitterung gegen Die, von denen er abhängt. – Eine solche Gesinnung ist viel häufiger bei Frauen als bei Männern, auch viel verzeihlicher (aus historischen Gründen). 357. Au f d e m A lt a r d e r Ve r s öh nu n g. – Es giebt Umstände, wo man eine Sache von einem Menschen nur so erlangt, dass man ihn beleidigt und sich verfeindet : dieses Gefühl, einen Feind zu haben, quält ihn so, dass er gern das erste Anzeichen einer milderen Stimmung zur Versöhnung benützt und jene Sache auf dem Altar dieser Versöhnung opfert, an der ihm früher so viel gelegen war, dass er sie um keinen Preis geben wollte.

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358. M it le id for d er n a l s Z e ic he n d e r A n m a a s s u n g. – Es giebt Menschen, welche, wenn sie in Zorn gerathen und die Anderen beleidigen, dabei erstens verlangen, dass man ihnen Nichts übel nehme und zweitens, dass man mit ihnen Mitleid habe, weil sie so heftigen Paroxysmen unterworfen sind. So weit geht die menschliche Anmaassung. | 359. K ö d e r. – „Jeder Mensch hat seinen Preis,“ – das ist nicht wahr. Aber es fi ndet sich wohl für Jeden ein Köder, an den er anbeissen muss. So braucht man, um manche Person für eine Sache zu gewinnen, dieser Sache nur den Glanz des Menschenfreundlichen, Edlen, Mildthätigen, Aufopfernden zu geben – und welcher Sache könnte man ihn nicht geben ? – Es ist das Zuckerwerk und die Näscherei i h r e r Seele ; andere haben anderes. 360. Verha lten bei m Lobe. – Wenn gute Freunde die begabte Natur loben, so wird sie sich öfters aus Höfl ichkeit und Wohlwollen darüber erfreut zeigen, aber in Wahrheit ist es ihr gleichgültig. Ihr eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und um keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten, in dem sie liegt, herauszuwälzen ; aber die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute. 361. D ie E r f a h r u n g d e s S ok r at e s . – Ist man in einer Sache Meister geworden, so ist man gewöhnlich eben dadurch in den meisten andern Sachen ein völliger Stümper geblieben ; aber man urtheilt gerade umgekehrt, wie dieses schon Sokrates erfuhr. Diess ist der Uebelstand, welcher den Umgang mit Meistern unangenehm macht.

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362. M it t e l d e r Ve r t h ie r u n g. – Im Kampf mit der Dummheit werden die billigsten und sanftesten Menschen zuletzt brutal. Sie sind damit vielleicht auf dem | rechten Wege der Vertheidigung ; denn an die dumme Stirn gehört, als Argument, von Rechtswegen die geballte Faust. Aber weil, wie gesagt, ihr Charakter sanft und billig ist, so leiden sie durch diese Mittel der Nothwehr mehr als sie Leid zufügen. 363. Neu g ie r d e. – Wenn die Neugierde nicht wäre, würde wenig für das Wohl des Nächsten gethan werden. Aber die Neugierde schleicht sich unter dem Namen der Pfl icht oder des Mitleides in das Haus des Unglücklichen und Bedürftigen. – Vielleicht ist selbst an der vielberühmten Mutterliebe ein gut Stück Neugierde. 364. Ve r r ec h nu n g i n d e r G e s e l l s c h a f t . – Dieser wünscht interessant zu sein durch seine Urtheile, Jener durch seine Neigungen und Abneigungen, der Dritte durch seine Bekanntschaften, ein Vierter durch seine Vereinsamung – und sie verrechnen sich Alle. Denn Der, vor dem das Schauspiel aufgeführt wird, meint selber dabei das einzig in Betracht kommende Schauspiel zu sein. 365. D ue l l . – Zu Gunsten aller Ehrenhändel und Duelle ist zu sagen, dass, wenn Einer ein so reizbares Gefühl hat, nicht leben zu wollen, wenn Der und Der das und das über ihn sagt oder denkt, er ein Recht hat, die Sache auf den Tod des Einen oder des Andern ankommen zu lassen. Darüber, dass er so reizbar ist, ist gar nicht zu rechten, damit sind wir die Erben der Vergangenheit, ihrer Grösse sowohl wie ihrer Uebertreibungen, ohne welche es nie eine Grösse gab. Existirt nun ein Ehren-| Kanon, welcher Blut an Stelle des Todes gelten lässt, so dass

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nach einem regelmässigen Duell das Gemüth erleichtert ist, so ist diess eine grosse Wohlthat, weil sonst viele Menschenleben in Gefahr wären. – So eine Institution erzieht übrigens die Menschen in Vorsicht auf ihre Aeusserungen und macht den Umgang mit ihnen möglich. 366. Vor ne h m he it u nd D a n k ba rk e it . – Eine vornehme Seele wird sich gern zur Dankbarkeit verpfl ichtet fühlen und den Gelegenheiten, bei denen sie sich verpfl ichtet, nicht ängstlich aus dem Wege gehen ; ebenso wird sie nachher gelassen in den Aeusserungen der Dankbarkeit sein ; während niedere Seelen sich gegen alles Verpfl ichtetwerden sträuben oder nachher in den Aeusserungen ihrer Dankbarkeit übertrieben und allzu sehr befl issen sind. Letzteres kommt übrigens auch bei Personen von niederer Herkunft oder gedrückter Stellung vor : eine Gunst, i h ne n erwiesen, deucht ihnen ein Wunder von Gnade. 367. D ie St u nden der B er edt sa m k eit. – Der Eine hat, um gut zu sprechen, Jemanden nöthig, der ihm entschieden und anerkannt überlegen ist, der Andere kann nur vor Einem, den er überragt, völlige Freiheit der Rede und glückliche Wendungen der Beredtsamkeit fi nden : in beiden Fällen ist es der selbe Grund ; Jeder von ihnen redet nur gut, wenn er sans gêne redet, der Eine, weil er vor dem Höheren den Antrieb der Concurrenz, des Wettbewerbs nicht fühlt, der Andere ebenfalls desshalb angesichts des Niederen. – Nun giebt es eine ganz andere Gattung von Menschen, die nur gut reden, wenn sie im Wetteifer, mit der Absicht zu siegen, reden. | Welche von beiden Gattungen ist die ehrgeizigere : die, welche aus erregter Ehrsucht gut, oder die, welche aus eben diesen Motiven schlecht oder gar nicht spricht ?

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368. D a s Ta le nt z u r Fr eu nd s c h a f t . – Unter den Menschen, welche eine besondere Gabe zur Freundschaft haben, treten zwei Typen hervor. Der Eine ist in einem fortwährenden Aufsteigen und fi ndet für jede Phase seiner Entwickelung einen genau zugehörigen Freund. Die Reihe von Freunden, welche er auf diese Weise erwirbt, ist unter sich selten im Zusammenhang, mitunter in Misshelligkeit und Widerspruch : ganz dem entsprechend, dass die späteren Phasen in seiner Entwickelung die früheren Phasen aufheben oder beeinträchtigen. Ein solcher Mensch mag im Scherz eine L e it e r heissen. – Den andern Typus vertritt Der, welcher eine Anziehungskraft auf sehr verschiedene Charaktere und Begabungen ausübt, so dass er einen ganzen Kreis von Freunden gewinnt ; diese aber kommen dadurch selber unter einander in freundschaftliche Beziehung, trotz aller Verschiedenheit. Einen solchen Menschen nenne man einen K r e i s : denn in ihm muss jene Zusammengehörigkeit so verschiedener Anlagen und Naturen irgendwie vorgebildet sein. – Uebrigens ist die Gabe, gute Freunde zu haben, in manchem Menschen viel grösser, als die Gabe, ein guter Freund zu sein. 369. Ta k t i k i m G e s p r äc h . – Nach einem Gespräch mit Jemandem ist man am besten auf den Mitunterredner zu sprechen, wenn man Gelegenheit hatte, seinen Geist, seine Liebenswürdigkeit vor ihm im ganzen Glanze zu zeigen. Diess benutzen kluge Menschen, welche Jemanden sich günstig stimmen wollen, indem sie bei der Unter|redung ihm die besten Gelegenheiten zu einem guten Witz und dergleichen zuschieben. Es wäre ein lustiges Gespräch zwischen zwei sehr Klugen zu denken, welche sich gegenseitig günstig stimmen wollen und sich desshalb die schönen Gelegenheiten im Gespräch hin und her zuwerfen, während keiner sie annimmt : so dass das Gespräch im Ganzen geistlos und unliebenswürdig verliefe, weil

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Jeder dem Andern die Gelegenheit zu Geist und Liebenswürdigkeit zuwiese. 370. E nt l a d u n g d e s Un mut h e s . – Der Mensch, dem Etwas misslingt, führt diess Misslingen lieber auf den bösen Willen eines Anderen, als auf den Zufall zurück. Seine gereizte Empfi ndung wird dadurch erleichtert, eine Person und nicht eine Sache sich als Grund seines Misslingens zu denken ; denn an Personen kann man sich rächen, die Unbilden des Zufalls aber muss man hinunterwürgen. Die Umgebung eines Fürsten pflegt desshalb, wenn diesem Etwas misslungen ist, einen einzelnen Menschen als angebliche Ursache ihm zu bezeichnen und im Interesse aller Höfl inge aufzuopfern; denn der Missmuth des Fürsten würde sich sonst an ihnen Allen auslassen, da er ja an der Schicksalsgöttin selber keine Rache nehmen kann. 371. D ie Fa rbe der Umgebu ng a n neh men. – Warum ist Neigung und Abneigung so ansteckend, dass man kaum in der Nähe einer stark empfi ndenden Person leben kann, ohne wie ein Gefäss mit ihrem Für und Wider angefüllt zu werden ? Erstens ist die völlige Enthaltung des Urtheils sehr schwer, mitunter für unsere Eitelkeit geradezu unerträglich ; sie trägt da gleiche Farbe mit der | Gedanken- und Empfi ndungsarmuth oder mit der Aengstlichkeit, der Unmännlichkeit : und so werden wir wenigstens dazu fortgerissen, Partei zu nehmen, vielleicht gegen die Richtung unserer Umgebung, wenn diese Stellung unserm Stolze mehr Vergnügen macht. Gewöhnlich aber – das ist das Zweite – bringen wir uns den Uebergang von Gleichgültigkeit zu Neigung oder Abneigung gar nicht zum Bewusstsein, sondern allmählich gewöhnen wir uns an die Empfi ndungsweise unserer Umgebung, und weil sympathisches Zustimmen und Sichverstehen so angenehm ist, tragen wir bald alle Zeichen und Parteifarben dieser Umgebung.

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372. I r on ie. – Die Ironie ist nur als pädagogisches Mittel am Platze, von Seiten eines Lehrers im Verkehr mit Schülern irgend welcher Art : ihr Zweck ist Demüthigung, Beschämung, aber von jener heilsamen Art, welche gute Vorsätze erwachen lässt und Dem, welcher uns so behandelte, Verehrung, Dankbarkeit als einem Arzte entgegenbringen heisst. Der Ironische stellt sich unwissend und zwar so gut, dass die sich mit ihm unterredenden Schüler getäuscht sind und in ihrem guten Glauben an ihr eigenes Besserwissen dreist werden und sich Blössen aller Art geben ; sie verlieren die Behutsamkeit und zeigen sich, wie sie sind, – bis in einem Augenblick die Leuchte, die sie dem Lehrer in’s Gesicht hielten, ihre Strahlen sehr demüthigend auf sie selbst zurückfallen lässt. – Wo ein solches Verhältniss, wie zwischen Lehrer und Schüler, nicht stattfi ndet, ist sie eine Unart, ein gemeiner Affect. Alle ironischen Schriftsteller rechnen auf die alberne Gattung von Menschen, welche sich gerne allen Anderen mit dem Autor zusammen überlegen fühlen wollen, als welchen sie für das Mundstück ihrer Anmaass|ung ansehen. – Die Gewöhnung an Ironie, ebenso wie die an Sarkasmus, verdirbt übrigens den Charakter, sie verleiht allmählich die Eigenschaft einer schadenfrohen Ueberlegenheit : man ist zuletzt einem bissigen Hunde gleich, der noch das Lachen gelernt hat, ausser dem Beissen. 373. A n m a a s s u n g. – Vor Nichts soll man sich so hüten, als vor dem Aufwachsen jenes Unkrautes, welches Anmaassung heisst und uns jede gute Ernte verdirbt ; denn es giebt Anmaassung in der Herzlichkeit, in der Ehrenbezeigung, in der wohlwollenden Vertraulichkeit, in der Liebkosung, im freundschaftlichen Rathe, im Eingestehen von Fehlern, in dem Mitleid für Andere, und alle diese schönen Dinge erwekken Widerwillen, wenn jenes Kraut dazwischen wächst. Der

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Anmaassende, das heisst Der, welcher mehr bedeuten will als er ist o d e r g i lt , macht immer eine falsche Berechnung. Zwar hat er den augenblicklichen Erfolg für sich, insofern die Menschen, vor denen er anmaassend ist, ihm gewöhnlich das Maass von Ehre zollen, welches er fordert, aus Angst oder Bequemlichkeit ; aber sie nehmen eine schlimme Rache dafür, insofern sie ebensoviel, als er über das Maass forderte, von dem Werthe subtrahiren, den sie ihm bis jetzt beilegten. Es ist Nichts, was die Menschen sich theurer bezahlen lassen, als Demüthigung. Der Anmaassende kann sein wirkliches grosses Verdienst so in den Augen der Andern verdächtigen und klein machen, dass man mit staubigen Füssen darauf tritt. – Selbst ein stolzes Benehmen sollte man sich nur dort erlauben, wo man ganz sicher sein kann, nicht missverstanden und als anmaassend betrachtet zu werden, zum Beispiel vor Freunden und Gattinnen. Denn es giebt im Verkehre | mit Menschen keine grössere Thorheit, als sich den Ruf der Anmaassung zuzuziehen ; es ist noch schlimmer, als wenn man nicht gelernt hat, höfl ich zu lügen. 374. Zw ie g e s p r äc h . – Das Zwiegespräch ist das vollkommene Gespräch, weil Alles, was der Eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine begleitende Gebärde i n s t r e n g e r Rüc k s ic ht au f d e n A nd e r e n , mit dem gesprochen wird, erhält, also dem entsprechend, was beim Briefverkehr geschieht, dass ein und der selbe zehn Arten des seelischen Ausdrucks zeigt, je nachdem er bald an Diesen, bald an Jenen schreibt. Beim Zwiegespräch giebt es nur eine einzige Strahlenbrechung des Gedankens : diese bringt der Mitunterredner hervor, als der Spiegel, in welchem wir unsere Gedanken möglichst schön wiedererblicken wollen. Wie aber ist es bei zweien, bei dreien und mehr Mitunterrednern ? Da verliert nothwendig das Gespräch an individualisirender Feinheit, die verschiedenen Rücksichten kreuzen sich, heben sich auf ; die

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Wendung, welche dem Einen wohlthut, ist nicht der Sinnesart des Andern gemäss. Desshalb wird der Mensch im Verkehr mit Mehreren gezwungen, sich auf sich zurückzuziehen, die Thatsachen hinzustellen, wie sie sind, aber jenen spielenden Aether der Humanität den Gegenständen zu nehmen, welcher ein Gespräch zu den angenehmsten Dingen der Welt macht. Man höre nur den Ton, in welchem Männer im Verkehr mit ganzen Gruppen von Männern zu reden pflegen, es ist als ob der Grundbass aller Rede der sei : „das bin ic h , das sage ic h , nun haltet davon, was ihr wollt !“ Diess ist der Grund, wesshalb geistreiche Frauen bei Dem, welcher sie in der Gesellschaft kennen lernte, meistens einen befremdenden, peinlichen, ab|schreckenden Eindruck hinterlassen : es ist das Reden zu Vielen, vor Vielen, welches sie aller geistigen Liebenswürdigkeit beraubt und nur das bewusste Beruhen auf sich selbst, ihre Taktik und die Absicht auf öffentlichen Sieg in grellem Lichte zeigt : während die selben Frauen im Zwiegespräche wieder zu Weibern werden und ihre geistige Anmuth wiederfi nden. 375. Nac h r u h m . – Auf die Anerkennung einer fernen Zukunft hoffen, hat nur Sinn, wenn man die Annahme macht, dass die Menschheit wesentlich unverändert bleibe und dass alles Grosse nicht für Eine, sondern für alle Zeiten als gross empfunden werden müsse. Diess ist aber ein Irrthum ; die Menschheit, in allem Empfi nden und Urtheilen über Das, was schön und gut ist, verwandelt sich sehr stark ; es ist Phantasterei, von sich zu glauben, dass man eine Meile Wegs voraus sei und dass die gesammte Menschheit u n s e r e Strasse ziehe. Zudem : ein Gelehrter, der verkannt wird, darf jetzt bestimmt darauf rechnen, dass seine Entdeckung von Anderen auch gemacht wird, und dass ihm besten Falls einmal später von einem Historiker zuerkannt wird, er habe das und jenes auch schon gewusst, sei aber nicht im Stande gewesen, seiner Sache Glauben zu

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verschaffen. Nicht-anerkannt-werden wird von der Nachwelt immer als Mangel an Kraft ausgelegt. – Kurz, man soll der hochmüthigen Vereinsamung nicht so leicht das Wort reden. Es giebt übrigens Ausnahmefälle ; aber zumeist sind es unsere Fehler, Schwächen und Narrheiten, welche die Anerkennung unserer grossen Eigenschaften verhindern. | 376. Von den Freu nden. – Ueberlege nur mit dir selber einmal, wie verschieden die Empfi ndungen, wie getheilt die Meinungen selbst unter den nächsten Bekannten sind ; wie selbst gleiche Meinungen in den Köpfen deiner Freunde eine ganz andere Stellung oder Stärke haben, als in deinem ; wie hundertfältig der Anlass kommt zum Missverstehen, zum feindseligen Auseinanderfl iehen. Nach alledem wirst du dir sagen : wie unsicher ist der Boden, auf dem alle unsere Bündnisse und Freundschaften ruhen, wie nahe sind kalte Regengüsse oder böse Wetter, wie vereinsamt ist jeder Mensch ! Sieht Einer diess ein und noch dazu, dass alle Meinungen und deren Art und Stärke bei seinen Mitmenschen ebenso nothwendig und unverantwortlich sind wie ihre Handlungen, gewinnt er das Auge für diese innere Nothwendigkeit der Meinungen aus der unlösbaren Verflechtung von Charakter, Beschäftigung, Talent, Umgebung, – so wird er vielleicht die Bitterkeit jener Schärfe der Empfi ndung los, mit der jener Weise rief : „Freunde, es giebt keine Freunde !“ Er wird sich vielmehr eingestehen : ja es giebt Freunde, aber der Irrthum, die Täuschung über dich führte sie dir zu ; und Schweigen müssen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben ; denn fast immer beruhen solche menschliche Beziehungen darauf, dass irgend ein paar Dinge nie gesagt werden, ja dass an sie nie gerührt wird ; kommen diese Steinchen aber in’s Rollen, so folgt die Freundschaft hinterdrein und zerbricht. Giebt es Menschen, welche nicht tödtlich zu verletzen sind, wenn sie erführen,

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was ihre vertrautesten Freunde im Grunde von ihnen wissen ? – Indem wir uns selbst erkennen und unser Wesen selber als eine wandelnde | Sphäre der Meinungen und Stimmungen ansehen und somit ein Wenig geringschätzen lernen, bringen wir uns wieder in’s Gleichgewicht mit den Uebrigen. Es ist wahr, wir haben gute Gründe, jeden unserer Bekannten, und seien es die grössten, gering zu achten ; aber eben so gute, diese Empfi ndung gegen uns selber zu kehren. – Und so wollen wir es mit einander aushalten, da wir es ja mit uns aushalten ; und vielleicht kommt Jedem auch einmal die freudigere Stunde, wo er sagt : „Freunde, es giebt keine Freunde !“ so rief der sterbende Weise ; „Feinde, es giebt keinen Feind !“ – ruf ’ ich, der lebende Thor. |

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377. Das vol l kom mene Weib. – Das vollkommene Weib ist ein höherer Typus des Menschen, als der vollkommene Mann : auch etwas viel Selteneres. – Die Naturwissenschaft der Thiere bietet ein Mittel, diesen Satz wahrscheinlich zu machen. 378. Fr eu nd s c h a f t u nd E he. – Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht. 379. For t leb e n d e r E lt e r n . – Die unaufgelösten Dissonanzen im Verhältniss von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus. 380. Vo n d e r Mut t e r he r. – Jedermann trägt ein Bild des Weibes von der Mutter her in sich : davon wird er bestimmt, die Weiber überhaupt zu verehren oder sie geringzuschätzen oder gegen sie im Allgemeinen gleichgültig zu sein. | 381. D ie Nat u r cor r i g i r e n . – Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen. 382. V ät e r u nd S öh ne. – Väter haben viel zu thun, um es wieder gut zu machen, dass sie Söhne haben.

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383. I r r t hu m vor ne h me r Fr aue n . – Die vornehmen Frauen denken, dass eine Sache gar nicht da ist, wenn es nicht möglich ist, von ihr in der Gesellschaft zu sprechen. 384. E i n e M ä n n e r k r a n k he it . – Gegen die Männerkrankheit der Selbstverachtung hilft es am sichersten, von einem klugen Weibe geliebt zu werden. 385. Ei ne A r t der Ei fer s uc ht. – Mütter sind leicht eifersüchtig auf die Freunde ihrer Söhne, wenn diese besondere Erfolge haben. Gewöhnlich liebt eine Mutter s ic h mehr in ihrem Sohn, als den Sohn selber. 386. Ve r nü n f t i g e Unve r nu n f t . – In der Reife des Lebens und des Verstandes überkommt den Menschen das Gefühl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn zu zeugen. 387. Müt t e rl ic he G üt e. – Manche Mutter braucht glücklich geehrte Kinder, manche unglückliche : sonst kann sich ihre Güte als Mutter nicht zeigen. | 388. Ve r s c h ie d e ne S eu f z e r. – Einige Männer haben über die Entführung ihrer Frauen geseufzt, die meisten darüber, dass Niemand sie ihnen entführen wollte. 389. L ieb e s he i r at he n . – Die Ehen, welche aus Liebe geschlossen werden (die sogenannten Liebesheirathen), haben den Irrthum zum Vater und die Noth (das Bedürfniss) zur Mutter.

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390. Fr aue n f r eu nd s c h a f t . – Frauen können recht gut mit einem Manne Freundschaft schliessen ; aber um diese aufrecht zu erhalten – dazu muss wohl eine kleine physische Antipathie mithelfen. 391. L a n g ewe i le. – Viele Menschen, namentlich Frauen, empfi nden die Langeweile nicht, weil sie niemals ordentlich arbeiten gelernt haben. 392. Ei n Element der Liebe. – In jeder Art der weiblichen Liebe kommt auch Etwas von der mütterlichen Liebe zum Vorschein. 393. Die Ei n heit des Or tes u nd das Dra ma. – Wenn die Ehegatten nicht beisammen lebten, würden die guten Ehen häufiger sein. 394. Gewöh n l ic he Folgen der Ehe. – Jeder Umgang, der nicht hebt, zieht nieder, und umgekehrt ; desshalb sinken gewöhnlich die Männer etwas, wenn sie Frauen | nehmen, während die Frauen etwas gehoben werden. Allzu geistige Männer bedürfen eben so sehr der Ehe, als sie ihr wie einer widrigen Medicin widerstreben. 395. B e fe h le n le h r e n . – Kinder aus bescheidenen Familien muss man eben so sehr das Befehlen durch Erziehung lehren, wie andere Kinder das Gehorchen. 396. Ve r l i e b t we r d e n wol l e n . – Verlobte, welche die Convenienz zusammengefügt hat, bemühen sich häufig, verliebt zu we r d e n , um über den Vorwurf der kalten, berechnenden Nützlichkeit hinwegzukommen. Ebenso bemühen sich Sol-

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che, die ihres Vortheils wegen zum Christenthum umlenken, wirklich fromm zu werden ; denn so wird das religiöse Mienenspiel ihnen leichter. 397. K ei n St i l l st a nd i n der L iebe. – Ein Musiker, der das langsame Tempo l iebt , wird die selben Tonstücke immer langsamer nehmen. So giebt es in keiner Liebe ein Stillstehen. 398. S c h a m h a f t i g k e it . – Mit der Schönheit der Frauen nimmt im Allgemeinen ihre Schamhaftigkeit zu. 399. E he vo n g ut e m B e s t a nd . – Eine Ehe, in der Jedes durch das Andere ein individuelles Ziel erreichen will, hält gut zusammen, zum Beispiel wenn die Frau durch den Mann berühmt, der Mann durch die Frau beliebt werden will. | 400. P r ot eu s - Nat u r. – Weiber werden aus Liebe ganz zu dem, als was sie in der Vorstellung der Männer, von denen sie geliebt werden, leben. 401. L ieb e n u nd b e s it z e n . – Frauen lieben meistens einen bedeutenden Mann so, dass sie ihn allein haben wollen. Sie würden ihn gern in Verschluss legen, wenn nicht ihre Eitelkeit widerriethe : diese will, dass er auch vor Anderen bedeutend erscheine. 402. P robe ei ner g uten Ehe. – Die Güte einer Ehe bewährt sich dadurch, dass sie einmal eine „Ausnahme“ verträgt.

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403. M it t e l , A l le z u A l le m z u b r i n g e n . – Man kann Jedermann so durch Unruhen, Aengste, Ueberhäufung von Arbeit und Gedanken abmatten und schwach machen, dass er einer Sache, die den Schein des Complicirten hat, nicht mehr widersteht, sondern ihr nachgiebt, – das wissen die Diplomaten und die Weiber. 404. E h r b a r k e it u n d E h r l ic h k e it . – Jene Mädchen, welche allein ihrem Jugendreize die Versorgung für’s ganze Leben verdanken wollen und deren Schlauheit die gewitzigten Mütter noch souffl iren, wollen ganz das Selbe wie die Hetären, nur dass sie klüger und unehrlicher als diese sind. 405. Ma s k e n . – Es giebt Frauen, die, wo man bei ihnen auch nachsucht, kein Inneres haben, sondern reine | Masken sind. Der Mann ist zu beklagen, der sich mit solchen fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden Wesen einlässt, aber gerade sie vermögen das Verlangen des Mannes auf das stärkste zu erregen : er sucht nach ihrer Seele – und sucht immer fort. 406. D ie E he a l s l a n g e s G e s p r äc h . – Man soll sich beim Eingehen einer Ehe die Frage vorlegen : glaubst du, dich mit dieser Frau bis in’s Alter hinein gut zu unterhalten ? Alles Andere in der Ehe ist transitorisch, aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dem Gespräche an. 407. M ä d c h e n t r äu m e . – Unerfahrene Mädchen schmeicheln sich mit der Vorstellung, dass es in ihrer Macht stehe, einen Mann glücklich zu machen ; später lernen sie, dass es so viel heisst als : einen Mann geringschätzen, wenn man annimmt, dass es nur eines Mädchens bedürfe, um ihn glücklich zu

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machen. – Die Eitelkeit der Frauen verlangt, dass ein Mann mehr sei, als ein glücklicher Gatte. 408. Aussterben von Faust und Gretchen. – Nach der sehr einsichtigen Bemerkung eines Gelehrten ähneln die gebildeten Männer des gegenwärtigen Deutschland einer Mischung von Mephistopheles und Wagner, aber durchaus nicht Fausten : welchen die Grossväter (in ihrer Jugend wenigstens) in sich rumoren fühlten. Zu ihnen passen also – um jenen Satz fortzusetzen – aus zwei Gründen die Gr et c he n nicht. Und weil sie nicht mehr begehrt werden, so sterben sie, scheint es, aus. | 409. Mädc hen a l s Gy m na sia sten. – Um Alles in der Welt nicht noch unsere Gymnasialbildung auf die Mädchen übertragen ! Sie, die häufig aus geistreichen, wissbegierigen, feurigen Jungen – Abbilder ihrer Lehrer macht ! 410. O h n e N e b e n bu h l e r i n n e n . – Frauen merken es einem Manne leicht an, ob seine Seele schon in Besitz genommen ist ; sie wollen ohne Nebenbuhlerinnen geliebt sein und verargen ihm die Ziele seines Ehrgeizes, seine politischen Aufgaben, seine Wissenschaften und Künste, wenn er eine Leidenschaft zu solchen Sachen hat. Es sei denn, dass er durch diese glänze, – dann erhoffen sie, im Falle einer Liebesverbindung mit ihm, zugleich einen Zuwachs i h r e s Glanzes ; wenn es so steht, begünstigen sie den Liebhaber. 411. D e r we i bl ic he I nt e l le c t . – Der Intellect der Weiber zeigt sich als vollkommene Beherrschung, Gegenwärtigkeit des Geistes, Benutzung aller Vortheile. Sie vererben ihn als ihre Grund-

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eigenschaft auf ihre Kinder, und der Vater giebt den dunkleren Hintergrund des Willens dazu. Sein Einfluss bestimmt gleichsam Rhythmus und Harmonie, mit denen das neue Leben abgespielt werden soll ; aber die Melodie desselben stammt vom Weibe. – Für Solche gesagt, welche Etwas sich zurecht zu legen wissen : die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüth und die Leidenschaft. Dem widerspricht nicht, dass die Männer thatsächlich es mit ihrem Verstande so viel weiterbringen : sie haben die tieferen, gewaltigeren Antriebe ; diese tragen ihren Verstand, der an sich etwas Passives ist, so weit. Die Weiber wundern | sich im Stillen oft über die grosse Verehrung, welche die Männer ihrem Gemüthe zollen. Wenn die Männer vor Allem nach einem tiefen, gemüthvollen Wesen, die Weiber aber nach einem klugen, geistesgegenwärtigen und glänzenden Wesen bei der Wahl ihres Ehegenossen suchen, so sieht man im Grunde deutlich, wie der Mann nach dem idealisirten Manne, das Weib nach dem idealisirten Weibe sucht, also nicht nach Ergänzung, sondern nach Vollendung der eigenen Vorzüge. 412. E i n Ur t he i l He s io d ’s b e k r ä f t i g t . – Ein Zeichen für die Klugheit der Weiber ist es, dass sie es fast überall verstanden haben, sich ernähren zu lassen, wie Drohnen im Bienenkorbe. Man erwäge doch, was das aber ursprünglich bedeuten will und warum die Männer sich nicht von den Frauen ernähren lassen. Gewiss weil die männliche Eitelkeit und Ehrsucht grösser als die weibliche Klugheit ist ; denn die Frauen haben es verstanden, sich durch Unterordnung doch den überwiegenden Vortheil, ja die Herrschaft zu sichern. Selbst das Pflegen der Kinder könnte ursprünglich von der Klugheit der Weiber als Vorwand benutzt sein, um sich der Arbeit möglichst zu entziehen. Auch jetzt noch verstehen sie, wenn sie wirklich thätig sind, zum Beispiel als Haushälterinnen, davon ein sinnverwirrendes Aufheben zu machen, so dass von den

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Männern das Verdienst ihrer Thätigkeit zehnfach überschätzt zu werden pflegt. 413. Die Kurzsichtigen sind verliebt. – Mitunter genügt schon eine stärkere Brille, um den Verliebten zu heilen ; und wer die Kraft der Einbildung hätte, um ein | Gesicht, eine Gestalt sich zwanzig Jahre älter vorzustellen, gienge vielleicht sehr ungestört durch das Leben. 414. Fr aue n i m H a s s . – Im Zustande des Hasses sind Frauen gefährlicher, als Männer ; zuvörderst weil sie durch keine Rücksicht auf Billigkeit in ihrer einmal erregten feindseligen Empfi ndung gehemmt werden, sondern ungestört ihren Hass bis zu den letzten Consequenzen anwachsen lassen, sodann weil sie darauf eingeübt sind, wunde Stellen (die jeder Mensch, jede Partei hat) zu fi nden und dort hinein zu stechen : wozu ihnen ihr dolchspitzer Verstand treffl iche Dienste leistet (während die Männer beim Anblick von Wunden zurückhaltend, oft grossmüthig und versöhnlich gestimmt werden). 415. L ieb e. – Die Abgötterei, welche die Frauen mit der Liebe treiben, ist im Grunde und ursprünglich eine Erfi ndung der Klugheit, insofern sie ihre Macht durch alle jene Idealisirungen der Liebe erhöhen und sich in den Augen der Männer als immer begehrenswerther darstellen. Aber durch die Jahrhundertelange Gewöhnung an diese übertriebene Schätzung der Liebe ist es geschehen, dass sie in ihr eigenes Netz gelaufen sind und jenen Ursprung vergessen haben. Sie selber sind jetzt noch mehr die Getäuschten, als die Männer, und leiden desshalb auch mehr an der Enttäuschung, welche fast nothwendig im Leben jeder Frau eintreten wird – sofern sie überhaupt Phantasie und Verstand genug hat, um getäuscht und enttäuscht werden zu können. |

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416. Zur Emancipation der Frauen. – Können die Frauen überhaupt gerecht sein, wenn sie so gewohnt sind, zu lieben, gleich für oder wider zu empfi nden. Daher sind sie auch seltener für Sachen, mehr für Personen eingenommen : sind sie es aber für Sachen, so werden sie sofort deren Parteigänger und verderben damit die reine unschuldige Wirkung derselben. So entsteht eine nicht geringe Gefahr, wenn ihnen die Politik und einzelne Theile der Wissenschaft anvertraut werden (zum Beispiel Geschichte). Denn was wäre seltener, als eine Frau, welche wirklich wüsste, was Wissenschaft ist ? Die besten nähren sogar im Busen gegen sie eine heimliche Geringschätzung, als ob sie irgend wodurch ihr überlegen wären. Vielleicht kann diess Alles anders werden, einstweilen ist es so. 417. D ie I n s p i r at ion i m Ur t he i le d e r Fr aue n . – Jene plötzlichen Entscheidungen über das Für oder Wider, welche Frauen zu geben pflegen, die blitzschnellen Erhellungen persönlicher Beziehungen durch ihre hervorbrechenden Neigungen und Abneigungen, kurz die Beweise der weiblichen Ungerechtigkeit sind von liebenden Männern mit einem Glanz umgeben worden, als ob alle Frauen Inspirationen von Weisheit hätten, auch ohne den delphischen Kessel und die Lorbeerbinde : und ihre Aussprüche werden noch lange nachher wie sibyllinische Orakel interpretirt und zurechtgelegt. Wenn man aber erwägt, dass für jede Person, für jede Sache sich Etwas geltend machen lässt, aber ebenso gut auch Etwas gegen sie, dass alle Dinge nicht nur zwei-, sondern drei- und vierseitig sind, so ist es beinahe schwer, mit solchen plötzlichen Entscheidungen gänzlich fehl zu greifen ; ja | man könnte sagen : die Natur der Dinge ist so eingerichtet, dass die Frauen immer Recht behalten.

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418. Sic h l ieb e n l a s s e n . – Weil die eine von zwei liebenden Personen gewöhnlich die liebende, die andere die geliebte Person ist, so ist der Glaube entstanden, es gäbe in jedem Liebeshandel ein gleichbleibendes Maass von Liebe : je mehr eine davon an sich reisse, um so weniger bleibe für die andere Person übrig. Ausnahmsweise kommt es vor, dass die Eitelkeit jede der beiden Personen überredet, sie sei die, welche geliebt werden müsse ; so dass sich beide lieben lassen wollen : woraus sich namentlich in der Ehe mancherlei halb drollige, halb absurde Scenen ergeben. 419. W id e r s p r üc he i n we i bl ic he n K ö pf e n . – Weil die Weiber so viel mehr persönlich als sachlich sind, vertragen sich in ihrem Gedankenkreise Richtungen, die logisch mit einander in Widerspruch sind : sie pflegen sich eben für die Vertreter dieser Richtungen der Reihe nach zu begeistern und nehmen deren Systeme in Bausch und Bogen an ; doch so, dass überall dort eine todte Stelle entsteht, wo eine neue Persönlichkeit später das Uebergewicht bekommt. Es kommt vielleicht vor, dass die ganze Philosophie im Kopf einer alten Frau aus lauter solchen todten Stellen besteht. 420. We r le id et me h r ? – Nach einem persönlichen Zwiespalt und Zanke zwischen einer Frau und einem Manne leidet der eine Theil am meisten bei der Vorstellung, dem anderen Wehe gethan zu haben ; während jener am | meisten bei der Vorstellung leidet, dem andern nicht genug Wehe gethan zu haben, wesshalb er sich bemüht, durch Thränen, Schluchzen und verstörte Mienen, ihm noch hinterdrein das Herz schwer zu machen.

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421. G e le g e n he it z u we i bl ic he r Gr o s s mut h . – Wenn man sich über die Ansprüche der Sitte einmal in Gedanken hinwegsetzt, so könnte man wohl erwägen, ob nicht Natur und Vernunft den Mann auf mehrfache Verheirathung nach einander anweist, etwa in der Gestalt, dass er zuerst im Alter von zwei und zwanzig Jahren ein älteres Mädchen heirathet, das ihm geistig und sittlich überlegen ist und seine Führerin durch die Gefahren der zwanziger Jahre (Ehrgeiz, Hass, Selbstverachtung, Leidenschaften aller Art) werden kann. Die Liebe dieser würde später ganz in das Mütterliche übertreten, und sie ertrüge es nicht nur, sondern förderte es auf die heilsamste Weise, wenn der Mann in den dreissiger Jahren mit einem ganz jungen Mädchen eine Verbindung eingienge, dessen Erziehung er selber in die Hand nähme. – Die Ehe ist für die zwanziger Jahre ein nöthiges, für die dreissiger ein nützliches, aber nicht nöthiges Institut : für das spätere Leben wird sie oft schädlich und befördert die geistige Rückbildung des Mannes. 422. Tr a g ö d ie d e r K i nd he it . – Es kommt vielleicht nicht selten vor, dass edel und hochstrebende Menschen ihren härtesten Kampf in der Kindheit zu bestehen haben : etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen einen niedrig denkenden, dem Schein und der Lügnerei ergebenen Vater durchsetzen müssen, oder fortwährend, wie Lord Byron, im Kampfe mit einer kindischen und zornwüthigen | Mutter leben. Hat man so Etwas erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu wissen, wer Einem eigentlich der grösste, der gefährlichste Feind gewesen ist. 423. E lt e r n -T ho r h e it . – Die grössten Irrthümer in der Beurtheilung eines Menschen werden von dessen Eltern gemacht : diess ist eine Thatsache, aber wie soll man sie erklären ? Haben

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die Eltern zu viele Erfahrung von dem Kinde und können sie diese nicht mehr zu einer Einheit zusammenbringen ? Man bemerkt, dass Reisende unter fremden Völkern nur in der ersten Zeit ihres Aufenthaltes die allgemeinen unterscheidenden Züge eines Volkes richtig erfassen ; je mehr sie das Volk kennen lernen, desto mehr verlernen sie, das Typische und Unterscheidende an ihm zu sehen. Sobald sie nah-sichtig werden, hören ihre Augen auf, fern-sichtig zu sein. Sollten die Eltern desshalb falsch über das Kind urtheilen, weil sie ihm nie fern genug gestanden haben ? – Eine ganz andere Erklärung wäre folgende : die Menschen pflegen über das Nächste, was sie umgiebt, nicht mehr nachzudenken, sondern es nur hinzunehmen. Vielleicht ist die gewohnheitsmässige Gedankenlosigkeit der Eltern der Grund, wesshalb sie, einmal genöthigt über ihre Kinder zu urtheilen, so schief urtheilen. 424. A u s d e r Z u k u n f t d e r E h e . – Jene edlen, freigesinnten Frauen, welche die Erziehung und Erhebung des weiblichen Geschlechtes sich zur Aufgabe stellen, sollen einen Gesichtspunct nicht übersehen : die Ehe in ihrer höheren Auffassung gedacht, als Seelenfreundschaft zweier Menschen verschiedenen Geschlechts, also so, wie | sie von der Zukunft erhoff t wird, zum Zweck der Erzeugung und Erziehung einer neuen Generation geschlossen, – eine solche Ehe, welche das Sinnliche gleichsam nur als ein seltenes, gelegentliches Mittel für einen grösseren Zweck gebraucht, bedarf wahrscheinlich, wie man besorgen muss, einer natürlichen Beihülfe, des Co nc ub i n at s ; denn wenn aus Gründen der Gesundheit des Mannes das Eheweib auch zur alleinigen Befriedigung des geschlechtlichen Bedürfnisses dienen soll, so wird bei der Wahl einer Gattin schon ein falscher, den angedeuteten Zielen entgegengesetzter Gesichtspunct maassgebend sein : die Erzielung der Nachkommenschaft wird zufällig, die glückliche Erziehung

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höchst unwahrscheinlich. Eine gute Gattin, welche Freundin, Gehülfi n, Gebärerin, Mutter, Familienhaupt, Verwalterin sein soll, ja vielleicht abgesondert von dem Manne ihrem eigenen Geschäft und Amte vorzustehen hat, kann nicht zugleich Concubine sein : es hiesse im Allgemeinen zu viel von ihr verlangen. Somit könnte in Zukunft das Umgekehrte dessen eintreten, was zu Perikles’ Zeiten in Athen sich begab : die Männer, welche damals an ihren Eheweibern nicht viel mehr als Concubinen hatten, wandten sich nebenbei zu den Aspasien, weil sie nach den Reizen einer kopf- und herzbefreienden Geselligkeit verlangten, wie eine solche nur die Anmuth und geistige Biegsamkeit der Frauen zu schaffen vermag. Alle menschlichen Institutionen, wie die Ehe, gestatten nur einen mässigen Grad von praktischer Idealisirung, widrigenfalls sofort grobe Remeduren nöthig werden. 425. St u r m- u nd Dra ng per iode der Frauen. – Man kann in den drei oder vier civilisirten Ländern Europa’s aus den Frauen durch einige Jahrhunderte von | Erziehung Alles machen, was man will, selbst Männer, freilich nicht in geschlechtlichem Sinne, aber doch in jedem anderen Sinne. Sie werden unter einer solchen Einwirkung einmal alle männ lichen Tugenden und Stärken angenommen haben, dabei allerdings auch deren Schwächen und Laster mit in den Kauf nehmen müssen : so viel, wie gesagt, kann man erzwingen. Aber wie werden wir den dadurch herbeigeführten Zwischenzustand aushalten, welcher vielleicht selber ein paar Jahrhunderte dauern kann, während denen die weiblichen Narrheiten und Ungerechtigkeiten, ihr uraltes Angebinde, noch die Ueber macht über alles Hinzugewonnene, Angelernte behaupten ? Diese Zeit wird es sein, in welcher der Zorn den eigentlich männlichen Affect ausmacht, der Zorn darüber, dass alle Künste und Wissenschaften durch einen unerhörten Dilettantismus

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überschwemmt und verschlammt sind, die Philosophie durch sinnverwirrendes Geschwätz zu Tode geredet, die Politik phantastischer und parteiischer als je, die Gesellschaft in voller Auflösung ist, weil die Bewahrerinnen der alten Sitte sich selber lächerlich geworden und in jeder Beziehung ausser der Sitte zu stehen bestrebt sind. Hatten nämlich die Frauen ihre grösste Macht i n der Sitte, wonach werden sie greifen müssen, um eine ähnliche Fülle der Macht wiederzugewinnen, nachdem sie die Sitte aufgegeben haben ? 426. Fr e i g e i s t u nd E he. – Ob die Freigeister mit Frauen leben werden ? Im Allgemeinen glaube ich, dass sie, gleich den wahrsagenden Vögeln des Alterthums, als die Wahrdenkenden, Wahrheit-Redenden der Gegenwart es vorziehen müssen, a l le i n z u f l ie g e n . | 427. G lüc k d e r E he. – Alles Gewohnte zieht ein immer fester werdendes Netz von Spinneweben um uns zusammen ; und alsobald merken wir, dass die Fäden zu Stricken geworden sind und dass wir selber als Spinne in der Mitte sitzen, die sich hier gefangen hat und von ihrem eigenen Blute zehren muss. Desshalb hasst der Freigeist alle Gewöhnungen und Regeln, alles Dauernde und Defi nitive, desshalb reisst er, mit Schmerz, das Netz um sich immer wieder auseinander : wiewohl er in Folge dessen an zahlreichen kleinen und grossen Wunden leiden wird, – denn jene Fäden muss er vo n s ic h , von seinem Leibe, seiner Seele abreissen. Er muss dort lieben lernen, wo er bisher hasste, und umgekehrt. Ja es darf für ihn nichts Unmögliches sein, auf das selbe Feld Drachenzähne auszusäen, auf welches er vorher die Füllhörner seiner Güte ausströmen liess. – Daraus lässt sich abnehmen, ob er für das Glück der Ehe geschaffen ist.

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428. Zu n a he. – Leben wir zu nahe mit einem Menschen zusammen, so geht es uns so, wie wenn wir einen guten Kupferstich immer wieder mit blossen Fingern anfassen : eines Tages haben wir schlechtes beschmutztes Papier und Nichts weiter mehr in den Händen. Auch die Seele eines Menschen wird durch beständiges Angreifen endlich abgegriffen ; mindestens e r s c he i nt sie uns endlich so, – wir sehen ihre ursprüngliche Zeichnung und Schönheit nie wieder. – Man verliert immer durch den allzuvertraulichen Umgang mit Frauen und Freunden ; und mitunter verliert man die Perle seines Lebens dabei. | 429. Die goldene Wiege. – Der Freigeist wird immer aufathmen, wenn er sich endlich entschlossen hat, jenes mutterhafte Sorgen und Bewachen, mit welchem die Frauen um ihn walten, von sich abzuschütteln. Was schadet ihm denn ein rauherer Luftzug, den man so ängstlich von ihm wehrte, was bedeutet ein wirklicher Nachtheil, Verlust, Unfall, eine Erkrankung, Verschuldung, Bethörung mehr oder weniger in seinem Leben, verglichen mit der Unfreiheit der goldenen Wiege‚ des Pfauenschweif-Wedels und der drückenden Empfi ndung, noch dazu dankbar sein zu müssen, weil er wie ein Säugling gewartet und verwöhnt wird ? Desshalb kann sich die Milch, welche die mütterliche Gesinnung der ihn umgebenden Frauen reicht, so leicht in Galle verwandeln. 430. Freiwi lliges Opferth ier. – Durch Nichts erleichtern bedeutende Frauen ihren Männern, falls diese berühmt und gross sind, das Leben so sehr, als dadurch dass sie gleichsam das Gefäss der allgemeinen Ungunst und gelegentlichen Verstimmung der übrigen Menschen werden. Die Zeitgenossen pflegen ihren grossen Männern viel Fehlgriffe und Narrheiten, ja

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Handlungen grober Ungerechtigkeit nachzusehen, wenn sie nur Jemanden fi nden, den sie als eigentliches Opferthier zur Erleichterung ihres Gemüthes misshandeln und schlachten dürfen. Nicht selten fi ndet eine Frau den Ehrgeiz in sich, sich zu dieser Opferung anzubieten, und dann kann freilich der Mann sehr zufrieden sein, – falls er nämlich Egoist genug ist, um sich einen solchen freiwilligen Blitz-, Sturm- und Regenableiter in seiner Nähe gefallen zu lassen. | 431. A n g e ne h me W id e r s ac he r. – Die naturgemässe Neigung der Frauen zu ruhigem, gleichmässigem, glücklich zusammenstimmendem Dasein und Verkehren, das Oelgleiche und Beschwichtigende ihrer Wirkungen auf dem Meere des Lebens, arbeitet unwillkürlich dem heroischeren inneren Drange des Freigeistes entgegen. Ohne dass sie es merken, handeln die Frauen so, als wenn man dem wandernden Mineralogen die Steine vom Wege nimmt, damit sein Fuss nicht daran stosse, – während er gerade ausgezogen ist, u m daran zu stossen. 432. M i s s k l a n g z we ie r Co n s o n a n z e n . – Die Frauen wollen dienen und haben darin ihr Glück : und der Freigeist will nicht bedient sein und hat darin sein Glück. 433. Xa nt h ippe. – Sokrates fand eine Frau, wie er sie brauchte, – aber auch er hätte sie nicht gesucht, falls er sie gut genug gekannt hätte : so weit wäre auch der Heroismus dieses freien Geistes nicht gegangen. Thatsächlich trieb ihn Xanthippe in seinen eigenthümlichen Beruf immer mehr hinein, indem sie ihm Haus und Heim unhäuslich und unheimlich machte : sie lehrte ihn, auf den Gassen und überall dort zu leben, wo man schwätzen und müssig sein konnte und bildete ihn damit zum

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grössten athenischen Gassen-Dialektiker aus : der sich zuletzt selber mit einer Bremse vergleichen musste, welche dem schönen Pferde Athen von einem Gotte auf den Nacken gesetzt sei, um es nicht zur Ruhe kommen zu lassen. | 434. F ü r d ie Fe r ne bl i nd . – Ebenso wie die Mütter eigentlich nur Sinn und Auge für die augen- und sinnfälligen Schmerzen ihrer Kinder haben, so vermögen die Gattinnen hoch strebender Männer es nicht über sich zu gewinnen, ihre Ehegenossen leidend, darbend und gemissachtet zu sehen, – während vielleicht alles diess nicht nur die Wahrzeichen einer richtigen Wahl ihrer Lebenshaltung, sondern schon die Bürgschaften dafür sind, dass ihre grossen Ziele irgendwann einmal erreicht werden mü s s e n . Die Frauen intriguiren im Stillen immer gegen die höhere Seele ihrer Männer ; sie wollen dieselbe um ihre Zukunft, zu Gunsten einer schmerzlosen, behaglichen Gegenwart, betrügen. 435. Mac ht u nd Frei heit. – So hoch Frauen ihre Männer ehren, so ehren sie doch die von der Gesellschaft anerkannten Gewalten und Vorstellungen noch mehr : sie sind seit Jahrtausenden gewohnt, vor allem Herrschenden gebückt, die Hände auf die Brust gefaltet, einherzugehen und missbilligen alle Auflehnung gegen die öffentliche Macht. Desshalb hängen sie sich, ohne es auch nur zu beabsichtigen, vielmehr wie aus Instinct, als Hemmschuh in die Räder eines freigeisterischen unabhängigen Strebens und machen unter Umständen ihre Gatten auf ’s Höchste ungeduldig, zumal wenn diese sich noch vorreden, dass Liebe es sei, was die Frauen im Grunde dabei antreibe. Die Mittel der Frauen missbilligen und grossmüthig die Motive dieser Mittel ehren, – das ist Männer-Art und oft genug Männer-Verzweiflung. |

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436. C et e r u m c e n s eo. – Es ist zum Lachen, wenn eine Gesellschaft von Habenichtsen die Abschaff ung des Erbrechts decretirt, und nicht minder zum Lachen ist es, wenn Kinderlose an der praktischen Gesetzgebung eines Landes arbeiten : – sie haben ja nicht genug Schwergewicht in ihrem Schiffe, um sicher in den Ocean der Zukunft hineinsegeln zu können. Aber ebenso ungereimt erscheint es, wenn Der, welcher die allgemeinste Erkenntniss und die Abschätzung des gesammten Daseins zu seiner Aufgabe erkoren hat, sich mit persönlichen Rücksichten auf eine Familie, auf Ernährung, Sicherung, Achtung von Weib und Kind, belastet und vor sein Teleskop jenen trüben Schleier aufspannt, durch welchen kaum einige Strahlen der fernen Gestirnwelt hindurchzudringen vermögen. So komme auch ich zu dem Satze, dass in den Angelegenheiten der höchsten philosophischen Art alle Verheiratheten verdächtig sind. 437. Z u let z t . – Es giebt mancherlei Arten von Schierling, und gewöhnlich fi ndet das Schicksal eine Gelegenheit, dem Freigeiste einen Becher dieses Giftgetränkes an die Lippen zu setzen, – um ihn zu „strafen“, wie dann alle Welt sagt. Was thun dann die Frauen um ihn ? Sie werden schreien und wehklagen und vielleicht die Sonnenuntergangs-Ruhe des Denkers stören : wie sie es im Gefängniss von Athen thaten. „O Kriton, heisse doch Jemanden diese Weiber da fortführen !“ sagte endlich Sokrates. – |

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438. Um d a s Wor t bit ten. – Der demagogische Charakter und die Absicht, auf die Massen zu wirken, ist gegenwärtig allen politischen Parteien gemeinsam : sie alle sind genöthigt, der genannten Absicht wegen, ihre Principien zu grossen Alfresco-Dummheiten umzuwandeln und sie so an die Wand zu malen. Daran ist Nichts mehr zu ändern, ja es ist überflüssig, auch nur einen Finger dagegen aufzuheben ; denn auf diesem Gebiete gilt, was Voltaire sagt : quand la populace se mêle de raisonner, tout est perdu. Seitdem diess geschehen ist, muss man sich den neuen Bedingungen fügen, wie man sich fügt, wenn ein Erdbeben die alten Gränzen und Umrisse der Bodengestalt verrückt und den Werth des Besitzes verändert hat. Ueberdiess : wenn es sich nun einmal bei aller Politik darum handelt, möglichst Vielen das Leben erträglich zu machen, so mögen immerhin diese Möglichst-Vielen auch bestimmen, was sie unter einem erträglichen Leben verstehen ; trauen sie sich den Intellect zu, auch die richtigen Mittel zu diesem | Ziele zu fi nden, was hülfe es, daran zu zweifeln ? Sie wol le n nun einmal ihres Glückes und Unglückes eigene Schmiede sein ; und wenn dieses Gefühl der Selbstbestimmung, der Stolz auf die fünf, sechs Begriffe, welche ihr Kopf birgt und zu Tage bringt, ihnen in der That das Leben so angenehm macht, dass sie die fatalen Folgen ihrer Beschränktheit gern ertragen : so ist wenig einzuwenden, vorausgesetzt, dass die Beschränktheit nicht so weit geht, zu verlangen, es solle A l le s in diesem Sinne zur Politik werden, es solle Je d e r nach solchem Maassstabe leben und wirken. Zuerst nämlich muss es Einigen mehr, als je, erlaubt sein, sich der Politik zu enthalten und ein

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Wenig bei Seite zu treten : dazu treibt auch sie die Lust an der Selbstbestimmung, und auch ein kleiner Stolz mag damit verbunden sein, zu schweigen, wenn zu Viele oder überhaupt nur Viele reden. Sodann muss man es diesen Wenigen nachsehen, wenn sie das Glück der Vielen, verstehe man nun darunter Völker oder Bevölkerungsschichten, nicht so wichtig nehmen und sich hie und da eine ironische Miene zu Schulden kommen lassen ; denn ihr Ernst liegt anderswo, ihr Glück ist ein anderer Begriff, ihr Ziel ist nicht von jeder plumpen Hand, welche eben nur fünf Finger hat, zu umspannen. Endlich kommt – was ihnen gewiss am schwersten zugestanden wird, aber ebenfalls zugestanden werden muss – von Zeit zu Zeit ein Augenblick, wo sie aus ihren schweigsamen Vereinsamungen heraustreten und die Kraft ihrer Lungen wieder einmal versuchen : dann rufen sie nämlich einander zu wie Verirrte in einem Walde, um sich einander zu erkennen zu geben und zu ermuthigen ; wobei freilich Mancherlei laut wird, was den Ohren, für welche es nicht bestimmt ist, übel klingt. – Nun, bald darauf ist es wieder stille im Walde, so stille, dass man das Schwirren, | Summen und Flattern der zahllosen Insecten, welche in, über und unter ihm leben, wieder deutlich vernimmt. – 439. C u lt u r u nd K a s t e. – Eine höhere Cultur kann allein dort entstehen, wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft giebt : die der Arbeitenden und die der Müssigen, zu wahrer Musse Befähigten ; oder mit stärkerem Ausdruck : die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der Frei-Arbeit. Der Gesichtspunct der Vertheilung des Glücks ist nicht wesentlich, wenn es sich um die Erzeugung einer höheren Cultur handelt ; jedenfalls aber ist die Kaste der Müssigen die leidensfähigere, leidendere, ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre Aufgabe grösser. Findet nun gar ein Austausch der beiden Kasten statt, so, dass die stumpferen, ungeistigeren Familien und Einzel-

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nen aus der oberen Kaste in die niedere herabgesetzt werden und wiederum die freieren Menschen aus dieser den Zutritt zur höheren erlangen : so ist ein Zustand erreicht, über den hinaus man nur noch das offene Meer unbestimmter Wünsche sieht. – So redet die verklingende Stimme der alten Zeit zu uns ; aber wo sind noch Ohren, sie zu hören ? 440. Von G eblüt. – Das, was Männer und Frauen von Geblüt vor Anderen voraus haben und was ihnen unzweifelhaftes Anrecht auf höhere Schätzung giebt, sind zwei durch Vererbung immer mehr gesteigerte Künste : die Kunst, befehlen zu können, und die Kunst des stolzen Gehorsams. – Nun entsteht überall, wo das Befehlen zum Tagesgeschäft gehört (wie in der grossen Kaufmanns- und Industrie-Welt), etwas Aehn liches wie jene | Geschlechter „von Geblüt“, aber ihnen fehlt die vornehme Haltung im Gehorsam, welche bei jenen eine Erbschaft feudaler Zustände ist und die in unserem Cultur-Klima nicht mehr wachsen will. 441. S u b or d i n at io n . – Die Subordination, welche im Militärund Beamtenstaate so hoch geschätzt wird, wird uns bald ebenso unglaublich werden, wie die geschlossene Taktik der Jesuiten es bereits geworden ist ; und wenn diese Subordination nicht mehr möglich ist, lässt sich eine Menge der erstaunlichsten Wirkungen nicht mehr erreichen, und die Welt wird ärmer sein. Sie muss schwinden, denn ihr Fundament schwindet : der Glaube an die unbedingte Autorität, an die endgültige Wahrheit ; selbst in Militärstaaten ist der physische Zwang nicht ausreichend, sie hervorzubringen‚ sondern die angeerbte Adoration vor dem Fürstlichen wie vor etwas Uebermenschlichem. – In f r e ie r e n Verhältnissen ordnet man sich nur auf Bedingungen unter, in Folge gegenseitigen Vertrages, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes.

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442. Vol k s hee r e. – Der grösste Nachtheil der jetzt so verherrlichten Volksheere besteht in der Vergeudung von Menschen der höchsten Civilisation ; nur durch die Gunst aller Verhältnisse giebt es deren überhaupt, – wie sparsam und ängstlich sollte man mit ihnen umgehen, da es grosser Zeiträume bedarf, um die zufälligen Bedingungen zur Erzeugung so zart organisirter Gehirne zu schaffen ! Aber wie die Griechen in Griechenblut wütheten, so die Europäer jetzt in Europäerblut : und zwar werden relativ am meisten immer die Höchstge|bildeten zum Opfer gebracht‚ Die, welche eine reichliche und gute Nachkommenschaft verbürgen ; Solche nämlich stehen im Kampfe voran, als Befehlende, und setzen sich überdiess, ihres höheren Ehrgeizes wegen, den Gefahren am meisten aus. – Der grobe Römer-Patriotismus ist jetzt, wo ganz andere und höhere Aufgaben gestellt sind, als patria und honor, entweder etwas Unehrliches oder ein Zeichen der Zurückgebliebenheit. 443. Hof f nu n g a l s A n m a a s s u n g. – Unsere gesellschaftliche Ordnung wird langsam wegschmelzen, wie es alle früheren Ordnungen gethan haben, sobald die Sonnen neuer Meinungen mit neuer Gluth über die Menschen hinleuchteten. Wü n s c he n kann man diess Wegschmelzen nur, indem man hoff t : und hoffen darf man vernünftigerweise nur, wenn man sich und seinesgleichen mehr Kraft in Herz und Kopf zutraut, als den Vertretern des Bestehenden. Gewöhnlich also wird diese Hoff nung eine A n m a a s s u n g ‚ eine Ueb er s c h ät z u n g sein. 444. K r i e g. – Zu Ungunsten des Krieges kann man sagen : er macht die Sieger dumm, den Besiegten boshaft. Zu Gunsten des Krieges : er barbarisirt in beiden eben genannten Wirkungen und macht dadurch natürlicher ; er ist für die Cultur

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Schlaf oder Winterszeit, der Mensch kommt kräftiger zum Guten und Bösen aus ihm heraus. 445. Im Dienste des Fü rsten. – Ein Staatsmann wird, um völlig rücksichtslos handeln zu können, am besten thun‚ nicht für sich, sondern für einen Fürsten sein Werk | auszuführen. Von dem Glanze dieser allgemeinen Uneigennützigkeit wird das Auge des Beschauers geblendet, so dass er jene Tücken und Härten, welche das Werk des Staatsmannes mit sich bringt, nicht sieht. 446. Eine Frage der Macht, nicht des Rechtes. – Für Menschen, welche bei jeder Sache den höheren Nutzen in’s Auge fassen, giebt es bei dem Socialismus, falls er w i r k l i c h die Erhebung der Jahrtausende lang Gedrückten, Niedergehaltenen gegen ihre Unterdrücker ist, kein Problem des R e c ht e s (mit der lächerlichen, weichlichen Frage : „wie weit s ol l man seinen Forderungen nachgeben ?”), sondern nur ein Problem der M a c h t („wie weit k a n n man seine Forderungen benutzen ?“) ; also wie bei einer Naturmacht, zum Beispiel dem Dampfe, welcher entweder von dem Menschen in seine Dienste, als Maschinengott, gezwungen wird, oder, bei Fehlern der Maschine, das heisst Fehlern der menschlichen Berechnung im Bau derselben, sie und den Menschen mit zertrümmert. Um jene Machtfrage zu lösen, muss man wissen, wie stark der Socialismus ist, in welcher Modification er noch als mächtiger Hebel innerhalb des jetzigen politischen Kräftespiels benutzt werden kann ; unter Umständen müsste man selbst Alles thun, ihn zu kräftigen. Die Menschheit muss bei jeder grossen Kraft – und sei es die gefährlichste – daran denken, aus ihr ein Werkzeug ihrer Absichten zu machen. – Ein Recht gewinnt sich der Socialismus erst dann, wenn es zwischen den beiden Mächten, den Vertretern des Alten und Neuen, zum

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Kriege gekommen zu sein scheint, wenn aber dann das kluge Rechnen auf möglichste Erhaltung und Zuträglichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem Vertrag entstehen | lässt. Ohne Vertrag kein Recht. Bis jetzt giebt es aber auf dem bezeichneten Gebiete weder Krieg, noch Verträge, also auch keine Rechte, kein „Sollen“. 447. B enut z u n g der k lei n sten Un r ed l ic h k eit. – Die Macht der Presse besteht darin, dass jeder Einzelne, der ihr dient, sich nur ganz wenig verpfl ichtet und verbunden fühlt. Er sagt für gewöhnlich s e i ne Meinung, aber sagt sie einmal auch n ic ht , um seiner Partei oder der Politik seines Landes oder endlich sich selbst zu nützen. Solche kleine Vergehen der Unredlichkeit oder vielleicht nur einer unredlichen Verschwiegenheit sind von dem Einzelnen nicht schwer zu tragen, doch sind die Folgen ausserordentlich, weil diese kleinen Vergehen von Vielen zu gleicher Zeit begangen werden. Jeder von Diesen sagt sich : „für so geringe Dienste lebe ich besser, kann ich mein Auskommen fi nden ; durch den Mangel solcher kleinen Rücksichten mache ich mich unmöglich“. Weil es beinahe sittlich gleichgültig erscheint, eine Zeile, noch dazu vielleicht ohne Namensunterschrift, mehr zu schreiben oder nicht zu schreiben, so kann Einer, der Geld und Einfluss hat, jede Meinung zur öffentlichen machen. Wer da weiss, dass die meisten Menschen in Kleinigkeiten schwach sind, und seine eigenen Zwecke durch sie erreichen will, ist immer ein gefährlicher Mensch. 448. A l l z u lauter Ton bei B e sc hwerden. – Dadurch, dass ein Nothstand (zum Beispiel die Gebrechen einer Verwaltung, Bestechlichkeit und Gunstwillkür in politischen oder gelehrten Körperschaften) stark übertrieben dargestellt wird, verliert zwar die Darstellung bei den | Einsichtigen ihre Wirkung,

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aber wirkt um so stärker auf die Nichteinsichtigen (welche bei einer sorgsamen maassvollen Darlegung gleichgültig geblieben wären). Da diese aber bedeutend in der Mehrzahl sind und stärkere Willenskräfte, ungestümere Lust zum Handeln in sich beherbergen, so wird jene Uebertreibung zum Anlass von Untersuchungen, Bestrafungen, Versprechen, Reorganisationen. – Insofern ist es nützlich, Nothstände übertrieben darzustellen. 449. D i e a n s c h e i n e n d e n We t t e r m a c h e r d e r P o l i t i k . – Wie das Volk bei Dem, welcher sich auf das Wetter versteht und es um einen Tag voraussagt, im Stillen annimmt, dass er das Wetter mache, so legen selbst Gebildete und Gelehrte mit einem Aufwand von abergläubischem Glauben grossen Staatsmännern alle die wichtigen Veränderungen und Conjuncturen, welche während ihrer Regierung eintraten, als deren eigenstes Werk bei, wenn es nur ersichtlich ist, dass Jene Etwas davon eher wussten, als Andere, und ihre Berechnung darnach machten : sie werden also ebenfalls als Wettermacher genommen – und dieser Glaube ist nicht das geringste Werkzeug ihrer Macht. 450. N e u e r u nd a lt e r B e g r i f f d e r R e g ie r u n g. – Zwischen Regierung und Volk so zu scheiden, als ob hier zwei getrennte Machtsphären, eine stärkere, höhere mit einer schwächeren, niederen, verhandelten und sich vereinbarten, ist ein Stück vererbter politischer Empfi ndung, welches der historischen Feststellung der Machtverhältnisse in den me i s t e n Staaten noch jetzt genau entspricht. Wenn zum Beispiel Bismarck die constitutionelle Form als einen Compromiss zwischen Regierung und Volk | bezeichnet, so redet er gemäss einem Princip, welches seine Vernunft in der Geschichte hat (ebendaher freilich auch den Beisatz von Unvernunft, ohne den nichts Menschliches existiren kann). Dagegen soll man nun

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lernen – gemäss einem Princip, welches rein aus dem K o pf e entsprungen ist und erst Geschichte m ac he n soll –, dass Regierung Nichts als ein Organ des Volkes sei, nicht ein vorsorgliches, verehrungswürdiges „Oben“ im Verhältniss zu einem an Bescheidenheit gewöhnten „Unten“. Bevor man diese bis jetzt unhistorische und willkürliche, wenn auch logischere Aufstellung des Begriff s Regierung annimmt, möge man doch ja die Folgen erwägen : denn das Verhältniss zwischen Volk und Regierung ist das stärkste vorbildliche Verhältniss, nach dessen Muster sich unwillkürlich der Verkehr zwischen Lehrer und Schüler, Hausherrn und Dienerschaft, Vater und Familie, Heerführer und Soldat, Meister und Lehrling bildet. Alle diese Verhältnisse gestalten sich jetzt, unter dem Einflusse der herrschenden constitutionellen Regierungsform, ein Wenig um : sie we r d e n Compromisse. Aber wie müssen sie sich verkehren und verschieben, Namen und Wesen wechseln, wenn jener allerneueste Begriff überall sich der Köpfe bemeistert hat ! – wozu es aber wohl ein Jahrhundert noch brauchen dürfte. Hierbei ist Nichts me h r zu wünschen, als Vorsicht und langsame Entwickelung. 451. Gerechtigkeit a ls Par teien-Lock r uf. – Wohl können edle (wenn auch nicht gerade sehr einsichtsvolle) Vertreter der herrschenden Classe sich geloben : „wir wollen die Menschen als gleich behandeln, ihnen gleiche Rechte zugestehen“ ; insofern ist eine socialistische Denkungsweise, welche auf G e r e c ht i g k e it ruht, möglich, aber | wie gesagt nur innerhalb der herrschenden Classe, welche in diesem Falle die Gerechtigkeit mit Opfern und Verleugnungen ü b t . Dagegen Gleichheit der Rechte f o r d e r n , wie es die Socialisten der unterworfenen Kaste thun, ist nimmermehr der Ausfluss der Gerechtigkeit, sondern der Begehrlichkeit. – Wenn man der Bestie blutige Fleischstücke aus der Nähe zeigt und wieder

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wegzieht, bis sie endlich brüllt : meint ihr, dass diess Gebrüll Gerechtigkeit bedeute ? 452. B e s it z u nd G e r e c ht i g k e it . – Wenn die Socialisten nachweisen, dass die Eigenthums-Vertheilung in der gegenwärtigen Menschheit die Consequenz zahlloser Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten ist, und in summa die Verpfl ichtung gegen etwas so unrecht Begründetes ablehnen : so sehen sie nur etwas Einzelnes. Die ganze Vergangenheit der alten Cultur ist auf Gewalt, Sclaverei, Betrug, Irrthum aufgebaut ; wir können aber uns selbst, die Erben aller dieser Zustände, ja die Concrescenzen aller jener Vergangenheit, nicht wegdecretiren und dürfen nicht ein einzelnes Stück herausziehen wollen. Die ungerechte Gesinnung steckt in den Seelen der NichtBesitzenden auch, sie sind nicht besser als die Besitzenden und haben kein moralisches Vorrecht, denn irgend wann sind ihre Vorfahren Besitzende gewesen. Nicht gewaltsame neue Vertheilungen, sondern allmähliche Umschaff ungen des Sinnes thun noth, die Gerechtigkeit muss in Allen grösser werden, der gewaltthätige Instinct schwächer. 453. Der Steuer ma n n der Leidensc ha f ten. – Der Staatsmann erzeugt öffentliche Leidenschaften, um den | Gewinn von der dadurch erweckten Gegenleidenschaft zu haben. Um ein Beispiel zu nehmen : so weiss ein deutscher Staatsmann wohl, dass die katholische Kirche niemals mit Russland gleiche Pläne haben wird, ja sich viel lieber mit den Türken verbünden würde, als mit ihm ; ebenso weiss er, dass Deutschland alle Gefahr von einem Bündnisse Frankreichs mit Russland droht. Kann er es nun dazu bringen, Frankreich zum Herd und Hort der katholischen Kirche zu machen, so hat er diese Gefahr auf eine lange Zeit beseitigt. Er hat demnach ein Interesse daran, Hass gegen die Katholiken zu zeigen und durch

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Feindseligkeiten aller Art die Bekenner der Autorität des Papstes in eine leidenschaftliche politische Macht zu verwandeln, welche der deutschen Politik feindlich ist und sich naturgemäss mit Frankreich, als dem Widersacher Deutschlands, verschmelzen muss : sein Ziel ist ebenso nothwendig die Katholisirung Frankreichs, als Mirabeau in der Dekatholisirung das Heil seines Vaterlandes sah. – Der eine Staat will also die Verdunkelung von Millionen Köpfen eines anderen Staates, um seinen Vortheil aus dieser Verdunkelung zu ziehen. Es ist diess die selbe Gesinnung, welche die republicanische Regierungsform des nachbarlichen Staates – le désordre organisé, wie Mérimée sagt – aus dem alleinigen Grunde unterstützt, weil sie von dieser annimmt, dass sie das Volk schwächer, zerrissener und kriegsunfähiger mache. 454. Die Gef ä h rl ic hen u nter den Umst u r z- Geister n. – Man theile Die, welche auf einen Umsturz der Gesellschaft bedacht sind, in Solche ein, welche für sich selbst, und in Solche, welche für ihre Kinder und Enkel Etwas erreichen wollen. Die Letzteren sind die Gefährlicheren ; | denn sie haben den Glauben und das gute Gewissen der Uneigennützigkeit. Die Anderen kann man abspeisen : dazu ist die herrschende Gesellschaft immer noch reich und klug genug. Die Gefahr beginnt, sobald die Ziele unpersönlich werden ; die Revolutionäre aus unpersönlichem Interesse dürfen alle Vertheidiger des Bestehenden als persönlich interessirt ansehen und sich desshalb ihnen überlegen fühlen. 455. Pol it i s c her Wer t h d er Vat er s c h a f t . – Wenn der Mensch keine Söhne hat, so hat er kein volles Recht, über die Bedürfnisse eines einzelnen Staatswesens mitzureden. Man muss selber mit den Anderen sein Liebstes daran gewagt haben ; das erst bindet an den Staat fest ; man muss das Glück seiner Nach-

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kommen in’s Auge fassen, also vor Allem Nachkommen haben, um an allen Institutionen und deren Veränderung rechten, natürlichen Antheil zu nehmen. Die Entwickelung der höhern Moral hängt daran, dass Einer Söhne hat ; diess stimmt ihn unegoistisch, oder richtiger : es erweitert seinen Egoismus der Zeitdauer nach, und lässt ihn Ziele über seine individuelle Lebenslänge hinaus mit Ernst verfolgen. 456. A h n e n s t o l z . – Auf eine ununterbrochene Reihe g u t e r Ahnen bis zum Vater herauf darf man mit Recht stolz sein, – nicht aber auf die Reihe ; denn diese hat Jeder. Die Herkunft von guten Ahnen macht den ächten Geburtsadel aus ; eine einzige Unterbrechung in jener Kette, Ein böser Vorfahr also hebt den Geburtsadel auf. Man soll Jeden, welcher von seinem Adel redet, fragen : hast du keinen gewaltthätigen, habsüchtigen, ausschweifenden, boshaften, grausamen Menschen unter | deinen Vorfahren ? Kann er darauf in gutem Wissen und Gewissen mit Nein antworten, so bewerbe man sich um seine Freundschaft. 457. S c l ave n u n d A r b e it e r. – Dass wir mehr Werth auf Befriedigung der Eitelkeit, als auf alles übrige Wohlbefi nden (Sicherheit, Unterkommen, Vergnügen aller Art) legen, zeigt sich in einem lächerlichen Grade daran, dass Jedermann (abgesehen von politischen Gründen) die Aufhebung der Sclaverei wünscht und es auf ’s Aergste verabscheut, Menschen in diese Lage zu bringen : während Jeder sich sagen muss, dass die Sclaven in allen Beziehungen sicherer und glücklicher leben, als der moderne Arbeiter, dass Sclavenarbeit sehr wenig Arbeit im Verhältniss zu der des „Arbeiters“ ist. Man protestirt im Namen der „Menschenwürde“ : das ist aber, schlichter ausgedrückt, jene liebe Eitelkeit, welche das Nicht-gleich-gestelltsein, das öffentlich Niedriger-geschätzt-werden, als das härte-

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ste Loos empfi ndet. – Der Cyniker denkt anders darüber, weil er die Ehre verachtet : – und so war Diogenes eine Zeitlang Sclave und Hauslehrer. 458. L e it e nd e G e i s t e r u nd i h r e We r k z eu g e. – Wir sehen grosse Staatsmänner und überhaupt alle Die, welche sich vieler Menschen zur Durchführung ihrer Pläne bedienen müssen, bald so, bald so verfahren : entweder wählen sie sehr fein und sorgsam die zu ihren Plänen passenden Menschen aus und lassen ihnen dann verhältnissmässige grosse Freiheit, weil sie wissen, dass die Natur dieser Ausgewählten sie eben dahin treibt, wohin sie selber Jene haben wollen ; oder sie wählen | schlecht, ja nehmen was ihnen unter die Hand kommt, formen aber aus jedem Thone etwas für ihre Zwecke Taugliches. Diese letzte Art ist die gewaltsamere, sie begehrt auch unterwürfigere Werkzeuge ; ihre Menschenkenntniss ist gewöhnlich viel geringer, ihre Menschenverachtung grösser, als bei den erstgenannten Geistern, aber die Maschine, welche sie construiren, arbeitet gemeinhin besser, als die Maschine aus der Werkstätte jener. 459. W i l l k ü rl ic he s R e c ht not hwe nd i g. – Die Juristen streiten, ob das am vollständigsten durchgedachte Recht oder das am leichtesten zu verstehende in einem Volke zum Siege kommen solle. Das erste, dessen höchstes Muster das römische ist, erscheint dem Laien als unverständlich und desshalb nicht als Ausdruck seiner Rechtsempfi ndung. Die Volksrechte, wie zum Beispiel die germanischen, waren grob, abergläubisch, unlogisch, zum Theil albern, aber sie entsprachen ganz bestimmten vererbten heimischen Sitten und Empfi ndungen. – Wo aber Recht nicht mehr, wie bei uns, Herkommen ist, da kann es nur b e f oh le n , Zwang sein ; wir haben Alle kein herkömmliches Rechtsgefühl mehr, desshalb müssen wir uns W i l l k ü r s r e c ht e gefallen lassen, die der Ausdruck der

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Nothwendigkeit sind, dass es ein Recht g eb e n mü s s e. Das logischste ist dann jedenfalls das annehmbarste, weil es das u n p a r t e i l ic h s t e ist : zugegeben selbst, dass in jedem Falle die kleinste Maasseinheit im Verhältniss von Vergehen und Strafe willkürlich angesetzt ist. 460. D e r g r o s s e Ma n n d e r Ma s s e. – Das Recept zu dem, was die Masse einen grossen Mann nennt, ist | leicht gegeben. Unter allen Umständen verschaffe man ihr Etwas, das ihr sehr angenehm ist, oder setze ihr erst in den Kopf, dass diess und jenes sehr angenehm wäre, und gebe es ihr dann. Doch um keinen Preis sofort : sondern man erkämpfe es mit grösster Anstrengung oder scheine es zu erkämpfen. Die Masse muss den Eindruck haben, dass eine mächtige, ja unbezwingliche Willenskraft da sei ; mindestens muss sie da zu sein scheinen. Den starken Willen bewundert Jedermann, weil Niemand ihn hat und Jedermann sich sagt, dass, wenn er ihn hätte, es für ihn und seinen Egoismus keine Gränze mehr gäbe. Zeigt sich nun, dass ein solcher starker Wille etwas der Masse sehr Angenehmes bewirkt, statt auf die Wünsche seiner Begehrlichkeit zu hören, so bewundert man noch einmal und wünscht sich selber Glück. Im Uebrigen habe er alle Eigenschaften der Masse : um so weniger schämt sie sich vor ihm, um so mehr ist er populär. Also : er sei gewaltthätig, neidisch, ausbeuterisch, intrigant, schmeichlerisch, kriechend, aufgeblasen, je nach Umständen alles. 461. F ü r s t u nd G ot t . – Die Menschen verkehren mit ihren Fürsten vielfach in ähnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der Fürst der Repräsentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese fast unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und Scham war und ist viel schwächer geworden, aber mitunter lodert sie auf und heftet

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sich an mächtige Personen überhaupt. Der Cultus des Genius’ ist ein Nachklang dieser Götter-Fürsten-Verehrung. Ueberall, wo man sich bestrebt, einzelne Menschen in das Uebermenschliche hinaufzuheben, entsteht auch die Neigung, | ganze Schichten des Volkes sich roher und niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind. 462. Mei ne Utopie. – In einer besseren Ordnung der Gesellschaft wird die schwere Arbeit und Noth des Lebens Dem zuzumessen sein, welcher am wenigsten durch sie leidet, also dem Stumpfesten, und so schrittweise aufwärts bis zu Dem, welcher für die höchsten sublimirtesten Gattungen des Leidens am empfi ndlichsten ist und desshalb selbst noch bei der grössten Erleichterung des Lebens leidet. 463. Ei n Wa h n i n der Leh re vom Um st u r z. – Es giebt politische und sociale Phantasten‚ welche feurig und beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen auffordern, in dem Glauben, dass dann sofort das stolzeste Tempelhaus schönen Menschenthums gleichsam von selbst sich erheben werde. In diesen gefährlichen Träumen klingt noch der Aberglaube Rousseau’s nach, welcher an eine wundergleiche, ursprüngliche, aber gleichsam ve r s c hüt t et e Güte der menschlichen Natur glaubt und den Institutionen der Cultur, in Gesellschaft, Staat, Erziehung, alle Schuld jener Verschüttung beimisst. Leider weiss man aus historischen Erfahrungen, dass jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die längst begrabenen Furchtbarkeiten und Maasslosigkeiten fernster Zeitalter von Neuem zur Auferstehung bringt : dass also ein Umsturz wohl eine Kraftquelle in einer mattgewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr aber ein Ordner, Baumeister, Künstler, Vollender der menschlichen Natur.  –  Nicht Volt a i r e’s

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maassvolle, dem Ordnen, Reinigen und Umbauen | zugeneigte Natur, sondern Rou s s e au’s leidenschaftliche Thorheiten und Halblügen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe : „Ecrasez l’infame !“ Durch ihn ist d e r G e i s t d e r Au f k l ä r u n g u nd d e r for ts c h r e it e nd e n E nt w ic k e lu n g auf lange verscheucht worden : sehen wir zu – ein Jeder bei sich selber – ob es möglich ist, ihn wieder zurückzurufen ! 464. M a a s s . – Die volle Entschiedenheit des Denkens und Forschens, also die Freigeisterei, zur Eigenschaft des Charakters geworden, macht im Handeln mässig : denn sie schwächt die Begehrlichkeit, zieht viel von der vorhandenen Energie an sich, zur Förderung geistiger Zwecke, und zeigt das Halbnützliche oder Unnütze und Gefährliche aller plötzlichen Veränderungen. 465. Au f e r s t e hu n g d e s G e i s t e s . – Auf dem politischen Krankenbette verjüngt ein Volk gewöhnlich sich selbst und fi ndet seinen Geist wieder, den es im Suchen und Behaupten der Macht allmählich verlor. Die Cultur verdankt das Allerhöchste den politisch geschwächten Zeiten. 466. Neue Me i nu n g e n i m a lt e n H au s e. – Dem Umsturz der Meinungen folgt der Umsturz der Institutionen nicht sofort nach, vielmehr wohnen die neuen Meinungen lange Zeit im verödeten und unheimlich gewordenen Hause ihrer Vorgängerinnen und conserviren es selbst, aus Wohnungsnoth. 467. S c hu l we s e n . – Das Schulwesen wird in grossen Staaten immer höchstens mittelmässig sein, aus dem | selben Grunde,

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aus dem in grossen Küchen besten Falls mittelmässig gekocht wird. 468. Unschu ld ige Corr uption. – In allen Instituten, in welche nicht die scharfe Luft der öffentlichen Kritik hineinweht, wächst eine unschuldige Corruption auf, wie ein Pilz (also zum Beispiel in gelehrten Körperschaften und Senaten). 469. G e le h r t e a l s Pol it i k e r. – Gelehrten, welche Politiker werden, wird gewöhnlich die komische Rolle zugetheilt, das gute Gewissen einer Politik sein zu müssen. 470. D e r Wol f h i nt er d e m S c h a fe ve r s t e c k t . – Fast jeder Politiker hat unter gewissen Umständen einmal einen ehrlichen Mann so nöthig, dass er, gleich einem heisshungrigen Wolfe‚ in einen Schafstall bricht : nicht aber um dann den geraubten Widder zu fressen, sondern um sich hinter seinen wolligen Rücken zu verstecken. 471. G lüc k s z e it e n . – Ein glückliches Zeitalter ist desshalb gar nicht möglich, weil die Menschen es nur wünschen wollen, aber nicht haben wollen und jeder Einzelne, wenn ihm gute Tage kommen, förmlich um Unruhe und Elend beten lernt. Das Schicksal der Menschen ist auf g l ü c k l i c h e A u g e n bl ic k e eingerichtet – jedes Leben hat solche –, aber nicht auf glückliche Zeiten. Trotzdem werden diese als „das Jenseits den Bergen“ in der Phantasie des Menschen bestehen bleiben, als Erbstück der Vorzeiten ; denn man hat wohl den Begriff des Glücks|zeitalters seit uralten Zeiten her jenem Zustande entnommen, in dem der Mensch, nach gewaltiger Anstrengung durch Jagd und Krieg, sich der Ruhe übergiebt, die Glieder

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streckt und die Fittige des Schlafes um sich rauschen hört. Es ist ein falscher Schluss, wenn der Mensch jener alten Gewöhnung gemäss sich vorstellt, dass er nun auch n ac h g a n z e n Z e it r äu m e n der Noth und Mühsal jenes Zustandes des Glücks i n e nt s p r e c he nd e r St e i g e r u n g u nd D aue r theilhaftig werden könne. 472. R e l i g io n u nd R e g ie r u n g. – So lange der Staat oder, deutlicher, die Regierung sich als Vormund zu Gunsten einer unmündigen Menge bestellt weiss und um ihretwillen die Frage erwägt, ob die Religion zu erhalten oder zu beseitigen sei : wird sie höchst wahrscheinlich sich immer für die Erhaltung der Religion entscheiden. Denn die Religion befriedigt das einzelne Gemüth in Zeiten des Verlustes, der Entbehrung, des Schreckens, des Misstrauens, also da, wo die Regierung sich ausser Stande fühlt, direct Etwas zur Linderung der seelischen Leiden des Privatmannes zu thun : ja selbst bei allgemeinen, unvermeidlichen und zunächst unabwendbaren Uebeln (Hungersnöthen, Geldkrisen, Kriegen) gewährt die Religion eine beruhigte, abwartende, vertrauende Haltung der Menge. Ueberall, wo die nothwendigen oder zufälligen Mängel der Staatsregierung oder die gefährlichen Consequenzen dynastischer Interessen dem Einsichtigen sich bemerklich machen und ihn widerspänstig stimmen, werden die Nicht-Einsichtigen den Finger Gottes zu sehen meinen und sich in Geduld den Anordnungen von O b e n (in welchem Begriff göttliche und menschliche Regierungsweise gewöhnlich verschmelzen) unterwerfen : so wird der | innere bürgerliche Frieden und die Continuität der Entwickelung gewahrt. Die Macht, welche in der Einheit der Volksempfi ndung, in gleichen Meinungen und Zielen für Alle, liegt, wird durch die Religion beschützt und besiegelt, jene seltenen Fälle abgerechnet, wo eine Priesterschaft mit der Staatsgewalt sich über den Preis nicht einigen kann und in Kampf tritt. Für gewöhnlich wird der

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Staat sich die Priester zu gewinnen wissen, weil er ihrer allerprivatesten, verborgenen Erziehung der Seelen benöthigt ist und Diener zu schätzen weiss, welche scheinbar und äusserlich ein ganz anderes Interesse vertreten. Ohne Beihülfe der Priester kann auch jetzt noch keine Macht „legitim“ werden : wie Napoleon begriff. – So gehen absolute vormundschaftliche Regierung und sorgsame Erhaltung der Religion nothwendig mit einander. Dabei ist vorauszusetzen, dass die regierenden Personen und Classen über den Nutzen, welchen ihnen die Religion gewährt, aufgeklärt werden und somit bis zu einem Grade sich ihr überlegen fühlen, insofern sie dieselbe als Mittel gebrauchen : wesshalb hier die Freigeisterei ihren Ursprung hat. – Wie aber, wenn jene ganz verschiedene Auffassung des Begriffes der Regierung, wie sie in d e m ok r a t i s c he n Staaten gelehrt wird, durchzudringen anfängt ? Wenn man in ihr Nichts als das Werkzeug des Volkswillens sieht, kein Oben im Vergleich zu einem Unten, sondern lediglich eine Function des alleinigen Souverains, des Volkes ? Hier kann auch nur die selbe Stellung, welche das Volk zur Religion einnimmt, von der Regierung eingenommen werden ; jede Verbreitung von Aufklärung wird bis in ihre Vertreter hineinklingen müssen, eine Benutzung und Ausbeutung der religiösen Triebkräfte und Tröstungen zu staatlichen Zwekken wird nicht so leicht möglich sein (es sei denn, dass mächtige Parteiführer zeitweilig einen | Einfluss üben, welcher dem des aufgeklärten Despotismus ähnlich sieht). Wenn aber der Staat keinen Nutzen mehr aus der Religion selber ziehen darf oder das Volk viel zu mannichfach über religiöse Dinge denkt, als dass es der Regierung ein gleichartiges, einheitliches Vorgehen bei religiösen Maassregeln gestatten dürfte, – so wird nothwendig sich der Ausweg zeigen, die Religion als Privatsache zu behandeln und dem Gewissen und der Gewohnheit jedes Einzelnen zu überantworten. Die Folge ist zu allererst diese, dass das religiöse Empfi nden verstärkt er-

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scheint, insofern versteckte und unterdrückte Regungen desselben, welchen der Staat unwillkürlich oder absichtlich keine Lebensluft gönnte, jetzt hervorbrechen und bis in’s Extreme ausschweifen ; später erweist sich, dass die Religion von Secten überwuchert wird und dass eine Fülle von Drachenzähnen in dem Augenblicke gesät worden ist, als man die Religion zur Privatsache machte. Der Anblick des Streites, die feindselige Bloslegung aller Schwächen religiöser Bekenntnisse lässt endlich keinen Ausweg mehr zu, als dass jeder Bessere und Begabtere die Irreligiosität zu seiner Privatsache macht : als welche Gesinnung nun auch in dem Geiste der regierenden Personen die Ueberhand bekommt und, fast wider ihren Willen, ihren Maassregeln einen religionsfeindlichen Charakter giebt. Sobald diess eintritt, wandelt sich die Stimmung der noch religiös bewegten Menschen, welche früher den Staat als etwas Halb- oder Ganzheiliges adorirten, in eine entschieden s t a at s f e i nd l ic he um ; sie lauern den Maassregeln der Regierung auf, suchen zu hemmen, zu kreuzen, zu beunruhigen, so viel sie können, und treiben dadurch die Gegenpartei, die irreligiöse, durch die Hitze ihres Widerspruchs in eine fast fanatische Begeisterung f ü r den Staat hinein ; wobei im Stillen noch mitwirkt, dass in diesen | Kreisen die Gemüther seit der Trennung von der Religion eine Leere spüren und sich vorläufig durch die Hingebung an den Staat einen Ersatz, eine Art von Ausfüllung zu schaffen suchen. Nach diesen, vielleicht lange dauernden Uebergangskämpfen entscheidet es sich endlich, ob die religiösen Parteien noch stark genug sind, um einen alten Zustand heraufzubringen und das Rad zurückzudrehen : in welchem Falle unvermeidlich der aufgeklärte Despotismus (vielleicht weniger aufgeklärt und ängstlicher, als früher) den Staat in die Hände bekommt, – oder ob die religionslosen Parteien sich durchsetzen und die Fortpflanzung ihrer Gegnerschaft, einige Generationen hindurch, etwa durch Schule und Erziehung, untergraben und endlich

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unmöglich machen. Dann aber lässt auch bei ihnen jene Begeisterung für den Staat nach : immer deutlicher tritt hervor, dass mit jener religiösen Adoration, für welche er ein Mysterium, eine überweltliche Stiftung ist, auch das ehrfürchtige und pietätvolle Verhältniss zu ihm erschüttert ist. Fürderhin sehen die Einzelnen immer nur die Seite an ihm, wo er ihnen nützlich oder schädlich werden kann, und drängen sich mit allen Mitteln heran, um Einfluss auf ihn zu bekommen. Aber diese Concurrenz wird bald zu gross, die Menschen und Parteien wechseln zu schnell, stürzen sich gegenseitig zu wild vom Berge wieder herab, nachdem sie kaum oben angelangt sind. Es fehlt allen Maassregeln, welche von einer Regierung durchgesetzt werden, die Bürgschaft ihrer Dauer ; man scheut vor Unternehmungen zurück, welche auf Jahrzehnte, Jahrhunderte hinaus ein stilles Wachsthum haben müssten, um reife Früchte zu zeitigen. Niemand fühlt eine andere Verpfl ichtung gegen ein Gesetz mehr, als die, sich augenblicklich der Gewalt, welche ein Gesetz einbrachte, zu beugen : sofort geht man aber daran, es durch eine neue | Gewalt, eine neu zu bildende Majorität zu unterminiren. Zuletzt – man kann es mit Sicherheit aussprechen – muss das Misstrauen gegen alles Regierende, die Einsicht in das Nutzlose und Aufreibende dieser kurzathmigen Kämpfe die Menschen zu einem ganz neuen Entschlusse drängen : zur Abschaff ung des Staatsbegriffs, zur Auf hebung des Gegensatzes „privat und öffentlich“. Die Privatgesellschaften ziehen Schritt vor Schritt die Staatsgeschäfte in sich hinein : selbst der zäheste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens übrigbleibt (jene Thätigkeit zum Beispiel, welche die Privaten gegen die Privaten sicher stellen soll), wird zu allerletzt einmal durch Privatunternehmer besorgt werden. Die Missachtung, der Verfall und d e r To d d e s St a at e s , die Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich zu sagen : des Individuums) ist die Consequenz des demokratischen Staatsbegriffes ; hier liegt seine Mission. Hat er seine

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Aufgabe erfüllt – die wie alles Menschliche viel Vernunft und Unvernunft im Schoosse trägt –, sind alle Rückfälle der alten Krankheit überwunden, so wird ein neues Blatt im Fabelbuche der Menschheit entrollt, auf dem man allerlei seltsame Historien und vielleicht auch einiges Gute lesen wird. – Um das Gesagte noch einmal kurz zu sagen : das Interesse der vormundschaftlichen Regierung und das Interesse der Religion gehen mit einander Hand in Hand, so dass, wenn letztere abzusterben beginnt, auch die Grundlage des Staates erschüttert wird. Der Glaube an eine göttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein Mysterium in der Existenz des Staates ist religiösen Ursprungs : schwindet die Religion, so wird der Staat unvermeidlich seinen alten Isisschleier verlieren und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souveränität des Volkes, in der Nähe gesehen, dient dazu, auch den letzten Zauber und | Aberglauben auf dem Gebiete dieser Empfi ndungen zu verscheuchen ; die moderne Demokratie ist die historische Form vom Ve r f a l l d e s St a at e s . – Die Aussicht, welche sich durch diesen sichern Verfall ergiebt, ist aber nicht in jedem Betracht eine unglückselige : die Klugheit und der Eigennutz der Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet ; wenn den Anforderungen dieser Kräfte der Staat nicht mehr entspricht, so wird am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine noch zweckmässigere Erfi ndung, als der Staat es war, zum Siege über den Staat kommen. Wie manche organisirende Gewalt hat die Menschheit schon absterben sehen, – zum Beispiel die der Geschlechtsgenossenschaft, als welche Jahrtausende lang viel mächtiger war, als die Gewalt der Familie, ja längst, bevor diese bestand, schon waltete und ordnete. Wir selber sehen den bedeutenden Rechts- und Machtgedanken der Familie, welcher einmal, so weit wie römisches Wesen reichte, die Herrschaft besass, immer blasser und ohnmächtiger werden. So wird ein späteres Geschlecht auch den Staat in einzelnen Strecken der Erde bedeutungslos werden

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sehen, – eine Vorstellung, an welche viele Menschen der Gegenwart kaum ohne Angst und Abscheu denken können. An der Verbreitung und Verwirklichung dieser Vorstellung zu a r b e it e n , ist freilich ein ander Ding : man muss sehr anmaassend von seiner Vernunft denken und die Geschichte kaum halb verstehen, um schon jetzt die Hand an den Pflug zu legen, – während noch Niemand die Samenkörner aufzeigen kann, welche auf das zerrissene Erdreich nachher gestreut werden sollen. Vertrauen wir also „der Klugheit und dem Eigennutz der Menschen“, dass jet z t no c h der Staat eine gute Weile bestehen bleibt und zerstörerische Versuche übereifriger und voreiliger Halbwisser abgewiesen werden ! | 473. D e r S o c i a l i s mu s i n H i n s ic ht au f s e i ne M it t e l . – Der Socialismus ist der phantastische jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den er beerben will ; seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstande reactionär. Denn er begehrt eine Fülle der Staatsgewalt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene dadurch, dass er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebt : als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und durch ihn in ein zweckmässiges O r g a n d e s G e me i n we s e n s umgebessert werden soll. Seiner Verwandtschaft wegen erscheint er immer in der Nähe aller excessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische Socialist Plato am Hofe des sicilischen Tyrannen ; er wünscht (und befördert unter Umständen) den cäsarischen Gewaltstaat dieses Jahrhunderts, weil er, wie gesagt, sein Erbe werden möchte. Aber selbst diese Erbschaft würde für seine Zwecke nicht ausreichen, er braucht die allerunterthänigste Niederwerfung aller Bürger vor dem unbedingten Staate, wie niemals etwas Gleiches existirt hat ; und da er nicht einmal auf die alte religiöse Pietät für den Staat mehr rechnen darf, vielmehr an deren Beseitigung

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unwillkürlich fortwährend arbeiten muss – nämlich weil er an der Beseitigung aller bestehenden St a at e n arbeitet –, so kann er sich nur auf kurze Zeiten, durch den äussersten Terrorismus, hie und da einmal auf Existenz Hoff nung machen. Desshalb bereitet er sich im Stillen zu Schreckensherrschaften vor und treibt den halbgebildeten Massen das Wort „Gerechtigkeit“ wie einen Nagel in den Kopf, um sie ihres Verstandes völlig zu berauben (nachdem dieser Verstand schon durch die Halbbildung sehr gelitten | hat) und ihnen für das böse Spiel, das sie spielen sollen, ein gutes Gewissen zu schaffen. – Der Socialismus kann dazu dienen, die Gefahr aller Anhäufungen von Staatsgewalt recht brutal und eindringlich zu lehren und insofern vor dem Staate selbst Misstrauen einzuflössen. Wenn seine rauhe Stimme in das Feldgeschrei „ s o v ie l St a at w ie mög l ic h “ einfällt, so wird dieses zunächst dadurch lärmender, als je : aber bald dringt auch das entgegengesetzte mit um so grösserer Kraft hervor : „ s o we n i g St a at w ie mögl ic h “. 474. D ie Ent w ic k elu ng des Gei stes, vom St a ate gef ü rc htet. – Die griechische Polis war, wie jede organisirende politische Macht, ausschliessend und misstrauisch gegen das Wachsthum der Bildung ; ihr gewaltiger Grundtrieb zeigte sich fast nur lähmend und hemmend für dieselbe. Sie wollte keine Geschichte, kein Werden in der Bildung gelten lassen ; die in dem Staatsgesetz festgestellte Erziehung sollte alle Generationen verpfl ichten und auf Einer Stufe festhalten. Nicht anders wollte es später auch noch Plato für seinen idealen Staat. Tr ot z der Polis entwickelte sich also die Bildung : indirect freilich und wider Willen half sie mit, weil die Ehrsucht des Einzelnen in der Polis auf ’s Höchste angereizt wurde, so dass er, einmal auf die Bahn geistiger Ausbildung gerathen, auch in ihr bis in’s letzte Extrem fortgieng. Dagegen soll man sich nicht auf die Verherrlichungsrede des Perikles berufen :

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denn sie ist nur ein grosses optimistisches Trugbild über den angeblich nothwendigen Zusammenhang von Polis und athenischer Cultur ; Thukydides lässt sie, unmittelbar bevor die Nacht über Athen kommt (die Pest und der Abbruch der Tradition), noch | einmal wie eine verklärende Abendröthe aufleuchten, bei der man den schlimmen Tag vergessen soll, der ihr vorangieng. 475. D e r eu r o pä i s c he Me n s c h u nd d ie Ve r n ic ht u n g d e r Nat io ne n . – Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Cultur‚ das schnelle Wechseln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesitzer, – diese Umstände bringen nothwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich : so dass aus ihnen allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des europäischen Menschen, entstehen muss. Diesem Ziele wirkt jetzt bewusst oder unbewusst die Abschliessung der Nationen durch Erzeugung n at io n a le r Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener Mischung dennoch vorwärts, trotz jener zeitweiligen Gegenströmungen : dieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich wie der künstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewaltsamer Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über Viele verhängt ist, und braucht List, Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Völker), wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter Fürstendynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels und der Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus ; hat man diess einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als g ut e n Eu r o p äe r ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten : wobei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, | D ol met s c he r u nd

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Ve r m it t le r d e r Völ k e r zu sein, mitzuhelfen vermögen. – Beiläufig : das ganze Problem der Ju d e n ist nur innerhalb der nationalen Staaten vorhanden, insofern hier überall ihre Thatkräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Geschlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und Willens-Capital, in einem neid- und hasserweckenden Maasse zum Uebergewicht kommen muss, so dass die litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt – und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden –, die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Uebelstände zur Schlachtbank zu führen. Sobald es sich nicht mehr um Conservirung von Nationen, sondern um die Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse handelt, ist der Jude als Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht, als irgend ein anderer nationaler Rest. Unangenehme, ja gefährliche Eigenschaften hat jede Nation, jeder Mensch ; es ist grausam, zu verlangen, dass der Jude eine Ausnahme machen soll. Jene Eigenschaften mögen sogar bei ihm in besonderem Maasse gefährlich und abschreckend sein ; und vielleicht ist der jugendliche Börsen-Jude die widerlichste Erfi ndung des Menschengeschlechtes überhaupt. Trotzdem möchte ich wissen, wie viel man bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen muss, welches, nicht ohne unser Aller Schuld, die leidvollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat und dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt. Ueberdiess : in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte und Aerzte, welche das Banner | der Aufklärung und der geistigen Unabhängigkeit unter dem härtesten persön lichen Zwange festhielten und Europa gegen Asien ver theidigten ; ihren Bemühungen ist es nicht am wenigsten zu danken, dass eine natürlichere, vernunftgemässere und

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jeden falls unmythische Erklärung der Welt endlich wieder zum Siege kommen konnte und dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römischen Alter thums zusammenknüpft, unzerbrochen blieb. Wenn das Christenthum Alles gethan hat, um den Occident zu orientalisiren, so hat das Judenthum wesentlich mit dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren : was in einem bestimmten Sinne so viel heisst als Europa’s Aufgabe und Geschichte zu einer For t s et z u n g d e r g r ie c h i s c he n z u m ac he n . 476. S c he i n ba r e Ueb e rle g e n he it d e s M it t e l a lt e r s . – Das Mittelalter zeigt in der Kirche ein Institut mit einem ganz universalen, die gesammte Menschheit in sich begreifenden Ziele, noch dazu einem solchen, welches den – vermeintlich – höchsten Interessen derselben galt : dagegen gesehen, machen die Ziele der Staaten und Nationen, welche die neuere Geschichte zeigt, einen beklemmenden Eindruck ; sie erscheinen kleinlich, niedrig, materiell, räumlich beschränkt. Aber dieser verschiedene Eindruck auf die Phantasie soll unser Urtheil ja nicht bestimmen ; denn jenes universale Institut entsprach erkünstelten‚ auf Fictionen beruhenden Bedürfnissen, welche es, wo sie noch nicht vorhanden waren, erst erzeugen musste (Bedürfniss der Erlösung) ; die neuen Institute helfen wirklichen Nothzuständen ab ; und die Zeit kommt, wo Institute entstehen, um den gemeinsamen wahren Bedürfnissen aller Menschen zu dienen und das phantas|tische Urbild, die katholische Kirche, in Schatten und Vergessenheit zu stellen. 477. D e r K r ie g u ne nt b e h rl ic h . – Es ist eitel Schwärmerei und Schönseelenthum, von der Menschheit noch viel (oder gar : erst recht viel) zu erwarten, wenn sie verlernt hat, Kriege zu führen. Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch

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mattwerdenden Völkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unpersönliche Hass, jene Mörder-Kaltblütigkeit mit gutem Gewissen, jene gemeinsame organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes, jene stolze Gleichgültigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschüttern der Seele ebenso stark und sicher mitgetheilt werden könnte, wie diess jeder grosse Krieg thut : von den hier hervorbrechenden Bächen und Strömen, welche freilich Steine und Unrath aller Art mit sich wälzen und die Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nachher unter günstigen Umständen die Räderwerke in den Werkstätten des Geistes mit neuer Kraft umgedreht. Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und Bosheiten durchaus nicht entbehren. – Als die kaiserlich gewordenen Römer der Kriege etwas müde wurden, versuchten sie aus Thierhetzen, Gladiatorenkämpfen und Christenverfolgungen sich neue Kraft zu gewinnen. Die jetzigen Engländer, welche im Ganzen auch dem Kriege abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein anderes Mittel, um jene entschwindenden Kräfte neu zu erzeugen : jene gefährlichen Entdeckungsreisen, Durchschiff ungen, Erkletterungen, zu wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst, unternommen, in Wahrheit, um überschüssige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach Hause zu bringen. Man wird noch | vielerlei solche Surrogate des Krieges ausfi ndig machen, aber vielleicht durch sie immer mehr einsehen, dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die der jetzigen Europäer, nicht nur der Kriege, sondern der grössten und furchtbarsten Kriege – also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei – bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen. 478. F le i s s i m S ü d e n u nd Nor d e n . – Der Fleiss entsteht auf zwei ganz verschiedene Arten. Die Handwerker im Süden wer-

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den fleissig, nicht aus Erwerbstrieb, sondern aus der beständigen Bedürftigkeit der Anderen. Weil immer Einer kommt, der ein Pferd beschlagen, einen Wagen ausbessern lassen will, so ist der Schmied fleissig. Käme Niemand, so würde er auf dem Markte herumlungern. Sich zu ernähren, das hat in einem fruchtbaren Lande wenig Noth, dazu brauchte er nur ein sehr geringes Maass von Arbeit, jedenfalls keinen Fleiss ; schliesslich würde er betteln und zufrieden sein. – Der Fleiss englischer Arbeiter hat dagegen den Erwerbssinn hinter sich : er ist sich seiner selbst und seiner Ziele bewusst und will mit dem Besitz die Macht, mit der Macht die grösstmögliche Freiheit und individuelle Vornehmheit. 479. Re ic ht hu m a l s Ur s p r u n g e i ne s G eblüt s a d e l s . – Der Reichthum erzeugt nothwendig eine Aristokratie der Rasse, denn er gestattet die schönsten Weiber zu wählen, die besten Lehrer zu besolden, er gönnt dem Menschen Reinlichkeit, Zeit zu körperlichen Uebungen und vor Allem Abwendung von verdumpfender körperlicher Arbeit. Soweit verschaff t er alle Bedingungen, | um, in einigen Generationen, die Menschen vornehm und schön sich bewegen, ja selbst handeln zu machen : die grössere Freiheit des Gemüthes, die Abwesenheit des Erbärmlich-Kleinen, der Erniedrigung vor Brodgebern, der Pfennig-Sparsamkeit. – Gerade diese negativen Eigenschaften sind das reichste Angebinde des Glückes für einen jungen Menschen ; ein ganz Armer richtet sich gewöhnlich durch Vornehmheit der Gesinnung zu Grunde, er kommt nicht vorwärts und erwirbt Nichts, seine Rasse ist nicht lebensfähig. – Dabei ist aber zu bedenken, dass der Reichthum fast die gleichen Wirkungen ausübt, wenn Einer dreihundert Thaler oder dreissigtausend jährlich verbrauchen darf : es giebt nachher keine wesentliche Progression der begünstigenden Umstände mehr. Aber weniger zu haben, als Knabe zu betteln

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und sich zu erniedrigen, ist furchtbar : obwohl für Solche, welche ihr Glück im Glanze der Höfe, in der Unterordnung unter Mächtige und Einflussreiche suchen oder welche Kirchenhäupter werden wollen, es der rechte Ausgangspunct sein mag. (– Es lehrt, gebückt sich in die Höhlengänge der Gunst einzuschleichen.) 480. Neid u nd Tr ä g heit i n ver sc h iedener R ic ht u n g. – Die beiden gegnerischen Parteien, die socialistische und die nationale – oder wie die Namen in den verschiedenen Ländern Europa’s lauten mögen – sind einander würdig : Neid und Faulheit sind die bewegenden Mächte in ihnen beiden. In jenem Heerlager will man so wenig als möglich mit den Händen arbeiten, in diesem so wenig als möglich mit dem Kopf ; in letzterem hasst und neidet man die hervorragenden, aus sich wachsenden Einzelnen, welche sich nicht gutwillig in Reih und Glied zum Zwecke einer Massenwirkung stellen lassen ; in ersterem die bessere, | äusserlich günstiger gestellte Kaste der Gesellschaft, deren eigentliche Aufgabe, die Erzeugung der höchsten Culturgüter, das Leben innerlich um so viel schwerer und schmerzensreicher macht. Gelingt es freilich, jenen Geist der Massenwirkung zum Geiste der höheren Classen der Gesellschaft zu machen, so sind die socialistischen Schaaren ganz im Rechte, wenn sie auch äusserlich zwischen sich und jenen zu nivelliren suchen, da sie ja innerlich, in Kopf und Herz, schon mit einander nivellirt sind. – Lebt als höhere Menschen und thut immerfort die Thaten der höheren Cultur, – so gesteht euch Alles, was da lebt, euer Recht zu, und die Ordnung der Gesellschaft, deren Spitze ihr seid, ist gegen jeden bösen Blick und Griff gefeit ! 481. Gr o s s e Pol it i k u nd i h r e E i n bu s s e n . – Ebenso wie ein Volk die grössten Einbussen, welche Krieg und Kriegsbereit-

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schaft mit sich bringen, nicht durch die Unkosten des Krieges, die Stauungen in Handel und Wandel erleidet, ebenso nicht durch die Unterhaltung der stehenden Heere – so gross diese Einbussen auch jetzt sein mögen, wo acht Staaten Europa’s jährlich die Summe von zwei bis drei Milliarden darauf verwenden –, sondern dadurch, dass Jahr aus Jahr ein die tüchtigsten, kräftigsten, arbeitsamsten Männer in ausserordentlicher Anzahl ihren eigentlichen Beschäftigungen und Berufen entzogen werden, um Soldaten zu sein : ebenso erleidet ein Volk, welches sich anschickt, grosse Politik zu treiben und unter den mächtigsten Staaten sich eine entscheidende Stimme zu sichern, seine grössten Einbussen nicht darin, worin man sie gewöhnlich fi ndet. Es ist wahr, dass es von diesem Zeitpuncte ab fortwährend eine Menge der hervor|ragendsten Talente auf dem „Altar des Vaterlandes“ oder der nationalen Ehrsucht opfert, während früher diesen Talenten, welche jetzt die Politik verschlingt, andere Wirkungskreise offen standen. Aber abseits von diesen öffentlichen Hekatomben, und im Grunde viel grauenhafter als diese, begiebt sich ein Schauspiel, welches fortwährend in hunderttausend Acten gleichzeitig sich abspielt : jeder tüchtige, arbeitsame, geistvolle‚ strebende Mensch eines solchen nach politischen Ruhmeskränzen lüsternen Volkes wird von dieser Lüsternheit beherrscht und gehört seiner eigenen Sache nicht mehr, wie früher, völlig an : die täglich neuen Fragen und Sorgen des öffentlichen Wohles verschlingen eine tägliche Abgabe von dem Kopf- und HerzCapitale jedes Bürgers : die Summe all dieser Opfer und Einbussen an individueller Energie und Arbeit ist so ungeheuer, dass das politische Auf blühen eines Volkes eine geistige Verarmung und Ermattung, eine geringere Leistungsfähigkeit zu Werken, welche grosse Concentration und Einseitigkeit verlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich zieht. Zuletzt darf man fragen : loh nt sich denn all diese Blüthe und Pracht des Ganzen (welche ja doch nur als Furcht der anderen Staaten

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vor dem neuen Coloss und als dem Auslande abgerungene Begünstigung der nationalen Handels- und Verkehrs-Wohlfahrt zu Tage tritt), wenn dieser groben und buntschillernden Blume der Nation alle die edleren, zarteren, geistigeren Pflanzen und Gewächse, an welchen ihr Boden bisher so reich war, zum Opfer gebracht werden müssen ? 482. Und noc h ma ls gesag t. – Oeffentliche Meinungen – private Faulheiten. |

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483. Fe i n d e d e r Wa h r h e i t . – Ueberzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit, als Lügen. 484. Ve r k e h r t e We lt . – Man kritisirt einen Denker schärfer, wenn er einen uns unangenehmen Satz hinstellt ; und doch wäre es vernünftiger, diess zu thun, wenn sein Satz uns angenehm ist. 485. C h a r a k t e r vol l . – Charaktervoll erscheint ein Mensch weit häufiger, weil er immer seinem Temperamente, als weil er immer seinen Principien folgt. 486. D a s E i ne, w a s Not h t hut . – Eins muss man haben : entweder einen von Natur leichten Sinn oder einen durch Kunst und Wissen erleichterten Sinn. 487. D ie L e id e n s c h a f t f ü r S ac he n . – Wer seine Leidenschaft auf Sachen (Wissenschaften, Staatswohl, Culturinteressen, Künste) richtet, entzieht seiner Leidenschaft für Personen viel Feuer (selbst wenn sie Vertreter jener Sachen sind, wie Staatsmänner, Philosophen, Künstler Vertreter ihrer Schöpfungen sind). | 488. D ie Ru he i n d e r T h at . – Wie ein Wasserfall im Sturz langsamer und schwebender wird, so pflegt der grosse Mensch

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der That mit me h r Ruhe zu handeln, als seine stürmische Begierde vor der That es erwarten liess. 489. N ic ht z u t ie f. – Personen, welche eine Sache in aller Tiefe erfassen, bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe an’s Licht gebracht : da giebt es immer viel Schlimmes zu sehen. 490. Wa h n d e r Id e a l i s t e n . – Alle Idealisten bilden sich ein, die Sachen, welchen sie dienen, seien wesentlich besser, als die anderen Sachen in der Welt, und wollen nicht glauben, dass wenn ihre Sache überhaupt gedeihen soll, sie genau des selben übel riechenden Düngers bedarf, welchen alle anderen menschlichen Unternehmungen nöthig haben. 491. S e l b s t b eo b ac ht u n g. – Der Mensch ist gegen sich selbst, gegen Auskundschaftung und Belagerung durch sich selber, sehr gut vertheidigt, er vermag gewöhnlich nicht mehr von sich, als seine Aussenwerke wahrzunehmen. Die eigentliche Festung ist ihm unzugänglich, selbst unsichtbar, es sei denn, dass Freunde und Feinde die Verräther machen und ihn selber auf geheimem Wege hineinführen. 492. D e r r ic ht i g e B e r u f. – Männer halten selten einen Beruf aus, von dem sie nicht glauben oder sich | einreden, er sei im Grunde wichtiger, als alle anderen. Ebenso geht es Frauen mit ihren Liebhabern. 493. A d e l d e r G e s i n nu n g. – Der Adel der Gesinnung besteht zu einem grossen Theil aus Gutmüthigkeit und Mangel an Misstrauen, und enthält also gerade Das, worüber sich die

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gewinnsüchtigen und erfolgreichen Menschen so gerne mit Ueberlegenheit und Spott ergehen. 494. Z ie l u nd We g e. – Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal eingeschlagenen Weg, Wenige in Bezug auf das Ziel. 495. Das Empörende a n ei ner i nd iv iduel len Leben sa r t. – Alle sehr individuellen Maassregeln des Lebens bringen die Menschen gegen Den, der sie ergreift, auf ; sie fühlen sich durch die aussergewöhnliche Behandlung, welche Jener sich angedeihen lässt, erniedrigt, als gewöhnliche Wesen. 496. Vor r e c ht d e r Gr ö s s e. – Es ist das Vorrecht der Grösse, mit geringen Gaben hoch zu beglücken. 497. U n w i l l k ü r l i c h vo r n e h m . – Der Mensch beträgt sich unwillkürlich vornehm, wenn er sich gewöhnt hat, von den Menschen Nichts zu wollen und ihnen immer zu geben. 498. B e d i n g u n g d e s He r o e nt hu m s . – Wenn Einer zum Helden werden will, so muss die Schlange vorher | zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm sein rechter Feind. 499. Fr eu nd . – Mitfreude, nicht Mitleiden‚ macht den Freund. 500. E b b e u nd F lut h z u b e nut z e n . – Man muss zum Zwecke der Erkenntniss jene innere Strömung zu benutzen wissen,

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welche uns zu einer Sache hinzieht und wiederum jene, welche uns nach einer Zeit von der Sache fortzieht. 501. Fr eu d e a n s ic h . – „Freude an der Sache“ so sagt man : aber in Wahrheit ist es Freude an sich vermittelst einer Sache. 502. D e r B e s c he id e ne. – Wer gegen Personen bescheiden ist, zeigt gegen Sachen (Stadt, Staat, Gesellschaft, Zeit, Menschheit) um so stärker seine Anmaassung. Das ist seine Rache. 503. N e i d u n d E i f e r s u c h t . – Neid und Eifersucht sind die Schamtheile der menschlichen Seele. Die Vergleichung kann vielleicht fortgesetzt werden. 504. Der vor neh m ste Heuc h ler. – Gar nicht von sich zu reden, ist eine sehr vornehme Heuchelei. 505. Ve r d r u s s . – Der Verdruss ist eine körperliche Krankheit, welche keineswegs dadurch schon gehoben ist, dass die Veranlassung zum Verdruss hinterdrein beseitigt wird. | 506. Ve r t r et e r d e r Wa h r he it . – Nicht wenn es gefährlich ist, die Wahrheit zu sagen, fi ndet sie am seltensten Vertreter, sondern wenn es langweilig ist. 507. B e s c hwe rl ic he r no c h , a l s Fe i nd e. – Die Personen, von deren sympathischem Verhalten wir nicht unter allen Um-

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ständen überzeugt sind, während uns irgend ein Grund (z. B. Dankbarkeit) verpflichtet, den Anschein der unbedingten Sympathie unsererseits aufrecht zu erhalten, quälen unsere Phantasie viel mehr, als unsere Feinde. 508. D ie f r e ie Nat u r. – Wir sind so gern in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat. 509. Jeder i n Ei ner Sac he überleg en. – In civilisirten Verhältnissen fühlt sich Jeder jedem Anderen in Einer Sache wenigstens überlegen : darauf beruht das allgemeine Wohlwollen, insofern Jeder einer ist, der unter Umständen helfen kann und desshalb sich ohne Scham helfen lassen darf. 510. Tr o s t g r ü nd e. – Bei einem Todesfall braucht man zumeist Trostgründe, nicht sowohl um die Gewalt des Schmerzes zu lindern, als um zu entschuldigen, dass man sich so leicht getröstet fühlt. 511. D ie Ueb e r z eu g u n g s t r eue n . – Wer viel zu thun hat, behält seine allgemeinen Ansichten und Standpuncte | fast unverändert bei. Ebenso Jeder, der im Dienst einer Idee arbeitet : er wird die Idee selber nie mehr prüfen, dazu hat er keine Zeit mehr ; ja es geht gegen sein Interesse, sie überhaupt noch für discutirbar zu halten. 512. Mor a l it ät u nd Q u a nt it ät . – Die höhere Moralität des einen Menschen, im Vergleich zu der eines anderen, liegt oft nur darin, dass die Ziele quantitativ grösser sind. Jenen zieht die Beschäftigung mit dem Kleinen, im engen Kreise, nieder.

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513. D a s L eb e n a l s E r t r a g d e s L eb e n s . – Der Mensch mag sich noch so weit mit seiner Erkenntniss ausrecken, sich selber noch so objectiv vorkommen : zuletzt trägt er doch Nichts davon, als seine eigene Biographie. 514. D ie e he r ne Not hwe nd i g k e it . – Die eherne Nothwendigkeit ist ein Ding, von dem die Menschen im Verlauf der Geschichte einsehen, dass es weder ehern noch nothwendig ist. 515. Au s d e r E r f a h r u n g. – Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen ihr Dasein, vielmehr eine Bedingung desselben. 516. Wa h r he it . – Niemand stirbt jetzt an tödtlichen Wahrheiten : es giebt zu viele Gegengifte. 517. G r u n d e i n s i c h t . – Es giebt keine prästabilirte Harmonie zwischen der Förderung der Wahrheit und dem Wohle der Menschheit. | 518. Me n s c he n lo o s . – Wer tiefer denkt, weiss, dass er immer Unrecht hat, er mag handeln und urtheilen, wie er will. 519. Wa h r he it a l s C i r c e. – Der Irrthum hat aus Thieren Menschen gemacht ; sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Thier zu machen ?

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520. G e f a h r u n s e r e r C u lt u r. – Wir gehören einer Zeit an, deren Cultur in Gefahr ist, an den Mitteln der Cultur zu Grunde zu gehen. 521. Gr ö s s e he i s s t : R ic ht u n g- g eb e n . – Kein Strom ist durch sich selber gross und reich : sondern dass er so viele Nebenflüsse aufnimmt und fortführt, das macht ihn dazu. So steht es auch mit allen Grössen des Geistes. Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung angiebt, welcher dann so viele Zuflüsse folgen müssen ; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist. 522. S c hw ac he s G ew i s s e n . – Menschen, welche von ihrer Bedeutung für die Menschheit sprechen, haben in Bezug auf gemeine bürgerliche Rechtlichkeit im Halten von Verträgen, Versprechungen, ein schwaches Gewissen. 523. G e l iebt s e i n wol le n . – Die Forderung, geliebt zu werden, ist die grösste der Anmaassungen. | 524. Me n s c he nve r ac ht u n g. – Das unzweideutigste Anzeichen von einer Geringschätzung der Menschen ist diess‚ dass man Jedermann nur als Mittel zu s e i ne m Zwecke oder gar nicht gelten lässt. 525. A n h ä n g e r au s W id e r s p r uc h . – Wer die Menschen zur Raserei gegen sich gebracht hat, hat sich immer auch eine Partei zu seinen Gunsten erworben.

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526. E rleb n i s s e ve r g e s s e n . – Wer viel denkt, und zwar sachlich denkt, vergisst leicht seine eigenen Erlebnisse, aber nicht so die Gedanken, welche durch jene hervorgerufen wurden. 527. Fe s t h a lt e n e i ne r Me i nu n g. – Der Eine hält eine Meinung fest, weil er sich Etwas darauf einbildet‚ von selbst auf sie gekommen zu sein, der Andere, weil er sie mit Mühe gelernt hat und stolz darauf ist, sie begriffen zu haben : Beide also aus Eitelkeit. 528. D a s L ic ht s c heue n . – Die gute That scheut ebenso ängstlich das Licht, als die böse That : diese fürchtet, durch das Bekanntwerden komme der Schmerz (als Strafe), jene fürchtet, durch das Bekanntwerden schwinde die Lust (jene reine Lust an sich selbst nämlich, welche sofort aufhört, sobald eine Befriedigung der Eitelkeit hinzutritt). 529. D ie L ä n g e d e s Ta g e s . – Wenn man viel hineinzustecken hat, so hat ein Tag hundert Taschen. | 530. Ty r a n ne n g e n ie. – Wenn in der Seele eine unbezwingliche Lust dazu rege ist, sich tyrannisch durchzusetzen, und das Feuer beständig unterhält, so wird selbst eine geringe Begabung (bei Politikern, Künstlern) allmählich zu einer fast unwiderstehlichen Naturgewalt. 531. D a s L eb e n d e s Fe i nd e s . – Wer davon lebt, einen Feind zu bekämpfen, hat ein Interesse daran, dass er am Leben bleibt.

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532. W ic ht i g e r. – Man nimmt die unerklärte undeutliche Sache wichtiger, als die erklärte helle. 533. A b s c h ät z u n g e r w ie s e ne r D ie n s t e. – Dienstleistungen, die uns Jemand erweist, schätzen wir nach dem Werthe, den Jener darauf legt, nicht nach dem, welchen sie für uns haben. 534. U n g l ü c k . – Die Auszeichnung, welche im Unglück liegt (als ob es ein Zeichen von Flachheit, Anspruchslosigkeit, Gewöhnlichkeit sei, sich glücklich zu fühlen), ist so gross, dass wenn Jemand Einem sagt : „Aber wie glücklich Sie sind !“ man gewöhnlich protestirt. 535. Ph a nt a s ie d e r A n g s t . – Die Phantasie der Angst ist jener böse äffische Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den Rücken springt, wenn er schon am schwersten zu tragen hat. | 536. We r t h a bg e s c h m ac k t e r G e g ne r. – Man bleibt mitunter einer Sache nur desshalb treu, weil ihre Gegner nicht aufhören, abgeschmackt zu sein. 537. We r t h e i n e s B e r u f e s . – Ein Beruf macht gedankenlos ; darin liegt sein grösster Segen. Denn er ist eine Schutzwehr, hinter welche man sich, wenn Bedenken und Sorgen allgemeiner Art Einen anfallen, erlaubtermaassen zurückziehen kann. 538. Ta le nt . – Das Talent manches Menschen erscheint geringer als es ist, weil er sich immer zu grosse Aufgaben gestellt hat.

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539. Ju g e nd . – Die Jugend ist unangenehm ; denn in ihr ist es nicht möglich oder nicht vernünftig, productiv zu sein, in irgend einem Sinne. 540. Zu g rosse Ziele. – Wer sich öffentlich grosse Ziele stellt und hinterdrein im Geheimen einsieht, dass er dazu zu schwach ist, hat gewöhnlich auch nicht Kraft genug, jene Ziele öffentlich zu widerrufen und wird dann unvermeidlich zum Heuchler. 541. I m St r ome. – Starke Wasser reissen viel Gestein und Gestrüpp mit sich fort, starke Geister viel dumme und verworrene Köpfe. 542. G e f a h r e n d e r g e i s t i g e n B e f r e iu n g. – Bei der ernstlich gemeinten geistigen Befreiung eines Menschen | hoffen im Stillen auch seine Leidenschaften und Begierden ihren Vortheil sich zu ersehen. 543. Ve r k ör p e r u n g d e s G e i s t e s . – Wenn Einer viel und klug denkt, so bekommt nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein Körper ein kluges Aussehen. 544. S c h lec ht s e he n u nd s c h lec ht hör e n . – Wer wenig sieht, sieht immer weniger ; wer schlecht hört, hört immer Einiges noch dazu. 545. S e l b s t g e nu s s i n d e r E it e l k e it . – Der Eitele will nicht sowohl hervorragen, als sich hervorragend fühlen, desshalb verschmäht er kein Mittel des Selbstbetruges und der Selbstüberlistung. Nicht die Meinung der Anderen, sondern seine Meinung von Deren Meinung liegt ihm am Herzen.

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546. Au s n a h m s we i s e e it e l . – Der für gewöhnlich Selbstgenugsame ist ausnahmsweise eitel und für Ruhm und Lobsprüche empfänglich, wenn er körperlich krank ist. In dem Maasse, in welchem er sich verliert, muss er sich aus fremder Meinung, von Aussen her, wieder zu gewinnen suchen. 547. D ie „G e i s t r e ic he n“. – Der hat keinen Geist, welcher den Geist sucht. 548. W i n k f ü r P a r t e i h äu p t e r. – Wenn man die Leute dazu treiben kann, sich öffentlich für Etwas zu erklären, so hat man sie meistens auch dazu gebracht, sich inner|lich dafür zu erklären ; sie wollen fürderhin als consequent erfunden werden. 549. Ve r ac ht u n g. – Die Verachtung durch Andere ist dem Menschen empfi ndlicher, als die durch sich selbst. 550. S c h nu r d e r D a n k b a r k e it . – Es giebt sclavische Seelen, welche die Erkenntlichkeit für erwiesene Wohlthaten so weit treiben, dass sie sich mit der Schnur der Dankbarkeit selbst erdrosseln. 551. K u n s t g r i f f d e s P r o p h e t e n . – Um die Handlungsweise gewöhnlicher Menschen im Voraus zu errathen, muss man annehmen, dass sie immer den mindesten Aufwand an Geist machen, um sich aus einer unangenehmen Lage zu befreien. 552. Das ei n zige Mensc hen rec ht. – Wer vom Herkömmlichen abweicht, ist das Opfer des Aussergewöhnlichen ; wer im Her-

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kömmlichen bleibt, ist der Sclave desselben. Zu Grunde gerichtet wird man auf jeden Fall. 553. Unt e r d a s T h ie r h i n a b. – Wenn der Mensch vor Lachen wiehert, übertriff t er alle Thiere durch seine Gemeinheit. 554. H a l b w i s s e n . – Der, welcher eine fremde Sprache wenig spricht, hat mehr Freude daran, als Der, welcher sie gut spricht. Das Vergnügen ist bei den Halbwissenden. | 555. G e f ä h rl ic he Hü l f b e r e it s c h a f t . – Es giebt Leute, welche das Leben den Menschen erschweren wollen, aus keinem andern Grunde, als um ihnen hinterdrein ihre Recepte zur Erleichterung des Lebens, zum Beispiel ihr Christenthum, anzubieten. 556. F le i s s u nd G ew i s s e n h a f t i g k e it . – Fleiss und Gewissenhaftigkeit sind oftmals dadurch Antagonisten, dass der Fleiss die Früchte sauer vom Baume nehmen will, die Gewissenhaftigkeit sie aber zu lange hängen lässt, bis sie herabfallen und sich zerschlagen. 557. Ve r d äc ht i g e n . – Menschen, welche man nicht leiden kann, sucht man sich zu verdächtigen. 558. D ie Um st ä nde feh len. – Viele Menschen warten ihr Leben lang auf die Gelegenheit, auf i h r e Art gut zu sein.

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559. M a n g e l a n Fr eu nd e n . – Der Mangel an Freunden lässt auf Neid oder Anmaassung schliessen. Mancher verdankt seine Freunde nur dem glücklichen Umstande, dass er keinen Anlass zum Neide hat. 560. G e f a h r i n d e r V ie l he it . – Mit einem Talente mehr steht man oft unsicherer, als mit einem weniger : wie der Tisch besser auf drei, als auf vier Füssen steht. | 561. D e n A nd er n z u m Vor bi ld . – Wer ein gutes Beispiel geben will, muss seiner Tugend einen Gran Narrheit zusetzen : dann ahmt man nach und erhebt sich zugleich über den Nachgeahmten, – was die Menschen lieben. 562. Z ie l s c he i b e s e i n . – Die bösen Reden Anderer über uns gelten oft nicht eigentlich uns, sondern sind die Aeusserungen eines Aergers, einer Verstimmung aus ganz anderen Gründen. 563. L e ic ht r e s i g n i r t . – Man leidet wenig an versagten Wünschen, wenn man seine Phantasie geübt hat, die Vergangenheit zu verhässlichen. 564. I n G e f a h r. – Man ist am Meisten in Gefahr, überfahren zu werden, wenn man eben einem Wagen ausgewichen ist. 565. Je nac h der St i m me d ie Rol le. – Wer gezwungen ist, lauter zu reden, als er gewohnt ist (etwa vor einem Halb-Tauben oder vor einem grossen Auditorium), übertreibt gewöhnlich die Dinge, welche er mitzutheilen hat. – Mancher wird zum

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Verschwörer, böswilligen Nachredner, Intriguanten, blos weil seine Stimme sich am besten zu einem Geflüster eignet. 566. L ieb e u nd H a s s . – Liebe und Hass sind nicht blind, aber geblendet vom Feuer, das sie selber mit sich tragen. | 567. M it Vor t he i l a n g e f e i nd et . – Menschen, welche der Welt ihre Verdienste nicht völlig deutlich machen können, suchen sich eine starke Feindschaft zu erwecken. Sie haben dann den Trost, zu denken, dass diese zwischen ihren Verdiensten und deren Anerkennung stehe – und dass mancher Andere das Selbe vermuthe : was sehr vortheilhaft für ihre Geltung ist. 568. B e ic ht e. – Man vergisst seine Schuld, wenn man sie einem Andern gebeichtet hat, aber gewöhnlich vergisst der Andere sie nicht. 569. S e l b s t g e nü g s a m k e i t . – Das goldene Vliess der Selbstgenügsamkeit schützt gegen Prügel, aber nicht gegen Nadelstiche. 570. S c h at t e n i n d e r F l a m me. – Die Flamme ist sich selber nicht so hell, als den Anderen, denen sie leuchtet : so auch der Weise. 571. E i g e ne Me i nu n g e n . – Die erste Meinung, welche uns einfällt, wenn wir plötzlich über eine Sache befragt werden, ist gewöhnlich nicht unsere eigene, sondern nur die landläufige, unserer Kaste, Stellung, Abkunft zugehörige ; die eigenen Meinungen schwimmen selten oben auf.

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572. H e r k u n f t d e s Mu t h e s . – Der gewöhnliche Mensch ist muthig und unverwundbar wie ein Held, wenn er die Gefahr nicht sieht, für sie keine Augen hat. Umgekehrt : der Held hat die einzig verwundbare Stelle auf dem Rücken, also dort, wo er keine Augen hat. | 573. Gefa h r i m A r z te. – Man muss für seinen Arzt geboren sein, sonst geht man an seinem Arzt zu Grunde. 574. Wu nd e rl ic he E it e l k e it . – Wer dreimal mit Dreistigkeit das Wetter prophezeit hat und Erfolg hatte, der glaubt im Grunde seiner Seele ein Wenig an seine Prophetengabe. Wir lassen das Wunderliche, Irrationelle gelten, wenn es unserer Selbstschätzung schmeichelt. 575. B e r u f. – Ein Beruf ist das Rückgrat des Lebens. 576. Gefa hr persön l ichen Ei n f lusses. – Wer fühlt, dass er auf einen Anderen einen grossen innerlichen Einfluss ausübt, muss ihm ganz freie Zügel lassen, ja gelegentliches Widerstreben gern sehen und selbst herbeiführen : sonst wird er unvermeidlich sich einen Feind machen. 577. D e n E r b e n g e lt e n l a s s e n . – Wer etwas Grosses in selbstloser Gesinnung begründet hat, sorgt dafür, sich Erben zu erziehen. Es ist das Zeichen einer tyrannischen und unedlen Natur, in allen möglichen Erben seines Werkes seine Gegner zu sehen und gegen sie im Stande der Nothwehr zu leben.

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578. H a l bw i s s e n . – Das Halbwissen ist siegreicher, als das Ganzwissen : es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung fasslicher und überzeugender. | 579. Nicht geeig net zum Parteiman n. – Wer viel denkt, eignet sich nicht zum Parteimann : er denkt sich zu bald durch die Partei hindurch. 580. S c h le c ht e s G e d äc ht n i s s . – Der Vortheil des schlechten Gedächtnisses ist, dass man die selben guten Dinge mehrere Male zum Ersten Male geniesst. 581. Sic h S c h me r z e n m ac he n . – Rücksichtslosigkeit des Denkens ist oft das Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung begehrt. 582. M ä r t y r e r. – Der Jünger eines Märtyrers leidet mehr, als der Märtyrer. 583. R ü c k s t ä n d i g e E it e l k e it . – Die Eitelkeit mancher Menschen, die es nicht nöthig hätten, eitel zu sein, ist die übriggebliebene und gross gewachsene Gewohnheit aus der Zeit her, wo sie noch kein Recht hatten, an sich zu glauben und diesen Glauben erst von Andern in kleiner Münze einbettelten. 584. P u nc t u m s a l ie n s d e r L e id e n s c h a f t . – Wer im Begriff ist, in Zorn oder in einen heftigen Liebesaffect zu gerathen, erreicht einen Punct, wo die Seele voll ist wie ein Gefäss : aber doch muss ein Wassertropfen noch hinzukommen, der gute

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Wille zur Leidenschaft (den man gewöhnlich auch den bösen nennt). Es ist nur diess Pünctchen nöthig, dann läuft das Gefäss über. | 585. G e d a n k e d e s Un mut he s . – Es ist mit den Menschen wie mit den Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die jungen Menschen ausgeglüht haben und verkohlt sind, gleich jenen, dann werden sie nüt z l ic h . So lange sie dampfen und rauchen, sind sie vielleicht interessanter, aber unnütz und gar zu häufig unbequem. – Die Menschheit verwendet schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen Maschinen : aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das heisst die Menschheit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten ? Maschinen, die sich selbst Zweck sind, – ist das die umana commedia ? 586. Vom St u nd e n z e i g e r d e s L eb e n s . – Das Leben besteht aus seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns besten Falls die Schattenbilder jener Momente umschweben. Die Liebe, der Frühling, jede schöne Melodie, das Gebirge, der Mond, das Meer – Alles redet nur einmal ganz zum Herzen : wenn es überhaupt je ganz zu Worte kommt. Denn viele Menschen haben jene Momente gar nicht und sind selber Intervalle und Pausen in der Symphonie des wirklichen Lebens. 587. A n g r e i f e n o d e r e i n g r e i f e n . – Wir machen häufig den Fehler, eine Richtung oder Partei oder Zeit lebhaft anzufeinden, weil wir zufällig nur ihre veräusserlichte Seite, ihre Verkümmerung oder die ihnen nothwendig anhaftenden „Fehler ihrer Tugenden“ zu sehen bekommen, – vielleicht weil wir selbst an diesen vornehmlich theilgenommen haben. Dann wenden wir ihnen | den Rücken und suchen eine entgegen-

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gesetzte Richtung ; aber das Bessere wäre, die starken guten Seiten aufzusuchen oder an sich selber auszubilden. Freilich gehört ein kräftigerer Blick und besserer Wille dazu, das Werdende und Unvollkommene zu fördern, als es in seiner Unvollkommenheit zu durchschauen und zu verleugnen. 588. B e s c h e i d e n h e i t . – Es giebt wahre Bescheidenheit (das heisst die Erkenntniss, dass wir nicht unsere eigenen Werke sind) ; und recht wohl geziemt sie dem grossen Geiste, weil gerade er den Gedanken der völligen Unverantwortlichkeit (auch für das Gute, was er schaff t) fassen kann. Die Unbescheidenheit des Grossen hasst man nicht, insofern er seine Kraft fühlt, sondern weil er seine Kraft dadurch erst erfahren will, dass er die Anderen verletzt, herrisch behandelt und zusieht, wie weit sie es aushalten. Gewöhnlich beweist diess sogar den Mangel an sicherem Gefühl der Kraft und macht somit die Menschen an seiner Grösse zweifeln. Insofern ist Unbescheidenheit vom Gesichtspuncte der Klugheit aus sehr zu widerrathen. 589. De s Ta g e s er ster G ed a n k e. – Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist : beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens einem Menschen an diesem Tage eine Freude machen könne. Wenn diess als ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes gelten dürfte, so hätten die Mitmenschen einen Vortheil bei dieser Aenderung. 590. A n m a a s s u n g a l s let z t e s Tr o s t m it t e l . – Wenn man ein Missgeschick, seinen intellectuellen Mangel, seine | Krankheit sich so zurecht legt, dass man hierin sein vorgezeichnetes Schicksal, seine Prüfung oder die geheimnissvolle Strafe für früher Begangenes sieht, so macht man sich sein eigenes

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Wesen dadurch interessant und erhebt sich in der Vorstellung über seine Mitmenschen. Der stolze Sünder ist eine bekannte Figur in allen kirchlichen Secten. 591. Ve g et at io n d e s G lüc k e s . – Dicht neben dem Wehe der Welt, und oft auf seinem vulcanischen Boden, hat der Mensch seine kleinen Gärten des Glückes angelegt ; ob man das Leben mit dem Blicke Dessen betrachtet, der vom Dasein Erkenntniss allein will, oder Dessen, der sich ergiebt und resignirt, oder Dessen, der an der überwundenen Schwierigkeit sich freut, – überall wird er etwas Glück neben dem Unheil aufgesprosst fi nden – und zwar um so mehr Glück, je vulcanischer der Boden war –, nur wäre es lächerlich, zu sagen, dass mit diesem Glück das Leiden selbst gerechtfertigt sei. 592. D ie St r a s s e d e r Vor f a h r e n . – Es ist vernünftig, wenn Jemand das Ta le nt , auf welches sein Vater oder Grossvater Mühe verwendet hat, an sich selbst weiter ausbildet und nicht zu etwas ganz Neuem umschlägt ; er nimmt sich sonst die Möglichkeit, zum Vollkommenen in irgend einem Handwerk zu gelangen. Desshalb sagt das Sprüchwort : „Welche Strasse sollst du reiten ? – die deiner Vorfahren.“ 593. E it e l k e it u nd E h r g e i z a l s E r z ie he r. – So lange Einer noch nicht zum Werkzeug des allge|meinen menschlichen Nutzens geworden ist, mag ihn der Ehrgeiz peinigen ; ist jenes Ziel aber erreicht, arbeitet er mit Nothwendigkeit wie eine Maschine zum Besten Aller, so mag dann die Eitelkeit kommen ; sie wird ihn im Kleinen vermenschlichen, geselliger, erträglicher, nachsichtiger machen, dann, wenn der Ehrgeiz die grobe Arbeit (ihn nützlich zu machen) an ihm vollendet hat.

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594. Ph i losoph ische Neu l i nge. – Hat man die Weisheit eines Philosophen eben eingenommen, so geht man durch die Strassen mit dem Gefühle, als sei man umgeschaffen und ein grosser Mann geworden ; denn man fi ndet lauter Solche, welche diese Weisheit nicht kennen, hat also über Alles eine neue unbekannte Entscheidung vorzutragen : weil man ein Gesetzbuch anerkennt, meint man jetzt auch sich als Richter gebärden zu müssen. 595. Durch Missfa l len gefa l len. – Die Menschen, welche lieber auffallen und dabei missfallen wollen, begehren das Selbe wie Die, welche nicht auffallen und gefallen wollen, nur in einem viel höheren Grade und indirect‚ vermittelst einer Stufe, durch welche sie sich scheinbar von ihrem Ziele entfernen. Sie wollen Einfluss und Macht, und zeigen desshalb ihre Ueberlegenheit, selbst so, dass sie unangenehm empfunden wird ; denn sie wissen, dass Der, welcher endlich zur Macht gelangt ist, fast in Allem was er thut und sagt, gefällt, und dass selbst, wo er missfällt, er doch noch zu gefallen scheint. – Auch der Freigeist, und ebenso der Gläubige, wollen Macht, um durch sie einmal zu gefallen ; wenn ihnen ihrer Lehre wegen ein übeles Schicksal, Verfolgung, Kerker, Hin|richtung, droht, so freuen sie sich des Gedankens, dass ihre Lehre auf diese Weise der Menschheit eingeritzt und eingebrannt wird ; sie nehmen es hin als ein schmerzhaftes, aber kräftiges, wenngleich spät wirkendes Mittel, um doch noch zur Macht zu gelangen. 596. C a s u s b e l l i u n d A e h n l ic h e s . – Der Fürst, welcher zu dem gefassten Entschlusse, Krieg mit dem Nachbar zu führen, einen casus belli ausfi ndig macht, gleicht dem Vater, der seinem Kinde eine Mutter unterschiebt, welche fürderhin als solche gelten soll. Und sind nicht fast alle öffentlich bekannt

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gemachten Motive unserer Handlungen solche untergeschobene Mütter ? 597. L e id e n s c h a f t u nd R ec ht . – Niemand spricht leidenschaftlicher von seinem Rechte, als Der, welcher im Grunde seiner Seele einen Zweifel an seinem Rechte hat. Indem er die Leidenschaft auf seine Seite zieht, will er den Verstand und dessen Zweifel betäuben : so gewinnt er das gute Gewissen und mit ihm den Erfolg bei den Mitmenschen. 598. K u n s t g r i f f d e s E nt s a g e nd e n . – Wer gegen die Ehe protestirt nach Art der katholischen Priester wird diese nach ihrer niedrigsten, gemeinsten Auffassung zu verstehen suchen. Ebenso wer die Ehre bei den Zeitgenossen von sich abweist, wird deren Begriff niedrig fassen ; so erleichtert er sich die Entbehrung und den Kampf dagegen. Uebrigens wird Der, welcher sich im Ganzen viel versagt, sich im Kleinen leicht Indulgenz geben. Es wäre möglich, dass Der, welcher über den | Beifall der Zeitgenossen erhaben ist, doch die Befriedigung kleiner Eitelkeiten sich nicht versagen will. 599. Lebensa lter der A nmaassung. – Zwischen dem sechsundzwanzigsten und dreissigsten Jahre liegt bei begabten Menschen die eigentliche Periode der Anmaassung ; es ist die Zeit der ersten Reife, mit einem starken Rest von Säuerlichkeit. Man fordert auf Grund dessen, was man in sich fühlt, von Menschen, welche Nichts oder wenig davon sehen, Ehre und Demüthigung, und rächt sich, weil diese zunächst ausbleiben, durch jenen Blick, jene Gebärde der Anmaassung, jenen Ton der Stimme, die ein feines Ohr und Auge an allen Productionen jenes Alters, seien es Gedichte, Philosophien, oder Bilder und Musik, wiedererkennt. Aeltere erfahrene Männer lächeln

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dazu und mit Rührung gedenken sie dieses schönen Lebensalters, in dem man böse über das Geschick ist, so viel zu s e i n und so wenig zu s c he i ne n . Später s c he i nt man wirklich mehr, – aber man hat den guten Glauben verloren, viel zu s e i n : man bleibe denn zeitlebens ein unverbesserlicher Narr der Eitelkeit. 600. Tr ü g e r i s c h u nd d o c h h a lt b a r. – Wie man, um an einem Abgrund vorbeizugehen oder einen tiefen Bach auf einem Balken zu überschreiten, eines Geländers bedarf, nicht um sich daran festzuhalten, – denn es würde sofort mit Einem zusammenbrechen, sondern um die Vorstellung der Sicherheit für das Auge zu erwerben, – so bedarf man als Jüngling solcher Personen, welche uns unbewusst den Dienst jenes Geländers erweisen ; es ist wahr, sie würden uns nicht helfen, wenn wir uns wirklich, in grosser | Gefahr, auf sie stützen wollten, aber sie geben die beruhigende Empfi ndung des Schutzes in der Nähe (zum Beispiel Väter, Lehrer, Freunde, wie sie, alle drei, gewöhnlich sind). 601. L ieben ler nen. – Man muss lieben lernen, gütig sein lernen, und diess von Jugend auf ; wenn Erziehung und Zufall uns keine Gelegenheit zur Uebung dieser Empfi ndungen geben, so wird unsere Seele trocken und selbst zu einem Verständnisse jener zarten Erfi ndungen liebevoller Menschen ungeeignet. Ebenso muss der Hass gelernt und genährt werden, wenn Einer ein tüchtiger Hasser werden will : sonst wird auch der Keim dazu allmählich absterben. 602. Die Rui ne a ls Schmuck. – Solche, die viele geistige Wandlungen durchmachen, behalten einige Ansichten und Gewohnheiten früherer Zustände bei, welche dann wie ein Stück unerklärlichen Alterthums und grauen Mauerwerks in

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ihr neues Denken und Handeln hineinragen : oft zur Zierde der ganzen Gegend. 603. L ieb e u nd E h r e. – Die Liebe begehrt, die Furcht meidet. Daran liegt es, dass man nicht zugleich von derselben Person wenigstens in dem selben Zeitraume, geliebt und geehrt werden kann. Denn der Ehrende erkennt die Macht an, das heisst er fürchtet sie : sein Zustand ist Ehr-furcht. Die Liebe aber erkennt keine Macht an, Nichts was trennt, abhebt, über- und unterordnet. Weil sie nicht ehrt, so sind ehrsüchtige Menschen insgeheim oder öffentlich gegen das Geliebtwerden widerspänstig. | 604. Vor u r t hei l f ü r d ie k a lten Men sc hen. – Menschen, welche rasch Feuer fangen, werden schnell kalt und sind daher im Ganzen unzuverlässig. Desshalb giebt es für alle Die, welche immer kalt sind oder sich so stellen, das günstige Vorurtheil, dass es besonders vertrauenswerthe zuverlässige Menschen seien : man verwechselt sie mit Denen, welche langsam Feuer fangen und es lange festhalten. 605. D a s G e f ä h rl ic he i n f r e ie n Me i nu n g e n . – Das leichte Befassen mit freien Meinungen giebt einen Reiz, wie eine Art Jucken ; giebt man ihm mehr nach, so fängt man an, die Stellen zu reiben ; bis zuletzt eine offene schmerzende Wunde entsteht, das heisst : bis die freie Meinung uns in unserer Lebensstellung, unsern menschlichen Beziehungen zu stören, zu quälen beginnt. 606. Beg ierde nac h t iefem Sc h mer z. – Die Leidenschaft lässt, wenn sie vorüber ist, eine dunkele Sehnsucht nach sich selber zurück und wirft im Verschwinden noch einen verführerischen Blick zu. Es muss doch eine Art von Lust gewährt

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haben, mit ihrer Geissel geschlagen worden zu sein. Die mässigeren Empfi ndungen erscheinen dagegen schaal ; man will, wie es scheint, die heftigere Unlust immer noch lieber als die matte Lust. 607. Un mut h über A ndere u nd d ie Welt. – Wenn wir, wie so häufig, unsern Unmuth an Anderen auslassen, während wir ihn eigentlich über uns empfi nden, erstreben | wir im Grunde eine Umnebelung und Täuschung unseres Urtheils : wir wollen diesen Unmuth a posteriori motiviren durch die Versehen, Mängel der Anderen und uns selber so aus den Augen verlieren. – Die religiös strengen Menschen, welche gegen sich selber unerbittliche Richter sind, haben zugleich am meisten Uebles der Menschheit überhaupt nachgesagt : ein Heiliger, welcher sich die Sünden und den Anderen die Tugenden vorbehält, hat nie gelebt : ebensowenig wie Jener, welcher nach Buddha’s Vorschrift sein Gutes vor den Leuten verbirgt und ihnen sein Böses allein sehen lässt. 608. Ur s ac he u nd W i r k u n g ve r we c h s e lt . – Wir suchen unbewusst die Grundsätze und Lehrmeinungen, welche unserem Temperamente angemessen sind, so dass es zuletzt so aussieht, als ob die Grundsätze und Lehrmeinungen unseren Charakter geschaffen, ihm haltvolle Sicherheit gegeben hätten : während es gerade umgekehrt zugegangen ist. Unser Denken und Urtheilen soll nachträglich, so scheint es, zur Ursache unseres Wesens gemacht werden : aber thatsächlich ist Unser Wesen die Ursache, dass wir so und so denken und urtheilen. – Und was bestimmt uns zu dieser fast unbewussten Komödie ? Die Trägheit und Bequemlichkeit und nicht am wenigsten der Wunsch der Eitelkeit, durch und durch als consistent, in Wesen und Denken einartig erfunden zu werden : denn diess erwirbt Achtung, giebt Vertrauen und Macht.

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609. L e b e n s a lt e r u n d Wa h r h e i t . – Junge Leute lieben das Interessante und Absonderliche, gleichgültig wie wahr oder falsch es ist. Reifere Geister lieben Das | an der Wahrheit, was an ihr interessant und absonderlich ist. Ausgereifte Köpfe endlich lieben die Wahrheit auch in Dem, wo sie schlicht und einfältig erscheint und dem gewöhnlichen Menschen Langeweile macht, weil sie gemerkt haben, dass die Wahrheit das Höchste an Geist, was sie besitzt, mit der Miene der Einfalt zu sagen pflegt. 610. D ie Me n sc he n a l s sc h lec hte D ic hter. – So wie schlechte Dichter im zweiten Theil des Verses zum Reime den Gedanken suchen, so pflegen die Menschen in der zweiten Hälfte des Lebens, ängstlicher geworden, die Handlungen, Stellungen, Verhältnisse zu suchen, welche zu denen ihres früheren Lebens passen, so dass äusserlich Alles wohl zusammenklingt : aber ihr Leben ist nicht mehr von einem starken Gedanken beherrscht und immer wieder neu bestimmt, sondern an die Stelle desselben tritt die Absicht, einen Reim zu fi nden. 611. L a n g ewe i le u nd S p ie l . – Das Bedürfniss zwingt uns zur Arbeit, mit deren Ertrage das Bedürfniss gestillt wird ; das immer neue Erwachen der Bedürfnisse gewöhnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber, in welchen die Bedürfnisse gestillt sind und gleichsam schlafen, überfällt uns die Langeweile. Was ist diese ? Es ist die Gewöhnung an Arbeit überhaupt, welche sich jetzt als neues, hinzukommendes Bedürfniss geltend macht ; sie wird um so stärker sein, je stärker Jemand gewöhnt ist zu arbeiten, vielleicht sogar je stärker Jemand an Bedürfnissen gelitten hat. Um der Langeweile zu entgehen, arbeitet der Mensch entweder über das Maass seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus oder er er|fi ndet das Spiel, das heisst

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die Arbeit, welche kein anderes Bedürfniss stillen soll, als das nach Arbeit überhaupt. Wer des Spieles überdrüssig geworden ist und durch neue Bedürfnisse keinen Grund zur Arbeit hat, den überfällt mitunter das Verlangen nach einem dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält, wie Schweben zum Tanzen, wie Tanzen zum Gehen, nach einer seligen, ruhigen Bewegtheit : es ist die Vision der Künstler und Philosophen von dem Glück. 612. L eh r e au s Bi lder n. – Betrachtet man eine Reihe Bilder von sich selber, von den Zeiten der letzten Kindheit bis zu der der Mannesreife, so fi ndet man mit einer angenehmen Verwunderung, dass der Mann dem Kinde ähnlicher sieht, als der Mann dem Jünglinge : dass also, wahrscheinlich diesem Vorgange entsprechend, inzwischen eine zeitweilige Alienation vom Grundcharakter eingetreten ist, über welche die gesammelte, geballte Kraft des Mannes wieder Herr wurde. Dieser Wahrnehmung entspricht die andere, dass alle die starken Einwirkungen von Leidenschaften, Lehrern, politischen Ereignissen, welche in dem Jünglingsalter uns herumziehen, später wieder auf ein festes Maass zurückgeführt erscheinen : gewiss, sie leben und wirken in uns fort, aber das Grundempfi nden und Grundmeinen hat doch die Uebermacht und benutzt sie wohl als Kraftquellen, nicht aber mehr als Regulatoren, wie diess wohl in den zwanziger Jahren geschieht. So erscheint auch das Denken und Empfi nden des Mannes dem seines kindlichen Lebensalters wieder gemässer, – und diese innere Thatsache spricht sich in der erwähnten äusseren aus. | 613. Stimmk lang der Lebensalter. – Der Ton, in dem Jünglinge reden, loben, tadeln, dichten, missfällt dem Aeltergewordenen, weil er zu laut ist und zwar zugleich dumpf und undeutlich wie der Ton in einem Gewölbe, der durch die Leerheit

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eine solche Schallkraft bekommt ; denn das Meiste, was Jünglinge denken, ist nicht aus der Fülle ihrer eigenen Natur herausgeströmt, sondern ist Anklang, Nachklang von dem, was in ihrer Nähe gedacht, geredet, gelobt, getadelt worden ist. Weil aber die Empfi ndungen (der Neigung und Abneigung) viel stärker, als die Gründe für jene, in ihnen nachklingen, so entsteht, wenn sie ihre Empfi ndung wieder laut werden lassen, jener dumpfe, hallende Ton, welcher für die Abwesenheit oder die Spärlichkeit von Gründen das Kennzeichen abgiebt. Der Ton des reiferen Alters ist streng, kurz abgebrochen, mässig laut, aber, wie alles deutlich Articulirte, sehr weit tragend. Das Alter endlich bringt häufig eine gewisse Milde und Nachsicht in den Klang und verzuckert ihn gleichsam : in manchen Fällen freilich versäuert sie ihn auch. 614. Zu r üc k gebl iebene u nd vor weg neh mende Mens c he n . – Der unangenehme Charakter, welcher voller Misstrauen ist, alles glückliche Gelingen der Mitbewerbenden und Nächsten mit Neid fühlt, gegen abweichende Meinungen gewaltthätig und auf brausend ist, zeigt, dass er einer früheren Stufe der Cultur zugehört, also ein Ueberbleibsel ist : denn die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und zutreffende für die Zustände eines Faustrecht-Zeitalters ; es ist ein z u r üc k g ebl ieb e ne r Mensch. Ein anderer Charakter, | welcher reich an Mitfreude ist, überall Freunde gewinnt, alles Wachsende und Werdende liebevoll empfi ndet, alle Ehren und Erfolge Anderer mitgeniesst und kein Vorrecht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt, sondern voll eines bescheidenen Misstrauens ist, – das ist ein vorwegnehmender Mensch, welcher einer höheren Cultur der Menschen entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, wo die rohen Fundamente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren, der andere lebt auf deren höch-

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sten Stockwerken, möglichst entfernt von dem wilden Thier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der Cultur‚ eingeschlossen wüthet und heult. 615. Tr o s t f ü r Hy p o c hond e r. – Wenn ein grosser Denker zeitweilig hypochondrischen Selbstquälereien unterworfen ist, so mag er sich zum Troste sagen : „es ist deine eigene grosse Kraft, von der dieser Parasit sich nährt und wächst ; wäre sie geringer, so würdest du weniger zu leiden haben.“ Ebenso mag der Staatsmann sprechen, wenn Eifersucht und Rachegefühl, überhaupt die Stimmung des bellum omnium contra omnes, zu der er als Vertreter einer Nation nothwendig eine starke Begabung haben muss, sich gelegentlich auch in seine persönlichen Beziehungen eindrängt und ihm das Leben schwer macht. 616. D e r G e g e nw a r t e nt f r e md et . – Es hat grosse Vortheile, seiner Zeit sich einmal in stärkerem Maasse zu entfremden und gleichsam von ihrem Ufer zurück in den Ocean der vergangenen Weltbetrachtungen getrieben zu werden. Von dort aus nach der Küste zu | blickend, überschaut man wohl zum ersten Male ihre gesammte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr wieder nähert, den Vortheil, sie besser im Ganzen zu verstehen, als Die, welche sie nie verlassen haben. 617. Au f p e r s ö n l ic he n M ä n g e l n s äe n u nd e r nt e n . – Menschen wie Rousseau verstehen es, ihre Schwächen, Lücken, Laster gleichsam als Dünger ihres Talentes zu benutzen. Wenn Jener die Verdorbenheit und Entartung der Gesellschaft als leidige Folge der Cultur beklagt, so liegt hier eine persönliche Erfahrung zu Grunde ; deren Bitterkeit giebt ihm die Schärfe seiner allgemeinen Verurtheilung und vergiftet

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die Pfeile, mit denen er schiesst ; er entlastet sich zunächst als ein Individuum und denkt ein Heilmittel zu suchen, das direct der Gesellschaft, aber indirect und vermittelst jener, auch ihm zu Nutze ist. 618. Ph i lo s o ph i s c h g e s i n nt s e i n . – Gewöhnlich strebt man darnach, für alle Lebenslagen und Ereignisse e i ne Haltung des Gemüthes, e i ne Gattung von Ansichten zu erwerben, – das nennt man vornehmlich philosophisch gesinnt sein. Aber für die Bereicherung der Erkenntniss mag es höheren Werth haben, nicht in dieser Weise sich zu uniformiren, sondern auf die leise Stimme der verschiedenen Lebenslagen zu hören ; diese bringen ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man erkennenden Antheil am Leben und Wesen Vieler, indem man sich selber nicht als starres, beständiges, Eines Individuum behandelt. | 619. I m Feue r d e r Ve r ac ht u n g. – Es ist ein neuer Schritt zum Selbständigwerden, wenn man erst Ansichten zu äussern wagt, die als schmählich für Den gelten, welcher sie hegt ; da pflegen auch die Freunde und Bekannten ängstlich zu werden. Auch durch dieses Feuer muss die begabte Natur hindurch ; sie gehört sich hinterdrein noch vielmehr selber an. 620. Au f o pf e r u n g. – Die grosse Aufopferung wird, im Falle der Wahl, einer kleinen Aufopferung vorgezogen : weil wir für die grosse uns durch Selbstbewunderung entschädigen, was uns bei der kleinen nicht möglich ist. 621. Liebe a ls Ku nstg r i f f. – Wer etwas Neues wirklich k e n ne n lernen will (sei es ein Mensch, ein Ereigniss, ein Buch), der thut gut, dieses Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von

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Allem, was ihm daran feindlich, anstössig, falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja es zu vergessen : so dass man zum Beispiel dem Autor eines Buches den grössten Vorsprung giebt und geradezu, wie bei einem Wettrennen, mit klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit diesem Verfahren dringt man nämlich der neuen Sache bis an ihr Herz, bis an ihren bewegenden Punct : und diess heisst eben sie kennen lernen. Ist man soweit, so macht der Verstand hinterdrein seine Restrictionen ; jene Ueberschätzung, jenes zeitweilige Aushängen des kritischen Pendels war eben nur der Kunstgriff, die Seele einer Sache herauszulocken. | 622. Zu g ut u nd z u s c h lec ht vo n d e r We lt d e n k e n . – Ob man zu gut oder zu schlecht von den Dingen denkt, man hat immer den Vortheil dabei, eine höhere Lust einzuernten : denn bei einer vorgefassten zu guten Meinung legen wir gewöhnlich mehr Süssigkeit in die Dinge (Erlebnisse) hinein, als sie eigentlich enthalten. Eine vorgefasste zu schlechte Meinung verursacht eine angenehme Enttäuschung : das Angenehme, das an sich in den Dingen lag, bekommt einen Zuwachs durch das Angenehme der Ueberraschung. – Ein fi nsteres Temperament wird übrigens in beiden Fällen die umgekehrte Erfahrung machen. 623. Tie f e Me n s c he n . – Diejenigen, welche ihre Stärke in der Vertiefung der Eindrücke haben – man nennt sie gewöhnlich tiefe Menschen – sind bei allem Plötzlichen verhältnissmässig gefasst und entschlossen : denn im ersten Augenblick war der Eindruck noch flach, er w i r d dann erst tief. Lange vorhergesehene, erwartete Dinge oder Personen regen aber solche Naturen am meisten auf und machen sie fast unfähig, bei der endlichen Ankunft derselben noch Gegenwärtigkeit des Geistes zu haben.

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624. Ve rk e h r m it d e m höhe r e n S e l b s t . – Ein Jeder hat seinen guten Tag, wo er sein höheres Selbst fi ndet ; und die wahre Humanität verlangt, Jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der Unfreiheit und Knechtung zu schätzen. Man soll zum Beispiel einen Maler nach seiner höchsten Vision, die er zu sehen und darzustellen vermochte, taxiren und ver|ehren. Aber die Menschen selber verkehren sehr verschieden mit diesem ihrem höheren Selbst und sind häufig ihre eigenen Schauspieler, insofern sie Das, was sie in jenen Augenblicken sind, später immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demuth vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen : sie fürchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine geisterhafte Freiheit zu kommen und fortzubleiben wie es will ; es wird desswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich alles Andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist : jenes aber ist der Mensch selber. 625. E i n s a me Me n s c he n . – Manche Menschen sind so sehr an das Alleinsein mit sich selber gewöhnt, dass sie sich gar nicht mit Anderen vergleichen, sondern in einer ruhigen, freudigen Stimmung, unter guten Gesprächen mit sich, ja mit Lachen ihr monologisches Leben fortspinnen. Bringt man sie aber dazu, sich mit Anderen zu vergleichen, so neigen sie zu einer grübelnden Unterschätzung ihrer selbst : so dass sie gezwungen werden müssen, eine gute, gerechte Meinung über sich erst von Anderen wieder zu le r n e n : und auch von dieser erlernten Meinung werden sie immer wieder Etwas abziehen und abhandeln wollen. – Man muss also gewissen Menschen ihr Alleinsein gönnen und nicht so albern sein, wie es häufig geschieht, sie desswegen zu bedauern.

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626. Oh ne Me lo d ie. – Es giebt Menschen, denen ein stätiges Beruhen in sich selbst und ein harmonisches Sich-zurecht-legen aller ihrer Fähigkeiten so zu eigen | ist, dass ihnen jede zielesetzende Thätigkeit widerstrebt. Sie gleichen einer Musik, welche aus lauter langgezogenen harmonischen Accorden besteht, ohne dass je auch nur der Ansatz zu einer gegliederten bewegten Melodie sich zeigte. Alle Bewegung von Aussen her dient nur, dem Kahne sofort wieder sein neues Gleichgewicht auf dem See harmonischen Wohlklangs zu geben. Moderne Menschen werden gewöhnlich auf ’s Aeusserste ungeduldig, wenn sie solchen Naturen begegnen, aus denen Nichts w i r d , ohne dass man von ihnen sagen dürfte, dass sie Nichts s i nd . Aber in einzelnen Stimmungen erregt ihr Anblick jene ungewöhnliche Frage : wozu überhaupt Melodie ? Warum genügt es uns nicht, wenn das Leben sich ruhevoll in einem tiefen See spiegelt ? – Das Mittelalter war reicher an solchen Naturen als unsere Zeit. Wie selten triff t man noch auf einen, der so recht friedlich und froh mit sich auch im Gedränge fortleben kann, zu sich redend wie Goethe : „das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse, und gewinne, was sie mit Feuer und Schwert nicht nehmen können.“ 627. L e b e n u n d E r le b e n . – Sieht man zu, wie Einzelne mit ihren Erlebnissen – ihren unbedeutenden alltäglichen Erlebnissen – umzugehen wissen, so dass diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres Frucht trägt ; während Andere – und wie Viele ! – durch den Wogenschlag der aufregendsten Schicksale, der mannigfaltigsten Zeit- und Volksströmungen hindurchgetrieben werden und doch immer leicht, immer obenauf, wie Kork, bleiben : so ist man endlich versucht, die Menschheit in eine Minorität (Minimalität) Solcher einzutheilen, welche aus Wenigem Viel zu machen

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ver|stehen : und in eine Majorität Derer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen ; ja man triff t auf jene umgekehrten Hexenmeister, welche, anstatt die Welt aus Nichts, aus der Welt ein Nichts schaffen. 628. E r n s t i m S p ie le. – In Genua hörte ich zur Zeit der Abenddämmerung von einem Thurme her ein langes Glockenspiel : das wollte nicht enden und klang, wie unersättlich an sich selber, über das Geräusch der Gassen in den Abendhimmel und die Meerluft hinaus, so schauerlich, so kindisch zugleich, so wehmuthsvoll. Da gedachte ich der Worte Plato’s und fühlte sie auf einmal im Herzen : a l le s Me n s c h l ic he i n s g e s a m mt i s t d e s g r o s s e n E r n s t e s n ic ht we r t h ; t r ot z d e m – – 629. Vo n d e r Ueb e r z e u g u n g u nd d e r G e r e c ht i g k e it . – Das, was der Mensch in der Leidenschaft sagt, verspricht, beschliesst, nachher in Kälte und Nüchternheit zu vertreten – diese Forderung gehört zu den schwersten Lasten, welche die Menschheit drücken. Die Folgen des Zornes, der aufflammenden Rache, der begeisterten Hingebung in alle Zukunft hin anerkennen zu müssen – das kann zu einer um so grösseren Erbitterung gegen diese Empfi ndungen reizen, je mehr gerade mit ihnen allerwärts und namentlich von den Künstlern ein Götzendienst getrieben wird. Diese züchten die S c h ät z u n g d e r L e id e n s c h a f t e n gross und haben es immer gethan ; freilich verherrlichen sie auch die furchtbaren Genugthuungen der Leidenschaft, welche Einer an sich selber nimmt, jene Racheausbrüche mit Tod, Verstümmelung, freiwilliger Verbannung im Gefolge, und jene Resignation des zer|brochnen Herzens. Jedenfalls : halten sie die Neugierde nach den Leidenschaften wach, es ist, als ob sie sagen wollten : ihr habt ohne Leidenschaften gar Nichts erlebt. – Weil man Treue geschworen, vielleicht gar einem rein fi ngirten Wesen, wie

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einem Gotte, weil man sein Herz hingegeben hat, einem Fürsten, einer Partei, einem Weibe, einem priesterlichen Orden, einem Künstler, einem Denker, im Zustande eines verblendeten Wahnes, welcher Entzückung über uns legte und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes Opfers würdig erscheinen liess – ist man nun unentrinnbar fest gebunden ? Ja haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen ? War es nicht ein hypothetisches Versprechen, unter der freilich nicht laut gewordenen Voraussetzung, dass jene Wesen, denen wir uns weihten wirklich die Wesen sind, als welche sie in unserer Vorstellung erschienen ? Sind wir verpfl ichtet, unsern Irrthümern treu zu sein, selbst mit der Einsicht, dass wir durch diese Treue an unserem höheren Selbst Schaden stiften ? – Nein, es giebt kein Gesetz, keine Verpfl ichtung der Art ; wir mü s s e n Verräther werden, Untreue üben, unsere Ideale immer wieder preisgeben. Aus einer Periode des Lebens in die andere schreiten wir nicht, ohne diese Schmerzen des Verrathes zu machen und auch daran wieder zu leiden. Wäre es nöthig, dass wir uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen unserer Empfi ndung hüten müssten ? Würde dann die Welt nicht zu öde, zu gespenstisch für uns werden ? Vielmehr wollen wir uns fragen, ob diese Schmerzen bei einem Wechsel der Ueberzeugung not hwe nd i g sind oder ob sie nicht von einer i r r t hü m l ic he n Meinung und Schätzung abhängen. Warum bewundert man Den, welcher seiner Ueberzeugung treu bleibt, und verachtet Den, welcher sie wechselt ? Ich fürchte, die Antwort | muss sein : weil Jedermann voraussetzt, dass nur Motive gemeineren Vortheils oder persönlicher Angst einen solchen Wechsel veranlassen. Das heisst : man glaubt im Grunde, dass Niemand seine Meinungen verändert, so lange sie ihm vortheilhaft sind, oder wenigstens so lange sie ihm keinen Schaden bringen. Steht es aber so, so liegt darin ein schlimmes Zeugniss über die i nt e l le c t ue l le Bedeutung aller Ueberzeugungen. Prüfen wir einmal, wie Ueberzeugungen entste-

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hen, und sehen wir zu, ob sie nicht bei Weitem überschätzt werden : dabei wird sich ergeben, dass auch der We c h s e l von Ueberzeugungen unter allen Umständen nach falschem Maasse bemessen wird und dass wir bisher zu viel an diesem Wechsel zu leiden pflegten. 630. Ueberzeugung ist der Glaube, in irgend einem Puncte der Erkenntniss im Besitze der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es unbedingte Wahrheiten gebe ; ebenfalls, dass jene vollkommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen ; endlich, dass Jeder, der Ueberzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Ueberzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist ; er steht im Alter der theoretischen Unschuld vor uns und ist ein Kind, wie erwachsen er auch sonst sein möge. Ganze Jahrtausende aber haben in jenen kindlichen Voraussetzungen gelebt und aus ihnen sind die mächtigsten Kraftquellen der Menschheit herausgeströmt. Jene zahllosen Menschen, welche sich für ihre Ueberzeugungen opferten, meinten es für die unbedingte Wahrheit zu thun. Sie alle hatten Unrecht darin : wahrscheinlich hat noch nie ein Mensch sich für die Wahrheit geopfert ; | mindestens wird der dogmatische Ausdruck seines Glaubens unwissenschaftlich oder halbwissenschaftlich gewesen sein. Aber eigentlich wollte man Recht behalten, weil man meinte Recht haben zu mü s s e n . Seinen Glauben sich entreissen lassen, das bedeutete vielleicht seine ewige Seligkeit in Frage stellen. Bei einer Angelegenheit von dieser äussersten Wichtigkeit war der „Wille“ gar zu hörbar der Souffleur des Intellects. Die Voraussetzung jedes Gläubigen jeder Richtung war, nicht widerlegt werden zu k ö n ne n ; erwiesen sich die Gegengründe als sehr stark, so blieb ihm immer noch übrig, die Vernunft

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überhaupt zu verlästern und vielleicht gar das „credo quia absurdum est“ als Fahne des äussersten Fanatismus aufzupflanzen. Es ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die Geschichte so gewaltthätig gemacht hat, sondern der Kampf des Glaubens an die Meinungen, das heisst der Ueberzeugungen. Wenn doch alle Die, welche so gross von ihrer Ueberzeugung dachten, Opfer aller Art ihr brachten und Ehre, Leib und Leben in ihrem Dienste nicht schonten, nur die Hälfte ihrer Kraft der Untersuchung gewidmet hätten, mit welchem Rechte sie an dieser oder jener Ueberzeugung hiengen, auf welchem Wege sie zu ihr gekommen seien : wie friedfertig sähe die Geschichte der Menschheit aus ! Wieviel mehr des Erkannten würde es geben ! Alle die grausamen Scenen bei der Verfolgung der Ketzer jeder Art wären uns aus zwei Gründen erspart geblieben : einmal weil die Inquisitoren vor Allem in sich selbst inquirirt hätten und über die Anmaassung, die unbedingte Wahrheit zu vertheidigen, hinausgekommen wären ; sodann weil die Ketzer selber so schlecht begründeten Sätzen, wie die Sätze aller religiösen Sectirer und „Rechtgläubigen“ sind, keine weitere Theilnahme geschenkt haben würden, nachdem sie dieselben untersucht hätten. | 631. Aus den Zeiten her, in welchen die Menschen daran gewöhnt waren, an den Besitz der unbedingten Wahrheit zu glauben, stammt ein tiefes M i s s b e h a g e n an allen skeptischen und relativistischen Stellungen zu irgendwelchen Fragen der Erkenntniss ; man zieht meistens vor, sich einer Ueberzeugung, welche Personen von Autorität haben (Väter, Freunde, Lehrer, Fürsten) auf Gnade oder Ungnade zu ergeben, und hat, wenn man diess nicht thut‚ eine Art von Gewissensbissen. Dieser Hang ist ganz begreifl ich und seine Folgen geben kein Recht zu heftigen Vorwürfen gegen die Entwickelung der menschlichen Vernunft. Allmählich muss aber der wissen-

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schaftliche Geist im Menschen jene Tugend der vor s ic ht i g e n E nt h a lt u n g zeitigen, jene weise Mässigung, welche im Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist, als im Gebiet des theoretischen Lebens, und welche zum Beispiel Goethe im Antonio dargestellt hat, als ein Gegenstand der Erbitterung für alle Tasso’s, das heisst für die unwissenschaftlichen und zugleich thatlosen Naturen. Der Mensch der Ueberzeugung hat in sich ein Recht, jenen Menschen des vorsichtigen Denkens, den theoretischen Antonio nicht zu begreifen ; der wissenschaftliche Mensch hinwiederum hat kein Recht, jenen desshalb zu tadeln, er übersieht ihn und weiss ausserdem, im bestimmten Falle, dass Jener sich an ihn noch anklammern wird, so wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut. 632. Wer nicht durch verschiedene Ueberzeugungen hindurchgegangen ist, sondern in dem Glauben hängen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst verfieng, ist unter allen Umständen eben wegen dieser Unwandelbarkeit | ein Vertreter z u r üc kg ebl ieb e ne r Culturen ; er ist gemäss diesem Mangel an Bildung (welche immer Bildbarkeit voraussetzt) hart, unverständig, unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Verdächtiger, ein Unbedenklicher, der zu allen Mitteln greift, seine Meinung durchzusetzen, weil er gar nicht begreifen kann, dass es andere Meinungen geben müsse ; er ist, in solchem Betracht, vielleicht eine Kraftquelle und in allzu frei und schlaff gewordenen Culturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er kräftig anreizt, ihm Widerpart zu halten : denn dabei wird das zartere Gebilde der neuen Cultur, welche zum Kampf mit ihm gezwungen ist, selber stark. 633. Wir sind im Wesentlichen noch dieselben Menschen, wie die des Zeitalters der Reformation : wie sollte es auch anders sein ?

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Aber dass wir uns einige Mittel nicht mehr erlauben, um mit ihnen unsrer Meinung zum Siege zu verhelfen, das hebt uns gegen jene Zeit ab und beweist, dass wir einer höhern Cultur angehören. Wer jetzt noch, in der Art der ReformationsMenschen, Meinungen mit Verdächtigungen, mit Wuthausbrüchen bekämpft und niederwirft, verräth deutlich, dass er seine Gegner verbrannt haben würde, falls er in anderen Zeiten gelebt hätte, und dass er zu allen Mitteln der Inquisition seine Zuflucht genommen haben würde, wenn er als Gegner der Reformation gelebt hätte. Diese Inquisition war damals vernünftig, denn sie bedeutete nichts Anderes, als den allgemeinen Belagerungszustand, welcher über den ganzen Bereich der Kirche verhängt werden musste, und der, wie jeder Belagerungszustand, zu den äussersten Mitteln berechtigte, unter der Voraussetzung nämlich (welche wir jetzt nicht mehr mit jenen | Menschen theilen), dass man die Wahrheit, in der Kirche, h ab e, und um jeden Preis mit jedem Opfer zum Heile der Menschheit bewahren mü s s e. Jetzt aber giebt man Niemandem so leicht mehr zu, dass er die Wahrheit habe : die strengen Methoden der Forschung haben genug Misstrauen und Vorsicht verbreitet, so dass Jeder, welcher gewaltthätig in Wort und Werk Meinungen vertritt, als ein Feind unserer jetzigen Cultur, mindestens als ein zurückgebliebener empfunden wird. In der That : das Pathos, dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im Verhältniss zu jenem freilich milderen und klangloseren Pathos des Wahrheit-Suchens, welches nicht müde wird, umzulernen und neu zu prüfen. 634. Uebrigens ist das methodische Suchen der Wahrheit selber das Resultat jener Zeiten, in denen die Ueberzeugungen mit einander in Fehde lagen. Wenn nicht dem Einzelnen an s e i ne r „Wahrheit“, das heisst an seinem Rechtbehalten gelegen hätte, so gebe es überhaupt keine Methode der Forschung ;

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so aber, bei dem ewigen Kampfe der Ansprüche verschiedener Einzelner auf unbedingte Wahrheit, gieng man Schritt vor Schritt weiter, um unumstössliche Prinzipien zu fi nden, nach denen das Recht der Ansprüche geprüft und der Streit geschlichtet werden könne. Zuerst entschied man nach Autoritäten, später kritisirte man sich gegenseitig die Wege und Mittel, mit denen die angebliche Wahrheit gefunden worden war ; dazwischen gab es eine Periode, wo man die Consequenzen des gegnerischen Satzes zog und vielleicht sie als schädlich und unglücklich machend erfand : woraus dann sich für Jedermanns Ur theil ergeben sollte, dass die Ueberzeugung des Geg|ners einen Irrthum enthalte. D e r p e r s ö n l i c h e K a m p f d e r D e n k e r hat schliesslich die Methoden so verschärft, dass wirklich Wahrheiten entdeckt werden konnten und dass die Irrgänge früherer Methoden vor Jedermanns Blicken blosgelegt sind. 635. Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden mindestens ein ebenso wichtiges Ergebniss der Forschung als irgend ein sonstiges Resultat : denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche Geist, und alle Resultate der Wissenschaft könnten, wenn jene Methoden verloren giengen, ein erneutes Ueberhandnehmen des Aberglaubens und des Unsinns nicht verhindern. Es mögen geistreiche Leute von den Ergebnissen der Wissenschaft le r ne n so viel sie wollen : man merkt es immer noch ihrem Gespräche und namentlich den Hypothesen in demselben an, dass ihnen der wissenschaftliche Geist fehlt : sie haben nicht jenes instinctive Misstrauen gegen die Abwege des Denkens, welches in der Seele jedes wissenschaftlichen Menschen in Folge langer Uebung seine Wurzeln eingeschlagen hat. Ihnen genügt es, über eine Sache überhaupt irgendeine Hypothese zu fi nden, dann sind sie Feuer und Flamme für dieselbe und meinen, damit sei es gethan. Eine Meinung haben heisst bei ihnen schon : dafür sich

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fanatisiren und sie als Ueberzeugung fürderhin sich an’s Herz legen. Sie erhitzen sich bei einer unerklärten Sache für den ersten Einfall ihres Kopfes, der einer Erklärung derselben ähnlich sieht : woraus sich, namentlich auf dem Gebiete der Politik, fortwährend die schlimmsten Folgen ergeben. – Desshalb sollte jetzt Jedermann mindestens e i n e Wissenschaft von Grund | aus kennen gelernt haben : dann weiss er doch, was Methode heisst und wie nöthig die äusserste Besonnenheit ist. Namentlich ist den Frauen dieser Rath zu geben ; als welche jetzt rettungslos die Opfer aller Hypothesen sind, zumal wenn diese den Eindruck des Geistreichen‚ Hinreissenden, Belebenden, Kräftigenden machen. Ja bei genauerem Zusehen bemerkt man, dass der allergrösste Theil aller Gebildeten noch jetzt von einem Denker Ueberzeugungen und Nichts als Ueberzeugungen begehrt, und dass allein eine geringe Minderheit G ew i s s he it will. Jene wollen stark fortgerissen werden, um dadurch selber einen Kraftzuwachs zu erlangen ; diese Wenigen haben jenes sachliche Interesse, welches von persönlichen Vortheilen, auch von dem des erwähnten Kraftzuwachses absieht. Auf jene bei Weitem überwiegende Classe wird überall dort gerechnet, wo der Denker sich als G e n ie benimmt und bezeichnet, also wie ein höheres Wesen drein schaut, welchem Autorität zukommt. Insofern das Genie jener Art die Glut der Ueberzeugungen unterhält und Misstrauen gegen den vorsichtigen und bescheidenen Sinn der Wissenschaft weckt, ist es ein Feind der Wahrheit und wenn es sich auch noch so sehr als deren Freier glauben sollte. 636. Es giebt freilich auch eine ganz andere Gattung der Genialität, die der Gerechtigkeit ; und ich kann mich durchaus nicht entschliessen‚ dieselbe niedriger zu schätzen, als irgend eine philosophische, politische oder künstlerische Genialität. Ihre Art ist es, mit herzlichem Unwillen Allem aus dem Wege zu

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gehen, was das Urtheil über die Dinge blendet und verwirrt ; sie ist folglich eine G e g n e r i n d e r Ue b e r z e u g u n g e n , denn | sie will Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben – und dazu muss sie es rein erkennen ; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden oder kurzsichtigen „Ueberzeugung“ (wie Männer sie nennen : – bei Weibern heisst sie „Glaube“) geben was der Ueberzeugung ist – um der Wahrheit willen. 637. Aus den L e i d e n s c h a f t e n wachsen die Meinungen ; die Tr ä g he it d e s G e i s t e s lässt diese zu Ueb e r z eu g u n g e n erstarren. – Wer sich aber f r e ie n , rastlos lebendigen Geistes fühlt, kann durch beständigen Wechsel diese Erstarrung verhindern ; und ist er gar insgesammt ein denkender Schneeballen, so wird er überhaupt nicht Meinungen, sondern nur Gewissheiten und genau bemessene Wahrscheinlichkeiten in seinem Kopfe haben. – Aber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom Feuer durchglüht, bald vom Geiste durchkältet sind, wollen vor der Gerechtigkeit knieen, als der einzigen Göttin, welche wir über uns anerkennen. D a s Feue r in uns macht uns für gewöhnlich ungerecht und, im Sinne jener Göttin, unrein ; nie dürfen wir in diesem Zustande ihre Hand fassen, nie liegt dann das ernste Lächeln ihres Wohlgefallens auf uns. Wir verehren sie als die verhüllte Isis unsers Lebens ; beschämt bringen wir ihr unsern Schmerz als Busse und Opfer dar, wenn das Feuer uns brennt und verzehren will. D e r G e i s t ist es, der uns rettet, dass wir nicht ganz verglühen und verkohlen ; er reisst uns hier und da fort von dem Opferaltare der Gerechtigkeit oder hüllt uns in ein Gespinnst aus Asbest. Vom Feuer er|löst, schreiten wir dann, durch den Geist getrieben von Meinung zu Meinung, durch den Wechsel der Parteien, als edle Ve r r ät he r aller Dinge, die überhaupt

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verrathen werden können – und dennoch ohne ein Gefühl von Schuld. 638. Der Wa nderer. – Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, – wenn auch nicht als Reisender n ac h einem letzten Ziele : denn dieses giebt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was Alles in der Welt eigentlich vorgeht ; desshalb darf er sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen ; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Thor der Stadt, welche ihm Rast bieten sollte, verschlossen fi ndet ; vielleicht, dass noch dazu, wie im Orient, die Wüste bis an das Thor reicht, dass die Raubthiere bald ferner bald näher her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt, dass Räuber ihm seine Zugthiere wegführen. Dann sinkt für ihn wohl die schreckliche Nacht wie eine zweite Wüste auf die Wüste, und sein Herz wird des Wanderns müde. Geht ihm dann die Morgensonne auf, glühend wie eine Gottheit des Zornes, öff net sich die Stadt, so sieht er in den Gesichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr Wüste, Schmutz, Trug, Unsicherheit, als vor den Thoren – und der Tag ist fast schlimmer, als die Nacht. So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen ; aber dann kommen, als Entgelt, die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel des | Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wipfeln und Laubverstecken heraus lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Geschenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen

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bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe, sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glokkenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht haben könne : – sie suchen die Ph i lo s o p h ie d e s Vor m it t a g e s .

Nachwort von Claus-Artur Scheier

Menschliches, Allzumenschliches Ein Buch für freie Geister. Erster Band

Mit diesem Buch hat Nietzsche sich „vom Unzugehörigen in [s]einer Natur freigemacht“ (EH, MA 1), nämlich von der erträumten „Alliance“1 mit Wagner. Dessen unter dem unmittelbaren Eindruck des deutsch-französischen Kriegs entstandene Beethoven-Festschrift hatte den Weg vorgezeichnet, den „der deutsche Geist sein Volk zu führen“ habe, „wenn er die Völker beglücken soll, wie er berufen ist“ :2 Gewiß darf es uns erscheinen, daß unsere Zivilisation […] nur aus dem Geiste un srer Musik […] neu beseelt werden könne. Und die Aufgabe in diesem Sinne der vielleicht hierdurch sich gestaltenden neuen, seelenvolleren Zivilisation die sie durchdringende neue Religion zuzuführen, kann ersichtlich nur dem deutschen Geiste beschieden sein, den wir selbst erst richtig verstehen lernen, wenn wir jede ihm zugeschriebene falsche [sc. französische] Tendenz fahren lassen. (ebd., S. 123)

„Während die deutschen Waffen siegreich nach dem Zentrum der französischen Zivilisation vordringen, regt sich bei uns plötzlich das Schamgefühl über unsre Abhängigkeit von dieser Zivilisation“ (ebd., S. 113), und Wagners „Beitrag zur Philosophie der Musik“ (ebd., S. 61) wendet sich der „Betrachtung der äußeren Welt“ zu, „unter deren Drucke jenes innere Wesen zu der ihm jetzt eigenen, nach außen reagierenden Kraft sich er mächtigte“ (ebd., S. 113) : „Wir […] müssen, da sich doch wieder unser Gefühl gegen jene Herrschaft empört, schließ1

An Erwin Rohde, 28. Januar 1872. Richard Wagner : Beethoven, Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. Leipzig 61912/14 [SSD], Bd. 9, S. 125. 2

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Nachwort

lich einsehen, daß wir einem wahren Fluche verfallen sind, von welchem uns nur eine unendlich tief begründete Neugeburt erlösen könnte“ (ebd., S. 115). Genau in diesem programmatischen Ursprungsort der Geburt der Tragödie wird die Genealogie der Moral das Ressentiment entdecken : Das empörtes Gefühl ermächtigt sich zur nach außen reagierenden Kraft. Im „Vorwort an Richard Wagner“ sprach Nietzsche selbst freilich noch von der „herrliche[n] Festschrift über Beethoven“ und dem „ernsthaft deutschen Problem […], das von uns recht eigentlich in die Mitte deutscher Hoff nungen, als Wirbel und Wendepunkt hingestellt wird“.3 Der Versuch einer Selbstkritik von 1886 wird darüber radikal umgelernt haben : Aber es giebt etwas viel Schlimmeres an dem Buche, das ich jetzt noch mehr bedauere, als mit Schopenhauerischen Formeln dionysische Ahnungen verdunkelt und verdorben zu haben : dass ich mir nämlich überhaupt das grandiose griechische Problem, wie mir es aufgegangen war, durch Einmischung der modernsten Dinge verdarb ! (GT, Versuch einer Selbstkritik 6)

Die Lehrjahre waren schmerzlich, die Lösung von Wagner brauchte Zeit, genauer die Lösung von dem, wofür der Name Wagner stand : von der Naherwartung4 einer deutschen Peripe3

Unverblümter geht es im Brief an Rohde vom 28. Januar 1872 „um eine wirkliche deutsche Bildungsanstalt, zur Regeneration des deutschen Geistes und zur Vernichtung der bisher sog. ‚Cultur‘ […] – Kampf auf ’s Messer ! Oder auf Kanonen ! / Der reitende Artillerist, mit / schwerstem Geschütz.“ Schon am 1. März 1871 hatte Wagner an Ludwig II. geschrieben : „Mein Zweck ist […] ein deutsches National-Unternehmen hervorzurufen, dessen Leitung natürlich mir gänzlich allein nur in die Hände gelegt werden darf.“ (Wagner-Chronik, Daten zu Leben und Werk. Zusammengest. v. Martin Gregor-Dellin, München 1972, S. 133) 4 Nietzsche wird seine dionysische Naherwartung nie verleugnen und sie im Januar 1889 zuletzt als „Der Gekreuzigte“ bezeugen. Nach zwölf Jahren noch irritiert von Richard Wagner in Bayreuth gibt Ecco homo ein Vaticinium ex eventu : „Insgleichen hatte sich ‚der Gedanke von

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tie und Parusie.5 Die Unzeitgemässen Betrachtungen gaben sich zwar „durchaus kriegerisch“ (EH, UB 1), aber Ecce homo wird darin doch die „Selbst-Vertheidigung“ diagnostizieren (ebd. 3), und das 1876 nur zaudernd publizierte vierte Stück Richard Wagner in Bayreuth ist das Dokument einer Krise. An Erwin Rohde schrieb der verunsicherte Nietzsche im Oktober 1875 : Meine Betrachtung unter dem Titel ‚Richard W. in Bayreuth‘ wird nicht gedruckt, sie ist fast fertig, ich bin aber weit hinter dem zurück geblieben, was ich von mir fordere; und so hat sie nur für mich den Werth einer neuen Orientirung über den schwersten Punkt unserer bisherigen Erlebnisse. Ich stehe nicht darüber und sehe ein, dass mir selber die Orientirung nicht völlig gelungen ist – geschweige denn dass ich andern helfen könnte !6

Der „Warner“7 hatte den Philosophen an die Kandare genommen,8 aber „Krankheit ist jedes Mal die Antwort, wenn Bayreuth‘ in Etwas verwandelt, das den Kennern meines Zarathustra kein Räthsel-Begriff sein wird : in jenen grossen Mittag, wo sich die Auserwähltesten zur grössten aller Aufgaben weihen – wer weiss ? die Vision eines Festes, das ich noch erleben werde …“ (EH, GT 4). 5 Die Formel vom „guten Europäer“ begegnet zuerst MA 1.475 und MA 2.2.87. 6 An Erwin Rohde, 7. Oktober 1875. 7 Mahnruf an die Deutschen (1873), III-2, S. 387. Vgl. III-4.19[36] (1872/ 73) : „Der letzte Philosoph – es können ganze Generationen sein. Er hat nur zum Leben zu helfen. ‚Der letzte‘, natürlich relativ. Für unsere Welt. Er beweist die Nothwendigkeit der Illusion, der Kunst und der das Leben beherrschenden Kunst. Es ist für uns nicht möglich, wieder eine solche Reihe von Philosophen zu erzeugen, wie Griechenland zur Zeit der Tragödie. Ihre Aufgabe erfüllt jetzt ganz allein die Kunst. Nur als Kunst ist noch so ein System möglich. Vom jetzigen Standpunkt aus fällt auch jene ganze Periode der griechischen Philosophie mit ins Bereich ihrer Kunst. / Die Bändigung der Wissenschaft geschieht jetzt nur noch durch die Kunst. Es handelt sich um Werthurtheile über das Wissen und Vielwissen.“ 8 MA 2, Vorrede 1 : „eben in jener Zeit [1873] entstand ein geheim ge-

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wir an unsrem Rechte auf unsre Aufgabe zweifeln wollen“ (MA 2, Vorrede 4), und : „[d]ie Krankheit löste mich langsam heraus : sie ersparte mir jeden Bruch, jeden gewaltthätigen und anstössigen Schritt.“ (EH, MA 4) Die von Seiten Nietzsches als „unbeschreiblich nahe Intimität mit Richard und Cosima Wagner“9 erlebte gemeinsame Zeit hatte ein bis in den Januar 1889 hinein fortschwärendes Trauma hinterlassen, dessen Disposition gleichwohl nicht im Biographischen lag. Weniger der Mensch als der Philosoph Nietzsche hatte sich in Wagner versehen, mußte sich in ihm versehen, indem er ihm eine Rolle in seinem dionysischen Welttheater zudachte, die der drei Jahrzehnte Ältere weder akzeptieren noch auch nur verstehen konnte10 – nicht einmal der junge Enthusiast selber verstand sich schon recht. Die Vorreden von 1886, Der Fall Wagner, Nietzsche contra Wagner und Ecce homo legen davon beredtes Zeugnis ab, auch die Briefe : Ich habe so viel in Bezug auf diesen Mann und seine Kunst erlebt – es war eine ganze lange Passion : ich fi nde kein anderes Wort dafür. Die hier geforderte Entsagung,11 das hier endlich nöthig werdenhaltenes Schriftstück ‚über Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne‘“, in : III-2, S. 367 – 384. 9 An Georg Brandes, 10. April 1888. 10 1880 schreibt Wagner : „[Z]ur Anleitung für ein selbständiges Beschreiten der Wege wahrer Hoff nung, kann nach dem Stande unsrer jetzigen Bildung nichts anderes empfohlen werden, als die Schopenhauersche Philosophie in jeder Beziehung zur Grundlage aller ferneren geistigen und sittlichen Kultur zu machen“ (Was nützt diese Erkenntnis ? Ein Nachtrag zu : Religion und Kunst, 1880, SSD 10, S. 257). 11 Zuletzt galt die „Entsagung“ einer „narkotische[n] Kunst“ (EH, MA 3), dem Bayreuther paradis artifi ciel (Baudelaire : Les Paradis artificiels, Paris 1860) als der nicht erst geschichtlich zu verwirklichenden, sondern im Sinn des „Bühnenweihfestspiels“ ästhetisch simulierten Erlösung : „Das Problem der Erlösung ist selbst ein ehrwürdiges Problem. Wagner hat über Nichts so tief wie über die Erlösung nachgedacht : seine Oper ist die Oper der Erlösung“ (WA 4) – für „fünf bis sechs Stunden ! –“

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den Mich-selber-Wiederfi nden gehört zu dem Härtesten und Melancholischsten in meinem Schicksale. Die letzten geschriebenen Worte W’s an mich stehen in einem schönen Widmungs-Exemplare des Parsifal ‚Meinem theuren Freunde Friedrich Nietzsche. Richard Wagner, Ober-Kirchenrath.‘ Genau zu gleicher Zeit traf, von mir gesendet, bei ihm mein Buch ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ ein – und damit war Alles klar, aber auch Alles zu Ende.12

Der neue Anfang war schon 1876 gemacht. Die Inkubationszeit war vorüber, nach dem Philologen, dem Ästhetiker, dem Agitator kam der Philosoph Nietzsche ans Licht in „einem tief in Wäldern verborgnen Ort des Böhmerwalds, Klingenbrunn“,13 (EH, MA 3). „Man könnte sagen“, schreibt Wagner 1880, „daß da, wo die Religion künstlich wird, der Kunst es vorbehalten sei, den Kern der Religion zu retten“ (Wagner : Religion und Kunst, SSD 10, S. 211) : „Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache […] : ‚Wagner resümirt die Modernität‘“ (WA, Vorwort). Allerdings hatte der im selben Jahr wie Wagner geborene Søren Kierkegaard bereits in den vierziger Jahren den simulativen Charakter des „ästhetischen [Existenz-]Stadiums“ beleuchtet (Enten – Eller [Entweder – Oder], Kopenhagen 1843) und über das „ethische Stadium“ hinaus das (‚paradoxe‘) „religiöse Stadium“ postuliert (Philosophiske Smuler [Philosophische Bissen], Kopenhagen 1844). Auf Kierkegaard aufmerksam wurde Nietzsche erst durch Georg Brandes (an Brandes, 19. Februar 1888). 12 An Lou von Salomé, 16. Juli 1882, vgl. EH, MA 5. Die zweite Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches (MA 2, Vorrede 1) erinnert an eine für die Zeit der Abfassung von Richard Wagner in Bayreuth „verrätherische[-] und schwermüthige[-]“ Passage, die Wagner allerdings kaum überlesen haben dürfte : „Indem der Betrachtende scheinbar der aus- und überströmenden Natur Wagner’s unterliegt, hat er an ihrer Kraft selber Antheil genommen und ist so gleichsam durch ihn gegen ihn mächtig geworden; und Jeder, der sich genau prüft, weiss, dass selbst zum Betrachten eine geheimnissvolle Gegnerschaft, die des Entgegenschauens, gehört. Lässt uns seine Kunst alles Das erleben, was eine Seele erfährt, die auf Wanderschaft geht, […] so vermögen wir nun auch, aus solcher Entfremdung und Entlegenheit, ihn selbst zu sehen, nachdem wir ihn selbst erlebt haben.“ ( WB 7) 13 EH, MA 2. Vgl. den Brief an die Schwester vom 6. August 1876 aus

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„und glaubte bereits ‚an gar nichts mehr‘, wie das Volk sagt, auch an Schopenhauer nicht“.14 Dort „trug ich meine Melancholie und Deutschen-Verachtung wie eine Krankheit mit mir herum – und schrieb von Zeit zu Zeit, unter dem Gesammttitel ‚die Pflugschar‘, einen Satz in mein Taschenbuch, lauter harte Psychologica, die sich vielleicht in ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ noch wiederfi nden lassen.“ (EH, MA 2) Die Ausgabe von 1886 wird die Aufschrift „Dem Andenken Voltaire’s geweiht zur Gedächtniss-Feier seines TodesTages, des 30. Mai 1778“ fortlassen und das „[a]n Stelle einer Vorrede“ eingerückte Descartes-Zitat durch die Vorrede selbst ersetzen. Unter den Umständen von 1878 freilich haben Aufschrift und Zitat eine Signalwirkung : Einer der „grössten Befreier des Geistes“15 und der Denker, der „die ganze Frist des Lebens darauf verwendete, [s]eine Vernunft auszubilden“16 – zwei Franzosen als Wegweiser zu einer „Philosophie des Vormittages“,17 die den „künstliche[n] Nationalismus“18 entdeckt Klingenbrunn : „Ich muß alle Fassung zusammen nehmen, um die grenzenlose Enttäuschung dieses Sommers zu ertragen. Auch meine Freunde werde ich nicht sehen; es ist alles jetzt für mich Gift und Schaden.“ 14 MA 2, Vorrede 1. In Schopenhauer als Erzieher hatte Nietzsche geschrieben : „Wenige Denker haben in dem Maasse und der unvergleichlichen Bestimmtheit empfunden, dass der Genius in ihnen webt; und sein Genius verhiess ihm das Höchste – dass es keine tiefere Furche geben werde als die, welche seine Pflugschar in den Boden der neueren Menschheit reisst.“ (SE 3) 15 Anmerkung zur Aufschrift. Zu damaligen Bedeutung von Voltaire für Nietzsche vgl. MA 1.26, 221, 240, 438 und MA 2.2.237. Über Also sprach Zarathustra I wird er am 26. August 1883 an Franz Overbeck schreiben : „Seit Voltaire gab es kein solches Attentat gegen das Christentum“. 16 Descartes : Discours de la méthode (1637), III, Abs. 5 (Nietzsche übersetzt aus der lateinischen Fassung von 1644). 17 MA 1.638. Silvester 1873/74 heißt es an Erwin Rohde : „ich gelte als Bewunderer der Franzosen“. 18 Vgl. Vgl. MA 1.442 : „Der grobe Römer-Patriotismus ist jetzt, wo ganz andere und höhere Aufgaben gestellt sind, als patria und honor,

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hatte im „ernsthaft deutschen“ Problem der frühen siebziger Jahre : [D]ieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich wie der künstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewaltsamer Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über Viele verhängt ist, und braucht List, Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Völker), wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter Fürstendynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels und der Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat man diess einmal erkannt, so soll man sich nur ungescheut als guten Europäer19 ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten : wobei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, Dolmetscher und Vermittler der Völker zu sein, mitzuhelfen vermögen. […] Wenn das Christenthum Alles gethan hat, um den Occident zu orientalisiren, so hat das Judenthum wesentlich mit dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren : was in einem bestimmten Sinne so viel heisst als Europa's Aufgabe und Geschichte zu einer Fortsetzung der griechischen zu machen.20

Und damit kartographiert Nietzsche die Landschaft seiner künftigen „Kritik der Modernität“ (EH, JGB 2) schon so genau, daß Jenseits von Gut und Böse, das erste Buch nach dem Erdbeben des Zarathustra, sich mit seinen neun Hauptstücken und dem Nachgesang in sie einschreiben kann – das Vorspiel einer Philosophie der Zukunft ist Menschliches, Allzumenschliches entweder etwas Unehrliches oder ein Zeichen der Zurückgebliebenheit.“ Schon Schopenhauer hatte bemerkt : „Der Deutschthümelei muß man keine Koncessionen machen.“ (Grundlage der Moral, § 14 Anm., Werke [W], hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1991 [11988], Bd. 3, S. 552) 19 Vgl. MA 2.2.87. Von Also sprach Zarathustra, Zarathustra’s Vorrede 3, an wird die Entwicklungsreihe heißen : moderner Mensch – guter Europäer – freier Geist – Übermensch. 20 MA 1.475. Vgl. MA 2.2.87.

352

Nachwort

noch einmal, reif geworden im Licht des Zarathustrischen Mittags.21 Davon zeugen bereits die Titel der korrespondieren Hauptstücke, auch ihre Reihenfolge,22 anderseits der jeweilige Einsatz : in Jenseits von Gut und Böse das „Problem vom Werthe der Wahrheit“ ( JGB 1), in Menschliches, Allzumenschliches die Forderung einer „Chemie der Begriffe und Empfindungen“ :23 „Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstellungen und Empfi ndungen“ : [I]n dem gegenwärtigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist die Auferweckung der moralischen Beobachtung nöthig geworden, und der grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben. Denn hier gebietet jene Wissenschaft, welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfi ndungen fragt und welche im Fortschreiten die verwickelten sociologischen Probleme aufzustellen und zu lösen hat (MA 1.37).

Seit der Erschütterung von 1876 „habe ich in der That nichts mehr getrieben als Physiologie, Medizin und Naturwissen21

Vgl. Sils-Maria in den den Liedern des Prinzen Vogelfrei, Za, Zarathustra’s Vorrede 10, Za 4.10 : Mittags, und JGB, Aus hohen Bergen. Nachgesang. 22 Zu beachten ist vor allem die (zugleich neu akzentuierende) Umstellung von zweitem und fünftem Hauptstück. 23 MA 1.1. Für Nietzsches ältere Leser eine kaum überhörbare Reminiszenz (vgl. GM 3.3 und NW, Wagner als Apostel der Keuschhheit). Im Vorwort zu Das Wesen des Christentums (1841) hatte Feuerbach geschrieben : „Das Bild ist als Bild Sache. / Hier in dieser Schrift nun werden die Bilder der Religion weder zu Gedanken […] noch zu Sachen gemacht, sondern als Bilder betrachtet […] – d. h. die Theologie wird […] als psychische Pathologie behandelt. / Die Methode, die aber der Verfasser hiebei befolgt, ist eine durchaus objektive – die Methode der analytischen Chemie.“ (Gesammelte Werke [GW ], hg. von W. Schuffenhauer, Berlin 1967 ff., Bd. 5, S. 6)

Claus-Artur Scheier

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schaften“ (EH, MA 3), und Menschliches, Allzumenschliches siedelt sich zuversichtlich auf dem Territorium der positiven Wissenschaften an 24 – nicht bei den „‚Klassiker[n] des Pöbels‘, wie [Ludwig] Büchner usw.“,25 sondern in der Nachbarschaft „jene[s] grossen rechtschaffenen Franzosen, dem die Deutschen und die Engländer dieses Jahrhunderts, als einem Umschlinger und Bändiger der strengen Wissenschaften, Keinen an die Seite zu stellen vermögen, Auguste Comte“.26 Zu nennen sind auch der frankophile Materialist und Darwinist August Christoph Carl Vogt und – vor allem – der Philosoph Friedrich Albert Lange, dessen 1866 erschienene Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart für Nietzsche richtungweisend werden sollte. Noch im selben Jahr brachte er Langes Resultat auf den Punkt : 1) die Sinnenwelt ist das Produkt unsrer Organisation. / 2) unsre sichtbaren (körperlichen) Organe sind gleich allen andern Theilen der Erscheinungswelt nur Bilder eines unbekannten Gegenstandes. / 3) Unsre wirkliche Organisation bleibt uns daher ebenso unbekannt, wie die wirklichen Außendinge. Wir haben stets nur das Produkt von beiden vor uns. / Also das wahre Wesen der Dinge, das Ding an sich, ist uns nicht nur unbekannt, sondern es ist auch der Begriff desselben nicht mehr und nicht weniger als die letzte Ausgeburt eines von unsrer Organisation bedingten Gegensatzes, von dem wir nicht wissen, ob er außerhalb unsrer Erfahrung irgend eine Bedeutung hat.27 24

„Nöthig, den ganzen Positivismus in mich aufzunehmen, und doch noch Träger des Idealismus zu sein“, notiert Nietzsche 1877 für eine mögliche Vorrede (IV-2.22[37]). 25 III-4.27[30] (1873). Dazugezählt wird auch Ernst Haeckel : „Froschnasen-Weisheit“ (V-2.11[299], 1881). 26 M 542, vgl. VIII-2.9[47] (1887) : „Geschichte der wissenschaftlichen Methode, von A. Comte beinahe als Philosophie selber verstanden“. 27 An Carl von Gersdorff, Ende August 1866; vgl. den Brief vom 16.  Februar 1868 sowie das „NB.“ im Brief an Hermann Mushacke,

354

Nachwort

Nietzsches radikaler Konstruktivismus avant la lettre motiviert bereits Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873) und Ueber Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874). Jetzt wird er zum „psychologischen Secirtisch[-]“ gemacht, wollen die Philosophen doch „nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist“ (MA 1.2) und daß sogar die Logik auf Voraussetzungen beruht, „denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht“ (MA 1.11) – auch sie das Produkt eines Glaubens : „Allem Glauben zu Grunde liegt die Empfindung des Angenehmen oder Schmerzhaften in Bezug auf das empfindende Subject. Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen einzelnen Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form.“ (MA 1.18) So wird „[e]in Irrthum nach dem andern“ gelassen aufs Eis gelegt,28 das Ideal wird nicht widerlegt – es erfriert … Hier zum Beispiel erfriert ‚das Genie‘; eine Ecke weiter erfriert ‚der Heilige‘; unter einem dicken Eiszapfen erfriert ‚der Held‘; am Schluss erfriert ‚der Glaube‘, die sogenannte ‚Überzeugung‘, auch das ‚Mitleiden‘ kühlt sich bedeutend ab – fast überall erfriert ‚das Ding an sich‘ … (EH, MA 1)

Aber Nietzsche argumentiert, wiewohl wissenschaftlich, nicht als Wissenschaftler, denn nicht auf den Ergebnissen der Forschung, sondern „auf der Einsicht in die Methode beruht November 1866 : „Das bedeutendste philosophische Werk, was in den letzten Jahrzehnten erschienen ist, ist unzweifelhaft Lange, Geschichte des Materialismus, über das ich eine bogenlange Lobrede schreiben könnte. Kant, Schopenhauer und dies Buch von Lange – mehr brauche ich nicht.“ 28 Vgl. MA 2.2.211 : [J]a nicht verhöhnen, beschmutzen, was man endgültig beseitigen will, sondern es achtungsvoll auf Eis legen, immer und immer wieder, in Anbetracht, dass Vorstellungen ein sehr zähes Leben haben. Hier muss man nach der Maxime handeln : ‚Eine Widerlegung ist keine Widerlegung‘“.

Claus-Artur Scheier

355

der wissenschaftliche Geist“ :29 Seine Absicht ist nicht die ohnehin zu erwartende stetige Erweiterung der Wissenschaft,30 sondern die Renaissance der Aufklärung im Namen von „Petrarca, Erasmus, Voltaire“ : „Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht.“31

29

MA 1, 635. Vgl. VIII-2.9[61] (1887) : „die großen Methodologen : Aristo-

teles, Bacon, Descartes, A. Comte“. 30 Vgl. FW 123 : „Auch ohne diese neue Leidenschaft – ich meine die Leidenschaft der Erkenntniss – würde die Wissenschaft gefördert werden : die Wissenschaft ist ohne sie bisher gewachsen und gross geworden. Der gute Glaube an die Wissenschaft, das ihr günstige Vorurtheil, von dem unsere Staaten jetzt beherrscht sind (ehedem war es sogar die Kirche), ruht im Grunde darauf, dass jener unbedingte Hang und Drang sich so selten in ihr offenbart hat, und dass Wissenschaft eben nicht als Leidenschaft, sondern als Zustand und ‚Ethos‘ gilt. […] Es ist etwas Neues in der Geschichte, dass die Erkenntniss mehr sein will, als ein Mittel.“ 31 MA 1.26. Vgl. MA 2.1.171, 2.2.221.

Editorische Notiz

Die Wiedergabe des Textes von Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Erster Band erfolgt nach der Neuen Ausgabe von 1886 der 1878 in erster Auflage erschienenen Schrift, der Nietzsche jetzt die 1886 verfaßte „einführende“ Vorrede voranstellte. Die Eigentümlichkeiten der Orthographie der Zeit und der Interpunktion Nietzsches bleiben unverändert erhalten; offenkundige Fehler wurden stillschweigend korrigiert, die Edition des Textes in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Colli und Montinari (Berlin 1967 ff.) wurde durchgängig vergleichend herangezogen. Der Seitenumbruch der Originalausgabe wird im Text fortlaufend durch einen senkrechten Strich | markiert und im Kolumnentitel innen mit Angabe der Seitenzahlen angezeigt.

Siglenverzeichnis

AC

Der Antichrist (1888)

EH

Ecce homo (1888/89)

FW

Die fröhliche Wissenschaft (1882)

GD

Götzen-Dämmerung (1889)

GM

Zur Genealogie der Moral (1887)

GT

Die Geburt der Tragödie (1872)

HL

Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874)

JGB

Jenseits von Gut und Böse (1886)

KGB

Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1975 ff.

KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1967 ff. M

Morgenröthe (1881)

MA

Menschliches, Allzumenschliches

NW

Nietzsche contra Wagner (1894)

PhtZ

Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873)

SE

Schopenhauer als Erzieher (1874)

UB

Unzeitgemässe Betrachtungen

WA

Der Fall Wagner (1888)

WB

Richard Wagner in Bayreuth (1878)

Za

Also sprach Zarathustra

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Philosophische Werke in sechs Bänden H e r au s g e g e b e n von c l au s -a r t u r s c h e i e r

BAND 3

F E L I X M E I N ER V ER L AG H A M BU RG

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Menschliches, Allzumenschliches Zweiter Band (Neue Ausgabe 1886)

M i t e i n e m N ac h wor t von c l au s -A r t u r S c h e i e r

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 653

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http ://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN 978-3-7873-2423-1 ISBN eBook: 978-3-7873-2430-9

www.meiner.de

© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Viervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz : Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung : C. H. Beck, Nördlingen. Werkdruck papier : alterungsbeständig nach DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlor frei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt

Menschliches, Allzumenschliches Ein Buch für freie Geister Zweiter Band

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Erste Abtheilung: Vermischte Meinungen und Sprüche . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Zweite Abtheilung: Der Wanderer und sein Schatten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Nachwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Friedrich Nietzsche

Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band.

Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede.

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Vorrede.

1. Man soll nur reden, wo man nicht schweigen darf ; und nur von dem reden, was man ü b e r w u nd e n hat, – alles Andere ist Geschwätz, „Litteratur“, Mangel an Zucht. Meine Schriften reden nu r von meinen Ueberwindungen : „ich“ bin darin, mit Allem, was mir feind war, ego ipsissimus, ja sogar, wenn ein stolzerer Ausdruck erlaubt wird, ego ipsissi mu m . Man erräth : ich habe schon Viel – u nt e r mir … Aber es bedurfte immer erst der Zeit, der Genesung, der Ferne, der Distanz, bis die Lust bei mir sich regte, etwas Erlebtes und Ueberlebtes, irgend ein eigenes Factum oder Fatum nachträglich für die Erkenntniss abzuhäuten, auszubeuten, blosszulegen, „darzustellen“ (oder wie man’s heissen will). Insofern sind alle meine Schriften, mit einer einzigen, allerdings wesentlichen Ausnahme, z u r üc k z u dat ieren – sie reden immer von einem „Hintermir“ – : einige sogar, wie die drei ersten Unzeitgemässen Betrachtungen, noch zurück | hinter die Entstehungs- und Erlebnisszeit eines vorher herausgegebenen Buches (der „Geburt der Tragödie“ im gegebenen Falle : wie es einem feineren Beobachter und Vergleicher nicht verborgen bleiben darf ). Jener zornige Ausbruch gegen die Deutschthümelei, Behäbigkeit und Sprach-Verlumpung des alt gewordenen David Strauss, der Inhalt der ersten Unzeitgemässen, machte Stimmungen Luft, mit denen ich lange vorher, als Student, inmitten deutscher Bildung und Bildungsphilisterei gesessen hatte (ich mache Anspruch auf die Vaterschaft des jetzt viel gebrauchten und missbrauchten Wortes „Bildungsphilister“ –) ; und was ich gegen die „historische Krankheit“ gesagt habe, das sagte ich als Einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar nicht Willens war, fürderhin auf „Historie“ zu ver-

4

Vorrede

iv | v

zichten, weil er einstmals an ihr gelitten hatte. Als ich sodann, in der dritten Unzeitgemässen Betrachtung, meine Ehrfurcht vor meinem ersten und einzigen Erzieher, vor dem g r o s s e n Arthur Schopenhauer zum Ausdruck brachte – ich würde sie jetzt noch viel stärker, auch persönlicher ausdrücken  – war ich für meine eigne Person schon mitten in der mora listischen Skepsis und Auflösung drin, d a s hei s st eben so seh r i n der K r it i k a l s der Ver t ief u ng a l les bi sher igen Pes sim i smu s –, und glaubte bereits „an gar nichts mehr“, wie das Volk sagt, auch an Schopenhauer nicht : eben in jener Zeit entstand ein geheim gehaltenes Schriftstück „über Wahrheit und Lüge im ausser moralischen Sinne“. Selbst meine Siegs- und Festrede zu Ehren Richard | Wagners, bei Gelegenheit seiner Bayreuther Siegesfeier 1876 – Bayreuth bedeutet den grössten Sieg, den je ein Künstler errungen hat  – ein Werk, welches den stärksten A n s c he i n der „Aktualität“ an sich trägt, war im Hintergrunde eine Huldigung und Dankbarkeit gegen ein Stück Vergangenheit von mir, gegen die schönste, auch gefährlichste Meeresstille meiner Fahrt … und thatsächlich eine Loslösung, ein Abschiednehmen. (Täuschte Richard Wagner sich vielleicht selbst darüber ? Ich glaube es nicht. So lange man noch liebt, malt man gewiss keine solchen Bilder ; man „betrachtet“ noch nicht, man stellt sich nicht dergestalt in die Ferne, wie es der Betrachtende thun muss. „Zum Betrachten gehört schon eine geheimnissvolle G e g ne r s c h a f t , die des Entgegenschauens“ – heisst es auf Seite 46 der genannten Schrift selbst, mit einer verrätherischen und schwermüthigen Wendung, welche vielleicht nur für wenige Ohren war.) Die Gelassenheit, um über lange Zwischenjahre innerlichsten Alleinseins und Entbehrens reden zu k ön ne n , kam mir erst mit dem Buche „Menschliches, Allzumensch liches“, dem auch dies zweite Für- und Vorwort gewidmet sein soll. Auf ihm, als einem Buche „für freie Geister“, liegt Etwas von der beinahe heiteren und neugierigen Kälte des Psychologen, welche

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Vorrede

5

eine Menge schmerzlicher Dinge, die er u nt e r sich hat, h i n t e r sich hat, nachträglich für sich noch feststellt und gleichsam mit irgend einer Nadelspitze fest s t ic ht : – was Wunders, wenn, bei einer so spitzen und kitzlichen Arbeit, gelegentlich auch etwas Blut fl iesst, wenn der Psychologe | Blut dabei an den Fingern und nicht immer nur – an den Fingern hat ? … 2. Die Vermischten Meinungen und Sprüche sind, ebenso wie der Wanderer und sein Schatten, zuerst e i n z e l n als Fortsetzungen und Anhänge jenes eben genannten menschlichallzumenschlichen „Buchs für freie Geister“ herausgegeben worden : zugleich als Fortsetzung und Verdoppelung einer geistigen Kur, nämlich der a n t i r o m a n t i s c h e n Selbstbehandlung, wie sie mir mein gesund gebliebener Instinkt wider eine zeitweilige Erkrankung an der gefährlichsten Form der Romantik selbst erfunden, selbst verordnet hatte. Möge man sich nunmehr, nach sechs Jahren der Genesung, die gleichen Schriften ve r e i n i g t gefallen lassen, als zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches : vielleicht lehren sie, zusammen betrachtet, ihre Lehre stärker und deutlicher, – eine G e s u n d h e it s le h r e , welche den geistigeren Naturen des eben heraufkommenden Geschlechts zur disciplina voluntatis empfohlen sein mag. Aus ihnen redet ein Pessimist, der oft genug aus der Haut gefahren, aber immer wieder in sie hineingefahren ist, ein Pessimist also mit dem guten Willen z u m Pessimismus, – somit jedenfalls kein Romantiker mehr : wie ? sollte ein Geist, der sich auf diese Schlangenklugheit versteht, d ie H aut z u we c h s e l n , nicht den heutigen Pessimisten eine Lektion geben dürfen, welche allesammt noch in der Gefahr der Romantik sind ? Und ihnen zum Mindesten zeigen, wie man das – m ac ht ? … |

6

Vorrede

vii | viii

3. – Es war in der That damals die höchste Zeit, A b s c h ie d z u ne h me n : alsbald schon bekam ich den Beweis dafür. Richard Wagner, scheinbar der Siegreichste, in Wahrheit ein morsch gewordener, verzweifelnder Romantiker, sank plötzlich, hülflos und zerbrochen, vor dem christlichen Kreuze nieder  … Hat denn kein Deutscher für dieses schauerliche Schauspiel damals Augen im Kopfe, Mitgefühl in seinem Gewissen gehabt ? War ich der Einzige, der an ihm – litt ? Genug, mir selbst gab dies unerwartete Ereigniss wie ein Blitz Klarheit über den Ort, den ich verlassen hatte, – und auch jenen nachträglichen Schrecken, wie ihn Jeder empfi ndet, der unbewusst durch eine ungeheure Gefahr gelaufen ist. Als ich allein weiter gieng, zitterte ich ; nicht lange darauf, und ich war krank, mehr als krank, nämlich müde, aus der unaufhaltsamen Enttäuschung über Alles, was uns modernen Menschen zur Begeisterung übrig blieb, über die allerorts ve r g eu d et e Kraft, Arbeit, Hoff nung, Jugend, Liebe ; müde aus Ekel vor dem Femininischen und Schwärmerisch-Zuchtlosen dieser Romantik, vor der ganzen idealistischen Lügnerei und Gewissens-Verweichlichung, die hier wieder einmal den Sieg über Einen der Tapfersten davongetragen hatte ; müde endlich, und nicht am wenigsten aus dem Gram eines unerbittlichen Argwohns, – dass ich, nach dieser Enttäuschung, verurtheilt sei, tiefer zu misstrauen, tiefer zu verachten, tiefer allein zu sein, als je vorher. Meine Au f g a b e – wohin war sie ? Wie ? schien es jetzt nicht, | als ob sich meine Aufgabe von mir zurückziehe, als ob ich nun für lange kein Recht mehr auf sie habe ? Was thun, um d ie s e grösste Entbehrung auszuhalten ? – Ich begann damit, dass ich mir gründlich und grundsätzlich alle romantische Musik ve r b ot , diese zweideutige grossthuerische schwüle Kunst, welche den Geist um seine Strenge und Lustigkeit bringt und jede Art unklarer Sehnsucht, schwammichter Begehrlichkeit wuchern macht. „Cave musicam“ ist

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Vorrede

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auch heute noch mein Rath an Alle, die Manns genug sind, um in Dingen des Geistes auf Reinlichkeit zu halten ; solche Musik entnervt, erweicht, verweiblicht, ihr „Ewig-Weibliches“ zieht u n s  – hinab ! … G e g e n die romantische Musik wendete sich damals mein erster Argwohn, meine nächste Vorsicht ; und wenn ich überhaupt noch etwas von der Musik hoff te, so war es in der Erwartung, es möchte ein Musiker kommen, kühn, fein, boshaft, südlich, übergesund genug, um an jener Musik auf eine unsterbliche Weise R ac he z u ne h me n . – 4. Einsam nunmehr und schlimm misstrauisch gegen mich, nahm ich, nicht ohne Ingrimm, dergestalt Partei g e g e n mich und f ü r Alles, was gerade m i r wehe that und hart fiel :  – so fand ich den Weg zu jenem tapferen Pessimismus wieder, der der Gegensatz aller romantischen Verlogenheit ist, und auch, wie mir heute scheinen will, den Weg zu „mir“ selbst, zu me i ne r Aufgabe. Jenes verborgene und herrische Etwas, für das wir lange keinen Namen haben, bis es sich end|lich als unsre Au f g a b e erweist, – dieser Tyrann in uns nimmt eine schreckliche Wiedervergeltung für jeden Versuch, den wir machen, ihm auszuweichen oder zu entschlüpfen, für jede vorzeitige Bescheidung, für jede Gleichsetzung mit Solchen, zu denen wir nicht gehören, für jede noch so achtbare Thätigkeit, falls sie uns von unsrer Hauptsache ablenkt, ja für jede Tugend selbst, welche uns gegen die Härte der eigensten Verantwortlichkeit schützen möchte. Krankheit ist jedes Mal die Antwort, wenn wir an unsrem Rechte auf u n s r e Aufgabe zweifeln wollen, – wenn wir anfangen, es uns irgendworin leichter zu machen. Sonderbar und furchtbar zugleich ! Unsre Erle ic ht e r u n g e n sind es, die wir am härtesten büssen müssen ! Und wollen wir hinterdrein zur Gesundheit zurück, so bleibt uns keine Wahl : wir müssen uns s c hwe r e r belasten, als wir je vorher belastet waren …

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Vorrede

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5. – Damals lernte ich erst jenes einsiedlerische Reden, auf welches sich nur die Schweigendsten und Leidendsten verstehn : ich redete, ohne Zeugen oder vielmehr gleichgültig gegen Zeugen, um nicht am Schweigen zu leiden, ich sprach von lauter Dingen, die mich nichts angiengen, aber so, als ob sie mich etwas angiengen. Damals lernte ich die Kunst, mich heiter, objektiv, neugierig, vor allem gesund und boshaft zu g eb e n , – und bei einem Kranken ist dies, wie mir scheinen will, sein „guter Geschmack“ ? Einem feineren Auge und Mit-| gefühl wird es trotzdem nicht entgehn, was vielleicht den Reiz dieser Schriften ausmacht, – dass hier ein Leidender und Entbehrender redet, wie als ob er n ic ht ein Leidender und Entbehrender sei. Hier s ol l das Gleichgewicht, die Gelassenheit, sogar die Dankbarkeit gegen das Leben aufrecht erhalten werden, hier waltet ein strenger, stolzer, beständig wacher, beständig reizbarer Wille, der sich die Aufgabe gestellt hat, das Leben w id e r den Schmerz zu vertheidigen und alle Schlüsse abzuknicken, welche aus Schmerz, Enttäuschung, Ueberdruss, Vereinsamung und andrem Moorgrunde gleich giftigen Schwämmen aufzuwachsen pflegen. Dies giebt vielleicht gerade unsern Pessimisten Fingerzeige zur eignen Prüfung ? – denn damals war es, wo ich mir den Satz abgewann : „ein Leidender hat auf Pessimismus no c h k e i n R ec ht !“, damals führte ich mit mir einen langwierig-geduldigen Feldzug gegen den unwissenschaftlichen Grundhang jedes romantischen Pessimismus, einzelne persönliche Erfahrungen zu allgemeinen Urtheilen, ja Welt-Verurtheilungen aufzubauschen, auszudeuten … kurz, damals drehte ich meinen Blick her u m. Optimismus, zum Zweck der Wiederherstellung, um irgend wann einmal wieder Pessimist sein zu d ü r f e n   – versteht ihr das ? Gleich wie ein Arzt seinen Kranken in eine völlig fremde Umgebung stellt, damit er seinem ganzen „Bisher“, seinen Sorgen, Freunden, Briefen, Pflichten, Dummheiten

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Vorrede

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und Gedächtnissmartern entrückt wird und Hände und Sinne nach neuer Nahrung, neuer Sonne, neuer Zukunft ausstrekken lernt, so zwang ich | mich, als Arzt und Kranker in Einer Person, zu einem umgekehrten unerprobten K l i m a d e r S e e le, und namentlich zu einer abziehenden Wanderung in die Fremde, in d a s Fremde, zu einer Neugierde nach aller Art von Fremdem … Ein langes Herumziehn, Suchen, Wechseln folgte hieraus, ein Widerwille gegen alles Festbleiben, gegen jedes plumpe Bejahen und Verneinen ; ebenfalls eine Diätetik und Zucht, welche es dem Geiste so leicht als möglich machen wollte, weit zu laufen, hoch zu fl iegen, vor Allem immer wieder fort zu fl iegen. Thatsächlich ein Minimum von Leben, eine Loskettung von allen gröberen Begehrlichkeiten, eine Unabhängigkeit inmitten aller Art äusserer Ungunst, sammt dem Stolze, leben zu k ö n ne n unter dieser Ungunst ; etwas Cynismus vielleicht, etwas „Tonne“, aber ebenso gewiss viel Grillen-Glück, Grillen-Munterkeit, viel Stille, Licht, feinere Thorheit, verborgenes Schwärmen – das Alles ergab zuletzt eine grosse geistige Erstarkung, eine wachsende Lust und Fülle der Gesundheit. Das Leben selbst b e loh nt uns für unsern zähen Willen zum Leben, für einen solchen langen Krieg, wie ich ihn damals mit mir gegen den Pessimismus der Lebensmüdigkeit führte, schon für jeden aufmerksamen Blick unsrer Dankbarkeit, der sich die kleinsten, zartesten, flüchtigsten Geschenke des Lebens nicht entgehn lässt. Wir bekommen endlich dafür seine g r o s s e n Geschenke, vielleicht auch sein grösstes, das es zu geben vermag, – wir bekommen u n s r e Au f g a b e wieder zurück. – – | 6. – Sollte mein Erlebniss – die Geschichte einer Krankheit und Genesung, denn es lief auf eine Genesung hinaus – nur mein persönliches Erlebniss gewesen sein ? Und gerade nur me i n „Menschlich-Allzumenschliches“ ? Ich möchte heute das Um-

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Vorrede

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gekehrte glauben ; das Zutrauen kommt mir wieder und wieder dafür, dass meine Wanderbücher doch nicht nur für mich aufgezeichnet waren, wie es bisweilen den Anschein hatte –. Darf ich nunmehr, nach sechs Jahren wachsender Zuversicht, sie von Neuem zu einem Versuche auf die Reise schicken ? Darf ich sie Denen sonderlich an’s Herz und Ohr legen, welche mit irgend einer „Vergangenheit“ behaftet sind und Geist genug übrig haben, um auch noch am G e i s t e ihrer Vergangenheit zu leiden ? Vor allem aber Euch, die ihr es am schwersten habt, ihr Seltenen, Gefährdetsten, Geistigsten, Muthigsten, die ihr das G ew i s s e n der modernen Seele sein müsst und als solche ihr W i s s e n haben müsst, in denen was es nur heute von Krankheit, Gift und Gefahr geben kann zusammen kommt, – deren Loos es will, dass ihr kränker sein müsst als irgend ein Einzelner, weil ihr nicht „ nu r Einzelne“ seid … , deren Trost es ist, den Weg zu einer neue n Gesundheit zu wissen, ach ! und zu gehen, einer Gesundheit von Morgen und Uebermorgen, ihr Vorherbestimmten, ihr Siegreichen, ihr Zeit-Ueberwinder, ihr Gesündesten, ihr Stärksten, ihr g ut e n Eu r o p äe r ! – – | 7. – Dass ich schliesslich meinen Gegensatz gegen den r om a n t i s c h e n Pe s s i m i s mu s , das heisst zum Pessimismus der Entbehrenden, Missglückten, Ueberwundenen, noch in eine Formel bringe : es giebt einen Willen zum Tragischen und zum Pessimismus, der das Zeichen ebensosehr der Strenge als der Stärke des Intellekts (Geschmacks, Gefühls, Gewissens) ist. Man fürchtet, mit diesem Willen in der Brust, nicht das Furchtbare und Fragwürdige, das allem Dasein eignet ; man sucht es selbst auf. Hinter einem solchen Willen steht der Muth, der Stolz, das Verlangen nach einem g r o s s e n Feinde.  – Dies war m e i n e pessimistische Perspektive von Anbeginn, – eine neue Perspektive, wie mich dünkt ? eine solche, die auch heute noch neu und fremd ist ? Bis zu diesem

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Vorrede

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Augenblick halte ich an ihr fest, und, wenn man mir glauben will, ebensowohl für mich, als, gelegentlich wenigstens, g e g e n mich … Wollt ihr dies erst bewiesen ? Aber was sonst wäre mit dieser langen Vorrede – bewiesen ? S i l s - M a r i a , Oberengadin, im September 1886. |

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1–4

Erste Abtheilung : Vermischte Meinungen und Sprüche. |

1. A n d ie Ent täusc hten der Ph i losoph ie. – Wenn ihr bisher an den höchsten Werth des Lebens geglaubt habt und euch nun enttäuscht seht, müsst ihr es denn jetzt zum niedrigsten Preise losschlagen ? 2. Ve r wöh nt . – Man kann sich auch in Bezug auf die Helligkeit der Begriffe verwöhnen : wie ekelhaft wird da der Verkehr mit den Halbklaren, Dunstigen, Strebenden, Ahnenden ! Wie lächerlich und doch nicht erheiternd wirkt ihr ewiges Flattern und Haschen und doch nicht Fliegen- und Fangen-können ! 3. D ie Fr e ie r d e r W i r k l ic h k e it . – Wer endlich merkt, wie sehr und wie lange er genarrt worden ist, umarmt aus Trotz selbst die hässlichste Wirklichkeit : so dass dieser, den Verlauf der Welt im Ganzen gesehen, zu allen Zeiten die allerbesten Freier zugefallen sind,  – denn die Besten sind immer am besten und längsten getäuscht worden. | 4. For t s c h r it t d e r Fr e i g e i s t e r e i .  – Man kann den Unterschied der früheren und der gegenwärtigen Freigeisterei nicht besser verdeutlichen, als wenn man jenes Satzes gedenkt, den zu erkennen und auszusprechen die ganze Unerschrockenheit des vorigen Jahrhunderts nöthig war und der dennoch, von der jetzigen Einsicht aus bemessen, zu einer unfreiwilligen Naivetät herabsinkt, – ich meine den Satz Voltaire’s : „croyezmoi, mon ami, l’erreur aussi a son mérite.“

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Erste Abtheilung

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5. E i n e E r b s ü n d e d e r Ph i lo s o p h e n .  – Die Philosophen haben zu allen Zeiten die Sätze der Menschenprüfer (Moralisten) sich angeeignet und ve r d or b e n , dadurch dass sie dieselben unbedingt nahmen, und Das als nothwendig beweisen wollten, was von jenen nur als ungefährer Fingerzeig oder gar als land- oder stadtsässige Wahrheit eines Jahrzehends gemeint war, – während sie gerade dadurch sich über jene zu erheben meinten. So wird man als Grundlage der berühmten Lehren Schopenhauer’s vom Primat des Willens vor dem Intellect, von der Unveränderlichkeit des Charakters, von der Negativität der Lust – welche alle, so wie er sie versteht, Irrthümer sind – populäre Weisheiten fi nden, welche Moralisten aufgestellt haben. Schon das Wort „Wille“, welches Schopenhauer zur gemeinsamen Bezeichnung vieler menschlicher Zustände umbildete und in eine Lücke der Sprache hineinstellte, zum grossen Vortheil für ihn selber, soweit er Moralist war – da es ihm nun freistand, vom „Willen“ zu reden, wie Pascal von ihm geredet hatte –, schon der „Wille“ | Schopenhauer’s ist unter den Händen seines Urhebers, durch die PhilosophenWuth der Verallgemeinerung, zum Unheil für die Wissenschaft ausgeschlagen : denn dieser Wille ist zu einer poetischen Metapher gemacht, wenn behauptet wird, alle Dinge in der Natur hätten Willen ; endlich ist er, zum Zwecke einer Verwendung bei allerhand mystischem Unfuge, zu einer falschen Verdinglichung gemissbraucht worden – und alle Modephilosophen sagen es nach und scheinen es ganz genau zu wissen, dass alle Dinge Einen Willen hätten, ja dieser Eine Wille wären (was, nach der Abschilderung, die man von diesem All-Eins-Willen macht, so viel bedeutet als ob man durchaus den d u m me n Teu f e l zum Gotte haben wolle).

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6. W i d e r d i e Ph a n t a s t e n .  – Der Phantast verleugnet die Wahrheit vor sich, der Lügner nur vor Andern. 7. L ic ht- Fe i nd s c h a f t . – Macht man Jemandem klar, dass er, streng verstanden, nie von Wahrheit, sondern immer nur von Wahrscheinlichkeit und deren Graden reden könne, so entdeckt man gewöhnlich an der unverhohlenen Freude des also Belehrten, wie viel lieber den Menschen die Unsicherheit des geistigen Horizontes ist und wie sie die Wahrheit im Grunde ihrer Seele wegen ihrer Bestimmtheit h a s s e n .  – Liegt es daran, dass sie Alle insgeheim selber Furcht davor haben, dass man einmal das Licht der Wahrheit zu hell auf sie fallen lasse ? Sie wollen etwas bedeuten, folglich darf man nicht genau wissen, was sie s i nd ? Oder ist es | nur die Scheu vor dem allzuhellen Licht, an welches ihre dämmernden, leichtzublendenden Fledermaus-Seelen nicht gewöhnt sind, so dass sie es hassen müssen ? 8. C h r i s t e n - S k e p s i s. – Pilatus mit seiner Frage : was ist Wahrheit !, wird jetzt gern als Advocat Christi eingeführt, um alles Erkannte und Erkennbare als Schein zu verdächtigen und auf dem schauerlichen Hintergrunde des Nichts-wissen-könnens das Kreuz aufzurichten. 9. „Nat urgeset z“ ei n Wor t des Aberglaubens. – Wenn ihr so entzückt von der Gesetzmässigkeit in der Natur redet, so müsst ihr doch entweder annehmen, dass aus freiem, sich selbst unterwerfendem Gehorsam alle natürlichen Dinge ihrem Gesetze folgen – in welchem Falle ihr also die Moralität der Natur bewundert – ; oder euch entzückt die Vorstellung eines schaffenden Mechanikers, der die kunstvollste Uhr, mit lebenden Wesen als Zierrath daran, gemacht hat. –

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Die Nothwendigkeit in der Natur wird durch den Ausdruck „Gesetzmässigkeit“ menschlicher und ein letzter Zufluchtswinkel der mythologischen Träumerei. 10. D e r H i s t or ie ve r f a l le n . – Die Schleier-Philosophen und Welt-Verdunkler, also alle Metaphysiker feinern und gröberen Korns, ergreift Augen-, Ohren- und Zahnschmerz, wenn sie zu argwöhnen beginnen, dass es mit dem Satze : die ganze Philosophie sei von jetzt ab der Historie verfallen, seine Richtigkeit habe. Es ist ihnen, ihrer S c h me r z e n wegen, zu verzeihen, dass | sie nach Jenem, der so spricht, mit Steinen und Unflath werfen : die Lehre selbst kann aber dadurch eine Zeit lang schmutzig und unansehnlich werden und an Wirkung verlieren. 11. D e r Pe s s i m i s t d e s I nt e l le c t e s . – Der wahrhaft Freie im Geiste wird auch über den Geist selber frei denken und sich einiges Furchtbare in Hinsicht auf Quelle und Richtung desselben nicht verhehlen. Desshalb werden ihn die Andern vielleicht als den ärgsten Gegner der Freigeisterei bezeichnen und mit dem Schimpf- und Schreckwort „Pessimist des Intellectes“ belegen : gewohnt, wie sie sind, Jemanden nicht nach seiner hervorragenden Stärke und Tugend zu nennen, sondern nach dem, was ihnen am fremdesten an ihm ist. 12. S c h n a p p s ac k d e r Met a phy s i k e r. – Allen Denen, welche so grossthuerisch von der Wissenschaftlichkeit ihrer Metaphysik reden, soll man gar nicht antworten ; es genügt, sie an dem Bündel zu zupfen, welches sie, einigermaassen scheu, hinter ihrem Rücken verborgen halten ; gelingt es, dasselbe zu lüpfen, so kommen die Resultate jener Wissenschaftlichkeit, zu ihrem Erröthen, an’s Licht : ein kleiner lieber Herr-

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gott, eine artige Unsterblichkeit, vielleicht etwas Spiritismus und jedenfalls ein ganzer verschlungener Haufen von ArmenSünder-Elend und Pharisäer-Hochmuth. 13. G e le g e nt l ic he S c h ä d l ic h k e it d e r Erk e n nt n i s s. – Die Nützlichkeit, welche die unbedingte Erforschung des Wahren mit sich bringt, wird fortwährend so hundert|fach neu bewiesen, dass man die feinere und seltenere Schädlichkeit, an der Einzelne ihrethalben zu leiden haben, unbedingt mit in den Kauf nehmen muss. Man kann es nicht verhindern, dass der Chemiker bei seinen Versuchen sich gelegentlich vergiftet und verbrennt. – Was vom Chemiker gilt, gilt von unsrer gesammten Cultur : woraus sich, nebenbei gesagt, deutlich ergiebt, wie sehr dieselbe für Heilsalben bei Verbrennungen und für das stete Vorhandensein von Gegengiften zu sorgen hat. 14. Ph i l i s t e r - Not hd u r f t . – Der Philister meint einen Purpurfetzen oder Turban von Metaphysik am nöthigsten zu haben und will ihn durchaus nicht schlüpfen lassen : und doch würde man ihn ohne diesen Putz weniger lächerlich fi nden. 15. D ie S c hw ä r me r. – Mit Allem, was Schwärmer zu Gunsten ihres Evangeliums oder ihres Meisters sagen, vertheidigen sie sich selbst, so sehr sie sich auch als Richter (und nicht als Angeklagte) gebärden, weil sie unwillkürlich und fast in jedem Augenblicke daran erinnert werden, dass sie Ausnahmen sind, die sich legitimiren müssen. 16. D a s G ut e ve r f ü h r t z u m L eb e n . – Alle guten Dinge sind starke Reizmittel zum Leben, selbst jedes gute Buch, das gegen das Leben geschrieben ist.

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17. G l ü c k d e s H i s t o r i k e r s .  – „Wenn wir die spitzfi ndigen Metaphysiker und Hinterweltler reden hören, fühlen wir Anderen freilich, dass wir die „Armen im | Geist“ sind, aber auch dass unser das Himmelreich des Wechsels, mit Frühling und Herbst, Winter und Sommer, und jenen die Hinterwelt ist, mit ihren grauen, frostigen, unendlichen Nebeln und Schatten.“ – So sprach Einer zu sich bei einem Gange in der Morgensonne : Einer, dem bei der Historie nicht nur der Geist, sondern auch das Herz sich immer neu verwandelt und der, im Gegensatze zu den Metaphysikern, glücklich darüber ist, nicht „Eine unsterbliche Seele“, sondern v ie le s t e r bl ic he S e e le n in sich zu beherbergen. 18. Drei A r ten von Den ker n. – Es giebt strömende, fliessende, tröpfelnde Mineralquellen ; und dem entsprechend drei Arten von Denkern. Der Laie schätzt sie nach der Masse des Wassers, der Kenner nach dem Gehalt des Wassers ab, also nach dem, was eben n ic ht Wasser in ihnen ist. 19. D a s Bi ld d e s L eb e n s. – Die Aufgabe, d a s Bild d e s Lebens zu malen, so oft sie auch von Dichtern und Philosophen gestellt wurde, ist trotzdem unsinnig : auch unter den Händen der grössten Maler-Denker sind immer nur Bilder und Bildchen au s e i ne m Leben, nämlich aus ihrem Leben, entstanden – und nichts Anderes ist auch nur möglich. Im Werdenden kann sich ein Werdendes nicht als fest und dauernd, nicht als ein „das“ spiegeln. 20. Wa h rheit w i l l kei ne Göt ter neben sic h. – Der Glaube an die Wahrheit beginnt mit dem Zweifel an allen bis dahin geglaubten Wahrheiten. |

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21. Wor ü b e r S c hwe i g e n ve rl a n g t w i r d . – Wenn man von der Freigeisterei wie von einer höchst gefährlichen Gletscherund Eismeer-Wanderung redet, so sind Die, welche jenen Weg nicht gehen wollen, beleidigt als ob man ihnen Zaghaftigkeit und schwache Kniee zum Vorwurf gemacht hätte. Das Schwere, dem wir uns nicht gewachsen fühlen, soll nicht einmal vor uns genannt werden. 22. H i s t or i a i n nuc e.  – Die ernsthafteste Parodie, die ich je hörte, ist diese : „im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn w a r, bei Gott ! und Gott (göttlich) war der Unsinn.“ 23. Un he i l b a r. – Ein Idealist ist unverbesserlich : wirft man ihn aus seinem Himmel, so macht er sich aus der Hölle ein Ideal zurecht. Man enttäusche ihn und siehe ! – er wird die Enttäuschung nicht minder brünstig umarmen als er noch jüngst die Hoff nung umarmt hat. Insofern sein Hang zu den grossen unheilbaren Hängen der menschlichen Natur gehört, kann er tragische Schicksale herbeiführen und später Gegenstand von Tragödien werden : als welche es eben mit dem Unheilbaren, Unabwendbaren, Unentfl iehbaren in Menschenloos und -Charakter zu thun haben. 24. Der Bei fa l l selber a l s For t set z u ng des Sc hau s piel s. – Strahlende Augen und ein wohlwollendes Lächeln ist die Art des Beifalls, welcher der ganzen | grossen Welt- und Daseinskomödie gezollt wird, – aber zugleich eine Komödie in der Komödie, welche die andern Zuschauer zum „plaudite amici“ verführen soll.

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25. Mut h z u r L a n g we i l i g k e it .  – Wer den Muth nicht hat, sich und sein Werk langweilig fi nden zu lassen, ist gewiss kein Geist ersten Ranges, sei es in Künsten oder Wissenschaften. – Ein Spötter, der ausnahmsweise auch ein Denker wäre, könnte, bei einem Blick auf Welt und Geschichte, hinzufügen : „Gott hatte diesen Muth nicht ; er hat die Dinge insgesammt zu interessant machen wollen und gemacht.“ 26. A u s d e r i n n e r s t e n E r f a h r u n g d e s D e n k e r s . – Nichts wird dem Menschen schwerer, als eine Sache unpersönlich zu fassen : ich meine, in ihr eben eine Sache und k e i ne Pe r s o n zu sehen : ja man kann fragen, ob es ihm überhaupt möglich ist, das Uhrwerk seines personenbildenden, personendichtenden Triebes auch nur einen Augenblick auszuhängen. Verkehrt er doch selbst mit G e d a n k e n , und seien es die abstractesten, so, als wären es Individuen, mit denen man kämpfen, an die man sich anschliessen, welche man behüten, pflegen, aufnähren müsse. Belauern und belauschen wir uns nur selber, in jenen Minuten, wo wir einen uns neuen Satz hören oder fi nden. Vielleicht missfällt er uns, weil er so trotzig, so selbstherrlich dasteht ; unbewusst fragen wir uns, ob wir ihm nicht einen Gegensatz als Feind zur Seite ordnen, ob wir ihm ein „Vielleicht“, ein „Mitunter“ anhängen können ; selbst das Wörtchen | „wahrscheinlich“ giebt uns eine Genugthuung, weil es die persönlich lästige Tyrannei des Unbedingten bricht. Wenn dagegen jener neue Satz in milder Form einherzieht, fein duldsam und demüthig und dem Widerspruche gleichsam in die Arme sinkend, so versuchen wir es mit einer andern Probe unserer Selbstherrlichkeit : wie, können wir diesem schwachen Wesen nicht zu Hülfe kommen, es streicheln und nähren, ihm Kraft und Fülle, ja Wahrheit und selbst Unbedingtheit geben ? Ist es möglich, uns elternhaft oder ritter-

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lich oder mitleidig gegen dasselbe zu benehmen ? – Dann wieder sehen wir hier ein Urtheil und dort ein Urtheil, entfernt von einander, ohne sich anzusehen, ohne sich auf einander zuzubewegen : da kitzelt uns der Gedanke, ob hier nicht eine Ehe zu schliessen, ein S c h lu s s zu ziehen sei, mit dem Vorgefühle, dass, im Falle sich eine Folge aus diesem Schlusse ergiebt, nicht nur die beiden ehelich verbundenen Urtheile, sondern auch die Ehestifter die Ehre davon haben. Kann man aber weder auf dem Wege des Trotzes und Uebelwollens, noch auf dem des Wohlwollens jenem Gedanken etwas anhaben (hält man ihn für w a h r   –), dann unterwirft man sich und huldigt ihm als einem Führer und Herzoge, giebt ihm einen Ehrenstuhl und spricht nicht ohne Gepränge und Stolz von ihm ; denn in s e i ne m Glanze glänzt man mit. Wehe dem, der diesen verdunkeln will ; es sei denn, dass er selber uns eines Tages bedenklich wird :  – dann stossen wir, die unermüdlichen „Königsmacher“ (king-makers) der Geschichte des Geistes, ihn vom Throne und heben flugs seinen Gegner hinauf. Diess erwäge man und denke noch ein Stück weiter : gewiss wird Niemand dann von einem „Erkenntnisstriebe an und für sich“ reden ! – | Wesshalb zieht also der Mensch das Wahre dem Unwahren vor, in diesem he i m l ic he n Kampfe mit Gedanken-Personen, in dieser meist versteckt bleibenden Gedanken-Ehestiftung, Gedanken-Staatenbegründung, Gedanken-Kinderzucht, Gedanken-Armen- und Krankenpflege ? Aus dem gleichen Grunde, aus dem er die Gerechtigkeit im Verkehre mit wirklichen Personen übt : jet z t aus Gewohnheit, Vererbung und Anerziehung, u r s p r ü n g l ic h , weil das Wahre – wie auch das Billige und Gerechte – nüt z l ic he r und e h r eb r i n g e nd e r ist als das Unwahre, denn im Reiche des Denkens sind M ac ht und R u f schlecht zu behaupten, die sich auf dem Irrthum oder der Lüge aufbauen : das Gefühl dass ein solcher Bau irgend einmal zusammenbrechen könne, ist demüt h igend für das Selbstbewusstsein seines Baumeisters ;

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er schämt sich der Zerbrechlichkeit seines Materials und möchte, weil er s ic h selber w ic ht i g e r als die übrige Welt nimmt, Nichts thun, was nicht d aue r nd e r als die übrige Welt wäre. Im Verlangen nach der Wahrheit umarmt er den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit, das heisst den hochmüthigsten und trotzigsten Gedanken, den es giebt, verschwistert, wie er ist, mit dem Hintergedanken „pereat mundus, dum ego salvus sim !“ Sein Werk ist ihm zu seinem ego geworden, er schaff t sich selber in’s Unvergängliche, Allem Trotzbietende um. Sein unermesslicher Stolz ist es, der nur die besten, härtesten Steine zum Werke verwenden will, Wahrheiten also oder Das, was er dafür hält. Mit Recht hat man zu allen Zeiten „das Laster des Wissenden“ den Ho c h mut h genannt, – doch würde es ohne dieses triebkräftige Laster erbärmlich um die Wahrheit und deren Geltung auf Erden bestellt sein. Darin dass wir uns vor | unsern eigenen Gedanken, Begriffen, Worten f ü r c ht e n , dass wir aber auch in ihnen uns selber e h r e n , ihnen unwillkürlich die Kraft zuschreiben, uns belehren, verachten, loben und tadeln zu können, darin dass wir also mit ihnen wie mit freien geistigen Personen, mit unabhängigen Mächten verkehren, als Gleiche mit Gleichen – darin hat das seltsame Phänomen seine Wurzel, welches ich „intellectuales Gewissen“ genannt habe. – So ist auch hier etwas Moralisches höchster Gattung aus einer Schwarzwurzel herausgeblüht. 27. D ie O b s c u r a nt e n .  – Das Wesentliche an der schwarzen Kunst des Obscurantismus ist nicht, dass er die Köpfe verdunkeln will, sondern dass er das Bild der Welt anschwärzen, unsere Vor s t e l lu n g vom D a s e i n ve r d u n k e l n will. Dazu dient ihm zwar häufig jenes Mittel, die Aufhellung der Geister zu hintertreiben : mitunter aber gebraucht er gerade das entgegengesetzte Mittel und sucht durch die höchste Verfeinerung des Intellects einen Ueb e r d r u s s an dessen Früchten

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zu erzeugen. Spitzfi ndige Metaphysiker, welche die Skepsis vorbereiten und durch ihren übermässigen Scharfsinn zum Misstrauen gegen den Scharfsinn auffordern, sind gute Werkzeuge eines feineren Obscurantismus. – Ist es möglich, dass selbst Kant in dieser Absicht verwendet werden kann ? ja dass er, nach seiner eigenen berüchtigten Erklärung, etwas Derartiges, wenigstens zeitweilig, g ewol lt h at : dem G l au b e n Bahn machen, dadurch, dass er dem W i s s e n seine Schranken wies ? – was ihm nun freilich nicht gelungen ist, ihm so wenig, wie seinen Nachfolgern auf den Wolfs- und Fuchsgängen dieses höchst verfeinerten | und gefährlichen Obscurantismus, ja des gefährlichsten : denn die schwarze Kunst erscheint hier in einer Lichthülle. 28. A n welcher A r t von Ph i losoph ie d ie Kunst verd irbt. – Wenn es den Nebeln einer metaphysisch-mystischen Philosophie gelingt, alle ästhetischen Phänomene u nd u r c h s ic htb a r zu machen, so folgt dann, dass sie auch unter einander u n a b s c h ät z ba r sind, weil jedes Einzelne unerklärlich wird. Dürfen sie aber nicht einmal mehr mit einander zum Zwecke der Abschätzung verglichen werden, so entsteht zuletzt eine vollständige Un k r it i k , ein blindes Gewährenlassen ; daraus aber wiederum eine stätige Abnahme des G e nu s s e s an der Kunst (welcher nur durch ein höchst verschärftes Schmecken und Unterscheiden sich von der rohen Stillung eines Bedürfnisses unterscheidet). Je mehr aber der Genuss abnimmt, um so mehr wandelt sich das Kunst-Verlangen zum gemeinen Hunger um und zurück, dem nun der Künstler durch immer gröbere Kost abzuhelfen sucht. 29. Au f G et h s e m a ne. – Das Schmerzlichste, was der Denker zu den Künstlern sagen kann, lautet : „könnt ihr denn nicht eine Stunde m it m i r w a c he n ?“

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30. A m Web s t u h le. – Den Wenigen, welche eine Freude daran haben, den Knoten der Dinge zu lösen und sein Gewebe aufzutrennen, arbeiten Viele entgegen (zum Beispiel alle Künstler und Frauen), ihn immer wieder neu zu knüpfen, neu zu verwickeln und so das Begriffene | in’s Unbegriffene, womöglich Unbegreifliche umzubilden. Was dabei auch sonst herauskomme, – das Gewebte, Verknotete wird immer etwas unreinlich aussehen müssen, weil zu viele Hände daran arbeiten und ziehen. 31. I n d e r Wü s t e d e r W i s s e n s c h a f t . – Dem wissenschaftlichen Menschen erscheinen auf seinen bescheidenen und mühsamen Wanderungen, die oft genug Wüstenreisen sein müssen, jene glänzenden Lufterscheinungen, die man „philosophische Systeme“ nennt : sie zeigen mit zauberischer Kraft der Täuschung die Lösung aller Räthsel und den frischesten Trunk wahren Lebenswassers in der Nähe ; das Herz schwelgt und der Ermüdete berührt das Ziel aller wissenschaftlichen Ausdauer und Noth beinahe schon mit den Lippen, so dass er wie unwillkürlich vorwärts drängt. Freilich bleiben andere Naturen, von der schönen Täuschung wie betäubt, stehen : die Wüste verschlingt sie, für die Wissenschaft sind sie todt. Wieder andere Naturen, welche jene subjectiven Tröstungen schon öfter erfahren haben, werden wohl auf ’s Aeusserste missmuthig und verfluchen den Salzgeschmack, welchen jene Erscheinungen im Munde hinterlassen und aus dem ein rasender Durst entsteht – ohne dass man nur Einen Schritt damit irgend einer Quelle näher gekommen wäre. 32. Die a ngebl ic he „w i rk l ic he Wi rk l ic h keit.“ – Der Dichter stellt sich so, wenn er die einzelnen Berufsarten z. B. die des Feldherrn, des Seidenwebers, des Seemanns schildert, als

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ob er diese Dinge von Grund | aus kenne und ein W i s s e n d e r sei ; ja bei der Auseinandersetzung menschlicher Handlungen und Geschicke benimmt er sich, wie als ob er beim Ausspinnen des ganzen Weltennetzes zugegen gewesen sei ; in so fern ist er ein Betrüger. Und zwar betrügt er vor lauter N ic ht w i s s e nd e n – und desshalb gelingt es ihm : diese bringen ihm das Lob seines ächten und tiefen Wissens entgegen und verleiten ihn endlich zu dem Wahne, er wisse die Dinge wirklich so gut wie der einzelne Kenner und Macher, ja wie die grosse Welten-Spinne selber. Zuletzt also wird der Betrüger ehrlich und glaubt an seine Wahrhaftigkeit. Ja, die empfi ndenden Menschen sagen es ihm sogar in’s Gesicht, er habe die höhe r e Wahrheit und Wahrhaftigkeit, – sie sind nämlich der Wirklichkeit zeitweilig müde und nehmen den dichterischen Traum als eine wohlthätige Ausspannung und Nacht für Kopf und Herz. Was dieser Traum ihnen zeigt, erscheint ihnen jetzt mehr we r t h , weil sie es, wie gesagt, wohlthätiger empfi nden : und immer haben die Menschen gemeint, das werthvoller Scheinende sei das Wahrere, Wirklichere. Die Dichter, die sich dieser Macht b e w u s s t sind, gehen absichtlich darauf aus, Das, was für gewöhnlich Wirklichkeit genannt wird, zu verunglimpfen und zum Unsichern, Scheinbaren, Unächten, Sünd-, Leid- und Trugvollen umzubilden ; sie benützen alle Zweifel über die Gränzen der Erkenntniss, alle skeptischen Ausschreitungen, um die faltigen Schleier der Unsicherheit über die Dinge zu breiten : damit dann, nach dieser Verdunkelung, ihre Zauberei und Seelenmagie recht unbedenklich als Weg zur „wahren Wahrheit“, zur „wirklichen Wirklichkeit“ verstanden werde. | 33. Gerec ht sei n wol len u nd R ic hter sei n wol len. – Schopenhauer, dessen grosse Kennerschaft für Menschliches und Allzumenschliches, dessen ursprünglicher Thatsachen-Sinn nicht wenig durch das bunte Leoparden-Fell seiner Meta-

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physik beeinträchtigt worden ist (welches man ihm erst abziehen muss, um ein wirkliches Moralisten-Genie darunter zu entdecken)  – Schopenhauer macht jene treffliche Unterscheidung, mit der er viel mehr Recht behalten wird, als er sich selber eigentlich zugestehen durfte : „die Einsicht in die strenge Nothwendigkeit der menschlichen Handlungen ist die Gränzlinie, welche die ph i lo s o ph i s c he n K ö pf e vo n d e n a nd e r e n scheidet.“ Dieser mächtigen Einsicht, welcher er zu Zeiten offen stand, wirkte er bei sich selber durch jenes Vorurtheil entgegen, welches er mit den moralischen Menschen (n i c h t mit den Moralisten) noch gemein hatte und das er ganz harmlos und gläubig so ausspricht : „der letzte und wahre Aufschluss über das innere Wesen des Ganzen der Dinge muss nothwendig eng zusammenhängen mit dem über die ethische Bedeutsamkeit des menschlichen Handelns“,  – was eben durchaus nicht „nothwendig“ ist, vielmehr durch jenen Satz von der strengen Nothwendigkeit der menschlichen Handlungen, das heisst der unbedingten Willens-Unfreiheit und -Unverantwortlichkeit, eben abgelehnt wird. Die philosophischen Köpfe werden sich also von den anderen durch den Unglauben an die metaphysische Bedeutsamkeit der Moral unterscheiden : und das dürfte eine Kluft zwischen sie legen, von deren Tiefe und Unüberbrückbarkeit die so beklagte Kluft zwischen „Gebildet“ und „Ungebildet“, wie sie jetzt existirt, kaum einen Begriff giebt. Freilich | muss noch manche Hinterthür, welche sich die „philosophischen Köpfe“, gleich Schopenhauern selbst, gelassen haben, als nutzlos erkannt werden : k e i ne führt in’s Freie, in die Luft des freien Willens ; je d e, durch welche man bisher geschlüpft ist, zeigte dahinter wieder die ehern blinkende Mauer des Fatums : wir s i nd im Gefängniss, frei können wir uns nur t r äu me n , nicht machen. Dass dieser Erkenntniss nicht lange mehr widerstrebt werden kann, das zeigen die verzweifelten und unglaublichen Stellungen und Verzerrungen Derer an, welche gegen sie andringen,

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mit ihr noch den Ringkampf fortsetzen. – So ungefähr geht es bei ihnen jetzt zu : „also kein Mensch verantwortlich ? Und Alles voll Schuld und Schuldgefühl ? aber irgendwo muss doch der Sünder sein : ist es unmöglich und nicht mehr erlaubt, den Einzelnen, die arme Welle im nothwendigen Wellenspiele des Werdens, anzuklagen und zu richten, – nun denn : so sei das Wellenspiel selbst, das Werden, der Sünder : hier ist der freie Wille, hier darf angeklagt, verurtheilt, gebüsst und gesühnt werden : so sei G ot t d e r S ü nd e r und d e r Me n s c h s e i n E rlö s e r : so sei die Weltgeschichte Schuld, Selbstverurtheilung und Selbstmord ; so werde der Missethäter zum eigenen Richter, der Richter zum eigenen Henker.“ – Dieses au f d e n K o p f g e s t e l lt e C h r i s t e n t hu m   – was ist es denn sonst ?  – ist der letzte Fechter-Ausfall im Kampfe der Lehre von der unbedingten Moralität mit der von der unbedingten Unfreiheit, – ein schauerliches Ding, wenn es me h r wäre als eine log i s c he Gr i m a s s e, mehr als eine hässliche Gebärde des unterliegenden Gedankens, – etwa der Todeskrampf des verzweifelnden und heilsüchtigen Herzens, dem der Wahnsinn zuflüstert : „Siehe, du bist das Lamm, das | Gottes Sünde trägt.“ – Der Irrthum steckt nicht nur im Gefühle „ich bin verantwortlich“, sondern eben so in jenem Gegensatze „ich bin es nicht, aber irgendwer muss es doch sein.“ – Diess ist eben nicht wahr : der Philosoph hat also zu sagen, wie Christus, „richtet nicht !“ und der letzte Unterschied zwischen den philosophischen Köpfen und den andern wäre der, dass die ersten g e r e c ht s e i n wollen, die andern R ic ht e r s e i n wollen. 34. Au fopfer u ng. – Ihr meint, das Kennzeichen der moralischen Handlung sei die Aufopferung ? – Denkt doch nach, ob nicht bei je d e r Handlung, die mit Ueberlegung gethan wird, Aufopferung dabei ist, bei der schlechtesten wie bei der besten.

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35. G eg en d ie Nier enpr ü fer der Sit t l ic h k eit. – Man muss das Beste und das Schlechteste kennen, dessen ein Mensch fähig ist, im Vorstellen und Ausführen, um zu beurtheilen, wie stark seine sittliche Natur ist und wurde. Aber jenes zu erfahren ist unmöglich. 36. S c h l a n g e n z a h n . – Ob man einen Schlangenzahn habe oder nicht, weiss man nicht eher, als bis Jemand die Ferse auf uns gesetzt hat. Eine Frau oder Mutter würde sagen : bis Jemand die Ferse auf unsern Liebling, unser Kind gesetzt hat. – Unser Charakter wird noch mehr durch den Mangel gewisser Erlebnisse, als durch Das, was man erlebt, bestimmt. 37. Der Bet r ug i n der Liebe. – Man vergisst manches aus seiner Vergangenheit und schlägt es sich | absichtlich aus dem Sinn : das heisst, man will, dass unser Bild, welches von der Vergangenheit her uns anstrahlt, uns belüge, unserm Dünkel schmeichele,  – wir arbeiten fortwährend an diesem Selbstbetruge. – Und nun meint ihr, die ihr so viel vom „Sich selbst vergessen in der Liebe“, vom „Aufgeben des Ich in der andern Person“ redet und rühmt, diess sei etwas wesentlich Anderes ? Also man zerbricht den Spiegel, dichtet sich in eine Person hinein, die man bewundert, und geniesst nun das neue Bild seines Ich, ob man es schon mit dem Namen der anderen Person nennt, – und dieser ganze Vorgang soll n ic ht Selbstbetrug, n ic ht Selbstsucht sein, ihr Wunderlichen ! – Ich denke, Die, welche etwas von sich vor s ic h verhehlen und Die, welche sich als Ganzes vor sich verhehlen, sind darin gleich, dass sie in der Schatzkammer der Erkenntniss einen D ieb s t a h l verüben : woraus sich ergiebt, vor welchem Vergehen der Satz „erkenne dich selbst“ warnt.

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38. A n d e n L eu g n e r s e i ne r E it e l k e it . – Wer die Eitelkeit bei sich leugnet, besitzt sie gewöhnlich in so brutaler Form, dass er instinctiv vor ihr das Auge schliesst, um sich nicht verachten zu müssen. 39. Wessha lb d ie Du m men so of t bosha f t werden. – Auf Einwände des Gegners, gegen welche sich unser Kopf zu schwach fühlt, antwortet unser Herz durch Verdächtigung der Motive seiner Einwände. 40. Die Ku nst der mora l isc hen Ausna h men. – Einer Kunst, welche die Ausnahmefälle der Moral zeigt | und verherrlicht – dort wo das Gute schlecht, das Ungerechte gerecht wird – darf man nur selten Gehör geben : wie man von Zigeunern ab und zu Etwas kauft, doch mit Scheu, dass sie nicht viel mehr entwenden, als der Gewinn beim Kaufe ist. 41. G e nu s s u nd N ic ht- G e nu s s vo n G i f t e n . – Das einzige entscheidende Argument, welches zu allen Zeiten die Menschen abgehalten hat, ein Gift zu trinken, ist nicht, dass es tödtete, sondern, dass es schlecht schmeckte. 42. D ie We lt oh ne Sü nd e n g e f ü h le. – Wenn nur solche Thaten gethan würden, welche kein schlechtes Gewissen erzeugen, so sähe die menschliche Welt immer noch schlecht und schurkenhaft genug aus : aber nicht so kränklich und erbärmlich wie jetzt. – Es lebten genug Böse oh ne Gewissen zu allen Zeiten : und vielen Guten und Braven fehlt das Lustgefühl des guten Gewissens.

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43. Die Gew i ssen ha f ten. – Seinem Gewissen folgen ist bequemer, als seinem Verstande : denn es hat bei jedem Misserfolg eine Entschuldigung und Aufheiterung in sich, – darum giebt es immer noch so viele Gewissenhafte gegen so wenig Verständige. 44. E nt g e g e n g e s et z t e M it t e l , d a s Bit t e r we r d e n z u ve r hüt e n . – Dem einen Temperament ist es von Nutzen, seinen Verdruss in Worten auslassen zu können : im Reden versüsst es sich. Ein anderes Temperament | kommt erst durch Aussprechen zu seiner vollen Bitterkeit : ihm ist es räthlicher, Etwas hinunterschlucken zu müssen : der Zwang, den Menschen solcher Art sich vor Feinden oder Vorgesetzten anthun, verbessert ihren Charakter und verhütet, dass er allzu scharf und sauer wird. 45. Nic ht z u sc hwer neh men. – Sich wund liegen ist unangenehm, aber doch kein Beweis gegen die Güte der Cur, nach der man bestimmt wurde, sich zu Bett zu legen. – Menschen, die lange ausser sich lebten und endlich sich dem philosophischen Innen- und Binnenleben zuwandten, wissen, dass es auch ein Sich-wund-liegen von Gemüth und Geist giebt. Diess ist also kein Argument gegen die gewählte Lebensweise im Ganzen, macht aber einige kleine Ausnahmen und scheinbare Rückfälligkeiten nöthig. 46. Da s men sc h l ic he „D i n g a n s ic h “. – Das verwundbarste Ding und doch das unbesiegbarste ist die menschliche Eitelkeit : ja durch die Verwundung wächst seine Kraft und kann zuletzt riesengross werden. 47. D ie Po s s e v ie le r A r b e it s a me n . – Sie erkämpfen durch ein Uebermaass von Anstrengung sich freie Zeit und wissen

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nachher Nichts mit ihr anzufangen, als die Stunden abzuzählen, bis sie abgelaufen sind. 48. V ie l Fr eu d e h a b e n . – Wer viel Freude hat, muss ein guter Mensch sein : aber vielleicht ist er nicht | der klügste, obwohl er gerade Das erreicht, was der Klügste mit aller seiner Klugheit erstrebt. 49. Im Spiegel der Nat ur. – Ist ein Mensch nicht ziemlich genau beschrieben, wenn man hört, dass er gern zwischen gelben hohen Kornfeldern geht, dass er die Waldes- und Blumenfarben des abglühenden und vergilbten Herbstes allen andern vorzieht, weil sie auf Schöneres hindeuten als der Natur je gelingt, dass er unter grossen fettblätterigen Nussbäumen sich ganz heimisch wie unter Bluts-Verwandten fühlt, dass im Gebirge seine grösste Freude ist, jenen kleinen abgelegenen Seen zu begegnen, aus denen ihn die Einsamkeit selber mit ihren Augen anzusehen scheint, dass er jene graue Ruhe der Nebel-Dämmerung liebt, welche an Herbst- und FrühwinterAbenden an die Fenster heranschleicht und jedes seelenlose Geräusch wie mit Sammt-Vorhängen ausschliesst, dass er unbehauenes Gestein als übriggebliebene, der Sprache begierige Zeugen der Vorzeit empfi ndet und von Kind an verehrt, und zuletzt, dass ihm das Meer mit seiner beweglichen Schlangenhaut und Raubthier-Schönheit fremd ist und bleibt ?  – Ja, Et wa s von diesem Menschen ist allerdings damit beschrieben, aber der Spiegel der Natur sagt Nichts darüber, dass der selbe Mensch, bei aller seiner idyllischen Empfi ndsamkeit (und nicht einmal „trotz ihrer“), ziemlich lieblos, knauserig und eingebildet sein könnte. Horaz, der sich auf dergleichen Dinge verstand, hat das zarteste Gefühl für das Landleben einem römischen Wuc her er in Mund und Seele gelegt, in dem berühmten „beatus ille qui procul negotiis“. |

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50. M a c h t oh n e S i e g e .  – Die stärkste Erkenntniss (die von der völligen Unfreiheit des menschlichen Willens) ist doch die ärmste an Erfolgen : denn sie hat immer den stärksten Gegner, die menschliche Eitelkeit. 51. L u s t u n d I r r t hu m .  – Der Eine theilt sich unwillkürlich durch sein Wesen an seine Freunde wohlthätig mit, der Andere willkürlich durch einzelne Handlungen. Obgleich das Erstere als das Höhere g i lt , so ist doch nur das Zweite mit dem guten Gewissen und der Lust verknüpft – nämlich mit der Lust der Werkheiligkeit, welche auf dem Glauben an der Willkür unseres Gut- und Schlimmthuns, das heisst auf einem Irrthum ruht. 52. Es i st t hör ic ht, Un rec ht z u t hu n. – Eigenes Unrecht, das man zugefügt hat, ist viel schwerer zu tragen als fremdes, das Einem zugefügt wurde (nicht gerade aus moralischen Gründen, wohlgemerkt –) ; der Thäter ist eigentlich immer der Leidende, we n n er nämlich entweder den Gewissensbissen zugänglich ist oder der Einsicht, dass er die Gesellschaft gegen sich durch seine Handlung bewaff net und sich isolirt habe. Desshalb sollte man sich, schon seines inneren Glückes wegen, also um seines Wohlbehagens nicht verlustig zu gehen, ganz abgesehen von Allem, was Religion und Moral gebieten, vor dem Unrecht-Thun in Acht nehmen, mehr noch als vor dem Unrecht-Erfahren : denn letzteres hat den Trost des guten Gewissens, der Hoff nung auf Rache, auf Mitleiden und Beifall der Gerechten, ja der | ganzen Gesellschaft, welche sich vor dem Uebelthäter fürchtet.  – Nicht Wenige verstehen sich auf die unsaubere Selbstüberlistung, jedes eigene Unrecht in ein fremdes, ihnen zugefügtes umzumünzen und für das, was sie selber gethan haben, sich das Ausnahmerecht der Nothwehr zur

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Entschuldigung vorzubehalten : um auf diese Weise viel leichter an ihrer Last zu tragen. 53. Neid m it oder oh ne Mu nd st üc k . – Der gewöhnliche Neid pflegt zu gackern, sobald das beneidete Huhn ein Ei gelegt hat, er erleichtert sich dabei und wird milder. Es giebt aber einen noch tieferen Neid : der wird in solchem Falle todtenstill, und, wünschend dass jetzt jeder Mund versiegelt würde, immer wüthender darüber, dass diess gerade nicht geschieht. Der schweigende Neid wächst im Schweigen. 54. D e r Z or n a l s S p io n . – Der Zorn schöpft die Seele aus und bringt selbst den Bodensatz an’s Licht. Man muss desshalb, wenn man sonst sich nicht Klarheit zu schaffen weiss, seine Umgebung, seine Anhänger und Gegner in Zorn zu versetzen wissen, um zu erfahren, was im Grunde Alles wider uns geschieht und gedacht wird. 55. Die Ver theid ig ung mora l isch schw ier iger a ls der A ng r if f. – Das wahre Helden- und Meisterstück des guten Menschen liegt nicht darin, dass er die Sache angreift und die Person fortfährt zu lieben, sondern in dem viel schwereren, seine e i g e ne Sache zu ve r t he id i g e n , ohne dass man der angreifenden Person bitteres | Herzeleid mache und machen wolle. Das Schwert des Angriffs ist ehrlich und breit, das der Vertheidigung läuft gewöhnlich in eine Nadel aus. 56. E h rl ic h g e g e n d ie E h rl ic h k e it . – Einer, der gegen sich öffentlich ehrlich ist, bildet sich zu allerletzt Etwas auf diese Ehrlichkeit ein : denn er weiss nur zu gut, warum er ehrlich ist, – aus dem selben Grunde, aus dem ein Anderer den Schein und die Verstellung vorzieht.

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57. G l ü h e n d e K oh le n .  – Glühende Kohlen auf des Andern Haupt sammeln wird gewöhnlich missverstanden und schlägt fehl, weil der Andere sich ebenfalls im Besitze des Rechts weiss und auch seinerseits an das Kohlensammeln gedacht hat. 58. G e f ä h rl ic he Büc he r. – Da sagt Einer „ich merke es an mir selber : diess Buch ist schädlich.“ Aber er warte nur ab und vielleicht gesteht er sich eines Tages, dass dieses selbe Buch ihm einen grossen Dienst erwies, indem es die versteckte Krankheit seines Herzens hervortrieb und in die Sichtbarkeit brachte. – Veränderte Meinungen verändern den Charakter eines Menschen nicht (oder ganz wenig) ; wohl aber beleuchten sie einzelne Seiten des Gestirns seiner Persönlichkeit, welche bisher, bei einer andern Constellation von Meinungen, dunkel und unerkennbar geblieben waren. 59. Geheuc heltes M it leiden. – Man heuchelt Mitleiden, wenn man über das Gefühl der Feindseligkeit sich erhaben | z e i g e n will : aber gewöhnlich umsonst. Diess bemerkt man nicht ohne ein starkes Zunehmen jener feindseligen Empfi ndung. 60. O f f e n e r W id e r s p r u c h of t ve r s öh n e n d .  – Im Augenblick, wo einer seine Differenz der Lehrmeinung in Hinsicht auf einen berühmten Parteiführer oder Lehrer öffentlich zu erkennen giebt, glaubt alle Welt, er müsse ihm gram sein. Mitunter hört er aber gerade da auf, ihm gram zu sein : er wagt es, sich selber neben ihn aufzustellen und ist die Qual der unausgesprochenen Eifersucht los.

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61. S e i n L ic ht leuc ht e n s e he n . – Im verfi nsterten Zustande von Trübsal, Krankheit, Verschuldung sehen wir es gern, wenn wir Anderen noch leuchten und sie an uns die helle Mondesscheibe wahrnehmen. Auf diesem Umwege nehmen wir an unserer eigenen Fähigkeit, zu erhellen, Antheil. 62. M it f r eu d e. – Die Schlange, die uns sticht, meint uns wehe zu thun und freut sich dabei ; das niedrigste Thier kann sich fremden S c h me r z vorstellen. Aber fremde Freude sich vorstellen und sich dabei freuen, ist das höchste Vorrecht der höchsten Thiere und wieder unter ihnen nur den ausgesuchtesten Exemplaren zugänglich, – also ein seltenes humanum : so dass es Philosophen gegeben hat, welche die Mitfreude geleugnet haben. | 63. Nac ht r äg l ic he Sc hwa nger sc ha f t. – Die, welche zu ihren Werken und Thaten gekommen sind, sie wissen nicht wie, gehen gewöhnlich hinterher um so mehr mit ihnen schwanger : wie um nachträglich zu beweisen, dass es ihre Kinder und nicht die des Zufalls sind. 64. Au s E it e l k e it h a r t he r z i g. – Wie Gerechtigkeit so häufig der Deckmantel der Schwäche ist, so greifen billig denkende, aber schwache Menschen mitunter aus Ehrgeiz zur Verstellung und benehmen sich ersichtlich ungerecht und hart, um den Eindruck der Stärke zu hinterlassen. 65. D e müt h i g u n g. – Findet Jemand in einem geschenkten Sack Vortheil auch nur ein Korn Demüthigung, so macht er doch noch eine böse Miene zum guten Spiele.

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66. A eu s s e r s t e s He r o s t r at e nt hu m . – Es könnte Herostrate geben, welche den eigenen Tempel anzündeten, in dem ihre Bilder verehrt werden. 67. D ie Dem i nut iv-Welt. – Der Umstand, dass alles Schwache und Hülfsbedürftige zu Herzen spricht, bringt die Gewohnheit mit sich, dass wir Alles, was uns zu Herzen spricht, mit Verkleinerungs- und Abschwächungsworten bezeichnen,  – also, für unsere Empfi ndung, schwach und hilfsbedürftig m ac he n . | 68. Ueble Eigen sc ha f t des M it leiden s. – Das Mitleiden hat eine eigene Unverschämtheit als Gefährtin : denn weil es durchaus helfen möchte, ist es weder über die Mittel der Heilung, noch über Art und Ursache der Krankheit in Verlegenheit und quacksalbert muthig auf die Gesundheit und den Ruf seines Patienten los. 69. Zu d r i n g l ic h k e it . – Es giebt auch eine Zudringlichkeit gegen Werke ; und sich als Jüngling schon nachahmend zu den erlauchtesten Werken aller Zeiten mit der Vertraulichkeit des Du und Du zu gesellen, beweist einen völligen Mangel an Scham. – Andere sind nur aus Ignoranz zudringlich : sie wissen nicht, mit wem sie es zu thun haben,  – so nicht selten junge und alte Philologen im Verhältniss zu den Werken der Griechen. 70. Der Wi l le sc hä mt sic h des I ntel lectes. – Mit aller Kälte machen wir vernünftige Entwürfe gegen unsre Affecte : dann aber begehen wir die gröbsten Fehler dagegen, weil wir uns häufig im Augenblicke, wo der Vorsatz ausgeführt werden sollte, jener Kälte und Besonnenheit schämen, mit der wir ihn fassten. Und so thut man dann gerade das Unvernünftige,

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aus jener Art trotziger Grossherzigkeit, welche jeder Affect mit sich bringt. 71. War um d ie Skeptiker der Moral missfallen. – Wer seine Moralität hoch und schwer nimmt, zürnt den Skeptikern auf dem Gebiete der Moral : denn dort, wo | er alle seine Kraft aufwendet, soll man s t au ne n , aber nicht untersuchen und zweifeln. – Dann giebt es Naturen, deren letzter Rest von Moralität eben der Glaube an Moral ist ; sie benehmen sich eben so gegen die Skeptiker, womöglich noch leidenschaftlicher. 72. S c hüc ht e r n he it . – Alle Moralisten sind schüchtern, weil sie wissen, dass sie mit Spionirern und Verräthern verwechselt werden, sobald man ihren Hang ihnen anmerkt. Sodann sind sie sich überhaupt bewusst, im Handeln unkräftig zu sein ; denn mitten im Werke ziehen die Motive ihres Thuns ihre Aufmerksamkeit fast vom Werke ab. 73. Ei ne Gefa h r f ür d ie a l lgemei ne Mora l ität. – Menschen, die zugleich edel und ehrlich sind, bringen es zu Wege, jede Teufelei, welche ihre Ehrlichkeit ausheckt, zu vergött lichen und die Wage des moralischen Urtheils eine Zeit lang stillzustellen. 74. B it t e r s t e r I r r t hu m . – Es beleidigt unversöhnlich, zu entdecken, dass man dort, wo man überzeugt war geliebt zu sein, nur als Hausgeräth und Zimmerschmuck betrachtet wurde, an dem der Hausherr vor Gästen seine Eitelkeit auslassen kann. 75. L ieb e u nd Zwe i he it . – Was ist denn Liebe anders als verstehen und sich darüber freuen, dass ein Andrer in andrer und

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entgegengesetzter Weise, als wir, lebt, | wirkt und empfi ndet ? Damit die Liebe die Gegensätze durch Freude überbrücke, darf sie dieselben nicht aufheben, nicht leugnen. – Sogar die Selbstliebe enthält die unvermischbare Zweiheit (oder Vielheit) in Einer Person als Voraussetzung. 76. Aus dem Traume deuten. – Was man mitunter im Wachen nicht genau weiss und fühlt – ob man gegen eine Person ein gutes oder ein schlechtes Gewissen habe – darüber belehrt völlig unzweideutig der Traum. 77. Au s s c hwe i f u n g. – Die Mutter der Ausschweifung ist nicht die Freude, sondern die Freudlosigkeit. 78. St ra fen u nd beloh nen. – Niemand klagt an, ohne den Hintergedanken an Strafe und Rache zu haben, – selbst wenn man sein Schicksal, ja sich selber anklagt. – Alles Klagen ist Anklagen, alles Sich-freuen ist Loben : wir mögen das Eine oder das Andere thun, immer machen wir Jemanden verantwortlich. 79. Zwe i m a l u n g e r ec ht . – Wir fördern mitunter die Wahrheit durch eine doppelte Ungerechtigkeit, dann nämlich, wenn wir die beiden Seiten einer Sache, die wir nicht im Stande sind zusammen zu sehen, hintereinander sehen und darstellen, doch so, dass wir jedesmal die andere Seite verkennen oder leugnen, im Wahne, Das, was wir sehen, sei die ganze Wahrheit. | 80. M i s s t r aue n . – Das Misstrauen an sich selber geht nicht immer unsicher und scheu daher, sondern mitunter wie tollwüthig : es hat sich berauscht, um nicht zu zittern.

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81. Ph i losoph ie des Pa r venu. – Will man einmal eine Person sein, so muss man auch seinen Schatten in Ehren halten. 82. Sic h r e i n z u wa s c he n ve r s t e he n . – Man muss lernen, aus unreinlichen Verhältnissen reinlicher hervorzugehen und sich, wenn es Noth thut, auch mit schmutzigem Wasser waschen. 83. Sic h g e he n l a s s e n . – Je mehr sich Einer gehen lässt, um so weniger lassen ihn die Andern gehen. 84. D e r u n s c hu l d i g e S c hu f t .  – Es giebt einen langsamen, schrittweisen Weg zu Laster und Schurkenhaftigkeit jeder Art. Am Ende desselben haben Den, welcher ihn geht, die Insecten-Schwärme des schlechten Gewissens völlig verlassen, und er wandelt, obschon ganz verrucht, doch in Unschuld. 85. Pl ä ne m ac he n . – Pläne machen und Vorsätze fassen bringt viel gute Empfi ndungen mit sich, und wer die Kraft hätte, sein ganzes Leben lang Nichts als ein Pläne-Schmiedender zu sein, wäre ein sehr glücklicher Mensch ; aber er wird sich gelegentlich von dieser Thätigkeit ausruhen müssen, dadurch dass er einen Plan ausführt – und da kommt der Aerger und die Ernüchterung. | 86. Wom it w ir das Idea l sehen. – Jeder tüchtige Mensch ist verrannt in seine Tüchtigkeit und kann aus ihr nicht frei hinausblicken. Hätte er sonst nicht sein gut Theil von Unvollkommenheit, er könnte seiner Tugend halber zu keiner geistig-

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sittlichen Freiheit kommen. Unsere Mängel sind die Augen, mit denen wir das Ideal sehen. 87. Uneh rl ic hes Lob. – Unehrliches Lob macht hinterdrein viel mehr Gewissensbisse als unehrlicher Tadel, wahrscheinlich nur desshalb, weil wir durch zu starkes Loben unsere Urtheilsfähigkeit viel stärker blossgestellt haben, als durch zu starkes, selbst ungerechtes Tadeln. 88. Wie ma n st i rbt , i st g leic h g ü lt i g. – Die ganze Art, wie ein Mensch während seines vollen Lebens, seiner blühenden Kraft an den Tod denkt, ist freilich sehr sprechend und zeugnissgebend für Das, was man seinen Charakter nennt ; aber die Stunde des Sterbens selber, seine Haltung auf dem Todtenbette ist fast gleichgültig dafür. Die Erschöpfung des ablaufenden Daseins, namentlich wenn alte Leute sterben, die unregelmässige oder unzureichende Ernährung des Gehirns während dieser letzten Zeit, das gelegentlich sehr Gewaltsame des Schmerzes, das Unerprobte und Neue des ganzen Zustandes und gar zu häufig der An- und Rückfall von abergläubischen Eindrücken und Beängstigungen, als ob am Sterben viel gelegen sei und hier Brücken schauerlichster Art überschritten würden, – diess Alles e rl au bt es nicht, das Sterben als Zeugniss über den Lebenden | zu benützen. Auch ist es nicht wahr, dass der Sterbende im Allgemeinen e h rl ic he r wäre als der Lebende : vielmehr wird fast Jeder durch die feierliche Haltung der Umgebenden, die zurückgehaltenen oder fl iessenden Thränen- und Gefühlsbäche zu einer bald bewussten bald unbewussten Komödie der Eitelkeit verführt. Der Ernst, mit dem jeder Sterbende behandelt wird, ist gewiss gar manchem armen verachteten Teufel der feinste Genuss seines ganzen Lebens und eine Art Schadenersatz und Abschlagszahlung für viele Entbehrungen gewesen.

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89. D ie Sit te u nd i h r O pfer. – Der Ursprung der Sitte geht auf zwei Gedanken zurück : „Die Gemeinde ist mehr werth als der Einzelne“ und „der dauernde Vortheil ist dem flüchtigen vorzuziehen“ ; woraus sich der Schluss ergiebt, dass der dauernde Vortheil der Gemeinde unbedingt dem Vortheile des Einzelnen, namentlich seinem momentanen Wohlbefi nden, aber auch seinem dauernden Vortheile und selbst seinem Weiterleben voranzustellen sei. Ob nun der Einzelne von einer Einrichtung leide, die dem Ganzen frommt, ob er an ihr verkümmere, ihretwegen zu Grunde gehe, – die Sitte muss erhalten, das Opfer gebracht werden. Eine solche Gesinnung e nt s t e ht aber nur in Denen, welche n ic ht das Opfer sind, – denn dieses macht in seinem Falle geltend, dass der Einzelne mehr werth sein könne als Viele, ebenso dass der gegenwärtige Genuss, der Augenblick im Paradiese, vielleicht höher anzuschlagen sei als eine matte Fortdauer von leidlichen oder wohlhäbigen Zuständen. Die Philosophie des Opferthiers wird aber immer zu spät laut : und so bleibt es bei der Sitte und der Sit t l ic h k e it ; | als welche eben nur die Empfi ndung für den ganzen Inbegriff von Sitten ist, unter denen man lebt und erzogen wurde – und zwar erzogen nicht als Einzelner, sondern als Glied eines Ganzen, als Ziffer einer Majorität. – So kommt es fortwährend vor, dass der Einzelne sich selbst, vermittelst seiner Sittlichkeit, m ajor i s i r t . 90. Das Gute u nd das g ute Gew issen. – Ihr meint, alle guten Dinge hätten zu allen Zeiten ein gutes Gewissen gehabt ?  – Die Wissenschaft, also gewisslich etwas sehr Gutes, ist ohne ein solches und ganz bar alles Pathos’ in die Welt getreten, vielmehr heimlich, auf Umwegen, mit verhülltem oder maskirtem Haupte einherziehend, gleich einer Verbrecherin, und immer mindestens mit dem G e f ü h le einer Schleichhändle-

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rin. Das gute Gewissen hat als Vorstufe das böse Gewissen – nicht als Gegensatz : denn alles Gute ist einmal neu, folglich ungewohnt, wider die Sitte, u n s it t l ic h gewesen und nagte im Herzen des glücklichen Erfi nders wie ein Wurm. 91. Der Erfolg heilig t d ie Absichten. – Man scheue sich nicht, den Weg zu einer Tugend zu gehen, selbst wenn man deutlich einsieht, dass Nichts als Egoismus – also Nutzen, persönliches Behagen, Furcht, Rücksicht auf Gesundheit, auf Ruf oder Ruhm  – die dazu treibenden Motive sind. Man nennt diese Motive unedel und selbstisch : gut, aber wenn sie uns zu einer Tugend, zum Beispiel Entsagung, Pflichttreue, Ordnung, Sparsamkeit, Maass und Mitte anreizen, so höre man ja auf sie, wie auch ihre Beiworte lauten mögen ! Erreicht man nämlich Das, wozu sie rufen, | so ve r e d e lt die e r r e ic ht e Tugend, vermöge der reinen Luft, die sie athmen lässt, und des seelischen Wohlgefühls, das sie mittheilt, immerfort die ferneren Motive unseres Handelns, und wir thun die selben Handlungen später nicht mehr aus den gleichen gröberen Motiven, welche uns früher dazu führten. – Die Erziehung soll desshalb die Tugenden, so gut es geht, e r z w i n g e n , je nach der Natur des Zöglings : die Tugend selber, als die Sonnenund Sommerluft der Seele, mag dann ihr eigenes Werk daran thun und Reife und Süssigkeit hinzuschenken. 92. C h r i s t e nt hü m le r, n ic ht C h r i s t e n . – Das wäre also euer Christenthum ! – Um Menschen zu ä r g e r n , preist ihr „Gott und seine Heiligen“ ; und wiederum wenn ihr Menschen p r e i s e n wollt, so treibt ihr es so weit, dass Gott und seine Heiligen sich ärgern müssen. – Ich wollte, ihr lerntet wenigstens die christlichen Manieren, da es euch so an der Manierlichkeit des christlichen Herzens gebricht.

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93. Nat u rei nd r uc k der From men u nd Un f rom men. – Ein ganzer frommer Mensch muss uns ein Gegenstand der Verehrung sein : aber ebenso ein ganzer aufrichtiger, durchdrungener Unfrommer. Ist man bei Menschen der letzteren Art wie in der Nähe des Hochgebirges, wo die kräftigsten Ströme ihren Ursprung haben, so bei den Frommen wie unter saftvollen, breitschattigen, ruhigen Bäumen. 94. Ju st i z morde. – Die zwei grössten Justizmorde in der Weltgeschichte sind, ohne Umschweife gesprochen, | verschleierte und gut verschleierte Selbstmorde. In beiden Fällen wo l l t e man sterben, in beiden Fällen liess man sich das Schwert durch die Hand der menschlichen Ungerechtigkeit in die Brust stossen. 95. „ L iebe“. – Der feinste Kunstgriff, welchen das Christenthum vor den übrigen Religionen voraus hat, ist ein Wort : es redete von L ieb e. So wurde es die l y r i s c he Religion (während in seinen beiden anderen Schöpfungen das Semitenthum der Welt heroisch-epische Religionen geschenkt hat). Es ist in dem Worte Liebe etwas so Vieldeutiges, Anregendes, zur Erinnerung, zur Hoff nung Sprechendes, dass auch die niedrigste Intelligenz und das kälteste Herz noch Etwas von dem Schimmer dieses Wortes fühlt. Das klügste Weib und der gemeinste Mann denken dabei an die verhältnissmässig uneigennützigsten Augenblicke ihres gesammten Lebens, selbst wenn Eros nur einen niedrigen Flug bei ihnen genommen hat ; und jene Zahllosen, welche Liebe ve r m i s s e n , von Seiten der Eltern, Kinder oder Geliebten, namentlich aber die Menschen der sublimirten Geschlechtlichkeit, haben im Christenthum ihren Fund gemacht.

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96. Das er f ü l lte Ch r i stent hu m. – Es giebt auch innerhalb des Christenthums eine epikureische Gesinnung, ausgehend von dem Gedanken, dass Gott von dem Menschen, seinem Geschöpf und Ebenbilde, nur verlangen könne, was diesem zu erfüllen mög l ic h sein müsse, dass also christliche Tugend und Vollkommenheit erreichbar und oft erreicht sei. Nun macht zum Beispiel der | G l au b e, seine Feinde zu l ieb e n  – selbst wenn es eben nur Glaube, Einbildung und durchaus keine psychologische Wirklichkeit (also keine Liebe) ist – unbedingt g lüc k l ic h , so lange er wirklich geglaubt wird (warum ? darüber werden freilich Psycholog und Christ verschieden denken). Und so möchte das i r d i s c he L eb e n durch den Glauben, ich meine die Einbildung, nicht nur jenem Anspruche, seine Feinde zu lieben, sondern allen übrigen christlichen Ansprüchen zu genügen und die göttliche Vollkommenheit nach der Aufforderung „seid vollkommen, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist“ wirklich sich angeeignet und einverleibt zu haben, in der That zu einem s e l i g e n L eb e n werden. Der Irr thum kann also die Ve r he i s s u n g Christi zur Wahrheit machen. 97. Von der Zu k u n f t des Ch r i stent hu m s. – Ueber das Verschwinden des Christenthums und darüber, in welchen Gegenden es am langsamsten weichen wird, kann man sich eine Vermuthung gestatten, wenn man erwägt, aus welchen Gr ü nd e n und wo der Protestantismus so ungestüm um sich griff. Er verhiess bekanntlich alles das Selbe weit billiger zu leisten, was die alte Kirche leistete, also ohne kostspielige Seelenmessen, Wallfahrten, Priester-Prunk und -Ueppigkeit ; er verbreitete sich namentlich bei den nördlichen Nationen, welche nicht so tief in der Symbolik und Formenlust der alten Kirche eingewurzelt waren, als die des Südens : bei diesen lebte ja im Christenthume das viel mächtigere religiöse Heidenthum

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fort, während im Norden das Christenthum einen Gegensatz und Bruch mit dem Altheimischen bedeutete und desshalb mehr gedankenhaft als sinnfällig von Anfang | an war, eben desshalb aber auch, zu Zeiten der Gefahr, fanatischer und trotziger. Gelingt es, vom G e d a n k e n aus das Christenthum zu entwurzeln, so liegt auf der Hand, wo es anfangen wird, zu verschwinden : also gerade dort, wo es auch am allerhärtesten sich wehren wird. Anderwärts wird es sich beugen, aber nicht brechen, entblättert werden, aber wieder Blätter ansetzen, – weil dort die Si n ne und nicht die Gedanken für dasselbe Partei genommen haben. Die Sinne aber sind es, welche auch den Glauben unterhalten, dass mit allem Kostenaufwand der Kirche doch immer noch billiger und bequemer gewirthschaftet werde, als mit den strengen Verhältnissen von Arbeit und Lohn : denn welches Preises hält man die Musse (oder die halbe Faulheit) für werth, wenn man sich erst an sie gewöhnt hat ! Die Sinne wenden gegen eine entchristlichte Welt ein, dass in ihr zu viel gearbeitet werden müsse, und der Ertrag an Musse zu klein sei ; sie nehmen die Partei der Magie, das heisst – sie lassen lieber Gott für sich arbeiten (oremus nos, deus laboret !) 98. S c h au s p ie le r e i u nd E h rl ic h k e it d e r Un g l äu bi g e n . – Es giebt kein Buch, welches Das, was jedem Menschen gelegentlich wohl thut  – schwärmerische opfer- und todbereite Glücks-Innigkeit im Glauben und Schauen s e i n e r „Wahrheit“ – so reichlich enthielte, so treuherzig ausdrückte, als das Buch, welches von Christus redet : aus ihm kann ein Kluger alle Mittel lernen, wodurch ein Buch zum Weltbuch, zum Jedermanns-Freund gemacht werden kann, namentlich jenes Meister-Mittel, Alles als gefunden, Nichts als kommend | und ungewiss hinzustellen. Alle wirkungsvollen Bücher versuchen, einen ähnlichen Eindruck zu hinterlassen, als ob der weiteste geistige und seelische Horizont hier umschrieben sei

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und um die hier laufende Sonne sich jedes gegenwärtige und zukünftige Gestirn drehen müsse. – Muss also nicht aus dem selben Grunde, aus dem solche Bücher wirkungsvoll sind, jedes r e i n w i s s e n s c h a f t l ic h e Buch wirkungsarm sein ? Ist es nicht verurtheilt, niedrig und unter Niedrigen zu leben, um endlich gekreuzigt zu werden und nie wieder aufzuerstehen ? Sind im Verhältniss zu dem, was die Religiösen von ihrem „Wissen“, von ihrem „heiligen“ Geist verkünden, nicht alle Redlichen der Wissenschaft „arm im Geiste“ ? Kann irgend eine Religion mehr Entsagung verlangen, unerbittlicher den Selbstsüchtigen aus sich hinausziehen als die Wissenschaft ? – – So und ähnlich und jedenfalls mit einiger Schauspielerei mögen w i r reden, wenn wir uns vor den Gläubigen zu vertheidigen haben ; denn es ist kaum möglich, eine Vertheidigung ohne etwas Schauspielerei zu führen. Unter uns aber muss die Sprache ehrlicher sein : wir bedienen uns da einer Freiheit, welche Jene nicht einmal, ihres eigenen Interesses halber, verstehen dürfen. Weg also mit der Kapuze der Entsagung ! der Miene der Demuth ! Viel mehr und viel besser : so klingt unsere Wahrheit ! Wenn die Wissenschaft nicht an die Lu s t der Erkenntniss, an den Nut z e n des Erkannten geknüpft wäre, was läge uns an der Wissenschaft ? Wenn nicht ein wenig Glaube, Liebe und Hoff nung unsere Seele zur Erkenntniss hinführte, was zöge uns sonst zur Wissenschaft ? Und wenn zwar in der Wissenschaft das Ich Nichts zu bedeuten hat, so bedeutet das erfi nderische | glückliche Ich, ja selbst schon jedes redliche und fleissige Ich sehr viel in der Republik der Wissenschafts-Menschen. Achtung der AchtungGebenden, Freude Solcher, welchen wir wohlwollen oder die wir verehren, unter Umständen Ruhm und eine mässige Unsterblichkeit der Person ist der erreichbare Preis für jene Entpersönlichung, von geringeren Aussichten und Belohnungen hier zu schweigen, obschon gerade ihrethalben die Meisten den Gesetzen jener Republik und überhaupt der Wissenschaft

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zugeschworen haben und immerfort zuzuschwören pflegen. Wenn wir nicht in irgend einem Maasse u nw i s s e n s c h a f tl ic he Menschen geblieben wären, was könnte uns auch nur an der Wissenschaft liegen ! Alles in Allem genommen und rund, glatt und voll ausgesprochen : f ü r ei n rei n erkennendes Wesen wä re d ie Erken nt n i ss g leic hg ü lt ig. – Von den Frommen und Gläubigen unterscheidet uns nicht die Qualität, sondern die Quantität Glaubens und Frommseins : wir sind mit Wenigerem zufrieden. Aber, werden jene uns zurufen – so seid auch zufrieden, und gebt euch auch als zufrieden ! – Worauf wir leicht antworten dürften : „In der That, wir gehören nicht zu den Unzufriedensten ! Ihr aber, wenn euer Glaube euch selig macht, so gebt euch auch als selig ! Eure Gesichter sind immer eurem Glauben schädlicher gewesen, als unsere Gründe ! Wenn jene frohe Botschaft eurer Bibel euch in’s Gesicht geschrieben wäre, ihr brauchtet den Glauben an die Autorität dieses Buches nicht so halsstarrig zu fordern : eure Werke, eure Handlungen sollten die Bibel fortwährend überflüssig machen, eine neue Bibel sollte durch euch fortwährend entstehen ! So aber hat alle eure Apologie des Christenthums ihre Wurzel in eurem Unchristenthum ; mit eurer Vertheidigung | schreibt ihr eure eigne Anklageschrift. Solltet ihr aber wünschen, aus diesem eurem Ungenügen am Christenthum herauszukommen, so bringt euch doch die Erfahrung von zwei Jahrtausenden zur Erwägung : welche, in bescheidene Frageform gekleidet, so klingt : „wenn Christus wirklich die Absicht hatte, die Welt zu erlösen, sollte es ihm nicht misslungen sein ?“ 99. D e r D ic ht e r a l s We g z e i g e r f ü r d ie Z u k u n f t .  – So viel noch überschüssige dichterische Kraft unter den jetzigen Menschen vorhanden ist, welche bei der Gestaltung des Lebens nicht verbraucht wird, so viel sollte, ohne jeden Ab-

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zug, Einem Ziele sich weihen, nicht etwa der Abmalung des Gegenwärtigen, der Wiederbeseelung und Verdichtung der Vergangenheit, sondern dem Wegweisen für die Zukunft : – und diess nicht in dem Verstande, als ob der Dichter gleich einem phantastischen Nationalökonomen günstigere Volksund Gesellschafts-Zustände und deren Ermöglichung im Bilde vorwegnehmen sollte. Vielmehr wird er, wie früher die Künstler an den Götterbildern fortdichteten, so an dem schönen Menschenbilde f or t d ic ht e n und jene Fälle auswittern, wo m it t e n in unserer modernen Welt und Wirklichkeit, wo ohne jede künstliche Abwehr und Entziehung von derselben, die schöne grosse Seele noch möglich ist, dort wo sie sich auch jetzt noch in harmonische, ebenmässige Zustände einzuverleiben vermag, durch sie Sichtbarkeit, Dauer und Vorbildlichkeit bekommt und also durch Erregung von Nachahmung und Neid die Zukunft schaffen hilft. Dichtungen solcher Dichter würden dadurch sich auszeichnen, dass sie gegen die Luft und Gluth der | L e id e n s c h a f t e n abgeschlossen und verwahrt erschienen : der unverbesserliche Fehlgriff, das Zertrümmern des ganzen menschlichen Saitenspiels, Hohn lachen und Zähneknirschen und alles Tragische und Komische im alten gewohnten Sinne, würde in der Nähe dieser neuen Kunst als lästige archaisirende Vergröberung des Menschen-Bildes empfunden werden. Kraft, Güte, Milde, Reinheit und ungewolltes, eingeborenes Maass in den Personen und deren Handlungen : ein geebneter Boden, welcher dem Fusse Ruhe und Lust giebt : ein leuchtender Himmel auf Gesichtern und Vorgängen sich abspiegelnd : das Wissen und die Kunst zu neuer Einheit zusammengeflossen : der Geist ohne Anmaassung und Eifersucht mit seiner Schwester, der Seele, zusammenwohnend und aus dem Gegensätzlichen die Grazie des Ernstes, nicht die Ungeduld des Zwiespaltes herauslockend :  – diess Alles wäre das Umschliessende, Allgemeine, Goldgrundhafte, auf dem jetzt erst die zarten Unt e r s c h ie d e der verkörperten

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Ideale das eigentliche G e m ä ld e – das der immer wachsenden menschlichen Hoheit – machen würden. – Von G o et he aus führt mancher Weg in diese Dichtung der Zukunft : aber es bedarf guter Pfadfi nder und vor Allem einer weit grössern Macht als die jetzigen Dichter, das heisst die unbedenklichen Darsteller des Halbthiers und der mit Kraft und Natur verwechselten Unreife und Unmässigkeit, besitzen. 100. Die Muse a ls Penthesi lea. – „Lieber verwesen als ein Weib sein, das nicht r e i z t .“ Wenn die Muse erst einmal so denkt, so ist das Ende ihrer Kunst wieder in der Nähe. Aber es kann ein Tragödien- und auch ein Komödien-Ausgang sein. | 101. Wa s d e r Umwe g z u m S c hö ne n i s t . – Wenn das Schöne gleich dem Erfreuenden ist – und so sangen es ja einmal die Musen – so ist das Nützliche der oftmals nothwendige Um we g z u m S c hö ne n und kann den kurzsichtigen Tadel der Augenblicks-Menschen, die nicht warten wollen und alles Gute ohne Umwege zu erreichen denken, mit gutem Recht zurückweisen. 102. Zu r E nt s c hu ld i g u n g m a nc he r S c hu ld . – Das unablässige Schaffenwollen und nach-Aussen-Spähen des Künstlers hält ihn davon ab, als Person schöner und besser zu werden, also s ic h s e l b e r zu schaffen ; es sei denn dass seine Ehrsucht gross genug ist, um ihn zu zwingen, dass er sich auch im Leben mit Andern der wachsenden Schönheit und Grösse seiner Werke immer entsprechend gewachsen zeige. In allen Fällen hat er nur ein bestimmtes Maass von Kraft ; was er davon auf s ic h verwendet – wie könnte diess noch seinem We r k e zu Gute kommen ? Und umgekehrt.

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103. D e n B e s t e n g e nu g t hu n . – Wenn man mit seiner Kunst „den Besten seiner Zeit genug gethan“, so ist diess ein Anzeichen davon, dass man den Besten der nächsten Zeit mit ihr n ic ht g e nu g t hu n w i r d : „gelebt“ freilich „hat man für alle Zeiten“, – der Beifall der Besten sichert den Ruhm. 104. Au s Ei nem Stof fe. – Ist man aus Einem Stoffe mit einem Buche oder Kunstwerk, so meint man ganz | innerlich, es müsse vortrefflich sein und ist beleidigt, wenn Andere es hässlich, überwürzt oder grossthuerisch fi nden. 105. Sprac he u nd Gef ü h l. – Dass die Sprache uns nicht zur Mittheilung des G e f ü h l s gegeben ist, sieht man daraus, dass alle einfachen Menschen sich schämen, Worte für ihre tieferen Erregungen zu suchen : die Mittheilung derselben äussert sich nur in Handlungen, und selbst hier giebt es ein Erröthen darüber, wenn der Andere ihre Motive zu errathen scheint. Unter den Dichtern, welchen im Allgemeinen die Gottheit diese Scham versagte, sind doch die edleren in der Sprache des Gefühls einsilbiger, und lassen einen Zwang merken : während die eigentlichen Gefühls-Dichter im praktischen Leben meistens unverschämt sind. 106. I r r t hu m ü b e r e i ne E nt b e h r u n g. – Wer sich nicht von einer Kunst lange Zeit völlig entwöhnt hat, sondern immer in ihr zu Hause ist, kann nicht von ferne begreifen, w ie we n i g man entbehrt, wenn man ohne diese Kunst lebt. 107. D r e i v ie r t e l s k r a f t . – Ein Werk, das den Eindruck des Gesunden machen soll, darf höchstens mit dreiviertel der Kraft

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seines Urhebers hervorgebracht sein. Ist er dagegen bis an seine äusserste Gränze gegangen, so regt das Werk den Betrachtenden auf und ängstigt ihn durch seine Spannung. Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese. | 108. Den Hu n g er a l s Ga st abwei sen. – Weil dem Hungrigen die feinere Speise so gut und um Nichts besser als die gröbste dient, so wird der anspruchsvollere Künstler nicht darauf denken, den Hungrigen zu seiner Mahlzeit einzuladen. 109. Oh ne Kunst und Wein leben. – Mit den Werken der Kunst steht es wie mit dem Weine : noch besser ist es, wenn man beide nicht nöthig hat, sich an Wasser hält und das Wasser aus innerem Feuer, innerer Süsse der Seele immer wieder von selber in Wein verwandelt. 110. D a s R au b - G e n ie. – Das Raub-Genie in den Künsten, das selbst feine Geister zu täuschen weiss, entsteht, wenn Jemand unbedenklich von jung an alles Gute, welches nicht geradezu vom Gesetz als Eigenthum einer bestimmten Person in Schutz genommen ist, als freie Beute betrachtet. Nun liegt alles Gute vergangener Zeiten und Meister frei umher, eingehegt und behütet durch die verehrende Scheu der Wenigen, die es erkennen : diesen Wenigen bietet jenes Genie, Kraft seines Mangels an Scham, Trotz und häuft sich einen Reichthum auf, der selber wieder Verehrung und Scheu erzeugt. 111. A n d ie D ic hter der g r os sen St ädte. – Den Gärten der heutigen Poesie merkt man es an, dass die grossstädtischen Kloaken zu nahe dabei sind : mitten in den Blüthengeruch mischt sich etwas, das Ekel und Fäulniss verräth. – Mit Schmerz

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frage ich : habt ihr es | so nöthig, ihr Dichter, den Witz und den Schmutz immer zu Gevatter zu bitten, wenn irgend eine unschuldige schöne Empfi ndung von euch getauft werden soll ? Müsst ihr durchaus eurer edlen Göttin eine Fratzen- und Teufelskappe aufsetzen ? Woher aber diese Noth, dieses Müssen ? – Eben daher, dass ihr den Kloaken zu nahe wohnt. 112. Vom S a l z d e r R e d e. – Niemand hat noch erklärt, warum die griechischen Schriftsteller von den Mitteln des Ausdrucks, welche ihnen in unerhörter Fülle und Kraft zu Gebote standen, nur so übersparsamen Gebrauch gemacht haben, dass jedes nachgriechische Buch dagegen grell, bunt und überspannt erscheint. – Man hört, dass dem Nordpol-Eise zu ebenso wie in den heissesten Ländern der Gebrauch des Salzes spärlicher werde, dass dagegen die Ebenen- und Küstenanwohner im Erdgürtel der mässigeren Sonnenwärme am reichlichsten Gebrauch von ihm machen. Sollten die Griechen aus doppelten Gründen, weil zwar ihr Intellect kälter und klarer, ihre leidenschaftliche Grundnatur aber um Vieles tropischer war als die unsrige, des Salzes und Gewürzes nicht in dem Maasse nöthig gehabt haben als wir ? 113. Der f reieste Sc h r i f t stel ler. – Wie dürfte in einem Buche für freie Geister Lorenz Sterne ungenannt bleiben, er, den Goethe als den freiesten Geist seines Jahrhunderts geehrt hat ! Möge er hier mit der Ehre fürlieb nehmen, der freieste Schriftsteller aller Zeiten genannt zu werden, in Vergleich mit welchem alle Andern steif, vierschrötig, unduldsam und bäurisch-geradezu | erscheinen. An ihm dürfte nicht die geschlossene, klare, sondern die „unendliche Melodie“ gerühmt werden, wenn mit diesem Worte ein Stil der Kunst zu einem Namen kommt, bei dem die bestimmte Form fortwährend gebrochen, verschoben, in das Unbestimmte zurückübersetzt

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wird, so dass sie das Eine und zugleich das Andere bedeutet. Sterne ist der grosse Meister der Zwe id eut i g k e it , – diess Wort billigerweise viel weiter genommen als man gemeinhin thut, wenn man dabei an geschlechtliche Beziehungen denkt. Der Leser ist verloren zu geben, der jederzeit genau wissen will, was Sterne eigentlich über eine Sache denkt, ob er bei ihr ein ernsthaftes oder ein lächelndes Gesicht macht : denn er versteht sich auf Beides in Einer Faltung seines Gesichtes ; er versteht es ebenfalls und will es sogar, zugleich Recht und Unrecht zu haben, den Tiefsinn und die Posse zu verknäueln. Seine Abschweifungen sind zugleich Forterzählungen und Weiterentwickelungen der Geschichte ; seine Sentenzen enthalten zugleich eine Ironie auf alles Sentenziöse, sein Widerwille gegen das Ernsthafte ist einem Hange angeknüpft, keine Sache nur flach und äusserlich nehmen zu können. So bringt er bei dem rechten Leser ein Gefühl von Unsicherheit darüber hervor, ob man gehe, stehe oder liege : ein Gefühl, welches dem des Schwebens am verwandtesten ist. Er, der geschmeidigste Autor, theilt auch seinem Leser Etwas von dieser Geschmeidigkeit mit. Ja, Sterne verwechselt unversehens die Rollen und ist bald ebenso Leser als er Autor ist ; sein Buch gleicht einem Schauspiel im Schauspiel, einem Theaterpublicum vor einem andern Theaterpublicum. Man muss sich der Sternischen Laune auf Gnade und Ungnade ergeben – und kann übrigens erwarten, dass sie gnädig, immer gnädig ist.  – | Seltsam und belehrend ist es, wie ein so grosser Schriftsteller wie Diderot sich zu dieser allgemeinen Zweideutigkeit Sterne’s gestellt hat : nämlich ebenfalls zweideutig – und das eben ist ächt Sternischer Ueberhumor. Hat er jenen, in seinem Jacques le fataliste, nachgeahmt, bewundert, verspottet, parodirt ? – man kann es nicht völlig herausbekommen, – und vielleicht hat gerade diess sein Autor gewollt. Gerade dieser Zweifel macht die Franzosen gegen das Werk eines ihrer ersten Meister (der sich vor keinem Alten und Neuen zu

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schämen braucht) u n g e r ec ht . Die Franzosen sind eben zum Humor  – und namentlich zu diesem humoristisch-Nehmen des Humors selber – zu ernsthaft. – Sollte es nöthig sein, hinzuzufügen, dass Sterne unter allen grossen Schriftstellern das schlechteste Muster und der eigentlich unvorbildliche Autor ist, und dass selbst Diderot sein Wagniss büssen musste ? Das, was die guten Franzosen und vor ihnen einzelne Griechen als Prosaiker wollten und konnten, ist genau das Gegentheil von dem, was Sterne will und kann : er erhebt sich eben als meisterhafte Ausnahme über Das, was alle schriftstellerischen Künstler von sich fordern : Zucht, Geschlossenheit, Charakter, Beständigkeit der Absichten, Ueberschaulichkeit, Schlichtheit, Haltung in Gang und Miene. – Leider scheint der Mensch Sterne mit dem Schriftsteller Sterne nur zu verwandt gewesen zu sein : seine Eichhorn-Seele sprang mit unbändiger Unruhe von Zweig zu Zweig ; was nur zwischen Erhaben und Schuftig liegt, war ihm bekannt ; auf jeder Stelle hatte er gesessen, immer mit dem unverschämten wässerigen Auge und dem empfi ndsamen Mienenspiele. Er war, wenn die Sprache vor einer solchen Zusammenstellung nicht erschrecken wollte, | von einer hartherzigen Gutmüthigkeit und hatte in den Genüssen einer barocken, ja verderbten Einbildungskraft fast die blöde Anmuth der Unschuld. Eine solche fleisch- und seelenhafte Zweideutigkeit, eine solche Freigeisterei bis in jede Faser und Muskel des Leibes hinein, wie er diese Eigenschaften hatte, besass vielleicht kein anderer Mensch. 114. Gewä h lte Wi rk l ic h keit. – Wie der gute Prosaschriftsteller nur Worte nimmt, welche der Umgangssprache angehören, doch lange nicht alle Worte derselben – wodurch eben der gewählte Stil entsteht –, so wird der gute Dichter der Zukunft nu r W i r k l ic he s darstellen und von allen phantastischen, abergläubischen, halbredlichen, abgeklungenen Gegenständen, an

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denen frühere Dichter ihre Kraft zeigten, völlig absehen. Nur Wirklichkeit, aber lange nicht jede Wirklichkeit ! – sondern eine gewählte Wirklichkeit ! 115. A b a r t e n d e r K u n s t . – Neben den ächten Gattungen der Kunst, der der grossen Ruhe und der der grossen Bewegung, giebt es Abarten, die ruhesüchtige, blasirte Kunst und die aufgeregte Kunst : beide wünschen, dass man ihre Schwäche für Stärke nehme und sie mit den ächten Gattungen verwechsele. 116. Zum Heros feh lt jetzt d ie Farbe. – Die eigentlichen Dichter und Künstler der Gegenwart lieben es, ihre Gemälde auf einen roth, grün, grau und goldig | flackernden Grund aufzutragen, auf den Grund der ne r vö s e n Si n n l ic h k e it : auf diese verstehen sich ja die Kinder dieses Jahrhunderts. Diess hat den Nachtheil – wenn man nämlich n ic ht mit den Augen des Jahrhunderts auf jene Gemälde sieht –, dass die grössten Gestalten, welche Jene hinmalen, etwas Flimmerndes, Zitterndes, Wirbelndes an sich zu haben scheinen, so dass man ihnen heroische Thaten eigentlich nicht zutraut, sondern höchstens heroisirende, prahlerische Unthaten. 117. St i l d e r Ueb e rl a d u n g. – Der überladene Stil in der Kunst ist die Folge einer Verarmung der organisirenden Kraft bei verschwenderischem Vorhandensein von Mitteln und Absichten.  – In den Anfängen der Kunst fi ndet sich mitunter das gerade Gegenstück dazu. 118. P u lc h r u m e s t p aucor u m hom i nu m . – Die Historie und die Erfahrung sagt uns, dass die bedeutsame Ungeheuerlichkeit, welche die Phantasie geheimnissvoll anregt und über das

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Wirkliche und Alltägliche fortträgt, ä lt e r ist und reichlicher wächst, als das Schöne in der Kunst und dessen Verehrung – und dass es sofort wieder in Ueberfülle ausschlägt, wenn der Sinn für Schönheit sich verdunkelt. Es scheint für die Mehrund Ueberzahl der Menschen ein höheres Bedürfniss zu sein als das Schöne : wohl desshalb, weil es das gröbere Narcoticum enthält. 119. Urspr ü nge des Gesc h mac k s a n Ku n st werken. – Denkt man an die anfänglichen Keime des künstlerischen | Sinnes und fragt sich, welche verschiedentlichen Arten der Freude durch die Erstlinge der Kunst, zum Beispiel bei wilden Völkerschaften, hervorgebracht werden, so fi ndet man zuerst die Freude, zu ve r s t e he n , was ein Andrer me i nt ; die Kunst ist hier eine Art Räthselaufgeben, das dem Errathenden Genuss am eigenen Schnell- und Scharfsinn verschaff t. – Sodann erinnert man sich beim rohesten Kunstwerk an Das, was Einem in der Erfahrung angenehm w a r und hat insofern Freude, zum Beispiel wenn der Künstler auf Jagd, Sieg, Hochzeit hingedeutet hat.  – Wiederum kann man sich durch das Dargestellte erregt, gerührt, entflammt fühlen, beispielsweise bei Verherrlichung von Rache und Gefahr. Hier liegt der Genuss in der Erregung selber, im Siege über die Langeweile. – Auch die Erinnerung an das Unangenehme, insofern es überwunden ist, oder insofern es uns selber als Gegenstand der Kunst vor dem Zuhörer interessant erscheinen lässt (wie wenn der Sänger die Unfälle eines verwegenen Seefahrers beschreibt), kann grosse Freude machen, welche man dann der Kunst zu Gute rechnet. – Feinerer Art ist schon jene Freude, welche beim Anblick alles Regelmässigen und Symmetrischen, in Linien, Puncten, Rhythmen, entsteht ; denn durch eine gewisse Aehnlichkeit wird die Empfi ndung für alles Geordnete und Regelmässige im Leben, dem man ja ganz allein alles Wohlbefi nden zu danken hat, wachgerufen : im Cultus des Symmetrischen verehrt

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man also unbewusst die Regel und das Gleichmaass als Quelle seines bisherigen Glücks ; diese Freude ist eine Art Dankgebet. Erst bei einer gewissen Uebersättigung an dieser letzterwähnten Freude entsteht das noch feinere Gefühl, dass auch im Durchbrechen des Symmetrischen | und Geregelten Genuss liegen könne ; wenn es zum Beispiel anreizt, Vernunft in der scheinbaren Unvernunft zu suchen, wodurch es dann, als eine Art ästhetischen Räthselrathens, wie eine höhere Gattung der zuerst erwähnten Kunstfreude dasteht. – Wer dieser Betrachtung weiter nachhängt, wird wissen, auf we lc he A r t vo n Hy p ot he s e n hier zur Erklärung der ästhetischen Erscheinungen grundsätzlich verzichtet wird. 120. N ic ht z u n a he. – Es ist ein Nachtheil für gute Gedanken, wenn sie zu rasch auf einander folgen ; sie verdecken sich gegenseitig die Aussicht. – Desshalb haben die grössten Künstler und Schriftsteller reichlichen Gebrauch vom Mittelmässigen gemacht. 121. Roh he it u nd S c hwäc he. – Die Künstler aller Zeiten haben die Entdeckung gemacht, dass in der Roh he it eine gewisse Kraft liegt und dass nicht Jeder roh sein kann, der es wohl sein möchte ; ebenso dass manche Arten von S c hw äc he stark auf das Gefühl wirken. Hieraus sind nicht wenig KunstmittelSurrogate abgeleitet worden, deren sich völlig zu enthalten selbst den grössten und gewissenhaftesten Künstlern schwer wird. 122. D a s g ut e G e d äc ht n i s s . – Mancher wird nur desshalb kein Denker, weil sein Gedächtniss zu gut ist.

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123. Hu n g er m ac he n s t at t Hu n g er s t i l le n . – Grosse Künstler wähnen, sie hätten durch ihre Kunst eine Seele | völlig in Besitz genommen und ausgefüllt : in Wahrheit, und oft zu ihrer schmerzlichen Enttäuschung, ist jene Seele dadurch nur um so umfänglicher und unausfüllbarer geworden, so dass zehn grössere Künstler sich nun in ihre Tiefe hinabstürzen könnten, ohne sie zu sättigen. 124. K ü n s t le r -A n g s t . – Die Angst, man möchte ihren Figuren nicht glauben, dass sie leb e n , kann Künstler des absinkenden Geschmacks verführen, diese so zu bilden, dass sie sich wie t ol l benehmen : wie andererseits aus der selben Angst griechische Künstler des ersten Aufgangs selbst Sterbenden und Schwerverwundeten jenes Lächeln geben, welches sie als lebhaftestes Zeichen des Lebens kannten, – unbekümmert darum, was die Natur in solchem Falle des Noch-lebens, des Fast-nicht-mehr-lebens bildet. 125. D e r K r e i s s ol l f e r t i g we r d e n . – Wer einer Philosophie oder Kunstart bis an das Ende ihrer Bahn und um das Ende herum nachgegangen ist, begreift aus einem innern Erlebniss, warum die nachfolgenden Meister und Lehrer sich von ihr, oft mit abschätziger Miene, zu einer neuen Bahn fortwandten. Der Kreis muss eben umschrieben werden,  – aber der Einzelne, und sei es der Grösste, sitzt auf seinem Puncte der Peripherie fest, mit einer unerbittlichen Miene der Hartnäkkigkeit, als ob der Kreis nie geschlossen werden dürfe. 126. A e lt e r e K u n s t u nd d ie S e e le d e r G e g e nw a r t . – Weil jede Kunst zum Ausdruck seelischer Zustände, der | bewegteren, zarteren, drastischeren, leidenschaftlicheren, immer

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befähigter wird, so empfi nden die späteren Meister, durch diese Ausdrucks-Mittel verwöhnt, ein Unbehagen bei den Kunstwerken der älteren Zeit, wie als ob es den Alten eben nur an den Mitteln gefehlt habe, ihre Seele deutlich reden zu lassen, vielleicht gar an einigen technischen Vorbedingungen ; und sie meinen hier nachhelfen zu müssen, – denn sie glauben an die Gleichheit, ja Einheit aller Seelen. In Wahrheit ist aber die Seele jener Meister selber noch eine andere gewesen ; g r ö s s e r vielleicht, aber kälter und dem Reizvoll-Lebendigen noch abhold : das Maass, die Symmetrie, die Geringachtung des Holden und Wonnigen, eine unbewusste Herbe und Morgenkühle, ein Ausweichen vor der Leidenschaft, wie als ob an ihr die Kunst zu Grunde gehen werde, – diess macht die Gesinnung und Moralität aller älteren Meister aus, welche ihre Ausdrucks-Mittel nicht zufällig, sondern nothwendig mit der gleichen Moralität wählten und durchgeisteten. – Soll man aber, bei dieser Erkenntniss, den später Kommenden das Recht versagen, die älteren Werke nach ihrer Seele zu beseelen ? Nein, denn nur dadurch, dass wir ihnen unsere Seele geben, vermögen sie fortzuleben : erst u n s e r Blut bringt sie dazu, zu u n s zu reden. Der wirklich „historische“ Vortrag würde gespenstisch zu Gespenstern reden. Man ehrt die grossen Künstler der Vergangenheit weniger durch jene unfruchtbare Scheu, welche jedes Wort, jede Note so liegen lässt, wie sie gestellt ist, als durch thätige Versuche, ihnen immer von Neuem wieder zum Leben zu verhelfen.  – Freilich : dächte man sich Beethoven plötzlich wiederkommend und eines seiner Werke gemäss der modernsten Beseeltheit und NervenVerfeinerung, | welche unsern Meistern des Vortrags zum Ruhme dient, vor ihm ertönend : er würde wahrscheinlich lange stumm sein, schwankend, ob er die Hand zum Fluchen oder Segnen erheben solle, endlich aber vielleicht sprechen : „Nun ! Nun ! Das ist weder Ich noch Nicht-Ich, sondern etwas Drittes, – es scheint mir auch etwas Rechtes, wenn es

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gleich nicht d a s R e c ht e ist. Ihr mögt aber zusehen, wie ihr’s treibt, da ihr ja jedenfalls zuhören müsst – und der Lebende hat Recht, sagt ja unser Schiller. So h a bt denn Recht und lasst mich wieder hinab.“ 127. Gegen d ie Tad ler der Kürze. – Etwas Kurz-Gesagtes kann die Frucht und Ernte von vielem Lang-Gedachten sein : aber der Leser, der auf diesem Felde Neuling ist und hier noch gar nicht nachgedacht hat, sieht in allem Kurz-Gesagten etwas Embryonisches, nicht ohne einen tadelnden Wink an den Autor, dass er dergleichen Unausgewachsenes, Ungereiftes ihm zur Mahlzeit mit auf den Tisch setze. 128. G e g e n d ie K u r z s ic ht i g e n .  – Meint ihr denn, es müsse Stückwerk sein, weil man es euch in Stücken giebt (und geben muss) ? 129. Senten z en-L e ser. – Die schlechtesten Leser von Sentenzen sind die Freunde ihres Urhebers, im Fall sie befl issen sind, aus dem Allgemeinen wieder auf das Besondere zurückzurathen, dem die Sentenz ihren Ursprung verdankt : denn durch diese Topfguckerei machen sie die ganze Mühe des Autors zu nichte, so | dass sie nun verdientermaassen anstatt einer philosophischen Stimmung und Belehrung besten oder schlimmsten Falles Nichts als die Befriedigung der gemeinen Neugierde zum Gewinn erhalten. 130. Un a r t e n d e s L e s e r s . – Die doppelte Unart des Lesers gegen den Autor besteht darin, das zweite Buch desselben auf Unkosten des ersten zu loben (oder umgekehrt) und dabei zu verlangen, dass der Autor ihm dankbar sei.

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131. Das Au f regende i n der Gesc h ic hte der Ku n st. – Verfolgt man die Geschichte einer Kunst, zum Beispiel die der griechischen Beredtsamkeit, so geräth man, von Meister zu Meister fortgehend, bei dem Anblick dieser immer gesteigerten Besonnenheit, um den alten und neuhinzugefügten Gesetzen und Selbstbeschränkungen insgesammt zu gehorchen, zuletzt in eine peinliche Spannung : man begreift, dass der Bogen brechen mu s s und dass die sogenannte unorganische Composition, mit den wundervollsten Mitteln des Ausdrucks überhängt und maskirt – in jenem Falle der Barockstil des Asianismus – einmal eine Nothwendigkeit und fast eine Woh lt h at war. 132. A n d ie Gr o s s e n d e r K u n s t . – Jene Begeisterung für eine Sache, welche du Grosser in die Welt hineinträgst, lässt den Verstand Vieler ve r k r ü p p e l n . Diess zu wissen demüthigt. Aber der Begeisterte trägt seinen Höcker mit Stolz und Lust : insofern hast du den Trost, dass durch dich das Glück in der Welt ve r me h r t ist. | 133. D ie ä st het i sc h G ew i s sen losen. – Die eigentlichen Fanatiker einer künstlerischen Partei sind jene völlig unkünstlerischen Naturen, welche selbst in die Elemente der Kunstlehre und des Kunstkönnens nicht eingedrungen sind, aber auf das Stärkste von allen e le me nt a r i s c he n Wirkungen einer Kunst ergriffen werden. Für sie giebt es kein ästhetisches Gewissen – und daher Nichts, was sie vom Fanatismus zurückhalten könnte. 134. Wie nac h der neueren Mu si k sic h d ie Seele bewegen sol l. – Die künstlerische Absicht, welche die neuere Musik in dem verfolgt, was jetzt, sehr stark aber undeutlich, als „unendliche Melodie“ bezeichnet wird, kann man sich dadurch

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klar machen, dass man in’s Meer geht, allmählich den sichern Schritt auf dem Grunde verliert und sich endlich dem wogenden Elemente auf Gnade und Ungnade übergiebt : man soll s c hw i m me n . In der bisherigen älteren Musik musste man, im zierlichen oder feierlichen oder feurigen Hin und Wieder, Schneller und Langsamer, t a n z e n : wobei das hierzu nöthige Maass, das Einhalten bestimmter gleichwiegender Zeit- und Kraftgrade von der Seele des Zuhörers eine fortwährende B e s o n n e n h e it erzwang : auf dem Widerspiele dieses kühleren Luftzuges, welcher von der Besonnenheit herkam, und des durchwärmten Athems musikalischer Begeisterung ruhte der Zauber jener Musik. – Richard Wagner wollte eine andere Art B eweg u n g der See le, welche, wie gesagt, dem Schwimmen und Schweben verwandt ist. Vielleicht ist diess das Wesentlichste seiner Neuerungen. Sein berühmtes Kunstmittel, | diesem Wollen entsprungen und angepasst  – die „unendliche Melodie“ – bestrebt sich alle mathematische Zeit- und Kraft-Ebenmässigkeit zu brechen, mitunter selbst zu verhöhnen, und er ist überreich in der Erfi ndung solcher Wirkungen, welche dem älteren Ohre wie rhythmische Paradoxien und Lästerreden klingen. Er fürchtet die Versteinerung, die Krystallisation, den Uebergang der Musik in das Architektonische, – und so stellt er dem zweitactigen Rhythmus einen dreitactigen entgegen, führt nicht selten den Fünf- und Siebentact ein, wiederholt die selbe Phrase sofort, aber mit einer Dehnung, dass sie die doppelte und dreifache Zeitdauer bekommt. Aus einer bequemen Nachahmung solcher Kunst kann eine grosse Gefahr für die Musik entstehen : immer hat neben der Ueberreife des rhythmischen Gefühls die Verwilderung, der Verfall der Rhythmik im Versteck gelauert. Sehr gross wird zumal diese Gefahr, wenn eine solche Musik sich immer enger an eine ganz naturalistische, durch keine höhere Plastik erzogene und beherrschte Schauspielerkunst und Gebärdensprache anlehnt, welche in sich kein Maass hat und

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dem sich ihr anschmiegenden Elemente, dem a l l z uwe i b l ic he n Wesen der Musik, auch kein Maass mitzutheilen vermag. 135. D ic hter u nd Wi rk l ic h k eit. – Die Muse des Dichters, der nicht in die Wirklichkeit ve rl iebt ist, wird eben nicht die Wirklichkeit sein und ihm hohläugige und allzuzartknochichte Kinder gebären. 136. M it t e l u nd Zwe c k . – In der Kunst heiligt der Zweck die Mittel nicht : aber heilige Mittel können hier den Zweck heiligen. | 137. D ie s c h le c ht e s t e n L e s e r. – Die schlechtesten Leser sind die, welche wie plündernde Soldaten verfahren : sie nehmen sich Einiges, was sie brauchen können, heraus, beschmutzen und verwirren das Uebrige und lästern auf das Ganze. 138. Merk ma le des g uten Sc h r i f tstel lers. – Die guten Schriftsteller haben zweierlei gemeinsam : sie ziehen vor, lieber verstanden als angestaunt zu werden ; und sie schreiben nicht für die spitzen und überscharfen Leser. 139. Die gem ischten Gatt ungen. – Die gemischten Gattungen in den Künsten legen Zeugniss über das Misstrauen ab, welches ihre Urheber gegen ihre eigene Kraft empfanden ; sie suchten Hülfsmächte, Anwälte, Verstecke, – so der Dichter, der die Philosophie, der Musiker, der das Drama, der Denker, der die Rhetorik zu Hülfe ruft.

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140. Mu nd h a lt e n . – Der Autor hat den Mund zu halten, wenn sein Werk den Mund aufthut. 141. A b z e ic he n d e s R a n g e s . – Alle Dichter und Schriftsteller, welche in den Superlativ verliebt sind, wollen mehr als sie können. 142. K a lte Bücher. – Der gute Denker rechnet auf Leser, welche das Glück nachempfi nden, das im guten | Denken liegt : so dass ein Buch, welches sich kalt und nüchtern ausnimmt, durch die rechten Augen gesehen, vom Sonnenschein der geistigen Heiterkeit umspielt und als ein rechter Seelentrost erscheinen kann. 143. Ku n stg r i f f der Sc hwer f ä l l igen. – Der schwerfällige Denker wählt gewöhnlich die Geschwätzigkeit oder die Feierlichkeit zur Bundesgenossin : durch die erstere meint er sich Beweglichkeit und leichten Fluss anzueignen, durch die letztere erweckt er den Schein, als ob seine Eigenschaft eine Wirkung des freien Willens, der künstlerischen Absicht sei, zum Zwecke der Würde, welche Langsamkeit der Bewegung fordert. 144. Vom B a r o c k s t i le. – Wer sich als Denker und Schriftsteller zur Dialektik und Auseinanderfaltung der Gedanken nicht geboren oder erzogen weiss, wird unwillkürlich nach dem R het or i s c he n und D r a m at i s c he n greifen : denn zuletzt kommt es ihm darauf an, sich ve r s t ä nd l ic h zu machen und dadurch Gewalt zu gewinnen, gleichgültig ob er das Gefühl auf ebenem Pfade zu sich leitet, oder unversehens überfällt – als Hirt oder als Räuber. Diess gilt auch in den bildenden wie musischen Künsten ; wo das Gefühl mangelnder Dialektik

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oder des Ungenügens in Ausdruck und Erzählung, zusammen mit einem überreichen, drängenden Formentriebe, jene Gattung des Stiles zu Tage fördert, welche man B a r o c k s t i l nennt. – Nur die Schlechtunterrichteten und Anmaassenden werden übrigens bei diesem Worte sogleich eine abschätzige Empfi ndung haben. Der Barockstil entsteht jedesmal beim Abblühen jeder grossen Kunst, wenn die An|forderungen in der Kunst des classischen Ausdrucks allzugross geworden sind, als ein Natur-Ereigniss, dem man wohl mit Schwermuth  – weil es der Nacht voranläuft  – zusehen wird, aber zugleich mit Bewunderung für die ihm eigenthümlichen Ersatzkünste des Ausdrucks und der Erzählung. Dahin gehört schon die Wahl von Stoffen und Vorwürfen höchster dramatischer Spannung, bei denen auch ohne Kunst das Herz zittert, weil Himmel und Hölle der Empfi ndung allzunah sind : dann die Beredtsamkeit der starken Affecte und Gebärden, des Hässlich-Erhabenen, der grossen Massen, überhaupt der Quantität an sich  – wie diess sich schon bei Michelangelo, dem Vater oder Grossvater der italiänischen Barockkünstler, ankündigt  – : die Dämmerungs-, Verklärungs- oder Feuerbrunstlichter auf so starkgebildeten Formen : dazu fortwährend neue Wagnisse in Mitteln und Absichten, vom Künstler für die Künstler kräftig unterstrichen, während der Laie wähnen muss, das beständige unfreiwillige Ueberströmen aller Füllhörner einer ursprünglichen Natur-Kunst zu sehen : diese Eigenschaften alle, in denen jener Stil seine Grösse hat, sind in den früheren, vorclassischen und classischen Epochen einer Kunstart nicht möglich, nicht erlaubt : solche Köstlichkeiten hängen lange als verbotene Früchte am Baume. – Gerade jetzt, wo die Mu s i k in diese letzte Epoche übergeht, kann man das Phänomen des Barockstils in einer besonderen Pracht kennen lernen und Vieles durch Vergleichung daraus für frühere Zeiten lernen : denn es hat von den griechischen Zeiten ab schon oftmals einen Barockstil gegeben, in der Poesie, Beredtsam-

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keit, im Prosastile, in der Sculptur eben so wohl als bekanntermaassen in der Architektur – und | jedesmal hat dieser Stil, ob es ihm gleich am höchsten Adel, an dem einer unschuldigen, unbewussten, sieghaften Vollkommenheit, gebricht, auch Vielen von den Besten und Ernstesten seiner Zeit wohl gethan : – wesshalb es, wie gesagt, anmaassend ist, ohne Weiteres ihn abschätzig zu beurtheilen, so sehr sich Jeder glücklich preisen darf, dessen Empfi ndung durch ihn nicht für den reineren und grösseren Stil unempfänglich gemacht wird. 145. We r t h e h rl ic her Büc her. – Ehrliche Bücher machen den Leser ehrlich, wenigstens indem sie seinen Hass und Widerwillen herauslocken, welchen die verschmitzte Klugheit sonst am besten zu verstecken weiss. Gegen ein Buch aber lässt man sich gehen, wenn man sich auch noch so sehr gegen Menschen zurückhält. 146. Wo d u r c h d ie K u n s t P a r t e i m ac ht . – Einzelne schöne Stellen, ein erregender Gesammt-Verlauf und hinreissende erschütternde Schluss-Stimmungen – s o v ie l wird auch den meisten Laien von einem Kunstwerk noch zugänglich sein : und in einer Periode der Kunst, in der man die grösste Masse der Laien auf die Seite der Künstler h i nü b e r z ie he n , also eine Partei, vielleicht zur Erhaltung der Kunst überhaupt, machen will, wird der Schaffende gut thun, auch nicht me h r zu geben : damit er nicht zum Verschwender seiner Kraft werde, auf Gebieten, wo Niemand ihm Dank weiss. Das Uebrige nämlich zu leisten – die Natur in ihrem or g a n i s c he n Bilden und Wachsenlassen nachzuahmen – hiesse in jenem Falle : auf Wasser säen. | 147. Zum Schaden der Historie g ross werden. – Jeder spätere Meister, welcher den Geschmack der Kunst-Geniessenden in

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s e i n e Bahn lenkt, bringt unwillkürlich eine Auswahl und Neu-Abschätzung der älteren Meister und ihrer Werke hervor : das i h m Gemässe und Verwandte, das i h n Vorschmekkende und Ankündigende in Jenen gilt von jetzt ab als das eigentlich B e d eut e nd e an Jenen und ihren Werken, – eine Frucht, in der gewöhnlich ein grosser I r r t hu m als Wurm verborgen steckt. 148. Wie ein Zeitalter zur Kunst geködert wird. – Man lerne mit Hülfe aller Künstler- und Denker-Zaubereien die Menschen an, vor ihren Mängeln, ihrer geistigen Armuth, ihren unsinnigen Verblendungen und Leidenschaften Verehrung zu empfi nden – und diess ist möglich –, man zeige vom Verbrechen und vom Wahne nur die erhabene Seite, von der Schwäche der Willenlosen und Blind-Ergebenen nur das Rührende und zu-Herzen-Sprechende eines solchen Zustandes  – auch diess ist oft genug geschehen – : so hat man das Mittel angewendet, auch einem ganz unkünstlerischen und unphilosophischen Zeitalter schwärmerische L i e b e zu Philosophie und Kunst (namentlich zu den Künstlern und Denkern als Personen) einzuflössen, und, in schlimmen Umständen, vielleicht das einzige Mittel, die Existenz so zarter und gefährdeter Gebilde zu wahren. 149. K r it i k u n d F r e u d e.  – Kritik, einseitige und ungerechte ebensogut wie verständige, macht Dem, der | sie übt, so viel Vergnügen, dass die Welt jedem Werk, jeder Handlung Dank schuldig ist, welche viel und Viele zur Kritik auffordert : denn hinter ihr her zieht sich ein blitzender Schweif von Freude, Witz, Selbstbewunderung, Stolz, Belehrung, Vorsatz zum Bessermachen.  – Der Gott der Freude schuf das Schlechte und Mittelmässige aus dem gleichen Grunde, aus dem er das Gute schuf.

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150. Ueb e r s e i ne Gr ä n z e h i n au s . – Wenn ein Künstler mehr sein will als ein Künstler, zum Beispiel der moralische Erwekker seines Volkes, so verliebt er sich zur Strafe zuletzt in ein Ungethüm von moralischem Stoff – und die Muse lacht dazu : denn diese gutherzige Göttin kann aus Eifersucht auch boshaft werden. Man denke an Milton und Klopstock. 151. G l ä s e r ne s Au g e. – Die Richtung des Talentes auf mor al i s c h e Stoffe, Personen, Motive, auf die schöne Seele des Kunstwerks ist mitunter nur das gläserne Auge, welches der Künstler, dem es an der schönen Seele g eb r ic ht , sich einsetzt : mit dem sehr seltenen Erfolge, dass diess Auge zuletzt doch lebendige Natur wird, wenn auch etwas verkümmert blickende Natur, – aber mit dem gewöhnlichen Erfolge, dass alle Welt Natur zu sehen meint, wo kaltes Glas ist. 152. S c h r e i b e n u nd Sie g e nwol le n . – Schreiben sollte immer einen Sieg anzeigen, und zwar eine Ueberwindung s e i ne r s e l b s t , welche Andern zum Nutzen | mitgetheilt werden muss ; aber es giebt dyspeptische Autoren, welche gerade nur schreiben, wenn sie Etwas nicht verdauen können, ja wenn diess ihnen schon in den Zähnen hängen geblieben ist : sie suchen unwillkürlich mit ihrem Aerger auch dem Leser Verdruss zu machen und so eine Gewalt über ihn auszuüben, das heisst : auch sie wollen siegen, aber über Andere. 153. „Gut Buc h w i l l Wei le haben.“ – Jedes gute Buch schmeckt herb, wenn es erscheint : es hat den Fehler der Neuheit. Zudem schadet ihm sein lebender Autor, im Fall er bekannt ist und manches von ihm verlautet : denn alle Welt pflegt den

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Autor und sein Werk zu verwechseln. Was in diesem an Geist, Süsse und Goldglanz ist, muss sich erst mit den Jahren entwikkeln, unter der Pflege wachsender, dann alter, zuletzt überlieferter Verehrung. Manche Stunde muss darüber hinlaufen, manche Spinne ihr Netz daran gewoben haben. Gute Leser machen ein Buch immer besser und gute Gegner klären es ab. 154. M a a s s lo s i g k e it a l s K u n s t m it t e l . – Künstler verstehen wohl, was es sagen will : die Maasslosigkeit als Kunstmittel zu benützen, um den Eindruck des Reichthums hervorzubringen. Es gehört das zu den unschuldigen Listen der Seelenverführung, auf welche sich die Künstler verstehen müssen : denn in ihrer Welt, in der es auf Schein abgesehen ist, brauchen auch die Mittel des Scheins nicht nothwendig ächt zu sein. | 155. D e r ver s t ec k t e L e ierk a s t e n . – Die Genie’s verstehen sich besser als die Talente darauf, den Leierkasten zu verstecken, vermöge ihres umfänglicheren Faltenwurfs : aber im Grunde können sie auch nicht mehr, als ihre alten sieben Stücke immer wieder spielen. 156. Der Name auf dem Titelblatt. – Dass der Name des Autors auf dem Buche steht, ist zwar jetzt Sitte und fast Pflicht ; doch ist es eine Hauptursache davon, dass Bücher so wenig wirken. Sind sie nämlich gut, so sind sie mehr werth als die Personen, als deren Quintessenzen ; sobald aber der Autor sich durch den Titel zu erkennen giebt, wird die Quintessenz wieder von Seiten des Lesers mit dem Persönlichen, ja Persönlichsten diluirt, und somit der Zweck des Buches vereitelt. Es ist der Ehrgeiz des Intellectes, nicht mehr individuell zu erscheinen.

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157. S c h ä r f s t e K r it i k . – Man kritisirt einen Menschen, ein Buch am schärfsten, wenn man das Ideal desselben hinzeichnet. 158. We n i g u nd oh ne L ieb e. – Jedes gute Buch ist für einen bestimmten Leser und dessen Art geschrieben und wird eben desshalb von allen übrigen Lesern, der grossen Mehrzahl, ungünstig angesehen : wesshalb sein Ruf auf schmaler Grundlage ruht, und nur langsam aufgebaut werden kann. Das mittelmässige und schlechte Buch ist es eben dadurch, dass es Vielen zu gefallen sucht und auch gefällt. | 159. Mu s i k u nd K r a n k he it . – Die Gefahr in der neuen Musik liegt darin, dass sie uns den Becher des Wonnigen und Grossartigen so hinreissend und mit einem Anschein von sittlicher Ekstase an die Lippen setzt, dass auch der Mässige und Edle immer einige Tropfen zu viel von ihr trinkt. Diese MinimalAusschweifung, fortwährend wiederholt, kann aber zuletzt eine tiefere Erschütterung und Untergrabung der geistigen Gesundheit zu Wege bringen, als irgend ein grober Excess es vermöchte : so dass Nichts übrig bleibt, als eines Tages die Nymphengrotte zu fl iehen und, durch Meereswogen und Gefahren, nach dem Rauch von Ithaka und nach den Umarmungen der schlichteren und menschlicheren Gattin sich den Weg zu bahnen. 160. Vor t he i l f ü r d ie G e g ne r. – Ein Buch voller Geist theilt auch an seine Gegner davon mit. 161. Ju g e nd u nd K r it i k . – Ein Buch kritisiren – das heisst für die Jungen nur : keinen einzigen productiven Gedanken des-

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selben an sich herankommen lassen und sich, mit Händen und Füssen, seiner Haut wehren. Der Jüngling lebt gegen alles Neue, das er nicht in Bausch und Bogen lieben kann, im Stande der Nothwehr und begeht jedesmal dabei, so oft er nur kann, ein überflüssiges Verbrechen. 162. W i r k u n g d e r Q u a nt it ät . – Die grösste Paradoxie in der Geschichte der Dichtkunst liegt darin, dass in | Allem, worin die alten Dichter ihre Grösse haben, Einer ein Barbar, nämlich fehlerhaft und verwachsen vom Wirbel bis zur Zehe, sein kann und dennoch der grösste Dichter bleibt. So steht es ja mit Shakespeare, der mit Sophokles zusammengehalten, einem Bergwerke voll einer Unermesslichkeit an Gold, Blei und Geröll gleicht, während jener nicht nur Gold, sondern Gold in der edelsten Gestaltung ist, die seinen Werth als Metall fast vergessen macht. Aber die Quantität, in ihren höchsten Steigerungen, w i r k t als Qualität. Das kommt Shakespeare zu Gute. 163. A l le r A n f a n g i s t G e f a h r. – Der Dichter hat die Wahl, entweder das Gefühl von einer Stufe zur andern zu heben und es so zuletzt sehr hoch zu steigern – oder es mit einem Ueberfalle zu versuchen und gleich von Beginn an mit aller Gewalt am Glockenstrang zu ziehen. Beides hat seine Gefahren : im ersten Falle läuft ihm vielleicht sein Zuhörer vor Langerweile, im zweiten vor Schrecken davon. 164. Zu G u n s t e n d e r K r it i k e r. – Die Insecten stechen, nicht aus Bosheit, sondern weil sie auch leben wollen : ebenso unsere Kritiker ; sie wollen unser Blut, nicht unsern Schmerz.

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165. E r f ol g vo n S e nt e n z e n . – Die Unerfahrenen meinen immer, wenn ihnen eine Sentenz sofort durch ihre schlichte Wahrheit einleuchtet, sie sei alt und bekannt, und blicken dabei scheel auf den Urheber, als habe er das Gemeingut Aller stehlen wollen : während sie an | gewürzten Halbwahrheiten Freude haben, und diess dem Autor zu erkennen geben. Dieser weiss einen solchen Wink zu würdigen und erräth daraus leicht, wo es ihm gelungen und wo misslungen ist. 166. Siegen wol len. – Ein Künstler, der in Allem, was er unternimmt, über seine Kräfte hinausgeht, wird doch zuletzt, durch das Schauspiel des gewaltigen Ringens, das er gewährt, die Menge mit sich fortreissen : denn der Erfolg ist nicht immer nur beim Siege, sondern mitunter schon beim Siegenwollen. 167. S i b i s c r i b e r e. – Der vernünftige Autor schreibt für keine andere Nachwelt als für seine eigene, das heisst, für sein Alter, um auch dann noch an sich Freude haben zu können. 168. L o b d e r S e nt e n z . – Eine gute Sentenz ist zu hart für den Zahn der Zeit und wird von allen Jahrtausenden nicht aufgezehrt, obwohl sie jeder Zeit zur Nahrung dient : dadurch ist sie das grosse Paradoxon in der Litteratur, das Unvergängliche inmitten des Wechselnden, die Speise, welche immer geschätzt bleibt, wie das Salz, und niemals, wie selbst dieses, dumm wird. 169. K u n s t b e d ü r f n i s s z we it e n R a n g e s . – Das Volk hat wohl Etwas von dem, was man Kunstbedürfniss nennen darf, aber es ist wenig und wohlfeil zu befriedigen. Im Grunde genügt

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hierfür der Abfall der Kunst : das | soll man ehrlich sich eingestehen. Man erwäge doch nur zum Beispiel, an was für Melodien und Liedern jetzt unsere kraftvollsten, unverdorbensten, treuherzigsten Schichten der Bevölkerung ihre rechte Herzensfreude haben, man lebe unter Hirten, Sennen, Bauern, Jägern, Soldaten, Seeleuten und gebe sich die Antwort. Und wird nicht in der kleinen Stadt, gerade in den Häusern, welche der Sitz altvererbter Bürgertugend sind, jene allerschlechteste Musik geliebt, ja gehätschelt, welche überhaupt jetzt hervorgebracht wird ? Wer von tieferem Bedürfnisse, von unausgefülltem Begehren nach Kunst in Beziehung auf das Volk, w ie e s i s t , redet, der faselt oder schwindelt. Seid ehrlich ! Nur bei Au s n a h me - Me n s c he n giebt es jetzt ein Kunstbedürfniss in hohe m St i le, – weil die Kunst überhaupt wieder einmal im Rückgange ist und die menschlichen Kräfte und Hoff nungen sich für eine Zeit auf andre Dinge geworfen haben. – Ausserdem, nämlich abseits vom Volke, besteht freilich noch ein breiteres, umfänglicheres Kunstbedürfniss, aber z we i t e n R a n g e s , in den höheren und höchsten Schichten der Gesellschaft : hier ist Etwas wie eine künstlerische Gemeinde, die es aufrichtig meint, möglich. Aber man sehe sich die Elemente an ! Es sind im Allgemeinen die feineren Unzufriedenen, die an sich zu keiner rechten Freude kommen : der Gebildete, der nicht frei genug geworden ist, um der Tröstungen der Religion entrathen zu können und doch ihre Oele nicht wohlriechend genug fi ndet : der Halbedle, der zu schwach ist, den einen Grundfehler seines Lebens oder den schädlichen Hang seines Charakters zu brechen, durch heroisches Umkehren oder Verzichtleisten : der Reichbegabte, der zu vornehm von sich denkt, um durch bescheidene Thätigkeit zu | nützen, und zu träge zur ernsten aufopfernden Arbeit ist : das Mädchen, welches sich keinen genügenden Kreis von Pflichten zu schaffen weiss : die Frau, die durch eine leichtsinnige oder frevelhafte Ehe sich band und nicht genug gebunden weiss : der Gelehrte,

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Arzt, Kaufmann, Beamte, der zu zeitig in das Einzelne eingekehrt, und seiner ganzen Natur niemals vollen Lauf gegönnt hat, dafür aber mit einem Wurm im Herzen seine immerhin tüchtige Arbeit thut : endlich alle unvollständigen Künstler – diess sind jet z t die noch wahrhaften Kunstbedürftigen ! Und was begehren sie eigentlich von der Kunst ? Sie soll ihnen für Stunden und Augenblicke das Unbehagen, die Langeweile, das halbschlechte Gewissen verscheuchen und womöglich den Fehler ihres Lebens und Charakters als Fehler des Welten-Schicksals in’s Grosse umdeuten – sehr verschieden von den Griechen, welche in ihrer Kunst das Aus- und Ueberströmen ihres eigenen Wohl- und Gesundseins empfanden und es liebten, ihre Vollkommenheit no c h e i n m a l ausser sich zu sehen : – sie führte der Selbstgenuss zur Kunst, diese unsere Zeitgenossen – der Selbstverdruss. 170. D ie D eut s c he n i m T he at e r. – Das eigentliche Theatertalent der Deutschen war Kotzebue ; er und seine Deutschen, die der höheren sowohl als die der mittleren Gesellschaft, gehörten nothwendig zusammen, und die Zeitgenossen hätten von ihm im Ernste sagen dürfen : „in ihm leben, weben und sind wir“. Hier war nichts Erzwungenes, Angebildetes, Halb- und Angeniessendes : was er wollte und konnte, wurde verstanden, ja bis jetzt ist der e h rl ic he Theater-Erfolg auf deutschen | Bühnen im Besitze der verschämten oder unverschämten Erben Kotzebueischer Mittel und Wirkungen, namentlich so weit das Lustspiel noch in einiger Blüthe steht ; woraus sich ergiebt, dass viel von dem damaligen Deutschthum, zumal abseits von der grossen Stadt, immer noch fortlebt. Gutmüthig, in kleinen Genüssen unenthaltsam, thränenlüstern, mit dem Wunsche, wenigstens im Theater sich der eingebornen pflichtstrengen Nüchternheit entschlagen zu dürfen und hier lächelnde, ja lachende Duldung zu üben, das

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Gute und das Mitleid verwechselnd und in Eins zusammenwerfend  – wie es das Wesentliche der deutschen Sentimentalität ist –, überglücklich bei einer schönen, grossmüthigen Handlung, im Uebrigen unterwürfig nach Oben, neidisch gegen einander, und doch im Innersten sich selbst genügend – so waren sie, so war er. – Das zweite Theatertalent war Schiller : dieser entdeckte eine Classe von Zuhörern, welche bis dahin nicht in Betracht gekommen waren ; er fand sie in den unreifen Lebensaltern, im deutschen Mädchen und Jüngling. Ihren höheren, edleren, stürmischeren, wenn auch unklareren Regungen, ihrer Lust am Klingklang sittlicher Worte (welche in den dreissiger Jahren des Lebens zu verschwinden pflegt) kam er mit seinen Dichtungen entgegen und errang sich dadurch, gemäss der Leidenschaftlichkeit und Parteisucht jener Altersclasse, einen Erfolg, der allmählich auch auf die reiferen Lebensalter mit Vortheil einwirkte : Schiller hat im Allgemeinen die Deutschen ve r j ü n g t . – Goethe stand über den Deutschen in jeder Beziehung und steht es auch jetzt noch : er wird ihnen nie angehören. Wie könnte auch je ein Volk der Goethischen G e i s t i g k e it im Woh l- S e i n u nd Woh l-Wol le n gewachsen sein ! | Wie Beethoven über die Deutschen weg Musik machte, wie Schopenhauer über die Deutschen weg philosophirte, so dichtete Goethe seinen Tasso, seine Iphigenie über die Deutschen weg. Ihm folgte eine s e h r k le i ne Schaar Höchstgebildeter, durch Alterthum, Leben und Reisen Erzogener, über deutsches Wesen hinaus Gewachsener : – er selber wollte es nicht anders.  – Als dann die Romantiker ihren zweckbewussten Goethe-Cultus aufrichteten, als ihre erstaunliche Kunstfertigkeit des Anschmeckens dann auf die Schüler Hegels, die eigentlichen Erzieher der Deutschen dieses Jahrhunderts, überging, als der erwachende nationale Ehrgeiz auch dem Ruhme der deutschen Dichter zu Gute kam und der eigentliche Maassstab des Volkes, ob es sich e h rl ic h an Etwas f r eue n könne, unerbittlich dem

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Urtheile der Einzelnen und jenem nationalen Ehrgeize untergeordnet wurde – das heisst, als man anfi ng sich freuen zu mü s s e n  – da entstand jene Verlogenheit und Unächtheit der deutschen Bildung, welche sich Kotzebue’s schämte, welche Sophokles, Calderon und selbst Goethe’s Faust-Fortsetzung auf die Bühne brachte und welche ihrer belegten Zunge, ihres verschleimten Magens wegen, zuletzt nicht mehr weiss, was ihr schmeckt, was ihr langweilig ist.  – Selig sind Die, welche Geschmack haben, wenn es auch ein schlechter Geschmack ist ! – Und nicht nur selig, auch weise kann man nur vermöge dieser Eigenschaft werden ; wesshalb die Griechen, die in solchen Dingen sehr fein waren, den Weisen mit einem Wort bezeichneten, das d e n M a n n d e s G e s c h m ac k s bedeutet, und Weisheit, künst lerische sowohl wie erkennende, geradezu „Geschmack“ (Sophia) benannten. | 171. Die Musi k a ls Spätli ng jeder Cult ur. – Die Musik kommt von allen Künsten, welche auf einem bestimmten Culturboden, unter bestimmten socialen und politischen Verhältnissen jedesmal aufzuwachsen pflegen, als die let z t e aller Pflanzen zum Vorschein, im Herbst und Abblühen der zu ihr gehörigen Cultur : während gewöhnlich die ersten Boten und Anzeichen eines neuen Frühlings schon bemerkbar sind ; ja mitunter läutet die Musik wie die Sprache eines versunkenen Zeitalters in eine erstaunte und neue Welt hinein und kommt zu spät. Erst in der Kunst der Niederländer Musiker fand die Seele des christlichen Mittelalters ihren vollen Klang : ihre Ton-Baukunst ist die nachgeborne, aber ächt- und ebenbürtige Schwester der Gothik. Erst in Händel’s Musik erklang das Beste von Luther’s und seiner Verwandten Seele, der grosse jüdisch-heroische Zug, welcher die ganze ReformationsBewegung schuf. Erst Mozart gab dem Zeitalter Ludwig des Vierzehnten und der Kunst Racine’s und Claude Lorrain’s in

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k l i n g e nd e m Golde heraus. Erst in Beethoven’s und Rossini’s Musik sang sich das achtzehnte Jahrhundert aus, das Jahrhundert der Schwärmerei, der zerbrochnen Ideale und des flüchtigen Glückes. So möchte denn ein Freund empfi ndsamer Gleichnisse sagen, jede wahrhaft bedeutende Musik sei Schwanengesang. – Die Musik ist eben n ic ht eine allgemeine, überzeitliche Sprache, wie man so oft zu ihrer Ehre gesagt hat, sondern entspricht genau einem Gefühls-, Wärmeund Zeitmaass, welches eine ganz bestimmte einzelne, zeitlich und örtlich gebundene Cultur als inneres Gesetz in sich trägt ; die Musik Palaestrina’s würde für einen Griechen völlig unzugänglich sein, und wiederum – was würde Palaestrina bei der | Musik Rossini’s hören ? – Vielleicht, dass auch unsere neueste deutsche Musik, so sehr sie herrscht und herrschlustig ist, in kurzer Zeitspanne nicht mehr verstanden wird ; denn sie entsprang aus einer Cultur, die im raschen Absinken begriffen ist ; ihr Boden ist jene Reactions- und Restaurations-Periode, in welcher ebenso ein gewisser K at hol ic i s mu s d e s G e f ü h l s wie die Lust an allem he i m i s c h - n at io n a le n We s e n u nd Ur we s e n zur Blüthe kam und über Europa einen gemischten Duft ausgoss : welche beide Richtungen des Empfi ndens, in grösster Stärke erfasst und bis in die entferntesten Enden fortgeführt, in der Wagnerischen Kunst zuletzt zum Erklingen gekommen sind. Wagner’s Aneignung der altheimischen Sagen, sein veredelndes Schalten und Walten unter deren so fremdartigen Göttern und Helden – welche eigentlich souveräne Raubthiere sind, mit Anwandlungen von Tiefsinn, Grossherzigkeit und Lebensüberdruss –, die Neubeseelung dieser Gestalten, denen er den christlich-mittelalterlichen Durst nach verzückter Sinnlichkeit und Entsinnlichung dazugab, dieses ganze Wagnerische Nehmen und Geben in Hinsicht auf Stoffe, Seelen, Gestalten und Worte spricht deutlich auch den G e i s t s e i ne r Mu s i k aus, wenn diese, wie alle Musik, von sich selber nicht völlig unzweideutig zu reden vermöchte : die-

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ser Geist führt den a l le rlet z t e n Kriegs- und Reactionszug an gegen den Geist der Aufklärung, welcher aus dem vorigen Jahrhundert in dieses hineinwehte, eben so gegen die übernationalen Gedanken der französischen Umsturz-Schwärmerei und der englisch-amerikanischen Nüchternheit im Umbau von Staat und Gesellschaft. – Ist es aber nicht ersichtlich, dass die hier – bei Wagner selbst und seinem Anhange – noch zurückgedrängt erscheinenden | Gedanken- und Empfi ndungskreise längst von Neuem wieder Gewalt bekommen haben, und dass jener späte musikalische Protest gegen sie zumeist in Ohren hineinklingt, die andere und entgegengesetzte Töne lieber hören ? so dass eines Tages jene wunderbare und hohe Kunst ganz plötzlich unverständlich werden und sich Spinnweben und Vergessenheit über sie legen könnten. – Man darf sich über diese Sachlage nicht durch jene flüchtigen Schwankungen beirren lassen, welche als Reaction innerhalb der Reaction, als ein zeitweiliges Einsinken des Wellenbergs inmitten der gesammten Bewegung erscheinen; so mag dieses Jahrzehend der nationalen Kriege, des ultramontanen Martyriums und der socialistischen Beängstigung in seinen feineren Nachwirkungen auch der genannten Kunst zu einer plötzlichen Glorie verhelfen, – ohne ihr damit die Bürgschaft dafür zu geben, dass sie „Zukunft habe“, oder gar, dass sie d ie Zuk u n f t habe. – Es liegt im Wesen der Musik, dass die Früchte ihrer grossen Cultur-Jahrgänge zeitiger unschmackhaft werden und rascher verderben, als die Früchte der bildenden Kunst oder gar die auf dem Baume der Erkenntniss gewachsenen : unter allen Erzeugnissen des menschlichen Kunstsinns sind nämlich G e d a n k e n das Dauerhafteste und Haltbarste. 172. D ie D ic ht e r k e i ne L e h r er me h r. – So fremd es unserer Zeit klingen mag : es gab Dichter und Künstler, deren Seele über die Leidenschaften und deren Krämpfe und Entzückun-

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gen hinaus war, und die desshalb an reinlicheren Stoffen, würdigeren Menschen, zarteren Verknüpfungen und Lösungen ihre Freude hatten. Sind die jetzigen grossen Künstler meistens Entfesseler des Willens | und unter Umständen eben dadurch Befreier des Lebens, so waren jene – Willens-Bändiger, Thier-Verwandler, Menschen-Schöpfer und überhaupt Bildner, Um- und Fortbildner des Lebens : während der Ruhm der Jetzigen im Abschirren, Kettenlösen, Zertrümmern liegen mag. – Die älteren Griechen verlangten vom Dichter, er solle der Lehrer der Erwachsenen sein : aber wie müsste sich jetzt ein Dichter schämen, wenn man diess von ihm verlangte – er, der selber sich kein guter Lehrer war und daher selber kein gutes Gedicht, kein schönes Gebilde wurde, sondern im günstigen Falle gleichsam der scheue, anziehende Trümmerhaufen eines Tempels, aber zugleich eine Höhle der Begierden, mit Blumen, Stechpflanzen, Giftkräutern ruinenhaft überwachsen, von Schlangen, Gewürm, Spinnen und Vögeln bewohnt und besucht, – ein Gegenstand zum trauernden Nachsinnen darüber, warum jetzt das Edelste und Köstlichste sogleich als Ruine, ohne die Vergangenheit und Zukunft des Vollkommenseins, emporwachsen muss ? – 173. Vor- u nd Rüc k bl ic k . – Eine Kunst, wie sie aus Homer, Sophokles, Theokrit, Calderon, Racine, Goethe au s s t r ö mt , als Ueb e r s c hu s s einer weisen und harmonischen Lebensführung – das ist das Rechte, nach dem wir endlich greifen lernen, wenn wir selber weiser und harmonischer geworden sind, nicht jene barbarische, wenngleich noch so entzückende Aussprudelung hitziger und bunter Dinge aus einer ungebändigten chaotischen Seele, welche wir früher als Jünglinge unter Kunst verstanden. Es begreift sich aber aus sich selber, dass für gewisse Lebenszeiten eine Kunst der Ueberspannung, der Erregung, | des Widerwillens gegen das Geregelte, Eintönige,

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Einfache, Logische ein nothwendiges Bedürfniss ist, welchem Künstler entsprechen mü s s e n , damit die Seele solcher Lebenszeiten sich nicht auf anderm Wege, durch allerlei Unfug und Unart, entlade. So bedürfen die Jünglinge, wie sie meistens sind, voll, gährend, von Nichts me h r als von der Langenweile gepeinigt, – so bedürfen Frauen, denen eine gute, die Seele füllende Arbeit fehlt, jener Kunst der entzückenden Unordnung. Um so heftiger noch entflammt sich ihre Sehnsucht nach einem Genügen ohne Wechsel, einem Glück ohne Betäubung und Rausch. 174. G e g e n d ie K u n s t d e r K u n s t we r k e. – Die Kunst soll vor Allem und zuerst das Leben ve r s c hö n e r n , also u n s selber den Andern erträglich, womöglich angenehm machen : mit dieser Aufgabe vor Augen, mässigt sie und hält uns im Zaume, schaff t Formen des Umgangs, bindet die Unerzogenen an Gesetze des Anstandes, der Reinlichkeit, der Höflichkeit, des Redens und Schweigens zur rechten Zeit. Sodann soll die Kunst alles Hässliche ve r b e r g e n oder u md eut e n , jenes Pein liche, Schreckliche, Ekelhafte, welches trotz allem Bemühen immer wieder, gemäss der Herkunft der menschlichen Natur, herausbrechen wird : sie soll so namentlich in Hinsicht auf die Leidenschaften und seelischen Schmerzen und Aengste verfahren und im unvermeidlich oder unüberwindlich Hässlichen das B e d eut e nd e durchschimmern lassen. Nach dieser grossen, ja übergrossen Aufgabe der Kunst ist die sogenannte eigentliche Kunst, d ie d e r K u n s t we rk e, nur ein A n h ä n g s e l . Ein Mensch, der einen Ueberschuss von solchen verschönernden, verbergenden | und umdeutenden Kräften in sich fühlt, wird sich zuletzt noch in Kunstwerken dieses Ueber flusses zu entladen suchen ; ebenso, unter besondern Umständen, ein ganzes Volk. – Aber gewöhnlich fängt man jetzt die Kunst am Ende an, hängt sich an ihren Schweif und meint, die Kunst der Kunstwerke sei das Eigentliche, von

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ihr aus solle das Leben verbessert und umgewandelt werden – wir Thoren ! Wenn wir die Mahlzeit mit dem Nachtisch beginnen und Süssigkeiten über Süssigkeiten kosten, was Wunders, wenn wir uns den Magen und selbst den Appetit für die gute, kräftige, nährende Mahlzeit, zu der uns die Kunst einladet, verderben ! 175. Fo r t b e s t e h e n d e r K u n s t .  – Wodurch besteht jetzt im Grunde eine Kunst der Kunstwerke fort ? Dadurch dass die Meisten, welche Musse-Stunden haben, – und nur für Diese giebt es ja eine solche Kunst  – nicht glauben ohne Musik, Theater- und Gallerien-Besuch, ohne Roman- und GedichteLesen mit ihrer Zeit fertig zu werden. Gesetzt, man könnte sie von dieser Befriedigung a bh a lt e n , so würden sie entweder nicht so eifrig nach Musse streben, und der neiderregende Anblick der Reichen würde s e lt e ne r  – ein grosser Gewinn für den Bestand der Gesellschaft ; oder sie hätten Musse, lernten aber n ac hd e n k e n – was man lernen und verlernen kann – über ihre Arbeit zum Beispiel, ihre Verbindungen, über Freuden, die sie erweisen könnten ; alle Welt, mit Ausnahme der Künstler, hätte in beiden Fällen den Vortheil davon. – Es giebt gewiss manchen kraft- und sinnvollen Leser, der hier einen guten Einwand zu machen versteht. Der Plumpen und Böswilligen halber soll es doch einmal | gesagt werden, dass es hier, wie so oft in diesem Buche, dem Autor eben auf den Einwand ankommt, und dass Manches in ihm zu lesen ist, was nicht gerade darin geschrieben steht. 176. D a s Mu nd s t üc k d er G öt t er.  – Der Dichter spricht die allgemeinen höheren Meinungen aus, welche ein Volk hat ; er ist deren Mundstück und Flöte, – aber er spricht sie, vermöge des Metrums und aller anderen künstlerischen Mittel so aus, dass das Volk sie wie etwas ganz Neues und Wunderhaftes

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nimmt, und es vom Dichter allen Ernstes glaubt, er sei das Mundstück der Götter. Ja, in der Umwölkung des Schaffens, vergisst der Dichter selber, wo er alle seine geistige Weisheit her hat  – von Vater und Mutter, von Lehrern und Büchern aller Art, von der Strasse und namentlich von den Priestern ; ihn täuscht seine eigene Kunst und er glaubt wirklich, in naiver Zeit, dass e i n G ot t durch ihn rede, dass er im Zustande einer religiösen Erleuchtung schaffe – : während er eben nur sagt, was er gelernt hat, Volks-Weisheit und Volks-Thorheit untereinander. Also : insofern der Dichter wirklich vox populi i s t , g i lt er als vox dei. 177. Was a l le Ku nst w i l l u nd n icht k a n n. – Die schwerste und letzte Aufgabe des Künstlers ist die Darstellung des Gleichbleibenden, in sich Ruhenden, Hohen, Einfachen, vom Einzelreiz weit Absehenden ; desshalb werden die höchsten Gestaltungen sittlicher Vollkommenheit von den schwächeren Künstlern selbst als unkünstlerische Vorwürfe abgelehnt, weil ihrem Ehrgeize der Anblick dieser Früchte gar zu peinlich ist : sie glänzen | ihnen aus den äussersten Aesten der Kunst entgegen, aber es fehlt ihnen Leiter, Muth und Handgriff, um sich so hoch wagen zu dürfen. An sich ist ein Phidias a l s D ic h t e r recht wohl möglich, aber, in Anbetracht der modernen Kraft, fast nur im Sinne des Wortes, dass bei Gott kein Ding unmöglich ist. Schon der Wunsch nach einem dichterischen Claude Lorrain ist ja gegenwärtig eine Unbescheidenheit, so sehr Einen das Herz darnach verlangen heisst. – Der Darstellung des let z t e n Menschen, d a s he i s s t d e s e i n f ac h s t e n u n d z u g le i c h vol l s t e n , war bis jetzt kein Künstler gewachsen ; vielleicht aber haben die Griechen, i m Id e a l d e r A t he ne, am weitesten von allen bisherigen Menschen den Blick geworfen.

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178. Ku n st u nd Restau rat ion. – Die rückläufigen Bewegungen in der Geschichte, die sogenannten Restaurations-Zeiten, welche einem geistigen und gesellschaftlichen Zustand, der vor dem zuletzt bestehenden lag, wieder Leben zu geben suchen und denen eine kurze Todten-Erweckung auch wirklich zu gelingen scheint, haben den Reiz gemüthvoller Erinnerung, sehnsüchtigen Verlangens nach fast Verlorenem, hastigen Umarmens von minutenlangem Glücke. Wegen dieser seltsamen Vertiefung der Stimmung fi nden gerade in solchen flüchtigen, fast traumhaften Zeiten Kunst und Dichtung einen natürlichen Boden, wie an steil absinkenden Bergeshängen die zartesten und seltensten Pflanzen wachsen. – So treibt es manchen guten Künstler unvermerkt zu einer RestaurationsDenkweise in Politik und Gesellschaft, für welche er sich, auf eigene Faust, ein stilles Winkelchen und Gärtchen zurecht macht : wo er dann die menschlichen | Ueberreste jener ihn anheimelnden Geschichtsepoche um sich sammelt und vor lauter Todten, Halbtodten und Sterbensmüden sein Saitenspiel ertönen lässt, vielleicht mit dem erwähnten Erfolge einer kurzen Todten-Erweckung. 179. Glüc k der Z eit. – In zwei Beziehungen ist unsre Zeit glücklich zu preisen. In Hinsicht auf die Ve r g a n g e n he it geniessen wir alle Culturen und deren Hervorbringungen und nähren uns mit dem edelsten Blute aller Zeiten, wir stehen noch dem Zauber der Gewalten, aus deren Schoosse jene geboren wurden, nahe genug, um uns vorübergehend ihnen mit Lust und Schauder unterwerfen zu können : während frühere Culturen nur sich selber zu geniessen vermochten und nicht über sich hinaussahen, vielmehr wie von einer weiter oder enger gewölbten Glocke überspannt waren : aus welcher zwar Licht auf sie herabströmte, durch welche aber kein Blick hindurch drang. In Hinsicht auf die Zu k u n f t erschliesst sich

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uns zum ersten Male in der Geschichte der ungeheure Weitblick menschlich-ökumenischer, die ganze bewohnte Erde umspannender Ziele. Zugleich fühlen wir uns der Kräfte bewusst, diese neue Aufgabe ohne Anmaassung selber in die Hand nehmen zu dürfen ; ja, möge unser Unternehmen ausfallen, wie es wolle, mögen wir unsere Kräfte überschätzt haben, jedenfalls giebt es Niemanden, dem wir Rechenschaft schuldeten als uns selbst : die Menschheit kann von nun an durchaus mit sich anfangen, was sie will. – Es giebt freilich sonderbare Menschen-Bienen, welche aus dem Kelche aller Dinge immer nur das Bitterste und Aergerlichste zu saugen verstehen ; – und in der That, alle Dinge enthalten Etwas von diesem | Nicht-Honig in sich. Diese mögen über das geschilderte Glück unseres Zeitalters in ihrer Art empfi nden und an ihrem Bienen-Korb des Missbehagens weiter bauen. 180. E i ne V i s ion . – Lehr- und Betrachtungsstunden für Erwachsene, Reife und Reifste, und diese täglich, ohne Zwang, aber nach dem Gebot der Sitte, von Jedermann besucht : die Kirchen als die würdigsten und erinnerungsreichsten Stätten dazu : gleichsam alltägliche Festfeiern der erreichten und erreichbaren menschlichen Vernunftwürde : ein neueres und volleres Auf- und Ausblühen des Lehrer-Ideals, in welches der Geistliche, der Künstler und Arzt, der Wissende und der Weise hineinverschmelzen, wie deren Einzel-Tugenden als Gesammt-Tugend auch in der Lehre selber, in ihrem Vortrag, ihrer Methode zum Vorschein kommen müssten, – diess ist meine Vision, die mir immer wiederkehrt und von der ich fest glaube, dass sie einen Zipfel des Zukunfts-Schleiers gehoben hat. 181. Erziehung Verd rehung. – Die ausserordentliche Unsicherheit alles Unterrichtswesens, auf Grund deren jetzt jeder Er-

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wachsene das Gefühl bekommt, sein einziger Erzieher sei der Zufall gewesen,  – das Windfahnenhafte der erzieherischen Methoden und Absichten erklärt sich daraus, dass jetzt die ä l t e s t e n und die n e u e s t e n Culturmächte wie in einer wilden Volksversammlung mehr gehört als verstanden werden wollen und um jeden Preis durch ihre Stimme, ihr Geschrei beweisen wollen, dass sie no c h e x i s t i r e n oder dass sie s c ho n e x i s t i r e n . Die armen Lehrer und Erzieher sind bei diesem widersinnigen Lärm | erst betäubt, dann still und endlich stumpf geworden und lassen Alles über sich ergehen, wie sie nun wieder auch Alles über ihre Zöglinge ergehen lassen. Sie selbst sind nicht erzogen ; wie sollten sie erziehen ? Sie selbst sind keine gerad gewachsenen kräftigen, saftvollen Stämme : wer sich an sie anschliessen will, wird sich winden und krümmen müssen, und zuletzt verdreht und verwachsen erscheinen. 182. Ph i losophen und Künstler der Zeit. – Wüstheit und Kaltsinn, Brand der Begierden, Abkühlung des Herzens, – diess widerliche Nebeneinander fi ndet sich im Bilde der höheren europäischen Gesellschaft der Gegenwart. Da glaubt der Künstler schon viel zu erreichen, wenn er durch seine Kunst neb e n dem Brande der Begierde auch einmal den Brand des Herzens aufflammen macht : und ebenso der Philosoph, wenn er bei der Kühle des Herzens, die er mit seiner Zeit gemein hat, auch die Hitze der Begierde durch sein weltverneinendes Urtheilen in sich und jener Gesellschaft abkühlt. 183. N ic ht oh ne Not h S old at d e r C u lt u r s e i n . – Endlich, endlich lernt man, was nicht zu wissen Einem in jüngeren Jahren so viel Einbusse macht : dass man zuerst das Vortreffliche t hu n , zuzweit das Vortreffliche au f s u c h e n müsse, wo und unter welchem Namen es auch zu fi nden sei ; dass

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man dagegen allem Schlechten und Mittelmässigen sofort aus dem Wege gehe, oh ne e s z u b e k ä m pf e n , und dass schon der Zweifel an der Güte einer Sache – wie er bei geübterem Geschmacke schnell entsteht – uns als Argument gegen sie und | als Anlass, ihr völlig auszuweichen, gelten dürfe : auf die Gefahr hin, einige Male dabei zu irren und das schwerer zugängliche Gute mit dem Schlechten und Unvollkommenen zu verwechseln. Nur wer nichts Besseres kann, soll den Schlechtigkeiten der Welt zu Leibe gehen, als der Soldat der Cultur. Aber der Nähr- und Lehrstand derselben richtet sich zu Grunde, wenn er in Waffen einhergehen will und den Frieden seines Berufs und Hauses durch Vorsorge, Nachtwachen und böse Träume in unheimliche Friedlosigkeit umkehrt. 184. W ie Nat u r g e s c h ic ht e z u er z ä h le n i s t .  – Die Naturgeschichte, als die Kriegs- und Siegsgeschichte der sittlichgeistigen Kraft im Widerstande gegen Angst, Einbildung, Trägheit, Aberglauben, Narrheit, sollte so erzählt werden, dass Jeder, der sie hört, zum Streben nach geistig-leiblicher Gesundheit und Blüthe, zum Frohgefühl, Erbe und Fortsetzer des Menschlichen zu sein, und zu einem immer edleren Unternehmungs-Bedürfniss unaufhaltsam fortgerissen würde. Bis jetzt hat sie ihre rechte Sprache noch nicht gefunden, weil die spracherfi nderischen und beredten Künstler – denn deren bedarf es hiezu – gegen sie ein verstocktes Misstrauen nicht los werden und vor Allem nicht gründlich von ihr lernen wollen. Immerhin ist den Engländern zuzugestehen, dass sie in ihren naturwissenschaftlichen Lehrbüchern für die niederen Volksschichten bewunderungswürdige Schritte nach jenem Ideale hin gemacht haben : dafür werden diese auch von ihren ausgezeichnetsten Gelehrten – ganzen, vollen und füllenden Naturen – gemacht, nicht, wie bei uns, von den Mittelmässigkeiten der Forschung. |

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185. G e n i a l i t ä t d e r M e n s c h h e i t .  – Wenn Genialität, nach Schopenhauer’s Beobachtung, in der zusammenhängenden und lebendigen Erinnerung an das Selbst-Erlebte besteht, so möchte im Streben nach Erkenntniss des gesammten historischen Gewordenseins – welches immer mächtiger die neuere Zeit gegen alle früheren abhebt und zum ersten Male zwischen Natur und Geist, Mensch und Thier, Moral und Physik die alten Mauern zerbrochen hat – ein Streben nach Genialität der Menschheit im Ganzen zu erkennen sein. Die vollendet gedachte Historie wäre kosmisches Selbstbewusstsein. 186. C u lt u s d e r C u lt u r. – Grossen Geistern ist das abschrekkende Allzumenschliche ihres Wesens, ihrer Blindheiten, Verkrümmungen, Maasslosigkeiten beigegeben, damit ihr mächtiger, leicht allzumächtiger Einfluss fortwährend durch das Misstrauen, welches jene Eigenschaften einflössen, in Schranken gehalten werde. Denn das System alles Dessen, was die Menschheit zu ihrem Fortbestehen nöthig hat, ist so umfassend und nimmt so verschiedenartige und zahlreiche Kräfte in Anspruch, dass für jede e i n s e it i g e Bevorzugung, sei es der Wissenschaft, des Staates oder der Kunst oder des Handels, wozu jene Einzelnen treiben, die Menschheit als Ganzes harte Busse zahlen muss. Es ist immer das grösste Verhängniss der Cultur gewesen, wenn Menschen angebetet wurden : in welchem Sinne man sogar mit dem Spruche des mosaischen Gesetzes zusammen fühlen darf, welcher verbietet, neben Gott andere Götter zu haben. – Dem Cultus des Genius’ und der Gewalt muss man, als Er|gänzung und Heilmittel, immer den Cultus der Cultur zur Seite stellen : welcher auch dem Stoff lichen, Geringen, Niedrigen, Verkannten, Schwachen, Unvollkommenen, Einseitigen, Halben, Unwahren, Scheinenden, ja dem Bösen und Furchtbaren, eine verständ-

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nissvolle Würdigung und das Zugeständniss, d a s s d i e s s A l le s n öt h i g s e i , zu schenken weiss ; denn der Zusammen- und Fortklang alles Menschlichen, durch erstaunliche Arbeiten und Glücksfälle erreicht, und eben so sehr das Werk von Cyklopen und Ameisen als von Genie’s, soll nicht wieder verloren gehen : wie dürften wir da des gemeinsamen, tiefen, oft unheimlichen Grundbasses entrathen können, ohne den ja Melodie nicht Melodie zu sein vermag ? 187. D ie a lt e We lt u nd d ie Fr eud e. – Die Menschen der alten Welt wussten sich besser zu f r eue n : wir, uns we n i g e r z u b et r ü b e n ; jene machten immerfort neue Anlässe, sich wohl zu fühlen und Feste zu feiern, ausfi ndig, mit allem ihrem Reichthum von Scharfsinn und Nachdenken : während wir unsern Geist auf Lösung von Aufgaben verwenden, welche mehr die Schmerzlosigkeit, die Beseitigung von Unlustquellen im Auge haben. In Betreff des leidenden Daseins suchten die Alten zu vergessen oder die Empfi ndung in’s Angenehme irgendwie umzubiegen : so dass sie hierin palliativisch zu helfen suchten, während wir den Ursachen des Leidens zu Leibe gehen und im Ganzen lieber prophylaktisch wirken. – Vielleicht bauen wir nur die Grundlagen, auf denen spätere Menschen auch wieder den Tempel der Freude errichten. | 188. Die Musen a ls Lüg ner i n nen. – „Wir verstehen uns darauf, viele Lügen zu sagen“ – so sangen einstmals die Musen, als sie sich vor Hesiod offenbarten. – Es führt zu wesentlichen Entdeckungen, wenn man den Künstler einmal als Betrüger fasst. 189. W ie p a r a d ox H o m e r s e i n k a n n . – Giebt es etwas Verwegeneres, Schauerlicheres, Unglaublicheres, das über Men-

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schenschicksal, gleich der Wintersonne, so hinleuchtet, wie jener Gedanke, der sich bei Homer fi ndet : Das ja fügte der Götter Beschluss und verhängte den Menschen Unterga ng, dass es wär’ ei n Gesa ng auch späten Gesch lechter n.

Also : wir leiden und gehen zu Grunde, damit es den Dichtern nicht an St of f fehle – und diess ordnen gerade so die Götter Homer’s an, welchen an der Lustbarkeit der kommenden Geschlechter sehr viel gelegen scheint, aber allzuwenig an uns, den Gegenwärtigen. – Dass je solche Gedanken in den Kopf eines Griechen gekommen sind ! 190. Nac ht r äg l ic he Rec ht fer t ig u ng des Da sei n s. – Manche Gedanken sind als Irrthümer und Phantasmen in die Welt getreten, aber zu Wahrheiten geworden, weil die Menschen ihnen hinterdrein ein wirkliches Substrat untergeschoben haben. 191. P r o u nd Co nt r a nöt h i g. – Wer nicht begriffen hat, dass jeder grosse Mann nicht nur gefördert, sondern | auch, der allgemeinen Wohlfahrt wegen, bek ä mpf t werden muss, ist gewiss noch ein grosses Kind – oder selber ein grosser Mann. 192. Un g e r e c ht i g k e it d e s G e n ie’s .  – Das Genie ist am ungerechtesten gegen die Genie’s, falls sie seine Zeitgenossen sind : einmal glaubt es sie nicht nöthig zu haben und hält sie desshalb überhaupt für überflüssig, denn es ist ohne sie, was es ist ; sodann kreuzt ihr Einfluss die Wirkung s e i ne s elektrischen Stromes : wesshalb es sie sogar s c h ä d l ic h nennt.

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193. Sc h l i m m stes Sc h ic k sa l ei nes P ropheten. – Er arbeitete zwanzig Jahre daran, seine Zeitgenossen von sich zu überzeugen, – es gelingt ihm endlich ; aber inzwischen war es seinen Gegnern auch gelungen : er war nicht mehr von sich überzeugt. 194. Drei Den ker gleich ei ner Spi n ne. – In jeder philosophischen Secte folgen drei Denker in diesem Verhältnisse auf einander : der Erste erzeugt aus sich den Saft und Samen, der Zweite zieht ihn zu Fäden aus und spinnt ein künstliches Netz, der Dritte lauert in diesem Netz auf Opfer, die sich hier verfangen – und sucht von der Philosophie zu leben. 195. A u s d e m Ve r k e h r m it A u t o r e n .  – Es ist eine ebenso schlechte Manier, mit einem Autor umzugehen, wenn man ihn an der Nase fasst, wie wenn man ihn an seinem Horne fasst – und jeder Autor hat sein Horn. | 196. Zw e i g e s p a n n .  – Unklarheit des Denkens und Gefühlsschwärmerei sind ebenso häufig mit dem rücksichtslosen Willen, sich selber mit allen Mitteln durchzusetzen, sich allein gelten zu lassen, verbunden, wie herzhaftes Helfen, Gönnen und Wohlwollen mit dem Triebe nach Helle und Reinlichkeit des Denkens, nach Mässigung und Ansichhalten des Gefühls. 197. D a s B i n d e n d e u n d d a s Tr e n n e n d e .  – Liegt nicht im Kopfe Das, was die Menschen verbindet  – das Verständniss für gemeinsamen Nutzen und Nachtheil  – und im Herzen Das, was sie trennt  – das blinde Auswählen und Zutappen in Liebe und Hass, die Hinwendung zu Einem auf Unkosten

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Aller und die daraus entspringende Verachtung des allgemeinen Nutzens ? 198. S c hüt z e n u nd D e n k e r. – Es giebt curiose Schützen, welche zwar das Ziel verfehlen, aber mit dem heimlichen Stolz vom Schiessstande abtreten, dass ihre Kugel jedenfalls sehr weit (allerdings über das Ziel hinaus) geflogen ist, oder dass sie zwar nicht das Ziel, aber etwas Anderes getroffen haben. Und eben solche Denker giebt es. 199. Von z we i S e it e n au s. – Man feindet eine geistige Richtung und Bewegung an, wenn man ihr überlegen ist und ihr Ziel missbilligt, oder wenn ihr Ziel zu hoch und unserem Auge unerkennbar, also wenn sie uns überlegen ist. So kann die selbe Partei von zwei Seiten aus, | von Oben und von Unten her, bekämpft werden, und nicht selten schliessen die Angreifenden aus gemeinsamem Hass ein Bündniss mit einander, das widerlicher ist, als Alles, was sie hassen. 200. O r i g i n a l . – Nicht dass man etwas Neues zuerst sieht, sondern dass man das Alte, Altbekannte, von Jedermann Gesehene und Uebersehene w ie neu sieht, zeichnet die eigentlich originalen Köpfe aus. Der erste Entdecker ist gemeinhin jener ganz gewöhnliche und geistlose Phantast – der Zufall. 201. I r r t hu m d e r Ph i lo s o phe n . – Der Philosoph glaubt, der Werth seiner Philosophie liege im Ganzen, im Bau ; die Nachwelt fi ndet ihn im Stein, mit dem er baute und mit dem, von da an, noch oft und besser gebaut wird : also darin, dass jener Bau zerstört werden kann und d o c h no c h als Material Werth hat.

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202. W i t z .  – Der Witz ist das Epigramm auf den Tod eines Gefühls. 203. I m Au g e n bl ic k e vor d e r L ö s u n g. – In der Wissenschaft kommt es alle Tage und Stunden vor, dass Einer unmittelbar vor der Lösung stehen bleibt, überzeugt, jetzt sei sein Bemühen völlig umsonst gewesen, – gleich Einem der, eine Schleife aufziehend, im Augenblicke, wo sie der Lösung am nächsten ist, zögert : denn da gerade sieht sie einem Knoten am ähnlichsten. | 204. Unt e r d ie S c hw ä r mer g e he n . – Der besonnene und seines Verstandes sichere Mensch kann mit Gewinnst ein Jahrzehend unter die Phantasten gehen und sich in dieser heissen Zone einer bescheidenen Tollheit überlassen. Damit hat er ein gutes Stück Wegs gemacht, um zuletzt zu jenem Kosmopolitismus des Geistes zu gelangen, welcher ohne Anmaassung sagen darf : „nichts Geistiges ist mir mehr fremd“. 205. S c h a r f e Lu f t . – Das Beste und Gesündeste in der Wissenschaft wie im Gebirge ist die scharfe Luft, die in ihnen weht. – Die Geistig-Weichlichen (wie die Künstler) scheuen und verlästern dieser Luft halber die Wissenschaft. 206. Wa r u m Geleh r te ed ler a ls Kü nst ler si nd. – Die Wissenschaft bedarf e d le r e r Naturen als die Dichtkunst : sie müssen einfacher, weniger ehrgeizig, enthaltsamer, stiller, nicht so auf Nachruhm bedacht sein und sich über Sachen vergessen, welche selten dem Auge Vieler eines solchen Opfers der Persönlichkeit würdig erscheinen. Dazu kommt eine andere Einbusse, deren sie sich bewusst sind : die Art ihrer Beschäfti-

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gung, die fortwährende Aufforderung zur grössten Nüchternheit schwächt ihren W i l le n , das Feuer wird nicht so stark unterhalten, wie auf dem Heerde der dichterischen Naturen : und desshalb verlieren sie häufig in früheren Lebensjahren als jene ihre höchste Kraft und Blüthe – und wie gesagt, sie w i s s e n um diese Gefahr. Unter | allen Umständen e r s c he i ne n sie unbegabter, weil sie weniger glänzen, und werden für weniger gelten, als sie sind. 207. I nw ie fer n d ie P iet ät ver du n k e lt . – Dem grossen Manne macht man in späteren Jahrhunderten alle grossen Eigenschaften und Tugenden seines Jahrhunderts zum Geschenk – und so wird alles Beste fortwährend durch die Pietät ve r d u n k e lt , welche es als ein heiliges Bild ansieht, an dem man Weihgeschenke aller Art aufhängt und aufstellt, bis es endlich ganz durch dieselben verdeckt und umhüllt wird und fürderhin mehr ein Gegenstand des Glaubens als des Schauens ist. 208. Au f d e m K o pf e s t e he n . – Wenn wir die Wahrheit auf den Kopf stellen, bemerken wir gewöhnlich nicht, dass auch unser Kopf nicht dort steht, wo er stehen sollte. 209. Urspr ung und Nutzen der Mode. – Die ersichtliche Selbstzufriedenheit des E i n z e l n e n mit seiner Form macht die Nachahmung rege und erschaff t allmählich die Form der V ie le n , das heisst die Mode : diese Vielen wollen durch die Mode eben jene so wohlthuende Selbstzufriedenheit mit der Form und erlangen sie auch. – Wenn man erwägt, wie viel Gründe zu Aengstlichkeit und schüchternem Sichverstecken jeder Mensch hat und wie Dreiviertel seiner Energie und seines guten Willens durch jene Gründe gelähmt und unfruchtbar werden können, so muss man der Mode vielen Dank

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zollen, insofern sie jenes Dreiviertel entfesselt und Selbstvertrauen und gegenseitiges | heiteres Entgegenkommen Denen mittheilt, welche sich unter einander an ihr Gesetz gebunden wissen. Auch thörichte Gesetze geben Freiheit und Ruhe des Gemüths, sofern sich nur Viele ihnen unterworfen haben. 210. Z u n g e n lö s e r.  – Der Werth mancher Menschen und Bücher beruht allein in der Eigenschaft, Jedermann zum Aussprechen des Verborgensten, Innersten zu nöthigen : es sind Zungen löser und Brecheisen für die verbissensten Zähne. Auch manche Ereignisse und Uebelthaten, welche scheinbar nur zum Fluche der Menschheit da sind, haben jenen Werth und Nutzen. 211. Fr e i z ü g i g e G e i s t er. – Wer von uns würde sich einen freien Geist zu nennen wagen, wenn er nicht auf seine Art jenen Männern, denen man diesen Namen als S c h i m pf anhängt, eine Huldigung darbringen möchte, indem er Etwas von jener Last der öffentlichen Missgunst und Beschimpfung auf seine Schultern ladet ? Wohl aber dürften wir uns „freizügige Geister“ in allem Ernste (und ohne diesen hoch- oder grossmüthigen Trotz) nennen, weil wir den Zug zur Freiheit als stärksten Trieb unseres Geistes fühlen, und im Gegensatz zu den gebundenen und festgewurzelten Intellecten unser Ideal fast in einem geistigen Nomadenthum sehen, – um einen bescheidenen und fast abschätzigen Ausdruck zu gebrauchen. 212. Ja d ie G u n s t d e r Mu s e n !   – Was Homer darüber sagt, greift in’s Herz, so wahr, so schrecklich ist es : „herzlich liebt’ ihn die Muse und gab ihm Gutes und | Böses ; denn die Augen entnahm sie und gab ihm süssen Gesang ein.“ – Diess ist ein Text ohne Ende für den Denkenden : Gutes und Böses giebt

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sie, das ist i h r e Art von herzlicher Liebe ! Und Jeder wird es sich besonders auslegen, warum wir Denker und Dichter unsre Au g e n daran geben mü s s e n . 213. Gegen d ie P f lege der Musi k . – Die künstlerische Ausbildung des Auges von Kindheit an, durch Zeichnen und Malen, durch Skizziren von Landschaften, Personen, Vorgängen, bringt nebenbei den für das Leben unschätzbaren Gewinn mit sich, das Auge zum Beobachten von Menschen und Lagen s c h a r f , r u h i g und au s d aue r nd zu machen. Ein ähnlicher Neben-Vortheil erwächst aus der künstlerischen Pflege des Ohres nicht ; wesshalb Volksschulen im Allgemeinen gut thun werden, der Kunst des Auges vor der des Ohres den Vorzug zu geben. 214. Die Entdecker von Tr ivia l itäten. – Subtile Geister, denen Nichts ferner liegt als eine Trivialität, entdecken oft nach allerlei Umschweifen und Gebirgspfaden eine solche und haben grosse Freude daran, zur Verwunderung der Nicht-Subtilen. 215. Mor a l der G e leh r ten. – Ein regelmässiger und schneller Fortschritt der Wissenschaften ist nur möglich, wenn der Einzelne n ic ht z u m i s s t r au i s c h sein muss, um jede Rechnung und Behauptung Anderer nachzuprüfen, auf Gebieten, die ihm ferner liegen : dazu aber | ist die Bedingung, dass Jeder auf seinem eigenen Felde Mitbewerber hat, die äu s s e r s t m i s s t r au i s c h sind und ihm scharf auf die Finger sehen. Aus diesem Nebeneinander von „nicht zu misstrauisch“ und „äusserst misstrauisch“ entsteht die Rechtschaffenheit in der Gelehrten-Republik.

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216. Gr u nd d e r Un f r uc ht b a r k e it . – Es giebt höchst begabte Geister, welche nur desshalb immer unfruchtbar sind, weil sie, aus einer Schwäche des Temperamentes, zu ungeduldig sind, ihre Schwangerschaft abzuwarten. 217. Verkeh r te Welt der T h rä nen. – Das vielfache Missbehagen, welches die Ansprüche der höheren Cultur dem Menschen machen, verkehrt endlich die Natur so weit, dass er für gewöhnlich starr und stoisch sich hält und nur noch für die seltenen Anfälle des Glücks die Thränen übrig hat, ja dass Mancher schon bei dem Genusse der Schmerzlosigkeit weinen muss : – nur im Glücke schlägt sein Herz noch. 218. D ie G r i e c he n a l s D ol me t s c h e r.  – Wenn wir von den Griechen reden, reden wir unwillkürlich von Heute und Gestern : ihre allbekannte Geschichte ist ein blanker Spiegel, der immer Etwas wiederstrahlt, das nicht im Spiegel selbst ist. Wir benützen die Freiheit, von ihnen zu reden, um von Anderen schweigen zu dürfen, – damit jene nun selber dem sinnenden Leser Etwas in’s Ohr sagen. So erleichtern die Griechen dem modernen Menschen das Mittheilen von mancherlei schwer Mittheilbarem und Bedenklichem. | 219. Vom er worbenen Chara kter der Gr iechen. – Wir lassen uns leicht durch die berühmte griechische Helle, Durchsichtigkeit, Einfachheit und Ordnung, durch das KrystallhaftNatürliche und zugleich Krystallhaft-Künstliche griechischer Werke verführen, zu glauben, das sei alles den Griechen geschenkt : sie hätten zum Beispiel gar nicht anders gekonnt als gut schreiben, wie diess Lichtenberg einmal ausspricht.

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Aber Nichts ist voreiliger und unhaltbarer. Die Geschichte der Prosa von Gorgias bis Demosthenes zeigt ein Arbeiten und Ringen aus dem Dunklen, Ueberladnen, Geschmacklosen heraus zum Lichte hin, dass man an die Mühsal der Heroen erinnert wird, welche die ersten Wege durch Wald und Sümpfe zu bahnen hatten. Der Dialog der Tragödie ist die eigentliche T h at der Dramatiker, wegen seiner ungemeinen Helle und Bestimmtheit, bei einer Volksanlage, welche im Symbolischen und Andeutenden schwelgte, und durch die grosse chorische Lyrik dazu noch eigens erzogen war : wie es die That Homer’s ist, die Griechen von dem asiatischen Pomp und dem dumpfen Wesen befreit und die Helle der Architektur, im Grossen und Einzelnen, errungen zu haben. Es galt auch keineswegs für leicht, Etwas recht rein und leuchtend zu sagen ; woher sonst die hohe Bewunderung für das Epigramm des Simonides, das ja so schlicht sich giebt, ohne vergoldete Spitzen, ohne Arabesken des Witzes,  – aber es sagt, was es zu sagen hat, deutlich, mit der Ruhe der Sonne, nicht mit der Effecthascherei eines Blitzes. Weil das Zustreben zum Lichte aus einer gleichsam eingeborenen Dämmerung griechisch ist, so geht ein Frohlocken durch das Volk beim Hören einer lakonischen | Sentenz, bei der Sprache der Elegie, den Sprüchen der sieben Weisen. Desshalb wurde das Vorschriftengeben in Versen, das uns anstössig ist, so geliebt, als eigentliche apollinische Aufgabe für den hellenischen Geist, um über die Gefahren des Metrum’s, über die Dunkelheit, welche der Poesie sonst eigen ist, Sieger zu werden. Die Schlichtheit, die Geschmeidigkeit, die Nüchternheit sind der Volksanlage a n g e r u n g e n , nicht mitgegeben, – die Gefahr eines Rückfalles in’s Asiatische schwebte immer über den Griechen, und wirklich kam es von Zeit zu Zeit über sie wie ein dunkler überschwemmender Strom mystischer Regungen, elementarer Wildheit und Finsterniss. Wir sehen sie untertauchen, wir sehen Europa gleichsam weggespült, überfluthet – denn Europa war

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damals sehr klein –, aber immer kommen sie auch wieder an’s Licht, gute Schwimmer und Taucher wie sie sind, das Volk des Odysseus. 220. D a s e i g e nt l ic h He id n i s c he. – Vielleicht giebt es nichts Befremdenderes für Den, welcher sich die griechische Welt ansieht, als zu entdecken, dass die Griechen allen ihren Leidenschaften und bösen Naturhängen von Zeit zu Zeit gleichsam Feste gaben und sogar eine Art Festordnung ihres Allzumenschlichen von Staatswegen einrichteten : es ist diess das eigentlich Heidnische ihrer Welt, vom Christenthume aus nie begriffen, nie zu begreifen und stets auf das Härteste bekämpft und verachtet. – Sie nahmen jenes Allzumenschliche als unvermeidlich und zogen vor, statt es zu beschimpfen, ihm eine Art Recht zweiten Ranges durch Einordnung in die Bräuche der Gesellschaft und des Cultus’ zu geben : | ja, alles, was im Menschen M ac ht hat, nannten sie göttlich und schrieben es an die Wände ihres Himmels. Sie leugnen den Naturtrieb, der in den schlimmen Eigenschaften sich ausdrückt, nicht ab, sondern ordnen ihn ein und beschränken ihn auf bestimmte Culte und Tage, nachdem sie genug Vorsichtsmaassregeln erfunden haben, um jenen wilden Gewässern einen möglichst unschädlichen Abfluss geben zu können. Diess ist die Wurzel aller moralistischen Freisinnigkeit des Alterthums. Man gönnte dem Bösen und Bedenklichen, dem Thierisch-Rückständigen ebenso wie dem Barbaren, Vor-Griechen und Asiaten, welcher im Grunde des griechischen Wesens noch lebte, eine mässige Entladung und strebte nicht nach seiner völligen Vernichtung. Das ganze System solcher Ordnungen umfasste der Staat, der nicht auf einzelne Individuen oder Kasten, sondern auf die gewöhnlichen menschlichen Eigenschaften hin construirt war. In seinem Baue zeigen die Griechen jenen wunderbaren Sinn für das Typisch-Thatsächliche, der sie später befähigte, Naturforscher, Historiker, Geographen

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und Philosophen zu werden. Es war nicht ein beschränktes, priesterliches oder kastenmässiges Sittengesetz, welches bei der Verfassung des Staates und Staats-Cultus’ zu entscheiden hatte : sondern die umfänglichste Rücksicht auf die W i r kl ic h k e it a l le s Me n s c h l ic he n . – Woher haben die Griechen diese Freiheit, diesen Sinn für das Wirkliche ? Vielleicht von Homer und den Dichtern vor ihm ; denn gerade die Dichter, deren Natur nicht die gerechteste und weiseste zu sein pflegt, besitzen dafür jene Lust am Wirklichen, Wirkenden je d e r A r t und wollen selbst das Böse nicht völlig verneinen : es genügt ihnen, dass es sich mässige und nicht | Alles todtschlage oder innerlich giftig mache – das heisst, sie denken ähnlich wie die griechischen Staatenbildner und sind deren Lehrmeister und Wegebahner gewesen. 221. Ausna h me- Gr iec hen. – In Griechenland waren die tiefen, gründlichen, ernsten Geister die Ausnahme : der Instinct des Volkes ging vielmehr dahin, das Ernste und Gründliche als eine Art von Verzerrung zu empfi nden. Die Formen aus der Fremde entlehnen, nicht schaffen, aber zum schönsten Schein umbilden  – das ist griechisch : nachahmen, nicht zum Gebrauch, sondern zur künstlerischen Täuschung, über den aufgezwungenen Ernst immer wieder Herr werden, ordnen, verschönern, verflachen – so geht es fort von Homer bis zu den Sophisten des dritten und vierten Jahrhunderts der neuen Zeitrechnung, welche ganz Aussenseite, pomphaftes Wort, begeisterte Gebärde sind, und sich an lauter ausgehöhlte schein-, klang- und effect-lüsterne Seelen wenden. – Und nun würdige man die Grösse jener Ausnahme-Griechen, welche die W i s s e n s c h a f t schufen. Wer von ihnen erzählt, erzählt die heldenhafteste Geschichte des menschlichen Geistes !

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222. D a s E i n f ac he n ic ht d a s Er s t e, no c h d a s L et z t e d e r Z e it n ac h . – In die Geschichte der religiösen Vorstellungen wird viel falsche Entwickelung und Allmählichkeit hineingedichtet, bei Dingen, die in Wahrheit nicht aus- und hintereinander, sondern nebeneinander und getrennt aufgewachsen sind ; namentlich ist das Einfache viel zu sehr noch im Rufe, das Aelteste und Anfänglichste zu sein. Nicht wenig Menschliches entsteht durch Subtraction und Division | und gerade nicht durch Verdoppelung, Zusatz, Zusammenbildung. – Man glaubt zum Beispiel immer noch an eine allmähliche Entwickelung der G öt t e r d a r s t e l l u n g von jenen ungefügen Holzklötzen und Steinen aus bis zur vollen Vermenschlichung hinauf : und doch steht es gerade so, dass, s o l a n g e die Gottheit in Bäume, Holzstücke, Steine, Thiere hineinverlegt und -empfunden wurde, man sich vor einer Anmenschlichung ihrer Gestalt wie vor einer Gottlosigkeit scheute. Erst die Dichter haben, abseits vom Cultus und dem Banne der religiösen S c h a m , die innere Phantasie der Menschen daran gewöhnen, dafür willig machen müssen : überwogen aber wieder frömmere Stimmungen und Augenblicke, so trat dieser befreiende Einfluss der Dichter wieder zurück und die Heiligkeit verblieb nach wie vor auf Seite des Ungethümlichen, Unheimlichen, ganz eigentlich Unmenschlichen. Selbst aber Vieles von dem, was die innere Phantasie sich zu bilden wagt, würde doch noch, in äussere, leibhafte Darstellung übersetzt, peinlich wirken : das innere Auge ist um Vieles kühner und weniger schamhaft als das äussere (woraus sich die bekannte Schwierigkeit und theilweise Unmöglichkeit ergiebt, epische Stoffe in dramatische umzuwandeln). Die religiöse Phantasie w i l l lange Zeit durchaus nicht an die Identität des Gottes mit einem Bilde glauben : das Bild soll das Numen der Gottheit in irgend einer geheimnissvollen, nicht völlig auszudenkenden Weise hier als thätig, als örtlich gebannt erscheinen lassen.

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Das älteste Götterbild soll den Gott b e r g e n u nd z u g le ic h ve r b e r g e n ,  – ihn andeuten, aber nicht zur Schau stellen. Kein Grieche hat je innerlich seinen Apollo als Holz-Spitzsäule, seinen Eros als Steinklumpen a n g e s c h aut ; es waren Symbole, welche gerade Angst | vor der Veranschaulichung machen sollten. Ebenso steht es noch mit jenen Hölzern, denen mit dürftigster Schnitzerei einzelne Glieder, mitunter in der Ueberzahl, angebildet waren : wie ein lakonischer Apollo vier Hände und vier Ohren hatte. In dem Unvollständigen, Andeutenden oder Uebervollständigen liegt eine grausenhafte Heiligkeit, welche a bwe h r e n soll, an Menschliches, Menschenartiges zu denken. Es ist nicht eine embryonische Stufe der Kunst, in der man so Etwas bildet : als ob man in der Zeit, wo man solche Bilder verehrte, nicht hätte deutlicher reden, sinnfälliger darstellen k ö n ne n . Vielmehr scheut man gerade Eines : das directe Heraussagen. Wie die Cella das Allerheiligste, das eigentliche Numen der Gottheit birgt und in geheimnissvolles Halbdunkel versteckt, d o c h n ic ht g a n z ; wie wiederum der peripterische Tempel die Cella birgt, gleichsam mit einem Schirm und Schleier vor dem ungescheuten Auge schützt, aber nicht ganz : so ist das Bild die Gottheit und zugleich Versteck der Gottheit. – Erst als ausserhalb des Cultus’, in der profanen Welt des Wettkampfes, die Freude an dem Sieger im Kampfe so hoch gestiegen war, dass die hier erregten Wellen in den See der religiösen Empfi ndung hinüberschlugen, erst als das Standbild des Siegers in den Tempelhöfen aufgestellt wurde und der fromme Besucher des Tempels freiwillig oder unfreiwillig sein Auge wie seine Seele an diesen unumgänglichen Anblick men sc h l ic her Schönheit und Ueberkraft gewöhnen musste, so dass, bei der räumlichen und seelischen Nachbarschaft, Mensch- und Gottverehrung in einander überklangen : da erst verliert sich auch die Scheu vor der eigentlichen Vermenschlichung des Götterbildes, und der grosse Tummelplatz für die grosse Plastik wird auf|-

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gethan : auch jetzt noch mit der Beschränkung, dass überall wo a n g eb et et werden soll, die uralte Form und Hässlichkeit bewahrt und vorsichtig nachgebildet wird. Aber der we i he nd e u nd s c he n k e nd e Hellene darf seiner Lust, Gott Mensch werden zu lassen, jetzt in aller Seligkeit nachhängen. 223. Woh i n ma n rei sen muss. – Die unmittelbare Selbstbeobachtung reicht lange nicht aus, um sich kennen zu lernen : wir brauchen Geschichte, denn die Vergangenheit strömt in hundert Wellen in uns fort ; wir selber sind ja Nichts als Das, was wir in jedem Augenblick von diesem Fortströmen empfi nden. Auch hier sogar, wenn wir in den Fluss unseres anscheinend eigensten und persönlichsten Wesens hinabsteigen wollen, gilt Heraklit’s Satz : man steigt nicht zweimal in den selben Fluss. – Das ist eine Weisheit, die allmählich zwar altbacken geworden, aber trotzdem eben so kräftig und wahrhaft geblieben ist, wie sie es je war : ebenso wie jene, dass, um Geschichte zu verstehen, man die lebendigen Ueberreste geschichtlicher Epochen aufsuchen müsse,  – dass man r e i s e n müsse, wie Altvater Herodot reiste, zu Nationen – diese sind ja nur festgewordene ältere C u lt u r s t u f e n , auf die man sich s t e l le n kann –, zu sogenannten wilden und halbwilden Völkerschaften, namentlich dorthin, wo der Mensch das Kleid Europa’s ausgezogen oder noch nicht angezogen hat. Nun giebt es aber noch eine f e i ne r e Kunst und Absicht des Reisens, welche es nicht immer nöthig macht, von Ort zu Ort und über Tausende von Meilen hin den Fuss zu setzen. Es leben sehr wahrscheinlich die letzten drei | Jahrhunderte in allen ihren Culturfärbungen und -Strahlenbrechungen auch in u n s e r e r Nä he noch fort : sie wollen nur e nt d e c k t werden. In manchen Familien, ja in einzelnen Menschen liegen die Schichten schön und übersichtlich noch übereinander : anderswo giebt es schwieriger zu verstehende Verwerfungen des Gesteins.

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Gewiss hat sich in abgelegenen Gegenden, in weniger bekannten Gebirgsthälern, umschlosseneren Gemeinwesen ein ehrwürdiges Musterstück sehr viel älterer Empfi ndung leichter erhalten können und muss hier aufgespürt werden : während es zum Beispiel unwahrscheinlich ist, in Berlin, wo der Mensch ausgelaugt und abgebrüht zur Welt kommt, solche Entdeckungen zu machen. Wer nach langer Uebung in dieser Kunst des Reisens, zum hundertäugigen Argos geworden ist, der wird seine Io – ich meine sein e g o  – endlich überall hinbegleiten und in Aegypten und Griechenland, Byzanz und Rom, Frankreich und Deutschland, in der Zeit der wandernden oder der festsitzenden Völker, in Renaissance und Reformation, in Heimat und Fremde, ja in Meer, Wald, Pflanze und Gebirge, die Reise-Abenteuer dieses werdenden und verwandelten ego wieder entdecken. – So wird Selbst-Erkenntniss zur All-Erkenntniss in Hinsicht auf alles Vergangene : wie, nach einer andern, hier nur anzudeutenden Betrachtungskette, Selbstbestimmung und Selbsterziehung in den freiesten und weitest blickenden Geistern einmal zur All-Bestimmung, in Hinsicht auf alles zukünftige Menschenthum werden könnte. 224. B a l s a m u nd G i f t .  – Man kann es nicht gründlich genug erwägen : das Christenthum ist die Religion des | altgewordenen Alterthums, seine Voraussetzung sind entartete alte Culturvölker ; auf diese vermochte und vermag es wie ein Balsam zu wirken. In Zeitaltern, wo die Ohren und Augen „voller Schlamm“ sind, so dass sie die Stimme der Vernunft und Philosophie nicht mehr zu vernehmen, die leibhaft wandelnde Weisheit, trage sie nun den Namen Epiktet oder Epikur, nicht mehr zu sehen vermögen : da mag vielleicht noch das aufgerichtete Marterkreuz und die „Posaune des jüngsten Gerichts“ wirken, um solche Völker noch zu einem a n s t ä nd i g e n Ausleben zu bewegen. Man denke an das Rom Juvenal’s,

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an diese Giftkröte mit den Augen der Venus : – da lernt man, was es heisst, ein Kreuz vor der „Welt“ schlagen, da verehrt man die stille christliche Gemeinde und ist dankbar für ihr Ueber wuchern des griechisch-römischen Erdreichs. Wenn die meisten Menschen damals gleich mit der Verknechtung der Seele, mit der Sinnlichkeit von Greisen geboren wurden : welche Wohlthat, jenen Wesen zu begegnen, die mehr Seelen als Leiber waren und welche die griechische Vorstellung von den Hadesschatten zu verwirklichen schienen : scheue, dahinhuschende, zirpende, wohlwollende Gestalten, mit einer Anwartschaft auf das „bessere Leben“ und dadurch so anspruchslos, so stillverachtend, so stolz-geduldig geworden !  – Diess Christenthum als Abendläuten des g ut e n Alterthums, mit zersprungener, müder und doch wohltönender Glocke, ist selbst noch für Den, welcher jetzt jene Jahrhunderte nur historisch durchwandert, ein Ohrenbalsam : was muss es für jene Menschen selber gewesen sein !  – Dagegen ist das Christenthum für junge frische Barbarenvölker G i f t ; in die Helden-, Kinder- und Thierseele des alten Deutschen | zum Beispiel die Lehre von der Sündhaftigkeit und Verdammniss hineinpflanzen, heisst nichts Anderes als sie vergiften ; eine ganz ungeheuerliche chemische Gährung und Zersetzung, ein Durcheinander von Gefühlen und Ur theilen, ein Wuchern und Bilden des Abenteuerlichsten musste die Folge sein und also, im weiteren Verlaufe, eine gründliche Schwächung solcher Barbarenvölker. – Freilich : was hätten wir, ohne diese Schwächung, noch von der griechischen Cultur ! was von der ganzen Cultur-Vergangenheit des Menschengeschlechts ! – Denn die vom Christenthume unangetasteten Barbaren verstanden gründlich mit alten Culturen aufzuräumen : wie es zum Beispiel die heidnischen Eroberer des romanisirten Britannien mit furchtbarer Deutlichkeit bewiesen haben. Das Christenthum hat wider seinen Willen helfen müssen, die antike „Welt“ unsterblich zu machen. – Nun bleibt auch hier wieder eine Gegen frage

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und die Möglichkeit einer Gegenrechnung übrig : wäre vielleicht, ohne jene Schwächung durch das erwähnte Gift, eine oder die andere jener frischen Völkerschaften, etwa die deutsche, im Stande gewesen, allmählich von selber eine höhere Cultur zu fi nden, eine eigene, neue ? – von welcher somit der Menschheit selbst der entfernteste Begriff verloren gegangen wäre ? – So steht es auch hier, wie überall : man weiss nicht, um christlich zu reden, ob Gott dem Teufel oder der Teufel Gott mehr Dank dafür schuldig ist, dass Alles so gekommen ist, wie es ist. 225. Glaube macht sel ig und verdammt. – Ein Christ, der auf unerlaubte Gedankengänge geräth, könnte sich wohl einmal fragen : ist es eigentlich nöt h i g , dass | es einen Gott, nebst einem stellvertretenden Sündenlamme, wirklich g iebt , wenn schon der G l au b e an das D a s e i n dieser Wesen ausreicht, um die gleichen Wirkungen hervorzubringen ? Sind es nicht ü b e r f lü s s i g e Wesen, falls sie doch existiren sollten ? Denn alles Wohlthuende, Tröstliche, Versittlichende, ebenso wie alles Verdüsternde und Zermalmende, welches die christliche Religion der menschlichen Seele giebt, geht von jenem Glauben aus und nicht von den Gegenständen jenes Glaubens. Es steht hier nicht anders als bei dem bekannten Falle : zwar hat es keine Hexen gegeben, aber die furchtbaren Wirkungen des Hexenglaubens sind die selben gewesen, wie wenn es wirklich Hexen gegeben hätte. Für alle jene Gelegenheiten, wo der Christ das unmittelbare Eingreifen eines Gottes erwartet, aber umsonst erwartet – weil es keinen Gott giebt – ist seine Religion erfi nderisch genug in Ausflüchten und Gründen zur Beruhigung : hierin ist es sicherlich eine geistreiche Religion. – Zwar hat der Glaube bisher noch keine wirklichen Berge versetzen können, obschon diess ich weiss nicht wer behauptet hat ; aber er vermag Berge dorthin zu setzen, wo keine sind.

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226. Trag i komöd ie von Regen sbu rg. – Hier und da kann man mit einer erschreckenden Deutlichkeit das Possenspiel der Fortuna sehen, wie sie an wenig Tage, an Einen Ort, an die Zustände und Meinungen Eines Kopfes das Seil der nächsten Jahrhunderte anknüpft, an dem sie diese tanzen lassen will. So liegt das Verhängniss der neueren deutschen Geschichte in den Tagen jener Disputation von Regensburg : der friedliche Aus|gang der kirchlichen und sittlichen Dinge, ohne Religionskriege, Gegenreformation, schien gewährleistet, ebenso die Einheit der deutschen Nation ; der tiefe, milde Sinn des Contarini schwebte einen Augenblick über dem theologischen Gezänk, siegreich, als Vertreter der reiferen italiänischen Frömmigkeit, welche die Morgenröthe der geistigen Freiheit auf ihren Schwingen wiederstrahlte. Aber der knöcherne Kopf Luther’s, voller Verdächtigungen und unheim licher Aengste, sträubte sich : weil die Rechtfertigung durch die Gnade ihm als s e i n grösster Fund und Wahlspruch erschien, glaubte er diesem Satze nicht im Munde von Italiänern : während diese ihn, wie es bekannt ist, schon viel früher gefunden und durch ganz Italien in tiefer Stille verbreitet hatten. Luther sah in dieser scheinbaren Uebereinstimmung die Tücken des Teufels, und verhinderte das Friedenswerk so gut er konnte : wodurch er die Absichten der Feinde des Reiches ein gutes Stück vorwärts brachte. – Und nun nehme man, um den Eindruck des schauerlich Possenhaften noch mehr zu haben, hinzu, dass keiner der Sätze, über welche man sich damals in Regensburg stritt, weder der von der Erbsünde, noch der von der Erlösung durch Stellvertretung, noch der von der Rechtfertigung im Glauben, irgendwie wahr ist, oder auch nur mit der Wahrheit zu thun hat, dass sie alle jetzt als undiscutirbar erkannt sind : – und doch wurde darüber die Welt in Flammen gesetzt, also über Meinungen, denen gar keine Dinge und Realitäten entsprechen ; während in Betreff von rein philologischen Fra-

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gen, zum Beispiel nach der Erklärung der Einsetzungs-Worte des Abendmahls, doch wenigstens ein Streit erlaubt ist, weil hier die Wahrheit gesagt werden kann. Aber wo Nichts ist, da hat auch die | Wahrheit ihr Recht verloren.  – Zuletzt bleibt Nichts übrig zu sagen, als dass damals allerdings K r a f t q ue lle n entsprungen sind, so mächtig, dass ohne sie alle Mühlen der modernen Welt nicht mit gleicher Stärke getrieben würden. Und erst kommt es auf Kraft an, dann erst auf Wahrheit, oder auch dann noch lange nicht, nicht wahr, meine lieben Zeitgemässen ? 227. Goethe’s Ir r u ngen. – Goethe ist darin die grosse Ausnahme unter den grossen Künstlern, dass er nicht in der B or n i r th e it s e i n e s w i r k l ic h e n Ve r mög e n s lebte, als ob dasselbe an ihm selber und für alle Welt das Wesentliche und Auszeichnende, das Unbedingte und Letzte sein müsse. Er meinte zweimal etwas Höheres zu besitzen, als er wirklich besass – und irrte sich, in der z we it e n Hälfte seines Lebens, wo er ganz durchdrungen von der Ueberzeugung erscheint, einer der grössten w i s s e n s c h a f t l ic he n Entdecker und Lichtbringer zu sein. Und ebenso schon in der e r s t e n Hälfte seines Lebens : er wol lt e von sich etwas Höheres, als die Dichtkunst ihm schien – und irrte sich schon darin. Die Natur habe aus ihm einen bi ld e nd e n Künstler machen wollen – das war sein innerlich glühendes und versengendes Geheimniss, das ihn endlich nach Italien trieb, damit er sich in diesem Wahne noch recht austobe und ihm jedes Opfer bringe. Endlich entdeckte er, der Besonnene, allem Wahnschaff nen an sich ehrlich Abholde, wie ein trügerischer Kobold von Begierde ihn zum Glauben an diesen Beruf gereizt habe, wie er von der grössten Leidenschaft seines Wollens sich losbinden und A b s c h ie d nehmen müsse. Die schmerzlich schneidende | und wühlende Ueberzeugung, es sei nöthig, A b s c h ie d z u n e h m e n , ist völlig in der Stimmung des Tasso ausgeklungen : über ihm,

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dem „gesteigerten Werther“, liegt das Vorgefühl von Schlimmerem als der Tod ist, wie wenn sich Einer sagt : „nun ist es aus – nach diesem Abschiede ; wie soll man weiter leben, ohne wahnsinnig zu werden !“ – Diese beiden Grundirrthümer seines Lebens gaben Goethe, angesichts einer rein litterarischen Stellung zur Poesie, wie damals die Welt allein sie kannte, eine so unbefangene und fast willkürlich erscheinende Haltung. Abgesehen von der Zeit, wo Schiller – der arme Schiller, der keine Zeit hatte und keine Zeit liess – ihn aus der enthaltsamen Scheu vor der Poesie, aus der Furcht vor allem litterarischen Wesen und Handwerk heraustrieb  – erscheint Goethe wie ein Grieche, der hier und da eine Geliebte besucht, mit dem Zweifel, ob es nicht eine Göttin sei, der er keinen rechten Namen zu geben wisse. Allem seinem Dichten merkt man die anhauchende Nähe der Plastik und der Natur an : die Züge dieser ihm vorschwebenden Gestalten – und er meinte vielleicht immer nur den Verwandlungen Einer Göttin auf der Spur zu sein – wurden ohne Willen und Wissen die Züge sämmtlicher Kinder seiner Kunst. Ohne die Um s c hwe i f e d e s I r r t hu m s wäre er nicht Goethe geworden : das heisst, der einzige deutsche Künstler der Schrift, der jetzt noch nicht veraltet ist, – weil er eben so wenig Schriftsteller als Deutscher von Beruf sein wollte. 228. R e i s e nd e u nd i h r e Gr a d e. – Unter den Reisenden unterscheide man nach fünf Graden : die des ersten niedrigsten Grades sind solche, welche reisen und dabei | gesehen we r d e n , – sie werden eigentlich gereist und sind gleichsam blind ; die nächsten sehen wirklich selber in die Welt ; die dritten erleben Etwas in Folge des Sehens ; die vierten leben das Erlebte in sich hinein und tragen es mit sich fort ; endlich giebt es einige Menschen der höchsten Kraft, welche alles Gesehene, nachdem es erlebt und eingelebt worden ist, endlich auch nothwendig wieder aus sich herausleben müssen, in Handlungen und Werken,

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sobald sie nach Hause zurückgekehrt sind. – Diesen fünf Gattungen von Reisenden gleich gehen überhaupt alle Menschen durch die ganze Wanderschaft des Lebens, die niedrigsten als reine Passiva, die höchsten als die Handelnden und Auslebenden ohne allen Rest zurückbleibender innerer Vorgänge. 229. I m Höhe r - St e i g e n . – Sobald man höher steigt als Die, welche Einen bisher bewunderten, so erscheint man eben Denen als gesunken und herabgefallen : denn sie vermeinten unter allen Umständen, bisher m it uns (sei es auch durch uns) au f d e r Höhe zu sein. 230. M a a s s u nd M it t e. – Von zwei ganz hohen Dingen : Maass und Mitte, redet man am besten nie. Einige Wenige kennen ihre Kräfte und Anzeichen aus den Mysterien-Pfaden innerer Erlebnisse und Umkehrungen : sie verehren in ihnen etwas Göttliches und scheuen das laute Wort. Alle Uebrigen hören kaum zu, wenn davon gesprochen wird, und wähnen, es handele sich um Langeweile und Mittelmässigkeit : Jene etwa noch ausgenommen, welche einen anmahnenden Klang aus jenem Reiche | einmal vernommen, aber gegen ihn sich die Ohren verstopft haben. Die Erinnerung daran macht sie nun böse und aufgebracht. 231. Huma n ität der Freund- und Meisterschaf t. – „Gehe du gen Morgen : so werde ich gen Abend ziehen“ – so zu empfi nden ist das hohe Merkmal von Humanität im engeren Verkehre ; ohne diese Empfi ndung wird jede Freundschaft, jede Jünger- und Schülerschaft irgendwann einmal zur Heuchelei. 232. D ie Tie fe n . – Tiefdenkende Menschen kommen sich im Verkehr mit Andern als Komödianten vor, weil sie sich da, um

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verstanden zu werden, immer erst eine Oberfläche anheucheln müssen. 233. Fü r d ie Ver äc hter der „Heerden-Men sc h heit“. – Wer die Menschen als Heerde betrachtet, und vor ihnen so schnell er kann fl ieht, den werden sie gewiss einholen und mit ihren Hörnern stossen. 234. Haupt vergehen gegen den Eitelen. – Wer einem Andern in der Gesellschaft Gelegenheiten macht, sein Wissen, Fühlen, Erfahren glücklich darzulegen, stellt sich über ihn und begeht also, falls er nicht als Höherstehender von Jenem ohne Einschränkung empfunden wird, ein Attentat auf dessen Eitelkeit, – während er gerade derselben Befriedigung zu geben glaubte. | 235. E nt t äu s c hu n g. – Wenn ein langes Leben und Thun, sammt Reden und Schriften, von einer Person öffentlich Zeugniss ablegt, so pflegt der Umgang mit ihr zu enttäuschen, aus doppeltem Grunde : einmal, weil man zu viel von einer kurzen Zeitspanne Verkehrs erwartet – nämlich alles Das, was erst die tausend Gelegenheiten des Lebens sichtbar werden liessen  –, und sodann, weil jeder Anerkannte sich keine Mühe giebt, im Einzelnen noch um Anerkennung zu buhlen. Er ist zu nachlässig – und wir sind zu gespannt. 236. Zwe i Q ue l le n d e r G üt e. – Alle Menschen mit gleichmässigem Wohlwollen behandeln und ohne Unterschied der Person gütig sein, kann eben so sehr der Ausfluss tiefer Menschenverachtung als gründlicher Menschenliebe sein.

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237. D e r Wa nd e r e r i m G eb i r g e z u s ic h s e l b e r. – Es giebt sichere Anzeichen dafür, dass du vorwärts und höher hinauf gekommen bist : es ist jetzt freier und aussichtsreicher um dich als vordem, die Luft weht dich kühler, aber auch milder an, – du hast ja die Thorheit verlernt, Milde und Wärme zu verwechseln –, dein Gang ist lebhafter und fester geworden, Muth und Besonnenheit sind zusammen gewachsen :  – aus allen diesen Gründen wird dein Weg jetzt einsamer sein dürfen und jedenfalls gefährlicher sein als dein früherer, wenn auch gewiss nicht in dem Maasse, als Die glauben, welche dich Wanderer vom dunstigen Thale aus auf dem Gebirge schreiten sehen. | 238. Au s g e nom me n d e r Näc h s t e. – Offenbar steht mein Kopf nur auf meinem eigenen Halse nicht recht ; denn jeder Andere weiss bekanntlich besser, was ich zu thun und zu lassen habe ; nur mir selber weiss ich armer Schelm nicht zu helfen. Sind wir nicht A l le wie Bildsäulen, denen falsche Köpfe aufgesetzt wurden ? Nicht wahr, mein geliebter Nachbar ? – Doch nein, du gerade bist die Ausnahme. 239. Vor s ic ht . – Mit Personen, denen die Scheu vor dem Persönlichen fehlt, muss man nicht umgehen oder unerbittlich ihnen vorher die Handschellen der Convenienz anlegen. 240. Eitel erscheinen wollen. – Im Gespräche mit Unbekannten oder Halbbekannten nur ausgewählte Gedanken äussern, von seinen berühmten Bekanntschaften, bedeutenden Erlebnissen und Reisen reden, ist ein Anzeichen davon, dass man nicht stolz ist, mindestens dass man nicht so scheinen möchte. Die Eitelkeit ist die Höflichkeits-Maske des Stolzen.

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241. D ie g ut e Fr eu nd s c h a f t . – Die gute Freundschaft entsteht, wenn man den Anderen sehr achtet und zwar mehr als sich selbst, wenn man ebenfalls ihn liebt, jedoch nicht so sehr als sich, und wenn man endlich, zur Erleichterung des Verkehrs, den zarten A n s t r ic h und Flaum der Intimität hinzuzuthun versteht, zugleich aber sich der wirklichen und eigentlichen Intimität und der Verwechselung von Ich und Du weislich enthält. | 242. D ie Fr eu nd e a l s G e s p e n s t e r. – Wenn wir uns stark verwandeln, dann werden unsere Freunde, die nicht-verwandelten, zu Gespenstern unserer eigenen Vergangenheit : ihre Stimme tönt schattenhaft-schauerlich zu uns heran – als ob wir uns selber hörten, aber jünger, härter, ungereifter. 243. Ei n Auge und zwei Bl icke. – Die selben Personen, welche das Naturspiel des Gunst- und Gönnersuchenden Blicks haben, haben gewöhnlich auch, in Folge ihrer häufigen Demüthigungen und Rachegefühle, den unverschämten Blick. 244. D ie bl aue Fe r ne. – Zeitlebens ein Kind – das klingt sehr rührend, ist aber nur das Urtheil aus der Ferne ; in der Nähe gesehen und erlebt, heisst es immer : zeitlebens knabenhaft. 245. Vor t he i l u nd Nac ht he i l i m g le ic he n M i s s ve r s t ä ndn i s s .  – Die verstummende Verlegenheit des feinen Kopfes wird gewöhnlich von Seiten der Unfeinen als schweigende Ueberlegenheit gedeutet und sehr gefürchtet : während die Wahrnehmung von Verlegenheit Wohlwollen erzeugen würde.

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246. D e r We i s e s ic h a l s Na r r e n g eb e nd . – Die Menschenfreundlichkeit des Weisen bestimmt ihn mitunter, sich erregt, erzürnt, erfreut zu s t e l le n , um seiner Umgebung durch die Kälte und Besonnenheit seines w a h r e n Wesens nicht weh zu thun. | 247. S ic h z u r Au f me r k s a m k e it z w i n g e n . – Sobald wir merken, dass Jemand im Umgange und Gespräche mit uns sich zur Aufmerksamkeit z w i n g e n muss, haben wir einen vollgültigen Beweis dafür, dass er uns nicht oder nicht mehr liebt. 248. Weg zu ei ner chr istlichen Tugend. – Von seinen Feinden zu lernen ist der beste Weg dazu, sie zu lieben : denn es stimmt uns dankbar gegen sie. 249. K r ie g s l i s t d e s Zu d r i n g l ic he n . – Der Zudringliche giebt auf unsere Conventionsmünze in Goldmünze heraus und will uns dadurch nachträglich nöthigen, unsere Convention als Versehen und ihn als Ausnahme zu behandeln. 250. Gr u nd d e r A b ne i g u n g. – Wir werden manchem Künstler oder Schriftsteller feindlich, nicht weil wir endlich merken, dass er uns hintergangen hat, sondern weil er nicht feinere Mittel für nöthig befand, um uns zu fangen. 251. I m S c he id e n . – Nicht darin, wie eine Seele sich der Andern nähert, sondern wie sie sich von ihr entfernt, erkenne ich ihre Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit mit der andern.

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252. Si le nt iu m . – Man darf über seine Freunde nicht reden : sonst verredet man sich das Gefühl der Freundschaft. | 253. U n h öf l i c h k e i t .  – Unhöflichkeit ist häufig das Merkmal einer ungeschickten Bescheidenheit, welche bei einer Ueberraschung den Kopf verliert und durch Grobheit diess verbergen möchte. 254. Ve r r ec h nu n g i n d e r E h rl ic h k e it . – Das bisher von uns Verschwiegene erfahren mitunter gerade unsere neuesten Bekannten zuerst : wir meinen dabei thörichterweise, es sei unser Vertrauens-Beweis die stärkste Fessel, mit welcher wir sie festhalten könnten, – aber sie wissen nicht genug von uns, um das Opfer unseres Aussprechens so stark zu empfi nden, und verrathen unsere Geheimnisse an Andere, ohne an Verrath zu denken : so dass wir vielleicht darüber unsere alten Bekannten verlieren. 255. Im Vorzimmer der Gunst. – Alle Menschen, die man lange im Vorzimmer seiner Gunst stehen lässt, gerathen in Gährung und werden sauer. 256. Wa r nu n g a n d ie Ver ac hteten. – Wenn man unverkennbar in der Achtung der Menschen gesunken ist, so halte man mit den Zähnen an der Scham im Verkehre fest ; sonst verräth man den Andern, dass man auch in seiner eigenen Achtung gesunken ist. Der Cynismus im Verkehre ist ein Anzeichen, dass der Mensch in der Einsamkeit sich selber als Hund behandelt. 257. Ma nc he Un ken nt n iss adelt. – In Hinsicht auf die Achtung der Achtung-Gebenden ist es vortheilhafter, | gewisse Dinge

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ersichtlich n ic ht zu verstehen. Auch die Unwissenheit giebt Vorrechte. 258. D e r W id e r s ac her d e r Gr a z ie.  – Der Unduldsame und Hochmüthige mag die Grazie nicht und empfi ndet sie wie einen leibhaft sichtbaren Vorwurf gegen sich ; denn sie ist Toleranz des Herzens in Bewegung und Gebärde. 259. B e i m W i e d e r s e h e n .  – Wenn alte Freunde nach langer Trennung einander wiedersehen, ereignet es sich oft, dass sie sich bei Erwähnung von Dingen theilnahmsvoll stellen, die für sie ganz gleichgültig geworden sind : und mitunter merken es beide, wagen aber nicht den Schleier zu heben – aus einem traurigen Zweifel. So entstehen Gespräche wie im Todtenreiche. 260. Nu r A rbeitsa me sic h z u Freu nden mac hen. – Der Müssige ist seinen Freunden gefährlich : denn weil er nicht genug zu thun hat, redet er davon, was seine Freunde thun und nicht thun, mischt sich endlich hinein und macht sich beschwerlich : wesshalb man kluger Weise nur mit Arbeitsamen Freundschaft schliessen soll. 261. Ei ne Waf fe doppelt so viel a ls zwei. – Es ist ein ungleicher Kampf, wenn der Eine mit Kopf u nd Herz, der Andere nur mit dem Kopfe für seine Sache spricht : der Erstere hat gleichsam Sonne und Wind gegen sich und seine beiden Waffen stören sich gegenseitig : er verliert den Preis – in den Augen der | Wa h r he it . Dafür ist freilich der Sieg des Zweiten mit seiner Einen Waffe selten ein Sieg nach dem Herzen aller a nd e r n Zuschauer und macht bei ihnen unbeliebt.

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262. Tie f e u nd Tr ü b e. – Das Publicum verwechselt leicht Den, welcher im Trüben fi scht, mit Dem, welcher aus der Tiefe schöpft. 263. A n Freu nd u nd Fei nd sei ne Eitel keit demonst r i ren. – Mancher misshandelt aus Eitelkeit selbst seine Freunde, wenn Zeugen zugegen sind, denen er sein Uebergewicht deutlich machen will : und Andere übertreiben den Werth ihrer Feinde, um mit Stolz darauf hinzuweisen, dass sie solcher Feinde werth sind. 264. A bk ü h lu n g.  – Die Erhitzung des Herzens ist gewöhnlich mit der Krankheit von Kopf und Urtheil verbunden. Wem für einige Zeit an der Gesundheit des letzteren gelegen ist, der muss also wissen, was er abzukühlen hat : unbesorgt für die Zukunft seines Herzens ! Denn ist man überhaupt der Erwärmung fähig, so wird man auch wieder warm werden und seinen Sommer haben müssen. 265. Zu r M i s c hu n g d e r G e f ü h le. – Gegen die Wissenschaft empfi nden Frauen und selbstsüchtige Künstler Etwas, das aus Neid und Sentimentalität zusammengesetzt ist. | 266. Wen n d ie Gefa h r a m g rössten i st. – Man bricht das Bein selten, so lange man im Leben mühsam aufwärts steigt, aber wenn man anfängt, es sich leicht zu machen und die bequemen Wege zu wählen. 267. N ic ht z u z e it i g. – Man muss sich in Acht nehmen, nicht zu zeitig scharf zu werden, – weil man zugleich damit zu zeitig dünn wird.

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268. Fr eu d e a m W id e r s p ä n s t i g e n . – Der gute Erzieher kennt Fälle, wo er stolz darauf ist, dass sein Zögling w id e r i h n sich selber treu bleibt : da nämlich, wo der Jüngling den Mann nicht verstehen darf oder zu seinem Schaden verstehen würde. 269. Ver s uc h der Eh rl ic h k eit. – Jünglinge, die ehrlicher werden wollen als sie waren, suchen sich einen anerkannt Ehrlichen zum Opfer, das sie zuerst anfallen, indem sie sich zu seiner Höhe hinauf zu schimpfen suchen – mit dem Hintergedanken, dass dieser erste Versuch jedenfalls ungefährlich sei ; denn gerade Jener dürfe die Unverschämtheit des Ehrlichen nicht züchtigen. 270. D a s ew i g e K i nd . – Wir meinen, das Märchen und das Spiel gehöre zur Kindheit : wir Kurzsichtigen ! Als ob wir in irgend einem Lebensalter ohne Märchen und Spiel leben möchten ! Wir meinen’s und empfi nden’s | freilich anders, aber gerade diess spricht dafür, dass es das Selbe ist : – denn auch das Kind empfi ndet das Spiel als seine Arbeit und das Märchen als seine Wahrheit. Die Kürze des Lebens sollte uns vor dem pedantischen Scheiden der Lebensalter bewahren  – als ob jedes etwas Neues brächte – und ein Dichter einmal den Menschen von zweihundert Jahren, den der wirklich ohne Märchen und Spiel lebt, vorführen. 271. Jede Philosophie ist Philosophie eines Lebensalters. – Das Lebensalter, in dem ein Philosoph seine Lehre fand, klingt aus ihr heraus, er kann es nicht verhüten, so erhaben er sich auch über Zeit und Stunde fühlen mag. So bleibt Schopenhauer’s Philosophie das Spiegelbild der hitzigen und schwermüthigen Ju g e nd , – es ist keine Denkweise für ältere Menschen ; so erinnert Plato’s Philosophie an die mittlern dreissiger

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Jahre, wo ein kalter und ein heisser Strom auf einander zuzubrausen pflegen, so dass Staub und zarte Wölkchen und, unter günstigen Umständen und Sonnenblicken, ein bezauberndes Regenbogenbild entsteht. 272. Vom G e i s t e d e r Fr aue n . – Die geistige Kraft einer Frau wird am besten dadurch bewiesen, dass sie aus Liebe zu einem Manne und dessen Geiste ihren eigenen zum Opfer bringt, und dass trotzdem ihr auf dem neuen, ihrer Natur ursprünglich fremden Gebiete, wohin die Sinnesart des Mannes sie drängt, s ofor t e i n z we it e r G e i s t nachwächst. 273. Erhöhu ng u nd Er n ied r ig u ng i m Gesc h lec ht l ic hen. – Der Sturm der Begierde reisst den Mann | mitunter in eine Höhe hinauf, wo alle Begierde schweigt : dort wo er wirklich l iebt und noch mehr in einem besseren Sein als besserem Wollen lebt. Und wiederum steigt ein gutes Weib häufig aus wahrer Liebe bis hinab zur Begierde und e r n ie d r i g t sich dabei vor sich selber. Namentlich das Letztere gehört zu dem Herzbewegendsten, was die Vorstellung einer guten Ehe mit sich zu bringen vermag. 274. Das Weib er f ü l lt, der Ma n n verheisst. – Durch das Weib zeigt die Natur, womit sie bis jetzt bei ihrer Arbeit am Menschenbilde fertig wurde ; durch den Mann zeigt sie, was sie dabei zu überwinden hatte, aber auch, was sie noch Alles mit dem Menschen vor h at . – Das vollkommene Weib jeder Zeit ist der Müssiggang des Schöpfers an jedem siebenten Tage der Cultur, das Ausruhen des Künstlers in seinem Werke. 275. Umpf l a n z u n g. – Hat man seinen Geist verwendet, um über die Maasslosigkeit der Affecte Herr zu werden, so geschieht

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es vielleicht mit dem leidigen Erfolge, dass man die Maasslosigkeit auf den Geist überträgt und fürderhin im Denken und Erkennenwollen ausschweift. 276. D a s L ac he n a l s Ve r r ät he r e i . – Wie und wann eine Frau lacht, das ist ein Merkmal ihrer Bildung : aber im Klange des Lachens enthüllt sich ihre Natur, bei sehr gebildeten Frauen vielleicht sogar der letzte unlösbare Rest ihrer Natur. Desshalb wird der Menschenprüfer sagen wie Horaz, aber aus verschiedenem Grunde : ridete puellae. | 277. Au s d e r S e e le d e r Jü n g l i n g e. – Jünglinge wechseln, in Bezug auf die selbe Person, mit Hingebung und Unverschämtheit ab : weil sie im Grunde nur sich in dem Andern verehren und verachten, und zwischen beiden Empfi ndungen, in Bezug auf sich selber, hin und her taumeln müssen, so lange sie noch nicht in der Erfahrung das Maass ihres Wollens und Könnens gefunden haben. 278. Zu r Ve r b e s s e r u n g d e r We lt . – Wenn man den Unzufriedenen, Schwarzgalligen und Murrköpfen die Fortpflanzung verwehrte, so könnte man schon die Erde in einen Garten des Glücks verzaubern. – Dieser Satz gehört in eine practische Philosophie für das weibliche Geschlecht. 279. S e i ne m G e f ü h le n ic ht m i s s t r aue n . – Die frauenhafte Wendung, man solle seinem Gefühle nicht misstrauen, bedeutet nicht viel mehr als : man solle essen, was Einem gut schmeckt. Diess mag auch, namentlich für maassvolle Naturen, eine gute Alltagsregel sein. Andere Naturen müssen aber nach einem andern Satze leben : „du musst nicht nur mit dem

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Munde, sondern auch mit dem Kopfe essen, damit dich nicht die Naschhaftigkeit des Mundes zu Grunde richte.“ 280. Gr au s a me r E i n f a l l d e r L ieb e. – Jede grosse Liebe bringt den grausamen Gedanken mit sich, den Gegenstand der Liebe zu tödten, damit er ein für alle Mal dem frevelhaften Spiele des Wechsels entrückt sei : | denn vor dem Wechsel graut der Liebe mehr als vor der Vernichtung. 281. T hü r e n . – Das Kind sieht ebenso wie der Mann in Allem, was erlebt, erlernt wird, Thüren : aber Jenem sind es Z u g ä n g e, Diesem immer nur D u r c h g ä n g e. 282. M it le id i g e Fr aue n . – Das Mitleiden der Frauen, welches geschwätzig ist, trägt das Bett des Kranken auf offenen Markt. 283. Fr ü h z e it i g e s Ve r d ie n s t . – Wer jung schon sich ein Verdienst erwirbt, verlernt gewöhnlich dabei die Scheu vor dem Alter und dem Aeltern, und schliesst sich damit, zu seinem grössten Nachtheil, von der Gesellschaft der Reifen, Reife Gebenden aus : so dass er trotz frühzeitigerem Verdienste länger als Andere grün, zudringlich und knabenhaft bleibt. 284. Bausc h- u nd Bogen-Seelen. – Die Frauen und die Künstler meinen, dass wo man ihnen nicht widerspreche, man nicht widersprechen könne ; Verehrung in zehn Puncten und stillschweigende Nichtbilligung in anderen zehn scheint ihnen neben einander unmöglich, weil sie Bausch- und Bogen-Seelen haben.

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285. Ju n g e Ta le nt e. – In Hinsicht auf junge Talente muss man streng nach der Goethe’schen Maxime verfahren, dass man oft dem Irrthum nicht schaden dürfe, um der Wahrheit nicht zu schaden. Ihr Zustand ist | gleich den Krankheiten der Schwangerschaft und bringt seltsame Gelüste mit sich : welche man ihnen, so gut es gehen will, befriedigen und nachsehen sollte, um der Frucht willen, die man von ihnen hoff t. Freilich muss man, als Krankenwärter dieser wunderlichen Kranken, die schwere Kunst der freiwilligen Selbst-Demüthigung verstehen. 286. E k e l a n d e r Wa h r he it . – Die Frauen sind so geartet, dass alle Wahrheit, in Bezug auf Mann, Liebe, Kind, Gesellschaft, Lebensziel, ihnen Ekel macht und dass sie sich an Jedem zu rächen suchen, welcher ihnen das Auge öff net. 287. D ie Q ue l le d e r g r o s s e n L ieb e. – Woher die plötzlichen Leidenschaften eines Mannes für ein Weib entstehen, die tiefen, innerlichen ? Aus Sinnlichkeit allein am wenigsten : aber wenn der Mann Schwäche, Hülfsbedürftigkeit und zugleich Uebermuth in Einem Wesen zusammen fi ndet, so geht Etwas in ihm vor, wie wenn seine Seele überwallen wollte : er ist im selben Augenblicke gerührt und beleidigt. Auf diesem Puncte entspringt die Quelle der grossen Liebe. 288. R e i n l ic h k e it . – Man soll den Sinn für Reinlichkeit im Kinde bis zur Leidenschaft entfachen : später erhebt er sich, in immer neuen Verwandlungen, fast zu jeder Tugend hinauf und erscheint zuletzt als Compensation alles Talentes, wie eine Lichtfülle von Reinheit, Mässigkeit, Milde, Charakter, – Glück in sich tragend, Glück um sich verbreitend. |

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289. Vo n e it le n a lt e n M ä n n e r n .  – Der Tiefsinn gehört der Jugend, der Klarsinn dem Alter zu : wenn trotzdem alte Männer mitunter in der Art der Tiefsinnigen reden und schreiben, so thun sie es aus Eitelkeit, in dem Glauben, dass sie damit den Reiz des Jugendlichen, Schwärmerischen, Werdenden, Ahnungs- und Hoff nungsvollen annehmen. 290. B e nut z u n g d e s Neue n . – Männer benutzen Neu-Erlerntes oder -Erlebtes fürderhin als Pflugschar, vielleicht auch als Waffe : aber Weiber machen sofort daraus einen Putz für sich zurecht. 291. Rec ht haben bei den z wei Gesc h lec hter n. – Giebt man einem Weibe zu, dass es Recht habe, so kann es sich nicht versagen, erst noch die Ferse triumphirend auf den Nacken des Unterworfenen zu setzen, – es muss den Sieg auskosten ; während Mann gegen Mann sich in solchem Falle gewöhnlich des Rechthabens schämt. Dafür ist der Mann an das Siegen gewöhnt, das Weib erlebt damit eine Ausnahme. 292. Entsag ung im Willen zur Schönheit. – Um schön zu werden, darf ein Weib nicht für hübsch gelten wollen : das heisst, es muss in neunundneunzig Fällen, wo es gefallen könnte, es verschmähen und hintertreiben, zu gefallen, um Ein Mal das Entzücken Dessen einzuernten, dessen Seelenpforte gross genug ist, um Grosses aufzunehmen. | 293. Un beg r e i f l ic h , u n au s s t e h l ic h . – Ein Jüngling kann nicht begreifen, dass ein Aelterer seine Entzückungen, GefühlsMorgenröthen, Gedanken-Wendungen und -Aufschwünge

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auch einmal durchlebt habe : es beleidigt ihn schon, zu denken, dass sie zweimal existirt hätten, – aber ganz feindselig stimmt es ihn, zu hören, dass, um fruchtbar zu werden, er jene Blüthen verlieren, ihren Duft entbehren müsse. 294. Partei m it der Miene der Du lder i n. – Jede Partei, die sich die Miene der Dulderin zu geben weiss, zieht die Herzen der Gutmüthigen zu sich hinüber und gewinnt dadurch selber die Miene der Gutmüthigkeit, zu ihrem grössten Vortheil. 295. B e h au pt e n s ic he r e r a l s b e we i s e n . – Eine Behauptung wirkt stärker als ein Argument, wenigstens bei der Mehrzahl der Menschen ; denn das Argument weckt Misstrauen. Desshalb suchen die Volksredner die Argumente ihrer Partei durch Behauptungen zu sichern. 296. D ie b e s t e n He h le r. – Alle regelmässig Erfolgreichen besitzen eine tiefe Verschlagenheit darin, ihre Fehler und Schwächen immer nur als anscheinende Stärken zum Vorschein zu bringen : wesshalb sie dieselben ungewöhnlich gut und deutlich kennen müssen. 297. Von Zeit z u Zeit. – Er setzte sich in das Stadtthor und sagte zu Einem, der hindurchging, diess eben | sei das Stadtthor. Jener entgegnete, es sei das eine Wahrheit, aber man dürfe nicht zu viel Recht haben, wenn man Dank dafür haben wolle. Oh, antwortete er, ich will auch keinen Dank ; aber von Zeit zu Zeit ist es doch sehr angenehm, nicht nur Recht zu haben, sondern auch Recht zu behalten.

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298. D ie Tugend i st n ic ht von den Deut sc hen er f u nden. – Goethe’s Vornehmheit und Neidlosigkeit, Beethoven’s edle einsiedlerische Resignation, Mozart’s Anmuth und Grazie des Herzens, Händel’s unbeugsame Männlichkeit und Freiheit unter dem Gesetz, Bach’s getrostes und verklärtes Innenleben, welches nicht einmal nöthig hat, auf Glanz und Erfolg zu verzichten,  – sind denn diess d eut s c he Eigenschaften ? Wenn aber nicht, so zeigt es wenigstens, wonach Deutsche streben sollen und was sie erreichen können. 299. P ia f raus oder et was A nderes. – Möchte ich mich irren ; aber mich dünkt, im gegenwärtigen Deutschland werde eine doppelte Art der Heuchelei für Jedermann zur Pflicht des Augenblicks gemacht : man fordert ein Deutschthum aus reichspolitischer Besorgniss, und ein Christenthum aus socialer Angst, beides aber nur in Worten und Gebärden und namentlich im Schweigenkönnen. Der A n s t r ic h ist es, der jetzt so viel kostet, so hoch bezahlt wird : die Zu s c h aue r sind es, derent wegen die Nation ihr Gesicht in deutsch- und christenthümelnde Falten legt. | 300. I nw iefer n auc h i m Guten d a s Ha lbe meh r sei n k a n n a l s d a s Ga n z e. – Bei allen Dingen, die auf Bestand eingerichtet werden und immer den Dienst vieler Personen erfordern, muss manches we n i g e r G ut e zur R e g e l gemacht werden, obschon der Organisator das Bessere und Schwerere sehr gut kennt : aber er wird darauf rechnen, dass es nie an Personen fehle, welche der Regel entsprechen k ön ne n , – und er weiss, dass das Mittelgut der Kräfte die Regel ist. – Diess sieht ein Jüngling selten ein und glaubt dann, als Neuerer, Wunder wie sehr er im Rechte und wie seltsam die Blindheit der Andern sei.

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301. D e r Pa r t e i m a n n . – Der ächte Parteimann lernt nicht mehr, er erfährt und richtet nur noch ; während Solon, der nie Parteimann war, sondern neben und über den Parteien oder gegen sie sein Ziel verfolgte, bezeichnenderweise der Vater jenes schlichten Wortes ist, in welchem die Gesundheit und Unausschöpflichkeit Athen’s beschlossen liegt : „Alt werd’ ich und immer lern’ ich fort.“ 302. Wa s , n ac h G o et he, d eut s c h i s t . – Es sind die wahrhaft Unerträglichen, von denen man selbst das Gute nicht annehmen mag, welche Fr e i he it d e r G e s i n nu n g haben, aber nicht merken, dass es ihnen an G e s c h m ac k s - und G e i s t e s Fr e i he it fehlt. Gerade diess ist aber, nach Goethe’s wohlerwogenem Urtheil, d eut s c h .  – Seine Stimme und sein Beispiel weisen darauf hin, dass der Deutsche me h r s e i n müsse, als ein Deutscher, wenn er | den andern Nationen nützlich, ja nur erträglich werden wolle, und i n we lc he r R ic ht u n g er bestrebt sein solle, über sich und ausser sich hinaus zu gehen. 303. Wa n n e s Not h t hut , s t e he n z u ble i b e n . – Wenn die Massen zu wüthen beginnen und die Vernunft sich verdunkelt, thut man gut, sofern man der Gesundheit seiner Seele nicht ganz sicher ist, unter einen Thorweg unterzutreten und nach dem Wetter auszuschauen. 304. Um s t u r z g e i s t er u nd B e s it z g e i s t er. – Das einzige Mittel gegen den Socialismus, das noch in eurer Macht steht, ist : ihn nicht herauszufordern, das heisst selber mässig und genügsam leben, die Schaustellung jeder Ueppigkeit nach Kräften verhindern und dem Staate zu Hülfe kommen, wenn er alles Ueberflüssige und Luxus-Aehnliche empfi ndlich mit Steuern

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belegt. Ihr wollt diess Mittel nicht ? Dann, ihr reichen Bürgerlichen, die ihr euch „liberal“ nennt, gesteht es euch nur zu, eure eigene Herzensgesinnung ist es, welche ihr in den Socialisten so furchtbar und bedrohlich fi ndet, in euch selber aber als unvermeidlich gelten lasst, wie als ob sie dort etwas Anderes wäre. Hättet ihr, so wie ihr seid, euer Ve r mög e n und die Sorge um dessen Erhaltung nicht, diese eure Gesinnung würde euch zu Socialisten machen : nur der Besitz unterscheidet zwischen euch und ihnen. Euch müsst ihr zuerst besiegen, wenn ihr irgendwie über die Gegner eures Wohlstandes siegen wollt. – Und wäre jener Wohlstand nur wirklich Wohlbefi nden ! Er wäre nicht so äusserlich und neidherausfordernd, er wäre mit|theilender, wohlwollender, ausgleichender, nachhelfender. Aber das Unächte und Schauspielerische eurer Lebensfreuden, welche mehr im Gefühl des Gegensatzes (dass Andere sie nicht haben und euch beneiden) als im Gefühle der Kraft-Erfüllung und Kraft-Erhöhung liegen – eure Wohnungen, Kleider, Wägen, Schauläden, Gaumen- und TafelErfordernisse, eure lärmende Opern- und Musikbegeisterung, endlich eure Frauen, geformt und gebildet, aber aus unedlem Metall, vergoldet, aber ohne Goldklang, als Schaustücke von euch gewählt, als Schaustücke sich selber gebend : – das sind die giftträgerischen Verbreiter jener Volkskrankheit, welche als socialistische Herzenskrätze sich jetzt immer schneller der Masse mittheilt, aber i n euc h ihren ersten Sitz und Brüteherd hat. Und wer hielte diese Pest jetzt noch auf ? – 305. Tac t i k d e r P a r t e ie n . – Wenn eine Partei merkt, dass ein bisher Zugehöriger aus einem unbedingten Anhänger ein bedingter geworden ist, so erträgt sie diess so wenig, dass sie, durch allerlei Aufreizungen und Kränkungen, versucht, jenen zum entschiedenen Abfall zu bringen und zum Gegner zu machen ; denn sie hat den Argwohn, dass die Absicht, in ihrem

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Glauben etwas R e l at i v-Werthvolles zu sehen, das ein Für und Wider, ein Abwägen und Ausscheiden zulässt, ihr gefährlicher sei als ein Gegnerthum in Bausch und Bogen. 306. Zu r St ä rk u n g von Pa r teien. – Wer eine Partei innerlich stärken will, biete ihr Gelegenheit, um ersichtlich u n g e r ec ht behandelt werden zu müssen : dadurch sammelt sie ein Capital guten Gewissens, das ihr vielleicht bis dahin fehlte. | 307. Fü r sei ne Verg a n g en heit sorg en. – Weil die Menschen eigentlich nur alles Alt-Begründete, Langsam-Gewordene achten, so muss Der, welcher nach seinem Tode fortleben will, nicht nur für Nachkommenschaft, sondern noch mehr für eine Ve r g a n g e n he it sorgen : wesshalb Tyrannen jeder Art (auch tyrannenhafte Künstler und Politiker) der Geschichte gern Gewalt anthun, damit diese als Vorbereitung und Stufenleiter zu ihnen hin erscheine. 308. P a r t e i - S c h r i f t s t e l le r. – Der Paukenschlag, mit welchem sich junge Schriftsteller im Dienste einer Partei so wohlgefallen, klingt Dem, welcher nicht zur Partei gehört, wie Kettengerassel und erweckt eher Mitleiden als Bewunderung. 309. Gegen sich Partei erg reifen. – Unsere Anhänger vergeben es uns nie, wenn wir gegen uns selbst Partei ergreifen : denn diess heisst, in ihren Augen, nicht nur ihre Liebe zurückweisen, sondern auch ihren Verstand blossstellen.

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310. G e f a h r i m R e ic ht hu m . – Nur wer G e i s t hat, sollte B e s it z haben : sonst ist der Besitz g e m e i n g e f ä h r l ic h . Der Besitzende nämlich, der von der freien Zeit, welche der Besitz ihm gewähren könnte, keinen Gebrauch zu machen versteht, wird immer f or t f a h r e n , nach Besitz zu streben : dieses Streben wird seine Unterhaltung, seine Kriegslist im Kampf mit der Langenweile sein. So entsteht zuletzt, aus mässigem Besitz, welcher dem Geistigen genügen würde, der eigentliche Reichthum : | und zwar als das gleissende Ergebniss geistiger Unselbständigkeit und Armuth. Nur e r s c he i nt er eben ganz anders, als seine armselige Abkunft erwarten lässt, weil er sich mit Bildung und Kunst maskiren kann : er kann eben die Maske k au f e n . Dadurch erweckt er Neid bei dem Aermeren und Ungebildeten  – welche im Grunde immer die Bildung beneiden und in der Maske nicht die Maske sehen – und bereitet allmählich eine sociale Umwälzung vor : denn vergoldete Roheit und schauspielerisches Sich-Blähen im angeblichen „Genusse der Cultur“ giebt jenen den Gedanken ein „es liegt nur am Gelde“, – während allerdings Et w a s am Gelde liegt, aber v ie l me h r a m G e i s t e. 311. Fr eu d e i m G eb iet e n u nd G e hor c he n . – Das Gebieten macht Freude wie das Gehorchen, ersteres wenn es noch nicht zur Gewohnheit geworden ist, letzteres aber wenn es zur Gewohnheit geworden ist. Alte Diener unter neuen Gebietenden fördern sich gegenseitig im Freude machen. 312. E h r g e i z d e s verlor ne n Po s t e n s. – Es giebt einen Ehrgeiz des verlornen Postens, welcher eine Partei dahin drängt, sich in eine äusserste Gefahr zu begeben.

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313. Wa n n E s e l not h t hu n . – Man wird die Menge nicht eher zum Hosiannah-Rufen bringen, bis man auf einem Esel in die Stadt einreitet. 314. P a r t e i - Sit t e. – Eine jede Partei versucht, das Bedeutende, das ausser ihr gewachsen ist, als unbedeutend | darzustellen ; gelingt es ihr aber nicht, so feindet sie es um so bitterer an, je vortrefflicher es ist. 315. L eer werden. – Von Dem, der sich den Ereignissen hingiebt, bleibt immer weniger übrig. Grosse Politiker können desshalb ganz leere Menschen werden und doch einmal voll und reich gewesen sein. 316. E r w ü n s c ht e Fe i nd e. – Die socialistischen Regungen sind den dynastischen Regierungen jetzt immer noch eher angenehm als furchteinflössend, weil sie durch dieselben R e c ht u nd S c hwe r t zu Ausnahme-Maassregeln in die Hände bekommen, mit denen sie ihre eigentlichen Schreckgestalten, die Demokraten und Anti-Dynasten, treffen können. Zu Allem, was solche Regierungen öffentlich hassen, haben sie jetzt eine heimliche Zuneigung und Innigkeit : sie müssen ihre Seele verschleiern. 317. D e r B e s it z b e s it z t .  – Nur bis zu einem gewissen Grade macht der Besitz den Menschen unabhängig, freier ; eine Stufe weiter  – und der Besitz wird zum Herrn, der Besitzer zum Sclaven : als welcher ihm seine Zeit, sein Nachdenken zum Opfer bringen muss und sich fürderhin zu einem Verkehr verpflichtet, an einen Ort angenagelt, einem Staate einverleibt fühlt : Alles vielleicht wider sein innerlichstes und wesentlichstes Bedürfniss.

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318. Von der Her rsc ha f t der Wi ssenden. – Es ist leicht, zum Spotten leicht, das Muster zur Wahl einer | gesetzgebenden Körperschaft aufzustellen. Zuerst hätten die Redlichen und Vertrauenswürdigeren eines Landes, welche zugleich irgendworin Meister und Sachkenner sind, sich auszuscheiden, durch gegenseitige Auswitterung und Anerkennung ; aus ihnen wiederum müssten sich, in engerer Wahl, die in jeder Einzelart Sachverständigen und Wissenden ersten Ranges auswählen, gleichfalls durch gegenseitige Anerkennung und Gewährleistung. Bestünde aus ihnen die gesetzgebende Körperschaft, so müssten endlich für jeden einzelnen Fall nur die Stimmen und Urtheile der speciellsten Sachverständigen entscheiden, und die Ehrenhaftigkeit a l le r Uebrigen gross genug und einfach zur Sache des Anstandes geworden sein, die Abstimmung dabei auch nur Jenen zu überlassen : so dass im strengsten Sinne das Gesetz aus dem Verstande der Verständigsten hervorginge. – Jetzt stimmen Parteien ab ; und bei jeder Abstimmung muss es Hunderte von beschämten Gewissen geben, – die der Schlecht-Unterrichteten, Urtheils-Unfähigen, die der Nachsprechenden, Nachgezogenen, Fortgerissenen. Nichts erniedrigt die Würde jedes neuen Gesetzes so, als dieses anklebende Schamroth der Unredlichkeit, zu der jede Partei-Abstimmung zwingt. Aber, wie gesagt, es ist leicht, zum Spotten leicht, so Etwas aufzustellen : keine Macht der Welt ist jetzt stark genug, das Bessere zu verwirklichen, – es sei denn, dass der Glaube an die höchste Nüt z l ic h k e it d e r W i s s e n s c h a f t u n d d e r W i s s e n d e n endlich auch dem Böswilligsten einleuchte und dem jetzt herrschenden Glauben an die Zahl vorgezogen werde. Im Sinne dieser Zukunft sei unsere Losung : „Mehr Ehrfurcht vor dem Wissenden ! Und nieder mit allen Parteien !“ |

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319. Vom „Vol k e d e r D e n k e r“ (o d e r d e s s c h lec ht e n D e n k e n s). – Das Undeutliche, Schwebende, Ahnungsvolle, Elementarische, Intuitive – um für unklare Dinge auch unklare Namen zu wählen – was man dem deutschen Wesen nachsagt, wäre, wenn es thatsächlich noch bestünde, ein Beweis, dass seine Cultur um viele Schritte zurückgeblieben und noch immer von Bann und Luft des Mittelalters umschlossen wäre. – Freilich liegen in einer solchen Zurückgebliebenheit auch einige Vortheile ; die Deutschen wären mit diesen Eigenschaften – wenn sie dieselben, nochmals gesagt, jetzt noch besitzen sollten – zu einigen Dingen, und namentlich zum Verständniss einiger Dinge, befähigt, zu welchen andere Nationen alle Kraft verloren haben. Und sicherlich geht viel verloren, wenn der M a n g e l a n Ve r nu n f t – das heisst eben, das Gemeinsame in jenen Eigenschaften – verloren geht ; aber hier giebt es auch keine Einbusse ohne den höchsten Gegengewinn, so dass jeder Grund zum Jammern fehlt, vorausgesetzt, dass man nicht wie Kinder und Leckerhafte die Früchte aller Jahreszeiten zugleich geniessen will. 320. Eu le n n ac h A t he n . – Die Regierungen der grossen Staaten haben zwei Mittel in den Händen, das Volk von sich abhängig zu erhalten, in Furcht und Gehorsam : ein gröberes, das Heer, ein feineres, die Schule. Mit Hülfe des ersteren bringen sie den E h r g e i z der höheren und die K r a f t der niederen Schichten, soweit beide thätigen und rüstigen Männern mittlerer und minderer Begabung zu eigen zu sein pflegen, auf ihre Seite. Mit Hülfe des | andern Mittels gewinnen sie die b e g a b t e Armuth, namentlich die geistig-anspruchsvolle Halbarmuth der mittlern Stände für sich. Sie machen vor Allem aus den Lehrern allen Grades einen unwillkürlich nach „Oben“ hin blickenden geistigen Hofstaat : indem sie der Privatschule und

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gar der ganz und gar missliebigen Einzelerziehung Stein über Stein in den Weg legen, sichern sie sich die Verfügung über eine sehr bedeutende Anzahl von Lehrstellen, auf welche sich nun fortwährend eine gewiss fünfmal grössere Anzahl von hungrig und unterwürfig blickenden Augen richten, als je Befriedigung fi nden können. Diese Stellungen dürfen ihren Mann aber nur k ä r g l ic h nähren ; dann unterhält sich in ihm der Fieberdurst nach B e f ör d e r u n g und schliesst ihn noch enger an die Absichten der Regierung an. Denn eine mässige Unzufriedenheit zu pflegen ist immer vortheilhafter als Zufriedenheit, die Mutter des Muthes, die Grossmutter des Freisinns und des Uebermuthes. Vermittelst dieses leiblich und geistig im Zaum gehaltenen Lehrerthums wird nun, so gut es gehen will, alle Jugend des Landes auf eine gewisse, dem Staate nützliche und zweckmässig abgestufte Bildungshöhe gehoben : vor Allem aber wird jene Gesinnung fast unvermerkt auf die unreifen und ehrsüchtigen Geister aller Stände übertragen, dass nur eine vom Staate anerkannte und abgestempelte Lebensrichtung sofort g e s e l l s c h a f t l ic h e Auszeichnung mit sich führt. Die Wirkung dieses Glaubens an Staats-Prüfungen und -Titel geht so weit, dass selbst unabhängig gebliebenen, durch Handel oder Handwerk emporgestiegenen Männern so lange ein Stachel der Unbefriedigung in der Brust bleibt, bis auch ihre Stellung durch eine begnadigende Verleihung von Rang und Orden von Oben her bemerkt | und anerkannt ist, – bis man „sich sehen lassen kann“. Endlich verknüpft der Staat alle jene Hundert und Aberhundert ihm zugehöriger Beamtungen und Erwerbsposten mit der Ve r pf l ic ht u n g , durch die Staatsschulen sich bilden und abzeichnen zu lassen, wenn man je in diese Pforten eingehen wolle ; Ehre bei der Gesellschaft, Brod für sich, Ermöglichung einer Familie, Schutz von Oben her, Gemeingefühl der gemeinsam Gebildeten, – diess Alles bildet ein Netz von Hoff nungen, in welches jeder junge Mann hineinläuft : woher sollte ihm denn

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das Misstrauen angeweht sein ! Ist zu guter Letzt gar noch bei Jedermann die Verpflichtung, einige Jahre S old at zu sein, nach Ablauf weniger Generationen, zu einer gedankenlosen Gewohnheit und Voraussetzung geworden, auf welche hin man frühzeitig den Plan seines Lebens zurechtschneidet, so kann der Staat auch noch den Meistergriff wagen, Schule u nd Heer, Begabung, Ehrgeiz und Kraft durch Vortheile i n e i n a nd e r zu flechten, das heisst, den höhe r B e g a bt e n und Gebildeten durch günstigere Bedingungen zum Heere zu lokken und mit dem Soldatengeiste des freudigen Gehorsams zu erfüllen : so dass er vielleicht dauernd zur Fahne schwört und durch seine Begabung ihr einen neuen, immer glänzenderen Ruf verschaff t. – Dann fehlt Nichts weiter als Gelegenheit zu grossen Kriegen : und dafür sorgen, von Berufswegen, also in aller Un s c hu ld , die Diplomaten, sammt Zeitungen und Börsen : denn das „Volk“, als Soldatenvolk, hat bei Kriegen immer ein gutes Gewissen, man braucht es ihm nicht erst zu machen. 321. Die Presse. – Erwägt man, wie auch jetzt noch alle grossen politischen Vorgänge sich heimlich und ver|hüllt auf das Theater schleichen, wie sie von unbedeutenden Ereignissen verdeckt werden und in ihrer Nähe klein erscheinen, wie sie erst lange nach ihrem Geschehen ihre tiefen Einwirkungen zeigen und den Boden nachzittern lassen,  – welche Bedeutung kann man da der Presse zugestehen, wie sie jetzt ist, mit ihrem täglichen Aufwand von Lunge, um zu schreien, zu übertäuben, zu erregen, zu erschrecken, – ist sie mehr als der p e r m a ne nt e bl i nd e L ä r m , der die Ohren und Sinne nach einer falschen Richtung ablenkt ? 322. Nac h e i nem g r o s s e n Er e i g n i s s. – Ein Volk und Mensch, dessen Seele bei einem grossen Ereigniss zu Tage gekommen

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ist, fühlt gewöhnlich darauf das Bedürfniss nach einer K i n d e r e i oder Roh he it , eben so aus Scham als um sich zu erholen. 323. Gut deutsch sein heisst sich entdeutschen. – Das, worin man die nationalen Unterschiede fi ndet, ist viel mehr, als man bis jetzt eingesehen hat, nur der Unterschied verschiedener C u lt u r s t u f e n und zum geringsten Theile etwas Bleibendes (und auch diess nicht in einem strengen Sinne). Desshalb ist alles Argumentiren aus dem National-Charakter so wenig verpflichtend für Den, welcher an der Um s c h a f f u n g der Ueberzeugungen, das heisst an der Cultur arbeitet. Erwägt man zum Beispiel was Alles schon deutsch g e we s e n i s t , so wird man die theoretische Frage : was i s t deutsch ? sofort durch die Gegenfrage verbessern : „was ist jet z t deutsch ?“ – und jeder g ut e Deutsche wird sie practisch, gerade durch Ueberwindung seiner deutschen Eigenschaften, lösen. Wenn nämlich ein Volk vorwärts geht und wächst, so | sprengt es jedesmal den Gürtel, der ihm bis dahin sein n at io n a le s Ansehen gab : bleibt es stehen, verkümmert es, so schliesst sich ein neuer Gürtel um seine Seele ; die immer härter werdende Kruste baut gleichsam ein Gefängniss herum, dessen Mauern immer wachsen. Hat ein Volk also sehr viel Festes, so ist diess ein Beweis, dass es versteinern will, und ganz und gar Mo nu me nt werden möchte, wie es von einem bestimmten Zeitpuncte an das Aegypterthum war. Der also, welcher den Deutschen wohl will, mag für seinen Theil zusehen, wie er immer mehr aus dem, was deutsch ist, hinauswachse. D ie We n d u n g z u m U n d e u t s c h e n ist desshalb immer das Kennzeichen der Tüchtigen unseres Volkes gewesen. 324. Ausländereien. – Ein Ausländer, der in Deutschland reiste, missfiel und gefiel durch einige Behauptungen, je nach den

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Gegenden, in denen er sich aufhielt. Alle Schwaben, die Geist haben – pflegte er zu sagen – sind kokett. – Die anderen Schwaben aber meinten noch immer, Uhland sei ein Dichter und Goethe unmoralisch gewesen. – Das Beste an den deutschen Romanen, welche jetzt berühmt würden, sei, dass man sie nicht zu lesen brauche : man kenne sie schon. – Der Berliner erscheine gutmüthiger als der Süddeutsche, denn er sei allzu sehr spottlustig und vertrage desshalb Spott : was Süddeutschen nicht begegne. – Der Geist der Deutschen werde durch ihr Bier und ihre Zeitungen niedergehalten : er empfehle ihnen Thee und Pamphlete, zur Cur natürlich. – Man sehe sich, so rieth er, doch die verschiedenen Völker des altgewordenen Europa daraufhin an, wie ein jedes eine bestimmte Eigenschaft des Alters besonders gut zur Schau trägt, | zum Vergnügen für Die, welche vor dieser grossen Bühne sitzen : wie die Franzosen das Kluge und Liebenswürdige des Alters, die Engländer das Erfahrene und Zurückhaltende, die Italiäner das Unschuldige und Unbefangene mit Glück vertreten. Sollten denn die anderen Masken des Alters fehlen ? Wo ist der hochmüthige Alte ? Wo der herrschsüchtige Alte ? Wo der habsüchtige Alte ? – Die gefährlichste Gegend in Deutschland sei Sachsen und Thüringen : nirgends gäbe es mehr geistige Rührigkeit und Menschenkenntniss, nebst Freigeisterei, und Alles sei so bescheiden durch die hässliche Sprache und die eifrige Dienstbefl issenheit dieser Bevölkerung versteckt, dass man kaum merke, hier mit den geistigen Feldwebeln Deutschlands und seinen Lehrmeistern in Gutem und Schlimmem zu thun zu haben. – Der Hochmuth der Norddeutschen werde durch ihren Hang zu gehorchen, der der Süddeutschen durch ihren Hang, sich’s bequem zu machen, in Schranken gehalten. – Es schiene ihm, dass die deutschen Männer in ihren Frauen ungeschickte, aber sehr von sich überzeugte Hausfrauen hätten : sie redeten so beharrlich gut von sich, dass sie fast die Welt und jedenfalls ihre Männer von der eigens deutschen Haus-

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frauen-Tugend überzeugt hätten. – Wenn sich dann das Gespräch auf Deutschlands Politik nach Aussen und Innen wendete, so pflegte er zu erzählen – er nannte es : verrathen –, dass Deutschlands grösster Staatsmann nicht an grosse Staatsmänner glaube. – Die Zukunft der Deutschen fand er bedroht und bedrohlich : denn sie hätten verlernt, sich zu f r eue n (was die Italiäner so gut verstünden), aber sich durch das grosse Hazardspiel von Kriegen und dynastischen Revolutionen an die E mot io n g ewöh nt , | folglich würden sie eines Tages die Emeute haben. Denn diess sei die stärkste Emotion, welche ein Volk sich verschaffen könne. – Der deutsche Socialist sei eben desshalb am gefährlichsten, weil ihn keine b e s t i m mt e Noth treibe ; sein Leiden sei, nicht zu wissen, was er wolle ; so werde er, wenn er auch viel erreiche, doch noch im Genusse vor Begierde verschmachten, ganz wie Faust, aber vermuthlich wie ein sehr pöbelhafter Faust. „Den Fau s t-Teu f e l nämlich, rief er zuletzt, von dem die gebildeten Deutschen so geplagt wurden, hat Bismarck ihnen ausgetrieben : nun ist der Teufel aber in die Säue gefahren und schlimmer als je vorher.“ 325. Me i nu n g e n . – Die meisten Menschen sind Nichts und gelten Nichts, bis sie sich in allgemeine Ueberzeugungen und öffentliche Meinungen eingekleidet haben, nach der Schneider-Philosophie : Kleider machen Leute. Von den AusnahmeMenschen aber muss es heissen : e r s t d e r Tr ä g e r m ac ht d i e Tr a c h t ; hier hören die Meinungen auf, öffentlich zu sein, und werden etwas Anderes als Masken, Putz und Verkleidung. 326. Zwe i A r t e n d e r Nüc ht e r n he it . – Um Nüchternheit aus Erschöpfung des Geistes nicht mit Nüchternheit aus Mässigung zu verwechseln, muss man darauf Acht haben, dass die erstere übellaunig, die andere frohmüthig ist.

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327. Ver f ä l s c hu n g d er Fr eud e. – Keinen Tag länger eine Sache gut heissen als sie uns gut scheint, und vor Allem : k e i ne n Ta g f r ü he r, – das ist das einzige Mittel, | sich die Fr eu d e ächt zu erhalten : die sonst allzuleicht fade und faul im Geschmacke wird und jetzt für ganze Schichten des Volkes zu den verfälschten Lebensmitteln gehört. 328. D e r Tu g e n d - B o c k .  – Beim Allerbesten, was Einer thut, suchen Die, welche ihm wohlwollen, aber seiner That nicht gewachsen sind, schleunigst einen Bock, um ihn zu schlachten, wähnend, es sei der Sündenbock – aber es ist der TugendBock. 329. S ouve r ä n it ät . – Auch das Schlechte ehren und sich zu ihm bekennen, wenn es Einem g e f ä l lt , und keinen Begriff davon haben, wie man sich seines Gefallens schämen könne, ist das Merkmal der Souveränität, im Grossen und Kleinen. 330. D e r W i rk e nd e e i n Ph a nt o m , k e i ne W i rk l ic h k e it . – Der bedeutende Mensch lernt allmählich, dass er, s of e r n er w i r k t , ein Ph a nt om in den Köpfen Anderer ist, und geräth vielleicht in die feine Seelenqual, sich zu fragen, ob er das Phantom von sich zum B e s t e n seiner Mitmenschen nicht aufrecht erhalten müsse. 331. Ne h me n u nd g eb e n . – Wenn man von Einem das Geringste weg (oder vorweg) genommen hat, so ist er blind dafür, dass man ihm viel Grösseres, ja das Grösste gegeben hat.

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332. Der g ute Ac ker. – Alles Abweichen und Negiren zeigt einen Mangel an Fruchtbarkeit an : im Grunde, wenn wir nur gutes Ackerland wären, dürften wir Nichts | unbenützt umkommen lassen und in jedem Dinge, Ereignisse und Menschen willkommenen Dünger, Regen oder Sonnenschein sehen. 333. Ve r k e h r a l s G e nu s s . – Hält sich Einer, mit entsagendem Sinne, absichtlich in der Einsamkeit, so kann er sich dadurch den Verkehr mit Menschen, selten genossen, zum Leckerbissen machen. 334. O e f f e nt l ic h z u le id e n ve r s t e he n . – Man muss sein Unglück affichiren und von Zeit zu Zeit hörbar seufzen, sichtbar ungeduldig sein : denn liesse man die Andern merken, wie sicher und glücklich in sich man trotz Schmerz und Entbehrung ist, wie neidisch und böswillig würde man sie machen ! – Aber wir müssen Sorge dafür tragen, dass wir unsre Mitmenschen nicht verschlechtern ; überdiess würden sie uns in jenem Falle harte Steuern auferlegen, und unser öf f e nt l ic he s Leiden ist jedenfalls auch unser p r i vat e r Vortheil. 335. Wä r me i n den Höhen. – Auf den Höhen ist es wärmer als man in den Thälern meint, namentlich im Winter. Der Denker weiss, was alles diess Gleichniss besagt. 336. Das Gute wol len, das Schöne kön nen. – Es genügt nicht, das G ut e zu üben, man muss es gewollt haben und, nach dem Wort des Dichters, die Gottheit in seinen W i l le n aufnehmen. Aber das S c hö ne darf man nicht wollen, man muss es k ö n ne n , in Unschuld und Blindheit, ohne alle Neubegier

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der Psyche. Wer seine Laterne anzündet, um vollkommene Menschen zu | fi nden, der achte auf diess Merkmal : es sind die, welche immer um des Guten willen handeln und immer dabei das Schöne erreichen, ohne daran zu denken. Viele der Besseren und Edleren bleiben nämlich aus Unvermögen und Mangel der schönen Seele, mit allem ihrem guten Willen und ihren guten Werken, unerquicklich und hässlich anzusehen ; sie stossen zurück und schaden selbst der Tugend durch das widrige Gewand, welches ihr schlechter Geschmack derselben anlegt. 337. G e f a h r d e r E nt s a g e nd e n .  – Man muss sich hüten, sein Leben auf einen zu schmalen Grund von Begehrlichkeit zu gründen : denn wenn man den Freuden entsagt, welche Stellungen, Ehren, Genossenschaften, Wollüste, Bequemlichkeiten, Künste mit sich bringen, so kann ein Tag kommen, wo man merkt, statt der We i s he it , durch diese Verzichtleistung den L eb e n s - Ueb e r d r u s s zum Nachbarn erlangt zu haben. 338. Let zte Mei nu ng über Mei nu ngen. – Entweder verstecke man seine Meinungen, oder man verstecke sich hinter seine Meinungen. Wer es anders macht, der kennt den Lauf der Welt nicht oder gehört zum Orden der heiligen Tollkühnheit. 339. „G au d e a mu s i g it u r“. – Die Freude muss auch für die sittliche Natur des Menschen auferbauende und ausheilende Kräfte enthalten : wie käme es sonst, dass unsere Seele, sobald sie im Sonnenschein der Freude ruht, sich unwillkürlich gelobt „gut sein !“ „vollkommen werden !“ und dass dabei ein Vorgefühl der Vollkommenheit, gleich einem seligen Schauder, sie erfasst ? |

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340. A n e i ne n G e lo bt e n . – So lange man dich lobt, glaube nur immer, dass du noch nicht auf deiner eigenen Bahn, sondern auf der eines Andern bist. 341. D e n Me i s t e r l ieb e n . – Anders liebt der Gesell, anders der Meister den Meister. 342. A l l z u s c hö ne s u nd Me n s c h l ic he s .  – „Die Natur ist zu schön für dich armen Sterblichen“ – so empfi ndet man nicht selten : aber ein paarmal, bei einem innigen Anschauen alles Menschlichen, seiner Fülle, Kraft, Zartheit, Verflochtenheit, war es mir zu Muthe, als ob ich sagen müsste, in aller Demuth : „auch der Me n s c h ist zu schön für den betrachtenden Menschen !“ – und zwar nicht etwa nur der moralische Mensch, sondern jeder. 343. B ewe g l ic he H a b e u nd Gr u nd b e s it z . – Wenn Einen das Leben einmal recht räuberhaft behandelt hat, und an Ehren, Freuden, Anhang, Gesundheit, Besitz aller Art nahm, was es nehmen konnte, so entdeckt man vielleicht hinterdrein, nach dem ersten Schrecken, dass man r e ic he r ist, als zuvor. Denn jetzt erst weiss man, was Einem so zu eigen ist, dass keine Räuberhand daran zu rühren vermag : und so geht man vielleicht aus aller Plünderung und Verwirrung mit der Vornehmheit eines grossen Grundbesitzers hervor. 344. Un f r e i w i l l i g e Id e a l f i g u r e n .  – Das peinlichste Gefühl, das es giebt, ist, zu entdecken, dass man immer | für etwas Höheres genommen wird als man ist. Denn man muss sich dabei eingestehen : irgend Etwas an dir ist Lug und Trug, dein Wort, dein Ausdruck, dein Auge, deine Handlung – und dieses trügerische Etwas ist so nothwendig wie deine sonstige

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Ehrlichkeit, hebt aber deren Wirkung und Werth fortwährend auf. 345. Id e a l i s t u nd Lü g ne r. – Man soll sich von dem schönsten Vermögen – dem, die Dinge in’s Ideal zu heben – nicht tyrannisiren lassen : sonst trennt sich eines Tages die Wahrheit von uns mit dem bösen Worte „du Lügner von Grund aus, was habe ich mit dir zu schaffen ?“ 346. M i s s ve r s t a nd e n we r d e n . – Wenn man als Ganzes missverstanden wird, so ist es unmöglich, ein einzelnes Missverstandenwerden von Grund aus zu heben. Das muss man einsehen, um nicht überflüssige Kraft in seiner Vertheidigung zu verschwenden. 347. D e r Wa s s e r t r i n k e r s p r ic ht . – Trinke deinen Wein nur weiter, der dich dein Leben lang gelabt hat, – was geht es dich an, dass ich ein Wassertrinker sein muss ? Sind Wein und Wasser nicht friedfertige, brüderliche Elemente, die ohne Vorwurf bei einander wohnen ? 348. Au s dem L a nde der Men sc hen f r e s ser. – In der Einsamkeit frisst sich der Einsame selbst auf, in der Vielsamkeit fressen ihn die Vielen. Nun wähle. | 349. I m Gef r ier pu nc t des Wi l len s. – „Endlich einmal kommt sie doch, jene Stunde, die dich in die goldene Wolke der Schmerzlosigkeit einhüllen wird : wo die Seele ihre eigene Müdigkeit geniesst und glücklich im geduldigen Spiele mit ihrer Geduld den Wellen eines See’s gleicht, die an einem ruhigen Sommertage, im Wiederglanz eines buntgefärbten Abendhimmels, am Ufer schlürfen, schlürfen und wieder

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stille sind – ohne Ende, ohne Zweck, ohne Sättigung, ohne Bedürfniss,  – ganz Ruhe, die sich am Wechsel freut, ganz Zurückebben und Einfluthen in den Pulsschlag der Natur.“ Diess ist Empfi ndung und Rede aller Kranken : erreichen sie aber jene Stunden, so kommt, nach kurzem Genusse, die Langeweile. Diese aber ist der Thauwind für den eingefrorenen Willen : er erwacht, bewegt sich und zeugt wieder Wunsch auf Wunsch.  – Wünschen ist ein Anzeichen von Genesung oder Besserung. 350. D a s ve rleu g net e Id e a l. – Ausnahmsweise kommt es vor, dass Einer das Höchste erst dann erreicht, wenn er sein Ideal verleugnet : denn diess Ideal trieb ihn bisher zu heftig an, so dass er in der Mitte der jedesmaligen Bahn ausser Athem kam und stehen bleiben musste. 351. Ve r r ät he r i s c he Ne i g u n g. – Man beachte es als Merkmal eines neidischen, aber höherstrebenden Menschen, wenn er sich von dem Gedanken angezogen fühlt, dass es dem Vortrefflichen gegenüber nur eine Rettung giebt : Liebe. | 352. Tr e p p e n - G lüc k . – Wie der Witz mancher Menschen nicht mit der Gelegenheit gleichen Schritt hält, so dass die Gelegenheit schon durch die Thüre hindurch ist, während der Witz noch auf der Treppe steht : so giebt es bei Andern eine Art von Treppen-Glück, welches zu langsam läuft, um der schnellfüssigen Zeit immer zur Seite zu sein : das Beste, was sie von einem Erlebniss, einer ganzen Lebensstrecke zu geniessen bekommen, fällt ihnen erst lange Zeit hinterher zu, oft nur als ein schwacher gewürzter Duft, welcher Sehnsucht erweckt und Trauer, – als ob es möglich gewesen wäre, irgendwann in diesem Element sich recht satt zu trinken. Nun aber ist es zu spät.

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353. Wü r me r.  – Es spricht nicht gegen die Reife eines Geistes, dass er einige Würmer hat. 354. D e r s ie g r e ic he S it z . – Eine gute Haltung zu Pferd stiehlt dem Gegner den Muth, dem Zuschauer das Herz,  – wozu willst du erst noch angreifen ? Sitze wie Einer, der gesiegt hat. 355. G ef a h r i n der B ew u nder u n g. – Man kann aus allzugrosser Bewunderung für fremde Tugenden den Sinn für seine eigenen und, durch Mangel an Uebung, zuletzt diese selbst verlieren, ohne die fremden dafür zum Ersatz zu erhalten. | 356. Nut z e n d e r K r ä n k l ic h k e it . – Wer oft krank ist, hat nicht nur einen viel grösseren Genuss am Gesundsein, wegen seines häufigen Gesundwerdens : sondern auch einen höchst geschärften Sinn für Gesundes und Krankhaftes in Werken und Handlungen, eigenen und fremden : so dass zum Beispiel gerade die kränklichen Schriftsteller – und darunter sind leider fast alle grossen – in ihren Schriften einen viel sichern und gleichmässigeren Ton der Gesundheit zu haben pflegen, weil sie besser als die körperlich Robusten, sich auf die Philosophie der seelischen Gesundheit und Genesung und ihre Lehrmeister : Vormittag, Sonnenschein, Wald und Wasserquelle, verstehen. 357. Untreue, Bed ing ung der Meisterschaf t. – Es hilft Nichts : Jeder Meister hat nur Einen Schüler – und der wird ihm untreu, – denn er ist zur Meisterschaft auch bestimmt.

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358. N ie u m s o n s t . – Im Gebirge der Wahrheit kletterst du nie umsonst : entweder du kommst schon heute weiter hinauf oder du übst deine Kräfte, um morgen höher steigen zu können. 359. Vor g r au e n Fe n s t e r s c h e i b e n .  – Ist denn Das, was ihr durch diess Fenster von der Welt seht, so schön, dass ihr durchaus durch kein anderes Fenster mehr blicken wollt, – ja selbst Andere davon abzuhalten den Versuch macht ? 360. A n z e ic he n s t a r k e r Wa nd lu n g e n . – Es ist ein Zeichen, wenn man von lange Vergessenen oder Todten | träumt, dass man eine starke Wandlung in sich durchlebt hat und dass der Boden, auf dem man lebt, völlig umgegraben worden ist : da stehen die Todten auf und unser Alterthum wird Neuthum. 361. A r z ne i d e r S e e le. – Still-liegen und Wenig-denken ist das wohlfeilste Arzneimittel für alle Krankheiten der Seele und wird, bei gutem Willen, von Stunde zu Stunde seines Gebrauchs angenehmer. 362. Zu r R a n g or d nu n g d e r G e i s t e r. – Es ordnet dich tief unter Jenen, dass du die Ausnahmen festzustellen suchst, Jener aber die Regel. 363. D e r Fat a l i s t . – Du mu s s t an das Fatum glauben, – dazu kann die Wissenschaft dich zwingen. Was dann aus diesem Glauben bei dir herauswächst – Feigheit, Ergebung oder Grossartigkeit und Freimuth – das legt Zeugniss von dem Erdreich ab, in welches jenes Samenkorn gestreut wurde ; nicht aber vom Samenkorn selbst, denn aus ihm kann Alles und Jedes werden.

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364. G r u n d v ie le r Ve r d r ie s s l ic h k e it .  – Wer im Leben das Schöne dem Nützlichen vorzieht, wird sich gewiss zuletzt, wie das Kind, welches Zuckerwerk dem Brode vorzieht, den Magen verderben und sehr verdriesslich in die Welt sehen. 365. Ueb e r m a a s s a l s He i l m it t e l .  – Man kann sich seine eigene Begabung dadurch wieder schmackhaft | machen, dass man längere Zeit die entgegengesetzte übermässig verehrt und geniesst. Das Uebermaass als Heilmittel zu gebrauchen ist einer der feineren Griffe in der Lebenskunst. 366. „Wol le e i n S e l b s t .“ – Die thätigen erfolgreichen Naturen handeln nicht nach dem Spruche „kenne dich selbst“, sondern wie als ob ihnen der Befehl vorschwebte : wol le ein Selbst, so w i r s t du ein Selbst. – Das Schicksal scheint ihnen immer noch die Wahl gelassen zu haben ; während die Unthätigen und Beschaulichen darüber nachsinnen, wie sie jenes Eine Mal, beim Eintritt in’s Leben, gewählt h a b e n . 367. Womög l ic h oh ne A n ha ng leben. – Wie wenig Anhänger zu bedeuten haben, begreift man erst, wenn man aufgehört hat, der Anhänger seiner Anhänger zu sein. 368. Sich verdun keln. – Man muss sich zu verdunkeln verstehen, um die Mückenschwärme allzulästiger Bewunderer loszuwerden. 369. L a n g ewe i le. – Es giebt eine Langeweile der feinsten und gebildetsten Köpfe, denen das Beste, was die Erde bietet, schaal

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geworden ist : gewöhnt daran, ausgesuchte und immer ausgesuchtere Kost zu essen und vor der gröbern sich zu ekeln, sind sie in Gefahr, Hungers zu sterben, – denn des Allerbesten ist nur Wenig da, und mitunter ist es unzugänglich oder steinhart geworden, so dass es auch gute Zähne nicht mehr beissen können. | 370. D ie G e f a h r i n d e r B ew u n d e r u n g. – Die Bewunderung einer Eigenschaft oder Kunst kann so stark sein, dass sie uns abhält, nach ihrem Besitz zu streben. 371. Wa s ma n von der K u n st w i l l. – Der Eine will vermittelst der Kunst sich seines Wesens freuen, der Andere will mit ihrer Hülfe zeitweilig über sein Wesen hinaus, von ihm weg. Nach beiden Bedürfnissen giebt es eine doppelte Art von Kunst und Künstlern. 372. A bf a l l . – Wer von uns abfällt, beleidigt damit vielleicht nicht uns, aber sicherlich unsere Anhänger. 373. Nach dem Tode. – Wir fi nden es gewöhnlich erst lange nach dem Tode eines Menschen unbegreiflich, dass er fehlt : bei ganz grossen Menschen oft erst nach Jahrzehnden. Wer ehrlich ist, meint bei einem Todesfalle gewöhnlich, dass eigentlich nicht viel fehle und dass der feierliche Leichenredner ein Heuchler sei. Erst die Noth lehrt das Nöthig-sein eines Einzelnen, und das rechte Epitaph ist ein später Seufzer. 374. I m H a d e s l a s s e n . – Viele Dinge muss man im Hades halbbewussten Fühlens lassen und nicht aus ihrem Schatten-Dasein erlösen wollen, sonst werden sie, als Gedanke und Wort,

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unsere dämonischen Herrn und verlangen grausam nach unserm Blute. | 375. Nä he d e s B et t le r t hu m s . – Auch der reichste Geist hat gelegentlich den Schlüssel zu der Kammer verloren, in der seine aufgespeicherten Schätze ruhen und ist dann dem Aermsten gleich, der betteln muss, um nur zu leben. 376. K et t e n - D e n k e r.  – Einem, der viel gedacht hat, erscheint jeder neue Gedanke, den er hört oder liest, sofort in Gestalt einer Kette. 377. M it le id .  – In der vergoldeten Scheide des Mitleides steckt mitunter der Dolch des Neides. 378. Was ist Genie ? – Ein hohes Ziel u nd die Mittel dazu wollen. 379. E it e l k e it d e r K ä m pf e r. – Wer keine Hoff nung hat, in einem Kampfe zu siegen, oder ersichtlich unterlegen ist, will umsomehr, dass die Art seines Kämpfens bewundert werde. 380. D a s ph i lo s o ph i s c he L eb e n w i r d m i s s g e d eut et . – In dem Augenblicke, wo Jemand anfängt mit der Philosophie Ernst zu machen, glaubt alle Welt das Gegentheil davon. 381. Na c h a h mu n g.  – Das Schlechte gewinnt durch die Nachahmung an Ansehen, das Gute verliert dabei, – namentlich in der Kunst. |

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382. L et z t e L e h r e d e r H i s tor ie. – „Ach dass ich damals gelebt hätte !“  – das ist die Rede thörichter und spielerischer Menschen. Vielmehr wird man, bei jedem Stück Geschichte, das man e r n s t l ic h betrachtet hat, und sei es das gelobteste Land der Vergangenheit, zuletzt ausrufen : „nur nicht dahin wieder zurück ! Der Geist jener Zeit würde mit der Last von hundert Atmosphären auf dich drücken, des Guten und Schönen an ihr würdest du dich nicht erfreuen, ihr Schlimmes nicht verdauen können.“ – Zuverlässig wird die Nachwelt ebenso über unsre Zeit urtheilen : sie sei unausstehlich, das Leben in ihr unlebebar gewesen.  – Und doch hält es Jeder in seiner Zeit aus ? – Ja und zwar desshalb, weil der Geist seiner Zeit nicht nur au f ihm liegt, sondern auch i n ihm ist. Der Geist der Zeit leistet sich selber Widerstand, trägt sich selber. 383. Gr o s s he it a l s M a s k e. – Mit Grossheit des Benehmens erbittert man seine Feinde, mit Neid, den man merken lässt, versöhnt man sie sich beinahe : denn der Neid vergleicht, setzt gleich, er ist eine unfreiwillige und stöhnende Art von Bescheidenheit. – Ob wohl hier und da, des erwähnten Vortheils halber, der Neid als Maske vorgenommen worden ist, von Solchen, welche nicht neidisch waren ? Vielleicht ; sicherlich aber wird Grossheit des Benehmens oft als Maske des Neides gebraucht, von Ehrgeizigen, welche lieber Nachtheile erleiden und ihre Feinde erbittern wollen, als merken lassen, dass sie sich innerlich ihnen gleich setzen. | 384. Unve r z e i h l ic h . – Du hast ihm eine Gelegenheit gegeben, Grösse des Charakters zu zeigen, und er hat sie nicht benutzt. Das wird er dir nie verzeihen.

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385. G e g e n - S ät z e. – Das Greisenhafteste, was je über den Menschen gedacht worden ist, steckt in dem berühmten Satze „das Ich ist immer hassenswerth“ ; das Kindlichste in dem noch berühmteren „liebe deinen Nächsten, wie dich selbst“. – Bei dem einen hat die Menschenkenntniss aufgehört, bei dem andern noch gar nicht angefangen. 386. Das feh lende Oh r. – „Man gehört noch zum Pöbel, so lange man immer auf Andere die Schuld schiebt ; man ist auf der Bahn der Weisheit, wenn man immer nur sich selber verantwortlich macht ; aber der Weise fi ndet Niemanden schuldig, weder sich noch Andere.“ – Wer sagt diess ? – Epiktet, vor achtzehnhundert Jahren. – Man hat es gehört, aber vergessen. – Nein, man hat es nicht gehört und nicht vergessen : nicht jedes Ding vergisst sich. Aber man hatte das Ohr nicht dafür, das Ohr Epiktet’s. – So hat er es also sich selber in’s Ohr gesagt ? – So ist es : Weisheit ist das Gezischel des Einsamen mit sich auf vollem Markte. 387. Feh ler des Sta ndpu nc tes, n ic ht des Auges. – Man steht sich selber immer einige Schritte zu nah ; und dem Nächsten immer einige Schritte zu fern. So kommt es, dass man ihn zu sehr in Bausch und Bogen | beurtheilt und sich selber zu sehr nach einzelnen gelegentlichen unbeträchtlichen Zügen und Vorkommnissen. 388. D ie Ig nor a n z i n Wa f fen. – Wie leicht nehmen wir es, ob ein Andrer von einer Sache weiss oder nicht weiss,  – während er vielleicht schon bei der Vorstellung Blut schwitzt, dass man ihn hierin für unwissend halte. Ja, es giebt ausgesuchte Narren, welche immer mit einem vollen Köcher von Bannflüchen und Machtsprüchen einhergehen, bereit, Jeden

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niederzuschiessen, der merken lässt, es gebe Dinge, worin ihr Urtheil nicht in Betracht komme. 389. A m Tr i n k t i s c h d e r E r f a h r u n g. – Personen, welche aus angeborener Mässigkeit jedes Glas halbausgetrunken stehen lassen, wollen nicht zugeben, dass jedes Ding in der Welt seine Neige und Hefe habe. 390. Si n g vög e l . – Die Anhänger eines grossen Mannes pflegen sich zu blenden, um sein Lob besser singen zu können. 391. N ic ht g ew ac h s e n . – Das Gute missfällt uns, wenn wir ihm nicht gewachsen sind. 392. Die Regel a ls Mut ter oder a ls K i nd. – Ein anderer Zustand ist der, welcher die Regel gebiert, ein anderer der, welchen die Regel gebiert. 393. K omö d ie. – Wir ernten mitunter Liebe und Ehre für Thaten oder Werke, welche wir längst wie eine Haut von uns abgestreift haben : da werden wir leicht | verführt, die Komödianten unserer eigenen Vergangenheit zu machen und das alte Fell noch einmal über die Schultern zu werfen  – und nicht nur aus Eitelkeit, sondern auch aus Wohlwollen gegen unsere Bewunderer. 394. Fe h le r d e r Biog r a phe n . – Die kleine Kraft, welche Noth thut, einen Kahn in den Strom hineinzustossen, soll nicht mit der Kraft dieses Stromes, der ihn fürderhin trägt, verwechselt werden : aber es geschieht fast in allen Biographien.

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395. N ic ht z u t heue r k au f e n . – Was man zu theuer kauft, verwendet man gewöhnlich auch noch schlecht, weil ohne Liebe und mit peinlicher Erinnerung, – und so hat man einen doppelten Nachtheil davon. 396. We lc he Ph i lo s o ph ie i m me r d e r G e s e l l s c h a f t not h t hut . – Der Pfeiler der gesellschaftlichen Ordnung ruht auf dem Grunde, dass ein Jeder auf Das, was er ist, thut und erstrebt, auf seine Gesundheit oder Krankheit, seine Armuth oder Wohlstand, seine Ehre oder Unansehnlichkeit, mit Heiterkeit hinblickt und dabei empfi ndet „ ic h t au s c he d o c h m it K e i ne m“. – Wer an der Ordnung der Gesellschaft bauen will, möge nur immer diese Philosophie der heiteren Tauschablehnung und Neidlosigkeit in die Herzen einpflanzen. 397. A n zeichen der vor neh men Seele. – Eine vornehme Seele ist die nicht, welche der höchsten Auf|schwünge fähig ist, sondern jene, welche sich wenig erhebt und wenig fällt, aber i m me r in einer freieren durchleuchteten Luft und Höhe wohnt. 398. D a s Gr o s s e u nd s e i n B et r ac ht e r. – Die beste Wirkung des Grossen ist, dass es dem Betrachter ein vergrösserndes und abrundendes Auge einsetzt. 399. Sic h g e nü g e n l a s s e n . – Die erlangte Reife des Verstandes bekundet sich darin, dass man dorthin, wo seltene Blumen unter den spitzigsten Dornenhecken der Erkenntniss stehen, nicht mehr geht und sich an Garten, Wald, Wiese und Ackerfeld genügen lässt, in Anbetracht wie das Leben für das Seltene und Aussergewöhnliche zu kurz ist.

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400. Vo r t h e i l i n d e r E nt b e h r u n g.  – Wer immerdar in der Wärme und Fülle des Herzens und gleichsam in der Sommerluft der Seele lebt, kann sich jenes schauerliche Entzücken nicht vorstellen, welches winterlichere Naturen ergreift, die ausnahmsweise von den Strahlen der Liebe und dem lauen Anhauche eines sonnigen Februartages berührt werden. 401. R e c e pt f ü r d e n D u ld e r. – Dir wird die Last des Lebens zu schwer ? – So musst du die Last deines Lebens vermehren. Wenn der Dulder endlich nach dem Flusse Lethe dürstet und sucht, – so muss er zum He ld e n werden, um ihn gewiss zu fi nden. | 402. D e r R ic ht e r. – Wer Jemandes Ideal geschaut hat, ist dessen unerbittlicher Richter und gleichsam sein böses Gewissen. 403. Nut z e n d e r g r o s s e n E nt s a g u n g. – Das Nützlichste an der grossen Entsagung ist, dass sie uns jenen Tugendstolz mittheilt, vermöge dessen wir von da an leicht viele kleine Entsagungen von uns erlangen. 404. Wie d ie P f l ic ht Gla n z bekom mt. – Das Mittel, um deine eherne Pflicht im Auge von Jedermann in Gold zu verwandeln, heisst : halte immer etwas mehr, als du versprichst. 405. G eb et z u Me n s c he n . – „Vergieb uns unsere Tugenden“ – so soll man zu Menschen beten.

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406. Sc ha f fende u nd Gen iessende. – Jeder Geniessende meint, dem Baume habe es an der Frucht gelegen ; aber ihm lag am Samen. – Hierin besteht der Unterschied zwischen allen schaffenden und Geniessenden. 407. D e r R u h m a l le r Gr o s s e n . – Was ist am Genie gelegen, wenn es nicht seinem Betrachter und Verehrer solche Freiheit und Höhe des Gefühls mittheilt, dass er des Genie’s nicht mehr bedarf !  – S ic h ü b e r f l ü s s i g m a c h e n   – das ist der Ruhm aller Grossen. | 408. D ie Hade sf a h r t. – Auch ich bin in der Unterwelt gewesen, wie Odysseus, und werde es noch öfter sein ; und nicht nur Hammel habe ich geopfert, um mit einigen Todten reden zu können, sondern des eignen Blutes nicht geschont. Vier Paare waren es, welche sich mir dem Opfernden nicht versagten : Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer. Mit diesen muss ich mich auseinandersetzen, wenn ich lange allein gewandert bin, von ihnen will ich mir Recht und Unrecht geben lassen, ihnen will ich zuhören, wenn sie sich dabei selber untereinander Recht und Unrecht geben. Was ich auch nur sage, beschliesse, für mich und andere ausdenke : auf jene Acht hefte ich die Augen und sehe die ihrigen auf mich geheftet. – Mögen die Lebenden es mir verzeihen, wenn s ie mir mitunter wie die Schatten vorkommen, so verblichen und verdriesslich, so unruhig und ach ! so lüstern nach Leben : während Jene mir dann so lebendig scheinen, als ob sie nun, n ac h dem Tode, nimmermehr lebensmüde werden könnten. Auf d ie ew i g e L eb e nd i g k e it aber kommt es an : was ist am „ewigen Leben“ und überhaupt am Leben gelegen ! |

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D e r S c h at t e n : Da ich dich so lange nicht reden hörte, so möchte ich dir eine Gelegenheit geben. D e r Wa nd e r e r : Es redet – wo ? und wer ? Fast ist es mir, als hörte ich mich selber reden, nur mit noch schwächerer Stimme, als die meine ist. D e r S c h a t t e n (nach einer Weile) : Freut es dich nicht, Gelegenheit zum Reden zu haben ? D e r Wa nd e r e r : Bei Gott und allen Dingen, an die ich nicht glaube, mein Schatten redet ; ich höre es, aber glaube es nicht. D e r S c h at t e n : Nehmen wir es hin und denken wir nicht weiter darüber nach, in einer Stunde ist Alles vorbei. D e r Wa n d e r e r : Ganz so dachte ich, als ich in einem Walde bei Pisa erst zwei und dann fünf Kameele sah. | D e r S c h at t e n : Es ist gut, dass wir Beide auf gleiche Weise nachsichtig gegen uns sind, wenn einmal unsere Vernunft stille steht : so werden wir uns auch im Gespräche nicht ärgerlich werden und nicht gleich dem Andern Daumenschrauben anlegen, falls sein Wort uns einmal unverständlich klingt. Weiss man gerade nicht zu antworten, so genügt es schon, Etwas zu sagen : das ist die billige Bedingung, unter der ich mich mit Jemandem unterrede. Bei einem längeren Gespräche wird auch der Weiseste einmal zum Narren und dreimal zum Tropf. D e r Wa nd e r e r : Deine Genügsamkeit ist nicht schmeichelhaft für Den, welchem du sie eingestehst. D e r S c h at t e n : Soll ich denn schmeicheln ? D e r Wa n d e r e r : Ich dachte, der menschliche Schatten sei seine Eitelkeit ; diese würde aber nie fragen : „soll ich denn schmeicheln ?“

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D e r S c h at t e n : Die menschliche Eitelkeit, soweit ich sie kenne, fragt auch nicht an, wie ich schon zweimal that, ob sie reden dürfe : sie redet immer. D e r Wa nd e r e r : Ich merke erst, wie unartig ich gegen dich bin, mein geliebter Schatten : ich habe noch mit keinem Worte gesagt, wie sehr ich mich f r eue, dich zu hören und nicht blos zu sehen. Du wirst es wissen, ich liebe den Schatten, wie ich das Licht liebe. Damit es Schönheit des Gesichts, Deutlichkeit der Rede, Güte und Festigkeit des Charakters gebe, ist der Schatten so nöthig wie das Licht. Es sind nicht Gegner : sie halten sich vielmehr liebevoll an den Händen, und wenn das Licht verschwindet, schlüpft ihm der Schatten nach. D e r S c h at t e n : Und ich hasse das Selbe, was du | hassest, die Nacht ; ich liebe die Menschen, weil sie Lichtjünger sind, und freue mich des Leuchtens, das in ihrem Auge ist, wenn sie erkennen und entdecken, die unermüdlichen Erkenner und Entdecker. Jener Schatten, welchen alle Dinge zeigen, wenn der Sonnenschein der Erkenntniss auf sie fällt, – jener Schatten bin ich auch. D e r Wa nd e r e r : Ich glaube dich zu verstehen, ob du dich gleich etwas schattenhaft ausgedrückt hast. Aber du hattest Recht : gute Freunde geben einander hier und da ein dunkles Wort als Zeichen des Einverständnisses, welches für jeden Dritten ein Räthsel sein soll. Und wir sind gute Freunde. Desshalb genug des Vorredens ! Ein paar hundert Fragen drücken auf meine Seele, und die Zeit, da du auf sie antworten kannst, ist vielleicht nur kurz. Sehen wir zu, worüber wir in aller Eile und Friedfertigkeit mit einander zusammenkommen. D e r S c h at t e n : Aber die Schatten sind schüchterner, als die Menschen : du wirst Niemandem mittheilen, wie wir zusammen gesprochen haben ! D e r Wa nd e r e r : W ie wir zusammen gesprochen haben ? Der Himmel behüte mich vor langgesponnenen schriftlichen Gesprächen ! Wenn Plato weniger Lust am Spinnen gehabt

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hätte, würden seine Leser mehr Lust an Plato haben. Ein Gespräch, das in der Wirklichkeit ergötzt, ist, in Schrift verwandelt und gelesen, ein Gemälde mit lauter falschen Perspectiven : Alles ist zu lang oder zu kurz. – Doch werde ich vielleicht mittheilen dürfen, wor ü b e r wir übereingekommen sind ? D e r S c h at t e n : Damit bin ich zufrieden ; denn Alle werden darin nur deine Ansichten wiedererkennen : des Schattens wird Niemand gedenken. | D e r Wa nd e r e r : Vielleicht irrst du, Freund ! Bis jetzt hat man in meinen Ansichten mehr den Schatten wahrgenommen, als mich. D e r S c h at t e n : Mehr den Schatten, als das Licht ? Ist es möglich ? D e r Wa nd e r e r : Sei ernsthaft, lieber Narr ! Gleich meine erste Frage verlangt Ernst. – |

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1. Vom Bau m der Erk en nt n i s s. – Wahrscheinlichkeit, aber keine Wahrheit : Freischeinlichkeit, aber keine Freiheit,  – diese beiden Früchte sind es, derentwegen der Baum der Erkenntniss nicht mit dem Baum des Lebens verwechselt werden kann. 2. Die Vernunf t der Welt. – Dass die Welt n ic ht der Inbegriff einer ewigen Vernünftigkeit ist, lässt sich endgültig dadurch beweisen, dass jenes St üc k We lt , welches wir kennen – ich meine unsre menschliche Vernunft –, nicht allzu vernünftig ist. Und wenn s ie nicht allezeit und vollständig weise und rationell ist, so wird es die übrige Welt auch nicht sein ; hier gilt der Schluss a minori ad majus, a parte ad totum, und zwar mit entscheidender Kraft. 3. „A m A n f a n g w a r“. – Die Entstehung verherrlichen – das ist der metaphysische Nachtrieb, welcher bei der Betrachtung der Historie wieder ausschlägt und durchaus meinen macht, am Anfang aller Dinge stehe das Werthvollste und Wesentlichste. | 4. Maass f ür den Wer th der Wa hrheit. – Für die Höhe der Berge ist die Mühsal ihrer Besteigung durchaus kein Maassstab. Und in der Wissenschaft soll es anders sein ! – sagen uns Einige, die für eingeweiht gelten wollen –, die Mühsal um die Wahrheit soll gerade über den Werth der Wahrheit entscheiden ! Diese tolle Moral geht von dem Gedanken aus, dass die „Wahrheiten“ eigentlich Nichts weiter seien, als Turngeräthschaften, an denen wir uns wacker müde zu arbeiten hätten, – eine Moral für Athleten und Festturner des Geistes.

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5. S p r a c h g e b r au c h u n d W i r k l i c h k e i t .  – Es giebt eine erheuchelte Missachtung aller der Dinge, welche thatsächlich die Menschen am wichtigsten nehmen, a l l e r n ä c h s t e n D i n g e. Man sagt zum Beispiel „man isst nur, um zu leben“, – eine verfluchte Lü g e, wie jene, welche von der Kindererzeugung als der eigentlichen Absicht aller Wollust redet. Umgekehrt ist die Hochschätzung der „wichtigsten Dinge“ fast niemals ganz ächt : die Priester und Metaphysiker haben uns zwar auf diesen Gebieten durchaus an einen heuchlerisch übertreibenden S p r ac h g eb r auc h gewöhnt, aber das Gefühl doch nicht umgestimmt, welches diese wichtigsten Dinge nicht so wichtig nimmt, wie jene verachteten nächsten Dinge. – Eine leidige Folge dieser doppelten Heuchelei aber ist immerhin, dass man die nächsten Dinge, zum Beispiel Essen, Wohnen, Sich-Kleiden, Verkehren, nicht zum Object des stätigen unbefangenen und a l l g e me i ne n Nachdenkens und Umbildens macht, sondern, weil diess für herabwürdigend gilt, seinen intellectuellen und künst|lerischen Ernst davon abwendet ; so dass hier die Gewohnheit und die Frivolität über die Unbedachtsamen, namentlich über die unerfahrene Jugend leichten Sieg haben : während andererseits unsere fortwährenden Verstösse gegen die einfachsten Gesetze des Körpers und Geistes uns Alle, Jüngere und Aeltere, in eine beschämende Abhängigkeit und Unfreiheit bringen, – ich meine in jene im Grunde überflüssige Abhängigkeit von Aerzten, Lehrern und Seelsorgern, deren Druck jetzt immer noch auf der ganzen Gesellschaft liegt. 6. Die irdische Gebrechlichkeit und ihre Hauptursache. – Man triff t, wenn man sich umsieht, immer auf Menschen, welche ihr Lebenlang Eier gegessen haben, ohne zu bemerken, dass die länglichten die wohlschmeckendsten sind, wel-

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che nicht wissen, dass ein Gewitter dem Unterleib förderlich ist, dass Wohlgerüche in kalter klarer Luft am stärksten riechen, dass unser Geschmackssinn an verschiedenen Stellen des Mundes ungleich ist, dass jede Mahlzeit, bei der man gut spricht oder gut hört, dem Magen Nachtheil bringt. Man mag mit diesen Beispielen für den Mangel an Beobachtungssinn nicht zufrieden sein, um so mehr möge man zugestehen, dass die a l le r n äc h s t e n D i n g e von den Meisten sehr schlecht gesehen, sehr selten beachtet werden. Und ist diess gleichgültig ?  – Man erwäge doch, dass aus diesem Mangel sich f a st a l le leibl ic hen u nd see l i sc hen G ebr ec hen der Einzelnen ableiten : nicht zu wissen, was uns förderlich, was uns schädlich ist, in der Einrichtung der Lebensweise, Vertheilung des Tages, Zeit und Auswahl des Verkehres, in Beruf und Musse, | Befehlen und Gehorchen, Natur- und Kunstempfi nden, Essen, Schlafen und Nachdenken ; i m K le i n s t e n u nd A l lt ä g l ic h s t e n u nw i s s e nd zu sein und keine scharfen Augen zu haben – das ist es, was die Erde für so Viele zu einer „Wiese des Unheils“ macht. Man sage nicht, es liege hier wie überall an der menschlichen Unve r nu n f t : vielmehr – Vernunft genug und übergenug ist da, aber sie wird f a l s c h gerichtet und k ü n s t l ic h von jenen kleinen und allernächsten Dingen a bg e le n k t . Priester und Lehrer, und die sublime Herrschsucht der Idealisten jeder Art, der gröberen und feineren, reden schon dem Kinde ein, es komme auf etwas ganz Anderes an : auf das Heil der Seele, den Staatsdienst, die Förderung der Wissenschaft, oder auf Ansehen und Besitz, als die Mittel, der ganzen Menschheit Dienste zu erweisen, während das Bedürfniss des Einzelnen, seine grosse und kleine Noth innerhalb der vierundzwanzig Tagesstunden etwas Verächtliches oder Gleichgültiges sei. – Sokrates schon wehrte sich mit allen Kräften gegen diese hochmüthige Vernachlässigung des Menschlichen zu Gunsten des Menschen und liebte es, mit einem Worte Homer’s, an den wirklichen Umkreis und

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Inbegriff alles Sorgens und Nachdenkens zu mahnen : Das ist es und nur Das, sagte er, „was mir zu Hause an Gutem und Schlimmem begegnet“. 7. Zwei Trost m it tel. – Epikur, der Seelen-Beschwichtiger des späteren Alterthums, hatte jene wundervolle Einsicht, die heutzutage immer noch so selten zu fi nden ist, dass zur Beruhigung des Gemüths die Lösung der letzten und äussersten theoretischen Fragen gar | nicht nöthig sei. So genügte es ihm, Solchen, welche „die Götterangst“ quälte, zu sagen : „wenn es Götter giebt, so bekümmern sie sich nicht um uns,“ – anstatt über die letzte Frage, ob es Götter überhaupt gebe, unfruchtbar und aus der Ferne zu disputiren. Jene Position ist viel günstiger und mächtiger : man giebt dem Andern einige Schritte vor und macht ihn so zum Hören und Beherzigen gutwilliger. Sobald er sich aber anschickt, das Gegentheil zu beweisen – dass die Götter sich um uns bekümmern –, in welche Irrsale und Dorngebüsche muss der Arme gerathen, ganz von selber, ohne die List des Unterredners, der nur genug Humanität und Feinheit haben muss, um sein Mitleiden an diesem Schauspiele zu verbergen. Zuletzt kommt jener Andere zum Ekel, dem stärksten Argument gegen jeden Satz, zum Ekel an seiner eigenen Behauptung ; er wird kalt und geht fort mit der selben Stimmung, wie sie auch der reine Atheist hat : „was gehen mich eigentlich die Götter an ! Hole sie der Teufel !“ – In anderen Fällen, namentlich wenn eine halb physische, halb moralische Hypothese das Gemüth verdüstert hatte, widerlegte er nicht diese Hypothese, sondern gestand ein, dass es wohl so sein könne : aber es gebe no c h e i ne z we it e Hypothese, um die selbe Erscheinung zu erklären ; vielleicht könne es sich auch noch anders verhalten. D ie Me h rhe it der Hypothesen genügt auch in unserer Zeit noch, zum Beispiel über die Herkunft der Gewissensbisse, um jenen Schatten von der Seele zu nehmen, der aus dem Nachgrübeln über eine einzige, allein

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sichtbare und dadurch hundertfach überschätzte Hypothese so leicht entsteht. – Wer also Trost zu spenden wünscht, an Unglückliche, Uebelthäter, Hypochonder, Sterbende, möge sich der beiden | beruhigenden Wendungen Epikur’s er innern, welche auf sehr viele Fragen sich anwenden lassen. In der einfachsten Form würden sie etwa lauten : erstens, gesetzt es verhält sich so, so geht es uns Nichts an ; zweitens : es kann so sein, es kann aber auch anders sein. 8. In der Nac ht. – Sobald die Nacht hereinbricht, verändert sich unsere Empfi ndung über die nächsten Dinge. Da ist der Wind, der wie auf verbotenen Wegen umgeht, flüsternd, wie Etwas suchend, verdrossen, weil er’s nicht fi ndet. Da ist das Lampenlicht, mit trübem, röthlichem Scheine, ermüdet blickend, der Nacht ungern widerstrebend, ein ungeduldiger Sclave des wachen Menschen. Da sind die Athemzüge des Schlafenden, ihr schauerlicher Tact, zu dem eine immer wiederkehrende Sorge die Melodie zu blasen scheint,  – wir hören sie nicht, aber wenn die Brust des Schlafenden sich hebt, so fühlen wir uns geschnürten Herzens, und wenn der Athem sinkt und fast in’s Todtenstille erstirbt, sagen wir uns „ruhe ein Wenig, du armer gequälter Geist !“ – wir wünschen allem Lebenden, weil es so gedrückt lebt, eine ewige Ruhe ; die Nacht überredet zum Tode. – Wenn die Menschen der Sonne entbehrten und mit Mondlicht und Oel den Kampf gegen die Nacht führten, welche Philosophie würde um sie ihren Schleier hüllen ! Man merkt es ja dem geistigen und seelischen Wesen des Menschen schon zu sehr an, wie es durch die Hälfte Dunkelheit und Sonnen-Entbehrung, von der das Leben umflort wird, im Ganzen verdüstert ist. 9. Wo d ie Lehre von der Freiheit des Willens entstanden ist. – Ueber dem Einen steht die Not h|we nd i g k e it in der

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Gestalt seiner Leidenschaften, über dem Andern als Gewohnheit zu hören und zu gehorchen, über dem Dritten als logisches Gewissen, über dem Vierten als Laune und muthwilliges Behagen an Seitensprüngen. Von diesen Vieren wird aber gerade da die Fr e i he it ihres Willens gesucht, wo Jeder von ihnen am festesten gebunden ist : es ist, als ob der Seidenwurm die Freiheit seines Willens gerade im Spinnen suchte. Woher kommt diess ? Ersichtlich daher, dass Jeder sich dort am meisten für frei hält, wo sein L eb e n s g e f ü h l am grössten ist, also, wie gesagt, bald in der Leidenschaft, bald in der Pflicht, bald in der Erkenntniss, bald im Muthwillen. Das, wodurch der einzelne Mensch stark ist, worin er sich belebt fühlt, meint er unwillkürlich, müsse auch immer das Element seiner Freiheit sein : er rechnet Abhängigkeit und Stumpfsinn, Unabhängigkeit und Lebensgefühl als nothwendige Paare zusam men. – Hier wird eine Erfahrung, die der Mensch im gesellschaftlich-politischen Gebiete gemacht hat, fälschlich auf das allerletzte metaphysische Gebiet übertragen : dort ist der starke Mann auch der freie Mann, dort ist lebendiges Gefühl von Freud und Leid, Höhe des Hoffens, Kühnheit des Begehrens, Mächtigkeit des Hassens das Zubehör der Herrschenden und Unabhängigen, während der Unterworfene, der Sclave, gedrückt und stumpf lebt. – Die Lehre von der Freiheit des Willens ist eine Erfi ndung he r r s c he nd e r Stände. 10. Kei ne neuen Ket ten f ü h len. – Solange wir nicht f ü h len , dass wir irgend wovon abhängen, halten wir uns für unabhängig : ein Fehlschluss, welcher zeigt, wie stolz und herrschsüchtig der Mensch ist. Denn er | nimmt hier an, dass er unter allen Umständen die Abhängigkeit, sobald er sie erleide, merken und erkennen müsse, unter der Voraussetzung, dass er in der Unabhängigkeit f ü r g ewöh n l ic h lebe und sofort, wenn er sie ausnahmsweise verliere, einen Gegensatz der Empfi ndung

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spüren werde. – Wie aber, wenn das Umgekehrte wahr wäre : dass er i m me r in vielfacher Abhängigkeit lebt, sich aber f ü r f r e i hält, wo er den Druck der Kette aus langer Gewohnheit n ic h t m e h r s p ü r t ? Nur an den n e u e n Ketten leidet er noch : – „Freiheit des Willens“ heisst eigentlich Nichts weiter, als keine neuen Ketten fühlen. 11. Die Freiheit des Wi l lens und d ie Isolation der Facta. – Unsere gewohnte ungenaue Beobachtung nimmt eine Gruppe von Erscheinungen als Eins und nennt sie ein Factum : zwischen ihm und einem andern Factum denkt sie sich einen leeren Raum hinzu, sie i s ol i r t jedes Factum. In Wahrheit aber ist all unser Handeln und Erkennen keine Folge von Facten und leeren Zwischenräumen, sondern ein beständiger Fluss. Nun ist der Glaube an die Freiheit des Willens gerade mit der Vorstellung eines beständigen, einartigen, ungetheilten, untheilbaren Fliessens unverträglich : er setzt voraus, dass je d e e i n z e l ne H a nd lu n g i s ol i r t u nd u nt he i l b a r ist ; er ist eine A t om i s t i k im Bereiche des Wollens und Erkennens. – Gerade so wie wir Charaktere ungenau verstehen, so machen wir es mit den Facten : wir sprechen von gleichen Charakteren, gleichen Facten : b e id e g iebt e s n ic ht . Nun loben und tadeln wir aber nur unter dieser falschen Voraussetzung, dass es g le ic he Facta gebe, dass eine abgestufte Ordnung von | G at t u n g e n der Facten vorhanden sei, welcher eine abgestufte Werthordnung entspreche : also wir i s ol i r e n nicht nur das einzelne Factum, sondern auch wiederum die Gruppen von angeblich gleichen Facten (gute, böse, mitleidige, neidische Handlungen u. s. w.) – beide Male irrthümlich. – Das Wort und der Begriff sind der sichtbarste Grund, wesshalb wir an diese Isolation von Handlungen-Gruppen glauben : mit ihnen b e z e ic h ne n wir nicht nur die Dinge, wir meinen ursprünglich durch sie das Wa h r e derselben zu erfassen.

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Durch Worte und Begriffe werden wir jetzt noch fortwährend verführt, die Dinge uns einfacher zu denken, als sie sind, getrennt von einander, untheilbar, jedes an und für sich seiend. Es liegt eine philosophische Mythologie in der S p r ac he versteckt, welche alle Augenblicke wieder herausbricht, so vorsichtig man sonst auch sein mag. Der Glaube an die Freiheit des Willens, das heisst der g le ic he n Facten und der i s ol i r t e n Facten – hat in der Sprache seinen beständigen Evangelisten und Anwalt. 12. D ie G r u n d i r r t hü me r.  – Damit der Mensch irgend eine seelische Lust oder Unlust empfi nde, muss er von einer dieser beiden Illusionen beherrscht sein : e nt we d e r glaubt er an die G le ic h he it gewisser Facta, gewisser Empfi ndungen : dann hat er durch die Vergleichung jetziger Zustände mit früheren und durch Gleich- oder Ungleichsetzung derselben (wie sie bei aller Erinnerung Statt fi ndet) eine seelische Lust oder Unlust ; o d e r er glaubt an die W i l le n s - Fr e i he it , etwa wenn er denkt „diess hätte ich nicht thun müssen,“ „diess hätte anders auslaufen können,“ und gewinnt daraus ebenfalls | Lust oder Unlust. Ohne die Irrthümer, welche bei jeder seelischen Lust und Unlust thätig sind, würde niemals ein Menschenthum entstanden sein,  – dessen Grundempfi ndung ist und bleibt, dass der Mensch der Freie in der Welt der Unfreiheit sei, der ewige Wu nd e r t h ät e r, sei es dass er gut oder böse handelt, die erstaunliche Ausnahme, das Ueberthier, der FastGott, der Sinn der Schöpfung, der Nichthinwegzudenkende, das Lösungswort des kosmischen Räthsels, der grosse Herrscher über die Natur und Verächter derselben, das Wesen, das s e i n e Geschichte We lt g e s c h ic ht e nennt !  – Vanitas vanitatum homo. 13. Zwe i m a l s a g e n . – Es ist gut, eine Sache sofort doppelt auszudrücken und ihr einen rechten und einen linken Fuss zu

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geben. Auf Einem Bein kann die Wahrheit zwar stehen ; mit zweien aber wird sie gehen und herumkommen. 14. Der Men sc h, der Komöd ia nt der Welt. – Es müsste geistigere Geschöpfe geben, als die Menschen sind, blos um den Humor ganz auszukosten, der darin liegt, dass der Mensch sich für den Zweck des ganzen Weltendaseins ansieht, und die Menschheit sich ernstlich nur mit Aussicht auf eine WeltMission zufrieden giebt. Hat ein Gott die Welt geschaffen, so schuf er den Menschen zum A f f e n G ot t e s , als fortwährenden Anlass zur Erheiterung in seinen allzulangen Ewigkeiten. Die Sphärenmusik um die Erde herum wäre dann wohl das Spottgelächter aller übrigen Geschöpfe um den Menschen herum. Mit dem S c h me r z kitzelt jener gelangweilte Unsterbliche sein Lieblingsthier, um an den tragisch-|stolzen Gebärden und Auslegungen seiner Leiden, überhaupt an der geistigen Erfi ndsamkeit des eitelsten Geschöpfes seine Freude zu haben – als Erfi nder dieses Erfi nders. Denn wer den Menschen zum Spaasse ersann, hatte mehr Geist, als dieser, und auch mehr Freude am Geist. – Selbst hier noch, wo sich unser Menschenthum einmal freiwillig demüthigen will, spielt uns die Eitelkeit einen Streich, indem wir Menschen wenigstens in d ie s e r Eitelkeit etwas ganz Unvergleichliches und Wunderhaftes sein möchten. Unsere Einzigkeit in der Welt ! ach, es ist eine gar zu unwahrscheinliche Sache ! Die Astronomen, denen mitunter wirklich ein erdentrückter Gesichtskreis zu Theil wird, geben zu verstehen, dass der Tropfen L eb e n in der Welt für den gesammten Charakter des ungeheuren Ozeans von Werden und Vergehen ohne Bedeutung ist ; dass ungezählte Gestirne ähnliche Bedingungen zur Erzeugung des Lebens haben wie die Erde, sehr viele also, – freilich kaum eine Handvoll im Vergleich zu den unendlich vielen, welche den lebenden Ausschlag nie gehabt haben oder von ihm längst

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genesen sind ; dass das Leben auf jedem dieser Gestirne, gemessen an der Zeitdauer seiner Existenz, ein Augenblick, ein Aufflackern gewesen ist, mit langen, langen Zeiträumen hinterdrein, – also keineswegs das Ziel und die letzte Absicht ihrer Existenz. Vielleicht bildet sich die Ameise im Walde ebenso stark ein, dass sie Ziel und Absicht der Existenz des Waldes ist, wie wir diess thun, wenn wir an den Untergang der Menschheit in unserer Phantasie fast unwillkürlich den Erduntergang anknüpfen : ja wir sind noch bescheiden, wenn wir dabei stehen bleiben und zur Leichenfeier des letzten Menschen nicht eine allgemeine Welt- und | Götterdämmerung veranstalten. Der unbefangenste Astronom selber kann die Erde ohne Leben kaum anders empfi nden, als wie den leuchtenden und schwebenden Grabhügel der Menschheit. 15. Besc heiden heit des Men sc hen. – Wie wenig Lust genügt den Meisten, um das Leben gut zu fi nden, wie bescheiden ist der Mensch ! 16. Wor i n G le ic h g ü lt i g k e it not h t hut . – Nichts wäre verkehrter, als abwarten wollen, was die Wissenschaft über die ersten und letzten Dinge einmal endgültig feststellen wird, und bis dahin auf die he r k öm m l ic he Weise denken (und namentlich glauben !) – wie diess so oft angerathen wird. Der Trieb, auf diesem Gebiete durchaus nu r Sic he r he it e n haben zu wollen, ist ein r e l i g iö s e r Nac ht r ieb, nichts Besseres, – eine versteckte und nur scheinbar skeptische Art des „metaphysischen Bedürfnisses,“ mit dem Hintergedanken verkuppelt, dass noch lange Zeit keine Aussicht auf diese letzten Sicherheiten vorhanden, und bis dahin der „Gläubige“ im Recht ist, sich um das ganze Gebiet nicht zu kümmern. Wir haben diese Sicherheiten um die alleräussersten Horizonte gar nicht nöt h i g , um ein volles und tüchtiges Menschen-

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thum zu leben : ebenso wenig als die Ameise sie nöthig hat, um eine gute Ameise zu sein. Vielmehr müssen wir uns darüber in’s Klare bringen, woher eigentlich jene fatale Wichtigkeit kommt, die wir jenen Dingen so lange beigelegt haben, und dazu brauchen wir die H i s t or ie der ethischen und religiösen Empfi ndungen. Denn nur unter dem Einfluss dieser Empfi ndungen sind uns jene allerspitzesten Fragen | der Erkenntniss so erheblich und furchtbar geworden : man hat in die äussersten Bereiche, woh i n noch das geistige Auge dringt, ohne i n s ie einzudringen, solche Begriffe wie Schuld und Strafe (und zwar ewige Strafe !) hineinverschleppt : und diess um so unvorsichtiger, je dunkler diese Bereiche waren. Man hat seit Alters mit Verwegenheit dort phantasirt, wo man Nichts feststellen konnte, und seine Nachkommen überredet, diese Phantasien für Ernst und Wahrheit zu nehmen, zuletzt mit dem abscheulichen Trumpfe : dass Glaube mehr werth sei, als Wissen. Jetzt nun thut in Hinsicht auf jene letzten Dinge nicht Wissen gegen Glauben noth, sondern G le ic h g ü lt i gk e it g e g e n G l au b e n u nd a n g eb l ic he s W i s s e n auf jenen Gebieten !  – A l le s Andere muss uns näher stehen, als Das, was man uns bisher als das Wichtigste vorgepredigt hat : ich meine jene Fragen : wozu der Mensch ? Welches Loos hat er nach dem Tode ? Wie versöhnt er sich mit Gott ? und wie diese Curiosa lauten mögen. Ebensowenig, wie diese Fragen der Religiösen, gehen uns die Fragen der philosophischen Dogmatiker an, mögen sie nun Idealisten oder Materialisten oder Realisten sein. Sie allesammt sind darauf aus, uns zu einer Entscheidung auf Gebieten zu drängen, wo weder Glauben noch Wissen noth thut ; selbst für die grössten Liebhaber der Erkenntniss ist es nützlicher, wenn um alles Erforschbare und der Vernunft Zugängliche ein umnebelter trügerischer Sumpfgürtel sich legt, ein Streifen des Undurchdringlichen, Ewig-Flüssigen und Unbestimmbaren. Gerade durch die Vergleichung mit dem Reich des Dunkels am Rande der Wis-

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sens-Erde steigt die helle und nahe, nächste Welt des Wissens stets im Werthe. – Wir müssen wieder g ut e Nac h b a r n d e r |n äc h s t e n D i n g e werden und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden hinblicken. In Wäldern und Höhlen, in sumpfigen Strichen und unter bedeckten Himmeln – da hat der Mensch als auf den Culturstufen ganzer Jahrtausende allzulange gelebt, und dürftig gelebt. Dort hat er die Gegenwart und die Nachbarschaft und das Leben und sich selbst ve r ac ht e n le r ne n  – und wir, wir Bewohner der l ic ht e r e n Gefi lde der Natur und des Geistes, bekommen jetzt noch, durch Erbschaft, Etwas von diesem Gift der Verachtung gegen das Nächste in unser Blut mit. 17. Ti e f e E r k l ä r u n g e n .  – Wer die Stelle eines Autors „tiefer erklärt“, als sie gemeint war, hat den Autor nicht erklärt, sondern ve r d u n k e lt . So stehen unsre Metaphysiker zum Texte der Natur ; ja noch schlimmer. Denn um ihre tiefen Erklärungen anzubringen, richten sie sich häufig den Text erst darauf hin zu : das heisst, sie ve r d e r b e n ihn. Um ein curioses Beispiel für Textverderbniss und Verdunkelung des Autors zu geben, so mögen hier Schopenhauer’s Gedanken über die Schwangerschaft der Weiber stehen. Das Anzeichen des steten Daseins des Willens zum Leben in der Zeit, sagt er, ist der Coitus ; das Anzeichen des diesem Willen auf ’s Neue zugesellten, die Möglichkeit der Erlösung offen haltenden Lichtes der Erkenntniss, und zwar im höchsten Grade der Klarheit, ist die erneuerte Menschwerdung des Willens zum Leben. Das Zeichen dieser ist die Schwangerschaft, welche daher frank und frei, ja stolz einhergeht, während der Coitus sich verkriecht wie ein Verbrecher. Er behauptet, dass je d e s Weib, wenn beim Generationsact überrascht, vor Scham vergehn | möchte, aber „i h r e Sc hwa n g er sc h a f t , oh ne ei ne Spu r von Sc h a m, ja, m it ei ner A r t Stol z, z u r Sc h au

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t r ä g t .“ Vor Allem lässt sich dieser Zustand nicht so leicht me h r zur Schau tragen, als er sich selber zur Schau trägt ; indem Schopenhauer aber gerade nu r die Absichtlichkeit des zur-Schau-Tragens hervorhebt, bereitet er sich den Text vor, damit dieser zu der bereit gehaltenen „Erklärung“ passe. Sodann ist Das, was er über die Allgemeinheit des zu erklärenden Phänomens sagt, nicht wahr : er spricht von „jedem Weibe“ : viele, namentlich die jüngeren Frauen, zeigen aber in diesem Zustande, selbst vor den nächsten Anverwandten, oft eine peinliche Verschämtheit ; und wenn Weiber reiferen und reifsten Alters, zumal solche aus dem niederen Volke, in der That sich auf jenen Zustand Etwas zu Gute thun sollten, so geben sie wohl damit zu verstehen, dass sie no c h von ihren Männern begehrt werden. Dass bei ihrem Anblick der Nachbar und die Nachbarin oder ein vorübergehender Fremder sagt oder denkt : „sollte es möglich sein  –“, dieses Almosen wird von der weiblichen Eitelkeit bei geistigem Tiefstande immer noch gern angenommen. Umgekehrt würden, wie aus Schopenhauer’s Sätzen zu folgern wäre, gerade die klügsten und geistigsten Weiber am meisten über ihren Zustand öffentlich frohlocken : sie haben ja die meiste Aussicht, ein Wunderkind des Intellects zu gebären, in welchem „der Wille“ sich zum allgemeinen Besten wieder einmal „verneinen“ kann ; die dummen Weiber hätten dagegen allen Grund, ihre Schwangerschaft noch schamhafter zu verbergen, als Alles, was sie verbergen. – Man kann nicht sagen, dass diese Dinge aus der Wirklichkeit genommen sind. Gesetzt aber, Schopenhauer hätte ganz | im Allgemeinen darin Recht, dass die Weiber im Zustande der Schwangerschaft eine Selbstgefälligkeit mehr zeigen, als sie sonst zeigen, so läge doch eine Erklärung näher zur Hand, als die seinige. Man könnte sich ein Gackern der Henne auch vor dem Legen des Eies denken, des Inhaltes : Seht ! seht ! ich werde ein Ei legen ! ich werde ein Ei legen !

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18. D e r m o d e r n e D i o g e n e s .  – Bevor man den Menschen sucht, muss man die Laterne gefunden haben. – Wird es die Laterne des Cynikers sein müssen ? – 19. I m mor a l i sten. – Die Moralisten müssen es sich jetzt gefallen lassen, Immoralisten gescholten zu werden, weil sie die Moral seciren. Wer aber seciren will, muss tödten : jedoch nur, damit besser gewusst, besser geurtheilt, besser gelebt werde ; nicht, damit alle Welt secire. Leider aber meinen die Menschen immer noch, dass jeder Moralist auch durch sein gesammtes Handeln ein Musterbild sein müsse, welches die Anderen nachzuahmen hätten ; sie verwechseln ihn mit dem Prediger der Moral. Die älteren Moralisten secirten nicht genug und predigten allzuhäufig : daher rührt jene Verwechselung und jene unangenehme Folge für die jetzigen Moralisten. 20. Nic ht z u ver wec h sel n. – Die Moralisten, welche die grossartige, mächtige, aufopfernde Denkweise, etwa bei den Helden Plutarch’s, oder den reinen, erleuchteten, wärmeleitenden Seelenzustand der eigentlich guten Männer und Frauen, als schwere Probleme der Erkenntniss behandeln und der Herkunft derselben nachspüren, indem | sie das Complicirte in der anscheinenden Einfachheit aufzeigen und das Auge auf die Verflechtung der Motive, auf die eingewobenen zarten Begriffs-Täuschungen und die von Alters her vererbten, langsam gesteigerten Einzel- und Gruppen-Empfi ndungen richten,  – diese Moralisten sind am meisten gerade von denen ve r s c h ie d e n , mit denen sie doch am meisten ve r we c h s e lt werden : von den kleinlichen Geistern, die an jene Denkweisen und Seelenzustände überhaupt nicht glauben und ihre eigne Armseligkeit hinter dem Glanze von Grösse und Rein-

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heit versteckt wähnen. Die Moralisten sagen : „hier sind Probleme“, und die Erbärmlichen sagen : „hier sind Betrüger und Betrügereien“ ; sie leu g ne n also die E x i s t e n z gerade dessen, was jene zu e r k l ä r e n befl issen sind. 21. Der Men sc h a ls der Messende. – Vielleicht hat alle Moralität der Menschheit in der ungeheuren inneren Aufregung ihren Ursprung, welche die Urmenschen ergriff, als sie das Maass und das Messen, die Wage und das Wägen entdeckten (das Wort „Mensch“ bedeutet ja den Messenden, er hat sich nach seiner grössten Entdeckung b e ne n ne n wollen !). Mit diesen Vorstellungen stiegen sie in Bereiche hinauf, die ganz unmessbar und unwägbar sind, aber es ursprünglich nicht zu sein schienen. 22. P r i nc ip des Gleic hgew ic ht s. – Der Räuber und der Mächtige, welcher einer Gemeinde verspricht, sie gegen den Räuber zu schützen, sind wahrscheinlich im Grunde ganz ähnliche Wesen, nur dass der zweite seinen Vortheil anders, als der erste erreicht : nämlich durch regelmässige Abgaben, welche die Gemeinde an | ihn entrichtet, und nicht mehr durch Brandschatzungen. (Es ist das nämliche Verhältniss wie zwischen Handelsmann und Seeräuber, welche lange Zeit ein und die selbe Person sind : wo ihr die eine Function nicht räthlich scheint, da übt sie die andere aus. Eigentlich ist ja selbst jetzt noch alle Kaufmanns-Moral nur die Ver k lü g e r u n g der Seeräuber-Moral : so wohlfeil wie möglich kaufen – womöglich für Nichts, als die Unternehmungskosten –, so theuer wie möglich verkaufen.) Das Wesentliche ist : jener Mächtige verspricht, gegen den Räuber G le ic h g ew ic ht zu halten ; darin sehen die Schwachen eine Möglichkeit, zu leben. Denn entweder müssen sie sich selber zu einer g le ic hw ie g e n d e n Macht zusammenthun oder sich einem Gleichwiegenden un-

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terwerfen (ihm für seine Leistungen Dienste leisten). Dem letzteren Verfahren wird gern der Vorzug gegeben, weil es im Grunde z we i gefährliche Wesen in Schach hält : das erste durch das zweite und das zweite durch den Gesichtspunct des Vortheils ; letzteres hat nämlich seinen Gewinn davon, die Unterworfenen gnädig oder leidlich zu behandeln, damit sie nicht nur sich, sondern auch ihren Beherrscher ernähren können. Thatsächlich kann es dabei immer noch hart und grausam genug zugehen, aber verglichen mit der früher immer möglichen völligen Ve r n i c h t u n g athmen die Menschen schon in diesem Zustande auf. – Die Gemeinde ist im Anfang die Organisation der Schwachen zum G le ic h g ew ic ht mit gefahrdrohenden Mächten. Eine Organisation zum Uebergewicht wäre räthlicher, wenn man dabei so stark würde, um die Gegenmacht auf einmal zu ve r n ic ht e n : und handelt es sich um einen einzelnen mächtigen Schadenthuer, so wird diess gewiss ve r s uc ht . Ist aber | der Eine ein Stammhaupt oder hat er grossen Anhang, so ist die schnelle, entscheidende Vernichtung unwahrscheinlich und die dauernde lange Fe hd e zu gewärtigen : diese aber bringt der Gemeinde den am wenigsten wünschbaren Zustand mit sich, weil sie durch ihn die Zeit verliert, für ihren Lebensunterhalt mit der nöthigen Regelmässigkeit zu sorgen, und den Ertrag aller Arbeit jeden Augenblick bedroht sieht. Desshalb zieht die Gemeinde vor, ihre Macht zu Vertheidigung und Angriff genau auf die Höhe zu bringen, auf der die Macht des gefährlichen Nachbars ist, und ihm zu verstehen zu geben, dass in ihrer Wagschale jetzt gleichviel Erz liege : warum wolle man nicht gut Freund mit einander sein ? – G le ic h g ew ic ht ist also ein sehr wichtiger Begriff für die älteste Rechts- und Morallehre ; Gleichgewicht ist die Basis der Gerechtigkeit. Wenn diese in roheren Zeiten sagt „Auge um Auge, Zahn um Zahn“, so setzt sie das erreichte Gleichgewicht voraus und will es vermöge dieser Vergeltung e rh a lt e n : sodass, wenn jetzt der Eine sich gegen den

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Andern vergeht, der Andere keine Rache der blinden Erbitterung mehr nimmt. Sondern vermöge des jus talionis wird das Gleichgewicht der gestörten Machtverhältnisse w ie d e r he r g e s t e l lt : denn ein Auge, ein Arm me h r ist in solchen Urzuständen ein Stück Macht, ein Gewicht mehr. – Innerhalb einer Gemeinde, in der Alle sich als gleichgewichtig betrachten, ist gegen Vergehungen, das heisst gegen Durchbrechungen des Princips des Gleichgewichtes, S c h a nd e und St r a f e da : Schande, ein Gewicht, eingesetzt gegen den übergreifenden Einzelnen, der durch den Uebergriff sich Vortheile verschaff t hat, durch die Schande nun wieder Nachtheile erfährt, die den früheren Vortheil | aufheben und ü b e r w ie g e n . Ebenso steht es mit der Strafe : sie stellt gegen das Uebergewicht, das sich jeder Verbrecher zuspricht, ein viel grösseres Gegengewicht auf, gegen Gewaltthat den Kerkerzwang, gegen Diebstahl den Wiederersatz und die Strafsumme. So wird der Frevler e r i n ne r t , dass er mit seiner Handlung au s der Gemeinde und deren Moral-Vor t he i le n ausschied : sie behandelt ihn wie einen Ungleichen, Schwachen, ausser ihr Stehenden ; desshalb ist Strafe nicht nur Wiedervergeltung, sondern hat ein Me h r, ein Etwas von der Hä r te de s Nat u r z u st a nde s ; an d ie s e n will sie eben e r i n ne r n . 23. Ob d ie A n hänger der Lehre vom f reien Wi l len strafen dürfen ? – Die Menschen, welche von Berufswegen richten und strafen, suchen in jedem Falle festzustellen, ob ein Uebelthäter überhaupt für seine That verantwortlich ist, ob er seine Vernunft anwenden k o n nt e, ob er aus Gr ü nd e n handelte und nicht unbewusst oder im Zwange. Straft man ihn, so straft man, dass er die schlechteren Gründe den besseren vorzog : welche er also g e k a n nt haben muss. Wo diese Kenntniss fehlt, ist der Mensch nach der herrschenden Ansicht unfrei und nicht verantwortlich : es sei denn, dass seine

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Unkenntniss, zum Beispiel seine ignorantia legis, die Folge einer absichtlichen Vernachlässigung des Erlernens ist ; dann hat er also schon damals, als er nicht lernen wollte was er sollte, die schlechteren Gründe den besseren vorgezogen, und muss jetzt die Folge seiner schlechten Wahl büssen. Wenn er dagegen die besseren Gründe nicht gesehen hat, etwa aus Stumpf- und Blödsinn, so pflegt man nicht zu strafen : es hat ihm, wie man sagt, die | Wahl gefehlt, er handelte als Thier. Die absichtliche Verleugnung der besseren Vernunft ist jetzt die Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrechen macht. Wie kann aber Jemand absichtlich unvernünftiger sein, als er sein muss ? Woher die Entscheidung, wenn die Wagschalen mit guten und schlechten Motiven belastet sind ? Also nicht vom Irrthum, von der Blindheit her, nicht von einem äusseren, auch von keinem inneren Zwange her (man erwäge übrigens, dass jeder sogenannte „äussere Zwang“ Nichts weiter ist, als der innere Zwang der Furcht und des Schmerzes). Woher ? fragt man immer wieder. Die Ve r nu n f t soll also nicht die Ursache sein, weil sie sich nicht gegen die besseren Gründe entscheiden könnte ? Hier nun ruft man den „freien Willen“ zu Hülfe : es soll das vol le n d e t e B e l i e b e n entscheiden, ein Moment eintreten, wo kein Motiv wirkt, wo die That als Wunder geschieht, aus dem Nichts heraus. Man straft diese angebliche B e l ieb i g k e it , in einem Falle, wo kein Belieben herrschen sollte : die Vernunft, welche das Gesetz, das Verbot und Gebot kennt, hätte gar keine Wahl lassen dürfen, meint man, und als Zwang und höhere Macht wirken sollen. Der Verbrecher wird also bestraft, weil er vom „freien Willen“ Gebrauch macht, das heisst weil er ohne Grund gehandelt hat, wo er nach Gründen hätte handeln sollen. Aber w a r u m that er diess ? Diess eben darf nicht einmal mehr g e f r a g t werden : es war eine That ohne „darum“, ohne Motiv, ohne Herkunft, etwas Zweckloses und Vernunftloses. – E i ne s olc he T h at d ü r f t e m a n a b e r, nach der ersten oben vorangeschickten

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Bedingung aller Straf barkeit, au c h n ic ht s t r a f e n ! Auch jene Art der Straf barkeit darf nicht geltend gemacht werden, als wenn hier Etwas | n ic ht gethan, Etwas unterlassen, von der Vernunft n ic ht Gebrauch gemacht sei ; denn unter allen Umständen geschah die Unterlassung oh ne A b s ic ht ! und nur die absichtliche Unterlassung des Gebotenen gilt als strafbar. Der Verbrecher hat zwar die schlechten Gründe den besseren vorgezogen, aber oh ne Grund und Absicht : er hat zwar seine Vernunft nicht angewendet, aber nicht, u m sie nicht anzuwenden. Jene Voraussetzung, die man beim strafwürdigen Verbrechen macht, dass er seine Vernunft absichtlich verleugnet habe, – gerade sie ist bei der Annahme des „freien Willens“ aufgehoben. Ihr d ü r f t nicht strafen, ihr Anhänger der Lehre vom „freien Willen“, nach euern eigenen Grundsätzen nicht ! – Diese sind aber im Grunde Nichts, als eine sehr wunderliche Begriffs-Mythologie ; und das Huhn, welches sie ausgebrütet hat, hat abseits von aller Wirklichkeit auf seinen Eiern gesessen. 24. Zu r Beu r t hei lu ng des Verbr ec her s u nd sei nes R ic hter s. – Der Verbrecher, der den ganzen Fluss der Umstände kennt, fi ndet seine That nicht so ausser der Ordnung und Begreiflichkeit, wie seine Richter und Tadler ; seine Strafe aber wird ihm gerade nach dem Grade von E r s t au ne n zugemessen, welches jene beim Anblick der That als einer Unbegreiflichkeit befällt. – Wenn die Kenntniss, welche der Vertheidiger eines Verbrechers von dem Fall und seiner Vorgeschichte hat, weit genug reicht, so mü s s e n die sogenannten Milderungsgründe, welche er der Reihe nach vorbringt, endlich die ganze Schuld hinwegmildern. Oder, noch deutlicher : der Vertheidiger wird schrittweise jenes verurtheilende und Strafe zumessende E r s t au n e n m i ld e r n und zuletzt ganz | aufheben, indem er jeden ehrlichen Zuhörer zu dem inneren Geständniss nöthigt : „er musste so handeln, wie er gehandelt hat ; wir

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würden, wenn wir straften, die ewige Nothwendigkeit bestrafen.“  – Den Grad der Strafe abmessen nach dem G r a d d e r K e n nt n i s s , welchen man von der Historie eines Verbrechens hat oder überh aupt g ew i n nen k a n n , – streitet diess nicht wider alle Billigkeit ? – 25. Der Tausch und die Billigkeit. – Bei einem Tausche würde es nur dann ehrlich und rechtlich zugehen, wenn Jeder der beiden Tauschenden so viel verlangte, als ihm seine Sache werth scheint, die Mühe des Erlangens, die Seltenheit, die aufgewendete Zeit u. s. w. in Anschlag gebracht, nebst dem Affectionswerthe. Sobald er den Preis i n H i n s ic ht au f d a s B e d ü r f n i s s d e s A nd e r n macht, ist er ein feinerer Räuber und Erpresser. – Ist Geld das eine Tauschobject, so ist zu erwägen, dass ein Frankenthaler in der Hand eines reichen Erben, eines Tagelöhners, eines Kaufmannes, eines Studenten ganz verschiedene Dinge sind : Jeder wird, je nachdem er fast Nichts oder Viel that, ihn zu erwerben, Wenig oder Viel dafür empfangen dürfen,  – so wäre es billig : in Wahrheit steht es bekanntlich umgekehrt. In der grossen Geldwelt ist der Thaler des faulsten Reichen gewinnbringender, als der des Armen und Arbeitsamen. 26. Rec ht s z u st ä nde a l s M it te l. – Recht, auf Verträgen zwischen G le ic he n beruhend, besteht, solange die Macht Derer, die sich vertragen haben, eben gleich oder ähnlich ist ; die Klugheit hat das Recht geschaffen, | um der Fehde und der nut z lo s e n Vergeudung zwischen ähnlichen Gewalten ein Ende zu machen. Dieser aber ist eb e n s o e nd g ü lt i g ein Ende gemacht, wenn der eine Theil entschieden s c hwäc he r, als der andere, g ewor d e n ist : dann tritt Unterwerfung ein und das Recht hör t au f , aber der Erfolg ist der selbe wie der, welcher bisher durch das Recht erreicht wurde. Denn jetzt ist

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es die K lu g he it des Ueberwiegenden, welche die Kraft des Unterworfenen zu s c ho ne n und nicht nutzlos zu vergeuden anräth : und oft ist die Lage des Unterworfenen günstiger, als die des Gleichgestellten war. – Rechtszustände sind also zeitweilige M it t e l , welche die Klugheit anräth, keine Ziele. – 27. Erk lä r u ng der Sc haden f reude. – Die Schadenfreude entsteht daher, dass ein Jeder in mancher ihm wohl bewussten Hinsicht sich schlecht befi ndet, Sorge oder Neid oder Schmerz hat : der Schaden, der den Andern betriff t, stellt diesen ihm g le ic h , er versöhnt seinen Neid.  – Befi ndet er gerade sich selber gut, so sammelt er doch das Unglück des Nächsten als ein Capital in seinem Bewusstsein auf, um es bei einbrechendem eigenen Unglück gegen dasselbe einzusetzen ; auch so hat er „Schadenfreude“. Die auf Gleichheit gerichtete Gesinnung wirft also ihren Maassstab aus auf das Gebiet des Glücks und des Zufalls : Schadenfreude ist der gemeinste Ausdruck über den Sieg und die Wiederherstellung der Gleichheit, auch innerhalb der höheren Weltordnung. Erst seitdem der Mensch gelernt hat, in anderen Menschen seines Gleichen zu sehen, also erst seit Begründung der Gesellschaft, giebt es Schadenfreude. | 28. D a s W i l l k ü rl ic he i m Zu me s s e n d e r St r a fe n . – Die meisten Verbrecher kommen zu ihren Strafen wie die Weiber zu ihren Kindern. Sie haben zehn- und hundertmal das Selbe gethan, ohne übele Folgen zu spüren : plötzlich kommt eine Entdeckung und hinter ihr die Strafe. Die Gewohnheit sollte doch die Schuld der That, derentwegen der Verbrecher gestraft wird, entschuldbarer erscheinen lassen ; es ist ja ein Hang entstanden, dem schwerer zu widerstehen ist. Anstatt dessen, wird er, wenn der Verdacht des gewohnheitsmässigen Verbrechens vorliegt, härter gestraft ; die Gewohnheit wird

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als Grund gegen alle Milderung geltend gemacht. Eine vorherige musterhafte Lebensweise, gegen welche das Verbrechen um so fürchterlicher absticht, sollte die Schuldbarkeit verschärft erscheinen lassen ! Aber sie pflegt die Strafe zu mildern. So wird Alles nicht nach dem Verbrecher bemessen, sondern nach der Gesellschaft und deren Schaden und Gefahr : frühere Nützlichkeit eines Menschen wird gegen seine einmalige Schädlichkeit eingerechnet, frühere Schädlichkeit zur gegenwärtig entdeckten addirt, und demnach die Strafe am höchsten zugemessen. Wenn man aber dergestalt die Vergangenheit eines Menschen mit straft oder mit belohnt (diess im ersten Fall, wo das Weniger-Strafen ein Belohnen ist), so sollte man noch weiter zurückgehen und die Ursache einer solchen oder solchen Vergangenheit strafen und belohnen, ich meine Eltern, Erzieher, die Gesellschaft u. s. w. ; in vielen Fällen wird man dann die R ic ht e r irgendwie bei der Schuld betheiligt fi nden. Es ist willkürlich, beim Verbrecher stehen zu bleiben, wenn man die Vergangenheit straft : man sollte, wenn man die | absolute Entschuldbarkeit jeder Schuld nicht zugeben will, bei jedem einzelnen Fall stehn bleiben und nicht weiter zurückblicken : also die Schuld i s ol i r e n und sie gar nicht mit der Vergangenheit in Verknüpfung bringen, – sonst wird man zum Sünder gegen die Logik. Zieht vielmehr, ihr WillensFreien, den nothwendigen Schluss aus eurer Lehre von der „Freiheit des Willens“ und decretirt kühnlich : „ k e i ne T h at h at e i ne Ve r g a n g e n he it .“ 29. Der Neid u nd sei n ed ler er Br uder. – Wo die Gleichheit wirklich durchgedrungen und dauernd begründet ist, entsteht jener, im Ganzen als unmoralisch geltende Hang, der im Naturzustande kaum begreiflich wäre : der Ne id . Der Neidische fühlt jedes Hervorragen des Anderen über das gemeinsame Maass und will ihn bis dahin herabdrücken – oder sich

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bis dorthin erheben : woraus sich zwei verschiedene Handlungsweisen ergeben, welche Hesiod als die böse und die gute Eris bezeichnet hat. Ebenso entsteht im Zustande der Gleichheit die Indignation darüber, dass es einem Anderen u nt e r seiner Würde und Gleichheit schlecht ergeht, einem Zweiten über seiner Gleichheit gut : es sind diess Affecte e d le r e r Naturen. Sie vermissen in den Dingen, welche von der Willkür des Menschen unabhängig sind, Gerechtigkeit und Billigkeit, das heisst : sie verlangen, dass jene Gleichheit, die der Mensch anerkennt, nun auch von der Natur und dem Zufall anerkannt werde ; sie zürnen darüber, dass es den Gleichen nicht gleich ergeht. | 30. Neid der Götter. – Der „Neid der Götter“ entsteht, wenn der niedriger Geachtete sich irgendworin dem Höheren gleichsetzt (wie Ajax) oder durch Gunst des Schicksals ihm gleichgesetzt w i r d (wie Niobe als überreich gesegnete Mutter). Innerhalb der g e s e l l s c h a f t l ic he n Rangordnung stellt dieser Neid die Forderung auf, dass ein Jeder kein Verdienst ü b e r seinem Stande habe, auch dass sein Glück diesem gemäss sei und namentlich dass sein Selbstbewusstsein jenen Schranken nicht entwachse. Oft erfährt der siegreiche General den „Neid der Götter“, ebenso der Schüler, der ein meisterliches Werk schuf. 31. Eitel keit a ls Nac ht r ieb des u ngesel lsc ha f t l ic hen Zusta ndes. – Da die Menschen ihrer Sicherheit wegen sich selber als einander g le ic h gesetzt haben, zur Gründung der Gemeinde, diese Auffassung aber im Grunde wider die Natur des Einzelnen geht und etwas Erzwungenes ist, so machen sich, je mehr die allgemeine Sicherheit gewährleistet ist, neue Schösslinge des alten Triebes nach Uebergewicht geltend : in der Abgränzung der Stände, in dem Anspruch auf BerufsWürden und -Vorrechte, überhaupt in der Eitelkeit (Manie-

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ren, Tracht, Sprache u. s. w.). Sobald einmal die Gefahr des Gemeinwesens wieder fühlbar wird, drücken die Zahlreicheren, welche ihr Uebergewicht nicht im Zustande der allgemeinen Ruhe durchsetzen konnten, wieder den Zustand der Gleichheit hervor : die absurden Sonderrechte und Eitelkeiten verschwinden auf einige Zeit. Stürzt aber das Gemeinwesen ganz zusammen, geräth Alles in Anarchie, so bricht sofort der Naturzustand, die un|bekümmerte, rücksichtslose Ungleichheit hervor, wie diess auf Korkyra geschah, nach dem Berichte des Thukydides. Es giebt weder ein Naturrecht, noch ein Naturunrecht. 32. Bi l l i g k e it . – Eine Fortbildung der Gerechtigkeit ist die Billigkeit, entstehend unter Solchen, welche nicht gegen die Gemeinde-Gleichheit verstossen : es wird auf Fälle, wo das Gesetz Nichts vorschreibt, jene feinere Rücksicht des Gleichgewichts übertragen, welche vor- und rückwärts blickt, und deren Maxime ist „wie du mir, so ich dir“. Aequum heisst eben „es ist g e m ä s s u n s e r e r G le ic h he it ; diese mildert auch unsere kleinen Verschiedenheiten zu einem Anschein von Gleichheit herab und will, dass wir Manches uns nachsehen, was wir nicht mü s s t e n .“ 33. Elemente der R ac he. – Das Wort „Rache“ ist so schnell gesprochen : fast scheint es, als ob es gar nicht mehr enthalten könne, als Eine Begriff s- und Empfi ndungswurzel. Und so bemüht man sich immer noch, dieselbe zu fi nden : wie unsere Nationalökonomen noch nicht müde geworden sind, im Worte „Werth“ eine solche Einheit zu wittern und nach dem ursprünglichen Wurzel-Begriff des Werthes zu suchen. Als ob nicht alle Worte Taschen wären, in welche bald Diess, bald Jenes, bald Mehreres auf einmal gesteckt worden ist ! So ist auch „Rache“ bald Diess, bald Jenes, bald etwas mehr Zusammengesetztes. Man unterscheide einmal jenen abwehrenden

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Zurückschlag, den man fast unwillkürlich auch gegen leblose Gegenstände, die uns beschädigt haben (wie gegen bewegte Maschinen), ausführt : | der Sinn unserer Gegenbewegung ist, dem Beschädigen Einhalt zu thun, dadurch dass wir die Maschine zum Stillstand bringen. Die Stärke des Gegenschlags muss mitunter, um diess zu erreichen, so stark sein, dass er die Maschine zertrümmert ; wenn dieselbe aber zu stark ist, um vom Einzelnen sofort zerstört werden zu können, wird dieser doch immer noch den heftigsten Schlag ausführen, dessen er fähig ist, – gleichsam als einen letzten Versuch. So benimmt man sich auch gegen schädigende Personen bei der unmittelbaren Empfi ndung des Schadens selber ; will man diesen Act einen Rache-Act nennen, so mag es sein ; nur erwäge man, dass hier allein die S e l b s t- E r h a lt u n g ihr Vernunft-Räderwerk in Bewegung gesetzt hat, und dass man im Grunde nicht an den Schädiger, sondern nur an sich dabei denkt : wir handeln so, oh ne wieder schaden zu wollen, sondern nur, um noch mit Leib und Leben d avo n z u k om me n . – Man braucht Z e it , wenn man von sich mit seinen Gedanken zum Gegner übergeht und sich fragt, auf welche Weise er am empfi ndlichsten zu treffen ist. Diess geschieht bei der zweiten Art von Rache : ein Nachdenken über die Verwundbarkeit und Leidensfähigkeit des Andern ist ihre Voraussetzung ; man will wehe thun. Dagegen sich selber gegen weiteren Schaden sichern, liegt hier so wenig im Gesichtskreis des Rachenehmenden, dass er fast regelmässig den weiteren eignen Schaden zu Wege bringt und ihm sehr oft kaltblütig vorher entgegensieht. War es bei der ersten Art von Rache die Angst vor dem zweiten Schlage, welche den Gegenschlag so stark wie möglich machte : so ist hier fast völlige Gleichgültigkeit gegen Das, was der Gegner thun w i r d ; die Stärke des Gegenschlags wird nur durch | Das, was er uns gethan h at , bestimmt. – Was hat er denn gethan ? Und was nützt es uns, wenn er nun leidet, nachdem wir durch ihn gelitten haben ?

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Es handelt sich um eine W ie d e r he r s t e l lu n g : während der Rache-Act erster Art nur der S e l b s t- E r h a lt u n g dient. Vielleicht verloren wir durch den Gegner Besitz, Rang, Freunde, Kinder,  – diese Verluste werden durch die Rache nicht zurückgekauft, die Wiederherstellung bezieht sich allein auf einen N e b e nve r l u s t bei allen den erwähnten Verlusten. Die Rache der Wiederherstellung bewahrt nicht vor weiterem Schaden, sie macht den erlittenen Schaden nicht wieder gut, – ausser in Einem Falle. Wenn unsere E h r e durch den Gegner gelitten hat, so vermag die Rache sie w ie d e r he r z us t e l le n . Sie hat aber in jedem Falle einen Schaden erlitten, wenn man uns absichtlich ein Leid zufügte : denn der Gegner bewies damit, dass er uns nicht f ü r c ht et e. Durch die Rache beweisen wir, dass wir auch ihn nicht fürchten : darin liegt die Ausgleichung, die Wiederherstellung. (Die Absicht, den völligen Mangel an F u r c ht zu zeigen, geht bei einigen Personen so weit, dass ihnen die Gefährlichkeit der Rache für sie selbst (Einbusse der Gesundheit oder des Lebens, oder sonstige Verluste) als eine unerlässliche Bedingung jeder Rache gilt. Desshalb gehen sie den Weg des Duells, obschon die Gerichte ihnen den Arm bieten, um auch so Genugthuung für die Beleidigung zu erhalten : sie nehmen aber die gefahrlose Wiederherstellung ihrer Ehre nicht als genügend an, weil sie ihren Mangel an Furcht nicht beweisen kann.) – Bei der ersterwähnten Art der Rache ist es gerade die Furcht, die den Gegenschlag ausführt : hier dagegen ist es die Abwesenheit der Furcht, welche, | wie gesagt, durch den Gegenschlag s ic h b ewe i s e n w i l l . – Nichts scheint also verschiedener, als die innere Motivirung der beiden Handlungsweisen, die mit Einem Wort „Rache“ benannt werden : und trotzdem kommt es sehr häufig vor, dass der Rache-Uebende in Unklarheit ist, was ihn eigentlich zur That bestimmt hat ; vielleicht, dass er aus Furcht und um sich zu erhalten den Gegenschlag führte, hinterher aber, als er Zeit hatte, über den Gesichtspunct der ver-

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letzten Ehre nachzudenken, selber sich einredet, seiner Ehre halber sich gerächt zu haben : – dieses Motiv ist ja jedenfalls vor ne h me r, als das andere. Dabei ist noch wesentlich, ob er seine Ehre in den Augen der Anderen (der Welt) beschädigt sieht oder nur in den Augen des Beleidigers : im letztern Falle wird er die geheime Rache vorziehen, im erstern aber die öffentliche. Je nachdem er sich stark oder schwach in die Seele des Thäters und der Zuschauer hineindenkt, wird seine Rache erbitterter oder zahmer sein ; fehlt ihm diese Art Phantasie ganz, so wird er gar nicht an Rache denken ; denn das Gefühl der „Ehre“ ist dann bei ihm nicht vorhanden, also auch nicht zu verletzen. Ebenso wird er nicht an Rache denken, wenn er den Thäter und die Zuschauer der That ve r ac ht et : weil sie ihm keine Ehre geben können, als Verachtete, und demnach auch keine Ehre nehmen können. Endlich wird er auf Rache in dem nicht ungewöhnlichen Falle verzichten, dass er den Thäter liebt : freilich büsst er so in dessen Augen an Ehre ein und wird vielleicht der Gegenliebe dadurch weniger würdig. Aber auch auf alle Gegenliebe Verzicht leisten, ist ein Opfer, welches die Liebe zu bringen bereit ist, wenn sie dem geliebten Wesen nur nicht we he t hu n mu s s : | diess hiesse sich selber mehr wehe thun, als jenes Opfer wehe thut.  – Also : Jedermann wird sich rächen, er sei denn ehrlos oder voll Verachtung oder voll Liebe gegen den Schädiger und Beleidiger. Auch wenn er sich an die Gerichte wendet, so will er die Rache als private Person : neb e n b e i aber noch, als weiterdenkender vorsorglicher Mensch der Gesellschaft, die Rache der Gesellschaft an Einem, der sie nicht e h r t . So wird durch die gerichtliche Strafe sowohl die Privatehre als auch die Gesellschaftsehre w ie d e r he r g e s t e l lt : das heisst – Strafe ist Rache. – Es giebt in ihr unzweifelhaft auch noch jenes andere, zuerst beschriebene Element der Rache, insofern durch sie die Gesellschaft ihrer S e l b s t- E r h a lt u n g dient und der Not h we h r halber einen Gegenschlag führt. Die Strafe will das

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we it e r e Schädigen verhüten, sie will a b s c h r e c k e n . Auf diese Weise sind wirklich in der Strafe beide so verschiedene Elemente der Rache verknüpft, und diess mag vielleicht am meisten dahin wirken, jene erwähnte Begriff sverwirrung zu unterhalten, vermöge deren der Einzelne, der sich rächt, gewöhn lich nicht weiss, was er eigentlich will. 34. D ie Tu g e nd e n d e r E i n bu s s e. – Als Mitglieder von Gesellschaften glauben wir gewisse Tugenden nicht ausüben zu dürfen, die uns als Privaten die grösste Ehre und einiges Vergnügen machen, zum Beispiel Gnade und Nachsicht gegen Verfehlende aller Art, – überhaupt jede Handlungsweise, bei welcher der Vortheil der Gesellschaft durch unsere Tugend leiden würde. Kein Richter-Collegium darf sich vor seinem Gewissen erlauben, gnädig zu sein : dem König, a l s e i ne m E i n|z e l ne n , hat man diess Vorrecht auf behalten ; man freut sich, wenn er Gebrauch davon macht, zum Beweise, dass man gern gnädig sein möchte, aber durchaus nicht als Gesellschaft. Diese erkennt somit nur die ihr vortheilhaften oder mindestens unschädlichen Tugenden an (die ohne Einbusse oder gar mit Zinsen geübt werden, zum Beispiel Gerechtigkeit). Jene Tugenden der Einbusse können demnach i n d e r G e s e l l s c h a f t nicht entstanden sein, da noch jetzt, innerhalb jeder kleinsten sich bildenden Gesellschaft der Widerspruch gegen sie sich erhebt. Es sind also Tugenden unter Nicht-Gleichgestellten, erfunden von dem Ueberlegenen, Einzelnen, es sind H e r r s c h e r -Tugenden, mit dem Hintergedanken, „ich bin mächtig genug, um mir eine ersichtliche Einbusse gefallen zu lassen, diess ist ein Beweis meiner Macht“ – also mit St ol z verwandte Tugenden. 35. Ca s u i s t i k d e s Vor t he i l s .  – Es gäbe keine Casuistik der Moral, wenn es keine Casuistik des Vortheils gäbe. Der freie-

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ste und feinste Verstand reicht oft nicht aus, zwischen zwei Dingen so zu wählen, dass der grössere Vortheil nothwendig bei seiner Wahl ist. In solchen Fällen wählt man, weil man wählen muss, und hat hinterdrein eine Art Seekrankheit der Empfi ndung. 36. Zu m Heuc h ler werden. – Jeder Bettler wird zum Heuchler ; wie Jeder, der aus einem Mangel, aus einem Nothstand (sei diess ein persönlicher oder ein öffentlicher) seinen Beruf macht.  – Der Bettler empfi ndet den Mangel lange nicht so, wie er ihn empfi nden m ac he n muss, wenn er vom Betteln leben will. | 37. E i ne A r t C u lt u s d e r L e id e n s c h a f t e n . – Ihr Düsterlinge und philosophischen Blindschleichen redet, um den Charakter des ganzen Weltwesens anzuklagen, von dem f u r c htb a r e n C h a r a k t e r der menschlichen Leidenschaften. Als ob überall, wo es Leidenschaft gegeben hat, es auch Furchtbarkeit gegeben hätte ! Als ob es immerfort in der Welt diese Art von Furchtbarkeit geben müsste ! – Durch eine Vernachlässigung im K le i ne n , durch Mangel an Selbstbeobachtung und Beobachtung Derer, welche erzogen werden sollen, habt ihr selber erst die Leidenschaften zu solchen Unthieren anwachsen lassen, dass euch jetzt schon beim Worte „Leidenschaft“ Furcht befällt ! Es stand bei euch und steht bei uns, den Leidenschaften ihren furchtbaren Charakter zu ne h me n und dermaassen vorzubeugen, dass sie nicht zu verheerenden Wildwassern werden. – Man soll seine Versehen nicht zu ewigen Fatalitäten auf blasen ; vielmehr wollen wir redlich mit an der Aufgabe arbeiten, die Leidenschaften der Menschheit allesammt in Freudenschaften umzuwandeln.

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38. G ew i s s e n s b i s s . – Der Gewissensbiss ist, wie der Biss des Hundes gegen einen Stein, eine Dummheit. 39. Ur s p r u n g d e r R e c ht e. – Die Rechte gehen zunächst auf He r k om me n zurück, das Herkommen auf ein einmaliges A bk om me n . Man war irgendwann einmal beiderseitig mit den Folgen des getroffenen Abkommens zufrieden und wiederum zu träge, um es förmlich zu erneuern ; so lebte man fort, wie wenn es | immer erneuert worden wäre, und allmählich, als die Vergessenheit ihre Nebel über den Ursprung breitete, glaubte man einen heiligen, unverrückbaren Zustand zu haben, auf dem jedes Geschlecht weiterbauen mü s s e. Das Herkommen war jetzt Zw a n g , auch wenn es den Nutzen nicht mehr brachte, dessentwegen man ursprünglich das Abkommen gemacht hatte. – Die S c hw ac he n haben hier ihre feste Burg zu allen Zeiten gefunden : sie neigen dahin, das einmalige Abkommen, die Gnadenerweisung, zu ve r ew i g e n . 40. D ie B e d eut u n g d e s Ve r g e s s e n s i n d e r mor a l i s c he n E m pf i nd u n g. – Die selben Handlungen, welche innerhalb der ursprünglichen Gesellschaft zuerst die Absicht auf gemeinsamen Nut z e n eingab, sind später von anderen Generationen auf andere Motive hin gethan worden : aus Furcht oder Ehrfurcht vor Denen, die sie forderten und anempfahlen, oder aus Gewohnheit, weil man sie von Kindheit an um sich hatte thun sehen, oder aus Wohlwollen, weil ihre Ausübung überall Freude und zustimmende Gesichter schuf, oder aus Eitelkeit, weil sie gelobt wurden. Solche Handlungen, an denen das Grundmotiv, das der Nützlichkeit, ve r g e s s e n worden ist, heissen dann mor a l i s c he : nicht etwa, weil sie aus jenen a nd er e n Motiven, sondern weil sie n ic ht aus bewusster

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Nützlichkeit gethan werden. – Woher dieser H a s s gegen den Nutzen, der h ie r sichtbar wird, wo sich alles lobenswerthe Handeln gegen das Handeln um des Nutzens willen förmlich abschliesst ? – Offenbar hat die Gesellschaft, der Heerd aller Moral und aller Lobsprüche des moralischen Handelns, allzu lange und allzu hart mit dem Eigen-Nutzen und Eigen-Sinne des Einzelnen zu kämpfen | gehabt, um nicht zuletzt je d e s a nd e r e Motiv sittlich höher zu taxiren, als den Nutzen. So entsteht der Anschein, als ob die Moral n ic ht aus dem Nutzen herausgewachsen sei : während sie ursprünglich der Gesellschafts-Nutzen ist, der grosse Mühe hatte, sich gegen alle die Privat-Nützlichkeiten durchzusetzen und in höheres Ansehen zu bringen. 41. D ie Erbr eic hen der Mor a l it ät. – Es giebt auch im Moralischen einen E r b reichthum : ihn besitzen die Sanften, Gutmüthigen, Mitleidigen, Mildthätigen, welche Alle die gute H a nd lu n g s we i s e, aber nicht die Vernunft (die Quelle derselben) von ihren Vorfahren her mitbekommen haben. Das Angenehme an diesem Reichthum ist, dass man von ihm fortwährend darreichen und mittheilen muss, wenn er überhaupt empfunden werden soll, und dass er so unwillkürlich daran arbeitet, die Abstände zwischen moralisch-reich und -arm geringer zu machen : und zwar, was das Merkwürdigste und Beste ist, n ic ht zu Gunsten eines dereinstigen Mittelmaasses zwischen arm und reich, sondern zu Gunsten eines a l l g e me i ne n Reich- und Ueberreich-werdens.  – So wie hier geschehen ist, lässt sich etwa die herrschende Ansicht über den moralischen Erbreichthum zusammenfassen : aber es scheint mir, dass dieselbe mehr in majorem gloriam der Moralität, als zu Ehren der Wahrheit aufrecht erhalten wird. Die Erfahrung mindestens stellt einen Satz auf, welcher, wenn nicht als Widerlegung, jedenfalls als bedeutende Einschränkung jener Allgemeinheit zu gelten hat. Ohne den erlesensten Verstand,

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so sagt die Erfahrung, ohne die Fähigkeit der feinsten Wahl und einen s t a r k e n H a n g z u m | M a a s s h a lt e n , werden die Moralisch-Erbreichen zu Verschwendern der Moralität : indem sie haltlos sich ihren mitleidigen, mildthätigen, versöhnenden, beschwichtigenden Trieben überlassen, machen sie alle Welt um sich nachlässiger, begehrlicher und sentimentaler. Die Kinder solcher höchst moralischen Verschwender sind daher leicht – und wie leider zu sagen ist, bestenfalls – angenehme schwächliche Taugenichtse. 42. Der R ic hter u nd d ie M i lder u n g sg r ü nde. – „Man soll auch gegen den Teufel honett sein und seine Schulden bezahlen“, sagte ein alter Soldat, als man ihm die Geschichte Faustens etwas genauer erzählt hatte, „Faust gehört in die Hölle !“ – „Oh, ihr schrecklichen Männer !“ rief seine Gattin aus, „wie ist das nur möglich ! Er hat ja Nichts gethan, als keine Tinte im Tintenfass gehabt ! Mit Blut schreiben ist freilich eine Sünde, aber desshalb soll ein so schöner Mann doch nicht brennen ?“ 43. Problem der Pf l icht zur Wa h rheit. – Pflicht ist ein zwingendes, zur That drängendes Gefühl, das wir gut nennen und für undiscutirbar halten (– über Ursprung, Gränze und Berechtigung desselben wollen wir nicht reden und nicht geredet haben). Der Denker hält aber Alles für geworden und alles Gewordene für discutirbar, ist also der Mann ohne Pflicht, – solange er eben nur Denker ist. Als solcher würde er also auch die Pflicht, die Wahrheit zu sehen und zu sagen, nicht anerkennen und diess Gefühl nicht fühlen ; er fragt : woher kommt sie ? wohin will sie ?, aber diess Fragen selber wird von ihm als fragwürdig angesehen. Hätte diess aber | nicht zur Folge, dass die Maschine des Denkers nicht mehr recht arbeitet, wenn er sich beim Acte des Erkennens wirklich u nve r pf l ic ht et

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f ü h le n könnte ? Insofern scheint hier zur He i z u n g das selbe Element nöthig zu sein, das vermittelst der Maschine untersucht werden soll – Die Formel würde vielleicht sein : a n g e nom me n , es gäbe eine Pflicht, die Wahrheit zu erkennen, wie lautet die Wahrheit dann in Bezug auf jede andere Art von Pflicht ? – Aber ist ein hypothetisches Pflichtgefühl nicht ein Widersinn ? – 44. St u f e n d e r Mor a l . – Moral ist zunächst ein Mittel, die Gemeinde überhaupt zu erhalten und den Untergang von ihr abzuwehren ; sodann ist sie ein Mittel, die Gemeinde auf einer gewissen Höhe und in einer gewissen Güte zu erhalten. Ihre Motive sind F u r c ht und Hof f nu n g : und zwar um so derbere, mächtigere, gröbere, als der Hang zum Verkehrten, Einseitigen, Persönlichen noch sehr stark ist. Die entsetzlichsten Angstmittel müssen hier Dienste thun, so lange noch keine milderen wirken wollen und jene doppelte Art der Erhaltung sich nicht anders erreichen lässt (zu ihren allerstärksten gehört die Erfi ndung eines Jenseits mit einer ewigen Hölle). Weitere Stufen der Moral, und also Mittel zum bezeichneten Zwecke sind die Befehle eines Gottes (wie das mosaische Gesetz) ; noch weitere und höhere die Befehle eines absoluten Pflichtbegriffs mit dem „du sollst“, – Alles noch ziemlich grob zugehauene, aber b r e it e Stufen, weil die Menschen auf die feineren, schmäleren, ihren Fuss noch nicht zu setzen wissen. Dann kommt eine Moral der Ne i g u n g , des G e s c h m ac k s , endlich die der | E i n s ic ht ,  – welche über alle illusionären Motive der Moral hinaus ist, aber sich klar gemacht hat, wie die Menschheit lange Zeiten hindurch keine anderen haben durfte. 45. Mor a l d e s M it le id e n s i m Mu nd e d e r Un m ä s s i g e n . – Alle Die, welche sich selber nicht genug in der Gewalt haben und die Moralität nicht als fortwährende, im Grossen und

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Kleinsten geübte Selbstbeherrschung und Selbstüberwindung kennen, werden unwillkürlich zu Verherrlichern der guten, mitleidigen, wohlwollenden Regungen, jener instinctiven Moralität, welche keinen Kopf hat, sondern nur aus Herz und hülfreichen Händen zu bestehen scheint. Ja es ist in ihrem Interesse, eine Moralität der Vernunft zu verdächtigen und jene andere zur alleinigen zu machen. 46. K loa ken der Seele. – Auch die Seele muss ihre bestimmten Kloaken haben, wohin sie ihren Unrath abfl iessen lässt : dazu dienen Personen, Verhältnisse, Stände oder das Vaterland oder die Welt oder endlich – für die ganz Hoff ährtigen (ich meine unsere lieben modernen „Pessimisten“) – der liebe Gott. 47. Ei ne A r t von Ru he u nd B e sc h au l ic h k eit. – Hüte dich, dass deine Ruhe und Beschaulichkeit nicht der des Hundes vor einem Fleischerladen gleicht, den die Furcht nicht vorwärts und die Begierde nicht rückwärts gehen lässt : und der die Augen aufsperrt, als ob sie Münder wären. | 48. Da s Verbot oh ne Gr ü nde. – Ein Verbot, dessen Grund wir nicht verstehen oder zugeben, ist nicht nur für den Trotzkopf, sondern auch für den Erkenntnissdurstigen fast ein Geheiss : man lässt es auf den Versuch ankommen, um so zu erfahren, we s s halb das Verbot gegeben ist. Moralische Verbote, wie die des Dekalogs, passen nur für Zeitalter der unterworfenen Vernunft : jetzt würde ein Verbot „du sollst nicht tödten“, „du sollst nicht ehebrechen“, ohne Gründe hingestellt, eher eine schädliche, als eine nützliche Wirkung haben.

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49. C h a r a k t e r b i ld . – Was ist das für ein Mensch, der von sich sagen kann : „ich verachte sehr leicht, aber hasse nie. An jedem Menschen fi nde ich sofort Etwas heraus, das zu ehren ist und dessentwegen ich ihn ehre ; die sogenannten liebenswürdigen Eigenschaften ziehen mich wenig an.“ 50. M it le id e n u nd Ve r ac ht u n g. – Mitleiden äussern wird als ein Zeichen der Verachtung empfunden, weil man ersichtlich aufgehört hat, ein Gegenstand der F u r c ht zu sein, sobald Einem Mitleiden erwiesen wird. Man ist unter das Niveau des Gleichgewichts hinabgesunken, während schon jenes  der menschlichen Eitelkeit nicht genugthut, sondern erst das Hervorragen und Furchteinflössen der Seele das erwünschteste aller Gefühle giebt. Desshalb ist es ein Problem, wie die S c h ä t z u n g des Mitleides aufgekommen ist, ebenso wie erklärt werden muss, warum jetzt der Uneigennützige gelobt wird : ursprünglich wird er ve r a c h t e t oder als tückisch g e f ü r c ht et . | 51. K le i n s e i n k ö n ne n . – Man muss den Blumen, Gräsern und Schmetterlingen auch noch so nahe sein wie ein Kind, das nicht viel über sie hinwegreicht. Wir Aelteren dagegen sind über sie hinausgewachsen und müssen uns zu ihnen herablassen ; ich meine, die Gräser h a s s e n uns, wenn wir unsere Liebe für sie bekennen. – Wer an a l le m Guten Theil haben will, muss auch zu Stunden klein zu sein verstehen. 52. I n ha lt des Gew i ssen s. – Der Inhalt unseres Gewissens ist Alles, was in den Jahren der Kindheit von uns ohne Grund regelmässig g e f or d e r t wurde, durch Personen, die wir verehrten oder fürchteten. Vom Gewissen aus wird also jenes

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Gefühl des Müssens erregt („dieses muss ich thun, dieses lassen“), welches nicht fragt : wa r u m muss ich ? – In allen Fällen, wo eine Sache mit „weil“ und „warum“ gethan wird, handelt der Mensch oh ne Gewissen ; desshalb aber noch nicht wider dasselbe. – Der Glaube an Autoritäten ist die Quelle des Gewissens : es ist also nicht die Stimme Gottes in der Brust des Menschen, sondern die Stimme einiger Menschen im Menschen. 53. Ueb e r w i ndu n g d e r L e id e n s c h a f t e n . – Der Mensch, der seine Leidenschaften überwunden hat, ist in den Besitz des fruchtbarsten Erdreiches getreten : wie der Colonist, der über die Wälder und Sümpfe Herr geworden ist. Auf dem Boden der bezwungenen Leidenschaften den Samen der guten geistigen Werke s äe n , ist dann die dringende nächste Aufgabe. Die Ueberwindung selber ist nur ein M it t e l , kein Ziel ; wenn sie | nicht so angesehen wird, so wächst schnell allerlei Unkraut und Teufelszeug auf dem leergewordenen fetten Boden auf, und bald geht es auf ihm voller und toller zu, als je vorher. 54. G e s c h ic k z u m D ie ne n . – Alle sogenannten praktischen Menschen haben ein Geschick zum Dienen : das eben macht sie praktisch, sei es für Andere oder für sich selber. Robinson besass noch einen besseren Diener, als Freitag war : das war Crusoe. 55. G e f a h r d e r Spr ac he f ü r d ie g e i s t i g e Fr e i he it . – Jedes Wort ist ein Vorurtheil. 56. G e i s t u n d L a n g e w e i l e .  – Das Sprüchwort : „Der Magyar ist viel zu faul, um sich zu langweilen“, giebt zu denken. Die feinsten und thätigsten Thiere erst sind der Langenweile fähig.  – Ein Vorwurf für einen grossen Dichter wäre

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die L a n g e we i l e G ot t e s am siebenten Tage der Schöpfung. 57. I m Verkeh r m it den T h ieren. – Man kann das Entstehen der Moral in unserem Verhalten gegen die Thiere noch beobachten. Wo Nutzen und Schaden n ic ht in Betracht kommen, haben wir ein Gefühl der völligen Unverantwortlichkeit ; wir tödten und verwunden zum Beispiel Insecten oder lassen sie leben und denken für gewöhnlich gar Nichts dabei. Wir sind so plump, dass schon unsere Artigkeiten gegen Blumen und kleine Thiere fast immer mörderisch sind : was unser Vergnügen an ihnen gar nicht beeinträchtigt. – Es ist heute das Fest der kleinen Thiere, der schwülste Tag des Jahres : es | wimmelt und krabbelt um uns, und wir zerdrücken, ohne es zu wollen, a b e r auc h ohne Acht zu geben, bald hier, bald dort ein Würmchen und gefiedertes Käferchen. – Bringen die Thiere uns Schaden, so erstreben wir auf jede Weise ihre Ve r n ic ht u n g , die Mittel sind oft grausam genug, ohne dass wir diess eigentlich wollen : es ist die Grausamkeit der Gedankenlosigkeit. Nützen sie, so b e ut e n wir sie au s : bis eine feinere Klugheit uns lehrt, dass gewisse Thiere für eine andere Behandlung, nämlich für die der Pflege und Zucht reichlich lohnen. Da erst entsteht Verantwortlichkeit. Gegen das Hausthier wird die Quälerei gemieden ; der eine Mensch empört sich, wenn ein anderer unbarmherzig gegen seine Kuh ist, ganz in Gemässheit der primitiven Gemeinde-Moral, welche den g e me i n s a me n Nutzen in Gefahr sieht, so oft ein Einzelner sich vergeht. Wer in der Gemeinde ein Vergehen wahrnimmt, fürchtet den indirecten Schaden für sich : und wir fürchten für die Güte des Fleisches, des Landbaues und der Verkehrsmittel, wenn wir die Hausthiere nicht gut behandelt sehen. Zudem erweckt der, welcher roh gegen Thiere ist, den Argwohn, auch roh gegen schwache, ungleiche, der Rache unfähige Menschen zu sein ; er gilt als unedel, des fei-

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neren Stolzes ermangelnd. So entsteht ein Ansatz von moralischem Urtheilen und Empfi nden : das Beste thut nun der Aberglaube hinzu. Manche Thiere reizen durch Blicke, Töne und Gebärden den Menschen an, sich in sie h i ne i n z u d ic h t e n , und manche Religionen lehren im Thiere unter Umständen den Wohnsitz von Menschen- und Götterseelen sehen : wesshalb sie überhaupt edlere Vorsicht, ja ehrfürchtige Scheu im Umgange mit den Thieren an|empfehlen. Auch nach dem Verschwinden dieses Aberglaubens wirken die von ihm erweckten Empfi ndungen fort und reifen und blühen aus. – Das Christenthum hat sich bekanntlich in diesem Punkte als arme und zurückbildende Religion bewährt. 58. Neue S c h au s p ie le r. – Es giebt unter den Menschen keine grössere Banalität, als den Tod ; zu zweit im Range steht die Geburt, weil nicht Alle geboren werden, welche doch sterben ; dann folgt die Heirath. Aber diese kleinen abgespielten Tragikomödien werden bei jeder ihrer ungezählten und unzählbaren Auff ührungen immer wieder von neuen Schauspielern dargestellt und hören desshalb nicht auf, interessirte Zuschauer zu haben : während man glauben sollte, dass die gesammte Zuschauerschaft des Erdentheaters sich längst, aus Ueberdruss daran, an allen Bäumen aufgehängt hätte. So viel liegt an neuen Schauspielern, so wenig am Stück. 59. Was i st „obst i nat“ ? – Der kürzeste Weg ist nicht der möglichst gerade, sondern der, bei welchem die günstigsten Winde unsere Segel schwellen : so sagt die Lehre der Schifffahrer. Ihr nicht zu folgen heisst ob s t i n at sein : die Festigkeit des Charakters ist da durch Dummheit verunreinigt.

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60. D a s Wor t „ E it e l k e it“. – Es ist lästig, dass einzelne Worte, deren wir Moralisten schlechterdings nicht entrathen können, schon eine Art Sittencensur in sich tragen, aus jenen Zeiten her, in denen die nächsten | und natürlichsten Regungen des Menschen verketzert wurden. So wird jene Grundüberzeugung, dass wir auf den Wellen der Gesellschaft viel mehr durch Das, was wir g e lt e n , als durch Das, was wir s i nd , gutes Fahrwasser haben oder Schiff bruch leiden – eine Ueberzeugung, die für alles Handeln in Bezug auf die Gesellschaft das Steuerruder sein muss  – mit dem allgemeinsten Worte „Eitelkeit“, „vanitas“ gebrandmarkt, eines der vollsten und inhaltreichsten Dinge mit einem Ausdruck, welcher dasselbe als das eigentlich Leere und Nichtige bezeichnet, etwas Grosses mit einem Deminutivum, ja mit den Federstrichen der Carricatur. Es hilft Nichts, wir müssen solche Worte gebrauchen, aber dabei unser Ohr den Einflüsterungen alter Gewohnheit verschliessen. 61. Tü rken fata l ismus. – Der Türkenfatalismus hat den Grundfehler, dass er den Menschen und das Fatum als zwei geschiedene Dinge einander gegenüberstellt : der Mensch, sagt er, könne dem Fatum widerstreben, es zu vereiteln suchen, aber schliesslich behalte es immer den Sieg ; wesshalb das Vernünftigste sei, zu resigniren oder nach Belieben zu leben. In Wahrheit ist jeder Mensch selber ein Stück Fatum ; wenn er in der angegebenen Weise dem Fatum zu widerstreben meint, so vollzieht sich eben darin auch das Fatum ; der Kampf ist eine Einbildung, aber ebenso jene Resignation in das Fatum ; alle diese Einbildungen sind im Fatum eingeschlossen. – Die Angst, welche die Meisten vor der Lehre der Unfreiheit des Willens haben, ist die Angst vor dem Türkenfatalismus : sie meinen, der Mensch werde schwäch|lich, resignirt und mit gefalteten Händen vor der Zukunft stehen, weil er an ihr

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Nichts zu ändern vermöge : oder aber, er werde seiner vollen Launenhaftigkeit die Zügel schiessen lassen, weil auch durch diese das einmal Bestimmte nicht schlimmer werden könne. Die Thorheiten des Menschen sind ebenso ein Stück Fatum wie seine Klugheiten : auch jene Angst vor dem Glauben an das Fatum ist Fatum. Du selber, armer Aengstlicher, bist die unbezwingliche Moira, welche noch über den Göttern thront, für Alles, was da kommt ; du bist der Segen oder Fluch, und jedenfalls die Fessel, in welcher der Stärkste gebunden liegt ; in dir ist alle Zukunft der Menschen-Welt vorherbestimmt, es hilft dir Nichts, wenn dir vor dir selber graut. 62. A d vo c at d e s Teu f e l s . – „Nur durch eigenen Schaden wird man k lu g , nur durch fremden Schaden wird man g ut“,  – so lautet jene seltsame Philosophie, welche alle Moralität aus dem Mitleiden und alle Intellectualität aus der Isolation des Menschen ableitet : damit ist sie unbewusst die Sachwalterin aller irdischen Schadhaftigkeit. Denn das Mitleiden hat das Leiden nöthig, und die Isolation die Verachtung der Anderen. 63. D ie mor a l i s c he n C h a r a k t e r m a s k e n . – In den Zeiten, da die Charaktermasken der Stände für endgültig fest, gleich den Ständen selber, gelten, werden die Moralisten verführt sein, auch die m o r a l i s c h e n Charaktermasken für absolut zu halten und sie so zu zeichnen. So ist Molière als Zeitgenosse der Gesellschaft Ludwig’s XIV. | verständlich ; in unserer Gesellschaft der Uebergänge und Mittelstufen würde er als ein genialer Pedant erscheinen. 64. Die vor neh mste Tugend. – In der ersten Aera des höheren Menschenthums gilt die Tapferkeit als die vornehmste der

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Tugenden, in der zweiten die Gerechtigkeit, in der dritten die Mässigung, in der vierten die Weisheit. In welcher Aera leben wir ? In welcher lebst du ? 65. Wa s vor he r nöt h i g i s t .  – Ein Mensch, der über seinen Jähzorn, seine Gall- und Rachsucht, seine Wollust nicht Meister werden will und es versucht, irgendworin sonst Meister zu werden, ist so dumm wie der Ackermann, der neben einem Wildbach seine Aecker anlegt, ohne sich gegen ihn zu schützen. 66. Wa s i s t Wa h r he it ? – S c hw a r z e r t (Melanchthon) : „Man predigt oft seinen Glauben, wenn man ihn gerade verloren hat und auf allen Gassen sucht, – und man predigt ihn dann nicht am schlechtesten !“ – Lut he r : Du redest heut’ wahr wie ein Engel, Bruder ! – S c hw a r z e r t : „Aber es ist der Gedanke deiner Feinde, und sie machen auf dich die Nutzanwendung.“ – Lut he r : So war’s eine Lüge aus des Teufels Hintern. 67. Gewoh n heit der Gegensät ze. – Die allgemeine ungenaue Beobachtung sieht in der Natur überall Gegensätze (wie z. B. „warm und kalt“), wo keine Gegensätze, sondern nur Gradverschiedenheiten sind. Diese schlechte | Gewohnheit hat uns verleitet, nun auch noch die innere Natur, die geistig-sitt liche Welt, nach solchen Gegensätzen verstehen und zerlegen zu wollen. Unsäglich viel Schmerzhaftigkeit, Anmaassung, Härte, Entfremdung, Erkältung ist so in die menschliche Empfi ndung hineingekommen, dadurch dass man Gegensätze an Stelle der Uebergänge zu sehen meinte. 68. O b m a n ve r g eb e n k ö n ne ? – Wie k a n n man ihnen überhaupt vergeben, wenn sie nicht wissen, was sie thun ! Man h at

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gar Nichts zu vergeben. – Aber we i s s ein Mensch jemals völl i g , was er thut ? Und wenn diess immer mindestens f r a gl ic h bleibt, so haben also die Menschen einander nie Etwas zu vergeben, und Gnade-üben ist für den Vernünftigsten ein unmögliches Ding. Zu allerletzt : we n n die Uebelthäter wirklich gewusst hätten, was sie thaten, – so würden wir doch nur dann ein Recht zur Ve r g ebu n g haben, wenn wir ein Recht zur Beschuldigung und Strafe hätten. Diess aber haben wir nicht. 69. H a bit ue l le S c h a m . – Warum empfi nden wir Scham, wenn uns etwas Gutes und Auszeichnendes erwiesen wird, das wir, wie man sagt, „nicht verdient haben“ ? Es scheint uns dabei, dass wir uns in ein Gebiet eingedrängt haben, wo wir nicht hingehören, wo wir ausgeschlossen sein sollten, gleichsam in ein Heiliges oder Allerheiligstes, welches für unsern Fuss unbetretbar ist. Durch den Irrthum Anderer sind wir doch hineingelangt : und nun überwältigt uns theils Furcht, theils Ehrfurcht, theils Ueberraschung, wir wissen nicht, ob wir fl iehen, ob wir des gesegneten Augenblickes und | seiner Gnaden-Vortheile geniessen sollen. Bei aller Scham ist ein Mysterium, welches durch uns entweiht oder in der Gefahr der Entweihung zu sein scheint ; alle G n a d e erzeugt Scham. – Erwägt man aber, dass wir überhaupt niemals Etwas „verdient haben“, so wird, im Fall man dieser Ansicht innerhalb einer christlichen Gesammt-Betrachtung der Dinge sich hingiebt, das Gefühl der S c h a m h a b it ue l l : weil einem Solchen Gott f or t w ä h r e nd zu segnen und Gnade zu üben scheint. Abgesehen von dieser christlichen Auslegung, wäre aber auch für den völlig gottlosen Weisen, der an der gründlichen Unverantwortlichkeit und Unverdienstlichkeit alles Wirkens und Wesens festhält, jener Zustand der h a b it u e l l e n S c h a m möglich : wenn man ihn behandelt, a l s o b er diess und jenes verdient habe, so scheint er sich in eine höhere Ordnung

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von Wesen eingedrängt zu haben, welche überhaupt Etwas ve r d ie ne n , welche frei sind und ihres eigenen Wollens und Könnens Verantwortung wirklich zu tragen vermögen. Wer zu ihm sagt „du hast es verdient“, scheint ihm zuzurufen „du bist kein Mensch, sondern ein Gott“. 70. D e r u n g e s c h ic k t e s t e E r z ie he r.  – Bei Diesem sind auf dem Boden seines Widerspruchsgeistes alle seine wirklichen Tugenden angepflanzt, bei Jenem auf seiner Unfähigkeit, Nein zu sagen, also auf seinem Zustimmungsgeiste ; ein Dritter hat alle seine Moralität aus seinem einsamen Stolze, ein Vierter die seine aus seinem starken Geselligkeitstriebe aufwachsen lassen. Gesetzt nun, durch ungeschickte Erzieher und Zufälle wären bei diesen Vieren die Samenkörner der Tugenden nicht auf den Boden ihrer Natur ausgesäet worden, | welcher bei ihnen die meiste und fetteste Erdkrume hat : so wären sie ohne Moralität und schwache unerfreuliche Menschen. Und wer würde gerade der ungeschickteste aller Erzieher und das böse Verhängniss dieser vier Menschen gewesen sein ? Der moralische Fanatiker, welcher meint, dass das Gute nur aus dem Guten, auf dem Guten wachsen könne. 71. Sc h reiba r t der Vorsic ht. – A : Aber, wenn A l le diess wüssten, so würde es den Meisten schädlich sein. Du selber nennst diese Meinungen gefährlich für die Gefährdeten, und doch theilst du sie öffentlich mit ? B : Ich schreibe so, dass weder der Pöbel, noch die populi, noch die Parteien aller Art mich lesen mögen. Folglich werden diese Meinungen nie öffentliche sein. A : Aber wie schreibst du denn ? B : Weder nützlich noch angenehm – für die genannten Drei.

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72. G öt t l ic he M i s s io n ä r e. – Auch Sokrates fühlt sich als göttlicher Missionär : aber ich weiss nicht, was für ein Anflug von attischer Ironie und Lust am Spaassen auch selbst hierbei noch zu spüren ist, wodurch jener fatale und anmaassende Begriff gemildert wird. Er redet ohne Salbung davon : seine Bilder, von der Bremse und dem Pferd, sind schlicht und unpriesterlich, und die eigentlich religiöse Aufgabe, wie er sie sich gestellt fühlt, den Gott auf hunderterlei Weise au f d ie P r o b e z u s t e l le n , o b er die Wahrheit geredet habe, lässt auf eine kühne und freimüthige Gebärde schliessen, mit der hier der Missionär seinem Gotte an die Seite tritt. Jenes Auf-die-ProbeStellen des Gottes ist einer der feinsten | Compromisse zwischen Frömmigkeit und Freiheit des Geistes, welche je erdacht worden sind. – Jetzt haben wir auch diesen Compromiss nicht mehr nöthig. 73. E h rl ic he s M a le r t hu m . – Raffael, dem viel an der Kirche (sofern sie zahlungsfähig war), aber wenig, gleich den Besten seiner Zeit, an den Gegenständen des kirchlichen Glaubens gelegen war, ist der anspruchsvollen ekstatischen Frömmigkeit mancher seiner Besteller nicht einen Schritt weit nachgegangen : er hat seine Ehrlichkeit bewahrt, selbst in jenem Ausnahme-Bild, das ursprünglich für eine Processions-Fahne bestimmt war, in der Sixtinischen Madonna. Hier wollte er einmal eine Vision malen : aber eine solche, wie sie edle junge Männer ohne „Glauben“ auc h haben dürfen und haben werden, die Vision der zukünftigen Gattin, eines klugen, seelischvornehmen, schweigsamen und sehr schönen Weibes, das ihren Erstgeborenen im Arme trägt. Mögen die Alten, die an das Beten und Anbeten gewöhnt sind, hier, gleich dem ehrwürdigen Greise zur Linken, etwas Uebermenschliches verehren : wir Jüngeren wollen es, so scheint Raffael uns zuzurufen, mit dem schönen Mädchen zur Rechten halten, welche mit ihrem

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auffordernden, durchaus nicht devoten Blicke den Betrachtern des Bildes sagt : „Nicht wahr ? diese Mutter und ihr Kind – das ist ein angenehmer einladender Anblick ?“ Diess Gesicht und dieser Blick strahlt von der Freude in den Gesichtern der Betrachter wieder ; der Künstler, der diess Alles erfand, geniesst sich auf diese Weise selber und giebt seine eigene Freude zur Freude der Kunst-Empfangenden hinzu. – In Betreff des „heilandhaften“ Ausdrucks im | Kopfe eines Kindes hat Raffael, der Ehrliche, der keinen Seelenzustand malen wollte, an dessen Existenz er nicht glaubte, seine g l äu b i g e n Betrachter auf eine artige Weise überlistet ; er malte jenes Naturspiel, das nicht selten vorkommt, das Männerauge im Kindskopfe, und zwar das Auge des wackeren hülfereichen Mannes, der einen Nothstand sieht. Zu diesem Auge gehört ein Bart ; dass dieser fehlt und dass zwei verschiedene Lebensalter hier aus Einem Gesichte sprechen, diess ist die angenehme Paradoxie, welche die Gläubigen sich im Sinne ihres Wunderglaubens gedeutet haben : so wie es der Künstler von ihrer Kunst des Deutens und Hineinlegens auch erwarten durfte. 74. D a s G eb et . – Nur unter zwei Voraussetzungen hatte alles Beten  – jene noch nicht völlig erloschene Sitte älterer Zeiten – einen Sinn : es müsste möglich sein, die Gottheit zu bestimmen oder umzustimmen, und der Betende müsste selber am Besten wissen, was ihm noth thue, was für ihn wahrhaft wünschenswerth sei. Beide Voraussetzungen, in allen anderen Religionen angenommen und hergebracht, wurden aber gerade vom Christenthum geleugnet ; wenn es trotzdem das Gebet beibehielt, bei seinem Glauben an eine allweise und allvorsorgliche Vernunft in Gott, durch welche eben diess Gebet im Grunde sinnlos, ja gotteslästerlich wird,  – so zeigte es auch darin wieder seine bewunderungswürdige Schlangen-Klugheit ; denn ein klares Gebot „du sollst nicht beten“

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hätte die Christen durch die Langeweile zum Unchristenthum geführt. Im christlichen ora et labora vertritt nämlich das ora die Stelle des Ve r g nü g e n s : und was hätten ohne das ora jene Un|glücklichen beginnen sollen, die sich das labora versagten, die Heiligen ! – aber mit Gott sich unterhalten, ihm allerlei angenehme Dinge abverlangen, sich selber ein Wenig darüber lustig machen, wie man so thöricht sein könne, noch Wünsche zu haben, trotz einem so vortrefflichen Vater, – das war für Heilige eine sehr gute Erfi ndung. 75. E i ne he i l i g e Lü g e. – Die Lüge, mit der auf den Lippen Arria starb (Paete, non dolet), verdunkelt alle Wahrheiten, die je von Sterbenden gesprochen wurden. Es ist die einzige heilige Lü g e, die berühmt geworden ist ; während der Geruch der Heiligkeit sonst nur an I r r t hü me r n haften blieb. 76. D e r nöt h i g s t e A p o s t e l . – Unter zwölf Aposteln muss immer einer hart wie Stein sein, damit auf ihm die neue Kirche gebaut werden könne. 77. Wa s i st d a s Verg ä ng l ic here, der Gei st oder der Kör per ? – In den rechtlichen, moralischen und religiösen Dingen hat das Aeusserlichste, das Anschauliche, also der Brauch, die Gebärde, die Ceremonie am meisten D aue r : sie ist der L e i b, zu dem immer eine neue S e e le hinzukommt. Der Cultus wird wie ein fester Wort-Text immer neu ausgedeutet ; die Begriffe und Empfi ndungen sind das Flüssige, die Sitten das Harte. 78. Der Glaube an d ie K ra n k heit, a ls K ra n k heit. – Erst das Christenthum hat den Teufel an die Wand | der Welt gemalt ; erst das Christenthum hat die Sünde in die Welt gebracht.

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Der Glaube an die Heilmittel, welche es dagegen anbot, ist nun allmählich bis in die tiefsten Wurzeln hinein erschüttert : aber immer noch besteht der G l au b e a n d ie K r a n k he it , welchen es gelehrt und verbreitet hat. 79. R e d e u nd S c h r i f t d e r R e l i g iö s e n . – Wenn der Stil und Gesammtausdruck des Priesters, des redenden und schreibenden, nicht schon den r e l i g iö s e n Menschen ankündigt, so braucht man seine Meinungen über Religion und zu Gunsten derselben nicht mehr ernst zu nehmen. Sie sind für ihren Besitzer selber k r a f t lo s gewesen, wenn er, wie sein Stil verräth, Ironie, Anmaassung, Bosheit, Hass und alle Wirbel und Wechsel der Stimmungen besitzt, ganz wie der unreligiöseste Mensch ; – um wieviel kraftloser werden sie erst für seine Hörer und Leser sein ! Kurz, er wird dienen, dieselben unreligiöser zu machen. 80. G e f a h r i n d e r Pe r s o n . – Je mehr Gott als Person für sich galt, um so weniger ist man ihm treu gewesen. Die Menschen sind ihren Gedankenbildern viel anhänglicher, als ihren geliebtesten Geliebten : desshalb opfern sie sich für den Staat, die Kirche, und auch für Gott – sofern er eben i h r Erzeugniss, i h r G e d a n k e bleibt und nicht gar zu persönlich genommen wird. Im letzteren Falle hadern sie fast immer mit ihm : selbst dem Frömmsten entfuhr ja die bittere Rede „mein Gott, warum hast du mich verlassen !“ 81. D ie we lt l ic he G er ec ht i g k eit. – Es ist möglich, | die weltliche Gerechtigkeit aus den Angeln zu heben – mit der Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit und Unschuld Jedermannes : und es ist schon ein Versuch in gleicher Richtung gemacht worden, gerade auf Grund der entgegengesetzten

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Lehre von der völligen Verantwortlichkeit und Verschuldung Jedermannes. Der Stifter des Christenthums war es, der die weltliche Gerechtigkeit aufheben und das Richten und Strafen aus der Welt schaffen wollte. Denn er verstand alle Schuld als „Sünde“, das heisst als Frevel a n G ot t und n ic ht als Frevel an der Welt, andererseits hielt er Jedermann im grössten Maassstabe und fast in jeder Hinsicht für einen Sünder. Die Schuldigen sollen aber nicht die Richter ihres Gleichen sein : so urtheilte seine Billigkeit. A l le Richter der weltlichen Gerechtigkeit waren also in seinen Augen so schuldig wie die von ihnen Verurtheilten, und ihre Miene der Schuldlosigkeit schien ihm heuchlerisch und pharisäerhaft. Ueberdiess sah er auf die Motive der Handlungen, und nicht auf den Erfolg, und hielt für die Beurtheilung der Motive nur einen Einzigen für scharfsichtig genug : sich selber (oder wie er sich ausdrückte : Gott). 82. E i ne A f f ec t at ion b e i m A b s c h ie d e. – Wer sich von einer Partei oder Religion trennen will, meint, es sei nun für ihn nöthig, sie zu widerlegen. Aber diess ist sehr hochmüthig gedacht. Nöthig ist nur, dass er klar einsieht, welche Klammern ihn bisher an diese Partei oder Religion anhielten und dass sie es nicht mehr thun, was für Absichten ihn dahin getrieben haben und dass sie jetzt anderswohin treiben. Wir sind n ic ht aus s t r e n g e n E r k e n nt n i s s g r ü nd e n auf die Seite jener | Partei oder Religion getreten : wir sollen diess, wenn wir von ihr scheiden, auch nicht a f f e c t i r e n . 83. He i l a nd u nd A r z t . – Der Stifter des Christenthums war, wie es sich von selber versteht, als Kenner der menschlichen Seele nicht ohne die grössten Mängel und Voreingenommenheiten und als Arzt der Seele dem so anrüchigen und laienhaften Glauben an eine Universalmedicin ergeben. Er gleicht

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in seiner Methode mitunter jenem Zahnarzte, der jeden Schmerz durch Ausreissen des Zahnes heilen will ; so zum Beispiel indem er gegen die Sinnlichkeit mit dem Rathschlage ankämpft : „Wenn dich dein Auge ärgert, so reisse es aus.“ – Aber es bleibt doch noch der Unterschied, dass jener Zahnarzt wenigstens sein Ziel erreicht, die Schmerzlosigkeit des Patienten ; freilich auf so plumpe Art, dass er lächerlich wird : während der Christ, der jenem Rathschlage folgt und seine Sinnlichkeit ertödtet zu haben glaubt, sich täuscht : sie lebt auf eine unheimliche vampyrische Art fort und quält ihn in widerlichen Vermummungen. 84. D ie G e f a n g e ne n . – Eines Morgens traten die Gefangenen in den Arbeitshof ; der Wärter fehlte. Die Einen von ihnen giengen, wie es ihre Art war, sofort an die Arbeit, Andere standen müssig und blickten trotzig umher. Da trat Einer vor und sagte laut : „Arbeitet, so viel ihr wollt oder thut Nichts : es ist Alles gleich. Eure geheimen Anschläge sind an’s Licht gekommen, der Gefängnisswärter hat euch neulich belauscht und will in den nächsten Tagen ein fürchterliches Gericht über euch ergehen lassen. Ihr kennt ihn, er ist hart und | nachträgerischen Sinnes. Nun aber merkt auf : ihr habt mich bisher verkannt ; ich bin nicht, was ich scheine, sondern viel mehr : ich bin der Sohn des Gefängnisswärters und gelte Alles bei ihm. Ich kann euch retten, ich will euch retten ; aber, wohlgemerkt, nur Diejenigen von euch, welche mir g l au b e n , dass ich der Sohn des Gefängnisswärters bin ; die Uebrigen mögen die Früchte ihres Unglaubens ernten.“ Nun, sagte nach einigem Schweigen ein älterer Gefangener, was kann dir daran gelegen sein, ob wir es dir glauben oder nicht glauben ? Bist du wirklich der Sohn und vermagst du Das, was du sagst, so lege ein gutes Wort für uns Alle ein : es wäre wirklich recht gutmüthig von dir. Das Gerede von Glauben und Unglauben

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aber lass’ bei Seite ! ‚Und, rief ein jüngerer Mann dazwischen, ich glaub’ es ihm auch nicht : er hat sich nur Etwas in den Kopf gesetzt. Ich wette, in acht Tagen befi nden wir uns gerade noch so hier wie heute, und der Gefängnisswärter weiss N ic ht s‘. „Und wenn er Etwas gewusst hat, so weiss er’s nicht mehr“, sagte der Letzte der Gefangenen, der jetzt erst in den Hof hinabkam ; „der Gefängnisswärter ist eben plötzlich gestorben“. – Holla, schrieen Mehrere durcheinander, holla ! Herr Sohn, Herr Sohn, wie steht es mit der Erbschaft ? Sind wir vielleicht jetzt d e i ne Gefangenen ? – „Ich habe es euch gesagt, entgegnete der Angeredete mild, ich werde Jeden freilassen, der an mich glaubt, so gewiss als mein Vater noch lebt“. – Die Gefangenen lachten nicht, zuckten aber mit den Achseln und liessen ihn stehen. 85. D e r Ve r f ol g e r G ot t e s . – Paulus hat den Gedanken ausgedacht, Calvin ihn nachgedacht, dass Un|zähligen seit Ewigkeiten die Verdammniss zuerkannt ist und dass dieser schöne Weltenplan so eingerichtet wurde, damit die Herrlichkeit Gottes sich daran offenbare ; Himmel und Hölle und Menschheit sollen also da sein, – um die Eitelkeit Gottes zu befriedigen ! Welche grausame und unersättliche Eitelkeit muss in der Seele Dessen geflackert haben, der so Etwas sich zuerst oder zuzweit ausdachte ! – Paulus ist also doch Saulus geblieben, – d e r Ve r f ol g e r G ot t e s . 86. S ok r at e s . – Wenn Alles gut geht, wird die Zeit kommen, da man, um sich sittlich-vernünftig zu fördern, lieber die Memorabilien des Sokrates in die Hand nimmt, als die Bibel, und wo Montaigne und Horaz als Vorläufer und Wegweiser zum Verständniss des einfachsten und unvergänglichsten Mittler-Weisen, des Sokrates, benutzt werden. Zu ihm führen die Strassen der verschiedensten philosophischen Lebensweisen zurück, welche im Grunde die Lebensweisen der verschiedenen Tem-

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peramente sind, festgestellt durch Vernunft und Gewohnheit und allesammt mit ihrer Spitze hin nach der Freude am Leben und am eignen Selbst gerichtet ; woraus man schliessen möchte, dass das Eigenthümlichste an Sokrates ein Antheilhaben an allen Temperamenten gewesen ist. – Vor dem Stifter des Christenthums hat Sokrates die fröhliche Art des Ernstes und jene We i s h e i t vol le r S c h e l m e n s t r e i c h e voraus, welche den besten Seelenzustand des Menschen ausmacht. Ueberdiess hatte er den grösseren Verstand. 87. Gut sc h reiben ler nen. – Die Zeit des gut-Redens ist vorbei, weil die Zeit der Stadt-Culturen vorbei ist. | Die letzte Gränze, welche Aristoteles der grossen Stadt erlaubte – es müsse der Herold noch im Stande sein, sich der ganzen versammelten Gemeinde vernehmbar zu machen –, diese Gränze kümmert uns so wenig, als uns überhaupt noch Stadtgemeinden kümmern, uns, die wir selbst über die Völker hinweg verstanden werden wollen. Desshalb muss jetzt ein Jeder, der gut europäisch gesinnt ist, g ut u nd i m mer besser sc h reiben lernen : es hilft Nichts, und wenn er selbst in Deutschland geboren ist, wo man das schlecht-Schreiben als nationales Vorrecht behandelt. Besser schreiben aber heisst zugleich auch besser denken ; immer Mittheilenswertheres erfi nden und es wirklich mittheilen können ; übersetzbar werden für die Sprachen der Nachbarn ; zugänglich sich dem Verständnisse jener Ausländer machen, welche unsere Sprache lernen ; dahin wirken, dass alles Gute Gemeingut werde und den Freien Alles frei stehe ; endlich, jenen jetzt noch so fernen Zustand der Dinge vor b e r e it e n , wo den guten Europäern ihre grosse Aufgabe in die Hände fällt : die Leitung und Ueberwachung der gesammten Erdcultur. – Wer das Gegentheil predigt, sich n ic ht um das gut-Schreiben und gut-Lesen zu kümmern  – beide Tugenden wachsen mit einander und nehmen mit einander

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ab –, der zeigt in der That den Völkern einen Weg, wie sie immer noch mehr n at io n a l werden können : er vermehrt die Krankheit dieses Jahrhunderts und ist ein Feind der guten Europäer, ein Feind der freien Geister. 88. D ie L e h r e vom b e s t e n St i le. – Die Lehre vom Stil kann einmal die Lehre sein, den Ausdruck zu fi nden, vermöge dessen man jed e Stimmung auf den Leser und | Hörer überträgt ; sodann die Lehre, den Ausdruck für die wünschenswertheste Stimmung eines Menschen zu fi nden, deren Mittheilung und Uebertragung also auch am meisten zu wünschen ist : für die Stimmung des von Herzensgrund bewegten, geistig freudigen, hellen und aufrichtigen Menschen, der die Leidenschaften überwunden hat. Diess wird die Lehre vom besten Stile sein : er entspricht dem guten Menschen. 89. Au f d e n Ga n g Ac ht g eb e n . – Der Gang der Sätze zeigt, ob der Autor ermüdet ist ; der einzelne Ausdruck kann dessenungeachtet immer noch stark und gut sein, weil er für sich und früher gefunden wurde : damals als der Gedanke dem Autor zuerst aufleuchtete. So ist es häufig bei Goethe, der zu oft dictirte, wenn er müde war. 90. S c ho n u nd no c h . – A : „Die deutsche Prosa ist noch sehr jung : Goethe meint, dass Wieland ihr Vater sei.“ B : So jung, und schon so hässlich ! C : „Aber – soviel mir bekannt, schrieb schon der Bischof Ulfi las deutsche Prosa ; sie ist also gegen fünfzehnhundert Jahre alt.“ B : So alt, und noch so hässlich ! 91. Or ig i na l-deutsc h. – Die deutsche Prosa, welche in der That nicht nach einem Muster gebildet ist und wohl als originales

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Erzeugniss des deutschen Geschmacks zu gelten hat, dürfte den eifrigen Anwälten einer zukünftigen originalen deutschen Cultur einen Fingerzeig geben, wie etwa, ohne Nachahmung von Mustern, eine wirklich deutsche Tracht, eine deutsche Geselligkeit, eine deutsche Zimmereinrichtung, ein deutsches Mittagsessen aussehen werde. – Jemand, der längere Zeit über | diese Aussichten nachgedacht hatte, rief endlich in vollem Schrecken aus : „Aber, um des Himmels willen, vielleicht h a b e n wir schon diese originale Cultur, – man spricht nur nicht gerne davon !“ 92. Verbotene Bücher. – Nie Etwas lesen, was jene arroganten Vielwisser und Wirrköpfe schreiben, welche die abscheulichste Unart, die der logischen Paradoxie, haben : sie wenden die log i s c he n Formen gerade dort an, wo Alles im Grunde frech improvisirt und in die Luft gebaut ist. („Also“ soll bei ihnen heissen „du Esel von Leser, für dich giebt es diess „also“ nicht, – wohl aber für mich“ – worauf die Antwort lautet : „du Esel von Schreiber, wozu schreibst du denn ?“) 93. G e i s t z e i g e n .  – Jeder, der seinen Geist zeigen will, lässt merken, dass er auch reichlich vom Gegentheil hat. Jene Unart geistreicher Franzosen, ihren besten Einfällen einen Zug von dédain beizugeben, hat ihren Ursprung in der Absicht, für reicher zu gelten, als sie sind : sie wollen lässig schenken, gleichsam ermüdet vom beständigen Spenden aus übervollen Schatzhäusern. 94. D eut s c he u nd f r a n z ö s i s c he L it t e r at u r. – Das Unglück der deutschen und französischen Litteratur der letzten hundert Jahre liegt darin, dass die Deutschen zu zeitig au s der Schule der Franzosen gelaufen sind – und die Franzosen, späterhin, zu zeitig i n die Schule der Deutschen.

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95. Un s e r e P r o s a . – Keines der jetzigen Culturvölker hat eine so schlechte Prosa wie das deutsche ; | und wenn geistreiche und verwöhnte Franzosen sagen : es g iebt keine deutsche Prosa,  – so dürfte man eigentlich nicht böse werden, da es artiger gemeint ist, als wir’s verdienen. Sucht man nach den Gründen, so kommt man zuletzt zu dem seltsamen Ergebniss, dass d e r D eut s c he nu r d ie i m pr ov i s i r t e P r o s a k e n nt und von einer anderen gar keinen Begriff hat. Es klingt ihm schier unbegreiflich, wenn ein Italiäner sagt, dass Prosa gerade um soviel schwerer sei als Poesie, um wieviel die Darstellung der nackten Schönheit für den Bildhauer schwerer sei, als die der bekleideten Schönheit. Um Vers, Bild, Rhythmus und Reim hat man sich redlich zu bemühen, – das begreift auch der Deutsche und ist nicht geneigt, der Stegreifdichtung einen besonders hohen Werth zuzumessen. Aber an einer Seite Prosa wie an einer Bildsäule arbeiten ? – es ist ihm, als ob man ihm Etwas aus dem Fabelland vorerzählte. 96. D er g r o s s e St i l. – Der grosse Stil entsteht, wenn das Schöne den Sieg über das Ungeheure davonträgt. 97. Au s we ic he n . – Man weiss nicht eher, worin bei ausgezeichneten Geistern das Feine ihres Ausdrucks, ihrer Wendung liegt, wenn man nicht sagen kann, auf welches Wort jeder mittelmässige Schriftsteller beim Ausdrücken der selben Sache unvermeidlich gerathen sein würde. Alle grossen Artisten zeigen sich beim Lenken ihres Fuhrwerks zum Ausweichen, zum Entgleisen geneigt, – doch nicht zum Umfallen. |

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98. Et wa s w ie Brod.  – Brod neutralisirt den Geschmack anderer Speisen, wischt ihn weg ; desshalb gehört es zu jeder längeren Mahlzeit. In allen Kunstwerken muss es Etwas wie Brod geben, damit es verschiedene Wirkungen in ihnen geben könne : welche, unmittelbar und ohne ein solches zeitweiliges Ausruhen und Pausiren aufeinanderfolgend, schnell erschöpfen und Widerwillen machen würden, so dass eine l ä n g e r e Mahlzeit der Kunst unmöglich wäre. 99. Je a n Pau l. – Jean Paul wusste sehr viel, aber hatte keine Wissenschaft, verstand sich auf allerlei Kunstgriffe in den Künsten, aber hatte keine Kunst, fand beinahe Nichts ungeniessbar, aber hatte keinen Geschmack, besass Gefühl und Ernst, goss aber, wenn er davon zu kosten gab, eine widerliche Thränenbrühe darüber, ja er hatte Witz, – aber leider für seinen Heisshunger darnach viel zu wenig : wesshalb er den Leser gerade durch seine Witzlosigkeit zur Verzweiflung treibt. Im Ganzen war er das bunte starkriechende Unkraut, welches über Nacht auf den zarten Fruchtfeldern Schiller’s und Goethe’s aufschoss ; er war ein bequemer guter Mensch, und doch ein Verhängniss, – ein Verhängniss im Schlafrock. 100. Auc h d e n G e g e n s at z z u s c h mec k e n w i s s e n . – Um ein Werk der Vergangenheit so zu geniessen, wie es seine Zeitgenossen empfanden, muss man den damals herrschenden Geschmack, gegen den es sich a bhob, auf der Zunge haben. | 101. We i n g e i s t-A ut or e n .  – Manche Schriftsteller sind weder Geist noch Wein, aber Weingeist : sie können in Flammen gerathen und geben dann Wärme.

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102. Der Mittler-Sinn. – Der Sinn des Geschmacks, als der wahre Mittler-Sinn, hat die anderen Sinne oft zu seinen Ansichten der Dinge überredet und ihm seine Gesetze und Gewohnheiten eingegeben. Man kann bei Tische über die feinsten Geheimnisse der Künste Aufschlüsse erhalten : man beachte, was schmeckt, wann es schmeckt, wonach und wie lange es schmeckt. 103. L e s s i n g. – Lessing hat eine ächt französische Tugend und ist überhaupt als Schriftsteller bei den Franzosen am fleissigsten in die Schule gegangen : er versteht seine Dinge im Schauladen gut zu ordnen und aufzustellen. Ohne diese wirkliche K u n s t würden seine Gedanken, so wie deren Gegenstände, ziemlich im Dunkel geblieben sein, und ohne dass die allgemeine Einbusse gross wäre. An seiner K u n s t haben aber Viele gelernt (namentlich die letzten Generationen deutscher Gelehrten) und Unzählige sich erfreut. – Freilich hätten jene Lernenden nicht nöthig gehabt, wie so oft geschehen ist, ihm auch seine unangenehme Ton-Manier, in ihrer Mischung von Zankteufelei und Biederkeit, abzulernen. Ueber den „Lyriker“ Lessing ist man jetzt einmüthig : über den Dramatiker wird man es werden. – 104. Une r w ü n s c ht e L e s e r. – Wie quälen den Autor jene braven Leser mit den dicklichten ungeschickten | Seelen, welche immer, wenn sie woran anstossen, auch umfallen und sich jedesmal dabei wehe thun. 105. D ic ht e r - G e d a n k e n . – Die wirklichen Gedanken gehen bei wirklichen Dichtern alle verschleiert einher, wie die Aegypterinnen : nur das tiefe Au g e des Gedankens blickt frei über den Schleier hinweg. – Dichter-Gedanken sind im Durchschnitt

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nicht so viel werth als sie gelten : man bezahlt eben für den Schleier und die eigene Neugierde mit. 106. Schreibt einfach und nützlich. – Uebergänge, Ausführungen, Farbenspiele des Affects, – Alles das schenken wir dem Autor, weil wir diess mitbringen und seinem Buche zu Gute kommen lassen, falls er selber uns Etwas zu Gute thut. 107. W ie l a nd . – Wieland hat besser, als irgend Jemand, deutsch geschrieben und dabei sein rechtes meisterliches Genügen und Ungenügen gehabt (seine Uebersetzungen der Briefe Cicero’s und des Lucian sind die besten deutschen Uebersetzungen) ; aber seine Gedanken geben uns Nichts mehr zu denken. Wir vertragen seine heitern Moralitäten eben so wenig wie seine heiteren Immoralitäten : beide gehören so gut zu einander. Die Menschen, die an ihnen ihre Freude hatten, waren doch wohl im Grunde bessere Menschen als wir, – aber auch um ein gut Theil schwerfälliger, denen ein solcher Schriftsteller eben not h t h at . – G o et he that den Deutschen nicht noth, daher sie auch von ihm keinen Gebrauch zu machen wissen. Man sehe sich die besten unserer Staatsmänner | und Künstler daraufhin an : sie alle haben Goethe nicht zum Erzieher gehabt, – nicht haben können. 108. S e lt e ne Fe s t e. – Körnige Gedrängtheit, Ruhe und Reife, – wo du diese Eigenschaften bei einem Autor fi ndest, da mache Halt und feiere ein langes Fest mitten in der Wüste : es wird dir lange nicht wieder so wohl werden.

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109. D e r S c h a t z d e r d e u t s c h e n P r o s a .  – Wenn man von Goethe’s Schriften absieht und namentlich von Goethe’s Unterhaltungen mit Eckermann, dem besten deutschen Buche, das es giebt : was bleibt eigentlich von der deutschen ProsaLitteratur übrig, das es verdiente, wieder und wieder gelesen zu werden ? Lichtenberg’s Aphorismen, das erste Buch von Jung-Stilling’s Lebensgeschichte, Adalbert Stifter’s Nachsommer und Gottfried Keller’s Leute von Seldwyla, – und damit wird es einstweilen am Ende sein. 110. S c h r e i b s t i l u nd S p r e c h s t i l . – Die Kunst, zu schreiben, verlangt vor Allem E r s at z m it t e l für die Ausdrucksarten, welche nur der Redende hat : also für Gebärden, Accente, Töne, Blicke. Desshalb ist der Schreibstil ein ganz anderer, als der Sprechstil, und etwas viel Schwierigeres : – er will mit Wenigerem sich ebenso verständlich machen wie jener. Demosthenes hielt seine Reden anders, als wir sie lesen ; er hat sie zum Gelesenwerden erst überarbeitet.  – Cicero’s Reden sollten, zum gleichen Zwecke, erst demosthenisirt werden : jetzt ist viel mehr römisches Forum in ihnen, als der Leser vertragen kann. | 111. Vor s ic ht i m C it i r e n . – Die jungen Autoren wissen nicht, dass der gute Ausdruck, der gute Gedanke sich nur unter Seinesgleichen gut ausnimmt, dass ein vorzügliches Citat ganze Seiten, ja das ganze Buch vernichten kann, indem es den Leser warnt und ihm zuzurufen scheint : „Gieb Acht, ich bin der Edelstein und rings um mich ist Blei, bleiches, schmähliches Blei.“ Jedes Wort, jeder Gedanke will nur in s e i ne r G e s e l ls c h a f t leben : das ist die Moral des gewählten Stils.

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112. Wie sol l ma n I r r t hü mer sa g en ? – Man kann streiten, ob es schädlicher sei, wenn Irrthümer schlecht gesagt werden oder so gut wie die besten Wahrheiten. Gewiss ist, dass sie im erstern Fall auf doppelte Weise dem Kopfe schaden und schwerer aus ihm zu entfernen sind ; aber freilich wirken sie nicht so sicher wie im zweiten Falle : sie sind weniger anstekkend. 113. Besc h rä n ken u nd verg rösser n. – Homer hat den Umfang des Stoffes beschränkt, verkleinert, aber die einzelnen Scenen aus sich wachsen lassen und vergrössert – und so machen es später die Tragiker immer von Neuem : jeder nimmt den Stoff in noch k le i ne r e n Stücken, als sein Vorgänger, jeder aber erzielt eine r e ic he r e Blüthenfülle innerhalb dieser abgegränzten umfriedeten Gartenhecken. 114. L it ter at u r u nd Mor a l it ät s ic h erk lä r end . – Man kann an der griechischen Litteratur zeigen, durch welche Kräfte der griechische Geist sich entfaltete, wie | er in verschiedene Bahnen gerieth und woran er schwach wurde. Alles das giebt ein Bild davon ab, wie es im Grunde auch mit der griechischen Mor a l it ät zugegangen ist und wie es mit jeder Moralität zugehen wird : wie sie erst Zwang war, erst Härte zeigte, dann allmählich milder wurde, wie endlich Lust an gewissen Handlungen, an gewissen Conventionen und Formen entstand, und daraus wieder ein Hang zur alleinigen Ausübung, zum Alleinbesitz derselben : wie die Bahn sich mit Wettbewerbenden füllt und überfüllt, wie Uebersättigung eintritt, neue Gegenstände des Kampfes und Ehrgeizes aufgesucht, veraltete in’s Leben erweckt werden, wie das Schauspiel sich wiederholt und die Zuschauer des Zuschauens überhaupt müde werden, weil nun der ganze Kreis durchlaufen scheint – und

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dann kommt ein Stillestehen, ein Ausathmen : die Bäche verlieren sich im Sande. Es ist das Ende da, wenigstens e i n Ende. 115. We lc he G e g e nd e n d aue r nd e r f r eue n . – Diese Gegend hat bedeutende Züge zu einem Gemälde, aber ich kann die Formel für sie nicht fi nden, als Ganzes bleibt sie mir unfassbar. Ich bemerke, dass alle Landschaften, die mir dauernd zusagen, unter aller Mannichfaltigkeit ein einfaches geometrisches Linien-Schema haben. Ohne ein solches mathematisches Substrat wird keine Gegend etwas künstlerisch Erfreuendes. Und vielleicht gestattet diese Regel eine gleichnisshafte Anwendung auf den Menschen. 116. Vorle s e n . – Vorlesen können setzt voraus, dass man vor t r a g e n könne : man hat überall blasse Farben | anzuwenden, aber die Grade der Blässe in genauen Proportionen zu dem immer vorschwebenden und dirigirenden, voll und tief gefärbten Grundgemälde, das heisst nach dem Vor t r a g e der selben Partie, zu bestimmen. Also muss man dieses letzteren mächtig sein. 117. D e r d r a m at i s c he Si n n . – Wer die feineren vier Sinne der Kunst nicht hat, sucht Alles mit dem gröbsten, dem fünften zu verstehen : diess ist der dramatische Sinn. 118. He r d e r. – Herder ist Alles das nicht, was er von sich wähnen machte (und selber zu wähnen wünschte) : kein grosser Denker und Erfi nder, kein neuer treibender Fruchtboden mit einer urwaldfrischen unausgenutzten Kraft. Aber er besass in höchstem Maasse den Sinn der Witterung, er sah und pflückte die Erstlinge der Jahreszeit früher, als alle Anderen, welche dann glauben konnten, er habe sie wachsen lassen : sein Geist

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war zwischen Hellem und Dunklem, Altem und Jungem und überall dort wie ein Jäger auf der Lauer, wo es Uebergänge, Senkungen, Erschütterungen, die Anzeichen inneren Quellens und Werdens gab : die Unruhe des Frühlings trieb ihn umher, aber er selber war der Frühling nicht ! – Das ahnte er wohl zu Zeiten, und wollte es doch sich selber nicht glauben, er, der ehrgeizige Priester, der so gern der Geister-Papst seiner Zeit gewesen wäre ! Diess ist sein Leiden : er scheint lange als Prätendent mehrerer Königthümer, ja eines Universalreiches, gelebt zu haben und hatte seinen Anhang, welcher an ihn glaubte : der junge Goethe war unter ihm. Aber überall, wo zuletzt Kronen wirklich vergeben wurden, gieng er | leer aus : Kant, Goethe, sodann die wirklichen ersten deutschen Historiker und Philologen nahmen ihm weg, was er sich vorbehalten wähnte,  – oft aber auch im Stillsten und Geheimsten n ic ht wähnte. Gerade wenn er an sich zweifelte, warf er sich gern die Würde und die Begeisterung um : diess waren bei ihm allzu oft Gewänder, die viel verbergen, ihn selber täuschen und trösten mussten. Er hatte wirklich Begeisterung und Feuer, aber sein Ehrgeiz war viel grösser ! Dieser blies ungeduldig in das Feuer, dass es flackerte, knisterte und rauchte  – sein S t i l flackert, knistert und raucht  – aber er wünschte die g r o s s e Flamme, und diese brach nie hervor ! Er sass nicht an der Tafel der eigentlich Schaffenden : und sein Ehrgeiz liess nicht zu, dass er sich bescheiden unter die eigentlich Geniessenden setzte. So war er ein unruhiger Gast, der Vorkoster aller geistigen Gerichte, die sich die Deutschen in einem halben Jahrhundert aus allen Welt- und Zeitreichen zusammenholten. Nie wirklich satt und froh, war Herder überdiess allzu häufig krank : da setzte sich bisweilen der Neid an sein Bett, auch die Heuchelei machte ihren Besuch. Etwas Wundes und Unfreies blieb an ihm haften : und mehr als irgend einem unserer sogenannten Classiker geht ihm die einfältige wackere Mannhaftigkeit ab.

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119. G e r uc h d e r Wor t e.  – Jedes Wort hat seinen Geruch : es giebt eine Harmonie und Disharmonie der Gerüche und also der Worte. 120. D e r g e s uc ht e St i l . – Der gefundene Stil ist eine Beleidigung für den Freund des gesuchten Stils. | 121. G e lö b n i s s .  – Ich will keinen Autor mehr lesen, dem man anmerkt, er wollte ein Buch machen : sondern nur jene, deren Gedanken unversehens ein Buch wurden. 122. Die k ü n st ler i sc he Convent ion. – Dreiviertel Homer ist Convention ; und ähnlich steht es bei allen griechischen Künstlern, die zu der modernen Originalitätswuth keinen Grund hatten. Es fehlte ihnen alle Angst vor der Convention ; durch diese hiengen sie ja mit ihrem Publicum zusammen. Conventionen sind nämlich die für das Verständniss der Zuhörer e r o b e r t e n Kunstmittel, die mühvoll erlernte gemeinsame Sprache, mit welcher der Künstler sich wirklich m it t he i le n kann. Zumal wenn er, wie der griechische Dichter und Musiker, mit jedem seiner Kunstwerke s of or t siegen will  – da er öffentlich mit einem oder zweien Nebenbuhlern zu ringen gewöhnt ist  –, so ist die erste Bedingung, dass er s of o r t auch ve r s t a n d e n werde : was aber nur durch die Convention möglich ist. Das, was der Künstler über die Convention hinaus erfi ndet, das giebt er aus freien Stücken darauf und wagt dabei sich selber daran, im besten Fall mit dem Erfolge, dass er eine neue Convention s c h a f f t . Für gewöhnlich wird das Originale angestaunt, mitunter sogar angebetet, aber selten verstanden ; der Convention hartnäckig ausweichen heisst : nicht verstanden wer-

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den wollen. Worauf weist also die moderne Originalitätswuth hin ? 123. A f fectation der Wissenschaf tlich keit bei Künstler n. – Schiller glaubte, gleich anderen deutschen | Künstlern, wenn man Geist habe, dürfe man über allerlei schwierige Gegenstände auch wohl m it d e r Fe d e r i m p r ov i s i r e n . Und nun stehen seine Prosa-Aufsätze da, – in jeder Beziehung ein Muster, wie man wissenschaftliche Fragen der Aesthetik und Moral n ic ht angreifen dürfe, – und eine Gefahr für junge Leser, welche, in ihrer Bewunderung des Dichters Schiller, nicht den Muth haben, vom Denker und Schriftsteller Schiller gering zu denken. – Die Versuchung, welche den Künstler so leicht und so begreiflicherweise befällt, auch einmal über die gerade i h m verbotene Wiese zu gehen und in der W i s s e n s c h a f t ein Wort mitzusprechen – der Tüchtigste nämlich fi ndet zeitweilig sein Handwerk und seine Werkstätte unausstehlich –, diese Versuchung bringt den Künstler so weit, aller Welt zu zeigen, was sie gar nicht zu sehen braucht, nämlich, dass es in seinem Denkzimmerchen eng und unordentlich aussieht – warum auch nicht ? er wohnt ja nicht darin ! –, dass die Vorrathsspeicher seines Wissens theils leer, theils mit Krimskrams gefüllt sind – warum auch nicht ? es steht diess sogar im Grunde dem Künstler-Kinde nicht übel an –, namentlich aber, dass selbst für die leichtesten Handgriffe der wissenschaftlichen Methode, die selbst Anfängern geläufig sind, seine Gelenke zu ungeübt und schwerfällig sind  – und auch dessen braucht er sich wahrlich nicht zu schämen !  – Dagegen entfaltet er oftmals keine geringe Kunst darin, alle die Fehler, Unarten und schlechten Gelehrtenhaftigkeiten, wie sie in der wissenschaftlichen Zunft vorkommen, n ac h z u a h me n , im Glauben, diess eben gehöre, wenn nicht zur Sache, so doch zum Schein der Sache ; und diess gerade ist das Lustige an solchen Künstler-Schriften, dass hier der | Künstler, ohne es

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zu wollen, doch thut, was seines Amtes ist : die wissenschaftlichen und unkünstlerischen Naturen zu p a r o d i r e n . Eine andere Stellung zur Wissenschaft, als die parodische, sollte er nämlich nicht haben, soweit er eben der Künstler und nur der Künstler ist. 124. D ie Fau s t- Id e e. – Eine kleine Nähterin wird verführt und unglücklich gemacht ; ein grosser Gelehrter aller vier Facultäten ist der Uebelthäter. Das kann doch nicht mit rechten Dingen zugegangen sein ? Nein, gewiss nicht ! Ohne die Beihülfe des leibhaftigen Teufels hätte es der grosse Gelehrte nicht zu Stande gebracht. – Sollte diess wirklich der grösste deutsche „tragische Gedanke“ sein, wie man unter Deutschen sagen hört ? – Für Goethe war aber auch dieser Gedanke noch zu fürchterlich ; sein mildes Herz konnte nicht umhin, die kleine Nähterin, „die gute Seele, die nur einmal sich vergessen,“ nach ihrem unfreiwilligen Tode in die Nähe der Heiligen zu versetzen ; ja, selbst den grossen Gelehrten brachte er, durch einen Possen, der dem Teufel im entscheidenden Augenblick gespielt wird, noch zur rechten Zeit in den Himmel, ihn „den guten Menschen“ mit dem „dunklen Drange“ : – dort im Himmel fi nden sich die Liebenden wieder. – Goethe sagt einmal, für das eigentlich Tragische sei seine Natur zu conciliant gewesen. 125. Giebt e s „d eut s c he C l a s s i k e r“ ? – Sainte-Beuve bemerkt einmal, dass zu der Art einiger Litteraturen das Wort „Classiker“ durchaus nicht klingen wolle : wer werde zum Beispiel so leicht von „deutschen Classikern“ reden ! – Was sagen unsre deutschen Buchhändler | dazu, welche auf dem Wege sind, die fünfzig deutschen Classiker, an die wir schon glauben sollen, noch um weitere fünfzig zu vermehren ? Scheint es doch fast, als ob man eben nur dreissig Jahre lang todt zu sein und als erlaubte Beute öffentlich da zu liegen brauche, um unver-

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sehens plötzlich als Classiker die Trompete der Auferstehung zu hören ! Und diess in einer Zeit und unter einem Volke, wo selbst von den sechs grossen Stammvätern der Litteratur fünf unzweideutig veralten oder veraltet sind, – oh ne dass diese Zeit und dieses Volk sich gerade d e s s e n zu schämen hätten ! Denn jene sind vor den St ä r k e n dieser Zeit zurückgewichen, – man überlege es sich nur mit aller Billigkeit ! – Von Goethe, wie angedeutet, sehe ich ab, er gehört in eine höhere Gattung von Litteraturen, als „National-Litteraturen“ sind : desshalb steht er auch zu seiner Nat ion weder im Verhältniss des Lebens, noch des Neuseins, noch des Veraltens. Nur für Wenige hat er gelebt und lebt er noch : für die Meisten ist er Nichts, als eine Fanfare der Eitelkeit, welche man von Zeit zu Zeit über die deutsche Gränze hinüberbläst. Goethe, nicht nur ein guter und grosser Mensch, sondern eine C u lt u r, Goethe ist in der Geschichte der Deutschen ein Zwischenfall ohne Folgen : wer wäre im Stande, in der deutschen Politik der letzten siebenzig Jahre zum Beispiel ein Stück Goethe aufzuzeigen ! (während jedenfalls darin ein Stück Schiller, und vielleicht sogar ein Stückchen Lessing thätig gewesen ist). Aber jene andern Fünf ! Klopstock veraltete schon bei Lebzeiten auf eine sehr ehrwürdige Weise : und so gründlich, dass das nachdenkliche Buch seiner späteren Jahre, die Gelehrten-Republik, wohl bis heutigen Tag von Niemandem ernst genommen worden | ist. Herder hatte das Unglück, dass seine Schriften immer entweder neu oder veraltet waren ; für die feineren und stärkeren Köpfe (wie für Lichtenberg) war zum Beispiel selbst Herder’s Hauptwerk, seine Ideen zur Geschichte der Menschheit, sofort beim Erscheinen etwas Veraltetes. Wieland, der reichlich gelebt und zu leben gegeben hat, kam als ein kluger Mann dem Schwinden seines Einflusses durch den Tod zuvor. Lessing lebt vielleicht heute noch, – aber unter jungen und immer jüngeren Gelehrten ! Und Schiller ist jetzt aus den Händen der Jünglinge in die der Knaben, aller deutschen Knaben

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gerathen ! Es ist ja eine bekannte Art des Veraltens, dass ein Buch zu immer unreiferen Lebensaltern hinabsteigt.  – Und was hat diese Fünf zurückgedrängt, sodass gut unterrichtete und arbeitsame Männer sie nicht mehr lesen ? Der bessere Geschmack, das bessere Wissen, die bessere Achtung vor dem Wahren und Wirklichen : also lauter Tugenden, welche gerade durch jene Fünf (und durch zehn und zwanzig Andere weniger lauten Namens) erst wieder in Deutschland a n g e pf l a n z t worden sind, und welche jetzt als hoher Wald über ihren Gräbern neben dem Schatten der Ehrfurcht auch Etwas vom Schatten der Vergessenheit breiten. – Aber C l a s s i k e r sind nicht A n pf l a n z e r von intellectuellen und litterarischen Tugenden, sondern Vol le nd e r und höchste Lichtspitzen derselben, welche über den Völkern stehen bleiben, wenn diese selber zu Grunde gehen : denn sie sind leichter, freier, reiner als sie. Es ist ein hoher Zustand der Menschheit möglich, wo das Europa der Völker eine dunkle Vergessenheit ist, wo Europa aber noch in dreissig sehr alten, nie veralteten Büchern lebt : in den Classikern. | 126. I nt e r e s s a nt , a b e r n ic ht s c hö n . – Diese Gegend verbirgt ihren Sinn, aber sie hat einen, den man errathen möchte : wohin ich sehe, lese ich Worte und Winke zu Worten, aber ich weiss nicht, wo der Satz beginnt, der das Räthsel aller dieser Winke löst, und werde zum Wendehals darüber, zu untersuchen, ob von hier oder von dort aus zu lesen ist. 127. Gegen d ie Sprach-Neuerer. – In der Sprache neuern oder alterthümeln, das Seltene und Fremdartige vorziehen, auf Reichthum des Wortschatzes anstatt auf Beschränkung trachten, ist immer ein Zeichen des ungereiften oder verderbten Geschmacks. Eine edele Armuth, aber innerhalb des unscheinbaren Besitzes eine meisterliche Freiheit zeichnet die griechi-

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schen Künstler der Rede aus : sie wollen we n i g e r haben, als das Volk hat  – denn dieses ist am reichsten in Altem und Neuem – aber sie wollen diess Wenige b e s s e r haben. Man ist schnell mit dem Aufzählen ihrer Archaismen und Fremdartigkeiten fertig, aber kommt nicht zu Ende im Bewundern, wenn man für die leichte und zarte Art ihres Verkehrs mit dem Alltäglichen und scheinbar längst Verbrauchten in Worten und Wendungen ein gutes Auge hat. 128. Die t rau r igen u nd d ie er n sten Autoren. – Wer zu Papier bringt was er le id et , wird ein trauriger Autor : aber ein e r n s t e r, wenn er uns sagt, was er l it t und wesshalb er jetzt in der Freude ausruht. 129. Gesu nd heit des Gesc h mac k s. – Wie kommt | es, dass die Gesundheiten nicht so ansteckend sind wie die Krankheiten – überhaupt, und namentlich im Geschmack ? Oder giebt es Epidemien der Gesundheit ? – 130. Vor s at z . – Kein Buch mehr lesen, das zu gleicher Zeit geboren und (mit Tinte) getauft wurde. 131. D e n G e d a n k e n ve r b e s s e r n . – Den Stil verbessern – das heisst den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter ! – Wer diess nicht sofort zugiebt, ist auch nie davon zu überzeugen. 132. C l a s s i s c h e B ü c h e r.  – Die schwächste Seite jedes classischen Buches ist die, dass es zu sehr in der Muttersprache seines Autors geschrieben ist.

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133. S c h le c ht e Büc he r. – Das Buch soll nach Feder, Tinte und Schreibtisch verlangen : aber gewöhnlich verlangen Feder, Tinte und Schreibtisch nach dem Buche. Desshalb ist es jetzt so wenig mit Büchern. 134. S i n n e s g e g e nw a r t .  – Das Publicum wird, wenn es über Gemälde nachdenkt, dabei zum Dichter, und wenn es über Gedichte nachdenkt, zum Forscher. Im Augenblick, da der Künstler es anruft, fehlt es ihm immer am r e c ht e n Sinn, nicht also an der Geistes-, sondern an der Sinnesgegenwart. 135. Gewählte Gedanken. – Der gewählte Stil einer bedeutenden Zeit wählt nicht nur die Worte, sondern | auch die Gedan ken aus, – und zwar beide aus dem Uebl ic hen und Her r sc henden : die gewagten und allzufrischriechenden Gedanken sind dem reiferen Geschmack nicht minder zuwider, als die neuen tollkühnen Bilder und Ausdrücke. Später riecht Beides – der gewählte Gedanke und das gewählte Wort – leicht nach Mittelmässigkeit, weil der Geruch des Gewählten sich schnell verflüchtigt und dann nur noch das Uebliche und Alltägliche daran geschmeckt wird. 136. Haupt g r u nd der Verderbn i ss des St i l s. – Mehr Empfi ndung für eine Sache z e i g e n wollen, als man wirklich h at , verdirbt den Stil, in der Sprache und in allen Künsten. Vielmehr hat alle grosse Kunst die umgekehrte Neigung : sie liebt es, gleich jedem sittlich bedeutenden Menschen, das Gefühl auf seinem Wege anzuhalten und nicht g a n z an’s Ende laufen zu lassen. Diese Scham der halben Gefühls-Sichtbarkeit ist zum Beispiel bei Sophokles auf das Schönste zu beobachten ; und es scheint die Züge der Empfi ndung zu verklären, wenn diese sich selber nüchterner giebt, als sie ist.

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137. Zu r E nt s c hu ld i g u n g d er s c hwer f ä l l i g e n St i l i s t e n . – Das Leicht-Gesagte fällt selten so schwer in’s Gehör, als die Sache wirklich wiegt – das liegt aber an den schlecht geschulten Ohren, welche aus der Erziehung durch Das, was man bisher Musik nannte, in die Schule der höheren Tonkunst, das heisst der R e d e, übergehen müssen. | 138. Vog e l p e r s p e c t i ve.  – Hier stürzen Wildwasser von mehreren Seiten einem Schlunde zu : ihre Bewegung ist so stürmisch und reisst das Auge so mit sich fort, dass die kahlen und bewaldeten Gebirgshänge ringsum nicht abzusinken, sondern wie h i n a b z u f l i e h e n scheinen. Man wird beim Anblick angstvoll gespannt, als ob etwas Feindseliges hinter alledem verborgen liege, vor dem Alles flüchten müsse, und gegen das uns der Abgrund Schutz verliehe. Diese Gegend ist gar nicht zu malen, es sei denn, dass man wie ein Vogel in der freien Luft über ihr schwebe. Hier ist einmal die sogenannte Vogelperspective nicht eine künstlerische Willkür, sondern die einzige Möglichkeit. 139. G ewa g t e Ve r g le ic hu n g e n . – Wenn die gewagten Vergleichungen nicht Beweise vom Muthwillen des Schriftstellers sind, so sind sie Beweise seiner ermüdeten Phantasie. In jedem Falle aber sind sie Beweise seines schlechten Geschmackes. 140. In Ketten ta n zen. – Bei jedem griechischen Künstler, Dichter und Schriftsteller ist zu fragen : welches ist der n e u e Zw a n g , den er sich auferlegt und den er seinen Zeitgenossen reizvoll macht (sodass er Nachahmer fi ndet) ? Denn was man „Erfi ndung“ (im Metrischen zum Beispiel) nennt, ist immer eine solche selbstgelegte Fessel. „In Ketten tanzen“,

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es sich schwer machen und dann die Täuschung der Leichtigkeit darüber breiten, – das ist das Kunststück, welches sie uns zeigen wollen. Schon bei Homer ist eine Fülle von vererbten Formeln | und epischen Erzählungsgesetzen wahrzunehmen, i n ne r h a l b deren er tanzen musste : und er selber schuf neue Conventionen für die Kommenden hinzu. Diess war die Erziehungs-Schule der griechischen Dichter : zuerst also einen vielfältigen Zwang sich auferlegen lassen, durch die früheren Dichter ; sodann einen neuen Zwang hinzuerfi nden, ihn sich auferlegen und ihn anmuthig besiegen : sodass Zwang und Sieg bemerkt und bewundert werden. 141. F ü l le d e r Aut or e n . – Das Letzte, was ein guter Autor bekommt, ist Fülle ; wer sie mitbringt, wird nie ein guter Autor werden. Die edelsten Rennpferde sind mager, bis sie von ihren Siegen au s r u he n dürfen. 142. K euc he nd e He ld e n . – Dichter und Künstler, die an Engbrüstigkeit des Gefühls leiden, lassen ihre Helden am meisten keuchen : sie verstehen sich auf das leichte Athmen nicht. 143. D e r H a l b - Bl i nd e. – Der Halb-Blinde ist der Todfeind aller Autoren, welche sich gehen lassen. Diese sollten seinen Ingrimm kennen, mit dem er ein Buch zuschlägt, aus welchem er merkt, dass sein Verfasser fünfzig Seiten braucht, um fünf Gedanken mitzutheilen : jenen Ingrimm darüber, den Rest seiner Augen fast ohne Entgelt in Gefahr gebracht zu haben. – Ein Halb-Blinder sagte : a l le Autoren haben sich gehen lassen. – „Auch der heilige Geist ?“ – Auch der heilige Geist. Aber der durfte es ; er schrieb für die Ganz-Blinden. |

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144. D e r St i l d e r Un s t e r bl ic h k e it . – Thukydides sowohl wie Tacitus, – beide haben beim Ausarbeiten ihrer Werke an eine unsterbliche Dauer derselben gedacht : diess würde, wenn man es sonst nicht wüsste, schon aus ihrem Stile zu errathen sein. Der Eine glaubte seinen Gedanken durch Einsalzen, der Andere durch Einkochen Dauerhaftigkeit zu geben ; und Beide, scheint es, haben sich nicht verrechnet. 145. Gegen Bi lder u nd Gleic h n i sse. – Mit Bildern und Gleichnissen überzeugt man, aber beweist nicht. Desshalb hat man innerhalb der Wissenschaft eine solche Scheu vor Bildern und Gleichnissen ; man will hier gerade das Ueberzeugende, das G l au bl ic h -Machende n ic ht und fordert vielmehr das kälteste Misstrauen auch schon durch die Ausdrucksweise und die kahlen Wände heraus : weil das Misstrauen der Prüfstein für das Gold der Gewissheit ist. 146. Vor s ic ht . – Wem es an gründlichem Wissen gebricht, der mag sich in Deutschland ja hüten, zu schreiben. Denn der gute Deutsche sagt da nicht : „er ist unwissend“, sondern : „er ist von zweifelhaftem Charakter.“ – Dieser übereilte Schluss macht übrigens den Deutschen alle Ehre. 147. Bemalte Gerippe. – Bemalte Gerippe : das sind jene Autoren, welche Das, was ihnen an Fleisch abgeht, durch künst liche Farben ersetzen möchten. 148. D e r g r o s s a r t i g e St i l u nd d a s Höher e. – Man lernt es schneller grossartig schreiben, als leicht und | schlicht schreiben. Die Gründe davon verlieren sich in’s Moralische.

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149. Sebast ia n Bac h. – Sofern man Bach’s Musik n ic ht als vollkommener und gewitzigter Kenner des Contrapunctes und aller Arten des fugirten Stiles hört, und demgemäss des eigentlichen artistischen Genusses entrathen muss, wird es uns als Hörern seiner Musik zu Muthe sein (um uns grandios mit Goethe auszudrücken), als ob wir dabei wären, w ie G ot t d ie We lt s c hu f. Das heisst : wir fühlen, dass hier etwas Grosses im Werden ist, aber noch nicht i s t : unsere g r o s s e moderne Musik. Sie hat schon die Welt überwunden, dadurch dass sie die Kirche, die Nationalitäten und den Contrapunct überwand. In Bach ist noch zu viel crude Christlichkeit, crudes Deutschthum, crude Scholastik ; er steht an der Schwelle der europäischen (modernen) Musik, aber schaut sich von hier nach dem Mittelalter um. 150. Händel. – Händel, im Erfinden seiner Musik kühn, neuerungssüchtig, wahrhaft, gewaltig, dem Heroischen zugewandt und verwandt, dessen ein Vol k fähig ist,  – wurde bei der Ausarbeitung oft befangen und kalt, ja an sich selber müde ; da wendete er einige erprobte Methoden der Durchführung an, schrieb schnell und viel, und war froh, wenn er fertig war, – aber nicht in der Art froh, wie es Gott und andere Schöpfer am Abende ihres Werktags gewesen sind. 151. Hayd n. – Soweit sich Genialität mit einem schlechthin g ut e n Menschen verbinden kann, hat Haydn sie | gehabt. Er geht gerade bis an die Gränze, welche die Moralität dem Intellect zieht ; er macht lauter Musik, die „keine Vergangenheit“ hat. 152. B e et hove n u nd Mo z a r t .  – Beethoven’s Musik erscheint häufig wie eine tief bewegte B et r ac ht u n g beim unerwar-

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teten Wiederhören eines längst verloren geglaubten Stückes „Unschuld in Tönen“ ; es ist Musik ü b e r Musik. Im Liede der Bettler und Kinder auf der Gasse, bei den eintönigen Weisen wandernder Italiäner, beim Tanze in der Dorfschenke oder in den Nächten des Carnevals, – da entdeckte er seine „Melodien“ : er trägt sie wie eine Biene zusammen, indem er bald hier bald dort einen Laut, eine kurze Folge erhascht. Es sind ihm verklärte E r i n ne r u n g e n aus der „besseren Welt“ : ähnlich wie Plato es sich von den Ideen dachte.  – Mozart steht ganz anders zu seinen Melodien : er fi ndet seine Inspirationen nicht beim Hören von Musik, sondern im Schauen des Lebens, des bewegtesten s ü d l ä nd i s c he n Lebens : er träumte immer von Italien, wenn er nicht dort war. 153. R e c it at i v. – Ehemals war das Recitativ trocken ; jetzt leben wir in der Zeit des n a s s e n R e c it at i v s : es ist in’s Wasser gefallen, und die Wellen reissen es, wohin sie wollen. 154. „Heitere“ Musi k . – Hat man lange die Musik entbehrt, so geht sie nachher wie ein schwerer Südwein allzuschnell in’s Blut und hinterlässt eine narkotisch betäubte, halbwache, schlaf-sehnsüchtige Seele ; namentlich thut diess gerade die he it e r e Musik, welche zusammen | Bitterkeit und Verwundung, Ueberdruss und Heimweh giebt und Alles wie in einem verzuckerten Giftgetränk wieder und wieder zu schlürfen nöthigt. Dabei scheint der Saal der heiter rauschenden Freude sich zu verengern, das Licht an Helle zu verlieren und bräuner zu werden : zuletzt ist es Einem zu Muthe, als ob die Musik wie in ein Gefängniss hineinklinge, wo ein armer Mensch vor Heimweh nicht schlafen kann.

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155. Fr a n z Sc huber t. – Franz Schubert, ein geringerer Artist als die andern grossen Musiker, hatte doch von Allen den grössten Er br e ic ht hu m an Musik. Er verschwendete ihn mit voller Hand und aus gütigem Herzen : sodass die Musiker noch ein paar Jahrhunderte an seinen Gedanken und Einfällen zu z e h r e n haben werden. In seinen Werken haben wir einen Schatz von u nve r b r auc ht e n Erfi ndungen ; Andere werden ihre Grösse im Verbrauchen haben. – Dürfte man Beet hoven den idealen Zuhörer eines Spielmannes nennen, so hätte Schubert darauf ein Anrecht, selber der ideale Spielmann zu heissen. 156. Mo d e r n s t e r Vor t r a g d e r Mu s i k . – Der grosse tragischdramatische Vortrag in der Musik bekommt seinen Charakter durch Nachahmung der Gebärden des g r o s s e n S ü n d e r s , wie ihn das Christenthum sich denkt und wünscht : des langsam schreitenden, leidenschaftlich Grübelnden, des von Gewissensqual Hin- und Hergeworfenen, des entsetzt Fliehenden, des entzückt Haschenden, des verzweifelt Stillestehenden – und was sonst Alles die Merkmale des grossen Sünderthums sind. Nur | unter der Voraussetzung des Christen, dass alle Menschen grosse Sünder sind und gar Nichts thun, als sündigen, liesse es sich rechtfertigen, jenen Stil des Vortrags auf a l le Musik anzuwenden : insofern die Musik das Abbild alles menschlichen Thuns und Treibens wäre, und als solches die Gebärdensprache des grossen Sünders fortwährend zu sprechen hätte. Ein Zuhörer, der nicht genug Christ wäre, um diese Logik zu verstehen, dürfte freilich bei einem solchen Vortrage erschreckt ausrufen : „Um des Himmels willen, wie ist denn die Sünde in die Musik gekommen !“

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157. Fe l i x Me nd e l s s oh n . – Felix Mendelssohn’s Musik ist die Musik des guten Geschmacks an allem Guten, was dagewesen ist : sie weist immer hinter sich. Wie könnte sie viel „Vor-sich“, viel Zukunft haben ! – Aber hat er sie denn haben wol le n ? Er besass eine Tugend, die unter Künstlern selten ist, die der Dankbarkeit ohne Nebengedanken : auch diese Tugend weist immer hinter sich. 158. Ei ne Mut ter der Kü n ste. – In unserem skeptischen Zeitalter gehört zur eigentlichen D evot ion fast ein brutaler Heroismus des E h r g e i z e s ; das fanatische Augenschliessen und Kniebeugen genügt nicht mehr. Wäre es nicht möglich, dass der Ehrgeiz, in der Devotion der letzte für alle Zeiten zu sein, der Vater einer letzten katholischen Kirchenmusik würde, wie er schon der Vater des letzten kirchlichen Baustils gewesen ist ? (Man nennt ihn Jesuitenstil.) | 159. Fr e i he it i n Fe s s e l n  – e i ne f ü r s t l ic he Fr e i he it . – Der letzte der neueren Musiker, der die Schönheit geschaut und angebetet hat, gleich Leopardi, der Pole Chopin, der Unnachahmliche – alle vor und nach ihm Gekommenen haben auf diess Beiwort kein Anrecht – Chopin hatte die selbe fürstliche Vornehmheit der Convention, welche Raffael im Gebrauche der herkömmlichen einfachsten Farben zeigt, – aber nicht in Bezug auf Farben, sondern auf die melodischen und rhythmischen Herkömmlichkeiten. Diese liess er gelten, a l s g eb o r e n i n d e r Et iq uet t e, aber wie der freieste und anmuthigste Geist in diesen Fesseln spielend und tanzend – und zwar oh ne sie zu verhöhnen. 160. Chopin’s Barcarole. – Fast alle Zustände und Lebensweisen haben einen s e l i g e n Moment. D e n wissen die guten Künst-

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ler herauszufischen. So hat einen solchen selbst das Leben am Strande, das so langweilige, schmutzige, ungesunde, in der Nähe des lärmendsten und habgierigsten Gesindels sich abspinnende ; – diesen seligen Moment hat Chopin, in der Barcarole, so zum Ertönen gebracht, dass selbst Götter dabei gelüsten könnte, lange Sommerabende in einem Kahne zu liegen. 161. Ro b e r t S c hu m a n n . – Der „Jüngling“, wie ihn die romantischen Liederdichter Deutschlands und Frankreichs um das erste Drittel dieses Jahrhunderts träumten, – dieser Jüngling ist vollständig in Sang und Ton übersetzt worden – durch Robert Schumann, den ewigen Jüngling, so lange er sich in voller eigner Kraft fühlte : | es giebt freilich Momente, in denen seine Musik an die ewige „alte Jungfer“ erinnert. 162. Die dramatischen Sänger. – „Warum singt dieser Bettler!“ – Er versteht wahrscheinlich nicht zu jammern. – „Dann thut er Recht : aber unsere dramatischen Sänger, welche jammern, weil sie nicht zu singen verstehen – thun sie auch das Rechte ?“ 163. D r a m at i s c he Mu s i k . – Für Den, welcher nicht sieht, was auf der Bühne vorgeht, ist die dramatische Musik ein Unding ; so gut der fortlaufende Commentar zu einem verloren gegangenen Texte ein Unding ist. Sie verlangt ganz eigentlich, dass man auch die Ohren dort habe, wo die Augen stehen ; damit ist aber an Euterpe Gewalt geübt : diese arme Muse will, dass man ihre Augen und Ohren dort stehen lasse, wo alle anderen Musen sie auch haben. 164. S ie g u nd Ve r nü n f t i g k e it . – Leider entscheidet auch bei den ästhetischen Kriegen, welche Künstler mit ihren Werken

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und deren Schutzreden erregen, zuletzt die Kraft, und nicht die Vernunft. Jetzt nimmt alle Welt als historische Thatsache an, dass Gluck im Kampfe mit Piccini R e c ht gehabt habe : jedenfalls hat er g e s ie g t ; die Kraft stand auf seiner Seite. 165. Vom P r i nc ipe de s Vor t r a g s i n der Mu s i k . – Glauben denn wirklich die jetzigen Künstler des musikalischen Vortrags, das höchste Gebot ihrer Kunst sei, | jedem Stück so viel Ho c h r e l ie f zu geben, als nur möglich ist, und es um jeden Preis eine d r a m at i s c he Sprache reden zu lassen ? Ist diess zum Beispiel auf Mozart angewendet, nicht ganz eigentlich eine Sünde wider den Geist, den heiteren, sonnigen, zärtlichen, leichtsinnigen Geist Mozart’s, dessen Ernst ein gütiger und nicht ein furchtbarer Ernst ist, dessen Bilder nicht aus der Wand herausspringen wollen, um die Anschauenden in Entsetzen und Flucht zu jagen. Oder meint ihr, Mozartische Musik sei gleichbedeutend mit „Musik des steinernen Gastes“ ? Und nicht nur Mozartische, sondern alle Musik ? – Aber ihr entgegnet, die grössere W i r k u n g spreche zu Gunsten eures Princips – und ihr hättet Recht, wofern nicht die Gegenfrage übrig bliebe, au f we n da gewirkt worden sei, und auf wen ein vornehmer Künstler überhaupt nur wirken wol le n d ü r f e ! Niemals auf das Volk ! Niemals auf die Unreifen ! Niemals auf die Empfi ndsamen ! Niemals auf die Krankhaften ! Vor Allen aber : niemals auf die Abgestumpften ! 166. Mu si k von heute. – Diese modernste Musik, mit ihren starken Lungen und schwachen Nerven, erschrickt immer zuerst vor sich selber. 167. Wo d ie Mu s i k he i m i s c h i s t .  – Die Musik erlangt ihre grosse Macht nur unter Menschen, welche nicht discutiren

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können oder dürfen. Ihre Förderer ersten Ranges sind desshalb Fürsten, welche wollen, dass in ihrer Nähe nicht viel kritisirt, ja, nicht einmal viel gedacht werde ; sodann Gesellschaften, welche, unter | irgend einem Drucke (einem fürstlichen oder religiösen) sich an das Schweigen gewöhnen müssen, aber um so stärkere Zaubermittel gegen die Langeweile des Gefühls suchen (gewöhnlich die ewige Verliebtheit und die ewige Musik) ; drittens ganze Völker, in denen es keine „Gesellschaft“ giebt, aber um so mehr Einzelne mit einem Hang zur Einsamkeit, zu halbdunklen Gedanken und zur Verehrung alles Unaussprechlichen : es sind die eigentlichen Musikseelen. – Die Griechen, als ein red- und streitlustiges Volk, haben desshalb die Musik nur als Zu k o s t zu Künsten vertragen, über welche sich wirklich streiten und reden lässt : während über die Musik sich kaum reinlich d e n k e n lässt. – Die Pythagoreer, jene Ausnahme-Griechen in vielen Stücken, waren, wie verlautet, auch grosse Musiker : die selben, welche das fünfjährige Schweigen, aber n ic ht die Dialektik erfunden haben. 168. Sent i ment a l it ät i n der Mu s i k . – Man sei der ernsten und reichen Musik noch so gewogen, um so mehr vielleicht wird man in einzelnen Stunden von dem Gegenstück derselben überwunden, bezaubert und fast hinweggeschmolzen ; ich meine : von jenen allereinfachsten italiänischen Opern-Melismen, welche, trotz aller rhythmischen Einförmigkeit und harmonischen Kinderei, uns mitunter wie die Seele der Musik selber anzusingen scheinen. Gebt es zu oder nicht, ihr Pharisäer des guten Geschmacks : es i s t so, und mir liegt jetzt daran, dieses Räthsel, dass es so ist, zum Rathen aufzugeben und selber ein Wenig daran herumzurathen. – Als wir noch Kinder waren, haben wir den Honigseim vieler Dinge zum ersten Mal gekostet, niemals wieder war der Honig | so gut wie damals, er verführte zum Leben, zum längsten Leben, in der

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Gestalt des ersten Frühlings, der ersten Blumen, der ersten Schmetterlinge, der ersten Freundschaft. Damals  – es war vielleicht um das neunte Jahr unseres Lebens – hörten wir die erste Musik, und das war die, welche wir zuerst ver s t a nd e n , die einfachste und kindlichste also, welche nicht viel mehr als ein Weiterspinnen des Ammenliedes und der Spielmannsweise war. (Man muss nämlich auch für die geringsten „Offenbarungen“ der Kunst erst vor b e r e it et und e i n g e le r nt werden : es giebt durchaus keine „unmittelbare“ Wirkung der Kunst, so schön auch die Philosophen davon gefabelt haben). An jene ersten musikalischen Entzückungen – die stärksten unseres Lebens  – knüpft unsere Empfi ndung an, wenn wir jene italiänischen Melismen hören : die Kindes-Seligkeit und der Verlust der Kindheit, das Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes,  – das rührt dabei die Saiten unsrer Seele an, so stark wie es die reichste und ernsteste Gegenwart der Kunst allein nicht vermag. – Diese Mischung ästhetischer Freude mit einem moralischen Kummer, welche man gemeinhin jetzt „Sentimentalität“ zu nennen pflegt, etwas gar zu hoff ährtig, wie mir scheint, – es ist die Stimmung Faustens am Schlusse der ersten Scene – diese „Sentimentalität“ der Hörenden kommt der italiänischen Musik zu Gute, welche sonst die erfahrenen Feinschmecker der Kunst, die reinen „Aesthetiker“, zu ignoriren lieben. – Uebrigens wirkt fast jede Musik erst von da an z aub e rh a f t , wo wir aus ihr die Sprache der eigenen Ve r g a n g e n he it reden hören : und insofern scheint dem Laien alle a lt e Musik immer besser zu werden, und alle eben geborene | nur wenig werth zu sein : denn sie erregt noch keine „Sentimentalität“, welche, wie gesagt, das wesentlichste Glücks-Element der Musik für Jeden ist, der nicht rein als Artist sich an dieser Kunst zu freuen vermag.

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169. A l s Fr eu nd e d e r Mu s i k . – Zuletzt sind und bleiben wir der Musik gut, wie wir dem Mondlicht gut bleiben. Beide wollen ja nicht die Sonne verdrängen, – sie wollen nur, so gut sie es können, unsere Näc ht e erhellen. Aber nicht wahr ? scherzen und lachen dürfen wir trotzdem über sie ? Ein Wenig wenigstens ? Und von Zeit zu Zeit ? Ueber den Mann im Monde ! Ueber das Weib in der Musik ! 170. Die Kunst i n der Zeit der A rbeit. – Wir haben das Gewissen eines a r b e it s a me n Zeitalters : diess erlaubt uns nicht, die besten Stunden und Vormittage der Kunst zu geben, und wenn diese Kunst selber die grösste und würdigste wäre. Sie gilt uns als Sache der Musse, der Erholung : wir weihen ihr die R e s t e unserer Zeit, unserer Kräfte.  – Diess ist die allgemeinste Thatsache, durch welche die Stellung der Kunst zum Leben verändert ist : sie hat, wenn sie ihre g r o s s e n Zeitund Kraft-Ansprüche an die Kunst-Empfangenden macht, das Gewissen der Arbeitsamen und Tüchtigen g e g e n sich, sie ist auf die Gewissenlosen und Lässigen angewiesen, welche aber, ihrer Natur nach, gerade der g r o s s e n Kunst nicht zugethan sind und ihre Ansprüche als Anmaassungen empfi nden. Es dürfte desshalb mit ihr zu Ende sein, weil ihr die Luft und der freie Athem fehlt : oder – die grosse Kunst versucht, in einer Art | Vergröberung und Verkleidung, in jener anderen Luft heimisch zu werden (mindestens es in ihr auszuhalten), die eigentlich nur für die k le i ne Kunst, für die Kunst der Erholung, der ergötzlichen Zerstreuung das natürliche Element ist. Diess geschieht jetzt allerwärts ; auch die Künstler der grossen Kunst versprechen Erholung und Zerstreuung, auch sie wenden sich an den Ermüdeten, auch sie bitten ihn um die Abendstunden seines Arbeitstages, – ganz wie die unterhaltenden Künstler, welche zufrieden sind, gegen den

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schweren Ernst der Stirnen, das Versunkene der Augen einen Sieg errungen zu haben. Welches ist nun der Kunstgriff ihrer grösseren Genossen ? Diese haben in ihren Büchsen die gewaltsamsten Erregungsmittel, bei denen selbst der Halbtodte noch zusammenschrecken muss ; sie haben Betäubungen, Berauschungen, Erschütterungen, Thränenkrämpfe : mit diesen überwältigen sie den Ermüdeten und bringen ihn in eine übernächtige Ueberlebendigkeit, in ein Ausser-sich-sein des Entzückens und des Schreckens. Dürfte man, wegen der Gefährlichkeit ihrer Mittel, der grossen Kunst, wie sie jetzt, als Oper, Tragödie und Musik, lebt, – dürfte man ihr als einer arglistigen Sünderin zürnen ? Gewiss nicht : sie lebte ja selber hundertmal lieber in dem reinen Element der morgendlichen Stille und wendete sich an die erwartenden, unverbrauchten, kraftgefüllten Morgen-Seelen der Zuschauer und Zuhörer. Danken wir ihr, dass sie es vorzieht, so zu leben, als davonzufl iehen : aber gestehen wir uns auch ein, dass für ein Zeitalter, welches einmal wieder freie, volle Fest- und Freudentage in das Leben einführt, u n s e r e grosse Kunst unbrauchbar sein wird. | 171. Die A ngestellten der Wissenschaf t und d ie A nderen. – Die eigentlich tüchtigen und erfolgreichen Gelehrten könnte man insgesammt als „Angestellte“ bezeichnen. Wenn, in jungen Jahren, ihr Scharfsinn hinreichend geübt, ihr Gedächtniss gefüllt ist, wenn Hand und Auge Sicherheit gewonnen haben, so werden sie von einem älteren Gelehrten auf eine Stelle der Wissenschaft angewiesen, wo ihre Eigenschaften Nutzen bringen können ; späterhin, nachdem sie selber den Blick für die lückenhaften und schadhaften Stellen ihrer Wissenschaft erlangt haben, stellen sie sich von selber dorthin, wo sie noth thun. Diese Naturen allesammt sind um der Wissenschaft willen da : aber es giebt seltnere, selten gelingende und völlig ausreifende Naturen, „um derentwillen die Wissenschaft

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da ist“ – wenigstens scheint es ihnen selber so – : oft unangenehme, oft eingebildete, oft querköpfige, fast immer aber bis zu einem Grade zauberhafte Menschen. Sie sind nicht Angestellte, und auch nicht Ansteller, sie bedienen sich dessen, was von Jenen erarbeitet und sichergestellt worden ist, in einer gewissen fürstenhaften Gelassenheit und mit geringem und seltenem Lobe : gleichsam als ob Jene einer niedrigern Gattung von Wesen angehörten. Und doch haben sie eben nur die gleichen Eigenschaften, wodurch diese Anderen sich auszeichnen, und diese mitunter sogar ungenügender entwikkelt : obendrein ist ihnen eine B e s c h r ä n k t he it eigenthümlich, die Jenen fehlt, und derentwegen es unmöglich ist, sie an einen Posten zu stellen und in ihnen nützliche Werkzeuge zu sehen, – sie können nur i n i h r e r e i g e ne n Lu f t , auf ihrem eigenen Boden leben. Diese Beschränktheit giebt ihnen | ein, was Alles von einer Wissenschaft „zu ihnen gehöre“, das heisst, was sie in ihre Luft und Wohnung heimtragen können ; sie wähnen immer ihr zerstreutes „Eigenthum“ zu sammeln. Verhindert man sie, an ihrem eigenen Neste zu bauen, so gehen sie wie obdachlose Vögel zu Grunde ; Unfreiheit ist für sie Schwindsucht. Pflegen sie einzelne Gegenden der Wissenschaft in der Art jener Anderen, so sind es doch immer nur solche, wo gerade die ihnen nöthigen Früchte und Samen gedeihen ; was geht es sie an, ob die Wissenschaft, im Ganzen gesehen, unangebaute oder schlecht gepflegte Gegenden hat ? Es fehlt ihnen jede u n p e r s ö n l ic he Theilnahme an einem Problem der Erkenntniss : wie sie selber durch und durch Person sind, so wachsen auch alle ihre Einsichten und Kenntnisse wieder zu einer Person zusammen, zu einem lebendigen Vielfachen, dessen einzelne Theile von einander abhängen, in einander greifen, gemeinsam ernährt werden, das als Ganzes eine eigne Luft und einen eignen Geruch hat. – Solche Naturen bringen, mit diesen ihren p e r s o n e n h a f t e n Erkenntniss-Gebilden, jene Täu s c hu n g hervor, dass eine Wissen-

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schaft (oder gar die ganze Philosophie) fertig sei und am Ziele stehe ; das L eb e n in ihrem Gebilde übt diesen Zauber aus : als welcher zu Zeiten sehr verhängnissvoll für die Wissenschaft und irreführend für jene vorhin beschriebenen, eigentlich tüchtigen Arbeiter des Geistes gewesen ist, zu andern Zeiten wiederum, als die Dürre und die Ermattung herrschten, wie ein Labsal und gleich dem Anhauche einer kühlen erquicklichen Raststätte gewirkt hat. – Gewöhnlich nennt man solche Menschen Ph i lo s o phe n . | 172. A ne r k e n nu n g d e s Ta le nt s . – Als ich durch das Dorf S. gieng, fieng ein Knabe aus Leibeskräften an, mit der Peitsche zu knallen, – er hatte es schon weit in dieser Kunst gebracht und wusste es. Ich warf ihm einen Blick der Anerkennung zu, – im Grunde that mir’s b it t e r we he. – So machen wir es bei der Anerkennung vieler Talente. Wir thun ihnen wohl, wenn sie uns wehe thun. 173. L ac he n u nd L äc he l n . – Je freudiger und sicherer der Geist wird, umsomehr verlernt der Mensch das laute Gelächter ; dagegen quillt ihm ein geistiges Lächeln fortwährend auf, ein Zeichen seines Verwunderns über die zahllosen versteckten Annehmlichkeiten des guten Daseins. 174. Unt e r h a lt u n g d e r K r a n k e n . – Wie man bei seelischem Kummer sich die Haare rauft, sich vor die Stirn schlägt, die Wange zerfleischt, oder gar wie Oedipus die Augen ausbohrt : so ruft man gegen heftige körperliche Schmerzen mitunter eine heftige bittere Empfi ndung zu Hülfe, durch Erinnerung an Verleumder und Verdächtiger, durch Verdüsterung unserer Zukunft, durch Bosheiten und Dolchstiche, welche man im Geiste gegen Abwesende schleudert. Und es ist bisweilen

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dabei wahr : dass ein Teufel den andern austreibt, – aber man h at dann den andern. – Darum sei den Kranken jene andere Unterhaltung anempfohlen, bei der sich die Schmerzen zu mildern scheinen : über Wohlthaten und Artigkeiten nachzudenken, welche man Freund und Feind erweisen kann. | 175. Med iocr ität a ls Maske. – Die Mediocrität ist die glücklichste Maske, die der überlegene Geist tragen kann, weil sie die grosse Menge, das heisst die Mediocren, nicht an Maskirung denken lässt  – : und doch nimmt er sie gerade ihretwegen vor, – um s ie nicht zu reizen, ja nicht selten aus Mitleid und Güte. 176. D ie G edu ld ig en. – Die Pinie scheint zu horchen, die Tanne zu warten : und beide ohne Ungeduld : – sie denken nicht an den kleinen Menschen unter sich, den seine Ungeduld und seine Neugierde auff ressen. 177. Die besten Sc her ze. – Der Scherz ist mir am willkommensten, der an Stelle eines schweren, nicht unbedenklichen Gedankens steht, zugleich als Wink mit dem Finger und Blinzeln des Auges. 178. Zub e hör a l le r Ve r e h r u n g. – Ueberall, wo die Vergangenheit verehrt wird, soll man die Säuberlichen und Säubernden nicht einlassen. Der Pietät wird ohne ein Wenig Staub, Unrath und Unflath nicht wohl. 179. D ie g r o s s e G e f a h r d e r G e le h r t e n . – Gerade die tüchtigsten und gründlichsten Gelehrten sind in der Gefahr, ihr Lebensziel immer niedriger gesteckt zu sehen und, im Gefühle davon, in der zweiten Hälfte ihres Lebens immer missmuthiger und unverträglicher zu | werden. Zuerst schwim-

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men sie mit breiten Hoff nungen in ihre Wissenschaft hinein und messen sich kühnere Aufgaben zu, deren Ziele mitunter durch ihre Phantasie schon vorweggenommen werden : dann giebt es Augenblicke wie im Leben der grossen entdeckenden Schiff fahrer, – Wissen, Ahnung und Kraft heben einander immer höher, bis eine ferne neue Küste zum ersten Male dem Auge aufdämmert. Nun erkennt aber der strenge Mensch von Jahr zu Jahr mehr, wie viel daran gelegen ist, dass die Einzelaufgabe des Forschers so beschränkt wie möglich genommen werde, damit sie oh ne R e s t gelöst werden könne und jene unerträgliche Vergeudung von Kraft vermieden werde, an welcher frühere Perioden der Wissenschaft litten : alle Arbeiten wurden zehnmal gemacht, und dann hatte immer noch der Elfte das letzte und beste Wort zu sagen. Je mehr aber der Gelehrte dieses Räthsel-Lösen ohne Rest kennen lernt und übt, um so grösser wird auch seine Lust daran : aber ebenso wächst auch die Strenge seiner Ansprüche in Bezug auf Das, was hier „ohne Rest“ genannt ist. Er legt Alles bei Seite, was in diesem Sinne unvollständig bleiben muss, er gewinnt einen Widerwillen und eine Witterung gegen das Halb-Lösbare, – gegen Alles, was nur im Ganzen und Unbestimmteren eine Art Sicherheit ergeben kann. Seine Jugendpläne zerfallen vor seinem Blicke : kaum bleiben einige Knoten und Knötchen daraus übrig, an deren Entknüpfung jetzt der Meister seine Lust hat, seine Kraft zeigt. Und nun, mitten in dieser so nützlichen, so rastlosen Thätigkeit überfällt ihn, den Aeltergewordenen, plötzlich und dann öfter wieder ein tiefer Missmuth, eine Art Gewissensqual : er sieht auf sich hin, | wie auf einen Verwandelten, als ob er verkleinert, erniedrigt, zum kunstfertigen Zwe r g e n umgeschaffen wäre, er beunruhigt sich darüber, ob nicht das meisterliche Walten im Kleinen eine Bequemlichkeit sei, eine Ausflucht vor der Mahnung zur Grösse des Lebens und Gestaltens. Aber er kann nicht mehr h i nü b e r, – die Zeit ist um.

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180. Die Leh rer i m Zeita lter der Büc her. – Dadurch dass die Selbst-Erziehung und Verbrüderungs-Erziehung allgemeiner wird, muss der Lehrer in seiner jetzt gewöhnlichen Form fast entbehrlich werden. Lernbegierige Freunde, die sich zusammen ein Wissen aneignen wollen, fi nden in unserer Zeit der Bücher einen kürzeren und natürlicheren Weg, als „Schule“ und „Lehrer“ sind. 181. D ie Eit e l k e it a l s d ie g r os s e Nüt z l ic h k e it . – Ursprünglich behandelt der starke Einzelne nicht nur die Natur, sondern auch die Gesellschaft und die schwächeren Einzelnen als Gegenstand des Raub-Baues : er nützt sie aus, so viel er kann, und geht dann weiter. Weil er sehr unsicher lebt, wechselnd zwischen Hunger und Ueberfluss, so tödtet er mehr Thiere, als er verzehren kann, und plündert und misshandelt die Menschen mehr, als nöthig wäre. Seine Machtäusserung ist eine Racheäusserung zugleich gegen seinen pein- und angstvollen Zustand : sodann will er für mächtiger gelten, als er ist, und missbraucht desshalb die Gelegenheiten : der Furchtzuwachs, den er erzeugt, ist sein Machtzuwachs. Er merkt zeitig, dass nicht Das, was er i s t , sondern Das, was er g i lt , ihn trägt oder niederwirft : | hier ist der Ursprung der E it e l k e it . Der Mächtige sucht mit allen Mitteln Vermehrung des G l au b e n s an seine Macht. – Die Unterworfenen, die vor ihm zittern und ihm dienen, wissen wiederum, dass sie genau so viel Werth sind als sie ihm g e lt e n : wesshalb sie auf diese Geltung hinarbeiten und nicht auf ihre eigene Befriedigung an sich. Wir kennen die Eitelkeit nur in den abgeschwächtesten Formen, in ihren Sublimirungen und kleinen Dosen, weil wir in einem späten und sehr gemilderten Zustande der Gesellschaft leben : ursprünglich ist sie d ie g r o s s e Nüt z l ic h k e it , das stärkste Mittel der Erhaltung. Und zwar wird die Eitelkeit um so grösser sein, je klüger der Einzelne ist : weil die Vermehrung des

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Glaubens an Macht leichter ist, als die Vermehrung der Macht selber, aber nur für D e n , der Geist hat,  – oder, wie es für Urzustände heissen muss, der l i s t i g und h i nt e r h a lt i g ist. 182. Wet t e r z e ic he n d e r C u lt u r. – Es giebt so wenig entscheidende Wetterzeichen der Cultur, dass man froh sein muss, für seinen Haus- und Gartengebrauch wenigstens Ein untrügliches in den Händen zu haben. Um zu prüfen, ob Jemand zu uns gehört oder nicht – ich meine zu den freien Geistern –, so prüfe man seine Empfi ndung für das Christenthum. Steht er irgendwie anders zu ihm als k r it i s c h , so kehren wir ihm den Rücken : er bringt uns unreine Luft und schlechtes Wetter. – Un s e r e Aufgabe ist es nicht mehr, solche Menschen zu lehren, was ein Scirocco-Wind ist ; sie haben Mosen und die Propheten des Wetters und der Aufklärung : wollen sie diese nicht hören, so – | 183. Zü r nen u nd st r a fen h at sei ne Z eit. – Zürnen und strafen ist unser Angebinde von der Thierheit her. Der Mensch wird erst mündig, wenn er diess Wiegengeschenk den Thieren zurückgiebt.  – Hier liegt einer der grössten Gedanken vergraben, welche Menschen haben können, der Gedanke an einen Fortschritt aller Fortschritte. – Gehen wir einige Jahrtausende mit einander vorwärts, meine Freunde ! Es ist s e h r v ie l Freude noch den Menschen vorbehalten, wovon den gegenwärtigen noch kein Geruch zugeweht ist ! Und zwar dürfen wir uns diese Freude versprechen, ja als etwas Nothwendiges verheissen und beschwören, im Fall nur die Entwickelung der menschlichen Vernunft n ic ht s t i l le s t e ht ! Einstmals wird man die log i s c he Sünde, welche im Zürnen und Strafen, einzeln oder gesellschaftsweise geübt, verborgen liegt, n ic ht me h r ü b e r ’s He r z bringen : einstmals, wenn Herz und Kopf so nahe bei einander zu wohnen gelernt haben,

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wie sie jetzt noch einander ferne stehen. Dass sie sich n ic ht me h r s o f e r ne stehen, wie ursprünglich, ist beim Blick auf den ganzen Gang der Menschheit ziemlich ersichtlich ; und der Einzelne, der ein Leben innerer Arbeit zu überschauen hat, wird mit stolzer Freude sich der überwundenen Entfernung, der erreichten Annäherung bewusst werden, um daraufhin noch grössere Hoff nungen wagen zu dürfen. 184. A bk u n f t d e r „Pe s s i m i s t e n“.  – Ein Bissen guter Nahrung entscheidet oft, ob wir mit hohlem Auge oder hoff nungsreich in die Zukunft schauen : diess reicht in’s Höchste und Geistigste hinauf. Die Unzufriedenheit und | Welt-Schwärzerei ist dem gegenwärtigen Geschlechte von den ehemaligen Hungerleidern her ve r e r bt . Auch unsern Künstlern und Dichtern merkt man häufig an, wenn sie selber auch noch so üppig leben, dass sie von keiner guten Herkunft sind, dass sie von unterdrückt lebenden und schlecht genährten Vorfahren Mancherlei in’s Blut und Gehirn mitbekommen haben, was als Gegenstand und gewählte Farbe in ihrem Werke wieder sichtbar wird. Die Cultur der Griechen ist die der Vermögenden, und zwar der Altvermögenden : sie lebten ein paar Jahrhunderte hindurch b e s s e r, als wir (in jedem Sinne besser, namentlich viel einfacher in Speise und Trank) : da wurden endlich die Gehirne so voll und fein zugleich, da floss das Blut so rasch hindurch, einem freudigen hellen Weine gleich, dass das Gute und Beste bei ihnen nicht mehr düster, verzückt und gewaltsam, sondern schön und sonnenhaft heraustrat. 185. Vom ve r nü n f t i g e n To d e. – Was ist vernünftiger, die Maschine stillzustellen, wenn das Werk, das man von ihr verlangte, ausgeführt ist, – oder sie laufen zu lassen, bis sie von selber stille steht, das heisst bis sie verdorben ist ? Ist Letzte-

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res nicht eine Vergeudung der Unterhaltungskosten, ein Missbrauch mit der Kraft und Aufmerksamkeit der Bedienenden ? Wird hier nicht weggeworfen, was anderswo sehr noth thäte ? Wird nicht selbst eine Art Missachtung gegen die Maschinen überhaupt verbreitet, dadurch, dass viele von ihnen so nutzlos unterhalten und bedient werden ? – Ich spreche vom unfreiwilligen (natürlichen) und vom freiwilligen (vernünftigen) Tode. Der natürliche Tod ist der von | aller Vernunft unabhängige, der eigentlich u nve r nü n f t i g e Tod, bei dem die erbärmliche Substanz der Schale darüber bestimmt, wie lange der Kern bestehen soll oder nicht : bei dem also der verkümmernde, oft kranke und stumpfsinnige Gefängnisswärter der Herr ist, der den Punct bezeichnet, wo sein vornehmer Gefangener sterben soll. Der natürliche Tod ist der Selbstmord der Natur, das heisst die Vernichtung des vernünftigen Wesens durch das unvernünftige, welches an das erstere gebunden ist. Nur unter der religiösen Beleuchtung kann es umgekehrt erscheinen : weil dann, wie billig, die höhere Vernunft (Gottes) ihren Befehl giebt, dem die niedere Vernunft sich zu fügen hat. Ausserhalb der religiösen Denkungsart ist der natürliche Tod keiner Verherrlichung werth.  – Die weisheitsvolle Anordnung und Verfügung des Todes gehört in jene jetzt ganz unfassbar und unmoralisch klingende Moral der Zukunft, in deren Morgenröthe zu blicken ein unbeschreibliches Glück sein muss. 186. Zu r üc k bi ldend. – Alle Verbrecher zwingen die Gesellschaft auf frühere Stufen der Cultur zurück, als die ist, auf welcher sie gerade steht ; sie wirken zurückbildend. Man denke an die Werkzeuge, welche die Gesellschaft der Nothwehr halber sich schaffen und unterhalten muss : an den verschmitzten Polizisten, den Gefängnisswärter, den Henker ; man vergesse den öffentlichen Ankläger und den Advocaten nicht ; endlich frage man sich, ob nicht der Richter selber, und die Strafe und das

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ganze Gerichtsverfahren in ihrer Wirkung auf die Nicht-Verbrecher viel eher niederdrückende, als | erhebende Erscheinungen sind ; es wird eben nie gelingen, der Nothwehr und der Rache das Gewand der Unschuld umzulegen ; und so oft man den Menschen als ein Mittel zum Zwecke der Gesellschaft benutzt und opfert, trauert alle höhere Menschlichkeit darüber. 187. K r ie g a l s He i l m it t e l . – Matt und erbärmlich werdenden Völkern mag der Krieg als Heilmittel anzurathen sein : falls sie nämlich durchaus noch fortleben wollen : denn es giebt für die Völker-Schwindsucht auch eine Brutalitäts-Cur. Das ewige Leben-wollen und Nicht-sterben-können ist aber selber schon ein Zeichen von Greisenhaftigkeit der Empfi ndung : je voller und tüchtiger man lebt, um so schneller ist man bereit, das Leben für eine einzige gute Empfi ndung dahin zu geben. Ein Volk, das so lebt und empfi ndet, hat die Kriege nicht nöthig. 188. Geistige und leibl iche Ver pf lan zung a ls Hei lm ittel. – Die verschiedenen Culturen sind verschiedene geistige Klimata, von denen ein jedes diesem oder jenem Organismus vornehmlich schädlich oder heilsam ist. Die H i s t or ie im Ganzen, als das Wissen um die verschiedenen Culturen, ist die He i l m it t e l le h r e, nicht aber die Wissenschaft der Heilkunst selber. Der A r z t ist erst recht noch nöthig, der sich dieser Heilmittellehre bedient, um Jeden in sein ihm gerade erspriessliches Klima zu senden – zeitweilig oder auf immer. In der Gegenwart leben, innerhalb einer einzigen Cultur, genügt nicht als allgemeines Recept, dabei würden zu viele höchst nützliche Arten von Menschen aussterben, die in ihr nicht | gesund athmen können. Mit der Historie muss man ihnen L u f t machen und sie zu erhalten suchen ; auch die Menschen zurückgebliebener Culturen haben ihren Werth. –

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Dieser Cur der Geister steht zur Seite, dass die Menschheit in leiblicher Beziehung darnach streben muss, durch eine medicinische Geographie dahinterzukommen, zu welchen Entartungen und Krankheiten jede Gegend der Erde Anlass giebt, und umgekehrt welche Heilfactoren sie bietet : und dann müssen allmählich Völker, Familien und Einzelne so lange und so anhaltend verpflanzt werden, bis man über die angeerbten physischen Gebrechen Herr geworden ist. Die ganze Erde wird endlich eine Summe von Gesundheits-Stationen sein. 189. Der Baum der Menschheit und d ie Vernunf t. – Das, was ihr als Uebervölkerung der Erde in greisenhafter Kurzsichtigkeit fürchtet, giebt dem Hoff nungsvolleren eben die grosse Aufgabe in die Hand : die Menschheit soll einmal ein Baum werden, der die ganze Erde überschattet, mit vielen Milliarden von Blüthen, die alle neben einander Früchte werden sollen, und die Erde selbst soll zur Ernährung dieses Baumes vorbereitet werden. Dass der jetzige no c h k le i ne Ansatz dazu an Saft und Kraft zunehme, dass in unzähligen Canälen der Saft zur Ernährung des Ganzen und des Einzelnen umströme, – aus diesen und ähnlichen Aufgaben ist der M a a s s s t a b zu entnehmen, ob ein jetziger Mensch nützlich oder unnütz ist. Die Aufgabe ist unsäglich gross und kühn : wir Alle wollen dazu thun, dass der Baum nicht vor der Zeit verfaule ! Dem historischen Kopfe gelingt es wohl, das menschliche Wesen und | Treiben sich im Ganzen der Zeit so vor die Augen zu stellen, wie uns Allen das Ameisen-Wesen mit seinen kunstvoll gethürmten Haufen vor Augen steht. Oberflächlich beurtheilt, würde auch das gesammte Menschenthum gleich dem Ameisenthum von „Instinct“ reden lassen. Bei strengerer Prüfung nehmen wir wahr, wie ganze Völker, ganze Jahrhunderte sich abmühen, neue Mittel ausfi ndig zu machen und au s z u p r o b i r e n , womit man einem grossen menschlichen

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Ganzen und zuletzt dem grossen Gesammt-Fruchtbaume der Menschheit wohlthun könne ; und was auch immer bei diesem Ausprobiren die Einzelnen, die Völker und die Zeiten für Schaden leiden, durch diesen Schaden sind jedesmal Einzelne k lu g geworden, und von ihnen aus strömt die Klugheit langsam auf die Maassregeln ganzer Völker, ganzer Zeiten über. Auch die Ameisen irren und vergreifen sich ; die Menschheit kann recht wohl durch Thorheit der Mittel verderben und verdorren, vor der Zeit, es giebt weder für jene, noch für diese einen sicher führenden Instinct. Wir müssen vielmehr der grossen Aufgabe i n’s G e s ic ht s e he n , die Erde für ein Gewächs der grössten und freudigsten Fruchtbarkeit vor z u b e r e it e n , – einer Aufgabe der Vernunft für die Vernunft ! 190. Da s L ob d e s Une i g e n nüt z i g e n u nd s e i n Ur s pr u n g. – Zwischen zwei nachbarlichen Häuptlingen war seit Jahren Hader : man verwüstete einander die Saaten, führte Heerden weg, brannte Häuser nieder, mit einem unentschiedenen Erfolge im Ganzen, weil ihre Macht ziemlich gleich war. Ein Dritter, der durch die abgeschlossene Lage seines Besitzthums von diesen | Fehden sich fern halten konnte, aber doch Grund hatte, den Tag zu fürchten, an dem einer dieser händelsüchtigen Nachbarn entscheidend zum Uebergewicht kommen würde, trat endlich zwischen die Streitenden, mit Wohlwollen und Feierlichkeit : und im Geheimen legte er auf seinen Friedensvorschlag ein schweres Gewicht, indem er jedem Einzelnen zu verstehen gab, fürderhin gegen Den, welcher sich wider den Frieden sträube, mit dem Andern gemeinsame Sache zu machen. Man kam vor ihm zusammen, man legte zögernd in seine Hand die Hände, welche bisher die Werkzeuge und allzu oft die Ursache des Hasses gewesen waren, – und wirklich, man versuchte es ernstlich mit dem Frieden. Jeder sah mit Erstaunen, wie plötzlich sein Wohlstand, sein

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Behagen wuchs, wie man jetzt am Nachbar einen kaufs- und verkaufsbereiten Händler, anstatt eines tückischen oder offen höhnenden Uebelthäters hatte, wie selbst, in unvorhergesehenen Nothfällen, man sich gegenseitig aus der Noth ziehen konnte, anstatt, wie es bisher geschehen, diese Noth des Nachbars auszunutzen und auf ’s Höchste zu steigern ; ja es schien, als ob der Menschenschlag in beiden Gegenden sich seitdem verschönert hätte : denn die Augen hatten sich erhellt, die Stirnen sich entrunzelt, Allen war das Vertrauen zur Zukunft zu eigen geworden, – und Nichts ist den Seelen und Leibern der Menschen förderlicher, als diess Vertrauen. Man sah einander alle Jahre am Tage des Bündnisses wieder, die Häuptlinge sowohl wie deren Anhang, und zwar vor dem Angesicht des Mittlers : dessen Handlungsweise man, je grösser der Nutzen war, den man ihr verdankte, immer mehr anstaunte und verehrte. Man nannte sie u ne i g e n nüt z i g , – man hatte den Blick viel zu fest auf den eigenen, | zeither eingeernteten Nutzen gerichtet, um von der Handlungsweise des Nachbars mehr zu sehen, als dass sein Zustand in Folge derselben sich nicht so verändert habe, wie der eigene : er war vielmehr der selbe geblieben, und so schien es, dass Jener den Nutzen nicht im Auge gehabt habe. Zum ersten Male sagte man sich, dass die Uneigennützigkeit eine Tugend sei : gewiss mochten im Kleinen und Privaten sich oftmals bei ihnen ähnliche Dinge ereignet haben, aber man hatte das Augenmerk für diese Tugend erst, als sie zum ersten Male in ganz grosser Schrift, lesbar für die ganze Gemeinde, an die Wand gemalt wurde. Erkannt als Tugenden, zu Namen gekommen, in Schätzung gebracht, zur Aneignung anempfohlen, sind die moralischen Eigenschaften erst von dem Augenblicke an, da sie s ic ht b a r über Glück und Verhängniss ganzer Gesellschaften entschieden haben : dann ist nämlich die Höhe der Empfi ndung und die Erregung der inneren schöpferischen Kräfte bei V ie le n so gross, dass man dieser Eigenschaft Geschenke bringt, vom

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Besten, was Jeder hat. Der Ernste legt ihr seinen Ernst zu Füssen, der Würdige seine Würde, die Frauen ihre Milde, die Jünglinge alles Hoff nungs- und Zukunftsreiche ihres Wesens : der Dichter leiht ihr Worte und Namen, reiht sie in den Reigentanz ähnlicher Wesen ein, giebt ihr einen Stammbaum, und betet zuletzt, wie es Künstler thun, das Gebilde seiner Phantasie als neue Gottheit an, – er le h r t sie anbeten. So wird eine Tugend, weil die Liebe und die Dankbarkeit Aller an ihr arbeitet, wie an einer Bildsäule, zuletzt eine A n s a m m lu n g des Guten und Verehrungswürdigen, eine Art Tempel und göttliche Person zugleich. Sie steht fürderhin als einzelne Tugend da, als ein Wesen | für sich, was sie bis dahin nicht war, und übt die Rechte und die Macht einer geheiligten Uebermenschlichkeit aus. – Im späteren Griechenland standen die Städte voll von solchen vergottmenschlichten Abstractis (man verzeihe das absonderliche Wort um des absonderlichen Begriffs willen) ; das Volk hatte sich auf seine Art einen platonischen „Ideenhimmel“ inmitten seiner Erde hergerichtet, und ich glaube nicht, dass dessen Inwohner weniger lebendig empfunden wurden, als irgend eine althomerische Gottheit. 191. D u n k e l -Z e it e n .  – „Dunkel-Zeiten“ nennt man solche in Norwegen, da die Sonne den ganzen Tag unter dem Horizonte bleibt : die Temperatur fällt dabei fortwährend langsam. – Ein schönes Gleichniss für alle Denker, welchen die Sonne der Menschheits-Zukunft zeitweilig verschwunden ist. 192. D e r Ph i lo s o ph d e r Ue p p i g k e it . – Ein Gärtchen, Feigen, kleine Käse und dazu drei oder vier gute Freunde, – das war die Ueppigkeit Epikur’s.

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193. D ie E p o c he n d e s L eb e n s . – Die eigentlichen Epochen im Leben sind jene kurzen Zeiten des Stillstandes, mitten innen zwischen dem Aufsteigen und Absteigen eines regierenden Gedankens oder Gefühls. Hier ist wieder einmal S at t he it da : alles Andere ist Durst und Hunger – oder Ueberdruss. 194. Der Traum. – Unsere Träume sind, wenn sie einmal ausnahmsweise gelingen und vollkommen werden – für gewöhnlich ist der Traum eine Pfuscher-Arbeit –, | symbolische Scenen- und Bilder-Ketten an Stelle einer erzählenden Dichter-Sprache, sie umschreiben unsere Erlebnisse oder Erwartungen oder Verhältnisse mit dichterischer Kühnheit und Bestimmtheit, dass wir dann morgens immer über uns erstaunt sind, wenn wir uns unserer Träume erinnern. Wir verbrauchen im Träumen zu viel Künstlerisches – und sind desshalb am Tage oft zu arm daran. 195. Nat u r u nd W i s s e n s c h a f t . – Ganz wie in der Natur, werden auch in der Wissenschaft die schlechteren, unfruchtbareren Gegenden zuerst gut angebaut, – weil hierfür eben die Mittel der a n g e he nd e n Wissenschaft ungefähr ausreichen. Die Bearbeitung der fruchtbarsten Gegenden setzt eine sorgsam entwickelte ungeheure Kraft von Methoden, gewonnene Einzel-Resultate und eine organisirte Schaar von Arbeitern, gut geschulten Arbeitern, voraus ; – diess Alles fi ndet sich erst spät zusammen. – Die Ungeduld und der Ehrgeiz greifen oft zu früh nach diesen fruchtbarsten Gegenden ; aber die Ergebnisse sind dann gleich Null. In der Natur würden sich solche Versuche dadurch rächen, dass die Ansiedler verhungerten.

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196. Ei n f ac h leb e n . – Eine einfache Lebensweise ist jetzt schwer : dazu thut viel mehr Nachdenken und Erfi ndungsgabe noth, als selbst sehr gescheute Leute haben. Der Ehrlichste von ihnen wird vielleicht noch sagen : „ich habe nicht die Zeit, darüber so lange nachzudenken. Die einfache Lebensweise ist für mich ein zu vornehmes Ziel ; ich will warten, bis Weisere, als ich bin, sie gefunden haben.“ | 197. S p it z e n u nd S p it z c he n . – Die geringe Fruchtbarkeit, die häufige Ehelosigkeit und überhaupt die geschlechtliche Kühle der höchsten und cultivirtesten Geister, sowie der zu ihnen gehörenden Classen, ist wesentlich in der Oekonomie der Menschheit ; die Vernunft erkennt und macht Gebrauch davon, dass bei einem äussersten Puncte der geistigen Entwikkelung die Gefahr einer ne r vö s e n Nachkommenschaft sehr gross ist : solche Menschen sind S p it z e n der Menschheit, – sie dürfen nicht weiter in Spitzchen auslaufen. 198. K e i ne Nat u r m ac ht S p r ü n g e. – Wenn der Mensch sich noch so stark fortentwickelt und aus einem Gegensatz in den andern überzuspringen scheint : bei genaueren Beobachtungen wird man doch die Ve r z a h nu n g e n auffi nden, wo das neue Gebäude aus dem älteren herauswächst. Diess ist die Aufgabe des Biographen : er muss nach dem Grundsatze über das Leben denken, dass keine Natur Sprünge macht. 199. Zw a r r e i n l ic h . – Wer sich mit reingewaschenen Lumpen kleidet, kleidet sich zwar reinlich, aber doch lumpenhaft.

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200. D e r E i n s a me s p r ic ht .  – Man erntet als Lohn für vielen Ueberdruss, Missmuth, Langeweile – wie diess alles eine Einsamkeit ohne Freunde, Bücher, Pflichten, Leidenschaften mit sich bringen muss  – jene Viertelstunden tiefster Einkehr in sich und die Natur. Wer sich völlig gegen die Langeweile verschanzt, verschanzt sich auch | gegen sich selber : den kräftigsten Labetrunk aus dem eigenen innersten Born wird er nie zu trinken bekommen. 201. Fa l sc he B er ü h mt heit. – Ich hasse jene angeblichen Naturschönheiten, welche im Grunde nur durch das Wissen, namentlich das geographische, Etwas bedeuten, an sich aber dem schönheitsdurstigen Sinne dürftig bleiben : zum Beispiel die Ansicht des Montblanc von Genf aus – etwas Unbedeutendes ohne die zu Hülfe eilende Gehirnfreude des Wissens ; die näheren Berge dort sind alle schöner und ausdrucksvoller, – aber „lange nicht so hoch“, wie jenes absurde Wissen, zur Abschwächung, hinzufügt. Das Auge widerspricht dabei dem Wissen : wie soll es sich im Widersprechen wahrhaft freuen können ! 202. Verg nüg u ng s-Rei sende. – Sie steigen wie Thiere den Berg hinauf, dumm und schwitzend ; man hatte ihnen zu sagen vergessen, dass es unterwegs schöne Aussichten gebe. 203. Zuv ie l u nd z u we n i g. – Die Menschen durchleben jetzt alle zu viel und durchdenken zu wenig : sie haben Heisshunger und Kolik zugleich und werden desshalb immer magerer, soviel sie auch essen.  – Wer jetzt sagt : „ich habe Nichts erlebt“– ist ein Dummkopf.

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204. E nd e u nd Z ie l . – Nicht jedes Ende ist das Ziel. Das Ende der Melodie ist nicht deren Ziel ; aber trotzdem : hat die Melodie ihr Ende nicht erreicht, so hat sie auch ihr Ziel nicht erreicht. Ein Gleichniss. | 205. N e u t r a l it ät d e r g r o s s e n Nat u r.  – Die Neutralität der grossen Natur (in Berg, Meer, Wald und Wüste) gefällt, aber nur eine kurze Zeit : nachher werden wir ungeduldig. „Wollen denn diese Dinge gar Nichts z u u n s sagen ? Sind w i r für sie nicht da ?“ Es entsteht das Gefühl eines crimen laesae majestatis humanae. 206. D ie A b s ic ht e n ve r g e s s e n . – Man vergisst über der Reise gemeinhin deren Ziel. Fast jeder Beruf wird als Mittel zu einem Zwecke gewählt und begonnen, aber als letzter Zweck fortgeführt. Das Vergessen der Absichten ist die häufigste Dummheit, die gemacht wird. 207. S o n ne n b a h n d e r Id e e. – Wenn eine Idee am Horizonte eben aufgeht, ist gewöhnlich die Temperatur der Seele dabei sehr kalt. Erst allmählich entwickelt die Idee ihre Wärme, und am heissesten ist diese (das heisst sie thut ihre grössten Wirkungen), wenn der Glaube an die Idee schon wieder im Sinken ist. 208. Wodu rc h ma n A l le w ider s ic h h ät te. – Wenn jetzt Jemand zu sagen wagte : „wer nicht für mich ist, der ist wider mich“, so hätte er sofort Alle wider sich. – Diese Empfi ndung macht unserm Zeitalter Ehre.

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209. S ic h d e s R e ic ht hu m s s c h ä me n . – Unsere Zeit verträgt nur eine einzige Gattung von Reichen, solche, welche sich ihres Reichthums s c h ä me n . Hört man von | Jemandem „er ist sehr reich“, so hat man dabei sofort eine ähnliche Empfi ndung wie beim Anblick einer widerlich anschwellenden Krankheit, einer Fett- oder Wassersucht : man muss sich gewaltsam seiner Humanität erinnern, um mit einem solchen Reichen so verkehren zu können, dass er von unserm Ekelgefühle Nichts merkt. Sobald er aber gar sich Etwas auf seinen Reichthum zu Gute thut, so mischt sich zu unserm Gefühle die fast mitleidige Verwunderung über einen so hohen Grad der menschlichen Unvernunft : sodass man die Hände gen Himmel erheben und rufen möchte „armer Entstellter, Ueberbürdeter, hundertfach Gefesselter, dem jede Stunde etwas Unangenehmes bringt o d e r b r i n g e n k a n n , in dessen Gliedern je d e s Ereigniss von zwanzig Völkern nachzuckt, wie magst du uns glauben machen, dass du dich in deinem Zustande wohlfühlst ! Wenn du irgendwo öffentlich erscheinst, – so wissen wir, dass es eine Art Spiessruthenlaufens ist, unter lauter Blikken, welche für dich nur kalten Hass oder Zudringlichkeit oder schweigsamen Spott haben. Dein Erwerben mag leichter sein, als das der Anderen : aber es ist ein überflüssiges Erwerben, welches wenig Freude macht, und dein B ew a h r e n alles Erworbenen ist jedenfalls jet z t ein mühseligeres Ding, als irgend ein mühseliges Erwerben. Du leidest f or t w ä h r e nd , denn du verlierst fortwährend. Was nützt es dir, dass man dir immer neues künstliches Blut zuführt : desshalb thun doch die Schröpfköpfe nicht weniger weh, die auf deinem Nacken sitzen, beständig sitzen ! – Aber, um nicht unbillig zu werden, es ist schwer, vielleicht unmöglich für dich, n ic ht reich zu sein : du mu s s t bewahren, mu s s t neu erwerben, der vererbte Hang deiner Natur ist das Jo c h über dir, – aber desshalb | täusche uns nicht und s c h ä me dich ehrlich und

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sichtlich des Joches, das du trägst ; da du ja im Grunde deiner Seele müde und unwillig bist, es zu tragen. Diese Scham schändet nicht.“ 210. Au s s c hwe i f u n g i n d e r A n m a a s s u n g. – Es giebt so anmaassende Menschen, dass sie eine Grösse, welche sie öffentlich bewundern, nicht anders zu loben wissen, als indem sie dieselbe als Vorstufe und Brücke, die zu i h ne n führt, darstellen. 211. Au f dem Boden der Sc h mac h. – Wer den Menschen eine Vorstellung nehmen will, thut sich gewöhnlich nicht genug damit, sie zu widerlegen und den unlogischen Wurm, der in ihr sitzt, herauszuziehen, vielmehr wirft er, nachdem der Wurm getödtet ist, die ganze Frucht auch noch in den Koth, um sie den Menschen unansehnlich zu machen und Ekel vor ihr einzuflössen. So glaubt er das Mittel gefunden zu haben, die bei widerlegten Vorstellungen so gewöhnliche „Wiederauferstehung am dritten Tage“ unmöglich zu machen. – Er irrt sich, denn gerade auf dem B o d e n d e r S c h m ac h , inmitten des Unflathes, treibt der Fruchtkern der Vorstellung schnell neue Keime –. Also : ja nicht verhöhnen, beschmutzen, was man endgültig beseitigen will, sondern es achtungsvoll au f E i s le g e n , immer und immer wieder, in Anbetracht, dass Vorstellungen ein sehr zähes Leben haben. Hier muss man nach der Maxime handeln : „Eine Widerlegung ist keine Widerlegung“. 212. L o o s d e r Mor a l it ät . – Da die Gebundenheit der Geister abnimmt, ist sicherlich die Moralität (die ver|erbte, überlieferte, instincthafte Handlungsweise n ac h mor a l i s c he n G e f ü h le n) ebenfalls in Abnahme : nicht aber die einzelnen Tugenden, Mässigkeit, Gerechtigkeit, Seelenruhe, – denn die grösste Freiheit des bewussten Geistes führt einmal schon

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unwillkürlich zu ihnen hin und räth sie sodann auch als nüt z l ic h an. 213. Der Fanatiker des Misstrauens und seine Bürgschaf t. – D e r A lt e : Du willst das Ungeheure wagen und die Menschen im Grossen belehren ? Wo ist deine Bürgschaft ? – P y r r ho n : Hier ist sie : ich will die Menschen vor mir selber warnen, ich will alle Fehler meiner Natur öffentlich bekennen und meine Uebereilungen, Widersprüche und Dummheit vor Aller Augen blosstellen. Hört nicht auf mich, will ich ihnen sagen, bis ich nicht eurem Geringsten gleich geworden bin, und noch geringer bin, als er ; sträubt euch gegen die Wahrheit, solange ihr nur könnt, aus Ekel vor Dem, der ihr Fürsprecher ist. Ich werde euer Verführer und Betrüger sein, wenn ihr noch den mindesten Glanz von Achtbarkeit und Würde an mir wahrnehmt. – D e r A lt e : Du versprichst zu viel ; du kannst diese Last nicht tragen. – P y r r ho n : So will ich auch diess den Menschen sagen, dass ich zu schwach bin und nicht halten kann, was ich verspreche. Je grösser meine Unwürdigkeit, um so mehr werden sie der Wahrheit misstrauen, wenn sie durch meinen Mund geht. – D e r A lt e : Willst du denn der Lehrer des Misstrauens gegen die Wahrheit sein ? – P y r r ho n : Des Misstrauens, wie es noch nie in der Welt war, des Misstrauens gegen Alles und Jedes. Es ist der einzige Weg zur Wahrheit. Das rechte Auge darf dem linken nicht trauen, und Licht wird eine Zeitlang Finsterniss | heissen müssen : diess ist der Weg, den ihr gehen müsst. Glaubt nicht, dass er euch zu Fruchtbäumen und schönen Weiden führe. Kleine harte Körner werdet ihr auf ihm fi nden, – das sind die Wahrheiten : Jahrzehende lang werdet ihr die Lügen händevoll verschlingen müssen, um nicht Hungers zu sterben, ob ihr schon wisset, dass es Lügen sind. Jene Körner aber werden gesäet und eingegraben, und vielleicht, vielleicht giebt es einmal einen Tag der Ernte : Niemand darf ihn ve r s p r e c he n , er sei denn ein

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Fanatiker. – D e r A lt e : Freund ! Freund ! Auch deine Worte sind die des Fanatikers ! – P y r r ho n : Du hast Recht ! Ich will gegen alle Worte misstrauisch sein. – D e r A lt e : Dann wirst du schweigen müssen. – P y r r ho n : Ich werde den Menschen sagen, dass ich schweigen muss und dass sie meinem Schweigen misstrauen sollen. – D e r A lt e : Du trittst also von deinem Unternehmen zurück ? – P y r r ho n : Vielmehr, – du hast mir eben das Thor gezeigt, durch welches ich gehen muss. – D e r A lt e : Ich weiss nicht – : verstehen wir uns jetzt noch völlig ? – P y r r ho n : Wahrscheinlich nicht. – D e r A lt e : Wenn du dich nur selber völlig verstehst ! – P y r r ho n dreht sich um und lacht. – D e r A lt e : Ach Freund ! Schweigen und Lachen, – ist das jetzt deine ganze Philosophie ? – P y r r ho n : Es wäre nicht die schlechteste. – 214. Europäische Bücher. – Man ist beim Lesen von Montaigne, Larochefoucauld, Labruyère, Fontenelle (namentlich der dialogues des morts), Vauvenargues, Champfort dem Alterthum näher, als bei irgend welcher Gruppe von sechs Autoren anderer Völker. Durch jene Sechs ist der G e i s t d e r let z t e n J a h r|hu n d e r t e der a l t e n Zeitrechnung wieder erstanden, – sie zusammen bilden ein wichtiges Glied in der grossen noch fortlaufenden Kette der Renaissance. Ihre Bücher erheben sich über den Wechsel des nationalen Geschmacks und der philosophischen Färbungen, in denen für gewöhnlich jetzt jedes Buch schillert und schillern muss, um berühmt zu werden : sie enthalten mehr w i r k l ic he G e d a n k e n , als alle Bücher deutscher Philosophen zusammengenommen : Gedanken von der Art, welche Gedanken macht, und die – ich bin in Verlegenheit zu Ende zu defi niren ; genug dass es mir Autoren zu sein scheinen, welche weder für Kinder noch für Schwärmer geschrieben haben, weder für Jungfrauen noch für Christen, weder für Deutsche noch für – ich bin wieder in Verlegenheit, meine Liste zu schliessen. – Um aber ein deut-

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liches Lob zu sagen : sie wären, griechisch geschrieben, auch von Griechen verstanden worden. Wie viel hätte dagegen selbst ein Plato von den Schriften unserer besten deutschen Denker, zum Beispiel Goethe’s, Schopenhauer’s, überhaupt verstehen k ö n n e n , von dem Widerwillen zu schweigen, welchen ihre Schreibart ihm erregt haben würde, nämlich das Dunkle, Uebertriebene und gelegentlich wieder Klapperdürre, – Fehler, an denen die Genannten noch am Wenigsten von den deutschen Denkern und doch noch allzuviel leiden (Goethe, als Denker, hat die Wolke lieber umarmt, als billig ist, und Schopenhauer wandelt nicht ungestraft fast fortwährend unter Gleichnissen der Dinge, statt unter den Dingen selber). – Dagegen, welche Helligkeit und zierliche Bestimmtheit bei jenen Franzosen ! Diese Kunst hätten auch die feinohrigsten Griechen gutheissen müssen, und Eines würden sie sogar bewundert und | angebetet haben, den französischen Witz des Ausdrucks : so Etwas l iebt e n sie sehr, ohne gerade darin besonders stark zu sein. 215. Mode u nd moder n. – Ueberall, wo noch die Unwissenheit, die Unreinlichkeit, der Aberglaube im Schwange sind, wo der Verkehr lahm, die Landwirthschaft armselig, die Priesterschaft mächtig ist, da fi nden sich auch noch die Nat io n a lt r ac ht e n . Dagegen herrscht die Mo d e, wo die Anzeichen des Entgegengesetzten sich fi nden. Die Mode ist also neben den Tu g e nd e n des jetzigen Europa zu fi nden : sollte sie wirklich deren Schattenseite sein ? – Zunächst sagt die m ä n n l ic he Bekleidung, welche modisch und nicht mehr national ist, von Dem, der sie trägt, aus, dass der Europäer nicht als E i n z e ln e r, noch als S t a n d e s - und Vo l k s g e n o s s e au f f a l l e n will, dass er sich eine absichtliche Dämpfung dieser Arten von Eitelkeit zum Gesetz gemacht hat ; dann dass er arbeitsam ist und nicht viel Zeit zum Ankleiden und Sich-putzen hat, auch alles Kostbare und Ueppige in Stoff und Faltenwurf im Wider-

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spruch mit seiner Arbeit fi ndet ; endlich dass er durch seine Tracht auf die gelehrteren und geistigeren Berufe als d i e hinweist, welchen er als europäischer Mensch am nächsten steht oder stehen möchte : während durch die noch vorhandenen Nationaltrachten der Räuber, der Hirt oder der Soldat als die wünschbarsten und tonangebenden Lebensstellungen hindurchschimmern. Innerhalb dieses Gesammtcharakters der männlichen Mode giebt es dann jene kleinen Schwankungen, welche die Eitelkeit der jungen Männer, der Stutzer und Nichtsthuer der grossen Städte hervorbringt, also D e r e r, | we lc he a l s eu r o p ä i s c he Me n s c he n no c h n ic ht r e i f g ewor d e n s i nd . – Die europäischen Frauen sind diess no c h v ie l we n i g e r, wesshalb die Schwankungen bei ihnen viel grösser sind : sie wollen auch das Nationale nicht, und hassen es, als Deutsche, Franzosen, Russen an der Kleidung erkannt zu werden, aber als Einzelne wollen sie sehr gern auffallen ; ebenso soll Niemand schon durch ihre Bekleidung in Zweifel gelassen werden, dass sie zu einer angeseheneren Classe der Gesellschaft (zur „guten“ oder „hohen“ oder „grossen“ Welt) gehören, und zwar wünschen sie nach dieser Seite hin gerade um so mehr voreinzunehmen, als sie nicht oder kaum zu jener Classe gehören. Vor Allem aber will die junge Frau Nichts tragen, was die etwas ältere trägt, weil sie durch den Verdacht eines höheren Lebensalters im Preise zu fallen glaubt : die ältere wiederum möchte durch jugendlichere Tracht so lange täuschen, als es irgend angeht,  – aus welchem Wettbewerb sich zeitweilig immer Moden ergeben müssen, bei denen das eigentlich Jugendliche ganz unzweideutig und unnachahmlich sichtbar wird. Hat der Erfi ndungsgeist der jungen Künstlerinnen in solchen Blosstellungen der Jugend eine Zeitlang geschwelgt oder, um die ganze Wahrheit zu sagen : hat man wieder einmal den Erfi ndungsgeist älterer höfischer Culturen, sowie den der noch bestehenden Nationen, und überhaupt den ganzen costümirten Erdkreis zu Rathe gezogen

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und etwa die Spanier, die Türken und Altgriechen zur Inscenirung des schönen Fleisches zusammengekoppelt, so entdeckt man endlich immer wieder, dass man sich doch nicht zum Besten auf seinen Vortheil verstanden habe, dass, um auf die Männer Wirkung zu machen, das Versteckenspielen mit | dem schönen Leibe glücklicher sei, als die nackte und halbnackte Ehrlichkeit ; und nun dreht sich das Rad des Geschmackes und der Eitelkeit einmal wieder in entgegengesetzter Richtung : die etwas älteren jungen Frauen fi nden, dass ihr Reich gekommen sei, und der Wettkampf der lieblichsten und absurdesten Geschöpfe tobt wieder von Neuem. Je me h r aber die Frauen innerlich zunehmen und nicht mehr unter sich, wie bisher, den unreifen Altersclassen den Vorrang zugestehen, desto geringer werden diese Schwankungen ihrer Tracht, desto einfacher ihr Putz : über welchen man billigerweise nicht nach antiken Mustern das Urtheil sprechen darf, also n ic ht nach dem Maassstab der Gewandung südländischer See-Anwohnerinnen, sondern in Berücksichtigung der klimatischen Bedingungen der mittleren und nördlichen Gegenden Europa’s, derer nämlich, in welchen jetzt der geistund formerfi ndende Genius Europa’s seine liebste Heimath hat. – Im Ganzen wird also gerade n ic ht das We c h s e l nd e das charakteristische Zeichen der Mo d e und des Mo d er ne n sein, denn gerade der Wechsel ist etwas Rückständiges und bezeichnet die noch u n g e r e i f t e n männlichen und weiblichen Europäer : sondern die Ablehnung der nationalen, ständischen und individuellen Eitelkeit. Dem entsprechend ist es zu loben, weil es kraft- und zeitersparend ist, wenn einzelne Städte und Gegenden Europa’s für alle übrigen in Sachen der Kleidung denken und erfi nden, in Anbetracht dessen, dass der Formensinn nicht Jedermann geschenkt zu sein pflegt : auch ist es wirklich kein allzu hochfl iegender Ehrgeiz, wenn zum Beispiel Paris, so lange jene Schwankungen noch bestehen, es in Anspruch nimmt, der alleinige Erfi nder und Neuerer |

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in diesem Reiche zu sein. Will ein Deutscher, aus Hass gegen diese Ansprüche einer französischen Stadt, sich anders kleiden, zum Beispiel so wie Albrecht Dürer sich trug, so möge er erwägen, dass er dann ein Costüm hat, welches ehemalige Deutsche trugen, welches aber die Deutschen ebensowenig erfunden haben,  – es hat n ie eine Tracht gegeben, welche den Deutschen als Deutschen bezeichnete ; übrigens mag er zusehen, wie er aus dieser Tracht herausschaut und ob etwa der ganz moderne Kopf nicht mit all seiner Linien- und Fältchenschrift, welche das neunzehnte Jahrhundert hineingrub, gegen eine Dürerische Bekleidung Einsprache thut.  – Hier, wo die Begriffe „modern“ und „europäisch“ fast gleich gesetzt sind, wird unter Europa viel mehr an Länderstrecken verstanden, als das geographische Europa, die kleine Halbinsel Asien’s, umfasst : namentlich gehört Amerika hinzu, soweit es eben das Tochterland unserer Cultur ist. Andererseits fällt nicht einmal ganz Europa unter den Cultur-Begriff „Europa“ ; sondern nur alle jene Völker und Völkertheile, welche im Griechen-, Römer-, Juden- und Christenthum ihre gemeinsame Vergangenheit haben. 216. Die „deutsche Tugend“. – Es ist nicht zu leugnen, dass vom Ausgange des vorigen Jahrhunderts an ein Strom moralischer Erweckung durch Europa floss. Damals erst wurde die Tugend wieder beredt ; sie lernte es, die ungezwungenen Gebärden der Erhebung, der Rührung fi nden, sie schämte sich ihrer selber nicht mehr und ersann Philosophien und Gedichte zur eigenen Verherrlichung. Sucht man nach den Quellen dieses | Stromes : so fi ndet man einmal Rousseau, aber den mythischen Rousseau, den man sich nach dem Eindrucke seiner Schriften  – fast könnte man wieder sagen : seiner mythisch ausgelegten Schriften  – und nach den Fingerzeigen, die er selber gab, erdichtet hatte (er und sein Publicum arbeiteten

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beständig an dieser Idealfigur). Der andere Ursprung liegt in jener Wiederauferstehung des stoisch-grossen Römerthums, durch welche die Franzosen die Aufgabe der Renaissance auf das Würdigste weitergeführt haben. Sie giengen von der Nachschöpfung antiker Formen mit herrlichstem Gelingen zur Nachschöpfung antiker Charaktere über : sodass sie ein Anrecht auf die allerhöchsten Ehren immerdar behalten werden, als das Volk, welches der neueren Menschheit bisher die besten Bücher und die besten Menschen gegeben hat. Wie diese doppelte Vorbildlichkeit, die des mythischen Rousseau und die jenes wiedererweckten Römergeistes, auf die schwächeren Nachbarn wirkte, sieht man namentlich an Deutschland : welches in Folge seines neuen und ganz ungewohnten Aufschwunges zu Ernst und Grösse des Wollens und Sichbeherrschens zuletzt vor seiner eigenen neuen Tugend in Staunen gerieth und den Begriff „deutsche Tugend“ in die Welt warf, wie als ob es nichts Ursprünglicheres, Erbeigeneres geben könnte, als diese. Die ersten grossen Männer, welche jene französische Anregung zur Grösse und Bewusstheit des sittlichen Wollens auf sich überleiteten, waren ehrlicher und vergassen die Dankbarkeit nicht. Der Moralismus Kant’s,  – woher kommt er ? Er giebt es wieder und wieder zu verstehen : von Rousseau und dem wiedererweckten stoischen Rom. Der Moralismus Schiller’s : gleiche Quelle, gleiche Verherrlichung der | Quelle. Der Moralismus Beethoven’s in Tönen : er ist das ewige Loblied Rousseau’s, der antiken Franzosen und Schiller’s. Erst „der deutsche Jüngling“ vergass die Dankbarkeit, inzwischen hatte man ja das Ohr nach den Predigern des Franzosenhasses hingewendet : jener deutsche Jüngling, der eine Zeitlang mit mehr Bewusstheit, als man bei andern Jünglingen für erlaubt hält, in den Vordergrund trat. Wenn er nach seiner Vaterschaft spürte, so mochte er mit Recht an die Nähe Schiller’s, Fichte’s und Schleiermacher’s denken : aber seine Grossväter hätte er in Paris, in Genf suchen müssen,

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und es war sehr kurzsichtig, zu glauben, was er glaubte : dass die Tugend nicht älter als dreissig Jahre sei. Damals gewöhnte man sich daran, zu verlangen, dass beim Worte „deutsch“ auch noch so nebenbei die Tugend mitverstanden werde,  – und bis auf den heutigen Tag hat man es noch nicht völlig verlernt. – Nebenbei bemerkt, jene genannte moralische Erweckung hat für die E r k e n nt n i s s der moralischen Erscheinungen, wie sich fast errathen lässt, nur Nachtheile und rückschreitende Bewegungen zur Folge gehabt. Was ist die ganze deutsche Moralphilosophie, von Kant an gerechnet, mit allen ihren französischen, englischen und italiänischen Ausläufern und Nebenzüglern ? Ein halbtheologisches Attentat gegen Helvetius, ein Abweisen der lange und mühsam erkämpften Freiblicke oder Fingerzeige des rechten Weges, welche er zuletzt gut ausgesprochen und zusammengebracht hat. Bis auf den heutigen Tag ist Helvetius in Deutschland der best beschimpfte aller guten Moralisten und guten Menschen. 217. C l a s s i s c h u nd r om a nt i s c h .  – Sowohl die classisch | als auch die romantisch gesinnten Geister – wie es diese beiden Gattungen immer giebt – tragen sich mit einer Vision der Zukunft : aber die ersteren aus einer St ä r k e ihrer Zeit heraus, die letzteren aus deren S c hw äc he. 218. D ie M a s c h i ne a l s L e h r e r i n . – Die Maschine lehrt durch sich selber das Ineinandergreifen von Menschenhaufen, bei Actionen, wo Jeder nur Eins zu thun hat : sie giebt das Muster der Partei-Organisation und der Kriegsführung. Sie lehrt dagegen nicht die individuelle Selbstherrlichkeit : sie macht aus Vielen e i ne Maschine, und aus jedem Einzelnen ein Werkzeug zu e i ne m Zwecke. Ihre allgemeinste Wirkung ist, den Nutzen der Centralisation zu lehren.

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219. N ic ht s e s s h a f t . – Man wohnt gerne in der kleinen Stadt ; aber von Zeit zu Zeit treibt gerade sie uns in die einsamste unenthüllteste Natur : dann nämlich, wenn jene uns einmal wieder zu durchsichtig geworden ist. Endlich gehen wir, um uns wieder von dieser Natur zu e r hole n , in die grosse Stadt. Einige Züge aus derselben – und wir errathen den Bodensatz ihres Bechers, – der Kreislauf, mit der kleinen Stadt am Anfange, beginnt von Neuem. – So leben die Modernen : welche in Allem etwas z u g r ü nd l ic h sind, um s e s s h a f t zu sein wie die Menschen anderer Zeiten. 220. React ion gegen d ie Masch i nen- Cu lt ur. – Die Maschine, selber ein Erzeugniss der höchsten Denkkraft, setzt bei den Personen, welche sie bedienen, fast nur | die niederen gedanken losen Kräfte in Bewegung. Sie entfesselt dabei eine Unmasse Kraft überhaupt, die sonst schlafen läge, das ist wahr ; aber sie giebt nicht den Antrieb zum Höhersteigen, zum Besser machen, zum Künstlerwerden. Sie macht t h ät i g und e i n f ör m i g , – das erzeugt aber auf die Dauer eine Gegenwirkung, eine verzweifelte Langeweile der Seele, welche durch sie nach wechselvollem Müssiggange dürsten lernt. 221. D ie G e f ä h rl ic h k e it d e r Au f k l ä r u n g. – Alles das Halbverrückte, Schauspielerische, Thierisch-Grausame, Wollüstige, namentlich Sentimentale und Sich-selbst-Berauschende, was zusammen die eigentlich r e vol ut io n ä r e S u b s t a n z ausmacht und in Rousseau, vor der Revolution, Fleisch und Geist geworden war,  – dieses ganze Wesen setzte sich mit perfider Begeisterung noch d ie Au f k l ä r u n g auf das fanatische Haupt, welches durch diese selber wie in einer verklärenden Glorie zu leuchten begann : die Aufklärung, die im Grunde

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jenem Wesen so fremd ist und, für sich waltend, still wie ein Lichtglanz durch Wolken gegangen sein würde, lange Zeit zufrieden damit, nur die Einzelnen umzubilden : sodass sie nur sehr langsam auch die Sitten und Einrichtungen der Völker umgebildet hätte. Jetzt aber, an ein gewaltsames und plötzliches Wesen gebunden, wurde die Aufklärung selber gewaltsam und plötzlich. Ihre Gefährlichkeit ist dadurch fast grösser geworden, als die befreiende und erhellende Nützlichkeit, welche durch sie in die grosse Revolutionsbewegung kam. Wer diess begreift, wird auch wissen, aus welcher Vermischung man sie herauszuziehen, von welcher Verunreinigung man sie zu | läutern hat : um dann, a n s ic h s e l b e r, das Werk der Aufklärung f o r t z u s e t z e n und die Revolution nachträglich in der Geburt zu ersticken, ungeschehen zu machen. 222. D ie L eiden sc h a f t i m M it te la lter.  – Das Mittelalter ist die Zeit der grössten Leidenschaften. Weder das Alterthum noch unsere Zeit hat diese Ausweitung der Seele : ihre R äu ml ic h k e it war nie grösser und nie ist mit längeren Maassstäben gemessen worden. Die physische Urwald-Leiblichkeit von Barbarenvölkern und die überseelenhaften, überwachen, allzuglänzenden Augen von christlichen Mysterien-Jüngern, das Kindlichste, Jüngste und ebenso das Ueberreifste, Altersmüdeste, die Rohheit des Raubthiers und die Verzärtelung und Ausspitzung des spätantiken Geistes, – Alles diess kam damals an Einer Person nicht selten zusammen : da musste, wenn Einer in Leidenschaft gerieth, die Stromschnelle des Gemüthes gewaltiger, der Strudel verwirrter, der Sturz tiefer sein, als je. – Wir neueren Menschen dürfen mit der Einbusse zufrieden sein, welche hier gemacht worden ist.

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223. R au b e n u nd s p a r e n . – Alle geistigen Bewegungen gehen vorwärts, in Folge deren die Grossen zu r au b e n , die Kleinen zu s p a r e n hoffen können. Desshalb gieng zum Beispiel die deutsche Reformation vorwärts. 224. Fr öh l ic he S e e le n .  – Wenn auf Trunk, Trunkenheit und eine übelriechende Art von Unflätherei auch nur von ferne hingewinkt wurde, dann wurden die | Seelen der älteren Deutschen fröhlich, – sonst waren sie verdrossen ; aber dort hatten sie ihre Art von Verständniss-Innigkeit. 225. D a s au s s c hwe i f e nd e A t he n . – Selbst als der Fischmarkt Athen’s seine Denker und Dichter bekommen hatte, besass die griechische Ausschweifung immer noch ein idyllischeres und feineres Aussehen, als es je die römische oder die deutsche Ausschweifung hatte. Die Stimme Juvenal’s hätte dort wie eine hohle Trompete geklungen : ein artiges und fast kindliches Gelächter hätte ihm geantwortet. 226. K l u g h e it d e r G r ie c h e n .  – Da das Siegen- und Hervorragenwollen ein unüberwindlicher Zug der Natur ist, älter und ursprünglicher, als alle Achtung und Freude der Gleichstellung, so hatte der griechische Staat den gymnastischen und musischen Wettkampf innerhalb der Gleichen sanctionirt, also einen Tummelplatz abgegränzt, wo jener Trieb sich entladen konnte, ohne die politische Ordnung in Gefahr zu bringen. Mit dem endlichen Verfalle des gymnastischen und musischen Wettkampfes gerieth der griechische Staat in innere Unruhe und Auflösung.

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227. „Der ew i g e Epi k u r.“ – Epikur hat zu allen Zeiten gelebt und lebt noch, unbekannt Denen, welche sich Epikureer nannten und nennen, und ohne Ruf bei den Philosophen. Auch hat er selber den eigenen Namen vergessen : es war das schwerste Gepäck, welches er je abgeworfen hat. | 228. St i l d e r Ueb e rle g e n he it . – Studentendeutsch, die Sprechweise des deutschen Studenten, hat ihren Ursprung unter den nicht-studierenden Studenten, welche eine Art von Uebergewicht über ihre ernsteren Genossen dadurch zu erlangen wissen, dass sie an Bildung, Sittsamkeit, Gelehrtheit, Ordnung, Mässigung alles Maskeradenhafte aufdecken und die Worte aus jenen Bereichen zwar fortwährend ebenso im Munde führen, wie die Besseren, Gelehrteren, aber mit einer Bosheit im Blicke und einer begleitenden Grimasse. In dieser Sprache der Ueberlegenheit – der einzigen, die in Deutschland original ist – reden nun unwillkürlich auch die Staatsmänner und die Zeitungs-Kritiker : es ist ein beständiges ironisches Citiren, ein unruhiges, unfriedfertiges Schielen des Auges nach rechts und links, ein Gänsefüsschen- und Grimassen-Deutsch. 229. D ie Ve r g r a b e ne n .  – Wir ziehen uns in’s Verborgene zurück : aber nicht aus irgend einem persönlichen Missmuthe, als ob uns die politischen und socialen Verhältnisse der Gegenwart nicht genugthäten, sondern weil wir durch unsere Zurückziehung Kräfte sparen und sammeln wollen, welche s p ät e r einmal der Cultur ganz noth thun werden, je mehr diese Gegenwart d ie s e Gegenwart ist und als solche i h r e Aufgabe erfüllt. Wir bilden ein Capital und suchen es sicher zu stellen : aber, wie in ganz gefährlichen Zeiten, dadurch dass wir es ve r g r a b e n .

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230. Ty r a n ne n d e s G e i s t e s . – In unserer Zeit würde man Jeden, der so streng der Ausdruck Eines mora|lischen Zuges wäre, wie die Personen Theophrast’s und Molière’s es sind, für krank halten, und von „fi xer Idee“ bei ihm reden. Das Athen des dritten Jahrhunderts würde uns, wenn wir dort einen Besuch machen dürften, wie von Narren bevölkert erscheinen. Jetzt herrscht die Demokratie der B e g r i f f e in jedem Kopfe, – v ie le z u s a m me n sind der Herr : e i n einzelner Begriff, der Herr sein wol lt e, heisst jetzt, wie gesagt, „fi xe Idee“. Diess ist u n s e r e Art, die Tyrannen zu morden, – wir winken nach dem Irrenhause hin. 231. Gef ä hrl ichste Auswa nder ung. – In Russland giebt es eine Auswanderung der Intelligenz : man geht über die Gränze, um gute Bücher zu lesen und zu schreiben. So wirkt man aber dahin, das vom Geiste verlassene Vaterland immer mehr zum vorgestreckten Rachen Asiens zu machen, der das kleine Europa verschlingen möchte. 232. D ie St a at s - Na r r e n . – Die fast religiöse Liebe zum Könige gieng bei den Griechen auf die Polis über, als es mit dem Königthum zu Ende war. Und weil ein Begriff mehr Liebe erträgt, als eine Person, und namentlich dem Liebenden nicht so oft vor den Kopf stösst, wie geliebte Menschen es thun (– denn je mehr sie sich geliebt wissen, desto rücksichtsloser werden sie meistens, bis sie endlich der Liebe nicht mehr würdig sind, und wirklich ein Riss entsteht), so war die Polis- und Staats-Verehrung grösser, als irgend je vorher die FürstenVerehrung. Die Griechen sind die St a at s - Na r r e n der alten Geschichte, – in der neueren sind es andere Völker. |

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233. G e g e n d ie Ve r n ac h l ä s s i g u n g d e r Au g e n . – Ob man nicht bei den gebildeten Classen Englands, welche die Times lesen, alle zehn Jahre eine Abnahme der Sehkraft nachweisen könnte ? 234. Gr o s s e We r k e u nd g r o s s e r G l au b e. – Jener hatte die grossen Werke, sein Genosse aber hatte den grossen Glauben an diese Werke. Sie waren unzertrennlich : aber ersichtlich hieng der Erstere völlig vom Zweiten ab. 235. D e r G e s e l l i g e.  – „Ich bekomme mir nicht gut“ sagte Jemand, um seinen Hang zur Gesellschaft zu erklären. „Der Magen der Gesellschaft ist stärker, als der meinige, er verträgt mich.“ 236. Au g e n s c h l ie s s e n d e s G e i s t e s . – Ist man geübt und gewohnt, über das Handeln nachzudenken, so muss man doch beim Handeln selber (sei dieses selbst nur Briefschreiben oder Essen und Trinken) das innere Auge schliessen. Ja im Gespräch mit Durchschnittsmenschen muss man es verstehen, mit geschlossenen Denker-Augen zu d e n k e n ,  – um nämlich das Durchschnittsdenken zu erreichen und zu begreifen. Dieses Augen-Schliessen ist ein fühlbarer, mit Willen vollziehbarer Act. 237. Die f urchtbarste Rache. – Wenn man sich an einem Gegner durchaus r äc he n will, so soll man so lange warten, bis man die ganze Hand voll Wahrheiten und Gerechtigkeiten hat und sie gegen ihn ausspielen kann, mit Gelassenheit : sodass Rache üben mit Gerechtigkeit | üben zusammenfällt. Es ist die furchtbarste Art der Rache, denn sie hat keine Instanz über sich, an die noch appellirt werden könnte. So rächte sich

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Voltaire an Piron, mit fünf Zeilen, die über dessen ganzes Leben, Schaffen und Wollen richten : soviel Worte, soviel Wahrheiten ; so rächte sich der Selbe an Friedrich dem Grossen (in einem Briefe an ihn von Ferney aus). 238. Lu x u s - St eue r. – Man kauft in den Läden das Nöthige und Nächste und muss es theuer bezahlen, weil man mitbezahlt, was dort auch feil steht, aber nur selten seine Abnehmer hat : das Luxushafte und Gelüstartige. So legt der Luxus dem Einfachen, der seiner enträth, doch eine fortwährende Steuer auf. 239. Wa r u m d ie B et t le r no c h leb e n . – Wenn alle Almosen nur aus Mitleiden gegeben würden, so wären die Bettler allesammt verhungert. 240. Wa r u m d ie B et t ler no c h leb e n . – Die grösste Almosenspenderin ist die Feigheit. 241. W ie d e r D e n k e r e i n G e s p r äc h b e nut z t . – Ohne Horcher zu sein, kann man viel hören, wenn man versteht, gut zu sehen, doch sich selber für Zeiten aus den Augen zu verlieren. Aber die Menschen wissen ein Gespräch nicht zu benutzen ; sie verwenden bei Weitem zu viel Aufmerksamkeit auf Das, was sie sagen und entgegnen wollen, während der wirkliche H ö r e r sich oft begnügt, vorläufig zu antworten und Etwas als Abschlagszahlung der Höflichkeit überhaupt | zu s a g e n , dagegen mit seinem hinterhaltigen Gedächtnisse Alles davonträgt, was der Andere geäussert hat, nebst der Art in Ton und Gebärde, w ie er es äusserte. – Im gewöhnlichen Gespräche meint Jeder der Führende zu sein, wie wenn zwei Schiffe, die neben einander fahren und sich hier und da einen kleinen Stoss geben, beiderseits im guten

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Glauben sind, ihr Nachbarschiff folge oder werde sogar geschleppt. 242. D ie K u n st , s ic h z u ent sc hu ld i g en. – Wenn sich Jemand vor uns entschuldigt, so muss er es sehr gut machen : sonst kommen wir uns selber leicht als die Schuldigen vor und haben eine unangenehme Empfi ndung. 243. Un mög l ic her Um g a n g. – Das Schiff deiner Gedanken geht zu tief, als dass du mit ihm auf den Gewässern dieser freundlichen, anständigen, entgegenkommenden Personen fahren könntest. Es sind da der Untiefen und Sandbänke zu viele : du würdest dich drehen und wenden müssen und in fortwährender Verlegenheit sein, und Jene würden alsbald auch in Verlegenheit gerathen – über deine Verlegenheit, deren Ursache sie nicht errathen können. 244. Fuc h s der Füc h se. – Ein rechter Fuchs nennt nicht nur die Trauben sauer, welche er nicht erreichen kann, sondern auch die, welche er erreicht und Anderen vorweggenommen hat. 245. I m n äc h s t e n Ve r k e h r e. – Wenn Menschen auch noch so eng zusammengehören : es giebt innerhalb ihres | gemeinsamen Horizontes doch noch alle vier Himmelsrichtungen, und in manchen Stunden merken sie es. 246. D a s S c hwe i g e n d e s E k e l s . – Da macht Jemand als Denker und Mensch eine tiefe schmerzhafte Umwandlung durch und legt dann öffentlich Zeugniss davon ab. Und die Hörer merken Nichts ! glauben ihn noch ganz als den Alten ! – Diese gewöhnliche Erfahrung hat manchem Schriftsteller schon

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Ekel gemacht : sie hatten die Intellectualität der Menschen zu hoch geachtet und gelobten sich, als sie ihren Irrthum wahrnahmen, das Schweigen an. 247. G e s c h ä f t s - E r n s t .  – Die Geschäfte manches Reichen und Vornehmen sind seine Art Au s r u he n s von allzulangem gewohnheitsmässigem Mü s s i g g a n g : er nimmt sie desshalb so ernst und passionirt, wie andere Leute ihre seltenen MusseErholungen und -Liebhabereien. 248. D o p p e l s i n n d e s Au g e s .  – Wie das Gewässer zu deinen Füssen eine plötzliche schuppenhafte Erzitterung überläuft, so giebt es auch im menschlichen Auge solche plötzliche Unsicherheiten und Zweideutigkeiten, bei denen man sich fragt : ist’s ein Schaudern ? ist’s ein Lächeln ? ist’s Beides ? 249. Po s it iv u nd ne g at iv. – Dieser Denker braucht Niemanden, der ihn widerlegt : er genügt sich dazu selber. 250. Die Rache der leeren Net ze. – Man nehme sich vor allen Personen in Acht, welche das bittere Ge|fühl des Fischers haben, der nach mühevollem Tagewerk am Abend mit leeren Netzen heimfährt. 251. S e i n R e c ht n ic ht g e lt e n d m a c h e n .  – Macht ausüben kostet Mühe und erfordert Muth. Desshalb machen so Viele ihr gutes, allerbestes Recht nicht geltend, weil diess Recht eine Art M ac ht ist, sie aber zu faul oder zu feige sind, es auszuüben. Nac h s ic ht und G e d u ld heissen die DeckmantelTugenden dieser Fehler.

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252. L ic ht t r ä g e r. – In der Gesellschaft wäre kein Sonnenschein, wenn ihn nicht die geborenen Schmeichelkatzen mit hineinbrächten, ich meine die sogenannten Liebenswürdigen. 253. A m m i ld t h ät i g s t e n . – Wenn der Mensch eben sehr geehrt worden ist und ein Wenig gegessen hat, so ist er am mildthätigsten. 254. Z u m L i c h t e .  – Die Menschen drängen sich zum Lichte, nicht um besser zu sehen, sondern um besser zu glänzen. – Vor wem man glänzt, den lässt man gerne als Licht gelten. 255. D e r H y p o c ho nd e r.  – Der Hypochonder ist ein Mensch, der gerade genug Geist und Lust am Geiste besitzt, um seine Leiden, seinen Verlust, seine Fehler gründlich zu nehmen : aber sein Gebiet, auf dem er sich nährt, ist zu klein ; er weidet es so ab, dass er endlich die einzelnen Hälmchen suchen muss. Dabei wird er | endlich zum Neider und Geizhals, – und dann erst ist er unausstehlich. 256. Zu r üc k e r s t at t e n . – Hesiod räth an, dem Nachbar, der uns ausgeholfen hat, mit gutem Maasse und womöglich reichlicher zurückzugeben, sobald wir es vermögen. Dabei hat nämlich der Nachbar seine Freude, denn seine einstmalige Gutmüthigkeit trägt ihm Zinsen ein ; aber auch Der, welcher zurückgiebt, hat seine Freude, insofern er die kleine einstmalige Demüthigung, sich aushelfen lassen zu müssen, durch ein kleines Uebergewicht, als Schenkender, zurückkauft.

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257. Fe i n e r a l s nöt h i g.  – Unser Beobachtungssinn dafür, ob Andere unsre Schwächen wahrnehmen, ist viel feiner, als unser Beobachtungssinn für die Schwächen Anderer : woraus sich also ergiebt, dass er feiner ist, als nöthig wäre. 258. E i ne l ic ht e A r t vo n S c h at t e n . – Dicht neben den ganz nächtigen Menschen befi ndet sich fast regelmässig, wie an sie angebunden, eine Lichtseele. Sie ist gleichsam der negative Schatten, den jene werfen. 259. Sic h n ic ht räc hen ? – Es giebt so viele feine Arten der Rache, dass Einer, der Anlass hätte, sich zu rächen, im Grunde thun oder lassen kann, was er will : alle Welt wird doch nach einiger Zeit übereingekommen sein, dass er sich gerächt h a b e. Sich nicht zu rächen steht also kaum im Belieben eines Menschen : dass er es nicht wol le , darf er nicht einmal aussprechen, weil | die Verachtung der Rache als eine sublime, sehr empfi ndliche Rache gedeutet und e m pf u nd e n wird. – Woraus sich ergiebt, dass man nichts Ueb e r f lü s s i g e s thun soll – – 260. Irrthum der Ehrenden. – Jeder glaubt einem Denker etwas Ehrendes und Angenehmes zu sagen, wenn er ihm zeigt, wie er von selber genau auf den selben Gedanken und selbst auf den gleichen Ausdruck gerathen sei ; und doch wird bei solchen Mittheilungen der Denker nur selten ergötzt, aber häufig gegen seinen Gedanken und dessen Ausdruck misstrauisch : er beschliesst im Stillen, beide einmal zu revidiren.  – Man muss, wenn man Jemanden ehren will, sich vor dem Ausdruck der Uebereinstimmung hüten : sie stellt auf ein gleiches Niveau.  – In vielen Fällen ist es die Sache der gesellschaftlichen Schicklichkeit, eine Meinung so anzuhören, als sei sie

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nicht die unsrige, ja als gienge sie über unsern Horizont hinaus : zum Beispiel wenn der Alte, Alterfahrene einmal ausnahmsweise den Schrein seiner Erkenntnisse aufschliesst. 261. Br ie f. – Der Brief ist ein unangemeldeter Besuch, der Briefbote der Vermittler unhöflicher Ueberfälle. Man sollte alle acht Tage eine Stunde zum Briefempfangen haben und darnach ein Bad nehmen. 262. D e r Vor e i n g e nom me ne. – Jemand sagte : ich bin gegen mich vo r e i n g e n o m m e n von Kindesbeinen an : desshalb fi nde ich in jedem Tadel etwas Wahrheit | und in jedem Lobe etwas Dummheit. Das Lob wird von mir gewöhnlich zu gering und der Tadel zu hoch geschätzt. 263. We g z u r G le ic h he it . – Einige Stunden Bergsteigens machen aus einem Schuft und einem Heiligen zwei ziemlich gleiche Geschöpfe. Die Ermüdung ist der kürzeste Weg zur G le ic h he it und Br ü d e rl ic h k e it – und die Fr e i he it wird endlich durch den Schlaf hinzugegeben. 264. Ve rleu md u n g. – Kommt man einer eigentlich infamen Verdächtigung auf die Spur, so suche man ihren Ursprung nie bei seinen ehrlichen und einfachen Fe i nd e n ; denn diese würden, wenn sie so Etwas über uns erfänden, als Feinde keinen Glauben fi nden. Aber Jene, denen wir eine Zeit lang am meisten genützt haben, welche aber, aus irgend einem Grunde im Geheimen sicher darüber sein dürfen, Nichts mehr von uns zu erlangen, – Solche sind im Stande, die Infamie in’s Rollen zu bringen : sie fi nden Glauben, einmal weil man annimmt, dass sie Nichts erfi nden würden, was ihnen selber Schaden

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bringen könnte ; sodann weil sie uns näher kennen gelernt haben. – Zum Troste mag sich der so schlimm Verleumdete sagen : Verleumdungen sind Krankheiten Anderer, die an deinem Leibe ausbrechen ; sie beweisen, dass die Gesellschaft Ein (moralischer) Körper ist, sodass du an d i r die Cur vornehmen kannst, die den Anderen nützen soll. 265. D a s K i n d e r - H i m m e l r e ic h .  – Das Glück des Kindes ist ebenso sehr ein Mythus, wie das Glück der | Hyperboreer, von dem die Griechen erzählten. We n n das Glück überhaupt auf Erden wohnt, meinten diese, dann gewiss möglichst weit von uns, etwa dort am Rande der Erde. Ebenso denken die älteren Menschen : we n n der Mensch überhaupt glücklich sein kann, dann gewiss möglichst fern von u n s e r e m Alter, an den Gränzen und Anfängen des Lebens. Für manchen Menschen ist der Anblick der Kinder, d u r c h den Schleier dieses Mythus’ hindurch, das grösste Glück, dessen er theilhaftig werden kann : er geht selber bis in den Vorhof des Himmelreichs, wenn er sagt „lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich.“ – Der Mythus vom KinderHimmelreich ist überall irgendwie thätig, wo es in der modernen Welt Etwas von Sentimentalität giebt. 266. D ie Un g e d u ld i g e n . – Gerade der Werdende will das Werdende nicht : er ist zu ungeduldig dafür. Der Jüngling will nicht warten, bis, nach langen Studien, Leiden und Entbehrungen, sein Gemälde von Menschen und Dingen voll werde : so nimmt er ein anderes, das fertig dasteht und ihm angeboten wird, auf Treu und Glauben an, als müsse es ihm die Linien und Farben s e i ne s Gemäldes vorweg geben, er wirft sich einem Philosophen, einem Dichter an’s Herz und muss nun eine lange Zeit Frohndienste thun und sich selber ver-

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läugnen. Vieles lernt er dabei : aber häufig vergisst ein Jüngling das Lernens- und Erkennenswertheste darüber : sich selber ; er bleibt Zeitlebens ein Parteigänger. Ach, es ist viel Langeweile zu überwinden, viel Schweiss nöthig, bis man seine Farben, seinen Pinsel, seine Leinwand | gefunden hat !  – Und dann ist man noch lange nicht Meister seiner Lebenskunst, – aber wenigstens Herr in der eigenen Werkstatt. 267. E s g i e b t k e i n e E r z i e h e r.  – Nur von Selbst-Erziehung sollte man als Denker reden. Die Jugend-Erziehung durch Andere ist entweder ein Experiment, an einem noch Unerkannten, Unerkennbaren vollzogen, oder eine grundsätzliche Nivellirung, um das neue Wesen, welches es auch sei, den Gewohnheiten und Sitten, welche herrschen, gemäss zu m ac he n : in beiden Fällen also Etwas, das des Denkers unwürdig ist, das Werk der Eltern und Lehrer, welche Einer der verwegenen Ehrlichen nos ennemis naturels genannt hat. – Eines Tages, wenn man längst, nach der Meinung der Welt, erzogen ist, e nt d e c k t man sich s e l b e r : da beginnt die Aufgabe des Denkers, jetzt ist es Zeit, ihn zu Hülfe zu rufen – nicht als einen Erzieher, sondern als einen Selbst-Erzogenen, der Erfahrung hat. 268. M it leiden m it der Ju g end . – Es jammert uns, wenn wir hören, dass einem Jünglinge schon die Zähne ausbrechen, einem Andern die Augen erblinden. Wüssten wir alles Unwiderrufliche und Hoff nungslose, das in seinem ganzen Wesen steckt, wie gross würde erst der Jammer sein ! – Wesshalb le id e n wir hierbei eigentlich ? Weil die Jugend fortführen soll, was w i r unternommen haben, und jeder Ab- und Anbruch ihrer Kraft u n s e r e m Werke, das in ihre Hände fällt, zum Schaden gereichen will. Es ist der Jammer über die schlechte Garantie unserer Unsterblichkeit : oder, wenn wir uns nur

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als | Vollstrecker der Menschheits-Mission fühlen, der Jammer darüber, dass diese Mission in schwächere Hände, als die unsrigen sind, übergehen muss. 269. Die Leben sa lter. – Die Vergleichung der vier Jahreszeiten mit den vier Lebensaltern ist eine ehrwürdige Albernheit. Weder die ersten zwanzig, noch die letzten zwanzig Jahre des Lebens entsprechen einer Jahreszeit : vorausgesetzt dass man sich bei der Vergleichung nicht mit dem Weiss des Haares und Schnees und mit ähnlichen Farbenspielen begnügt. Jene ersten zwanzig Jahre sind eine Vorbereitung auf das Leben überhaupt, auf das ganze Lebensjahr, als eine Art langen Neujahrstages ; und die letzten zwanzig überschauen, ver innerlichen, bringen in Fug und Zusammenklang, was nur Alles vorher erlebt wurde : so wie man es, in kleinem Maasse, an jedem Sylvestertage mit dem ganzen verflossenen Jahre thut. Zwischen inne liegt aber in der That ein Zeitraum, welcher die Vergleichung mit den Jahreszeiten nahe legt : der Zeitraum vom zwanzigsten bis zum fünfzigsten Jahre (um hier einmal in Bausch und Bogen nach Jahrzehenden zu rechnen, während es sich von selber versteht, dass Jeder nach seiner Erfahrung diese groben Ansätze für sich verfeinern muss). Jene dreimal zehn Jahre entsprechen dreien Jahreszeiten : dem Sommer, dem Frühling und dem Herbste, – einen Winter hat das menschliche Leben nicht, es sei denn, dass man die leider nicht selten eingeflochtenen harten, kalten, einsamen, hoffnungsarmen, unfruchtbaren K r a n k he it s z e it e n die Winterzeiten des Menschen nennen will. Die zwanziger Jahre : heiss, lästig, gewitterhaft, üppig treibend, müde machend, Jahre, | in denen man den Tag am Abend, wenn er zu Ende ist, preist und sich dabei die Stirn abwischt : Jahre, in denen die Arbeit uns hart, aber nothwendig dünkt,  – diese zwanziger Jahre sind der S om me r des Lebens. Die dreissiger da-

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gegen sind sein Fr ü h l i n g : die Luft bald zu warm, bald zu kalt, immer unruhig und anreizend, quellender Saft, Blätterfülle, Blüthenduft überall, viele bezaubernde Morgen und Nächte, die Arbeit, zu der der Vogelgesang uns weckt, eine rechte Herzensarbeit, eine Art Genuss der eigenen Rüstigkeit, verstärkt durch vorgeniessende Hoff nungen. Endlich die vierziger Jahre : geheimnissvoll, wie alles Stillestehende ; einer hohen weiten Berg-Ebene gleichend, an der ein frischer Wind hinläuft ; mit einem klaren wolkenlosen Himmel darüber, welcher den Tag über und in die Nächte hinein immer mit der gleichen Sanftmuth blickt : die Zeit der Ernte und der herzlichsten Heiterkeit, – es ist der He r b s t des Lebens. 270. D er G e i s t der Fr aue n i n der jet z i g e n G e s e l l s c h a f t. – Wie die Frauen jetzt über den Geist der Männer denken, erräth man daraus, dass sie bei ihrer Kunst des Schmückens an Alles eher denken, als den Geist ihrer Züge oder die geistreichen Einzelnheiten ihres Gesichts noch besonders zu unterstreichen : sie verbergen Derartiges vielmehr und wissen sich dagegen, zum Beispiel durch eine Anordnung des Haars über der Stirn, den Ausdruck einer lebendig begehrenden Sinnlichkeit und Ungeistigkeit zu geben, gerade wenn sie diese Eigenschaften nur wenig besitzen. Ihre Ueberzeugung, dass der Geist bei Weibern die Männer erschrecke, geht so weit, dass sie selbst die Schärfe des geistigsten Sinnes | gern verleugnen und den Ruf der K u r z s ic ht i g k e it absichtlich auf sich laden ; dadurch glauben sie wohl die Männer zutraulicher zu machen : es ist, als ob sich eine einladende sanfte Dämmerung um sie verbreite. 271. G r o s s u n d ve r g ä n g l i c h .  – Was den Betrachtenden zu Thränen rührt, das ist der schwärmerische Glückes-Blick, mit dem eine schöne junge Frau ihren Gatten ansieht. Man emp-

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fi ndet alle Herbst-Wehmuth dabei, über die Grösse sowohl, als über die Vergänglichkeit des menschlichen Glückes. 272. O pf e r - Si n n . – Manche Frau hat den intelletto del sacrifi zio und wird ihres Lebens nicht mehr froh, wenn der Gatte sie nicht opfern will : sie weiss dann mit ihrem Verstande nicht mehr wohin ? und wird unversehens aus dem Opferthier der Opferpriester selber. 273. D a s Un we i bl i c h e .  – „Dumm wie ein Mann“ sagen die Frauen : „feige wie ein Weib“ sagen die Männer. Die Dummheit ist am Weibe das Unwe i bl ic he. 274. Mä n n l ic he s u nd weibl ic he s Temper a ment u nd d ie Sterbl ic h keit. – Dass das männliche Geschlecht ein schlechteres Temperament hat, als das weibliche, ergiebt sich auch daraus, dass die männlichen Kinder der Sterblichkeit mehr ausgesetzt sind, als die weiblichen, offenbar weil sie leichter „aus der Haut fahren“ : ihre Wildheit und Unverträglichkeit verschlimmert alle Uebel leicht bis in’s Tödtliche. | 275. D ie Z e it d e r C y k lo p e n b aut e n . – Die Demokratisirung Europa’s ist unauf haltsam : wer sich dagegen stemmt, gebraucht doch eben die Mittel dazu, welche erst der demokratische Gedanke Jedermann in die Hand gab, und macht diese Mittel selber handlicher und wirksamer : und die grundsätzlichsten Gegner der Demokratie (ich meine die Umsturzgeister) scheinen nur desshalb da zu sein, um durch die Angst, welche sie erregen, die verschiedenen Parteien immer schneller auf der demokratischen Bahn vorwärts zu treiben. Nun kann es Einem angesichts Derer, welche jetzt bewusst und

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ehrlich für diese Zukunft arbeiten, in der That bange werden : es liegt etwas Oedes und Einförmiges in ihren Gesichtern, und der graue Staub scheint auch bis in ihre Gehirne hineingeweht zu sein. Trotzdem : es ist möglich, dass die Nachwelt über dieses unser Bangen einmal lacht und an die demokratische Arbeit einer Reihe von Geschlechtern etwa so denkt, wie wir an den Bau von Steindämmen und Schutzmauern – als an eine Thätigkeit, die nothwendig viel Staub auf Kleider und Gesichter breitet und unvermeidlich wohl auch die Arbeiter ein Wenig blödsinnig macht ; aber wer würde desswegen solches Thun ungethan wünschen ! Es scheint, dass die Demokratisirung Europa’s ein Glied in der Kette jener ungeheuren p r ophyl a k t i s c he n Ma a s s r e g e l n ist, welche der Gedanke der neuen Zeit sind und mit denen wir uns gegen das Mittelalter abheben. Jetzt erst ist das Zeitalter der Cyklopenbauten ! Endliche Sicherheit der Fundamente, damit alle Zukunft auf ihnen ohne Gefahr bauen kann ! Unmöglichkeit fürderhin, dass die Fruchtfelder der Cultur wieder über Nacht von wilden | und sinnlosen Bergwässern zerstört werden ! Steindämme und Schutzmauern gegen Barbaren, gegen Seuchen, gegen le i bl ic he u nd g e i s t i g e Verk nec ht u n g ! Und diess Alles zunächst wörtlich und gröblich, aber allmählich immer höher und geistiger verstanden, sodass alle hier angedeuteten Maassregeln die geistreiche Gesammtvorbereitung des höchsten Künstlers der Gartenkunst zu sein scheinen, der sich dann erst zu seiner eigentlichen Aufgabe wenden kann, wenn jene vollkommen ausgeführt ist !  – Freilich : bei den weiten Zeitstrecken, welche hier zwischen Mittel und Zweck liegen, bei der grossen, übergrossen, Kraft und Geist von Jahrhunderten anspannenden Mühsal, die schon noth thut, um nur jedes einzelne Mittel zu schaffen oder herbeizuschaffen, darf man es den Arbeitern an der Gegenwart nicht zu hart anrechnen, wenn sie laut decretiren, die Mauer und das Spalier s e i schon der Zweck und das letzte Ziel ; da ja noch Niemand den

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Gärtner und die Fruchtpflanzen sieht, u m d e r e nt w i l le n das Spalier da ist. 276. Das Recht des a l lgemei nen Stimmrechtes. – Das Volk hat sich das allgemeine Stimmrecht nicht gegeben, es hat dasselbe, überall, wo es jetzt in Geltung ist, empfangen und vorläufig angenommen : jedenfalls hat es aber das Recht, es wieder zurückzugeben, wenn es seinen Hoff nungen nicht genugthut. Diess scheint jetzt allerorten der Fall zu sein : denn wenn bei irgend einer Gelegenheit, wo es gebraucht wird, kaum Zweidrittel, ja vielleicht nicht einmal die Majorität aller Stimmberechtigten an die Stimm-Urne kommt, so ist diess ein Votum g e g e n das ganze Stimmsystem überhaupt. – Man muss | hier sogar noch viel strenger urtheilen. Ein Gesetz, welches bestimmt, dass die Majorität über das Wohl Aller die letzte Entscheidung habe, kann nicht auf der selben Grundlage, welche durch dasselbe erst gegeben wird, aufgebaut werden : es bedarf nothwendig einer noch breiteren, und diess ist die E i n s t i m m i g k e it A l le r. Das allgemeine Stimmrecht darf nicht nur der Ausdruck eines Majoritäten-Willens sein : das ganze Land muss es wollen. Desshalb genügt schon der Widerspruch einer sehr kleinen Minorität, dasselbe als unthunlich wieder bei Seite zu stellen : und die N ic ht b et he i l i g u n g an einer Abstimmung ist eben ein solcher Widerspruch, der das ganze Stimmsystem zum Falle bringt. Das „absolute Veto“ des Einzelnen oder, um nicht in’s Kleinliche zu verfallen, das Veto weniger Tausende hängt über diesem System, als die Consequenz der Gerechtigkeit : bei jedem Gebrauche, den man von ihm macht, muss es, laut der Art von Betheiligung, erst beweisen, dass es noch z u R e c ht b e s t e ht . 277. D a s s c h le c ht e S c h l ie s s e n . – Wie schlecht schliesst man, auf Gebieten, wo man nicht zu Hause ist, selbst wenn man

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als Mann der Wissenschaft noch so sehr an das gute Schliessen gewöhnt ist ! Es ist beschämend ! Und nun ist klar, dass im grossen Welttreiben, in Sachen der Politik, bei allem Plötzlichen und Drängenden, wie es fast jeder Tag herauff ührt, eben dieses s c h le c ht e S c h l ie s s e n entscheidet : denn Niemand ist völlig in dem zu Hause, was über Nacht neu gewachsen ist ; alles Politisiren, auch bei den grössten Staatsmännern, ist Improvisiren auf gut Glück. | 278. P r ä m i s s e n d e s Ma s c h i ne n -Z e it a lt e r s. – Die Presse, die Maschine, die Eisenbahn, der Telegraph sind Prämissen, deren tausendjährige Conclusion noch Niemand zu ziehen gewagt hat. 279. E i n He m m s c hu h d e r C u lt u r. – Wenn wir hören : dort haben die Männer nicht Zeit zu den productiven Geschäften ; Waffenübungen und Umzüge nehmen ihnen den Tag weg, und die übrige Bevölkerung muss sie ernähren und kleiden, ihre Tracht aber ist auffallend, oftmals bunt und voll Narrheiten ; dort sind nur wenige unterscheidende Eigenschaften anerkannt, die Einzelnen gleichen einander mehr als anderwärts, oder werden doch als Gleiche behandelt ; dort verlangt und giebt man Gehorsam ohne Verständniss : man befiehlt, aber man hütet sich, zu überzeugen ; dort sind die Strafen wenige, diese wenigen aber sind hart und gehen schnell zum Letzten, Fürchterlichsten ; dort gilt der Verrath als das grösste Verbrechen, schon die Kritik der Uebel-Stände wird nur von den Muthigsten gewagt ; dort ist ein Menschenleben wohlfeil, und der Ehrgeiz nimmt häufig die Form an, dass er das Leben in Gefahr bringt ;  – wer diess Alles hört, wird sofort sagen : „es ist das Bild einer b a r b a r i s c he n , i n G e f a h r s c hwe b e nd e n G e s e l l s c h a f t .“ Vielleicht dass der Eine hinzufügt : „es ist die Schilderung Sparta’s“ ; ein Anderer wird aber nach-

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denklich werden und vermeinen, es sei u n s e r mo d e r ne s M i l it ä r we s e n beschrieben, wie es inmitten unsrer andersartigen Cultur und Societät dasteht, als ein lebendiger Anachronismus, als das Bild, wie gesagt, | einer barbarischen, in Gefahr schwebenden Gesellschaft, als ein posthumes Werk der Vergangenheit, welches für die Räder der Gegenwart nur den Werth eines Hemmschuhes haben kann. – Mitunter thut aber auch ein Hemmschuh der Cultur auf das Höchste noth : wenn es nämlich zu schnell bergab oder, wie in diesem Falle vielleicht, b e r g au f geht. 280. Meh r Ac ht u n g vor den Wi s senden ! – Bei der Concurrenz der Arbeit und der Verkäufer ist das P u bl ic u m zum Richter über das Handwerk gemacht : das hat aber keine strenge Sachkenntniss und urtheilt nach dem S c he i ne der Güte. Folglich wird die Kunst des Scheines (und vielleicht der Geschmack) unter der Herrschaft der Concurrenz steigen, dagegen die Qualität aller Erzeugnisse sich verschlechtern müssen. Folglich wird, wofern nur die Vernunft nicht im Werthe fällt, irgendwann jener Concurrenz ein Ende gemacht werden und ein neues Princip den Sieg über sie davontragen. Nur der Handwerksmeister sollte über das Handwerk urtheilen, und das Publicum abhängig sein vom Glauben an die Person des Urtheilenden und an seine Ehrlichkeit. Demnach keine anonyme Arbeit ! Mindestens müsste ein Sachkenner als Bürge derselben dasein und s e i n e n Namen als Pfand einsetzen, wenn der Name des Urhebers fehlt oder klanglos ist. Die Woh l f e i l he it eines Werkes ist für den Laien eine andere Art Schein und Trug, da erst die D aue r h a f t i g k e it entscheidet, dass und inwiefern eine Sache wohlfeil ist ; jene aber ist schwer und von dem Laien gar nicht zu beurtheilen. – Also : was Effect auf das Auge macht und wenig kostet, das bekommt jetzt das Uebergewicht, | – und das wird natürlich die Maschinenarbeit sein. Hinwiederum begünstigt die Maschine, das heisst

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die Ursache der grössten Schnelligkeit und Leichtigkeit der Herstellung, auch ihrerseits die verk äu f l ic h s t e Sorte : sonst ist kein erheblicher Gewinn mit ihr zu machen ; sie würde zu wenig gebraucht und zu oft stille stehen. Was aber am verkäuflichsten ist, darüber entscheidet das Publicum, wie gesagt : es muss das Täuschendste sein, das heisst Das, was einmal gut s c he i nt und sodann auch wohlfeil s c he i nt . Also auch auf dem Gebiete der Arbeit muss unser Losungswort sein : „Mehr Achtung vor den Wissenden !“ 281. D ie G e f a h r d e r K ö n i g e. – Die Demokratie hat es in der Hand, ohne alle Gewaltmittel, nur durch einen stätig geübten gesetzmässigen Druck, das König- und Kaiserthum hoh l zu machen : bis eine Null übrig bleibt, vielleicht, wenn man w i l l , mit der Bedeutung jeder Null, dass sie, an sich Nichts, doch an rechte Seite gestellt, die W i r k u n g einer Zahl verzehnfacht. Das Kaiser- und Königthum bliebe ein prachtvoller Zierrath an der schlichten und zweckmässigen Gewandung der Demokratie, das schöne Ueberflüssige, welches sie sich gönnt, der Rest alles historisch ehrwürdigen Urväterzierrathes, ja das Symbol der Historie selber, – und in dieser Einzigkeit etwas höchst Wirksames, wenn es, wie gesagt, nicht für sich allein steht, sondern richtig g e s t e l lt wird. – Um der Gefahr jener Aushöhlung vorzubeugen, halten die Könige jetzt mit den Zähnen an ihrer Würde als K r ie g s f ü r s t e n fest : dazu brauchen sie Kriege, das heisst Ausnahmezustände, in denen jener langsame gesetzmässige Druck der demokratischen Gewalten pausirt. | 282. D e r L e h r e r e i n n ot hwe n d i g e s Ueb e l . – So wenig wie möglich Personen zwischen den productiven Geistern und den hungernden und empfangenden Geistern ! Denn die  M it tle r we s e n fälschen fast unwillkürlich die Nahrung, die sie

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vermitteln : sodann wollen sie zur Belohnung für ihr Vermitteln zu viel f ü r s ic h , was also den originalen, productiven Geistern entzogen wird : nämlich Interesse, Bewunderung, Zeit, Geld und Anderes. – Also : man sehe immerhin den L e hr e r als nothwendiges Uebel an, ganz wie den Handelsmann : als ein Uebel, das man so k le i n wie möglich machen muss ! – Wenn vielleicht die Noth der deutschen Zustände jetzt ihren Hauptgrund darin hat, dass viel zu Viele vom Handel leben und gut leben wollen (also dem Erzeugenden die Preise möglichst zu verringern und dem Verzehrenden die Preise möglichst zu erhöhen suchen, um am möglichst grossen Schaden Beider den Vortheil zu haben) : so kann man gewiss einen Hauptgrund der geistigen Nothstände in der Ueber fülle von Lehrern sehen : ihretwegen wird so wenig und so schlecht gelernt. 283. D ie A c ht u n g s s t eue r. – Den uns Bekannten, von uns Geehrten, sei es ein Arzt, Künstler, Handwerker, der Etwas für uns thut und arbeitet, bezahlen wir gern so hoch als wir können, oft sogar über unser Vermögen : dagegen bezahlt man den Unbekannten so niedrig es nur angehen will ; hier ist ein Kampf, in welchem Jeder um den Fussbreit Landes kämpft und mit sich kämpfen macht. Bei der Arbeit des Bekannten f ü r u n s ist etwas U n b e z a h l b a r e s , die in seine Arbeit u n s e r t|we g e n hineingelegte Empfi ndung und Erfi ndung : wir glauben das Gefühl hiervon nicht anders als durch eine Art A u f o p f e r u n g unsererseits ausdrücken zu können.  – Die stärkste Steuer ist die A c h t u n g s s t e u e r. Je mehr die Concurrenz herrscht und man von Unbekannten kauft, für Unbekannte arbeitet, desto niedriger wird diese Steuer, während sie gerade der Maassstab für die Höhe des menschlichen Seelen-Ve r k e h r e s ist.

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284. Das M it tel z u m w i rk l ic hen Fr ieden. – Keine Regierung giebt jetzt zu, dass sie das Heer unterhalte, um gelegent liche Eroberungsgelüste zu befriedigen ; sondern der Vertheidigung soll es dienen. Jene Moral, welche die Nothwehr billigt, wird als ihre Fürsprecherin angerufen. Das heisst aber : sich die Moralität und dem Nachbar die Immoralität vorbehalten, weil er angriffs- und eroberungslustig gedacht werden muss, wenn unser Staat nothwendig an die Mittel der Nothwehr denken soll ; überdiess erklärt man ihn, der genau ebenso wie unser Staat die Angriffslust leugnet und auch seinerseits das Heer vorgeblich nur aus Nothwehrgründen unterhält, durch unsere Erklärung, wesshalb wir ein Heer brauchen, für einen Heuchler und listigen Verbrecher, welcher gar zu gern ein harmloses und ungeschicktes Opfer ohne allen Kampf über f a l len möchte. So stehen nun alle Staaten jetzt gegen einander : sie setzen die schlechte Gesinnung des Nachbars und die gute Gesinnung bei sich voraus. Diese Voraussetzung ist aber eine I n hu m a n it ät , so schlimm und schlimmer als der Krieg : ja, im Grunde ist sie schon die Aufforderung und Ursache zu Kriegen, weil sie, wie gesagt, dem | Nachbar die Immoralität unterschiebt und dadurch die feindselige Gesinnung und That zu provociren scheint. Der Lehre von dem Heer als einem Mittel der Nothwehr muss man ebenso gründlich abschwören, als den Eroberungsgelüsten. Und es kommt vielleicht ein grosser Tag, an welchem ein Volk, durch Kriege und Siege, durch die höchste Ausbildung der militärischen Ordnung und Intelligenz ausgezeichnet, und gewöhnt, diesen Dingen die schwersten Opfer zu bringen, freiwillig ausruft : „w i r z e r b r e c he n d a s S c hwe r t“  – und sein gesammtes Heerwesen bis in seine letzten Fundamente zertrümmert. Sic h we h rlo s m a c he n , w ä h r e nd m a n d e r We h r h a f t e s t e w a r, aus einer Höhe der Empfi ndung heraus, – das ist das Mittel zum w i r k l ic he n Frieden, welcher immer auf einem Frieden der

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Gesinnung ruhen muss : während der sogenannte bewaff nete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergeht, der Unfriede der Gesinnung ist, der sich und dem Nachbar nicht traut und halb aus Hass, halb aus Furcht die Waffen nicht ablegt. Lieber zu Grunde gehen, als hassen und fürchten, und z we i m a l l ieb e r z u Gr u nd e g e he n , a l s s ic h h a s s e n u nd f ü r c ht e n m ac he n , – diess muss einmal auch die oberste Maxime jeder einzelnen staatlichen Gesellschaft werden ! – Unsern liberalen Volksvertretern fehlt es, wie bekannt, an Zeit zum Nachdenken über die Natur des Menschen : sonst würden sie wissen, dass sie umsonst arbeiten, wenn sie für eine „allmähliche Herabminderung der Militärlast“ arbeiten. Vielmehr : erst wenn diese Art Noth am grössten ist, wird auch die Art Gott am nächsten sein, die hier allein helfen kann. Der Kriegsglorien-Baum kann nur mit Einem Male, durch einen Blitzschlag zerstört werden : | der Blitz aber kommt, ihr wisst es ja, aus der Wolke und aus der Höhe. – 285. O b d e r B e s it z m it d e r G e r e c ht i g k e it au s g e g l ic he n we r d e n k a n n . – Wird die Ungerechtigkeit des Besitzes stark empfunden – der Zeiger der grossen Uhr ist einmal wieder an dieser Stelle –, so nennt man zwei Mittel, derselben abzuhelfen : einmal eine gleiche Vertheilung, und sodann die Aufhebung des Eigenthums und den Zurückfall des Besitzes an die Gemeinschaft. Letzteres Mittel ist namentlich nach dem Herzen unserer Socialisten, welche jenem alterthümlichen Juden darüber gram sind, dass er sagte : du sollst nicht stehlen. Nach ihnen soll das siebente Gebot vielmehr lauten : du sollst nicht besitzen. – Die Versuche nach dem ersten Recepte sind im Alterthum oft gemacht worden, zwar immer nur in kleinem Maassstabe, aber doch mit einem Misserfolg, der auch uns noch Lehrer sein kann. „Gleiche Ackerloose“ ist leicht gesagt ; aber wieviel Bitterkeit erzeugt sich durch die dabei

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nöthig werdende Trennung und Scheidung, durch den Verlust von altverehrtem Besitz, wieviel Pietät wird verletzt und geopfert ! Man gräbt die Moralität um, wenn man die Gränzsteine umgräbt. Und wieder, wieviel neue Bitterkeit unter den neuen Besitzern, wieviel Eifersucht und Scheelsehen, da es zwei wirklich gleiche Ackerloose nie gegeben hat, und wenn es solche gäbe, der menschliche Neid auf den Nachbar nicht an deren Gleichheit glauben würde. Und wie lange dauerte diese schon in der Wurzel vergiftete und ungesunde Gleichheit ! In wenigen Geschlechtern war durch Erbschaft hier das eine Loos auf fünf Köpfe, dort waren fünf Loose auf Einen Kopf gekommen : und | im Falle man durch harte Erbschaftsgesetze solchen Missständen vorbeugte, gab es zwar noch die gleichen Ackerloose, aber dazwischen Dürftige und Unzufriedene, welche Nichts besassen, ausser der Missgunst auf die Anverwandten und Nachbarn und dem Verlangen nach dem Umsturz aller Dinge. – Will man aber nach dem z we i t e n Recepte das Eigenthum der G e m e i n d e zurückgeben und den Einzelnen nur zum zeitweiligen Pächter machen, so zerstört man das Ackerland. Denn der Mensch ist gegen Alles, was er nur vorübergehend besitzt, ohne Vorsorge und Aufopferung, er verfährt damit ausbeuterisch, als Räuber oder als lüderlicher Verschwender. Wenn Plato meint, die Selbstsucht werde mit der Aufhebung des Besitzes aufgehoben, so ist ihm zu antworten, dass, nach Abzug der Selbstsucht, vom Menschen jedenfalls nicht die vier Cardinaltugenden übrig bleiben werden, – wie man sagen muss : die ärgste Pest könnte der Menschheit nicht so schaden, als wenn eines Tages die Eitelkeit aus ihr entschwände. Ohne Eitelkeit und Selbstsucht – was sind denn die menschlichen Tugenden ? Womit nicht von ferne gesagt sein soll, dass es nur Namen und Masken von jenen seien. Plato’s utopistische Grundmelodie, die jetzt noch von den Socialisten fortgesungen wird, beruht auf einer mangelhaften Kenntniss des Menschen : ihm fehlte die Historie

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der moralischen Empfi ndungen, die Einsicht in den Ursprung der guten nützlichen Eigenschaften der menschlichen Seele. Er glaubte, wie das ganze Alterthum, an gut und böse wie an weiss und schwarz : also an eine radicale Verschiedenheit der guten und der bösen Menschen, der guten und der schlechten Eigenschaften.  – Damit der Besitz fürderhin mehr Vertrauen einflösse | und moralischer werde, halte man alle Arbeitswege zum k le i ne n Vermögen offen, aber verhindere die mühelose, die plötzliche Bereicherung ; man ziehe alle Zweige des Transports und Handels, welche der Anhäufung g r o s s e r Vermögen günstig sind, also namentlich den Geldhandel, aus den Händen der Privaten und Privatgesellschaften – und betrachte ebenso die Zuviel- wie die Nichts-Besitzer als gemeingefährliche Wesen. 286. Der Wer t h der A rbeit. – Wollte man den Werth der Arbeit darnach bestimmen, wieviel Zeit, Fleiss, guter oder schlechter Wille, Zwang, Erfi ndsamkeit oder Faulheit, Ehrlichkeit oder Schein darauf verwendet ist, so kann der Werth niemals g e r e c ht sein ; denn die ganze Person müsste auf die Wagschale gesetzt werden können, was unmöglich ist. Hier heisst es „Richtet nicht !“ Aber der Ruf nach Gerechtigkeit ist es ja, den wir jetzt von Denen hören, welche mit der Abschätzung der Arbeit unzufrieden sind. Denkt man weiter, so fi ndet man jede Persönlichkeit unverantwortlich für ihr Product, die Arbeit : ein Ve r d ie n s t ist also niemals daraus abzuleiten, jede Arbeit ist so gut oder schlecht, wie sie bei der und der nothwendigen Constellation von Kräften und Schwächen, Kenntnissen und Begehrungen sein muss. Es steht nicht im Belieben des Arbeiters, o b er arbeitet ; auch nicht, w ie er arbeitet. Nur die Gesichtspuncte des Nut z e n s , engere und weitere, haben Werthschätzung der Arbeit geschaffen. Das, was wir jetzt Gerechtigkeit nennen, ist auf diesem Felde sehr wohl am Platz als eine höchst verfeinerte Nützlichkeit, wel-

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che nicht auf den Moment nur Rücksicht nimmt und die Gelegenheit ausbeutet, sondern auf Dauerhaftigkeit | aller Zustände sinnt, und desshalb auch das Wohl des Arbeiters, seine leibliche und seelische Zufriedenheit in’s Auge fasst, – d a m it er und seine Nachkommen gut auch für unsere Nachkommen arbeiten und noch auf längere Zeiträume, als das menschliche Einzelleben ist, hinaus zuverlässig werde. Die Au s b eut u n g des Arbeiters war, wie man jetzt begreift, eine Dummheit, ein Raub-Bau auf Kosten der Zukunft, eine Gefährdung der Gesellschaft. Jetzt hat man fast schon den Krieg : und jedenfalls werden die Kosten, um den Frieden zu erhalten, um Verträge zu schliessen und Vertrauen zu erlangen, nunmehr sehr gross sein, weil die Thorheit der Ausbeutenden sehr gross und langdauernd war. 287. Vom St ud iu m des Gesel lsc ha f t s-Kör pers. – Das Uebelste für Den, welcher jetzt in Europa, namentlich in Deutschland, Oekonomik und Politik studieren will, liegt darin, dass die thatsächlichen Zustände, anstatt die R e g e l n zu exemplificiren, die Au s n a h me oder die Ueb e r g a n g s - und Au s g a n g s s t a d ie n exemplificiren. Man muss desshalb über das thatsächlich Bestehende erst hinwegsehen lernen und zum Beispiel den Blick fernhin auf Nordamerika richten,  – wo man die anfänglichen und normalen Bewegungen des gesellschaftlichen Körpers noch mit Augen s e he n und aufsuchen kann, wenn man nur w i l l , – während in Deutschland dazu schwierige historische Studien oder, wie gesagt, ein Fernglas nöthig sind. 288. I nw ie f e r n d ie Ma s c h i ne d e müt h i g t . – Die Maschine ist unpersönlich, sie entzieht dem Stück Arbeit seinen Stolz, sein individuell G ut e s und Fe h le r h a f t e s , | was an jeder NichtMaschinenarbeit klebt, – also sein Bisschen Humanität. Früher war alles Kaufen von Handwerkern ein Au s z e ic h ne n

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vo n Pe r s o ne n , mit deren Abzeichen man sich umgab : der Hausrath und die Kleidung wurde dergestalt zur Symbolik gegenseitiger Werthschätzung und persönlicher Zusammengehörigkeit, während wir jetzt nur inmitten anonymen und unpersönlichen Sclaventhums zu leben scheinen. – Man muss die Erleichterung der Arbeit nicht zu theuer kaufen. 289. H u n d e r t j ä h r i g e Q u a r a n t ä n e .  – Die demokratischen Einrichtungen sind Quarantäne-Anstalten gegen die alte Pest tyrannenhafter Gelüste : als solche sehr nützlich und sehr langweilig. 290. Der gef ä h rl ic h ste A n hä nger. – Der gefährlichste Anhänger ist Der, dessen Abfall die ganze Partei vernichten würde : also der beste Anhänger. 291. D a s S c h ic k s a l u nd d e r M a g e n . – Ein Butterbrod mehr oder weniger im Leibe des Jokey entscheidet gelegentlich über Wettrennen und Wetten, also über Glück und Unglück von Tausenden. – So lange das Schicksal der Völker noch von den Diplomaten abhängt, werden die Mägen der Diplomaten immer der Gegenstand patriotischer Beklemmung sein. Quousque tandem – 292. Sie g d e r D e mok r at ie. – Es versuchen jetzt alle politischen Mächte, die Angst vor dem Socialismus auszubeuten, um sich zu stärken. Aber auf die Dauer hat | doch allein die Demokratie den Vortheil davon : denn a l le Parteien sind jetzt genöthigt, dem „Volke“ zu schmeicheln und ihm Erleichterungen und Freiheiten aller Art zu geben, wodurch es endlich omnipotent wird. Das Volk ist vom Socialismus, als einer Lehre von der Veränderung des Eigenthumerwerbes, am entferntesten : und wenn es erst einmal die Steuerschraube in den Händen hat,

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durch die grossen Majoritäten seiner Parlamente, dann wird es mit der Progressivsteuer dem Capitalisten-, Kaufmannsund Börsenfürstenthum an den Leib gehen und in der That langsam einen Mittelstand schaffen, der den Socialismus wie eine überstandene Krankheit ve r g e s s e n darf.  – Das praktische Ergebniss dieser um sich greifenden Demokratisirung wird zunächst ein europäischer Völkerbund sein, in welchem jedes einzelne Volk, nach geographischen Zweckmässigkeiten abgegränzt, die Stellung eines Cantons und dessen Sonderrechte innehat : mit den historischen Erinnerungen der bisherigen Völker wird dabei wenig noch gerechnet werden, weil der pietätvolle Sinn für dieselben unter der neuerungssüchtigen und versuchslüsternen Herrschaft des demokratischen Princips allmählich von Grund aus entwurzelt wird. Die Correcturen der Gränzen, welche dabei sich nöthig zeigen, werden so ausgeführt, dass sie dem Nut z e n der grossen Cantone und zugleich dem des Gesammtverbandes dienen, nicht aber dem Gedächtnisse irgendwelcher vergrauten Vergangenheit ; die Gesichtspuncte für diese Correcturen zu fi nden wird die Aufgabe der zukünftigen D i p lo m a t e n sein, die zugleich Culturforscher, Landwirthe, Verkehrskenner sein müssen und keine Heere, sondern Gründe und Nützlichkeiten hinter sich haben. Dann erst ist die äu s s e r e Politik | mit der i n ne r e n unzertrennbar verknüpft : während jetzt immer noch die letztere ihrer stolzen Gebieterin nachläuft und im erbärmlichen Körbchen die Stoppelähren sammelt, die bei der Ernte der ersteren übrig bleiben. 293. Ziel u nd M it tel der Demok rat ie. – Die Demokratie will möglichst Vielen Un abh ä n g i g k e it schaffen und verbürgen, Unabhängigkeit der Meinungen, der Lebensart und des Erwerbs. Dazu hat sie nöthig, sowohl den Besitzlosen als den eigentlich Reichen das politische Stimmrecht abzusprechen : als den zwei unerlaubten Menschenclassen, an deren Beseiti-

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gung sie stätig arbeiten muss, weil Diese ihre Aufgabe immer wieder in Frage stellen. Ebenso muss sie Alles verhindern, was auf die Organisation von Parteien abzuzielen scheint. Denn die drei grossen Feinde der Unabhängigkeit in jenem dreifachen Sinne sind die Habenichtse, die Reichen und die Parteien. – Ich rede von der Demokratie als von etwas Kommendem. Das, was schon jetzt so heisst, unterscheidet sich von den älteren Regierungsformen allein dadurch, dass es mit neue n P f e r d e n fährt : die Strassen sind noch die alten, und die Räder sind auch noch die alten. – Ist die Gefahr bei d ie s e n Fuhrwerken des Völkerwohles wirklich geringer geworden ? 294. D ie B e son nen heit u nd der Er folg. – Jene grosse Eigenschaft der Besonnenheit, welche im Grunde die Tugend der Tugenden, ihre Urgrossmutter und Königin ist, hat im gewöhnlichen Leben keineswegs immer den Erfolg auf ihrer Seite : und der Freier würde sich getäuscht fi nden, der nur des Erfolges wegen sich um jene Tugend beworben hätte. Sie gilt nämlich unter | den pr a k t i s c he n Leuten für verdächtig und wird mit der Hinterhaltigkeit und heuchlerischen Schlauheit verwechselt : wem dagegen ersichtlich die Besonnenheit abgeht, – der Mann, der rasch zugreift und auch einmal danebengreift, hat das Vorurtheil für sich, ein biederer, zuverlässiger Geselle zu sein. Die praktischen Leute mögen also den Besonnenen nicht, er ist für sie, wie sie meinen, eine Gefahr. Andererseits nimmt man den Besonnenen leicht als ängstlich, befangen, pedantisch, – die unpraktischen und geniessenden Leute gerade fi nden ihn unbequem, we i l er nicht leichthin lebt wie sie, ohne an das Handeln und die Pflichten zu denken : er erscheint unter ihnen wie ihr leibhaftiges Gewissen, und der helle Tag wird bei seinem Anblick ihrem Auge bleich. Wenn ihm also der Erfolg und die Beliebtheit fehlen, so mag er sich immer zum Troste sagen : „so hoch sind eben die St eue r n , welche du

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für den Besitz des köstlichsten Gutes unter Menschen zahlen musst, – er ist es werth !“ 295. Et i n A r c a d i a e g o. – Ich sah hinunter, über Hügel-Wellen, gegen einen milchgrünen See hin, durch Tannen und altersernste Fichten hindurch : Felsbrocken aller Art um mich, der Boden bunt von Blumen und Gräsern. Eine Heerde bewegte, streckte und dehnte sich vor mir ; einzelne Kühe und Gruppen ferner, im schärfsten Abendlichte, neben dem Nadelgehölz ; andere näher, dunkler ; Alles in Ruhe und Abendsättigung. Die Uhr zeigte gegen halb sechs. Der Stier der Heerde war in den weissen schäumenden Bach getreten und gieng langsam widerstrebend und nachgebend seinem stürzenden Laufe nach : so hatte er wohl seine Art von grimmigem | Behagen. Zwei dunkelbraune Geschöpfe, bergamasker Herkunft, waren die Hirten : das Mädchen fast als Knabe gekleidet. Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch über mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend, – Alles gross, still und hell. Die gesammte Schönheit wirkte zum Schaudern und zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung ; unwillkürlich, wie als ob es nichts Natürlicheres gäbe, stellte man sich in diese reine scharfe Lichtwelt (die gar nichts Sehnendes, Erwartendes, Vor- und Zurückblickendes hatte) griechische Heroen hinein ; man musste wie Poussin und sein Schüler empfi nden : heroisch zugleich und idyllisch. – Und so haben einzelne Menschen auch g e lebt , so sich dauernd in der Welt und die Welt in sich g e f ü h lt , und unter ihnen einer der grössten Menschen, der Erfi nder einer heroisch-idyllischen Art zu philosophiren : Epikur. 296. Rec h nen u nd messen. – Viele Dinge sehen, mit einander erwägen, gegen einander abrechnen und aus ihnen einen

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schnellen Schluss, eine ziemlich sichere Summe bilden, – das macht den grossen Politiker, Feldherrn, Kaufmann : – also die Geschwindigkeit in einer Art von Kopfrechnen. E i ne Sache sehen, in ihr das einzige Motiv zum Handeln, die Richterin alles übrigen Handels fi nden, macht den Helden, auch den Fanatiker, – also eine Fertigkeit im Messen mit einem Maassstabe. 297. Nic ht u n z eit i g sehen wol len. – So lange man Etwas erlebt, muss man dem Erlebniss sich hingeben | und die Augen schliessen, also nicht d a r i n schon den Beobachter machen. Das nämlich würde die gute Verdauung des Erlebnisses stören : anstatt einer Weisheit trüge man eine Indigestion davon. 298. Aus der P ra x i s des Wei sen. – Um weise zu werden, muss man gewisse Erlebnisse erleben wol le n , also ihnen in den Rachen laufen. Sehr gefährlich ist diess freilich ; mancher „Weise“ wurde dabei aufgefressen. 299. Die Ermüdung des Geistes. – Unsere gelegentliche Gleichgültigkeit und Kälte gegen Menschen, welche uns als Härte und Charaktermangel ausgelegt wird, ist häufig nur eine Ermüdung des Geistes : bei dieser sind uns die Anderen, wie wir uns selber, gleichgültig oder lästig. 300. „ E i n s i s t Not h .“   – Wenn man klug ist, ist Einem allein darum zu thun, dass man Freude im Herzen habe.  – Ach, setzte Jemand hinzu, wenn man klug ist, thut man am Besten, weise zu sein.

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301. Ei n Zeug n i ss der Liebe. – Jemand sagte : „Ueber zwei Personen habe ich nie gründlich nachgedacht : es ist das Zeugniss meiner Liebe zu ihnen.“ 302. Wie ma n sch lechte A rg umente zu verbesser n sucht. – Mancher wirft seinen schlechten Argumenten noch ein Stück seiner Persönlichkeit hinten nach, wie als ob jene dadurch richtiger ihre Bahn laufen würden | und sich in gerade und gute Argumente verwandeln liessen ; ganz wie die Kegelschieber auch nach dem Wurfe noch mit Gebärden und Schwenkungen der Kugel die Richtung zu geben suchen. 303. D ie R e c ht l ic h k e it . – Es ist noch wenig, wenn man in Bezug auf Rechte und Eigenthum ein Muster-Mensch ist ; wenn man zum Beispiel als Knabe nie Obst in fremden Gärten nimmt, als Mann nicht über ungemähte Wiesen läuft, – um kleine Dinge zu nennen, welche, wie bekannt, den Beweis für diese Art von Musterhaftigkeit besser geben, als grosse. Es ist noch wenig : man ist dann immer erst eine „juristische Person“, mit jenem Grad von Moralität, deren sogar eine „Gesellschaft“, ein Menschen-Klumpen fähig ist. 304. Men sc h ! – Was ist die Eitelkeit des eitelsten Menschen gegen die Eitelkeit, welche der Bescheidenste besitzt, in Hinsicht darauf, dass er sich in der Natur und Welt als „Mensch“ fühlt ! 305. Nöt h i g s t e G y m n a s t i k .  – Durch den Mangel an kleiner Selbstbeherrschung bröckelt die Fähigkeit zur grossen an. Jeder Tag ist schlecht benutzt und eine Gefahr für den nächsten, an dem man nicht wenigstens einmal sich Etwas im Kleinen

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versagt hat : diese Gymnastik ist unentbehrlich, wenn man sich die Freude, sein eigener Herr zu sein, erhalten will. 306. S ic h s e l b e r ve rl ie r e n . – Wenn man erst sich selber gefunden hat, muss man verstehen, sich von Zeit | zu Zeit zu ve r l ie r e n – und dann wieder zu fi nden : vorausgesetzt, dass man ein Denker ist. Diesem ist es nämlich nachtheilig, immerdar an Eine Person gebunden zu sein. 307. Wa n n Absc h ied neh men not h t hut. – Von dem, was du erkennen und messen willst, musst du Abschied nehmen, wenigstens auf eine Zeit. Erst wenn du die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Thürme über die Häuser erheben. 308. A m M it t a g. – Wem ein thätiger und stürmereicher Morgen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesucht, die Monden und Jahre lang dauern kann. Es wird still um ihn, die Stimmen klingen fern und ferner ; die Sonne scheint steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den grossen Pan schlafend ; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte – so dünkt es ihm. Er will Nichts, er sorgt sich um Nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt, – es ist ein Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist Alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück. – Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, Mittag ist vorbei, das L eb e n reisst ihn wieder an sich, das Leben mit blinden Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt : Wunsch, Trug, Vergessen, Geniessen, Vernichten,

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Vergänglichkeit. Und so kommt der Abend herauf, stürmereicher und thatenvoller als selbst der Morgen war.  – | Den eigentlich thätigen Menschen erscheinen die länger währenden Zustände des Erkennens fast unheimlich und krankhaft, aber nicht unangenehm. 309. Sic h vor s e i nem Ma le r hüt e n . – Ein grosser Maler, der in einem Portrait den vollsten Ausdruck und Augenblick, dessen ein Mensch fähig ist, enthüllt und niedergelegt hat, wird von diesem Menschen, wenn er ihn später im wirklichen Leben wiedersieht, fast immer nur eine Carricatur zu sehen glauben. 310. D ie z we i G r u n d s ä t z e d e s n e u e n L eb e n s .  – E r s t e r Gr u nd s at z : man soll das Leben auf das Sicherste, Beweisbarste hin einrichten : nicht wie bisher auf das Entfernteste, Unbestimmteste, Horizont-Wolkenhafteste hin. Zw e i t e r Gr u nd s at z : man soll sich die R e i he n f ol g e des Nächsten und Nahen, des Sicheren und weniger Sicheren feststellen, bevor man sein Leben einrichtet und in eine endgültige Richtung bringt. 311. G e f ä h rl ic he R e i z b a r k e it . – Begabte Menschen, die aber träge sind, werden immer etwas gereizt erscheinen, wenn einer ihrer Freunde mit einer tüchtigen Arbeit fertig geworden ist. Ihre Eifersucht ist rege, sie schämen sich ihrer Faulheit – oder vielmehr, sie befürchten, der Thätige verachte sie gegenwärtig noch me h r, als sonst. In dieser Stimmung kritisiren sie das neue Werk – und ihre Kritik wird zur Rache, zum höchsten Befremden des Urhebers. 312. Z e r s t ör e n d e r I l lu s io ne n .  – Die Illusionen sind gewiss kostspielige Vergnügungen : aber das Zerstören | der Illusio-

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nen ist noch kostspieliger – als Vergnügen betrachtet, was es unleugbar für manchen Menschen ist. 313. Das Ei ntön ige des Weisen.  – Die Kühe haben mitunter den Ausdruck der Verwunderung, die auf dem Wege zur Fr a g e stehen bleibt. Dagegen liegt im Auge der höheren Intelligenz das nil admirari ausgebreitet wie die Eintönigkeit des wolkenlosen Himmels. 314. N ic ht z u l a n g e k r a n k s e i n .  – Man hüte sich, zu lange krank zu sein : denn bald werden die Zuschauer durch die übliche Verpflichtung, Mitleiden zu bezeigen, ungeduldig, weil es ihnen zu viel Mühe macht, diesen Zustand lange bei sich aufrecht zu erhalten  – und dann gehen sie unmittelbar zur Verdächtigung eures Charakters über, mit dem Schlusse : „ihr ve r d ie nt es, krank zu sein, und wir brauchen uns nicht mehr mit Mitleiden anzustrengen.“ 315. W i n k f ü r E nt hu s i a s t e n . – Wer gern hingerissen werden will und sich leicht nach Oben tragen lassen möchte, soll zusehen, dass er nicht zu s c hwe r werde, das heisst zum Beispiel, dass er nicht viel lerne und namentlich von der Wissenschaft sich nicht e r f ü l le n lasse. Diese macht schwerfällig ! – nehmt euch in Acht, ihr Enthusiasten ! 316. Sic h z u über rasc hen w issen. – Wer sich selber sehen will, so wie er ist, muss es verstehen, sich selber zu ü b e r r a s c he n , mit der Fackel in der Hand. Denn es steht mit dem Geistigen so wie es mit dem Körper|lichen steht : wer gewohnt ist, sich im Spiegel zu schauen, vergisst immer seine Hässlichkeit : erst durch den Maler bekommt er den Eindruck derselben wieder.

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Aber er gewöhnt sich auch an das Gemälde und vergisst seine Hässlichkeit zum zweiten Male. – Diess nach dem allgemeinen Gesetze, dass der Mensch das Unveränderlich-Hässliche n ic ht e r t r ä g t : es sei denn auf einen Augenblick ; er vergisst es oder leugnet es in allen Fällen. – Die Moralisten müssen auf jenen Augenblick rechnen, um ihre Wahrheiten vorbringen zu dürfen. 317. Mei nu ngen u nd Fi sc he. – Man ist Besitzer seiner Meinungen, wie man Besitzer von Fischen ist, – insofern man nämlich Besitzer eines Fischteiches ist. Man muss fischen gehen und Glück haben, – dann hat man s e i ne Fische, s e i ne Meinungen. Ich rede hier von lebendigen Meinungen, von lebendigen Fischen. Andere sind zufrieden, wenn sie ein Fossilien-Cabinet besitzen – und, in ihrem Kopfe, „Ueberzeugungen“. – 318. A n zeic hen von Frei heit u nd Un f rei heit. – Seine nothwendigen Bedürfnisse so viel wie möglich selber befriedigen, wenn auch unvollkommen, das ist die Richtung auf Fr e i he it vo n G e i s t u nd Pe r s o n . Viele, auch überflüssige Bedürfnisse sich befriedigen lassen, und so vollkommen als möglich, – erzieht zur Un f r e i he it . Der Sophist Hippias, der Alles, was er trug, innen und aussen, selbst erworben, selber gemacht hatte, entspricht eben damit der Richtung auf höchste Freiheit des Geistes und der Person. Nicht darauf | kommt es an, dass Alles gleich gut und vollkommen gearbeitet ist : der Stolz fl ickt schon die schadhaften Stellen aus. 319. Sic h se lber g lauben. – In unserer Zeit misstraut man Jedem, der an sich selber glaubt ; ehemals genügte es, um an sich glauben zu machen. Das Recept, um jet z t Glauben zu fi nden, heisst : „Schone dich selber nicht ! Willst du deine Meinung in

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ein glaubwürdiges Licht setzen, so zünde zuerst die eigene Hütte an !“ 320. Reicher und ärmer zugleich. – Ich kenne einen Menschen, der als Kind schon sich gewöhnt hatte, gut von der Intellectualität der Menschen zu denken, also von ihrer wahren Hingebung in Bezug auf geistige Dinge, ihrer uneigennützigen Bevorzugung des als wahr Erkannten und dergleichen, dagegen von seinem eigenen Kopfe (Urtheil, Gedächtniss, Geistesgegenwart, Phantasie) bescheidene, ja niedrige Begriffe zu haben. Er machte sich Nichts aus sich, wenn er sich mit Anderen verglich. Nun wurde er im Laufe der Jahre erst einmal und dann hundertfach gezwungen, in diesem Puncte umzulernen, – man sollte denken zu seiner grossen Freude und Genugthuung. Es gab auch in der That Etwas davon ; aber „doch ist, wie er einmal sagte, eine Bitterkeit der bittersten Art beigemischt, welche ich im früheren Leben nicht kannte : denn seit ich die Menschen und mich selber gerechter schätze, scheint mir mein Geist weniger nütze ; ich glaube damit kaum noch etwas Gutes erweisen zu können, weil der Geist der Anderen es nicht anzunehmen versteht : ich sehe jetzt die schreckliche Kluft | zwischen dem Hülfreichen und dem Hülfebedürftigen immer vor mir. Und so quält mich die Noth, meinen Geist für mich haben und allein geniessen zu müssen, so weit er geniessbar ist. Aber g eb e n ist seliger als h a b e n : und was ist der Reichste in der Einsamkeit einer Wüste !“ 321. Wie ma n a n g r ei fen sol l. – Die Gründe, um derentwillen man an Etwas glaubt oder nicht glaubt, sind bei den allerseltensten Menschen überhaupt so stark, a l s s ie s e i n k ön ne n . Für gewöhnlich hat man, um den Glauben an Etwas zu erschüttern, durchaus nicht nöthig, ohne Weiteres das schwerste Geschütz des Angriffs vorzufahren ; bei Vielen führt es

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schon zum Ziele, wenn man den Angriff mit etwas Lärm macht : sodass oft Knallerbsen genügen. Gegen sehr eitle Personen reicht die M ie ne des allerschwersten Angriffs aus : sie sehen sich sehr ernst genommen – und geben gern nach. 322. To d . – Durch die sichere Aussicht auf den Tod könnte jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn beigemischt sein – und nun habt ihr wunderlichen Apotheker-Seelen aus ihm einen übelschmeckenden Gift-Tropfen gemacht, durch den das ganze Leben widerlich wird ! 323. R eue. – Niemals der Reue Raum geben, sondern sich sofort sagen : diess hiesse ja der ersten Dummheit eine zweite zugesellen. – Hat man Schaden gestiftet, so sinne man darauf, Gutes zu stiften. – Wird man wegen seiner Handlungen gestraft, dann ertrage man | die Strafe mit der Empfi ndung, damit schon etwas Gutes zu stiften : man schreckt die Anderen ab, in die gleiche Thorheit zu verfallen. Jeder gestrafte Uebelthäter darf sich als Wohlthäter der Menschheit fühlen. 324. Zu m D e n k e r we r d e n . – Wie kann Jemand zum Denker werden, wenn er nicht mindestens den dritten Theil jeden Tages ohne Leidenschaften, Menschen und Bücher verbringt ? 325. D a s b e s t e He i l m it t e l . – Etwas Gesundheit ab und zu ist das beste Heilmittel des Kranken. 326. Nic ht a n r ü h ren ! – Es giebt schreckliche Menschen, welche ein Problem, anstatt es zu lösen, für Alle, welche sich mit ihm

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abgeben wollen, verfitzen und schwerer lösbar machen. Wer es nicht versteht, den Nagel auf den Kopf zu treffen, soll ja gebeten sein, ihn gar nicht zu treffen. 327. D ie ve r g e s s e n e Nat u r.  – Wir sprechen von Natur und vergessen uns dabei : wir selber sind Natur, quand même –. Folglich ist Natur etwas ganz Anderes als Das, was wir beim Nennen ihres Namens empfi nden. 328. Tie f e u nd L a n g we i l i g k e it . – Bei tiefen Menschen wie bei tiefen Brunnen dauert es lange bis Etwas, das in sie fällt, ihren Grund erreicht. Die Zuschauer, welche gewöhnlich nicht lange genug warten, halten solche Menschen leicht für unbeweglich und hart – oder auch für langweilig. | 329. Wan n es Zeit ist, sich Treue zu geloben. – Man verläuft sich mitunter in eine geistige Richtung, welcher unsre Begabung widerspricht ; eine Zeit lang kämpft man heroisch wider die Fluth und den Wind an, im Grunde gegen sich selbst : man wird müde, keucht ; was man vollbringt, macht Einem keine rechte Freude, man meint zu viel bei diesen Erfolgen eingebüsst zu haben. Ja, man ve r z we i f e lt an seiner Fruchtbarkeit, an seiner Zukunft, mitten im Siege vielleicht. Endlich, endlich k e h r t man u m – und jetzt weht der Wind i n unser Segel und treibt uns in u n s e r Fahrwasser. Welches Glück ! Wie s ie g e s g ew i s s fühlen wir uns ! Jetzt erst wissen wir, was wir sind und was wir wollen, jetzt geloben wir uns Treue und d ü r f e n es – als Wissende. 330. Wet t er pr ophet e n . – Wie die Wolken uns verrathen, wohin hoch über uns die Winde laufen, so sind die leichtesten und

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freiesten Geister in ihren Richtungen vorausverkündend für das Wetter, das kommen wird. Der Wind im Thale und die Meinungen des Marktes von Heute bedeuten Nichts für Das, was kommt, sondern nur für Das, was war. 331. Stät ige Besc h leu n ig u ng. – Jene Personen, welche langsam beginnen und schwer in einer Sache heimisch werden, haben nachher mitunter die Eigenschaft der stätigen Beschleunigung, – sodass zuletzt Niemand weiss, wohin der Strom sie noch reissen kann. | 332. D ie g ut e n D r e i . – Ruhe, Grösse, Sonnenlicht, – diese drei umfassen Alles, was ein Denker wünscht und auch von sich fordert : seine Hoff nungen und Pflichten, seine Ansprüche im Intellectuellen und Moralischen, sogar in der täglichen Lebensweise und selbst im Landschaftlichen seines Wohnsitzes. Ihnen entsprechen einmal e r heb e nd e Gedanken, sodann b e r u h i g e nd e, drittens au f he l le nd e, – viertens aber Gedanken, welche an allen drei Eigenschaften Antheil haben, in denen alles Irdische zur Verklärung kommt : es ist das Reich, wo die grosse D r e i f a lt i g k e it d e r Fr eud e herrscht. 333. Für d ie „Wa hrheit“ sterben. – Wir würden uns für unsere Meinungen nicht verbrennen lassen : wir sind ihrer nicht so sicher. Aber vielleicht dafür, dass wir unsere Meinungen haben dürfen und ändern dürfen. 334. Sei ne Ta xe haben. – Wenn man gerade so viel g e lt e n will, als man i s t , muss man Etwas sein, das s e i ne Ta xe hat. Aber nur das Gewöhnliche hat seine Taxe. Somit ist jenes Verlangen entweder die Folge einsichtiger Bescheidenheit – oder dummer Unbescheidenheit.

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335. Mor a l f ü r H äu s e r b aue r.  – Man muss die Gerüste wegnehmen, wenn das Haus gebaut ist. 336. S o phok le i s mu s . – Wer hat mehr Wasser in den Wein gegossen als die Griechen ! Nüchternheit und | Grazie verbunden – das war das Adels-Vorrecht des Atheners zur Zeit des Sophokles und nach ihm. Mache es nach, wer da kann ! Im Leben und Schaffen ! 337. D a s He r oi s c he. – Das Heroische besteht darin, dass man Grosses thut (oder Etwas in grosser Weise n ic ht thut), ohne sich im Wettkampf m it Anderen, vor Anderen zu fühlen. Der Heros trägt die Einöde und den heiligen unbetretbaren Gränzbezirk immer mit sich, wohin er auch gehe. 338. D op p e l g ä n g e r e i d e r Nat u r. – In mancher Natur-Gegend entdecken wir uns selber wieder, mit angenehmem Grausen ; es ist die schönste Doppelgängerei. – Wie glücklich muss Der sein können, welcher jene Empfi ndung gerade hier hat, in dieser beständigen sonnigen Octoberluft, in diesem schalkhaft glücklichen Spielen des Windzuges von früh bis Abend, in dieser reinsten Helle und mässigsten Kühle, in dem gesammten anmuthig ernsten Hügel-, Seen- und Wald-Charakter dieser Hochebene, welche sich ohne Furcht neben die Schrecknisse des ewigen Schnees hingelagert hat, hier, wo Italien und Finnland zum Bunde zusammengekommen sind und die Heimath aller silbernen Farbentöne der Natur zu sein scheint :  – wie glücklich Der, welcher sagen kann : „es giebt gewiss viel Grösseres und Schöneres in der Natur, d ie s s aber ist mir innig und vertraut, blutsverwandt, ja noch mehr.“

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339. L eut s e l i g k e it d e s We i s e n . – Der Weise wird unwillkürlich mit den andern Menschen leutselig um|gehen, wie ein Fürst, und sie, trotz aller Verschiedenheit der Begabung, des Standes und der Gesittung, leicht als gleichartig behandeln : was man, sobald es bemerkt wird, ihm sehr übel nimmt. 340. G old . – Alles, was Gold ist, glänzt nicht. Die sanfte Strahlung ist dem edelsten Metalle zu eigen. 341. R a d u nd He m m s c hu h . – Das Rad und der Hemmschuh haben verschiedene Pflichten, aber auch eine gleiche : einander wehe zu thun. 342. Stör ungen des Den kers. – Auf Alles, was den Denker in seinen Gedanken unterbricht (stört, wie man sagt), muss er friedfertig hinschauen, wie auf ein neues Modell, das zur Thür hereintritt, um sich dem Künstler anzubieten. Die Unterbrechungen sind die Raben, welche dem Einsamen Speise bringen. 343. Viel Geist haben. – Viel Geist haben erhält j u n g : aber man muss es ertragen, damit gerade für ä lt e r zu gelten, als man ist. Denn die Menschen lesen die Schriftzüge des Geistes ab als Spuren der L eb e n s e r f a h r u n g , das heisst des Viel- und Schlimm-gelebt-habens, des Leidens, Irrens, Bereuens. Also : man gilt ihnen für älter sowohl, als für s c h le c ht e r, als man ist, wenn man viel Geist hat und zeigt. 344. W ie m a n s ie g e n mu s s .  – Man soll nicht siegen wollen, wenn man nur die Aussicht hat, um eines | H a a r e s Br e it e

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seinen Gegner zu überholen. Der gute Sieg muss den Besiegten freudig stimmen, er muss etwas Göttliches haben, welches die B e s c h ä mu n g erspart. 345. Wa h n d e r ü b e r le g e n e n G e i s t e r. – Die überlegenen Geister haben Mühe, sich von einem Wahne frei zu machen : sie bilden sich nämlich ein, dass sie bei den Mittelmässigen Neid erregen und als Ausnahme empfunden werden. Thatsächlich aber werden sie als Das empfunden, was überflüssig ist und was man, wenn es fehlte, nicht entbehren würde. 346. For d e r u n g d e r R e i n l ic h k e it . – Dass man seine Meinungen wechselt, ist für die einen Naturen ebenso eine Forderung der Reinlichkeit, wie die, dass man seine Kleider wechselt : für andere Naturen aber nur eine Forderung ihrer Eitelkeit. 347. Auc h e i ne s Her os w ü r d i g. – Hier ist ein Heros, der Nichts gethan hat als den Baum geschüttelt, sobald die Früchte reif waren. Dünkt euch diess zu wenig ? So seht euch den Baum erst an, den er schüttelte. 348. Wo r a n d ie We i s h e it z u m e s s e n i s t .  – Der Zuwachs an Weisheit lässt sich genau nach der Abnahme an Galle bemessen. 349. D e n I r r t hu m u n a n g e ne h m s a g e n . – Es ist nicht nach Jedermanns Geschmack, dass die Wahrheit | angenehm gesagt werde. Möge aber wenigstens Niemand glauben, dass der Irr thum zur Wahrheit werde, wenn man ihn u n a n g e ne h m sage.

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350. D ie g old e ne L o o s u n g. – Dem Menschen sind viele Ketten angelegt worden, damit er es verlerne, sich wie ein Thier zu gebärden : und wirklich, er ist milder, geistiger, freudiger, besonnener geworden, als alle Thiere sind. Nun aber leidet er noch daran, dass er so lange seine Ketten trug, dass es ihm so lange an reiner Luft und freier Bewegung fehlte : – diese Ketten aber sind, ich wiederhole es immer und immer wieder, jene schweren und sinnvollen Irrthümer der moralischen, der religiösen, der metaphysischen Vorstellungen. Erst wenn auch die K et t e n - K r a n k he it überwunden ist, ist das erste grosse Ziel ganz erreicht : die Abtrennung des Menschen von den Thieren. – Nun stehen wir mitten in unserer Arbeit, die Ketten abzunehmen und haben dabei die höchste Vorsicht nöthig. Nur d e m ve r e d e lt e n Me n s c he n d a r f d ie Fr e i he it d e s G e i s t e s gegeben werden ; ihm allein naht d ie E r le ic ht e r u n g d e s L eb e n s und salbt seine Wunden aus ; er zuerst darf sagen, dass er um der Fr eu d i g k e it willen lebe und um keines weiteren Zieles willen ; und in jedem anderen Munde wäre sein Wahlspruch gefährlich : Fr iede n u m m ic h u nd e i n Woh l g e f a l le n a n a l le n n äc h s t e n D i n g e n . – Bei diesem Wahlspruch für Einzelne gedenkt er eines alten grossen und rührenden Wortes, welches A l le n galt, und das über der gesammten Menschheit stehen geblieben ist als ein Wahlspruch und Wahrzeichen, an dem Jeder zu Grunde | gehen soll, der damit zu zeitig sein Banner schmückt, – an dem das Christenthum zu Grunde gieng. Noch immer, so scheint es, i s t e s n ic ht Z e it , dass es a l le n Menschen jenen Hirten gleich ergehen dürfe, die den Himmel über sich erhellt sahen und jenes Wort hörten : „Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen an einander.“ – Immer noch ist es d ie Z e it d e r E i n z e l ne n . |

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D e r S c h at t e n : Von Allem, was du vorgebracht hast, hat mir Nichts me h r gefallen, als eine Verheissung : ihr wollt wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden. Diess wird auch uns armen Schatten zu Gute kommen. Denn, gesteht es nur ein, ihr habt bisher uns allzugern verleumdet. D e r Wa nd e r e r : Verleumdet ? Aber warum habt ihr euch nie vertheidigt ? Ihr hattet ja unsere Ohren in der Nähe. D e r S c h at t e n : Es schien uns, als ob wir euch eben zu nahe wären, um von uns selber reden zu dürfen. D e r Wa nd e r e r : Delicat ! sehr delicat ! Ach, ihr Schatten seid „bessere Menschen“ als wir, das merke ich. Der Sc hat ten : Und doch nanntet ihr uns „zudringlich“, – uns, die wir mindestens Eines gut verstehen : zu schweigen und zu warten – kein Engländer versteht es besser. Es ist wahr, man fi ndet uns sehr, sehr oft in dem Gefolge des Menschen, aber doch nicht in seiner Knechtschaft. Wenn der Mensch das Licht scheut, scheuen wir den Menschen : so weit geht doch unsere Freiheit. | D e r Wa nd e r e r : Ach, das Licht scheut noch viel öfter den Menschen, und dann verlasst ihr ihn auch. D e r S c h at t e n : Ich habe dich oft mit Schmerz verlassen : es ist mir, der ich wissbegierig bin, an dem Menschen Vieles dunkel geblieben, weil ich nicht immer um ihn sein kann. Um den Preis der vollen Menschen-Erkenntniss möchte ich auch wohl dein Sclave sein. D e r Wa nd e r e r : Weisst du denn, weiss ich denn, ob du damit nicht unversehens aus dem Sclaven zum Herrn würdest ? Oder zwar Sclave bliebest, aber als Verächter deines Herrn ein Leben der Erniedrigung, des Ekels führtest ? Seien wir Beide mit der Freiheit zufrieden, so wie sie dir geblieben

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ist – dir u nd mir ! Denn der Anblick eines Unfreien würde mir meine grössten Freuden vergällen ; das Beste wäre mir zuwider, wenn es Jemand mit mir theilen mü s s t e, – ich will keine Sclaven um mich wissen. Desshalb mag ich auch den Hund nicht, den faulen, schweifwedelnden Schmarotzer, der erst als Knecht der Menschen „hündisch“ geworden ist und von dem sie gar noch zu rühmen pflegen, dass er dem Herrn treu sei und ihm folge wie sein – D e r S c h at t e n : Wie sein Schatten, so sagen sie. Vielleicht folgte ich dir heute auch schon zu lange ? Es war der längste Tag, aber wir sind an seinem Ende, habe eine kleine Weile noch Geduld. Der Rasen ist feucht, mich fröstelt. D e r Wa nd e r e r : Oh, ist es schon Zeit zu scheiden ? Und ich musste dir zuletzt noch wehe thun ; ich sah es, du wurdest dunkler dabei. D e r S c h at t e n : Ich erröthete, in der Farbe, in welcher ich es vermag. Mir fiel ein, dass ich dir oft zu Füssen gelegen habe wie ein Hund, und dass du dann – | D e r Wa n d e r e r : Und könnte ich dir nicht in aller Geschwindigkeit noch Etwas zu Liebe thun ? Hast du keinen Wunsch ? Der Sc hat ten : Keinen, ausser etwa den Wunsch, welchen der philosophische „Hund“ vor dem grossen Alexander hatte : gehe mir ein Wenig aus der Sonne, es wird mir zu kalt. D e r Wa nd e r e r : Was soll ich thun ? D e r S c h at t e n : Tritt unter diese Fichten und schaue dich nach den Bergen um ; die Sonne sinkt. D e r Wa nd e r e r : – Wo bist du ? Wo bist du ?

Nachwort von Claus-Artur Scheier

Menschliches, Allzumenschliches Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band

Die erste „Abtheilung“ des zweiten Bands von Menschliches, Allzumenschliches erschien 1879 als Anhang : Vermischte Meinungen und Sprüche, die zweite, Der Wanderer und sein Schatten, 1880 als selbständiges Werk.1 Noch kurz vor Drucklegung des Anhangs hatte Nietzsche erwogen, die Aphorismen-Numerierung des ersten Bands fortlaufen zu lassen,2 aber bereits im Januar 1879 ist diese irreführende Kopplung aufgegeben. Dem aufmerksameren Leser konnte nicht entgehen, daß die „vermischten“ Meinungen und Sprüche wie dann noch einmal der Wanderer der thematischen Reihung des ersten Bands folgen : 1. Metaphysik, 2. Moral, 3. Religion, 4. Kunst, 5. Historie, 6. Gesellschaft, 7. Familie, 8. Staat und 9. Individuum.3 Beide Sammlungen fangen damit jeweils von vorn an, das philoso1

Nach Ausweis der Briefe entstanden die Bücher unter widrigsten gesundheitlichen Umständen, die Nietzsche im März 1879 zwangen, seine Basler Lehrtätigkeit endgültig aufzugeben : „Im letzten Jahre hatte ich 118 schwere Anfallstage. Schöne Statistik ! -“ (an die Schwester, 29. Dezember 1879). Die Hadesfahrt, der letzte Aphorismus der Vermischten Meinungen und Sprüche, ist ein literarisches Testament, aber seinem Verleger Schmeitzner kann Nietzsche am 18. Dezember 1879 schließlich schreiben : „Der vollendete ‚Wanderer‘ ist mir fast etwas Unglaubliches – am 21. Juni kam ich nach St. Moritz – und heute – ! / Die ganze ‚Menschlichkeit‘ mit den 2 Anhängen ist aus der Zeit der bittersten und anhaltendsten Schmerzen – und scheint mir doch ein Ding voller Gesundheit. Dies ist mein Triumph.“ 2 An den Verleger Schmeitzner, 23. November 1878. 3 MA 2.1 : (1) 1 – 32, (2) 33 – 91, (3) 92 – 98, (4) 99 – 178, (5) 179 – 201, (6) 202 – 271, (7) 272 – 293, (8) 294 – 325, (9) 326 – 408; MA 2.2 : (1) 1 – 17, (2) 18 – 71, (3)  72 – 86, (4) 87 – 169, (5) 170 – 233, (6) 234 – 269, (7) 270 – 274, (8) 275 – 296, (9) 297 – 350.

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Nachwort

phische Ich durchwandert die seit 1876 entdeckte Landschaft dreimal.4 ‚Spruch‘ ist Nietzsches Übersetzung von Sentenz.5 Von nun an werden die Sentenzen häufiger im Werk, bilden als Sprüche und Zwischenspiele6 oder Sprüche und Pfeile7 kleine Gesellschaften, und Also sprach Zarathustra ist ein Sentenzen-Buch. In den Vermischten Meinungen und Sprüchen fi nden sie sich da und dort, aber was meint ‚vermischt‘, wenn anders jede Meinung ihrem Ring in der thematischen Kette angehängt ist ?8 Eigentlich sollte der Mensch seine Meinungen aus dem „eigenen Brunnen“ schöpfen, aber daran hindert ihn gewöhnlich die „Faulheit, welche im Grunde der Seele des Thätigen liegt“,9 und überdies kommt es weniger aufs Haben an als 4

Vgl. MA 1.638 : „Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen, denn als Wanderer, – nicht als Reisender nach einem letzten Ziele : denn dieses giebt es nicht.“ Ein viertes und fünftes Mal wird Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse und der Götzen-Dämmerung diesem Itinerar folgen, jeweils modifi zierend, um den Ansprüchen nach-zarathustrischer Lehrbücher Rechnung zu tragen. 5 Vgl. MA 2.1.129, 168. „Eine Sentenz ist ein Glied aus einer Gedankenkette; sie verlangt, dass der Leser diese Kette aus eigenen Mitteln wiederherstelle“ (IV-2.20[3], 1876/77), und : „Im Gebirge ist der nächste Weg von Gipfel zu Gipfel : aber du mußt dazu lange Beine haben ! – Sentenzen sind Gipfel.“ ( VII-1.3[1]163, 1882) „Es giebt Wendungen und Würfe des Geistes, es giebt Sentenzen, eine kleine Handvoll Worte, in denen eine ganze Cultur, eine ganze Gesellschaft sich plötzlich krystallisirt.“ ( JGB 235) 6 JGB, Viertes Hauptstück. 7 GD, erster Abschnitt. 8 Vgl. MA 2.1.367 : „Wie wenig Anhänger zu bedeuten haben, begreift man erst, wenn man aufgehört hat, der Anhänger seiner Anhänger zu sein.“ 9 MA 1.286, vgl. 1.466. MA 1.482 stellt ein Aperçu auf die Spitze einer Sentenz : Schopenhauer als Erzieher (UB 3.1) hatte von „einer Periode“ gesprochen, „welche ihr Heil auf die öffentlichen Meinungen, das heisst auf die privaten Faulheiten setzt“ – jetzt heißt es : „Oeffentliche Mei-

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auf die Veränderung : „Veränderte Meinungen verändern den Charakter eines Menschen nicht (oder ganz wenig); wohl aber beleuchten sie einzelne Seiten des Gestirns seiner Persönlichkeit, welche bisher, bei einer andern Constellation von Meinungen, dunkel und unerkennbar geblieben waren.“10 Die Persönlichkeit und ihre Konstellation von Meinungen – die theoretischen Einstellungen und ihr Träger : „Von den Ausnahme-Menschen aber muss es heissen : erst der Träger macht die Tracht; hier hören die Meinungen auf, öffentlich zu sein, und werden etwas Anderes als Masken, Putz und Verkleidung“ (MA 2.1.325) : Könnten Sie mir nachfühlen, in welcher reinen Höhenluft, in welcher milden Stimmung gegen die Menschen die noch im Dunst der Thäler wohnen ich jetzt hinlebe,11 mehr als je entschlossen zu allem Guten und Tüchtigen, den Griechen um hundert Schritt näher als vordem : wie ich jetzt selber, bis in’s Kleinste, nach Weisheit strebend lebe, während ich früher nur die Weisen verehrte und anschwärmte – kurz wenn Sie diese Wandelung und Krisis mir nachempfi nden könnungen – private Faulheiten.“ Der Titel des Aphorismus „Und nochmals gesagt“ signalisiert den stilistischen Fortschritt. 10 MA 2.158. Vgl. 2.2.317 und 333. 11 Nietzsches ungewöhnlich irenische Gestimmtheit schlägt sich u. a. in einer politischen Bemerkung von bleibender Aktualität nieder : „Der Lehre von dem Heer als einem Mittel der Nothwehr muss man ebenso gründlich abschwören, als den Eroberungsgelüsten. […] Sich wehrlos machen, während man der Wehrhafteste war, aus einer Höhe der Empfi ndung heraus, – das ist das Mittel zum wirklichen Frieden, welcher immer auf einem Frieden der Gesinnung ruhen muss : während der sogenannte bewaff nete Friede, wie er jetzt in allen Ländern einhergeht, der Unfriede der Gesinnung ist, der sich und dem Nachbar nicht traut und halb aus Hass, halb aus Furcht die Waffen nicht ablegt. Lieber zu Grunde gehen, als hassen und fürchten, und zweimal lieber zu Grunde gehen, als sich hassen und fürchten machen, – diess muss einmal auch die oberste Maxime jeder einzelnen staatlichen Gesellschaft werden !“ (MA 2.2.284)

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Nachwort

nen, oh so müßten Sie wünschen, etwas Ähnliches zu erleben ! […] Jetzt schüttele ich ab, was nicht zu mir gehört, […] ich lebe in Einsamkeit auf Jahre hinaus, bis ich wieder, als Philosoph des Lebens, ausgereift und fertig verkehren darf (und dann wahrscheinlich muß).12

Die thematische Reihung von Menschliches, Allzumenschliches bleibt gewahrt und gibt dem ganzen Werk formalen Zusammenhalt und innere Korrespondenz; im zweiten Band wird sie aber abgeblendet und das Gravitationszentrum leuchtet auf, das die dreimal neun Hauptstücke allererst in Eine Konstellation treten läßt. Integrierendes Thema war zuvörderst das Allzumenschliche : als allzumenschlich erwiesen sich Metaphysik, Moral, Religion usf.; im zweiten Band wird das Menschliche fühlbar als der einheitstiftende Träger, dessen Schatten, die bisher „dunkel und unerkennbar“ gebliebene Seite des „Ketten-Denker[s]“,13 ihn schließlich zur Rede stellt als den „Wanderer“.14 Hat Nietzsche sich in Menschliches, Allzumenschliches überhaupt freigemacht „vom Unzugehörigen in meiner Natur“,15 dann macht er sich frei zu sich in den Vermischten Meinungen und Sprüchen – er hat nichts mehr zu verlieren. ‚Vermischt‘ sind sie, indem sie jetzt unbeschadet ihres jeweiligen thematischen Akzents allesamt ineinanderspielen und so zurückweisen auf ihren Träger. Die lange Inkubationsphase des philosophischen Ich ist vorüber,16 die nationale „Tracht“ des ästhetischen Attentäters ist abgeworfen, Nietzsche weiß von nun an, wer er 12

An Mathilde Maier, 5. Juli 1878. MA 2.1.376 : „Einem, der viel gedacht hat, erscheint jeder neue Gedanke, den er hört oder liest, sofort in Gestalt einer Kette.“ 14 Wie Zarathustra nachmals von seiner „stillste[n] Stunde“ zu Rede gestellt werden wird : Za 2.22 : Die stillste Stunde. 15 EH, MA 1. 16 „Als ich 12 Jahre alt war […] fieng ich an, zu philosophiren.“ ( VII2.26[390], 1884) 13

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ist : der „Philosoph des Lebens“ – und auch, daß dies nur ein neuer Anfang ist „auf Jahre hinaus“. Dieser Unterscheidung (1) von anderem folgt die Unterscheidung (2) in sich sozusagen auf dem Fuß (2a) als die „Einverleibung“17 des Schattens, sodann, nach der Sondierung des theoretischen Lebens in der Morgenröthe, (2b) als die Einverleibung selbst – des philosophischen Ich in den Leib als Fröhliche Wissenschaft, und weiter die Unterscheidung (3) von sich : „Da, plötzlich, Freundin ! wurde Eins zu Zwei – / – Und Zarathustra gieng an mir vorbei …“18 Zum ‚Ungehörigen‘ gehörte vor allem die enthusiastische Hoff nung, die zeitgenössische Kunst, Wagners Kunst werde „der höchsten Aufgabe […] dieses Lebens“19 gerecht werden und „die neue Religion, die welterlösende Verkündigung der erhabensten Unschuld“20 hier und jetzt realisieren. Gewiß hatte Wagner „die Desperation vom modernen Menschen genommen, als ob er immer nur Epigone sein müsse“,21 die eigne „Desperation wegen Bayreuth“22 hatte Nietzsche jedoch den Blick dafür geschärft, daß der „Geist“ dieser Musik nur „den allerletzten Kriegs- und Reactionszug […] gegen den Geist der Aufklärung“ anführte (MA 2.1.171). Bedrängend wurde damit die Frage, was es auf sich habe mit „der eigentlich metaphysischen Tätigkeit dieses Lebens“, und der prozentuale Anteil der Aphorismen zur Ästhetik steigt anders als der der übrigen acht Themenkreise vom ersten zum zweiten und wieder vom zweiten zum dritten Buch an.23 17

Ein Leitmotiv des Jahrs 1881, vgl. V-2.11[7] : „Ich unterscheide aber : die eingebildeten Individuen und die wahren ‚Lebens-systeme‘, deren jeder von uns eins ist“. 18 FW, Lieder des Prinzen Vogelfrei : Sils-Maria. 19 GT, Vorwort an Richard Wagner. 20 Richard Wagner : Beethoven, Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. Leipzig 61912/14 [SSD], Bd. 9, S. 126. 21 IV-1.11[1] (1875). 22 IV-1.5[98] (1875). 23 MA 1 : 79 = 12 %, MA 2.1 : 80 = 20 %, MA 2.2 : 83 = 24 %.

322

Nachwort

‚Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller‘ : „Ich denke über den Stil nach. Bitte, schreiben Sie zu meinem Nutz und Frommen mir einige Thesen über meinen jetzigen Stil […] – was ich kann und nicht kann, über die Gefahr von Manieren usw.“24 Als früh von den Autoren der ‚goldenen Latinität‘ geprägter Altphilologe25 war Nietzsche ein reflektierter Stilist :26 Seine selbstbewußte Attacke auf David Friedrich Strauß, den „Bekenner und de[n] Schriftsteller“ (UB 1), machte die Probe aufs Exempel, daß er längst „das Handgelenk gefährlich frei“ hatte (EH, UB 1) – niemandem konnte einfallen, den Spieß umzukehren und ihm seinerseits „Sprach-Verlumpung“27 nachzuweisen. Aber jetzt geht es nicht mehr um korrektes Schreiben, Nietzsche ist ins Grübeln geraten „über meinen jetzigen Stil“ : Das unablässige Schaff enwollen und Nach-Aussen-Spähen des Künstlers hält ihn davon ab, als Person schöner und besser zu werden, also sich selber zu schaffen […]. In allen Fällen hat er nur ein bestimmtes Maass von Kraft : was er davon auf sich verwendet – wie könnte diess noch seinem Werke zu Gute kommen ? – Und umgekehrt.28 24

An Köselitz, 5. April 1879. Vgl. GD, Was ich den Alten verdanke 1. Die Bibel der literarischen décadence, Huysmans’ A rebours, wird diese Autoren 1884 als „Wonnen der Halbgebildeten [délices des faux lettrés]“ apostophieren (ch. III). 26 Leopardi, notiert er 1875, sei „das moderne Ideal eines Philologen“ (IV-1.3[23]) und „vielleicht der grösste Stilist des Jahrhunderts“ (IV-1.3[71]). 27 MA 2, Vorrede 1. 28 MA 2.1.102. Vgl. IV-2.16[3] : „Menschen, welche das Talent der Darstellung haben, sehen an den Dingen nur das Darstellbare. Sie begreifen vieles nicht. So auch die Schriftsteller und Lehrer. Diese Alle denken im Grunde immer nur an ihr Talent : ob sie sonst besser oder schlechter werden, ist ihnen gleich. / Als Mensch, Musiker, Philolog, Schriftsteller, Philosoph – in allem merke ich jetzt wie es mit mir steht – gleich, überall gleich ! […] Bei Schloss Chillon geschrieben, Abends gegen 6.“ (März/April 1876) Ferner FW 290 : „Eins ist Noth. – Seinem Charakter ‚Stil geben‘ – eine grosse und seltene Kunst !“ 25

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So hat Nietzsche begonnen, sich zurückzutasten von der geschriebenen in die gesprochene als in die sprechende Sprache : „Die Kunst, zu schreiben, verlangt vor Allem Ersatzmittel für die Ausdrucksarten, welche nur der Redende hat : also für Gebärden, Accente, Töne, Blicke“,29 denn „[d]er Reichthum an Leben verräth sich durch Reichthum an Gebärden. Man muß Alles, Länge Kürze der Sätze, die Interpunktionen, die Wahl der Worte, die Pausen, die Reihenfolge der Argumente – als Gebärden empfi nden lernen“.30 Die hierin lauernde Gefahr der „Verwilderung“ brachte das „Schwimmen und Schweben“ der ‚unendlichen Melodie‘ zu Gehör, wo immer sie sich „enger an eine ganz naturalistische, durch keine höhere Plastik erzogene und beherrschte Schauspielerkunst und Gebärdensprache anlehnt“.31 Später wird Nietzsche konstatieren, bei Wagner stehe „im Anfang die Hallucination : nicht von Tönen, sondern von Gebärden“ ( WA 7), denn die Musik, hatte der Meister gelehrt, spreche „das innerste Wesen der Gebärde mit solch unmittelbarer Verständlichkeit aus, daß sie, sobald wir ganz von der Musik erfüllt sind, sogar unser Gesicht für die intensive Wahrnehmung der Gebärde depotenziert, so daß wir sie endlich verstehen, ohne sie selbst zu sehen.“32 ‚Die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehn, die Kunst aber unter der des Lebens‘ (GT, Vorrede 2) : den me29

MA 2.2.110. Vgl. Maurice Merleau-Pontys Unterscheidung von

„langage parlé“ und „langage parlant“ : „Sagen wir, es gebe zwei Sprachen : die Ergebnis-Sprache (langage après coup), die erworben worden ist und vor dem Sinn verschwindet, dessen Träger sie geworden ist – und diejenige, die im Augenblick des Ausdrucks entsteht, die eben im Begriff ist, mich von den Zeichen zum Sinn gleiten zu lassen, – die gesprochene und die sprechende Sprache.“ (La prose du monde, Paris 1969, S. 17) 30 VII-1.1[45] : Stil. Vgl. die zehn Maximen Zur Lehre vom Stil (Brief an Lou von Salomé, 8./24. August 1882). 31 MA 2.1.134. Vgl. EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 4 : „alle Gesetze der Periode sind Kunst der Gebärde“. 32 Wagner : Beethoven, SSD 9, S. 77.

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Nachwort

taphysischen Überstand der Repräsentation überhaupt zu destruieren 33 um der Präsenz und Gegenwart bei den „nahen und nächsten Dinge[n]“34 willen – diese in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre Gestalt werdende Aufgabe scheint auf im Stil 35 als Unterschied von leibhafter und bloß repräsentierter Gebärde oder Attitüde : „[W]enn es Wagner's Theorie gewesen ist ‚das Drama ist der Zweck, die Musik ist immer nur dessen Mittel‘, – seine Praxis dagegen war […] ‚die Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist immer nur ihr Mittel‘“ (FW 5.368). So beginnt Menschliches, Allzumenschliches den Kampf aufzunehmen gegen die „Theatrokratie“,36 gegen „den Aberwitz eines Glaubens an den Vorrang des Theaters, an ein Recht auf Herrschaft des Theaters über die Künste, über die Kunst …“37 Die gesellschaftliche Macht der Repräsentation vermochte Nietzsches Angriff freilich nicht zu brechen, aber

33

Vgl. Heideggers „Destruktion des überlieferten Bestandes der antiken Ontologie auf die ursprünglichen Erfahrungen, in denen die ersten und fortan leitenden Bestimmungen des Seins gewonnen wurden“ (Sein und Zeit, Halle a. d. S. 1927, S. 22). 34 MA 1, Vorrede 5. Vgl. MA 2.2.5 : Sprachgebrauch und Wirklichkeit, und MA 2.2.350. 35 „ Den Stil verbessern – das heisst den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter !“ (MA 2.2.131) 36 Vgl. III-4.32[61] (1874) : „Wagner versucht die Erneuerung der Kunst von der einzigen noch vorhandenen Basis aus, vom Theater aus : hier wird doch wirklich noch eine Masse aufgeregt und macht sich nichts vor wie in Museen und Concerten. Freilich ist es eine sehr rohe Masse, und die Theatrokratie wieder zu beherrschen hat sich bis jetzt noch als unmöglich erwiesen.“ Den Terminus theatrokratía fand Nietzsche bei Platon (Lg. 701a3). Vielleicht war er der „Moral-Tarantel Rousseau“ (M, Vorrede 3) nie näher als in seinem Kampf gegen die Repräsentation in doppelter Bedeutung (vgl. Rousseaus Lettre à Mr. d’Alembert sur les spectacles von 1758). 37 WA , Nachschrift. – „Vorsicht vor allen pittoresken Menschen !“ (EH, Warum ich so klug bin 10)

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seine Insistenz auf Stil als Ur-Gebärde38 der „wahren ‚Lebenssysteme‘, deren jeder von uns eins ist“,39 entzog der Kunstreligion des neunzehnten Jahrhunderts die theoretische Fundierung im Primat der Musik zugunsten des neuen graphischen Paradigma in Fin de siècle und klassischer Moderne.40 Schopenhauer hatte die Musik das „Abbild des Willens selbst“ genannt, „dessen Objektität auch die Ideen sind : deshalb eben ist die Wirkung der Musik so sehr viel mächtiger und eindringlicher, als die der anderen Künste : denn diese reden nur vom Schatten, sie aber vom Wesen“.41 Um diesen „traumartigen Zustand“42 als solchen zu produzieren, sorgt der ein Vierteljahrhundert jüngere Wagner dafür, daß „die mechanischen Bewegungen der Musiker, der ganz sonderbar sich bewegende Hilfsapparat einer orchestralen Produktion“ (ebd.) im Orchestergraben invisibilisiert wird (wie die zeitgenössischen Fabriken durch neugotische Fassaden). Ebenso invisibilisiert die Musik selbst die Gebärde überhaupt und spricht damit deren ‚innerstes Wesen‘ aus, nämlich zu sein was sie ist erst als repräsentierte Gebärde : Leben als traumartiger Zustand, „Hal38

Vgl. MA 1.216 : „Aelter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden […] Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine Symbolik der Gebärde entstehen : ich meine, man konnte über eine Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar, dass man zuerst Ton und Gebärde (zu der er symbolisch hinzutrat), später nur den Ton hervorbrachte.“ 39 V-2.11[7] (1881). M 343 evoziert in diesem Sinn „die Reise um die Welt (die ihr selber seid !)“. 40 Werner Hofmann fand für dies als revolutionär erfahrene Transzendieren der ästhetischen Repräsentation die Formel Von der Nachahmung zur Erfindung der Wirklichkeit (Von der Nachahmung zur Erfi ndung der Wirklichkeit : Die schöpferische Befreiung der Kunst 1890 – 1917, Köln 1970). 41 Arthur Schopenhauer : Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 52, Werke, hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1991 (11988), Bd. 1, S. 341. 42 Wagner : Beethoven, SSD 9, S. 75.

326

Nachwort

lucination“. An sich aber, erkennt Nietzsche, „ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom ‚Willen‘, vom ‚Dinge an sich‘; das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter wähnen, welches den ganzen Umfang des inneren Lebens für die musicalische Symbolik erobert hatte. Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hineingelegt“ (MA 1.215) als in ein anderes System. Das ‚Lebens-system‘ selbst ist dagegen die Gebärde als der je und je zum Zeichen gemachte Leib, lebendige Schrift : „Das Erste, was noth thut, ist Leben : der Stil soll leben.“43 Denn das „Leicht-Gesagte fällt selten so schwer in's Gehör, als die Sache wirklich wiegt – das liegt aber an den schlecht geschulten Ohren, welche aus der Erziehung durch Das, was man bisher Musik nannte, in die Schule der höheren Tonkunst, das heisst der Rede, übergehen müssen“ (MA 2.2.137). Mit diesem Schritt in „die Schule der höheren Tonkunst“ fi ndet Nietzsche zugleich die seinem Denken angemessene literarische Elementarform, den Aphorismus :44 „Es sind Aphorismen ! Sind es Aphorismen ? – mögen die welche mir daraus einen Vorwurf machen, ein wenig nachdenken und dann sich vor sich selber

43 44

VII-1.1[45] (1882).

Abgesehen von den französischen Moralisten waren Vorbilder namentlich Lichtenberg (MA 2.2.109) und Pascal, vgl. VII-3.35[31] (1885) : „Man soll die Thatsache, wie uns unsere Gedanken gekommen sind, nicht verhehlen und verderben. Die tiefsten und unerschöpftesten Bücher werden wohl immer etwas von dem aphoristischen und plötzlichen Charakter von Pascals Pensées haben.“ 1876 plant Nietzsche „Nachträge zu den unzeitgemässen Betrachtungen (aphoristisch)“ (IV.2.16[12]) und noch 1878 ein Buch „Über die Ursachen der Dichtkunst / Vorurtheile über die Dichter. / Aphorismen.“ (IV-3.30.2) Er wird diese nicht zuletzt an Schopenhauers Aphorismen zur Lebensweisheit orientierte Darstellungsform von nun an durchgehend beibehalten, auch die drei „Abhandlungen“ Zur Genealogie der Moral sind in Aphorismen gegliedert, deren Spektrum von der lakonischen Sentenz bis zum ausgearbeiteten Essay reicht.

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entschuldigen“45 – sich vor sich selber entschuldigen, weil sie, wie nachmals Georg Lukács, Aphorismen für „formal jeden Zusammenhang leugnende[-] Gedankenfetzen“ halten.46 Ihre Schwierigkeit liegt aber umgekehrt „darin, dass man diese Form heute nicht schwer genug nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht ‚entziffert‘; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf“ (GM, Vorrede 8). Und diese Auslegung wird fi nden, was zuerst die Vermischten Meinungen und Sprüchen lehren konnten, nämlich daß ein Aphorismus (aphorismós : etwas Abgegrenztes, ein Ausschnitt) immer auf das Ganze zurückverweist, dem er entstammt, und so zum einen auf alle andern Ausschnitte dieses Ganzen – Nietzsches Aphorismen sind, wie wir heute sagen, vernetzt –, zum andern auf das, was dieses Ganze trägt : das philosophische Ich als das ‚Lebenssystem‘. Wie in Horaz’ „Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen“,47 ist in „Aphorismenbüchern gleich den meinigen“48 jeder Aphorismus ein farbiges Steinchen in der musivischen Arbeit des Ganzen – damit wir „wieder gute Nachbarn der nächsten Dinge werden und nicht so verächtlich wie bisher über sie hinweg nach Wolken und Nachtunholden hinblicken.“ (MA 2.2.16)

45

V-1.7[192] (1880). Georg Lukács : Von Nietzsche bis Hitler oder Der Irrationalismus in der deutschen Politik, Frankfurt a. M. / Hamburg 1960, S. 101. 47 GD, Was ich den Alten verdanke 1. 48 VII-3.37[5] (1885). 46

Editorische Notiz

Die Wiedergabe des Textes von Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister. Zweiter Band erfolgt nach der Neuen Ausgabe von 1886 der unter diesem Titel zusammengefaßten Schriften Vermischte Meinungen und Sprüche von 1879 und Der Wanderer und sein Schatten von 1880, der Nietzsche jetzt die 1886 verfaßte „einführende“ Vorrede voranstellte. Die Eigentümlichkeiten der Orthographie der Zeit und der Interpunktion Nietzsches bleiben unverändert erhalten; offenkundige Fehler wurden stillschweigend korrigiert, die Edition des Textes in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Colli und Montinari (Berlin 1967 ff.) wurde durchgängig vergleichend herangezogen. Der Seitenumbruch der Originalausgabe wird im Text fortlaufend durch einen senkrechten Strich | markiert und im Kolumnentitel innen mit Angabe der Seitenzahlen angezeigt.

Siglenverzeichnis

AC

Der Antichrist (1888)

EH

Ecce homo (1888/89)

FW

Die fröhliche Wissenschaft (1882)

GD

Götzen-Dämmerung (1889)

GM

Zur Genealogie der Moral (1887)

GT

Die Geburt der Tragödie (1872)

HL

Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874)

JGB

Jenseits von Gut und Böse (1886)

KGB

Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1975 ff.

KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1967 ff. M

Morgenröthe (1881)

MA

Menschliches, Allzumenschliches

NW

Nietzsche contra Wagner (1894)

PhtZ

Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873)

SE

Schopenhauer als Erzieher (1874)

UB

Unzeitgemässe Betrachtungen

WA

Der Fall Wagner (1888)

WB

Richard Wagner in Bayreuth (1878)

Za

Also sprach Zarathustra

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Philosophische Werke in sechs Bänden H e r au s g e g e b e n von c l au s -a r t u r s c h e i e r

BAND 4

F E L I X M E I N ER V ER L AG H A M BU RG

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Morgenröthe (Neue Ausgabe 1887)

M i t e i n e m N ac h wor t von c l au s -A r t u r S c h e i e r

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 654

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http ://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN 978-3-7873-2424-8 ISBN eBook: 978-3-7873-2431-6

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Inhalt

Morgenröthe Gedanken über die moralischen Vorurtheile

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Erstes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Zweites Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

79

Drittes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Viertes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Fünftes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Nachwort des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327

Friedrich Nietzsche

Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile.

„Es giebt so viele Morgenröthen, die noch nicht geleuchtet haben.“ Rigveda.

Neue Ausgabe mit einer einführenden Vorrede.

3

iii | iv

Vorrede.

1. In diesem Buche fi ndet man einen „Unterirdischen“ an der Arbeit, einen Bohrenden, Grabenden, Untergrabenden. Man sieht ihn, vorausgesetzt, dass man Augen für solche Arbeit der Tiefe hat  –, wie er langsam, besonnen, mit sanfter Unerbittlichkeit vorwärts kommt, ohne dass die Noth sich allzusehr verriethe, welche jede lange Entbehrung von Licht und Luft mit sich bringt ; man könnte ihn selbst bei seiner dunklen Arbeit zufrieden nennen. Scheint es nicht, dass irgend ein Glaube ihn führt, ein Trost entschädigt ? Dass er vielleicht seine eigne lange Finsterniss haben will, sein Unverständliches, Verborgenes, Räthselhaftes, weil er weiss, was er auch haben wird : seinen eignen Morgen, seine eigne Erlösung, seine eigne Mor g e n r öt he ? … Gewiss, er wird zurückkehren : fragt ihn nicht, was er da unten will, er wird es euch selbst schon sagen, dieser scheinbare Trophonios und Unterirdische, wenn er erst wieder „Mensch geworden“ ist. | Man verlernt gründlich das Schweigen, wenn man so lange, wie er, Maulwurf war, allein war – – 2. In der That, meine geduldigen Freunde, ich will es euch sagen, was ich da unten wollte, hier in dieser späten Vorrede, welche leicht hätte ein Nachruf, eine Leichenrede werden können : denn ich bin zurück gekommen und – ich bin davon gekommen. Glaubt ja nicht, dass ich euch zu dem gleichen Wagnisse auffordern werde ! Oder auch nur zur gleichen Einsamkeit ! Denn wer auf solchen eignen Wegen geht, begegnet Niemandem : das bringen die „eignen Wege“ mit sich. Niemand kommt, ihm dabei zu helfen ; mit Allem, was ihm von Gefahr,

4

Vorrede

iv | v

Zufall, Bosheit und schlechtem Wetter zustösst, muss er allein fertig werden. Er hat eben seinen Weg f ü r s ic h  – und, wie billig, seine Bitterkeit, seinen gelegentlichen Verdruss an diesem „für sich“ : wozu es zum Beispiel gehört, zu wissen, dass selbst seine Freunde nicht errathen können, wo er ist, wohin er geht, dass sie sich bisweilen fragen werden „wie ? geht er überhaupt ? hat er noch – einen Weg ?“ – Damals unternahm ich Etwas, das nicht Jedermanns Sache sein dürfte : ich stieg in die Tiefe, ich bohrte in den Grund, ich begann ein altes Ve r t r aue n zu untersuchen und anzugraben, auf dem wir Philosophen seit ein paar Jahrtausenden wie auf dem sichersten Grunde zu bauen pflegten, – immer wieder, obwohl jedes Gebäude bisher einstürzte : ich begann unser Ve r t r aue n z u r Mor a l zu untergraben. Aber ihr versteht mich nicht ? | 3. Es ist bisher am schlechtesten über Gut und Böse nachgedacht worden : es war dies immer eine zu gefährliche Sache. Das Gewissen, der gute Ruf, die Hölle, unter Umständen selbst die Polizei erlaubten und erlauben keine Unbefangenheit ; in Gegenwart der Moral s ol l eben, wie Angesichts jeder Autorität, nicht gedacht, noch weniger geredet werden : hier wird – g e hor c ht ! So lang die Welt steht, war noch keine Autorität Willens, sich zum Gegenstand der Kritik nehmen zu lassen ; und gar die Moral kritisiren, die Moral als Problem, als problematisch nehmen : wie ? war das nicht – i s t das nicht – unmoralisch ? – Aber die Moral gebietet nicht nur über jede Art von Schreckmitteln, um sich kritische Hände und Folterwerkzeuge vom Leibe zu halten : ihre Sicherheit liegt noch mehr in einer gewissen Kunst der Bezauberung, auf die sie sich versteht,  – sie weiss zu „begeistern“. Es gelingt ihr, oft mit einem einzigen Blicke, den kritischen Willen zu lähmen, sogar zu sich hinüberzulocken, ja es giebt Fälle, wo sie ihn gegen sich selbst zu kehren weiss : so dass er sich dann, gleich dem

v | vi

Vorrede

5

Skorpione, den Stachel in den eignen Leib sticht. Die Moral versteht sich eben von Alters her auf jede Teufelei von Ueberredungskunst : es giebt keinen Redner, auch heute noch, der sie nicht um ihre Hülfe angienge (man höre zum Beispiel selbst unsere Anarchisten reden : wie moralisch reden sie, um zu überreden ! Zuletzt heissen sie sich selbst noch gar „die Guten und Gerechten“.) Die Moral hat sich eben von jeher, so lange auf Erden geredet und überredet worden ist, als die grösste Meisterin | der Verführung bewiesen – und, was uns Philosophen angeht, als die eigentliche C i r c e d e r Ph i lo s o phe n . Woran liegt es doch, dass von Plato ab alle philosophischen Baumeister in Europa umsonst gebaut haben ? Dass Alles einzufallen droht oder schon in Schutt liegt, was sie selber ehrlich und ernsthaft für aere perennius hielten ? Oh wie falsch ist die Antwort, welche man jetzt noch auf diese Frage bereit hält, „weil von ihnen Allen die Voraussetzung versäumt war, die Prüfung des Fundamentes, eine Kritik der gesammten Vernunft“ – jene verhängnissvolle Antwort Kant’s, der damit uns moderne Philosophen wahrhaftig nicht auf einen festeren und weniger trüglichen Boden gelockt hat ! ( – und nachträglich gefragt, war es nicht etwas sonderbar, zu verlangen, dass ein Werkzeug seine eigne Treffl ichkeit und Tauglichkeit kritisiren solle ? dass der Intellekt selbst seinen Werth, seine Kraft, seine Grenzen „erkennen“ solle ? war es nicht sogar ein wenig widersinnig ? –) Die richtige Antwort wäre vielmehr gewesen, dass alle Philosophen unter der Verführung der Moral gebaut haben, auch Kant –, dass ihre Absicht scheinbar auf Gewissheit, auf „Wahrheit“, eigentlich aber auf „ m aj e s t ä t i s c h e s it t l ic he G eb äu d e“ ausgieng : um uns noch einmal der unschuldigen Sprache Kant’s zu bedienen, der es als seine eigne „nicht so glänzende, aber doch auch nicht verdienstlose“ Aufgabe und Arbeit bezeichnet, „den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen“ (Kritik der reinen Vernunft II, S. 257). Ach, es ist ihm damit nicht

6

Vorrede

vi – viii

gelungen, im Gegentheil ! – wie man heute sagen muss. Kant war mit einer solchen schwärmerischen | Absicht eben der rechte Sohn seines Jahrhunderts, das mehr als jedes andere das Jahrhundert der Schwärmerei genannt werden darf : wie er es, glücklicher Weise, auch in Bezug auf dessen werthvollere Seiten geblieben ist (zum Beispiel mit jenem guten Stück Sensualismus, den er in seine Erkenntnisstheorie hinübernahm). Auch ihn hatte die Moral-Tarantel Rousseau gebissen, auch ihm lag der Gedanke des moralischen Fanatismus auf dem Grunde der Seele, als dessen Vollstrecker sich ein andrer Jünger Rousseau’s fühlte und bekannte, nämlich Robespierre, „de fonder sur la terre l’empire de la sagesse, de la justice et de la vertu“ (Rede vom 7. Juni 1794). Andererseits konnte man es, mit einem solchen Franzosen-Fanatismus im Herzen, nicht unfranzösischer, nicht tiefer, gründlicher, deutscher treiben – wenn das Wort „deutsch“ in diesem Sinne heute noch erlaubt ist – als es Kant getrieben hat : um Raum für s e i n „moralisches Reich“ zu schaffen, sah er sich genöthigt, eine unbeweisbare Welt anzusetzen, ein logisches „Jenseits“,  – dazu eben hatte er seine Kritik der reinen Vernunft nöthig ! Anders ausgedrückt : er h ät t e s ie n ic ht nöt h i g g e h a bt , wenn ihm nicht Eins wichtiger als Alles gewesen wäre, das „moralische Reich“ unangreif bar, lieber noch ungreif bar für die Vernunft zu machen, – er empfand eben die Angreif barkeit einer moralischen Ordnung der Dinge von Seiten der Vernunft zu stark ! Denn Angesichts von Natur und Geschichte, Angesichts der gründlichen Un mor a l it ät von Natur und Geschichte war Kant, wie jeder gute Deutsche von Alters her, Pessimist ; er glaubte an die Moral, nicht weil sie durch Natur und Geschichte | bewiesen wird, sondern trotzdem dass ihr durch Natur und Geschichte beständig widersprochen wird. Man darf sich vielleicht, um dies „trotzdem dass“ zu verstehen, an etwas Verwandtes bei Luther erinnern, bei jenem andern grossen Pessimisten, der es einmal mit der ganzen Lutherischen

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Vorrede

7

Verwegenheit seinen Freunden zu Gemüthe führte : „wenn man durch Vernunft es fassen könnte, wie der Gott gnädig und gerecht sein könne, der so viel Zorn und Bosheit zeigt, wozu brauchte man dann den G l au b e n ?“ Nichts nämlich hat von jeher einen tieferen Eindruck auf die deutsche Seele gemacht, Nichts hat sie mehr „versucht“, als diese gefährlichste aller Schlussfolgerungen, welche jedem rechten Romanen eine Sünde wider den Geist ist : credo q u i a absurdum est : – mit ihr tritt die deutsche Logik zuerst in der Geschichte des christlichen Dogma’s auf ; aber auch heute noch, ein Jahrtausend später, wittern wir Deutschen von heute, späte Deutsche in jedem Betrachte – Etwas von Wahrheit, von Mög l ic h k e it der Wahrheit hinter dem berühmten realdialektischen GrundSatze, mit welchem Hegel seiner Zeit dem deutschen Geiste zum Sieg über Europa verhalf – „der Widerspruch bewegt die Welt, alle Dinge sind sich selbst widersprechend“ – : wir sind eben, sogar bis in die Logik hinein, Pessimisten. 4. Aber nicht die log i s c he n Werthurtheile sind die untersten und gründlichsten, zu denen die Tapferkeit unsers Argwohns hinunterkann : das Vertrauen auf die Vernunft, mit dem die Gültigkeit dieser Urtheile steht | und fällt, ist, als Vertrauen, ein mor a l i s c he s Phänomen … Vielleicht hat der deutsche Pessimismus seinen letzten Schritt noch zu thun ? Vielleicht muss er noch Ein Mal auf eine furchtbare Weise sein Credo und sein Absurdum neben einander stellen ? Und wenn d ie s Buch bis in die Moral hinein, bis über das Vertrauen zur Moral hinweg pessimistisch ist,  – sollte es nicht gerade damit ein deutsches Buch sein ? Denn es stellt in der That einen Widerspruch dar und fürchtet sich nicht davor : in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt – warum doch ? Au s Mor al it ä t ! Oder wie sollen wir’s heissen, was sich in ihm  – in u n s – begiebt ? denn wir würden unsrem Geschmacke nach

8

Vorrede

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bescheidenere Worte vorziehn. Aber es ist kein Zweifel, auch zu uns noch redet ein „du sollst“‚ auch wir noch gehorchen einem strengen Gesetze über uns,  – und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch hörbar macht, die auch wir noch zu leb e n wissen, hier, wenn irgend worin, sind auch wir noch Me n s c he n d e s G e w i s s e n s : dass wir nämlich nicht wieder zurückwollen in Das, was uns als überlebt und morsch gilt, in irgend etwas „Unglaubwürdiges“, heisse es nun Gott, Tugend, Wahrheit, Gerechtigkeit, Nächstenliebe ; dass wir uns keine Lügenbrücken zu alten Idealen gestatten ; dass wir von Grund aus Allem feind sind, was in uns vermitteln und mischen möchte ; feind jeder jetzigen Art Glauben und Christlichkeit ; feind dem Halb- und Halben aller Romantik und Vaterländerei ; feind auch der Artisten-Genüsslichkeit, Artisten-Gewissenlosigkeit, welche uns überreden möchte, da anzubeten, wo wir nicht mehr glauben – denn wir | sind Artisten – ; feind, kurzum, dem ganzen europäischen Fe m i n i n i s mu s (oder Idealismus, wenn man’s lieber hört), der ewig „hinan zieht“ und ewig gerade damit „herunter bringt“ :  – allein als Menschen d ie s e s Gewissens fühlen wir uns noch verwandt mit der deutschen Rechtschaffenheit und Frömmigkeit von Jahrtausenden, wenn auch als deren fragwürdigste und letzte Abkömmlinge, wir Immoralisten, wir Gottlosen von heute, ja sogar, in gewissem Verstande, als deren Erben, als Vollstrecker ihres innersten Willens, eines pessimistischen Willens, wie gesagt, der sich davor nicht fürchtet, sich selbst zu verneinen, weil er mit Lu s t verneint ! In uns vollzieht sich, gesetzt, dass ihr eine Formel wollt, – die S e l b s t au f hebu n g d e r Mor a l . – – 5. – Zuletzt aber : wozu müssten wir Das, was wir sind, was wir wollen und nicht wollen, so laut und mit solchem Eifer sagen ? Sehen wir es kälter, ferner, klüger, höher an, sagen wir es, wie es unter uns gesagt werden darf, so heimlich, dass alle Welt

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es überhört, dass alle Welt u n s überhört ! Vor Allem sagen wir es l a n g s a m  … Diese Vorrede kommt spät, aber nicht zu spät, was liegt im Grunde an fünf, sechs Jahren ? Ein solches Buch, ein solches Problem hat keine Eile ; überdies sind wir Beide Freunde des lento, ich ebensowohl als mein Buch. Man ist nicht umsonst Philologe gewesen, man ist es vielleicht noch, das will sagen, ein Lehrer des lang samen Lesens :  – endlich schreibt man auch langsam. Jetzt gehört es nicht nur zu meinen Gewohnheiten, sondern auch zu meinem | Geschmacke, – einem boshaften Geschmacke vielleicht ? – Nichts mehr zu schreiben, womit nicht jede Art Mensch, die „Eile hat“, zur Verzweiflung gebracht wird. Philologie nämlich ist jene ehrwürdige Kunst, welche von ihrem Verehrer vor Allem Eins heischt, bei Seite gehn, sich Zeit lassen, still werden, langsam werden –, als eine Goldschmiedekunst und -kennerschaft des Wo r t e s , die lauter feine vorsichtige Arbeit abzuthun hat und Nichts erreicht, wenn sie es nicht lento erreicht. Gerade damit aber ist sie heute nöthiger als je, gerade dadurch zieht sie und bezaubert sie uns am stärksten, mitten in einem Zeitalter der „Arbeit“, will sagen : der Hast, der unanständigen und schwitzenden Eilfertigkeit, das mit Allem gleich „fertig werden“ will, auch mit jedem alten und neuen Buche : – sie selbst wird nicht so leicht irgend womit fertig, sie lehrt g ut lesen, das heisst langsam, tief, rück- und vorsichtig, mit Hintergedanken, mit offen gelassenen Thüren, mit zarten Fingern und Augen lesen … Meine geduldigen Freunde, dies Buch wünscht sich nur vollkommene Leser und Philologen : le r nt mich gut lesen ! – R ut a bei Genua, im Herbst des Jahres 1886. |

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1. Nac ht r ä g l ic he Ve r nü n f t i g k e it . – Alle Dinge, die lange leben, werden allmählich so mit Vernunft durchtränkt, dass ihre Abkunft aus der Unvernunft dadurch unwahrscheinlich wird. Klingt nicht fast jede genaue Geschichte einer Entstehung für das Gefühl paradox und frevelhaft ? W id e r s p r ic ht der gute Historiker im Grunde nicht fortwährend ? 2. Vor u r t hei l der G e leh r ten. – Es ist ein richtiges Urtheil der Gelehrten, dass die Menschen aller Zeiten zu w i s s e n glaubten, was gut und böse, lobens- und tadelnswerth sei. Aber es ist ein Vorurtheil der Gelehrten, dass w i r e s jet z t b e s s e r w ü s s t e n , als irgend eine Zeit. 3. A l le s h at s e i ne Z e it . – Als der Mensch allen Dingen ein Geschlecht gab, meinte er nicht zu spielen, sondern eine tiefe Einsicht gewonnen zu haben : – den ungeheuren Umfang dieses Irrthums hat er sich sehr spät und jetzt vielleicht noch nicht ganz eingestanden.  – Ebenso hat der Mensch Allem, was da ist, eine Beziehung zur Moral beigelegt und der Welt eine et h i s c he B e d eut u n g über die Schulter gehängt. Das wird einmal ebenso viel und nicht mehr Werth haben, als es heute schon der Glaube an die Männlichkeit oder Weiblichkeit der Sonne hat. | 4. G e g e n d ie e r t r äu mt e D i s h a r m o n ie d e r S p h ä r e n . – Wir müssen die viele f a l s c he Grossartigkeit wieder aus der Welt schaffen, weil sie gegen die Gerechtigkeit ist, auf die alle

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Dinge vor uns Anspruch haben ! Und dazu thut noth, die Welt nicht disharmonischer sehen zu wollen als sie ist ! 5. Seid dankbar ! – Das grosse Ergebniss der bisherigen Menschheit ist, dass wir nicht mehr beständige Furcht vor wilden Thieren, vor Barbaren, vor Göttern und vor unseren Träumen zu haben brauchen. 6. Der Taschenspieler und sei n Widerspiel. – Das Erstaunliche in der Wissenschaft ist dem Erstaunlichen in der Kunst des Taschenspielers entgegengesetzt. Denn dieser will uns dafür gewinnen, eine sehr einfache Causalität dort zu sehen, wo in Wahrheit eine sehr complicirte Causalität in Thätigkeit ist. Die Wissenschaft dagegen nöthigt uns, den Glauben an einfache Causalitäten gerade dort aufzugeben, wo Alles so leicht begreiflich scheint und wir die Narren des Augenscheins sind. Die „einfachsten“ Dinge sind s e h r com pl ic i r t , – man kann sich nicht genug darüber verwundern ! 7. Um le r n e n d e s R au m g e f ü h l s .  – Haben die wirklichen Dinge oder die eingebildeten Dinge mehr zum menschlichen Glück beigetragen ? Gewiss ist, dass die We it e d e s R au me s zwischen höchstem Glück und tiefstem Unglück erst mit Hülfe der eingebildeten Dinge | hergestellt worden ist. D ie s e Art von Raumgefühl wird folglich, unter der Einwirkung der Wissenschaft, immer verkleinert : so wie wir von ihr gelernt haben und noch lernen, die Erde als klein, ja das Sonnensystem als Punct zu empfi nden. 8. Tr a n s f i g u r at io n . – Die rathlos Leidenden, die verworren Träumenden, die überirdisch Entzückten,  – diess sind die

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d r e i G r a d e , in welche Raffael die Menschen eintheilt. So blicken wir nicht mehr in die Welt – und auch Raffael d ü r f t e es jetzt nicht mehr : er würde eine neue Transfiguration mit Augen sehen. 9. Beg r i f f der Sit t l ic h keit der Sit te. – Im Verhältniss zu der Lebensweise ganzer Jahrtausende der Menschheit leben wir jetzigen Menschen in einer sehr unsittlichen Zeit : die Macht der Sitte ist erstaunlich abgeschwächt und das Gefühl der Sittlichkeit so verfeinert und so in die Höhe getragen, dass es ebenso gut als verflüchtigt bezeichnet werden kann. Desshalb werden uns, den Spätgeborenen, die Grundeinsichten in die Entstehung der Moral schwer, sie bleiben uns, wenn wir sie trotzdem gefunden haben, an der Zunge kleben und wollen nicht heraus : weil sie grob klingen ! Oder weil sie die Sittlichkeit zu verleumden scheinen ! So zum Beispiel gleich der H au pt s at z : Sittlichkeit ist nichts Anderes (also namentlich n ic ht me h r !), als Gehorsam gegen Sitten, welcher Art diese auch sein mögen ; Sitten aber sind die he r k öm m l ic he Art zu handeln und abzuschätzen. In Dingen, wo kein | Herkommen befiehlt, giebt es keine Sittlichkeit ; und je weniger das Leben durch Herkommen bestimmt ist, um so kleiner wird der Kreis der Sittlichkeit. Der freie Mensch ist unsittlich, weil er in Allem von sich und nicht von einem Herkommen abhängen w i l l : in allen ursprünglichen Zuständen der Menschheit bedeutet „böse“ so viel wie „individuell“, „frei“, „willkürlich“, „ungewohnt“, „unvorhergesehen“, „unberechenbar“. Immer nach dem Maassstab solcher Zustände gemessen : wird eine Handlung gethan, n ic ht weil das Herkommen sie befiehlt, sondern aus anderen Motiven (zum Beispiel des individuellen Nutzens wegen), ja selbst aus eben den Motiven, welche das Herkommen ehemals begründet haben, so heisst sie unsittlich und wird so selbst von ihrem Thäter empfunden : denn sie ist nicht aus Gehorsam gegen das Herkommen gethan worden.

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Was ist das Herkommen ? Eine höhere Autorität, welcher man gehorcht, nicht weil sie das uns Nüt z l ic he befiehlt, sondern weil sie b e f ie h lt .  – Wodurch unterscheidet sich diess Gefühl vor dem Herkommen von dem Gefühl der Furcht überhaupt ? Es ist die Furcht vor einem höheren Intellect, der da befiehlt, vor einer unbegreiflichen unbestimmten Macht, vor etwas mehr als Persönlichem,  – es ist A b e r g l au b e in dieser Furcht. – Ursprünglich gehörte die ganze Erziehung und Pflege der Gesundheit, die Ehe, die Heilkunst, der Feldbau, der Krieg, das Reden und Schweigen, der Verkehr unter einander und mit den Göttern in den Bereich der Sittlichkeit : sie verlangte, dass man Vorschriften beobachtete, oh ne a n s ic h als Individuum zu denken. Ursprünglich also war Alles Sitte, und wer sich über sie erheben wollte, musste Gesetzgeber und Medicin|mann und eine Art Halbgott werden : das heisst, er musste S it t e n m a c h e n ,  – ein furchtbares, lebensgefährliches Ding ! – Wer ist der Sittlichste ? E i n m a l Der, welcher das Gesetz am häufigsten erfüllt : also, gleich dem Brahmanen, das Bewusstsein desselben überallhin und in jeden kleinen Zeittheil trägt, sodass er fortwährend erfi nderisch ist in Gelegenheiten, das Gesetz zu erfüllen. S o d a n n Der, der es auch in den schwersten Fällen erfüllt. Der Sittlichste ist Der, welcher am meisten der Sitte o pf e r t : welches aber sind die grössten Opfer ? Nach der Beantwortung dieser Frage entfalten sich mehrere unterschiedliche Moralen ; aber der wichtigste Unterschied bleibt doch jener, welcher die Moralität der h äu f i g s t e n E r f ü l lu n g von der der s c hwe r s t e n E r f ü llu n g trennt. Man täusche sich über das Motiv jener Moral nicht, welche die schwerste Erfüllung der Sitte als Zeichen der Sittlichkeit fordert ! Die Selbstüberwindung wird n ic ht ihrer nützlichen Folgen halber, die sie für das Individuum hat, gefordert, sondern damit die Sitte, das Herkommen herrschend erscheine, trotz allem individuellen Gegengelüst und Vortheil : der Einzelne soll sich opfern, – so heischt es die Sittlichkeit der

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Sitte. – Jene Moralisten dagegen, welche wie die Nachfolger der s ok r at i s c he n Fusstapfen die Moral der Selbstbeherrschung und Enthaltsamkeit dem I nd i v id uu m als seinen eigensten Vor t he i l , als seinen persönlichsten Schlüssel zum Glück an’s Herz legen, m ac he n d ie Au s n a h me – und wenn es uns anders erscheint, so ist es, weil wir unter ihrer Nachwirkung erzogen sind : sie alle gehen eine neue Strasse unter höchlichster Missbilligung aller Vertreter der Sittlichkeit der Sitte, – sie lösen sich aus der | Gemeinde aus, als Unsittliche, und sind, im tiefsten Verstande, böse. Ebenso erschien einem tugendhaften Römer alten Schrotes jeder C h r i s t , welcher „am ersten nach seiner e i g e ne n Seligkeit trachtete“, – als böse. – Überall, wo es eine Gemeinde und folglich eine Sittlichkeit der Sitte giebt, herrscht auch der Gedanke, dass die Strafe für die Verletzung der Sitte vor Allem auf die Gemeinde fällt : jene übernatürliche Strafe, deren Aeusserung und Gränze so schwer zu begreifen ist und mit so abergläubischer Angst ergründet wird. Die Gemeinde kann den Einzelnen anhalten, dass er den nächsten Schaden, den seine That im Gefolge hatte, am Einzelnen oder an der Gemeinde wieder gut mache, sie kann auch eine Art Rache am Einzelnen dafür nehmen, dass durch ihn, als angebliche Nachwirkung seiner That, sich die göttlichen Wolken und Zorneswetter über der Gemeinde gesammelt haben,  – aber sie empfi ndet die Schuld des Einzelnen doch vor Allem als i h r e Schuld und trägt dessen Strafe als i h r e Strafe  – : „die Sitten sind locker geworden, so klagt es in der Seele eines Jeden, wenn solche Thaten möglich sind.“ Jede individuelle Handlung, jede individuelle Denkweise erregt Schauder ; es ist gar nicht auszurechnen, was gerade die seltneren, ausgesuchteren, ursprünglicheren Geister im ganzen Verlauf der Geschichte dadurch gelitten haben müssen, dass sie immer als die bösen und gefährlichen empfunden wurden, ja dass s ie s ic h s e l b e r s o e m pf a nd e n . Unter der Herrschaft der Sittlichkeit der Sitte hat die Originalität jeder Art ein böses

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Gewissen bekommen ; bis diesen Augenblick ist der Himmel der Besten noch dadurch verdüsterter, als er sein müsste. | 10. Gegenbeweg u ng z w i sc hen Si n n der Sit t l ic h keit u nd Si n n der Causa l ität. – In dem Maasse, in welchem der Sinn der Causalität zunimmt, nimmt der Umfang des Reiches der Sittlichkeit ab : denn jedesmal, wenn man die nothwendigen Wirkungen begriffen hat und gesondert von allen Zufällen, allem gelegentlichen Nachher (post hoc) zu denken versteht, hat man eine Unzahl ph a nt a s t i s c he r Cau s a l it ät e n , an welche als Grundlagen von Sitten bisher geglaubt wurde, zerstört  – die wirkliche Welt ist viel kleiner, als die phantastische – und jedesmal ist ein Stück Ängstlichkeit und Zwang aus der Welt verschwunden, jedesmal auch ein Stück Achtung vor der Autorität der Sitte : die Sittlichkeit im Grossen hat eingebüsst. Wer sie dagegen vermehren will, muss zu verhüten wissen, dass die Erfolge co nt r ol i r b a r werden. 11. Vol k smor a l u nd Vol k smed ic i n. – An der Moral, welche in einer Gemeinde herrscht, wird fortwährend und von Jedermann gearbeitet : die Meisten bringen Beispiele über Beispiele für das behauptete Verh ä lt n i s s von Ur sac he u nd Folg e, Schuld und Strafe hinzu, bestätigen es als wohlbegründet und mehren seinen Glauben : Einige machen neue Beobachtungen über Handlungen und Folgen und ziehen Schlüsse und Gesetze daraus : die Wenigsten nehmen hie und da Anstoss und lassen den Glauben an diesen Puncten schwach werden. – Alle aber sind einander gleich in der gänzlich rohen, u nw i s s e n s c h a f t l ic he n Art ihrer Thätigkeit ; ob es sich um Beispiele, Beobachtungen | oder Anstösse handelt, ob um den Beweis, die Bekräftigung, den Ausdruck, die Widerlegung eines Gesetzes, – es ist werthloses Material und werthlose Form, wie

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Material und Form aller Volksmedicin. Volksmedicin und Volksmoral gehören zusammen und sollten nicht mehr so verschieden abgeschätzt werden, wie es immer noch geschieht : beides sind die g e f ä h rl ic h s t e n Scheinwissenschaften. 12. D ie Fol g e a l s Zut h at . – Ehemals glaubte man, der Erfolg einer That sei nicht eine Folge, sondern eine freie Zuthat – nämlich Gottes. Ist eine grössere Verwirrung denkbar ! Man musste sich um die That und um den Erfolg besonders bemühen, mit ganz verschiedenen Mitteln und Praktiken ! 13. Zu r neue n E r z ie hu n g d e s Me n s c he n g e s c h le c ht s . – Helft, ihr Hülfreichen und Wohlgesinnten, doch an dem Einen Werke mit, den Begriff der Strafe, der die ganze Welt überwuchert hat, aus ihr zu entfernen ! Es giebt kein böseres Unkraut ! Nicht nur in die Folgen unserer Handlungsweisen hat man ihn gelegt – und wie schrecklich und vernunftwidrig ist schon diess, Ursache und Wirkung als Ursache und Strafe zu verstehen ! – aber man hat mehr gethan und die ganze reine Zufälligkeit des Geschehens um ihre Unschuld gebracht, mit dieser verruchten Interpretationskunst des Straf-Begriffs. Ja, man hat die Tollheit so weit getrieben, die Existenz selber als Strafe empfi nden zu heissen, – es ist, als ob die Phantasterei von Kerker|meistern und Henkern bisher die Erziehung des Menschengeschlechts geleitet hätte ! 14. B e d eut u n g d e s Wa h n s i n n s i n d e r G e s c h ic ht e d e r Mor a l it ät . – Wenn trotz jenem furchtbaren Druck der „Sittlichkeit der Sitte“, unter dem alle Gemeinwesen der Menschheit lebten, viele Jahrtausende lang vor unserer Zeitrechnung und in derselben im Ganzen und Grossen fort bis auf den heu-

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tigen Tag (wir selber wohnen in der kleinen Welt der Ausnahmen und gleichsam in der bösen Zone) : – wenn, sage ich, trotzdem neue und abweichende Gedanken, Werthschätzungen, Triebe immer wieder herausbrachen‚ so geschah diess unter einer schauderhaften Geleitschaft : fast überall ist es der Wahnsinn, welcher dem neuen Gedanken den Weg bahnt, welcher den Bann eines verehrten Brauches und Aberglaubens bricht. Begreift ihr es, wesshalb es der Wahnsinn sein musste ? Etwas in Stimme und Gebärde so Grausenhaftes und Unberechenbares wie die dämonischen Launen des Wetters und des Meeres und desshalb einer ähnlichen Scheu und Beobachtung Würdiges ? Etwas, das so sichtbar das Zeichen völliger Unfreiwilligkeit trug, wie die Zuckungen und der Schaum des Epileptischen, das den Wahnsinnigen dergestalt als Maske und Schallrohr einer Gottheit zu kennzeichnen schien ? Etwas, das dem Träger eines neuen Gedankens selber Ehrfurcht und Schauder vor sich und nicht mehr Gewissensbisse gab und ihn dazu trieb, der Prophet und Märtyrer desselben zu werden ? – Während es uns heute noch immer wieder nahe gelegt wird, dass dem Genie, anstatt eines Kornes Salz, ein Korn Wahnwurz | beigegeben ist, lag allen früheren Menschen der Gedanke viel näher, dass überall, wo es Wahnsinn giebt, es auch ein Korn Genie und Weisheit gäbe, – etwas „Göttliches“, wie man sich zuflüsterte. Oder vielmehr : man drückte sich kräftig genug aus. „Durch den Wahnsinn sind die grössten Güter über Griechenland gekommen,“ sagte Plato mit der ganzen alten Menschheit. Gehen wir noch einen Schritt weiter : allen jenen überlegenen Menschen, welche es unwiderstehlich dahin zog, das Joch irgend einer Sittlichkeit zu brechen und neue Gesetze zu geben, blieb, we n n s ie n ic ht w i r k l ic h w a h n s i n n i g w a r e n , Nichts übrig, als sich wahnsinnig zu machen oder zu stellen – und zwar gilt diess für die Neuerer auf allen Gebieten, nicht nur auf dem der priesterlichen und politischen Satzung : – selbst der Neuerer

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des poetischen Metrums musste durch den Wahnsinn sich beglaubigen. (Bis in viel mildere Zeiten hinein verblieb daraus den Dichtern eine gewisse Convention des Wahnsinns : auf welche zum Beispiel Solon zurückgriff, als er die Athener zur Wiedereroberung von Salamis aufstachelte.)  – „Wie macht man sich wahnsinnig, wenn man es nicht ist und nicht wagt, es zu scheinen ?“ diesem entsetzlichen Gedankengange haben fast alle bedeutenden Menschen der älteren Civilisation nachgehangen ; eine geheime Lehre von Kunstgriffen und diätetischen Winken pflanzte sich darüber fort, nebst dem Gefühle der Unschuld, ja Heiligkeit eines solchen Nachsinnens und Vorhabens. Die Recepte, um bei den Indianern ein Medicinmann, bei den Christen des Mittelalters ein Heiliger, bei den Grönländern ein Angekok, bei den Brasilianern ein Paje zu werden, sind im Wesentlichen die selben : unsinniges Fasten, fortgesetzte ge|schlechtliche Enthaltung, in die Wüste gehen oder auf einen Berg oder eine Säule steigen, oder „sich auf eine bejahrte Weide setzen, die in einen See hinaussieht“ und schlechterdings an Nichts denken, als Das, was eine Verzükkung und geistige Unordnung mit sich bringen kann. Wer wagt es, einen Blick in die Wildniss bitterster und überflüssigster Seelennöthe zu thun, in welchen wahrscheinlich gerade die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten geschmachtet haben ! Jene Seufzer der Einsamen und Verstörten zu hören : „Ach, so gebt doch Wahnsinn, ihr Himmlischen ! Wahnsinn, dass ich endlich an mich selber glaube ! Gebt Delirien und Zuckungen, plötzliche Lichter und Finsternisse, schreckt mich mit Frost und Gluth, wie sie kein Sterblicher noch empfand, mit Getöse und umgehenden Gestalten, lasst mich heulen und winseln und wie ein Thier kriechen : nur dass ich bei mir selber Glauben fi nde ! Der Zweifel frisst mich auf, ich habe das Gesetz getödtet, das Gesetz ängstigt mich wie ein Leichnam einen Lebendigen ; wenn ich nicht me h r bin als das Gesetz, so bin ich der Verworfenste von Allen. Der neue Geist, der in mir ist,

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woher ist er, wenn er nicht von euch ist ? Beweist es mir doch, dass ich euer bin ; der Wahnsinn allein beweist es mir.“ Und nur zu oft erreichte diese Inbrunst ihr Ziel zu gut : in jener Zeit, in welcher das Christenthum am reichsten seine Fruchtbarkeit an Heiligen und Wüsten-Einsiedlern bewies und sich dadurch selber zu beweisen vermeinte, gab es in Jerusalem grosse Irrenhäuser für verunglückte Heilige, für jene, welche ihr letztes Korn Salz daran gegeben hatten. | 15. Die ä ltesten Trost m it tel. – Erste Stufe : der Mensch sieht in jedem Übelbefi nden und Missgeschick Etwas, wofür er irgend jemand Anderes leiden lassen muss,  – dabei wird er sich seiner noch vorhandenen Macht bewusst, und diess tröstet ihn. Zweite Stufe : der Mensch sieht in jedem Übelbefi nden und Missgeschick eine Strafe, das heisst die Sühnung der Schuld und das Mittel, sich vom bösartigen Zauber eines wirklichen oder vermeintlichen Unrechtes lo s z u m ac he n . Wenn er dieses Vor t he i l s ansichtig wird, welchen das Unglück mit sich bringt, so glaubt er einen Anderen nicht mehr dafür leiden lassen zu müssen, – er sagt sich von dieser Art Befriedigung los, weil er nun eine andere hat. 16. E r s t e r S at z d e r C i v i l i s at io n . – Bei rohen Völkern giebt es eine Gattung von Sitten, deren Absicht die Sitte überhaupt zu sein scheint : peinliche und im Grunde überflüssige Bestimmungen (wie zum Beispiel die unter den Kamtschadalen, niemals den Schnee von den Schuhen mit dem Messer abzuschaben, niemals eine Kohle mit dem Messer zu spiessen, niemals ein Eisen in’s Feuer zu legen – und der Tod triff t Den, welcher in solchen Stücken zuwiderhandelt !), die aber die fortwährende Nähe der Sitte, den unausgesetzten Zwang, Sitte zu üben, fortwährend im Bewusstsein erhalten : zur Bekräf-

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tigung des grossen Satzes, mit dem die Civilisation beginnt : jede Sitte ist besser, als keine Sitte. | 17. D ie g ut e u nd d ie b ö s e Nat u r. – Erst haben die Menschen sich in die Natur hineingedichtet : sie sahen überall sich und Ihresgleichen, nämlich ihre böse und launenhafte Gesinnung, gleichsam versteckt unter Wolken, Gewittern, Raubthieren, Bäumen und Kräutern : damals erfanden sie die „böse Natur“. Dann kam einmal eine Zeit, da sie sich wieder aus der Natur hinausdichteten‚ die Zeit Rousseau’s : man war einander so satt, dass man durchaus einen Weltwinkel haben wollte, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual : man erfand die „gute Natur“. 18. D ie Mor a l de s f r eiw i l l i g en L eiden s. – Welcher Genuss ist für Menschen im Kriegszustande jener kleinen, stets gefährdeten Gemeinde, wo die strengste Sittlichkeit waltet, der höchste ? Also für kraftvolle, rachsüchtige, feindselige, tückische, argwöhnische, zum Furchtbarsten bereite, und durch Entbehrung und Sittlichkeit gehärtete Seelen ? Der Genuss der Gr au s a m k e it : so wie es auch zur Tu g e nd einer solchen Seele in diesen Zuständen gerechnet wird, in der Grausamkeit erfi nderisch und unersättlich zu sein. An dem Thun des Grausamen erquickt sich die Gemeinde und wirft einmal die Düsterkeit der beständigen Angst und Vorsicht von sich. Die Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der Menschheit. Folglich denkt man sich auch die G öt t e r erquickt und festlich gestimmt, wenn man ihnen den Anblick der Grausamkeit anbietet,  – und so schleicht sich die Vorstellung in die Welt, dass das f r e i w i l l i g e L e id e n , die selbsterwählte Marter einen guten Sinn und Werth habe. Allmählich formt | die Sitte in der Gemeinde eine Praxis gemäss dieser Vorstellung : man wird bei allem ausschweifenden Wohlbefi nden von nun

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an misstrauischer und bei allen schweren schmerzhaften Zuständen zuversichtlicher ; man sagt sich : es mögen wohl die Götter ungnädig wegen des Glücks und gnädig wegen unseres Leidens auf uns sehen, – nicht etwa mitleidig ! Denn das Mitleiden gilt als verächtlich und einer starken, furchtbaren Seele unwürdig ; – aber gnädig, weil sie dadurch ergötzt und guter Dinge werden : denn der Grausame geniesst den höchsten Kitzel des Machtgefühls. So kommt in den Begriff des „sittlichsten Menschen“ der Gemeinde die Tugend des häufigen Leidens, der Entbehrung, der harten Lebensweise, der grausamen Kasteiung, – n ic ht , um es wieder und wieder zu sagen, als Mittel der Zucht, der Selbstbeherrschung, des Verlangens nach individuellem Glück, – sondern als eine Tugend, welche der Gemeinde bei den bösen Göttern einen guten Geruch macht und wie ein beständiges Versöhnungsopfer auf dem Altare zu ihnen empordampft. Alle jene geistigen Führer der Völker, welche in dem trägen fruchtbaren Schlamm ihrer Sitten Etwas zu bewegen vermochten, haben ausser dem Wahnsinn auch die freiwillige Marter nöthig gehabt, um Glauben zu fi nden – und zumeist und zuerst, wie immer, den Glauben an sich selber ! Je mehr gerade ihr Geist auf neuen Bahnen gieng und folglich von Gewissensbissen und Ängsten gequält wurde, um so grausamer wütheten sie gegen das eigene Fleisch, das eigene Gelüste und die eigene Gesundheit, – wie um der Gottheit einen Ersatz an Lust zu bieten, wenn sie vielleicht um der vernachlässigten und bekämpften Gebräuche und der neuen Ziele willen | erbittert sein sollte. Glaube man nicht zu schnell, dass wir jetzt von einer solchen Logik des Gefühls uns völlig befreit hätten ! Die heldenhaftesten Seelen mögen sich darüber mit sich befragen. Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden : nicht nur das Vorwärts-Schreiten, nein ! vor Allem das Schreiten, die Bewe-

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gung, die Veränderung hat ihre unzähligen Märtyrer nöthig gehabt, durch die langen pfadsuchenden und grundlegenden Jahrtausende hindurch, an welche man freilich nicht denkt, wenn man, wie gewohnt, von „Weltgeschichte“, von diesem lächerlich kleinen Ausschnitt des menschlichen Daseins redet ; und selbst in dieser sogenannten Weltgeschichte, welche im Grunde ein Lärm um die letzten Neuigkeiten ist, giebt es kein eigentlich wichtigeres Thema, als die uralte Tragödie von den Märtyrern, d ie d e n S u m p f b ewe g e n wol lt e n . Nichts ist theurer erkauft, als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, welches jetzt unseren Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der „Sittlichkeit der Sitte“ zu empfi nden, welche der „Weltgeschichte“ vorausliegen, als die w i rk l ic he u nd entsc heidende Hauptgesc h ic hte, welc he den Cha ra k ter der Men sc h heit festgestel lt hat : wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefi nden als Gefahr, die Wissbegier als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, | die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere in Geltung war ! – Ihr meint, es habe sich Alles diess geändert, und die Menschheit müsse somit ihren Charakter vertauscht haben ? Oh, ihr Menschenkenner, lernt euch besser kennen ! 19. Sit t l ic h k e it u nd Ve r d u m mu n g. – Die Sitte repräsentirt die Erfahrungen früherer Menschen über das vermeintlich Nützliche und Schädliche, – aber d a s G e f ü h l f ü r d ie Sit t e (Sittlichkeit) bezieht sich nicht auf jene Erfahrungen als solche, sondern auf das Alter, die Heiligkeit, die Indiscutabilität

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der Sitte. Und damit wirkt diess Gefühl dem entgegen, dass man neue Erfahrungen macht und die Sitten corrigirt : das heisst, die Sittlichkeit wirkt der Entstehung neuer und besserer Sitten entgegen : sie verdummt. 20. Freithäter und Freiden ker. – Die Freithäter sind im Nachtheil gegen die Freidenker, weil die Menschen sichtbarer an den Folgen von Thaten, als von Gedanken leiden. Bedenkt man aber, dass diese wie jene ihre Befriedigung suchen und dass den Freidenkern schon ein Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen diese Befriedigung giebt, so ist in Ansehung der Motive Alles eins : und in Ansehung der Folgen wird der Ausschlag sogar gegen den Freidenker sein, vorausgesetzt, dass man nicht nach der nächsten und gröbsten Sichtbarkeit – das heisst : nicht wie alle Welt urtheilt. Man hat viel von der Verunglimpfung wieder | zurückzunehmen, mit der die Menschen alle Jene bedacht haben, welche durch die T h at den Bann einer Sitte durchbrachen‚ – im Allgemeinen heissen sie Verbrecher. Jeder, der das bestehende Sittengesetz umwarf, hat bisher zuerst immer als s c h le c ht e r Me n s c h gegolten : aber wenn man, wie es vorkam‚ hinterher es nicht wieder aufzurichten vermochte und sich damit zufrieden gab, so veränderte sich das Prädicat allmählich ; – die Geschichte handelt fast nur von diesen s c h lec ht e n Me n s c he n , welche später g ut g e s p r o c he n worden sind ! 21. „Er f ü l lu n g de s G e set z e s.“ – Im Falle, dass die Befolgung einer moralischen Vorschrift doch ein anderes Resultat ergiebt, als versprochen und erwartet wird, und den Sitt lichen nicht das verheissene Glück, sondern wider Erwarten Unglück und Elend triff t, so bleibt immer die Ausflucht des Gewissenhaften und Ängstlichen übrig : „es ist Etwas in der Au s f ü h -

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r u n g versehen worden.“ Im allerschlimmsten Falle wird eine tief leidende und zerdrückte Menschheit sogar decretiren „es ist unmöglich, die Vorschrift gut auszuführen, wir sind durch und durch schwach und sündhaft und der Moralität im innersten Grunde nicht fähig, folglich haben wir auch keinen Anspruch auf Glück und Gelingen. Die moralischen Vorschriften und Verheissungen sind für bessere Wesen, als wir sind, gegeben.“ 22. We r k e u nd G l au b e. – Immer noch wird durch die protestantischen Lehrer jener Grundirrthum fortgepflanzt : dass es nur auf den Glauben ankomme und dass aus dem Glauben die Werke nothwendig folgen müssen. | Diess ist schlechterdings nicht wahr, aber klingt so verführerisch, dass es schon andere Intelligenzen, als die Luther’s (nämlich die des Sokrates und Plato) bethört hat : obwohl der Augenschein aller Erfahrungen aller Tage dagegen spricht. Das zuversichtlichste Wissen oder Glauben kann nicht die Kraft zur That, noch die Gewandtheit zur That geben, es kann nicht die Übung jenes feinen, vieltheiligen Mechanismus ersetzen, welche vorhergegangen sein muss, damit irgend Etwas aus einer Vorstellung sich in Action verwandeln könne. Vor Allem und zuerst die Werke ! Das heisst Übung, Übung, Übung ! Der dazu gehörige „Glaube“ wird sich schon einstellen, – dessen seid versichert ! 23. Wor i n w i r a m f e i n s t e n s i nd . – Dadurch, dass man sich viele Tausend Jahre lang die S ac he n (Natur, Werkzeuge, Eigenthum jeder Art) ebenfalls belebt und beseelt dachte, mit der Kraft zu schaden und sich den menschlichen Absichten zu entziehen, ist das Gefühl der Ohnmacht unter den Menschen viel grösser und viel häufiger gewesen, als es hätte sein müssen : man hatte ja nöthig, sich der Sachen ebenso zu versichern, wie der Menschen und Thiere, durch Gewalt, Zwang,

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Schmeichelei, Verträge, Opfer, – und hier ist der Ursprung der meisten abergläubischen Gebräuche, das heisst eines erheblichen, v ie l le ic ht ü b e r w ie g e nd e n und trotzdem vergeudeten und unnützen Bestandtheils aller von Menschen bisher geübten Thätigkeit !  – Aber weil das Gefühl der Ohnmacht und der Furcht so stark und so lange fast fortwährend in Reizung war, hat sich das G e f ü h l d e r M ac ht in solcher Fe i n he it entwickelt, | dass es jetzt hierin der Mensch mit der delicatesten Goldwage aufnehmen kann. Es ist sein stärkster Hang geworden ; die Mittel, welche man entdeckte, sich dieses Gefühl zu schaffen, sind beinahe die Geschichte der Cultur. 24. Der Bewei s ei ner Vorsc h r i f t. – Im Allgemeinen wird die Güte oder Schlechtigkeit einer Vorschrift, zum Beispiel der, Brod zu backen, so bewiesen, dass das in ihr versprochene Resultat sich ergiebt oder nicht ergiebt, vorausgesetzt, dass sie genau ausgeführt wird. Anders steht es jetzt mit den moralischen Vorschriften : denn hier sind gerade die Resultate nicht zu übersehen, oder deutbar und unbestimmt. Diese Vorschriften ruhen auf Hypothesen von dem allergeringsten wissenschaftlichen Werthe, deren Beweis und deren Widerlegung aus den Resultaten im Grunde gleich unmöglich ist : – aber einstmals, bei der ursprünglichen Rohheit aller Wissenschaft und den geringen Ansprüchen, die man machte, um ein Ding für e r w ie s e n zu nehmen, – einstmals wurde die Güte oder Schlechtigkeit einer Vorschrift der Sitte ebenso festgestellt wie jetzt die jeder anderen Vorschrift : durch Hinweisung auf den Erfolg. Wenn bei den Eingeborenen in Russisch-Amerika die Vorschrift gilt : du sollst keinen Thierknochen in’s Feuer werfen oder den Hunden geben, – so wird sie so bewiesen : „thue es und du wirst kein Glück auf der Jagd haben.“ Nun aber hat man in irgend einem Sinne fast immer „kein Glück auf der Jagd“ ; es ist nicht leicht möglich, die Güte der Vor-

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schrift auf diesem Wege zu w id e rle g e n , namentlich wenn eine Gemeinde und nicht ein Einzelner als Träger der Strafe gilt ; vielmehr | wird immer ein Umstand eintreten, welcher die Vorschrift zu beweisen scheint. 25. Sit te u nd Sc hön heit. – Zu Gunsten der Sitte sei nicht verschwiegen, dass bei Jedem, der sich ihr völlig und von ganzem Herzen und von Anbeginn an unterwirft, die Angriffs- und Vertheidigungsorgane – die körperlichen und geistigen – verkümmern : das heisst, er wird zunehmend schöner ! Denn die Übung jener Organe und der ihnen entsprechenden Gesinnung ist es, welche hässlich erhält und hässlicher macht. Der alte Pavian ist darum hässlicher, als der junge, und der weibliche junge Pavian ist dem Menschen am ähnlichsten : also am schönsten. – Hiernach mache man einen Schluss auf den Ursprung der Schönheit der Weiber ! 26. D ie T h iere u nd d ie Mor a l. – Die Praktiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft gefordert werden : das sorgfältige Vermeiden des Lächerlichen, des Auffälligen, des Anmaassenden, das Zurückstellen seiner Tugenden sowohl, wie seiner heftigeren Begehrungen, das Sich-gleich-geben, Sich-einordnen, Sich-verringern, – diess Alles als die gesellschaftliche Moral ist im Groben überall bis in die tiefste Thierwelt hinab zu fi nden, – und erst in dieser Tiefe sehen wir die Hinterabsicht aller dieser liebenswürdigen Vorkehrungen : man will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute begünstigt sein. Desshalb lernen die Thiere sich beherrschen und sich in der Weise verstellen, dass manche zum Beispiel ihre Farben der Farbe der Umgebung an|passen (vermöge der sogenannten „chromatischen Function“), dass sie sich todt stellen oder die Formen und Farben eines anderen Thieres oder

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von Sand, Blättern, Flechten, Schwämmen annehmen (Das, was die englischen Forscher mit mimicry bezeichnen). So verbirgt sich der Einzelne unter der Allgemeinschaft des Begriffes „Mensch“ oder unter der Gesellschaft, oder passt sich an Fürsten, Stände, Parteien, Meinungen der Zeit oder der Umgebung an : und zu allen den feinen Arten, uns glücklich, dankbar, mächtig, verliebt zu stellen, wird man leicht das thierische Gleichniss fi nden. Auch jenen Sinn für Wahrheit, der im Grunde der Sinn für Sicherheit ist, hat der Mensch mit dem Thiere gemeinsam : man will sich nicht täuschen lassen, sich nicht durch sich selber irre führen lassen, man hört dem Zureden der eigenen Leidenschaften misstrauisch zu, man bezwingt sich und bleibt gegen sich auf der Lauer ; diess Alles versteht das Thier gleich dem Menschen, auch bei ihm wächst die Selbstbeherrschung aus dem Sinn für das Wirkliche (aus der Klugheit) heraus. Ebenfalls beobachtet es die Wirkungen, die es auf die Vorstellung anderer Thiere ausübt, es lernt von dort aus auf sich zurückblicken, sich „objectiv“ nehmen, es hat seinen Grad von Selbsterkenntniss. Das Thier beurtheilt die Bewegungen seiner Gegner und Freunde, es lernt ihre Eigenthümlichkeiten auswendig, es richtet sich auf diese ein : gegen Einzelne einer bestimmten Gattung giebt es ein für allemal den Kampf auf und ebenso erräth es in der Annäherung mancher Arten von Thieren die Absicht des Friedens und des Vertrags. Die Anfänge der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mässigung, Tapferkeit,  – kurz Alles, was wir mit dem Namen der s ok r a|t i s c he n Tu g e nd e n bezeichnen, ist t h ie r h a f t : eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen. Erwägen wir nun, dass auch der höchste Mensch sich eben nur in der A r t seiner Nahrung und in dem Begriffe dessen, was ihm Alles feindlich ist, erhoben und verfeinert hat, so wird es nicht unerlaubt sein, das ganze moralische Phänomen als thierhaft zu bezeichnen.

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27. Der Wer t h i m Glauben a n über men sc h l ic he L eidensc ha f ten. – Die Institution der Ehe hält hartnäckig den Glauben aufrecht, dass die Liebe, obschon eine Leidenschaft, doch als solche der Dauer fähig sei, ja dass die dauerhafte lebenslängliche Liebe als Regel aufgestellt werden könne. Durch diese Zähigkeit eines edlen Glaubens, trotzdem dass derselbe sehr oft und fast in der Regel widerlegt wird und somit eine pia fraus ist, hat sie der Liebe einen höheren Adel gegeben. Alle Institutionen, welche einer Leidenschaft G l au b e n a n i h r e D aue r und Verantwortlichkeit der Dauer zugestehen, wider das Wesen der Leidenschaft, haben ihr einen neuen Rang gegeben : und Der, welcher von einer solchen Leidenschaft nunmehr befallen wird, glaubt sich nicht, wie früher, dadurch erniedrigt oder gefährdet, sondern vor sich und seines Gleichen gehoben. Man denke an Institutionen und Sitten, welche aus der feurigen Hingebung des Augenblicks die ewige Treue geschaffen haben, aus dem Gelüst des Zornes die ewige Rache, aus Verzweiflung die ewige Trauer, aus dem plötzlichen und einmaligen Worte die ewige Verbindlichkeit. Jedesmal ist sehr viel Heuchelei und | Lüge durch eine solche Umschaff ung in die Welt gekommen : jedesmal auch, und um diesen Preis, ein neuer ü b e r me n s c h l ic he r, den Menschen hebender Begriff. 28. Die St i m mu ng a ls A rg u ment. – Was ist die Ursache freudiger Entschlossenheit zur That ? – Diese Frage hat die Menschen viel beschäftigt. Die älteste und immer noch geläufige Antwort ist : Gott ist die Ursache, er giebt uns dadurch zu verstehen, dass er unserem Willen zustimmt. Wenn man ehemals die Orakel über ein Vorhaben befragte, wollte man von ihnen jene freudige Entschlossenheit heimbringen ; und Jeder beantwortete einen Zweifel, wenn ihm mehrere mögliche Handlungen vor der Seele standen, so : „ich werde Das thun,

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wobei jenes Gefühl sich einstellt.“ Man entschied sich also nicht für das Vernünftigste, sondern für ein Vorhaben, bei dessen Bilde die Seele muthig und hoff nungsvoll wurde. Die gute Stimmung wurde als Argument in die Wagschale gelegt und überwog die Vernünftigkeit : desshalb, weil die Stimmung abergläubisch ausgelegt wurde, als Wirkung eines Gottes, der Gelingen verheisst und durch sie seine Vernunft als die höchste Vernünftigkeit reden lässt. Nun erwäge man die Folgen eines solchen Vorurtheils‚ wenn kluge und machtdurstige Männer sich seiner bedienten  – und bedienen ! „Stimmung machen !“  – damit kann man alle Gründe ersetzen und alle Gegengründe besiegen ! 29. Die Sc hauspieler der Tugend u nd der Sü nde. – Unter den Männern des Alterthums‚ welche durch | ihre Tugend berühmt wurden, gab es, wie es scheint, eine Un- und Überzahl von solchen, die vor s ic h s e l b er s c h au s p ie ler t e n : namentlich werden die Griechen, als eingefleischte Schauspieler, diess eben ganz unwillkürlich gethan und für gut befunden haben. Dazu war Jeder mit seiner Tugend im Wet t s t r e it mit der Tugend eines Andern oder aller Anderen : wie sollte man nicht alle Künste aufgewendet haben, um seine Tugend zur Schau zu bringen, vor Allem vor sich selber, schon um der Übung willen ! Was nützte eine Tugend, die man nicht zeigen konnte oder die sich nicht zu zeigen verstand ! – Diesen Schauspielern der Tugend that das Christenthum Einhalt : dafür erfand es das widerliche Prunken und Paradiren mit der Sünde, es brachte die e rlog e ne Sündhaftigkeit in die Welt (bis zum heutigen Tage gilt sie als „guter Ton“ unter guten Christen). 30. Die verfei ner te Grausam keit a ls Tugend. – Hier ist eine Moralität, die ganz auf dem Tr ieb e n ac h Au s z e ic h nu n g beruht, – denkt nicht zu gut von ihr ! Was ist denn das eigent-

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lich für ein Trieb und welches ist sein Hintergedanke ? Man will machen, dass unser Anblick dem Anderen we he t hue und seinen Neid, das Gefühl der Ohnmacht und seines Herabsinkens wecke ; man will ihm die Bitterkeit seines Fatums zu kosten geben, indem man auf seine Zunge einen Tropfen u n s e r e s Honigs träufelt und ihm scharf und schadenfroh bei dieser vermeintlichen Wohlthat in’s Auge sieht. Dieser ist demüthig geworden und vollkommen jetzt in seiner Demuth‚ – suchet nach Denen, welchen er damit seit langer Zeit eine Tortur hat machen wollen ! | ihr werdet sie schon fi nden ! Jener zeigt Erbarmen gegen die Thiere und wird desshalb bewundert, – aber es giebt gewisse Menschen, an welchen er eben damit seine Grausamkeit hat auslassen wollen. Dort steht ein grosser Künstler : die vorempfundene Wollust am Neide bezwungener Nebenbuhler hat seine Kraft nicht schlafen lassen, bis dass er gross geworden ist, – wie viele bittere Augenblicke anderer Seelen hat er sich für das Grosswerden zahlen lassen ! Die Keuschheit der Nonne : mit welchen strafenden Augen sieht sie in das Gesicht anderslebender Frauen ! wie viel Lust der Rache ist in diesen Augen ! – Das Thema ist kurz, die Variationen darauf könnten zahllos sein, aber nicht leicht langweilig, – denn es ist immer noch eine gar zu paradoxe und fast wehethuende Neuigkeit, dass die Moralität der Auszeichnung im letzten Grunde die Lust an verfeinerter Grausamkeit ist. Im letzten Grunde – das soll hier heissen : jedesmal in der ersten Generation. Denn wenn die Gewohnheit irgend eines auszeichnenden Thuns sich ve r e r bt , wird doch der Hintergedanke nicht mit vererbt (nur Gefühle, aber keine Gedanken erben sich fort) : und vorausgesetzt, dass er nicht durch die Erziehung wieder dahintergeschoben wird, giebt es in der zweiten Generation schon keine Lust der Grausamkeit mehr dabei : sondern Lust allein an der Gewohnheit als solcher. D ie s e Lust aber ist die erste Stufe des „Guten“.

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31. Der Stol z au f den G ei st. – Der St ol z des Menschen, der sich gegen die Lehre der Abstammung von Thieren sträubt und zwischen Natur und Mensch die grosse Kluft legt,  – dieser Stolz hat seinen Grund | in einem Vor u r t he i l über Das, was Geist ist : und dieses Vorurtheil ist verhältnissmässig j u n g. In der grossen Vorgeschichte der Menschheit setzte man Geist überall voraus und dachte nicht daran, ihn als Vorrecht des Menschen zu ehren. Weil man im Gegentheil das Geistige (nebst allen Trieben, Bosheiten, Neigungen) zum Gemeingut und folglich gemein gemacht hatte, so schämte man sich nicht, von Thieren oder Bäumen abzustammen (die vor ne h me n Geschlechter glaubten sich durch solche Fabeln geehrt) und sah in dem Geiste Das, was uns mit der Natur verbindet, nicht was uns von ihr abscheidet. So erzog man sich in der B e s c he id e n he it , – und ebenfalls in Folge eines Vor u r t he i l s . 32. Der Hemmschuh. – Moralisch zu leiden und dann zu hören, dieser Art Leiden liege ein I r r t hu m zu Grunde, diess empört. Es giebt ja einen so einzigen Trost, durch sein Leiden eine „tiefere Welt der Wahrheit“ zu bejahen, als alle sonstige Welt ist, und man will viel l ieb e r leiden und sich dabei über die Wirklichkeit e rh a b e n fühlen (durch das Bewusstsein, jener „tieferen Welt der Wahrheit“ damit nahe zu kommen) als ohne Leid und dann ohne diess Gefühl des Erhabenen sein. Somit ist es der Stolz und die gewohnte Art, ihn zu befriedigen, welche sich dem neuen Ve r s t ä nd n i s s der Moral entgegenstemmen. Welche Kraft wird man also anzuwenden haben, um diesen Hemmschuh zu beseitigen ? Mehr Stolz ? Einen neuen Stolz ? 33. D ie Ver ac ht u n g der Ur sac hen , der Folg en u nd der Wi rk l ic h keit. – Jene bösen Zufälle, welche | eine Gemeinde

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treffen, plötzliche Wetter oder Unfruchtbarkeiten oder Seuchen, leiten alle Mitglieder auf den Argwohn, dass Verstösse gegen die Sitte begangen sind oder dass neue Gebräuche erfunden werden müssen, um eine neue dämonische Gewalt und Laune zu beschwichtigen. Diese Art Argwohn und Nachdenken geht somit gerade der Ergründung der wahren natürlichen Ursachen aus dem Wege, sie nimmt die dämonische Ursache als die Voraussetzung. Hier ist die eine Quelle der erblichen Verkehrtheit des menschlichen Intellects : und die andere Quelle entspringt daneben, indem man ebenso grundsätzlich den wahren natürlichen Fol g e n einer Handlung ein viel geringeres Augenmerk schenkte, als den übernatürlichen (den sogenannten Strafen und Gnaden der Gottheit). Es sind zum Beispiel bestimmte Bäder für bestimmte Zeiten vorgeschrieben : man badet, nicht um rein zu werden, sondern weil es vorgeschrieben ist. Man lernt nicht die wirklichen Folgen der Unreinlichkeit fl iehen, sondern das vermeintliche Missfallen der Götter an der Versäumniss eines Bades. Unter dem Drucke abergläubischer Angst argwöhnt man, es müsse sehr viel mehr mit diesem Abwaschen der Unreinlichkeit auf sich haben, man legt zweite und dritte Bedeutungen hinein, man verdirbt sich den Sinn und die Lust am Wirklichen und hält diess zuletzt, nur i n s of e r n e s S y m b ol s e i n k a n n , noch für werthvoll. So verachtet der Mensch im Banne der Sittlichkeit der Sitte erstens die Ursachen, zweitens die Folgen, drittens die Wirklichkeit, und spinnt alle seine höheren Empfi ndungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit, des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe) a n e i ne e i n g eb i ld et e We lt a n : die sogenannte höhere Welt. | Und noch jetzt sehen wir die Folge : wo das Gefühl eines Menschen sich e r hebt , da ist irgendwie jene eingebildete Welt im Spiel. Es ist traurig : aber einstweilen müssen dem wissenschaftlichen Menschen a l le h ö h e r e n G e f ü h l e verdächtig sein, so sehr sind sie mit Wahn und Unsinn verquickt. Nicht dass sie es an sich oder für

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immer sein müssten : aber gewiss wird von allen allmählichen R e i n i g u n g e n , welche der Menschheit bevorstehen, die Reinigung der höheren Gefühle eine der allmählichsten sein. 34. Moralische Gef üh le und moralische Beg rif fe. – Ersichtlich werden moralische Gefühle so übertragen, dass die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte Handlungen wahrnehmen und dass sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen n a c h m ac he n ; im späteren Leben, wo sie sich voll von diesen angelernten und wohlgeübten Affecten fi nden, halten sie ein nachträgliches Warum, eine Art Begründung, dass jene Neigungen und Abneigungen berechtigt sind, für eine Sache des Anstandes. Diese „Begründungen“ aber haben weder mit der Herkunft, noch dem Grade des Gefühls bei ihnen Etwas zu thun : man fi ndet sich eben nur mit der Regel ab, dass man als vernünftiges Wesen Gründe für sein Für und Wider haben müsse, und zwar angebbare und annehmbare Gründe. Insofern ist die Geschichte der moralischen Gefühle eine ganz andere, als die Geschichte der moralischen Begriffe. Erstere sind mächtig vor der Handlung, letztere namentlich n ac h der Handlung, angesichts der Nöthigung, sich über sie auszusprechen. | 35. Gef ü h le u nd deren A bk u n f t von Ur t hei len.  – „Vertraue deinem Gefühle !“ – Aber Gefühle sind nichts Letztes, Ursprüngliches, hinter den Gefühlen stehen Urtheile und Werthschätzungen, welche in der Form von Gefühlen (Neigungen, Abneigungen) uns vererbt sind. Die Inspiration, die aus dem Gefühle stammt, ist das Enkelkind eines Urtheils – und oft eines falschen ! – und jedenfalls nicht deines eigenen ! Seinem Gefühle vertrauen – das heisst seinem Grossvater und seiner Grossmutter und deren Grosseltern mehr gehorchen

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als den Göttern, die in u n s sind : unserer Vernunft und unserer Erfahrung. 36. E i n e N a r r h e i t d e r P i e t ä t m i t H i n t e r g e d a n k e n .  – Wie ! die Erfi nder der uralten Culturen, die ältesten Verfertiger der Werkzeuge und Messschnüre, der Wagen und Schiffe und Häuser, die ersten Beobachter der himmlischen Gesetzmässigkeit und der Regeln des Einmaleins, – sie seien etwas unvergleichlich Anderes und Höheres, als die Erfi nder und Beobachter unserer Zeiten ? Die ersten Schritte hätten einen Werth, dem alle unsere Reisen und Weltumsegelungen im Reiche der Entdeckungen nicht gleichkämen ? So klingt das Vorurtheil, so argumentirt man für die Geringschätzung des gegenwärtigen Geistes. Und doch liegt auf der Hand, dass der Zufall ehemals der grösste aller Entdecker und Beobachter und der wohlwollende Einbläser jener erfi nderischen Alten war, und dass bei der unbedeutendsten Erfi ndung, die jetzt gemacht wird, mehr Geist, Zucht und wissenschaftliche Phantasie verbraucht wird, als früher in ganzen Zeitläuften überhaupt vorhanden war. | 37. Fa l sc he Sc h lü s se au s der Nüt z l ic h k eit. – Wenn man die höchste Nützlichkeit einer Sache bewiesen hat, so ist damit auch noch kein Schritt zur Erklärung ihres Ursprungs gethan : das heisst, man kann mit der Nützlichkeit niemals die Nothwendigkeit der Existenz verständlich machen. Aber gerade das umgekehrte Urtheil hat bisher geherrscht – und bis in die Gebiete der strengsten Wissenschaft hinein. Hat man nicht selbst in der Astronomie die (angebliche) Nützlichkeit in der Anordnung der Satelliten (das durch die grössere Entfernung von der Sonne abgeschwächte Licht anderweitig zu ersetzen, damit es den Bewohnern der Gestirne nicht an Licht mangele) für den Endzweck ihrer Anordnung und für die Erklärung ihrer Entstehung ausgegeben ? Wobei man sich

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der Schlüsse des Columbus erinnern wird : die Erde ist für den Menschen gemacht, also, wenn es Länder giebt, müssen sie bewohnt sein. „Ist es wahrscheinlich, dass die Sonne auf Nichts scheine und dass die nächtlichen Wachen der Sterne an pfadlose Meere und menschenleere Länder verschwendet werden ?“ 38. D ie Tr ieb e du r c h d ie mor a l i s c he n Ur t he i le u m g e s t a lt e t .  – Der selbe Trieb entwickelt sich zum peinlichen Gefühl der Fe i g he it , unter dem Eindruck des Tadels, den die Sitte auf diesen Trieb gelegt hat : oder zum angenehmen Gefühl der D e mut h , falls eine Sitte, wie die christliche, ihn sich an’s Herz gelegt und g ut geheissen hat. Das heisst : es hängt sich ihm entweder ein gutes oder ein böses Gewissen an ! An sich hat er, w ie je d e r Tr ieb, weder diess noch überhaupt | einen moralischen Charakter und Namen, noch selbst eine bestimmte begleitende Empfi ndung der Lust oder Unlust : er erwirbt diess Alles erst, als seine zweite Natur, wenn er in Relation zu schon auf gut und böse getauften Trieben tritt, oder als Eigenschaft von Wesen bemerkt wird, welche vom Volke schon moralisch festgestellt und abgeschätzt sind.  – So haben die älteren Griechen anders über den Ne id empfunden, als wir ; Hesiod zählt ihn unter den Wirkungen der g ut e n , wohlthätigen Eris auf, und es hatte nichts Anstössiges, den Göttern etwas Neidisches zuzuerkennen : begreiflich bei einem Zustande der Dinge, dessen Seele der Wettstreit war ; der Wettstreit aber war als gut festgestellt und abgeschätzt. Ebenfalls waren die Griechen von uns verschieden in der Abschätzung der Hof f nu n g : man empfand sie als blind und tückisch ; Hesiod hat das Stärkste über sie in einer Fabel angedeutet, und zwar etwas so Befremdendes, dass kein neuerer Erklärer es verstanden hat, – denn es geht wider den modernen Geist, welcher vom Christenthum her an die Hoffnung als eine Tugend zu glauben gelernt hat. Bei den Griechen

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dagegen, welchen der Zugang zum Wissen der Zukunft nicht gänzlich verschlossen schien und denen in zahllosen Fällen eine Anfrage um die Zukunft zur religiösen Pfl icht gemacht wurde, wo wir uns mit der Hoff nung begnügen, musste wohl, Dank allen Orakeln und Wahrsagern‚ die Hoff nung etwas degradirt werden und in’s Böse und Gefährliche hinabsinken. – Die Juden haben den Z or n anders empfunden, als wir, und ihn heilig gesprochen : dafür haben sie die düstere Majestät des Menschen, mit welcher verbunden er sich zeigte, unter sich in einer Höhe gesehen, die sich ein | Europäer nicht vorzustellen vermag ; sie haben ihren zornigen heiligen Jehovah nach ihren zornigen heiligen Propheten gebildet. An ihnen gemessen, sind die grossen Zürner unter den Europäern gleichsam Geschöpfe aus zweiter Hand. 39. Das Vor u r t hei l vom „rei nen Gei ste“. – Überall, wo die Lehre von der r e i ne n G e i s t i g k e it geherrscht hat, hat sie mit ihren Ausschweifungen die Nervenkraft zerstört : sie lehrte den Körper geringschätzen‚ vernachlässigen oder quälen, und um aller seiner Triebe willen den Menschen selber quälen und geringschätzen ; sie gab verdüsterte, gespannte, gedrückte Seelen, – welche noch überdiess glaubten, die Ursache ihres Elend-Gefühls zu kennen und sie vielleicht heben zu können ! „Im Körper muss sie liegen ! er blü ht immer noch zu sehr !“ – so schlossen sie, während thatsächlich derselbe gegen seine fortwährende Verhöhnung durch seine Schmerzen Einsprache über Einsprache erhob. Eine allgemeine, chronisch gewordene Übernervosität war endlich das Loos jener tugendhaften Reingeistigen : die Lu s t lernten sie nur noch in der Form der Ekstase und anderer Vorläufer des Wahnsinns kennen – und ihr System kam auf seine Spitze, als es die Ekstase als das Höheziel des Lebens und als den ve r u r t he i le nd e n Maassstab für alles Irdische nahm.

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40. D a s G r ü b e l n ü b e r G eb r äuc he . – Zahllose Vorschriften der Sitte, einem einmaligen seltsamen Vorkommniss flüchtig abgelesen, wurden sehr schnell unverständlich ; es liess sich ihre Absicht ebenso wenig mit | Sicherheit ausrechnen wie die Strafe, welche der Übertretung folgen werde ; selbst über die Folge der Ceremonien blieb Zweifel ; – aber indem man darüber hin und her rieth‚ wuchs das Object eines solchen Grübelns an Werth‚ und gerade das Absurdeste eines Gebrauches gieng zuletzt in die heiligste Heiligkeit über. Man denke nicht gering von der hier in Jahrtausenden aufgewendeten Kraft der Menschheit und am wenigsten von der Wirkung dieses Gr ü b e l n s ü b e r G eb r äuc he ! Wir sind hier auf der ungeheuren Übungsstätte des Intellectes angelangt,  – nicht nur dass hier die Religionen ausgesponnen und fortgesponnen werden : hier ist die würdige, obschon schauerliche Vorwelt der Wissenschaft, hier wuchs der Dichter, der Denker, der Arzt, der Gesetzgeber ! Die Angst vor dem Unverständlichen, welches in zweideutiger Weise von uns Ceremonien forderte, gieng allmählich in den Reiz des Schwerverständlichen über, und wo man nicht zu ergründen wusste, lernte man schaffen. 41. Zur Wer thbestimmung der v ita contemplativa. – Vergessen wir als Menschen der vita contemplativa nicht, welche Art von Übel und Unsegen durch die verschiedenen Nachwirkungen der Beschaulichkeit auf die Menschen der vita activa gekommen ist, – kurz, welche Gegenrechnung die vita activa u n s zu machen hat, wenn wir allzu stolz mit unseren Wohlthaten uns vor ihr brüsten. E r s t e n s : die sogenannten r e l i g iö s e n Naturen, welche der Zahl nach unter den Contemplativen überwiegen und folglich ihre gemeinste Species abgeben, haben zu allen Zeiten dahin gewirkt, den praktischen Menschen das Leben schwer zu machen | und es ihnen

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womöglich zu verleiden : den Himmel verdüstern, die Sonne auslöschen, die Freude verdächtigen, die Hoff nungen entwerthen‚ die thätige Hand lähmen, – das haben sie verstanden, ebenso wie sie für elende Zeiten und Empfi ndungen ihre Tröstungen, Almosen‚ Handreichungen und Segenssprüche gehabt haben. Zwe it e n s : die Künstler, etwas seltener als die Religiösen, aber doch immer noch eine häufige Art von Menschen der vita contemplativa, sind als Personen zumeist unleidlich, launisch, neidisch, gewaltsam, unfriedlich gewesen : diese Wirkung ist von den erheiternden und erhebenden Wirkungen ihrer Werke in Abzug zu bringen. D r it ten s : die Philosophen, eine Gattung, in der sich religiöse und künstlerische Kräfte beisammen vorfi nden, doch so, dass etwas Drittes, das Dialektische, die Lust am Demonstriren, noch daneben Platz hat, sind die Urheber von Übeln nach der Weise der Religiösen und der Künstler gewesen und haben noch dazu durch ihren dialektischen Hang vielen Menschen Langeweile gemacht ; doch war ihre Zahl immer sehr klein. Vier ten s : die Denker und die wissenschaftlichen Arbeiter ; sie waren selten auf Wirkungen aus, sondern gruben sich still ihre Maulwurfslöcher. So haben sie wenig Verdruss und Unbehagen gemacht und oft als Gegenstand des Spottes und Gelächters sogar, ohne es zu wollen, den Menschen der vita activa das Leben erleichtert. Zuletzt ist die Wissenschaft doch etwas sehr Nützliches für Alle geworden : wenn d ie s e s Nut z e n s h a l b e r jetzt sehr viele zur vita activa Vorherbestimmte sich einen Weg zur Wissenschaft bahnen, im Schweisse ihres Angesichts und nicht ohne Kopfzerbrechen und Verwünschungen, so trägt doch an solchem Ungemach die | Schaar der Denker und wissenschaftlichen Arbeiter keine Schuld ; es ist „selbstgeschaffene Pein“. 42. Herkun f t der vita contemplativa. – In rohen Zeiten, wo die pessimistischen Urtheile über Mensch und Welt herr-

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schen, ist der Einzelne im Gefühle seiner vollen Kraft immer darauf aus, jenen Urtheilen gemäss zu handeln, also die Vorstellung in Action zu übersetzen, durch Jagd, Raub, Überfall, Misshandlung und Mord, eingerechnet die blässeren Abbilder jener Handlungen, wie sie innerhalb der Gemeinde allein geduldet werden. Lässt seine Kraft aber nach, fühlt er sich müde oder krank oder schwermüthig oder übersättigt und in Folge davon zeitweilig wunsch- und begierdenlos, so ist er da ein verhältnissmässig besserer, das heisst weniger schädlicher Mensch, und seine pessimistischen Vorstellungen entladen sich dann nur noch in Worten und Gedanken, zum Beispiel über den Werth seiner Genossen oder seines Weibes oder seines Lebens oder seiner Götter, – seine Urtheile werden b ö s e Urtheile sein. In diesem Zustande wird er zum Denker und Vorausverkünder, oder er dichtet an seinem Aberglauben weiter und sinnt neue Gebräuche aus, oder er spottet seiner Feinde – : was er aber auch erdenkt, alle Erzeugnisse müssen seinen Zustand wiederspiegeln, also die Zunahme der Furcht und der Ermüdung, die Abnahme seiner Schätzung des Handelns und Geniessens ; der Gehalt dieser Erzeugnisse muss dem Gehalte dieser dichterischen, denkerischen, priesterlichen Stimmungen entsprechen ; das böse Urtheil muss darin regieren. Später nannte man alle Die, welche andauernd | thaten, was früher der Einzelne in jenem Zustande that, welche also böse urtheilten, melancholisch und thatenarm lebten, Dichter oder Denker oder Priester oder Medicinmänner  – : man würde solche Menschen, weil sie nicht genug handelten, gerne gering geschätzt und aus der Gemeinde gestossen haben ; aber es gab eine Gefahr dabei, – sie waren dem Aberglauben und der Spur göttlicher Kräfte nachgegangen, man zweifelte nicht daran, dass sie über unbekannte Mittel der Macht geböten. Diess ist die Schätzung, in der d a s ä lt e s t e G e s c h le c ht cont e m pl at i ve r Nat u r e n lebte, – genau so weit verachtet, als sie nicht gefürchtet wurden ! In solcher ver-

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mummter Gestalt, in solchem zweideutigen Ansehen, mit einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten Kopfe ist die Contemplation zuerst auf der Erde erschienen, zugleich schwach und furchtbar, im Geheimen verachtet und öffentlich mit abergläubischer Ehrerbietung überschüttet ! Hier, wie immer, muss es heissen : pudenda origo ! 43. Wie viele K räf te jet zt im Den ker zusammen kommen müssen. – Sich dem sinnlichen Anschauen zu entfremden, sich zum Abstracten zu erheben, – das ist wirklich einmal als E r hebu n g gefühlt worden : wir können es nicht ganz mehr nachempfi nden. Das Schwelgen in den blassesten Wort- und Dingbildern, das Spiel mit solchen unschaubaren, unhörbaren, unfühlbaren Wesen wurde wie ein Leben in einer andern hö he r e n Welt empfunden, aus der tiefen Verachtung der sinnlich tastbaren verführerischen und bösen Welt heraus. „Diese Abstracta verführen nicht mehr, aber sie können | uns führen !“ – dabei schwang man sich wie aufwärts. Nicht der Inhalt dieser Spiele der Geistigkeit, sie selber sind „das Höhere“ in den Vorzeiten der Wissenschaft gewesen. Daher Plato’s Bewunderung der Dialektik und sein begeisterter Glaube an ihre nothwendige Beziehung zu dem guten entsinnlichten Menschen. Nicht nur die Erkenntnisse sind einzeln und allmählich entdeckt worden, sondern auch die Mittel der Erkenntniss überhaupt, die Zustände und Operationen, die im Menschen dem Erkennen vorausgehen. Und jedesmal schien es, als ob die neu entdeckte Operation oder der neu empfundene Zustand nicht ein Mittel zu allem Erkennen, sondern schon Inhalt, Ziel und Summe alles Erkennenswerthen sei. Der Denker hat die Phantasie, den Aufschwung, die Abstraction, die Entsinnlichung, die Erfi ndung, die Ahnung, die Induction, die Dialektik, die Deduction, die Kritik, die Materialsammlung, die unpersönliche Denkweise, die Beschaulichkeit und

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die Zusammenschauung und nicht am Wenigsten Gerechtigkeit und Liebe gegen Alles, was da ist, nöthig, – aber alle diese Mittel haben e i n z e l n in der Geschichte der vita contemplativa einmal als Zwecke und letzte Zwecke gegolten und jene Seligkeit ihren Erfi ndern gegeben, welche beim Aufleuchten eines let z t e n Zweckes in die menschliche Seele kommt. 44. Ur s p r u n g u nd B e d eut u n g. – Warum kommt mir dieser Gedanke immer wieder und leuchtet mir in immer bunteren Farben ? – dass e he m a l s die Forscher, wenn sie auf dem Wege zum Ursprung der Dinge waren, immer Etwas von dem zu fi nden meinten, was | von unschätzbarer Bedeutung für alles Handeln und Urtheilen sei, ja, dass man stets vor au s s et z t e, von der E i n s ic ht i n d e n Ur s p r u n g d e r D i n g e müsse des Menschen He i l abhängen : dass wir jetzt hingegen, je weiter wir dem Ursprunge nachgehen, um so weniger mit unseren Interessen betheiligt sind ; ja, dass alle unsere Werthschätzungen und „Interessirtheiten“, die wir in die Dinge gelegt haben, anfangen ihren Sinn zu verlieren, je mehr wir mit unserer Erkenntniss zurück und an die Dinge selbst heran gelangen. M it d e r E i n s ic ht i n d e n Ur s p r u n g n i m mt d ie B ed eut u n g s lo s i g k e it d e s Ur s pr u n g s z u : während das Näc h s t e, das Um-uns und In-uns allmählich Farben und Schönheiten und Räthsel und Reichthümer von Bedeutung aufzuzeigen beginnt, von denen sich die ältere Menschheit nichts träumen liess. Ehemals giengen die Denker gleich eingefangenen Thieren ingrimmig herum, immer nach den Stäben ihres Käfigs spähend und gegen diese anspringend, um sie zu zerbrechen : und s e l i g schien der, welcher durch eine Lücke Etwas von dem Draussen, von dem Jenseits und der Ferne zu sehen glaubte.

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45. Ei n Tragöd ien-Ausga ng der Erken nt n iss.  – Von allen Mitteln der Erhebung sind es die Menschenopfer gewesen, welche zu allen Zeiten den Menschen am meisten erhoben und gehoben haben. Und vielleicht könnte mit Einem ungeheuren Gedanken immer noch jede andere Bestrebung niedergerungen werden, sodass ihm der Sieg über den Siegreichsten gelänge, – mit dem Gedanken der s ic h opf e r nd e n Me n s c h he it . Wem aber sollte sie sich opfern ? Man kann | bereits darauf schwören, dass, wenn jemals das Sternbild dieses Gedankens am Horizonte erscheint, die Erkenntniss der Wahrheit als das einzige ungeheure Ziel übrig geblieben sein wird, dem ein solches Opfer angemessen wäre, weil ihm kein Opfer zu gross ist. Inzwischen ist das Problem noch nie aufgestellt worden, inwiefern der Menschheit, als einem Ganzen, Schritte möglich sind, die Erkenntniss zu fördern ; geschweige denn, welcher Erkenntnisstrieb die Menschheit so weit treiben könnte, sich selber darzubringen, um mit dem Leuchten einer vorwegnehmenden Weisheit im Auge zu sterben. Vielleicht, wenn einmal eine Verbrüderung mit Bewohnern anderer Sterne zum Zweck der Erkenntniss hergestellt ist, und man einige Jahrtausende lang sich sein Wissen von Stern zu Stern mitgetheilt hat : vielleicht, dass dann die Begeisterung der Erkenntniss auf eine solche Fluth-Höhe kommt ! 46. Zwei fel a m Zwei fel.  – „Welch’ gutes Kopfkissen ist der Zweifel für einen wohlgebauten Kopf !“  – diess Wort Montaigne’s hat Pascal immer erbittert, denn es verlangte Niemanden gerade so stark nach einem guten Kopfkissen, als ihn. Woran fehlte es doch ? – 47. Die Worte liegen uns im Wege ! – Überall, wo die Uralten ein Wort hinstellten, da glaubten sie eine Entdeckung ge-

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macht zu haben. Wie anders stand es in Wahrheit ! – sie hatten an ein Problem gerührt und indem sie wähnten, es g e lö s t zu haben, hatten sie ein Hemmniss der Lösung geschaffen.  – Jetzt muss | man bei jeder Erkenntniss über steinharte verewigte Worte stolpern, und wird dabei eher ein Bein brechen, als ein Wort. 48. „Erk e n ne d ic h s e l b s t“ i s t d ie g a n z e W i s s e n s c h a f t . – Erst am Ende der Erkenntniss aller Dinge wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Gränzen des Menschen. 49. Das neue Gr u nd gef ü h l : u n sere end g ü lt ige Verg ä ngl ic h keit. – Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche A bk u n f t hinzeigte : diess ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Thür steht der Affe, nebst anderem greu lichen Gethier, und fletscht verständnissvoll die Zähne, wie um zu sagen : nicht weiter in dieser Richtung ! So versucht man es jetzt in der entgegengesetzten Richtung : der Weg, woh i n die Menschheit geht, soll zum Beweise ihrer Herrlichkeit und Gottverwandtschaft dienen. Ach, auch damit ist es Nichts ! Am Ende dieses Weges steht die Graburne des let z t e n Menschen und Todtengräbers (mit der Aufschrift „nihil humani a me alienum puto“). Wie hoch die Menschheit sich entwickelt haben möge – und vielleicht wird sie am Ende gar tiefer, als am Anfang stehen ! – es giebt für sie keinen Übergang in eine höhere Ordnung, so wenig die Ameise und der Ohrwurm am Ende ihrer „Erdenbahn“ zur Gottverwandtschaft und Ewigkeit emporsteigen. Das Werden schleppt das Gewesensein hinter sich her : warum sollte es von diesem ewigen Schauspiele eine Ausnahme für irgend | ein Sternchen und wiederum für ein Gattungchen auf ihm geben ! Fort mit solchen Sentimentalitäten !

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50. Der Glaube a n den Rausch. – Die Menschen der erhabenen und verzückten Augenblicke, denen es für gewöhnlich, um des Gegensatzes willen und wegen der verschwenderischen Abnützung ihrer Nervenkräfte, elend und trostlos zu Muthe ist, betrachten jene Augenblicke als das eigent liche Selbst, als „sich“, das Elend und die Trostlosigkeit als die W i r k u n g d e s „ Au s s e r - s ic h“ ; und desshalb denken sie an ihre Umgebung, ihre Zeit, ihre ganze Welt mit rachsüchtigen Gefühlen. Der Rausch gilt ihnen als das wahre Leben, als das eigentliche Ich : in allem Anderen sehen sie die Gegner und Verhinderer des Rausches, sei dieser nun geistiger, sittlicher, religiöser oder künstlerischer Natur. Diesen schwärmerischen Trunkenbolden verdankt die Menschheit viel Übles : denn sie sind die unersättlichen Unkraut-Aussäer der Unzufriedenheit mit sich und den Nächsten, der Zeit- und Weltverachtung und namentlich der Welt-Müdigkeit. Vielleicht könnte eine ganze Hölle von Ve r br ec he r n nicht diese drükkende, land- und luftverderbende, unheimliche Nachwirkung in die fernste Ferne hin haben, wie jene kleine edle Gemeinde von Unbändigen, Phantasten, Halbverrückten, von Genie’s‚ die sich nicht beherrschen können und allen möglichen Genuss an sich erst dann haben, wenn sie sich völlig verlieren : während der Verbrecher sehr oft noch einen Beweis von ausgezeichneter Selbstbeherrschung, Aufopferung und Klugheit giebt und diese Eigenschaften bei Denen, welche ihn fürchten, wach erhält. Durch | ihn wird der Himmel über dem Leben vielleicht gefährlich und düster, aber die Luft bleibt kräftig und streng.  – Zu alledem pflanzen jene Schwärmer mit allen ihren Kräften den Glauben an den Rausch als an das Leben im Leben : einen furchtbaren Glauben ! Wie die Wilden jetzt schnell durch das „Feuerwasser“ verdorben werden und zu Grunde gehen, so ist die Menschheit im Ganzen und Grossen langsam und gründlich durch die g e i s t i g e n Feuer-

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wässer trunken machender Gefühle und durch Die, welche die Begierde darnach lebendig erhielten, verdorben worden : vielleicht geht sie noch daran zu Grunde. 51. So w ie w i r noc h si nd ! – „Seien wir nachsichtig gegen die grossen Einäugigen !“ – hat Stuart Mill gesagt : als ob Nachsicht zu erbitten nöthig wäre, wo man gewöhnt ist, ihnen Glauben und beinahe Anbetung zu zollen ! Ich sage : seien wir nachsichtig gegen die Zweiäugigen, grosse und kleine, – denn höher, als bis zur Nachsicht werden wir, s o w ie w i r s i nd , es doch nicht bringen ! 52. Wo s i nd d ie neue n Ä r z t e d e r S e e le ? – Die Mittel des Trostes sind es gewesen, durch welche das Leben erst jenen leidvollen Grundcharakter, an den man jetzt glaubt, bekommen hat ; die grösste Krankheit der Menschen ist aus der Bekämpfung ihrer Krankheiten entstanden, und die anscheinenden Heilmittel haben auf die Dauer Schlimmeres erzeugt, als Das war, was mit ihnen beseitigt werden sollte. Aus Unkenntniss hielt man die augenblicklich wirkenden, betäuben|den und berauschenden Mittel, die sogenannten Tröstungen, für die eigentlichen Heilkräfte, ja, man merkte es nicht einmal, dass man diese sofortigen Erleichterungen oft mit der allgemeinen und tiefen Verschlechterung des Leidens bezahlte, dass die Kranken an der Nachwirkung des Rausches, später an der Entbehrung des Rausches und noch später an einem drückenden Gesammtgefühl von Unruhe, Nervenzittern und Ungesundheit zu leiden hatten. Wenn man bis zu einem gewissen Grade erkrankt war, genas man nicht mehr, – dafür sorgten die Ärzte der Seele, die allgemein beglaubigten und angebeteten. – Man sagt Schopenhauern nach, und mit Recht, dass er die Leiden der Menschheit endlich einmal wieder ernst genommen habe : wo ist Der, welcher endlich auch einmal

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die Gegenmittel gegen diese Leiden ernst nimmt und die unerhörte Quacksalberei an den Pranger stellt, mit der, unter den herrlichsten Namen, bis jetzt die Menschheit ihre Seelenkrankheiten zu behandeln gewöhnt ist ? 53. M i ssbr auc h der Gew i ssen ha f ten.  – Die Gewissenhaften und n ic ht die Gewissenlosen waren es, die so furchtbar unter dem Druck von Busspredigten und Höllenängsten zu leiden hatten, zumal wenn sie zugleich Menschen der Phantasie waren. Also ist gerade Denen das Leben am meisten verdüstert worden, welche Heiterkeit und anmuthige Bilder nöthig hatten – nicht nur zu ihrer Erholung und Genesung von sich selber, sondern damit die Menschheit sich ihrer erfreuen könne und von ihrer Schönheit einen Strahl in sich hinübernehme. Oh, wie viel überflüssige Grausamkeit | und Thierquälerei ist von jenen Religionen ausgegangen, welche die Sünde erfunden haben ! Und von den Menschen, welche durch sie den höchsten Genuss ihrer Macht haben wollten ! 54. D ie G e d a n k e n ü b e r d ie K r a n k h e it !  – Die Phantasie des Kranken beruhigen, dass er wenigstens nicht, wie bisher, me h r von seinen Gedanken über seine Krankheit zu leiden hat, als von der Krankheit selber, – ich denke, das ist Etwas ! Und es ist nicht Wenig ! Versteht ihr nun unsere Aufgabe ? 55. D ie „We g e“. – Die angeblichen „kürzeren Wege“ haben die Menschheit immer in grosse Gefahr gebracht ; sie verlässt immer bei der frohen Botschaft, dass ein solcher kürzerer Weg gefunden sei, ihren Weg – und ve rl ie r t d e n We g.

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56. Der A post at de s f r eien G ei ste s. – Wer hat denn gegen fromme glaubensstarke Menschen eine Abneigung ? Umgekehrt, sehen wir sie nicht mit stiller Hochachtung an und freuen uns ihrer, mit einem gründlichen Bedauern, dass diese treffl ichen Menschen nicht mit uns zusammenempfi nden ? Aber woher stammt jener tiefe plötzliche Widerwille ohne Gründe gegen Den, der einmal alle Freiheit des Geistes h at t e und am Ende „gläubig“ w u r d e ? Denken wir daran, so ist es uns, als hätten wir einen ekelhaften Anblick gehabt, den wir schnell von der Seele wegwischen müssten ! Würden wir nicht dem verehrtesten Menschen den Rücken drehen, wenn er in dieser Beziehung uns ver|dächtig würde ? Und zwar nicht aus einer moralischen Verurtheilung‚ sondern aus einem plötzlichen Ekel und Grausen ! Woher diese Schärfe der Empfi ndung ! Vielleicht wird uns Dieser oder Jener zu verstehen geben, dass wir im Grunde unser selber nicht ganz sicher seien ? Dass wir bei Zeiten Dornenhecken der spitzesten Verachtung um uns pflanzten, damit wir im entscheidenden Augenblicke, wo das Alter uns schwach und vergesslich mache, über unsere eigene Verachtung nicht hinwegkönnten ? – Aufrichtig : diese Vermuthung greift fehl, und wer sie macht, weiss Nichts von dem, was den freien Geist bewegt und bestimmt : wie wenig erscheint ihm das Ve r ä nd e r n seiner Meinungen an sich als verächtlich ! Wie verehrt er umgekehrt in der Fä h i g k e it , seine Meinungen zu wechseln, eine seltene und hohe Auszeichnung, namentlich wenn sie bis in’s Alter hineinreicht ! Und selbst zu den verbotenen Früchten des spernere se sperni und des spernere se ipsum greift sein Ehrgeiz hinauf (und n ic ht sein Kleinmuth) : geschweige dass er die Angst des Eitlen und Bequemen davor hätte ! Zu alledem gilt ihm die Lehre von der Un s c hu ld a l le r Me i nu n g e n so sicher wie die Lehre von der Unschuld aller Handlungen : wie könnte er vor dem Apostaten der geistigen Freiheit zum

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Richter und Henker werden ! Vielmehr berührt ihn sein Anblick, wie der Anblick eines widerlich Erkrankten den Arzt berührt : der physische Ekel vor dem Schwammigen, Erweichten, Überwuchernden, Eiternden siegt einen Augenblick über die Vernunft und den Willen, zu helfen. So wird unser guter Wille von der Vorstellung der ungeheuren Un r e d l ic h k e it überwältigt, welche im Apostaten des freien Geistes gewaltet haben muss : von der | Vorstellung einer allgemeinen und bis in’s Knochengerüste des Charakters greifenden Entartung. – 57. A ndere Fu rc ht, a ndere Sic herheit. – Das Christenthum hatte dem Leben eine ganz neue und unbegränzte G e f ä h r l ic h k e it beigelegt, und damit ebenfalls ganz neue Sicherheiten, Genüsse, Erholungen und Abschätzungen aller Dinge geschaffen. Diese Gefährlichkeit leugnet unser Jahrhundert, und mit gutem Gewissen : und doch schleppt es die alten Gewohnheiten der christlichen Sicherheit, des christlichen Geniessens, Sich-Erholens, Abschätzens noch mit sich fort ! Und bis in seine edelsten Künste und Philosophien hinein ! Wie matt und verbraucht, wie halb und linkisch, wie willkürlichfanatisch und vor Allem : wie unsicher muss das Alles sich ausnehmen, jetzt, da jener furchtbare Gegensatz dazu, die allgegenwärtige F u r c ht des Christen für sein ew i g e s Heil verloren gegangen ist ! 58. D a s C h r i s t e nt hu m u nd d ie A f fec t e. – Aus dem Christenthum ist auch ein grosser volksthümlicher Protest gegen die Philosophie herauszuhören : die Vernunft der alten Weisen hatte den Menschen die Affecte widerrathen‚ das Christenthum will dieselben ihnen w iedergeben. Zu diesem Zwecke spricht es der Tugend, so wie sie von den Philosophen gefasst war, – als Sieg der Vernunft über den Affect – allen moralischen Werth ab, verurtheilt überhaupt die Vernünftigkeit und

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fordert die Affecte heraus, sich in ihrer äussersten Stärke und Pracht zu offenbaren : als L ieb e zu | Gott, F u r c ht vor Gott, als fanatischen G l au b e n an Gott, als blindestes Hof f e n auf Gott. 59. I r r t hu m a l s L a b s a l .  – Man mag sagen, was man will : das Christenthum hat die Menschen von der Last der moralischen Anforderungen befreien wollen, dadurch, dass es einen k ü r z e r e n We g z u r Vol l k om me n he it zu zeigen meinte : ganz so, wie einige Philosophen sich der mühseligen und langwierigen Dialektik und der Sammlung streng geprüfter Thatsachen entschlagen zu können wähnten und auf einen „königlichen Weg zur Wahrheit“ verwiesen. Es war beide Male ein Irrthum, – aber doch ein grosses Labsal für Übermüde und Verzweifelnde in der Wüste. 60. A l ler Gei st w i rd end l ic h leibl ic h sic htba r. – Das Christenthum hat den gesammten Geist zahlloser Unterwerfungslustiger, aller jener feinen und groben Enthusiasten der Demüthigung und Anbetung in sich geschlungen, es ist damit aus einer ländlichen Plumpheit  – an welche man zum Beispiel bei dem ältesten Bilde des Apostels Petrus stark erinnert wird – eine sehr g e i s t r e ic he Religion geworden, mit Tausenden von Falten, Hintergedanken und Ausflüchten im Gesichte ; es hat die Menschheit Europa’s gewitzigt und nicht nur theologisch verschlagen gemacht. In diesem Geiste und im Bunde mit der Macht und sehr oft mit der tiefsten Überzeugung und Ehrlichkeit der Hingebung hat es vielleicht die feinsten Gestalten der menschlichen | Gesellschaft au s g e me i s s e lt ‚ die es bisher gegeben hat : die Gestalten der höheren und höchsten katholischen Geistlichkeit, namentlich wenn diese einem vornehmen Geschlechte entsprossen waren und von vornherein angeborene Anmuth der Gebärden, herrschende

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Augen und schöne Hände und Füsse hinzubrachten. Hier erreicht das menschliche Antlitz jene Durchgeistigung, die durch die beständige Ebbe und Fluth der zwei Arten des Glükkes (des Gefühls der Macht und des Gefühls der Ergebung) hervorgebracht wird, nachdem eine ausgedachte Lebensweise das Thier im Menschen gebändigt hat ; hier hält eine Thätigkeit, die im Segnen‚ Sündenvergeben und Repräsentiren der Gottheit besteht, fortwährend das Gefühl einer übermenschlichen Mission in der Seele, ja auc h i m L e i b e wach ; hier herrscht jene vornehme Verachtung gegen die Gebrechlichkeit von Körper und Wohlfahrt des Glückes, wie sie geborenen Soldaten zu eigen ist ; man hat im Gehorchen seinen St ol z , was das Auszeichnende aller Aristokraten ausmacht ; man hat in der ungeheueren Unmöglichkeit seiner Aufgabe seine Entschuldigung und seine Idealität. Die mächtige Schönheit und Feinheit der Kirchenfürsten hat immerdar für das Volk die Wa h r he it der Kirche bewiesen ; eine zeitweilige Brutalisirung der Geistlichkeit (wie zu Zeiten Luther’s) führte immer den Glauben an das Gegentheil mit sich. – Und d ie s s Ergebniss menschlicher Schönheit und Feinheit in der Harmonie von Gestalt, Geist und Aufgabe wäre, mit dem Ende der Religionen, auch zu Grabe getragen ? Und Höheres liesse sich nicht erreichen, nicht einmal ersinnen ? | 61. D a s O pf e r, d a s n ot h t hu t .  – Diese ernsten, tüchtigen, rechtlichen, tief empfi ndenden Menschen, welche jetzt noch von Herzen Christen sind : sie sind es sich schuldig, einmal auf längere Zeit versuchsweise ohne Christenthum zu leben, sie sind es i h r e m Gl aub e n schuldig, einmal auf diese Art einen Aufenthalt „in der Wüste“ zu nehmen, – nur damit sie sich das Recht erwerben, in der Frage, ob das Christenthum nöthig sei, mitzureden. Einstweilen kleben sie an ihrer Scholle und lästern von da aus die Welt jenseits der Scholle : ja, sie sind böse

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und erbittert, wenn Jemand zu verstehen giebt, dass jenseits der Scholle eben noch die ganze, ganze Welt liegt ! dass das Christenthum, Alles in Allem, eben nur ein Winkel ist ! Nein, euer Zeugniss wiegt nicht eher Etwas, als bis ihr Jahre lang ohne Christenthum gelebt habt, mit einer ehrlichen Inbrunst darnach, es im Gegentheile des Christenthums auszuhalten : bis ihr weit, weit von ihm fortgewandert seid. Nicht wenn das Heimweh euch zurücktreibt, sondern das Ur t he i l auf Grund einer strengen Ve r g le ic hu n g , so hat euer Heimkehren Etwas zu bedeuten ! – Die zukünftigen Menschen werden es einmal so mit allen Werthschätzungen der Vergangenheit machen ; man muss sie freiwillig noch einmal d u r c h leb e n , und ebenso ihr Gegentheil, – um schliesslich das R e c ht zu haben, sie durch das Sieb fallen zu lassen. 62. Vom Ur s pr u nge der Rel ig ionen. – Wie kann Einer seine eigene Meinung über die Dinge als eine Offenbarung empfi nden ? Diess ist das Problem von der | Entstehung der Religionen : jedesmal hat es einen Menschen dabei gegeben, in welchem jener Vorgang möglich war. Die Voraussetzung ist, dass er vorher schon an Offenbarungen glaubte. Nun gewinnt er eines Tages plötzlich s e i ne n neuen Gedanken, und das Beseligende einer eigenen grossen Welt und Dasein umspannenden Hypothese tritt so gewaltig in sein Bewusstsein, dass er sich nicht als Schöpfer einer solchen Seligkeit zu fühlen wagt und die Ursache davon und wieder die Ursache der Ursache jenes neuen Gedankens seinem Gotte zuschreibt : als dessen Offenbarung. Wie sollte ein Mensch der Urheber eines so grossen Glückes sein können ! – lautet sein pessimistischer Zweifel. Dazu wirken nun im Verborgenen andere Hebel : zum Beispiele man b e k r ä f t i g t eine Meinung vor sich dadurch, dass man sie als Offenbarung empfi ndet, man streicht damit das Hypothetische weg, man entzieht sie der Kritik,

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ja dem Zweifel, man macht sie heilig. So erniedrigt man sich zwar selber zum Organon, aber unser Gedanke siegt zuletzt als Gottesgedanke, – dieses Gefühl, damit am Ende Sieger zu bleiben, erringt die Oberhand über jenes Gefühl der Erniedrigung. Auch ein anderes Gefühl spielt im Hintergrunde : wenn man sein E r z eu g n i s s über sich selber erhebt und scheinbar vom eigenen Werthe absieht, so giebt es doch dabei ein Frohlocken von Vaterliebe und Vaterstolz‚ das Alles ausgleicht und mehr als ausgleicht. 63. Näc h s t e n - H a s s. – Gesetzt, wir empfänden den Anderen so, wie er sich selber empfi ndet – Das, was Schopenhauer Mitleid nennt und was richtiger Ein-Leid, | Einleidigkeit hiesse –‚ so würden wir ihn hassen müssen‚ wenn er sich selber, gleich Pascal, hassenswerth fi ndet. Und so empfand wohl auch Pascal im Ganzen gegen die Menschen, und ebenso das alte Christenthum‚ das man, unter Nero, des odium generis humani „überführte“, wie Tacitus meldet. 64. Die Verzweifel nden. – Das Christenthum hat den Instinct des Jägers für alle Die, welche irgend wodurch überhaupt zur Verzweiflung zu bringen sind,  – nur eine Auswahl der Menschheit ist deren fähig. Hinter ihnen ist es immer her, ihnen lauert es auf. Pascal machte den Versuch, ob nicht mit Hülfe der schneidendsten Erkenntniss Jedermann zur Verzweiflung gebracht werden könnte ; – der Versuch misslang, zu seiner zweiten Verzweiflung. 65. B r a h m a n e n - u n d C h r i s t e n t hu m .  – Es giebt Recepte zum Gefühle der Macht, einmal für Solche, welche sich selber beherrschen können und welche bereits dadurch in einem Gefühle der Macht zu Hause sind ; sodann für Solche, welchen

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gerade diess fehlt. Für Menschen der ersten Gattung hat das Brahmanenthum Sorge getragen, für Menschen der zweiten Gattung das Christenthum. 66. Fä h i g k e it d e r V i s io n . – Durch das ganze Mittelalter hindurch galt als das eigentliche und entscheidende Merkmal des höchsten Menschenthums : dass man der Vision – das heisst einer tiefen geistigen Störung ! | – fähig sei. Und im Grunde gehen die mittelalterlichen Lebensvorschriften aller höheren Naturen (der religiosi) darauf hinaus, den Menschen der Vision f ä h i g zu machen ! Was Wunder, wenn noch in unsere Zeit hinein eine Überschätzung halbgestörter, phantastischer, fanatischer, sogenannter genialer Personen überströmte ; „sie haben Dinge gesehen, die Andere nicht sehen“  – gewiss ! und diess sollte uns vorsichtig gegen sie stimmen, aber nicht gläubig ! 67. Preis der Gläubigen. – Wer solchen Werth darauf legt, dass an ihn geglaubt werde, dass er den Himmel für diesen Glauben gewährleistet, und Jedermann, sei es selbst ein Schächer am Kreuze, – der muss an einem furchtbaren Zweifel gelitten und jede Art von Kreuzigung kennen gelernt haben : er würde sonst seine Gläubigen nicht so theuer kaufen. 68. D e r e r s t e C h r i s t . – Alle Welt glaubt noch immer an die Schriftstellerei des „heiligen Geistes“ oder steht unter der Nachwirkung dieses Glaubens : wenn man die Bibel aufmacht, so geschieht es, um sich zu „erbauen“, um in seiner eigenen, persönlichen grossen oder kleinen Noth einen Fingerzeig des Trostes zu fi nden, – kurz, man liest sich hinein und sich heraus. Dass in ihr auch die Geschichte einer der ehrgeizigsten und aufdringlichsten Seelen und eines ebenso abergläu-

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bischen als verschlagenen Kopfes beschrieben steht, die Geschichte des Apostels Paulus, – wer weiss das, einige Gelehrte abgerechnet ? Ohne diese merkwürdige | Geschichte aber, ohne die Verwirrungen und Stürme eines solchen Kopfes, einer solchen Seele, gäbe es keine Christenheit ; kaum würden wir von einer kleinen jüdischen Secte erfahren haben, deren Meister am Kreuze starb. Freilich : hätte man eben diese Geschichte zur rechten Zeit begriffen, hätte man die Schriften des Paulus nicht als die Offenbarungen des „heiligen Geistes“, sondern mit einem redlichen und freien eigenen Geiste, und ohne an alle unsere persönliche Noth dabei zu denken, gelesen, w i r k l ic h g e le s e n – es gab anderthalb Jahrtausend keinen solchen Leser –‚ so würde es auch mit dem Christenthum längst vorbei sein : so sehr legen diese Blätter des jüdischen Pascal den Ursprung des Christenthums blos, wie die Blätter des französischen Pascal sein Schicksal und Das, woran es zu Grunde gehen wird, bloslegen. Dass das Schiff des Christenthums einen guten Theil des jüdischen Ballastes über Bord warf, dass es unter die Heiden gieng und gehen konnte, – das hängt an der Geschichte dieses Einen Menschen, eines sehr gequälten, sehr bemitleidenswerthen‚ sehr unangenehmen und sich selber unangenehmen Menschen. Er litt an einer fixen Idee, oder deutlicher : an einer f i xe n , stets gegenwärtigen, nie zur Ruhe kommenden Fr a g e : welche Bewandtniss es mit dem jüdischen G e s et z e habe ? und zwar mit der E r f ü l lu n g d ie s e s G e s et z e s ? In seiner Jugend hatte er ihm selber genugthun wollen, heisshungrig nach dieser höchsten Auszeichnung, welche die Juden zu denken vermochten,  – dieses Volk, welches die Phantasie der sittlichen Erhabenheit höher als irgend ein anderes Volk getrieben hat und welchem allein die Schöpfung eines heiligen Gottes, nebst dem Gedanken | der Sünde als eines Vergehens an dieser Heiligkeit, gelungen ist. Paulus war zugleich der fanatische Vertheidiger und Ehrenwächter dieses Gottes und seines Gesetzes gewor-

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den und fortwährend im Kampfe und auf der Lauer gegen die Übertreter und Anzweifler desselben, hart und böse gegen sie und zum Äussersten der Strafen geneigt. Und nun erfuhr er an sich, dass er – hitzig, sinnlich, melancholisch, bösartig im Hass, wie er war – das Gesetz selber nicht erfüllen k o n nt e, ja, was ihm das Seltsamste schien : dass seine ausschweifende Herrschsucht fortwährend gereizt wurde, es zu übertreten, und dass er diesem Stachel nachgeben mu s s t e. Ist es wirklich die „Fleischlichkeit“, welche ihn immer wieder zum Übertreter macht ? Und nicht vielmehr, wie er später argwöhnte, hinter ihr das Gesetz selber, welches sich fortwährend als unerfüllbar beweisen mu s s und mit unwidersteh lichem Zauber zur Übertretung lockt ? Aber damals hatte er diesen Ausweg noch nicht. Vielerlei lag ihm auf dem Gewissen  – er deutet hin auf Feindschaft, Mord, Zauberei, Bilderdienst, Unzucht, Trunkenheit und Lust an ausschweifenden Gelagen – und wie sehr er auch diesem Gewissen, und noch mehr seiner Herrschsucht, durch den äussersten Fanatismus der Gesetzes-Verehrung und -Vertheidigung wieder Luft zu machen suchte : es kamen Augenblicke, wo er sich sagte „Es ist Alles umsonst ! die Marter des unerfüllten Gesetzes ist nicht zu überwinden.“ Ähnlich mag Luther empfunden haben, als er der vollkommene Mensch des geistlichen Ideals in seinem Kloster werden wollte : und ähnlich wie Luthern, der eines Tages das geistliche Ideal und den Papst und die Heiligen und die ganze Clerisei zu hassen begann, | mit einem wahren tödt lichen Hass, je weniger er ihn sich eingestehen durfte, – ähnlich ergieng es Paulus. Das Gesetz war das Kreuz, an welches er sich geschlagen fühlte : wie hasste er es ! wie trug er es ihm nach ! wie suchte er herum, um ein Mittel zu fi nden, es zu ve r n ic ht e n , – nicht mehr es für seine Person zu erfüllen ! Und endlich leuchtete ihm der rettende Gedanke auf, zugleich mit einer Vision, wie es bei diesem Epileptiker nicht anders zugehen konnte : ihm, dem wüthenden Eiferer des Gesetzes, der innerlich dessen

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todtmüde war, erschien auf einsamer Strasse jener Christus, den Lichtglanz Gottes auf seinem Gesichte‚ und Paulus hörte die Worte : „warum verfolgst du m ic h ?“ Das Wesentliche, was da geschah, ist aber diess : sein K o pf war auf einmal hell geworden ; „es ist u nve r nü n f t i g , hatte er sich gesagt, gerade diesen Christus zu verfolgen ! Hier ist ja der Ausweg, hier ist ja die vollkommene Rache, hier und nirgends sonst habe und halte ich ja den Ve r n ic ht e r d e s G e s et z e s !“ Der Kranke des gequältesten Hochmuthes fühlt sich mit Einem Schlage wieder hergestellt, die moralische Verzweiflung ist wie fortgeblasen, denn die Moral ist fortgeblasen, vernichtet, – nämlich e r f ü l lt , dort am Kreuze ! Bisher hatte ihm jener schmähliche To d als Hauptargument gegen die „Messianität“, von der die Anhänger der neuen Lehre sprachen, gegolten : wie aber, wenn er nöt h i g war, um das Gesetz a b z ut hu n ! – Die ungeheuren Folgen dieses Einfalls, dieser Räthsellösung wirbeln vor seinem Blicke, er wird mit Einem Male der glücklichste Mensch, – das Schicksal der Juden, nein, aller Menschen scheint ihm an diesen Einfall, an diese Secunde seines plötzlichen Aufleuchtens | gebunden, er hat den Gedanken der Gedanken, den Schlüssel der Schlüssel, das Licht der Lichter ; um ihn selber dreht sich fürderhin die Geschichte ! Denn er ist von jetzt ab der Lehrer der Ve r n ic ht u n g d e s G e s et z e s ! Dem Bösen absterben – das heisst, auch dem Gesetz absterben ; im Fleische sein – das heisst, auch im Gesetze sein ! Mit Christus Eins geworden – das heisst, auch mit ihm der Vernichter des Gesetzes geworden ; mit ihm gestorben – das heisst, auch dem Gesetze abgestorben ! Selbst wenn es noch möglich wäre, zu sündigen, so doch nicht mehr gegen das Gesetz, „ich bin ausserhalb desselben“. „Wenn ich jetzt das Gesetz wieder aufnehmen und mich ihm unterwerfen wollte, so würde ich Christus zum Mithelfer der Sünde machen“ ; denn das Gesetz war dazu da, dass gesündigt werde, es trieb die Sünde immer hervor, wie ein scharfer Saft die Krankheit ; Gott hätte den Tod Chri-

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sti nie beschliessen können, wenn überhaupt ohne diesen Tod eine Erfüllung des Gesetzes möglich gewesen wäre ; jetzt ist nicht nur alle Schuld abgetragen, sondern die Schuld an sich vernichtet ; jetzt ist das Gesetz todt, jetzt ist die Fleischlichkeit, in der es wohnt, todt  – oder wenigstens in fortwährendem Absterben, gleichsam verwesend. Noch kurze Zeit inmitten dieser Verwesung ! – das ist das Loos des Christen, bevor er, Eins geworden mit Christus, aufersteht mit Christus, an der göttlichen Herrlichkeit theilnimmt mit Christus und „Sohn Gottes“ wird, gleich Christus. – Damit ist der Rausch des Paulus auf seinem Gipfel, und ebenfalls die Zudringlichkeit seiner Seele, – mit dem Gedanken des Einswerdens ist jede Scham, jede Unterordnung, jede Schranke von ihr genommen, und der unbändige Wille | der Herrschsucht offenbart sich als ein vorwegnehmendes Schwelgen in g öt t l ic h e n Herrlichkeiten. – Diess ist der e r s t e C h r i s t , der Erfi nder der Christlichkeit ! Bis dahin gab es nur einige jüdische Sectirer. – 69. Un n ac h a h m l ic h. – Es giebt eine ungeheure Spannung und Spannweite z w i s c h e n Neid und Freundschaft, zwischen Selbstverachtung und Stolz : in der ersten lebte der Grieche, in der zweiten der Christ. 70. Woz u ei n g r ober I nte l lec t nüt z e i st. – Die christliche Kirche ist eine Encyklopädie von vorzeitlichen Culten und Anschauungen der verschiedensten Abkunft und desshalb so missionsfähig : sie mochte ehemals, sie mag jetzt kommen, wohin sie will, sie fand und fi ndet etwas Ähnliches vor, dem sie sich anpassen und dem sie allmählich ihren Sinn unterschieben kann. Nicht das Christliche an ihr, sondern das Universal-Heidnische ihrer G eb r äu c he ist der Grund für die Ausbreitung dieser Weltreligion ; ihre Gedanken, die zugleich im Jüdischen und im Hellenischen wurzeln, haben von Anbe-

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ginn an über die nationalen und rassemässigen Absonderungen und Feinheiten, gleich als über Vorurtheile, sich zu erheben gewusst. Mag man diese K r a f t , das Verschiedenste in einander wachsen zu lassen, immerhin bewundern : nur vergesse man auch die verächtliche Eigenschaft dieser Kraft nicht,  – die erstaunliche Grobheit und Genügsamkeit ihres Intellectes in der Zeit der Kirchenbildung, um dergestalt mit je d e r K o s t fürlieb zu nehmen und Gegensätze wie Kieselsteine zu verdauen. | 71. D ie c h r i s t l ic he R ac he a n Rom . – Nichts ermüdet vielleicht so sehr als der Anblick eines beständigen Siegers, – man hatte Rom zweihundert Jahre lang ein Volk nach dem andern sich unterwerfen sehen, der Kreis war umspannt, alle Zukunft schien am Ende, alle Dinge wurden auf einen ewigen Zustand eingerichtet, – ja wenn das Reich baut e, so baute man mit dem Hintergedanken des „aere perennius“ ; – wir, die wir nur die „Melancholie der Ruinen“ kennen, können kaum jene ganz andersartige Me l a nc hol ie d e r ew i g e n B aut e n verstehen, gegen welche man sich zu retten suchen musste, wie es gehen wollte, – zum Beispiel mit dem Leichtsinne Horazens. Andere suchten andere Trostmittel gegen die an Verzweiflung gränzende Müdigkeit, gegen das tödtende Bewusstsein, dass alle Gedanken- und Herzensgänge nunmehr ohne Hoff nung seien, dass überall die grosse Spinne sitze, dass sie unerbittlich alles Blut trinken werde, wo es auch noch quelle. – Dieser jahrhundertalte wortlose Hass der ermüdeten Zuschauer gegen Rom, so weit nur Rom herrschte, entlud sich endlich im C h r i s t e nt hu me, indem es Rom, die „Welt“ und die „Sünde“ in Eine Empfi ndung zusammenfasste : man rächte sich an ihm, indem man den plötzlichen Untergang der Welt sich in der Nähe dachte ; man rächte sich an ihm, indem man wieder eine Zukunft vor sich stellte – Rom hatte Alles zu s e i ne r Vorgeschichte und Gegenwart zu machen gewusst – und

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eine Zukunft, in Vergleich zu welcher Rom nicht mehr als das Wichtigste erschien ; man rächte sich an ihm, indem man vom letzten G e|r i c h t träumte,  – und der gekreuzigte Jude als Symbol des Heils war der tiefste Spott auf die prachtvollen römischen Prätoren in der Provinz, denn nun erschienen sie als die Symbole des Unheils und der zum Untergange reifen „Welt“. – 72. Da s „Nac h- dem-Tode“. – Das Christenthum fand die Vorstellung von Höllenstrafen im ganzen römischen Reiche vor : über ihr haben die zahlreichen geheimen Culte mit besonderem Wohlgefallen gebrütet, als über dem fruchtbarsten Ei ihrer Macht. Epikur hatte für seines Gleichen nichts Grösseres zu thun geglaubt, als die Wurzeln d ie s e s Glaubens auszureissen : sein Triumph, der am schönsten im Munde des düsteren und doch hell gewordenen Jüngers seiner Lehre, des Römers Lucretius, ausklingt, kam zu früh,  – das Christenthum nahm den bereits verwelkenden Glauben an die unterirdischen Schrecknisse in seinen besonderen Schutz, und that klug daran ! Wie hätte es ohne diesen kühnen Griff in’s volle Heidenthum den Sieg über die Popularität der Mithras- und Isisculte davontragen können ! So brachte es die Furchtsamen auf seine Seite, – die stärksten Anhänger eines neuen Glaubens ! Die Juden, als ein Volk, welches am Leben hieng und hängt, gleich den Griechen und mehr als die Griechen, hatten jene Vorstellungen wenig angebaut : der endgültige Tod als die Strafe des Sünders und niemals wieder auferstehen, als äusserste Drohung, – das wirkte schon stark genug auf diese sonderbaren Menschen, welche ihren Leib nicht loswerden wollten, sondern ihn, mit ihrem verfeinerten Ägypticismus, in alle Ewigkeit zu retten | hoff ten. (Ein jüdischer Märtyrer, von dem im zweiten Buche der Makkabäer zu lesen ist, denkt nicht daran, auf seine herausgerissenen Eingeweide Verzicht zu leisten : bei der Auferstehung will er sie h a b e n , – so ist es

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jüdisch !) Den ersten Christen lag der Gedanke an ewige Qualen ganz fern, sie dachten „vom Tode“ e rlö s t zu sein und erwarteten von Tag zu Tage eine Verwandlung und nicht mehr ein Sterben. (Wie seltsam muss der erste Todesfall unter diesen Wartenden gewirkt haben ! Wie mischten sich da Verwunderung, Frohlocken, Zweifel, Scham, Inbrunst ! – wahrlich ein Vorwurf für grosse Künstler !) Paulus wusste nichts Besseres seinem Erlöser nachzusagen, als dass er den Zugang zur Unsterblichkeit für Jedermann e r öf f net habe, – er glaubt noch nicht an die Auferstehung der Unerlösten, ja, in Folge seiner Lehre vom unerfüllbaren Gesetze und vom Tode als Folge der Sünde argwöhnt er, im Grunde sei bisher Niemand (oder sehr Wenige, und dann aus Gnade und ohne Verdienst) unsterblich geworden ; jetzt erst b e g i n ne die Unsterblichkeit ihre Thore aufzuthun, – und zuletzt seien auch für sie sehr Wenige auserwählt : wie der Hochmuth des Auserwählten nicht unterlassen kann hinzuzufügen. – Anderwärts, wo der Trieb nach Leben nicht gleich gross war, wie unter Juden und Judenchristen, und die Aussicht auf Unsterblichkeit nicht ohne Weiteres werthvoller erschien, als die Aussicht auf einen endgültigen Tod, wurde jener heidnische und doch auch nicht ganz unjüdische Zusatz von der Hölle ein erwünschtes Werkzeug in der Hand der Missionäre : es erhob sich die neue Lehre, dass auch der Sünder und Unerlöste unsterblich sei, die Lehre vom Ewig-Verdammten, und sie war mächtiger, als der | nunmehr ganz verbleichende Gedanke vom e nd g ü lt i g e n To d e. Erst die W i s s e n s c h a f t hat ihn sich wieder zurückerobern müssen, und zwar indem sie zugleich jede andere Vorstellung vom Tode und jedes jenseitige Leben ablehnte. Wir sind um Ein Interesse ärmer geworden : das „Nach-dem-Tode“ geht uns Nichts mehr an ! – eine unsägliche Wohlthat, welche nur noch zu jung ist, um als solche weit- und breithin empfunden zu werden. – Und von Neuem triumphirt Epikur !

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73. F ü r d ie „Wa h r he it“ !  – „Für die Wahrheit des Christenthums sprach der tugendhafte Wandel der Christen, ihre Standhaftigkeit im Leiden, der feste Glaube und vor Allem die Verbreitung und das Wachsthum trotz aller Trübsal“,  – so redet ihr auch heute noch ! Es ist zum Erbarmen ! So lernt doch, dass diess Alles nicht für und nicht gegen die Wahrheit spricht, dass die Wahrheit anders bewiesen wird, als die Wahrhaftigkeit, und dass letztere durchaus kein Argument für die erstere ist ! 74. C h r i s t l ic he r H i nt e r g e d a n k e. – Sollte diess nicht der gewöhnlichste Hintergedanke des Christen des ersten Jahrhunderts gewesen sein : „es ist besser, sich seine Schuld e i n z ur e d e n , als seine Unschuld, denn man weiss nicht genau, wie ein so m äc ht i g e r Richter gesinnt ist, – f ü r c ht e n aber muss man, dass er lauter Schuldbewusste zu fi nden hoff t ! Bei seiner grossen Macht wird er leichter einen Schuldigen begnadigen, als zugestehen, dass einer vor ihm im Rechte sei.“ – So empfanden die armen Leute in der Provinz vor dem | römischen Prätor : „er ist zu stolz, als dass wir unschuldig sein dürften,“ – wie sollte sich nicht gerade diese Empfi ndung bei der christlichen Vergegenwärtigung des höchsten Richters wieder eingestellt haben ! 75. Nic ht eu ropä i sc h u nd n ic ht vor neh m.  – Es ist etwas Orientalisches und etwas Weibliches im Christenthum : das verräth sich in dem Gedanken „wen Gott lieb hat, den züchtigt er ;“ denn die Frauen im Orient betrachten Züchtigungen und strenge Abschliessung ihrer Person gegen die Welt als ein Zeichen der Liebe ihres Mannes und beschweren sich, wenn diese Zeichen ausbleiben.

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76. B ö s e d e n k e n he i s s t b ö s e m ac he n . – Die Leidenschaften werden böse und tückisch, wenn sie böse und tückisch betrachtet werden. So ist es dem Christenthum gelungen, aus Eros und Aphrodite – grossen idealfähigen Mächten – höllische Kobolde und Truggeister zu schaffen, durch die Martern, welche es in dem Gewissen der Gläubigen bei allen geschlechtlichen Erregungen entstehen liess. Ist es nicht schrecklich, nothwendige und regelmässige Empfi ndungen zu einer Quelle des inneren Elends zu machen und dergestalt das innere Elend b e i je d e m Me n s c he n nothwendig und regelmässig machen zu wollen ! Noch dazu bleibt es ein geheim gehaltenes und dadurch tiefer wurzelndes Elend : denn nicht Alle haben den Muth Shakespeare’s, ihre christliche Verdüsterung in diesem Puncte so zu bekennen, wie er es in seinen Sonetten | gethan hat. – Muss denn Etwas, gegen das man zu kämpfen, das man in Schranken zu halten oder sich unter Umständen ganz aus dem Sinne zu schlagen hat, immer b ö s e heissen ! Ist es nicht g e me i ne r Seelen Art, sich einen Fe i n d immer b ö s e zu denken ! Und darf man Eros einen Feind nennen ! An sich ist den geschlechtlichen wie den mitleidenden und anbetenden Empfi ndungen gemeinsam, dass hier der eine Mensch durch sein Vergnügen einem anderen Menschen wohlthut‚ – man triff t derartige wohlwollende Veranstaltungen nicht zu häufig in der Natur ! Und gerade eine solche verlästern und sie durch das böse Gewissen verderben ! Die Zeugung des Menschen mit dem bösen Gewissen verschwistern ! – Zuletzt hat diese Verteufelung des Eros einen Komödien-Ausgang bekommen : der „Teufel“ Eros ist allmählich den Menschen interessanter als alle Engel und Heiligen geworden, Dank der Munkelei und Geheimthuerei der Kirche in allen erotischen Dingen : sie hat bewirkt, bis in unsere Zeiten hinein, dass die L ieb e s g e s c h ic ht e das einzige wirkliche Interesse wurde, das a l le n Kreisen gemein ist, – in einer

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dem Alterthum unbegreiflichen Übertreibung, der später einmal auch noch das Gelächter nachfolgen wird. Unsere ganze Dichterei und Denkerei, vom Grössten bis zum Niedrigsten, ist durch die ausschweifende Wichtigkeit, mit der die Liebesgeschichte darin als Hauptgeschichte auftritt, gezeichnet und mehr als gezeichnet : vielleicht dass ihrethalben die Nachwelt urtheilt, auf der ganzen Hinterlassenschaft der christlichen Cultur liege etwas Kleinliches und Verrücktes. | 77. Von den Seelen-Ma r ter n. – Bei irgend welchen Martern, die Einer einem fremden Leibe zufügt, schreit jetzt Jedermann laut auf ; die Empörung gegen einen Menschen, der dessen fähig ist, bricht sofort los ; ja, wir zittern schon bei der Vorstellung einer Marter‚ welche einem Menschen oder Thiere zugefügt werden könnte, und leiden ganz unerträglich, von einer fest bewiesenen Thatsache dieser Art zu vernehmen. Aber man ist noch weit entfernt, in Betreff der Seelen-Martern und der Entsetzlichkeit ihrer Zufügung ebenso allgemein und bestimmt zu empfi nden. Das Christenthum hat sie in einem unerhörten Maasse zur Anwendung gebracht und predigt diese Art Folter noch fortwährend, ja, es klagt ganz unschuldig über Abfall und Lauwerden, wenn es einen Zustand ohne solche Martern antriff t, – Alles mit dem Ergebniss, dass die Menschheit sich gegen den geistigen Feuertod, die geistigen Foltern und Folterwerkzeuge heute noch mit der gleichen ängstlichen Geduld und Unentschlossenheit benimmt, wie ehemals gegen die Grausamkeit am Leibe von Mensch und Thier. Die Hölle ist wahrlich kein bloses Wort geblieben : und den neu geschaffenen wirklichen Höllenängsten hat auch eine neue Gattung des Mitleidens entsprochen, ein grässliches centnerschweres, früheren Zeiten unbekanntes Erbarmen mit solchen „unwider ruflich zur Hölle Verdammten“, wie es zum Beispiel der steinerne Gast gegen Don Juan zu er-

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kennen giebt und welches in den christlichen Jahrhunderten wohl zum Öfteren schon Steine zum Wehklagen gebracht hat. Plutarch giebt ein düsteres Bild vom Zustand eines Abergläubischen innerhalb des Heidenthums : | diess Bild wird harmlos, wenn man den Christen des Mittelalters dagegen hält, welcher mut h m a a s s t ‚ e r möchte der „ewigen Qual“ nicht mehr entrinnen können. Ihm zeigen sich entsetzliche Ankündiger : vielleicht ein Storch, der eine Schlange im Schnabel hält und noch z ög e r t , sie zu verschlucken. Oder die Natur wird plötzlich bleich, oder es fl iegen glühende Farben über den Boden hin. Oder die Gestalten von verstorbenen Anverwandten nahen, mit Gesichtern, welche Spuren furchtbarer Leiden tragen. Oder die dunklen Wände im Zimmer des Schlafenden erhellen sich und auf ihnen zeigen sich in gelbem Qualme Marterwerkzeuge und ein Gewirr von Schlangen und Teufeln. Ja, welche entsetzliche Stätte hat das Christenthum schon dadurch aus der Erde zu machen gewusst, dass es überall das Crucifi x aufrichtete und dergestalt die Erde als den Ort bezeichnete, „wo der Gerechte zu Tode g e m a r t e r t wird“ ! Und wenn die Gewalt grosser Bussprediger einmal all das heimliche Leiden der Einzelnen, die Marter des „Kämmerleins“ in die Öffentlichkeit trieb, wenn zum Beispiel ein Whitefield predigte „wie ein Sterbender zu Sterbenden“, bald heftig weinend, bald laut stampfend und leidenschaftlich, mit den einschneidendsten und plötzlichsten Tönen, und ohne Scheu davor, die ganze Wucht eines Angriffs auf eine einzelne anwesende Person zu richten und sie auf eine furchtbare Weise aus der Gemeinde auszusondern, – wie schien sich da jedesmal die Erde wirklich in die „Wiese des Unheils“ umwandeln zu wollen ! Man sah dann ganze zusammengeströmte Massen wie unter dem Anfall Eines Wahnsinns ; Viele in Krämpfen der Angst ; Andre lagen da, ohne Bewusstsein, bewegungslos : Einige zitterten | heftig oder durchschnitten die Luft mit durchdringendem‚ stundenlang anhaltendem Geschrei. Überall ein lau-

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tes Athmen, wie von Leuten, die halberwürgt nach Lebensluft schnappten. „Und wirklich, sagt ein Augenzeuge einer solchen Predigt, waren fast alle zu Gehör kommenden Laute diejenigen von Menschen, d ie i n b it t e r e r Q u a l s t e r b e n .“ – Vergessen wir nie, wie erst das Christenthum es war, das aus dem St e r b eb et t ein Marterbett gemacht hat, und dass mit den Scenen, welche auf ihm zeither gesehen wurden, mit den entsetzlichen Tönen, welche hier zum ersten Male möglich erschienen, die Sinne und das Blut zahlloser Zeugen für ihr Leben und das ihrer Nachkommen vergiftet worden sind ! Man denke sich einen harmlosen Menschen, der es nicht verwinden kann, einmal solche Worte gehört zu haben : „Oh Ewigkeit ! Oh dass ich keine Seele hätte ! Oh dass ich nie geboren wäre ! Ich bin verdammt, verdammt, auf immer verloren. Vor sechs Tagen hättet ihr mir helfen können. Aber es ist vorbei. Ich gehöre jetzt dem Teufel, ich will mit ihm zur Hölle gehen. Brechet, brechet, arme steinerne Herzen ! Wollt ihr nicht brechen ? Was kann noch mehr geschehen für steinerne Herzen ? Ich bin verdammt, damit ihr gerettet werdet ! Da ist er ! Ja, da ist er ! Komm, guter Teufel ! Komm !“ – 78. D ie s t r a f e nd e G e r e c ht i g k e it . – Unglück und Schuld, – diese beiden Dinge sind durch das Christenthum auf Eine Wage gesetzt worden : sodass, wenn das Unglück gross ist, das auf eine Schuld folgt, jetzt immer noch unwillkürlich die Grösse der Schuld selber darnach zurückbemessen wird. Diess aber ist nicht a nt i k , | und desshalb gehört die griechische Tragödie, in der so reichlich und doch in so anderem Sinne von Unglück und Schuld die Rede ist, zu den grossen Befreierinnen des Gemüths, in einem Maasse, wie es die Alten selber nicht empfi nden konnten. Sie waren so harmlos geblieben, zwischen Schuld und Unglück keine „adäquate Relation“ anzusetzen. Die Schuld ihrer tragischen Heroen ist wohl der

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kleine Stein, über welchen diese stolpern und desswegen sie wohl den Arm brechen oder sich ein Auge ausschlagen : die antike Empfi ndung sagte dazu : „Ja, er hätte etwas bedachtsamer und weniger übermüthig seinen Weg machen sollen !“ Aber erst dem Christenthum war es vorbehalten, zu sagen : „Hier ist ein schweres Unglück, und hinter ihm mu s s eine schwere, g le ic h s c hwe r e S c hu ld verborgen liegen, ob wir sie schon nicht deutlich sehen ! Empfi ndest du Unglücklicher nicht s o, so bist du ve r s t o c k t ‚ – du wirst noch Schlimmeres zu erleben haben !“ – Sodann gab es im Alterthum wirklich noch Unglück, reines, unschuldiges Unglück ; erst im Christenthum wird alles Strafe, wohlverdiente Strafe : es macht die Phantasie des Leidenden auch noch leidend, sodass er bei allem Übel-ergehen sich moralisch verwerflich und verworfen fühlt. Arme Menschheit ! – Die Griechen haben ein eigenes Wort für die Empörung über das Unglück des Andern : dieser Affect war unter christlichen Völkern unstatthaft und hat sich wenig entwickelt, und so fehlt ihnen auch der Name für diesen m ä n n l ic he r e n Bruder des Mitleidens. 79. Ein Vorsch lag. – Wenn unser Ich, nach Pascal und dem Christenthume, immer h a s s e n s we r t h ist, wie | dürften wir es auch nur gestatten und annehmen, dass Andre es liebten – sei es Gott oder Mensch ! Es wäre wider allen guten Anstand, sich lieben zu lassen und dabei recht wohl zu wissen, dass man nur Hass ve r d ie ne,  – um von anderen, abwehrenden Empfi ndungen zu schweigen.  – „Aber diess ist eben das Reich der Gnade.“ – So ist euch eure Nächstenliebe eine Gnade ? Euer Mitleid eine Gnade ? Nun, wenn euch diess möglich ist, so thut noch einen Schritt weiter : liebt euch selber aus Gnade, – dann habt ihr euren Gott gar nicht mehr nöthig, und das ganze Drama von Sündenfall und Erlösung spielt sich in euch selber zu Ende !

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80. D e r m it le id i g e C h r i s t . – Die Kehrseite des christlichen Mitleidens am Leiden des Nächsten ist die tiefe Beargwöhnung aller Freude des Nächsten, seiner Freude an Allem, was er will und kann. 81. Hu m a n it ät d e s He i l i g e n .  – Ein Heiliger war unter die Gläubigen gerathen und konnte ihren beständigen Hass auf die Sünde nicht mehr aushalten. Zuletzt sagte er : „Gott hat alle Dinge geschaffen, nur die Sünde nicht : was Wunder, dass er ihr nicht gewogen ist ?  – Aber der Mensch hat die Sünde geschaffen – und er sollte diess sein einziges Kind verstossen, blos weil es Gott, dem Grossvater der Sünde, missfällt ! Ist das human ? Alle Ehre Dem, dem Ehre gebührt ! – aber Herz und Pfl icht sollten doch zuerst für das Kind sprechen – und zuzweit erst für die Ehre des Grossvaters !“ | 82. Der g ei st l ic he Ü ber f a l l. – „Das musst du mit dir selber ausmachen, denn es gilt dein Leben,“ mit diesem Zurufe springt Luther heran und meint, wir fühlten uns das Messer an den Hals gelegt. Wir aber wehren ihn mit den Worten eines Höheren und Bedachtsameren von uns ab : „Es steht bei uns, über Diess und Das keine Meinung zu bilden und so unsrer Seele die Unruhe zu ersparen. Denn die Dinge selbst können ihrer Natur nach uns keine Urtheile a b nöt h i g e n .“ 83. A rme Mensch heit ! – Ein Tropfen Blut zu viel oder zu wenig im Gehirn kann unser Leben unsäglich elend und hart machen, dass wir mehr an diesem Tropfen zu leiden haben, als Prometheus an seinem Geier. Aber zum Schrecklichsten kommt es erst, wenn man nicht einmal we i s s , dass jener Tropfen die Ursache ist. Sondern „der Teufel“ ! Oder „die Sünde“ ! –

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84. D ie Ph i lolog i e d e s C h r i s t e nt hu m s.  – Wie wenig das Christenthum den Sinn für Redlichkeit und Gerechtigkeit erzieht, kann man ziemlich gut nach dem Charakter der Schriften seiner Gelehrten abschätzen : sie bringen ihre Muthmaassungen so dreist vor wie Dogmen und sind über der Auslegung einer Bibelstelle selten in einer redlichen Verlegenheit. Immer wieder heisst es „ich habe Recht, denn es steht geschrieben –“ und nun folgt eine unverschämte Willkürlichkeit der Auslegung, dass ein Philologe, der es hört, mitten zwischen Ingrimm und Lachen stehen bleibt und sich | immer wieder fragt : ist es möglich ! ist diess ehrlich ? Ist es auch nur anständig ? – Was in dieser Hinsicht immer noch auf protestantischen Kanzeln an Unredlichkeit verübt wird, wie plump der Prediger den Vortheil ausbeutet‚ dass ihm hier Niemand in’s Wort fällt, wie hier die Bibel gezwickt und gezwackt und die K u n s t d e s S c h lec ht-L e s e n s dem Volke in aller Form beigebracht wird : das unterschätzt nur Der, welcher nie oder immer in die Kirche geht. Zuletzt aber : was soll man von den Nachwirkungen einer Religion erwarten, welche in den Jahrhunderten ihrer Begründung jenes unerhörte philologische Possenspiel um das alte Testament aufgeführt hat : ich meine den Versuch, das alte Testament den Juden unter dem Leibe wegzuziehen, mit der Behauptung, es enthalte Nichts als christliche Lehren und g e hör e den Christen als dem w a h r e n Volke Israel : während die Juden es sich nur angemaasst hätten. Und nun ergab man sich einer Wuth der Ausdeutung und Unterschiebung, welche unmöglich mit dem guten Gewissen verbunden gewesen sein kann : wie sehr auch die jüdischen Gelehrten protestirten ; überall sollte im alten Testament von Christus und nur von Christus die Rede sein, überall namentlich von seinem Kreuze, und wo nur ein Holz, eine Ruthe, eine Leiter, ein Zweig, ein Baum, eine Weide, ein Stab genannt wird, da bedeute diess eine Prophezeiung auf

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das Kreuzesholz : selbst die Aufrichtung des Einhorns und der ehernen Schlange, selbst Moses, wenn er die Arme zum Gebet ausbreitet, ja selbst die Spiesse, an denen das Passah lamm gebraten wird, – alles Anspielungen und gleichsam Vorspiele des Kreuzes ! Hat diess jemals Jemand g e g l au bt , der es behauptete ? Man erwäge, | dass die Kirche nicht davor erschrak, den Text der Septuaginta zu bereichern (z. B. bei Psalm 96, V. 10), um die eingeschmuggelte Stelle nachher im Sinne der christ lichen Prophezeiung auszunützen. Man war eben im K a m pf e und dachte an die Gegner, und nicht an die Redlichkeit. 85. Fe i n he it i m M a n g e l . – Spottet nur nicht über die Mythologie der Griechen, weil sie so wenig eurer tiefsinnigen Metaphysik gleicht ! Ihr solltet ein Volk bewundern, das seinem scharfen Verstande hier gerade Halt gebot und lange Zeit Tact genug hatte, der Gefahr der Scholastik und des spitzfi ndigen Aberglaubens auszuweichen ! 86. D ie c h r i s t l ic he n I nt e r pr et e n d e s L ei b e s.  – Was nur immer von dem Magen, den Eingeweiden, dem Herzschlage, den Nerven, der Galle, dem Samen herkomme – alle jene Verstimmungen, Entkräftungen, Überreizungen, die ganze Zufälligkeit der uns so unbekannten Maschine ! – Alles das muss so ein Christ wie Pascal als ein moralisches und religiöses Phänomen nehmen, mit der Frage, ob Gott oder Teufel, ob gut oder böse, ob Heil oder Verdammniss darin ruhen ! Oh über den unglücklichen Interpreten ! Wie er sein System winden und quälen muss ! Wie er sich selber winden und quälen muss, um Recht zu behalten !

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87. Das sit t l ic he Wu nder. – Das Christenthum kennt im Sittlichen nur das Wunder : die plötzliche Veränderung aller Werthurtheile, das plötzliche Aufgeben aller | Gewohnheiten, die plötzliche unwiderstehliche Neigung zu neuen Gegenständen und Personen. Es fasst dieses Phänomen als die Wirkung Gottes und nennt es den Act der Wiedergeburt, es giebt ihm einen einzigen unvergleichlichen Werth, – Alles, was sonst Sittlichkeit heisst und ohne Bezug zu jenem Wunder ist, wird dem Christen damit gleichgültig, ja vielleicht sogar, als Wohlgefühl, Stolzgefühl, ein Gegenstand der Furcht. Im neuen Testament ist der Kanon der Tugend, des erfüllten Gesetzes aufgestellt : aber so, dass es der Kanon der u n mög l ic he n Tu g e nd ist : die sittlich noch s t r eb e nd e n Menschen sollen sich im Angesichte eines solchen Kanons ihrem Ziele immer f e r ne r fühlen lernen, sie sollen an der Tugend ve r z we i f e l n und sich endlich dem Erbarmenden a n’s H e r z we r f e n ,  – nur mit diesem Abschlusse konnte das sittliche Bemühen bei einem Christen noch als werthvoll gelten, vorausgesetzt also, dass es immer ein erfolgloses, unlustiges, melancholisches B e mü h e n bleibe ; so konnte es noch dazu d ie ne n , jene ekstatische Minute herbeizuführen, wo der Mensch den „Durchbruch der Gnade“ und das sittliche Wunder erlebt : – aber not hwe nd i g ist dieses Ringen nach Sittlichkeit nicht, denn jenes Wunder überfällt nicht selten gerade den Sünder, wenn er gleichsam vom Aussatze der Sünde blüht ; ja, es scheint selber der Sprung aus der tiefsten und gründlichsten Sündhaftigkeit in ihr Gegentheil etwas Leichteres und, als sinnfälliger B ewe i s des Wunders, auch etwas Wü n s c h b a r e r e s zu sein. – Wa s übrigens ein solcher plötzlicher vernunftloser und unwiderstehlicher Um s c h l a g , ein solcher Wechsel von tiefstem Elend und tiefstem Wohlgefühl physiologisch zu bedeuten habe (ob viel|leicht eine maskirte Epilepsie ?),  – das mögen die Irrenärzte erwägen, welche ja

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dergleichen „Wunder“ (zum Beispiel als Mordmanie‚ Manie des Selbstmordes) reichlich zu beobachten haben. Der verhältnissmässig „ a n g e ne h me r e E r f ol g“ im Falle des Christen macht keinen wesentlichen Unterschied. – 88. Lut her der g r os se Woh lt h äter. – Das Bedeutendste‚ was Luther gewirkt hat, liegt in dem Misstrauen, welches er gegen die Heiligen und die ganze christliche vita contemplativa geweckt hat : seitdem erst ist der Weg zu einer unchristlichen vita contemplativa in Europa wieder zugänglich geworden und der Verachtung der weltlichen Thätigkeit und der Laien ein Ziel gesetzt. Luther, der ein wackerer Bergmannssohn blieb, als man ihn in’s Kloster gesperrt hatte und hier, in Ermangelung anderer Tiefen und „Teufen“, in sich einstieg und schreckliche dunkle Gänge bohrte, – er merkte endlich, dass ein beschauliches heiliges Leben ihm unmöglich sei und dass seine angeborene „Activität“ in Seele und Leib ihn zu Grunde richten werde. Allzulange versuchte er mit Kasteiungen den Weg zum Heiligen zu fi nden, – endlich fasste er seinen Entschluss und sagte bei sich : „es g iebt gar keine wirkliche vita contemplativa ! Wir haben uns betrügen lassen ! Die Heiligen sind nicht mehr werth gewesen, als wir Alle.“ – Das war freilich eine bäuerische Art, Recht zu behalten,  – aber für Deutsche jener Zeit die rechte und einzige : wie erbaute es sie, nun in ihrem Lutherischen Katechismus zu lesen : „ausser den zehn Geboten giebt es k e i n Werk, das Gott g e f a l le n könnte, – die g e|r ü h mt e n geistlichen Werke der Heiligen sind selbsterdachte.“ 89. Zwei fe l a l s Sü nde. – Das Christenthum hat das Äusserste gethan, um den Cirkel zu schliessen und schon den Zweifel für Sünde erklärt. Man soll ohne Vernunft, durch ein Wunder, in den Glauben hineingeworfen werden und nun in ihm

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wie im hellsten und unzweideutigsten Elemente schwimmen : schon der Blick nach einem Festlande, schon der Gedanke, man sei vielleicht nicht zum Schwimmen allein da, schon die leise Regung unserer amphibischen Natur – ist Sünde ! Man merke doch, dass damit die Begründung des Glaubens und alles Nachdenken über seine Herkunft ebenfalls schon als sündhaft ausgeschlossen sind. Man will Blindheit und Taumel und einen ewigen Gesang über den Wellen, in denen die Vernunft ertrunken ist ! 90. Egoismus gegen Egoismus. – Wie Viele schliessen immer noch : „es wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn es keinen Gott gäbe !“ (oder, wie es in den Kreisen der Idealisten heisst : „es wäre das Leben nicht auszuhalten, wenn ihm die ethische Bedeutsamkeit seines Grundes fehlte !“) – folglich mü s s e es einen Gott (oder eine ethische Bedeutsamkeit des Daseins) geben ! In Wahrheit steht es nur so, dass, wer sich an diese Vorstellungen gewöhnt hat, ein Leben ohne sie nicht wünscht : dass es also für ihn und seine Erhaltung nothwendige Vorstellungen sein mögen,  – aber welche Anmaassung, zu decretiren‚ dass Alles, was für meine Erhaltung nothwendig ist, auch wirklich d a s e i n | müsse ! Als ob meine Erhaltung etwas Nothwendiges sei ! Wie, wenn Andere umgekehrt empfänden ! wenn sie gerade unter den Bedingungen jener beiden Glaubensartikel nicht leben möchten und das Leben dann nicht mehr lebenswerth fänden ! – Und so steht es jetzt ! 91. D ie R e d l ic h k e it G ot t e s . – Ein Gott, der allwissend und allmächtig ist und der nicht einmal dafür sorgt, dass seine Absicht von seinen Geschöpfen verstanden wird, – sollte das ein Gott der Güte sein ? Der die zahllosen Zweifel und Bedenken fortbestehen lässt, Jahrtausende lang, als ob sie für das Heil der Menschheit unbedenklich wären, und der doch

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wieder die entsetzlichsten Folgen bei einem Sich-vergreifen an der Wahrheit in Aussicht stellt ? Würde es nicht ein grausamer Gott sein, wenn er die Wahrheit hätte und es ansehen könnte, wie die Menschheit sich jämmerlich um sie quält ? – Aber vielleicht ist es doch ein Gott der Güte, – und er k on nt e sich nur nicht deutlicher ausdrücken ! So fehlte es ihm vielleicht an Geist dazu ? Oder an Beredtsamkeit ? Um so schlimmer ! Dann irrte er sich vielleicht auch in dem, was er seine „Wahrheit“ nennt, und er ist selber dem „armen betrogenen Teufel“ nicht so fern ! Muss er dann nicht beinahe Höllenqualen ausstehen, seine Geschöpfe um seiner Erkenntniss willen so, und in alle Ewigkeit fort noch schlimmer, leiden zu sehen und n ic ht rathen und helfen zu können, ausser wie ein Taubstummer, der allerhand vieldeutige Zeichen macht, wenn seinem Kinde oder Hunde die schrecklichste Gefahr auf dem Nacken sitzt ? – Einem derartig schliessenden und bedrängten Gläubigen wäre wahrlich | zu verzeihen, wenn ihm das Mitleiden mit dem leidenden Gott näher läge, als das Mitleiden mit den „Nächsten“, – denn es sind nicht mehr seine Nächsten, wenn jener Einsamste, Uranfänglichste auch der Leidendste, Trostbedürftigste von Allen ist. – Alle Religionen zeigen ein Merkmal davon, dass sie einer frühen unreifen Intellectualität der Menschheit ihre Herkunft verdanken, – sie alle nehmen es erstaunlich le ic ht mit der Verpfl ichtung, die Wahrheit zu sagen : sie wissen noch Nichts von einer P f l ic ht G ot t e s , gegen die Menschheit wahrhaftig und deutlich in der Mittheilung zu sein.  – Über den „verborgenen Gott“ und über die Gründe, sich so verborgen zu halten und immer nur halb mit der Sprache an’s Licht zu kommen, ist Niemand beredter gewesen, als Pascal, zum Zeichen, dass er sich nie darüber hat beruhigen können : aber seine Stimme klingt so zuversichtlich, als ob er einmal mit hinter dem Vorhang gesessen hätte. Er hatte die Witterung einer Unmoralität in dem „deus absconditus“ und die grösste Scham und Scheu davor, sich diess

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einzugestehen : und so redete er, wie Einer, der sich fürchtet, so laut als er konnte. 92. A m S t e r b e b e t t e d e s C h r i s t e nt hu m s .  – Die wirklich activen Menschen sind jetzt innerlich ohne Christenthum, und die mässigeren und betrachtsameren Menschen des geistigen Mittelstandes besitzen nur noch ein zurechtgemachtes, nämlich ein wunderlich ve r e i n f ac ht e s Christenthum. Ein Gott, der in seiner Liebe Alles so fügt, wie es uns schliesslich am besten sein wird, ein Gott, der uns unsere Tugend wie unser Glück | giebt und nimmt, sodass es im Ganzen immer recht und gut zugeht und kein Grund bleibt, das Leben schwer zu nehmen oder gar zu verklagen, kurz, die Resignation und Bescheidenheit zur Gottheit erhoben, – das ist das Beste und Lebendigste‚ was vom Christenthum noch übrig geblieben ist. Aber man sollte doch merken, dass damit das Christenthum in einen sanften Mor a l i s mu s übergetreten ist : nicht sowohl „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit“ sind übrig geblieben, als Wohlwollen und anständige Gesinnung und der Glaube, dass auch im ganzen All Wohlwollen und anständige Gesinnung herrschen werden : es ist die Eut h a n a s ie des Christenthums. 93. Was ist Wahrheit ? – Wer wird sich den Sc h lu ss der Gläubigen nicht gefallen lassen, welchen sie gern machen : „die Wissenschaft kann nicht wahr sein, denn sie leugnet Gott. Folglich ist sie nicht aus Gott ; folglich ist sie nicht wahr, – denn Gott ist die Wahrheit.“ Nicht der Schluss, sondern die Voraussetzung enthält den Fehler : wie, wenn Gott eben n ic ht die Wahrheit wäre, und eben diess bewiesen würde ? wenn er die Eitelkeit, das Machtgelüst‚ die Ungeduld, der Schrecken, der entzückte und entsetzte Wahn der Menschen wäre ?

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94. H e i l m it t e l d e r Ve r s t i m mt e n .  – Schon Paulus meinte, ein Opfer sei nöthig, damit die tiefe Verstimmung Gottes über die Sünde aufgehoben werde : und seitdem haben die Christen nicht aufgehört, ihr Missbehagen über sich selber an einem O pf e r auszulassen, – sei diess nun die „Welt“ oder die „Geschichte“ oder | die „Vernunft“ oder die Freude oder die friedliche Ruhe anderer Menschen, – irgend etwas G ut e s muss für i h r e Sünde sterben (wenn auch nur in effigie) ! 95. D ie h i s t or i s c he W id e rle g u n g a l s d ie e nd g ü lt i g e. – Ehemals suchte man zu beweisen, dass es keinen Gott gebe, – heute zeigt man, wie der Glaube, dass es einen Gott gebe, e nts t e he n konnte und wodurch dieser Glaube seine Schwere und Wichtigkeit erhalten hat : dadurch wird ein Gegenbeweis, dass es keinen Gott gebe, überflüssig. – Wenn man ehemals die vorgebrachten „Beweise vom Dasein Gottes“ widerlegt hatte, blieb immer noch der Zweifel, ob nicht noch bessere Beweise aufzufi nden seien, als die eben widerlegten : damals verstanden die Atheisten sich nicht darauf, reinen Tisch zu machen. 96. „ I n ho c s i g no v i nce s .“ – So vorgeschritten Europa auch sonst sein mag : in religiösen Dingen hat es noch nicht die freisinnige Naivität der alten Brahmanen erreicht, zum Zeichen, dass in Indien vor vier Jahrtausenden mehr gedacht wurde und mehr Lust am Denken vererbt zu werden pflegte, als jetzt unter uns. Jene Brahmanen nämlich glaubten erstens, dass die Priester mächtiger seien, als die Götter, und zweitens, dass die Bräuche es seien, worin die Macht der Priester begriffen liege : wesshalb ihre Dichter nicht müde wurden, die Bräuche (Gebete, Ceremonien, Opfer, Lieder, Metren) als die eigentlichen Geber alles Guten zu preisen. Wie viel Dichterei und

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Aberglaube hier auch | immer dazwischengelaufen sein mag : die Sätze sind w a h r ! Einen Schritt weiter : und man warf die Götter bei Seite, – was Europa auch einmal thun muss ! Noch einen Schritt weiter : und man hatte auch die Priester und Vermittler nicht mehr nöthig‚ und der Lehrer der R e l i g io n d e r S e l b s t e rlö s u n g , Buddha, trat auf : – wie ferne ist Europa noch von dieser Stufe der Cultur ! Wenn endlich auch alle Bräuche und Sitten vernichtet sind, auf welche die Macht der Götter, der Priester und Erlöser sich stützt, wenn also die Moral im alten Sinne gestorben sein wird : dann kommt – ja was kommt dann ? Doch rathen wir nicht herum, sondern sehen wir zunächst zu, dass Europa nachholt, was in Indien, unter dem Volke der Denker, schon vor einigen Jahrtausenden als Gebot des Denkens gethan wurde ! Es giebt jetzt vielleicht zehn bis zwanzig Millionen Menschen unter den verschiedenen Völkern Europa’s‚ welche nicht mehr „an Gott glauben“, – ist es zu viel gefordert, dass sie einander e i n Z e ic he n g e b e n ? Sobald sie sich derartig erk e n ne n , werden sie sich auch zu erkennen geben, – sie werden sofort eine Mac ht in Europa sein und, glücklicherweise, eine Macht z w i s c he n den Völkern ! Zwischen den Ständen ! Zwischen Arm und Reich ! Zwischen Befehlenden und Unterworfenen ! Zwischen den unruhigsten und den ruhigsten, beruhigendsten Menschen ! |

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97. Man wird moralisch, – nicht weil man moralisch ist ! – Die Unterwerfung unter die Moral kann sclavenhaft oder eitel oder eigennützig oder resignirt oder dumpf-schwärmerisch oder gedankenlos oder ein Act der Verzweiflung sein, wie die Unterwerfung unter einen Fürsten : an sich ist sie nichts Moralisches. 98. Wa nd e l d e r Mor a l . – Es giebt ein fortwährendes Umwandeln und Arbeiten an der Moral, – das bewirken die Ve r b r e c he n m it g lüc k l ic hem Au sg a n g e (wozu zum Beispiel alle Neuerungen des moralischen Denkens gehören). 99. Wor i n w i r A l le u nve r nü n f t i g s i nd . – Wir ziehen immer noch die Folgerungen von Urtheilen, die wir für falsch halten, von Lehren, an die wir nicht mehr glauben, – durch unsere Gefühle. 100. Vom Tr au me e r w ac he n . – Edle und weise Menschen haben einmal an die Musik der Sphären geglaubt : edle und weise Menschen glauben noch immer an die „sittliche Bedeutung des Daseins“. Aber eines Tages wird auch diese Sphärenmusik ihrem Ohre nicht mehr vernehmbar sein ! Sie erwachen und merken, dass ihr Ohr geträumt hatte. | 101. B e d e n k l ic h . – Einen Glauben annehmen, blos weil er Sitte ist, – das heisst doch : unredlich sein, feige sein, faul sein ! – Und so wären Unredlichkeit‚ Feigheit und Faulheit die Voraussetzungen der Sittlichkeit ?

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102. D ie ä lt e s t e n mor a l i s c he n Ur t he i le. – Wie machen wir es doch bei der Handlung eines Menschen in unsrer Nähe ? – Zunächst sehen wir darauf hin, was aus ihr f ü r u n s herauskommt, – wir sehen sie nur unter diesem Gesichtspunct. D ie s e Wirkung nehmen wir als die A b s ic ht der Handlung – und endlich legen wir ihm das Haben solcher Absichten als d au e r n d e Eigenschaft bei und nennen ihn zum Beispiel von nun an „einen schädlichen Menschen“. Dreifache Irrung ! Dreifacher uralter Fehlgriff ! Vielleicht unsre Erbschaft von den Thieren und ihrer Urtheilskraft her ! Ist nicht der Ur s p r u n g a l le r Mor a l in den abscheulichen kleinen Schlüssen zu suchen : „was m i r schadet, das ist etwas B ö s e s (an sich Schädigendes) ; was m i r nützt, das ist etwas G ut e s (an sich Wohlthuendes und Nutzenbringendes) ; was mir e i n m a l o d e r e i n i g e m a le schadet, das ist das Feindliche an sich und in sich ; was mir e i n m a l o d e r e i n i g e m a le nützt, das ist das Freundliche an sich und in sich.“ O pudenda origo ! Heisst das nicht : die erbärmliche, gelegentliche, oft zufällige R e l at io n eines Anderen zu uns als sein We s e n und Wesentlichstes auszudichten‚ und zu behaupten, er sei gegen alle Welt und gegen sich selber eben nur solcher Relationen fähig, dergleichen wir ein- oder einigemal erlebt haben ? Und sitzt hinter dieser wahren Narrheit nicht | noch der unbescheidenste aller Hintergedanken, dass wir selber das Princip des Guten sein müssen, weil sich Gutes und Böses nach uns bemisst ? – 103. Es g iebt z wei A r ten von Leug ner n der Sit t l ic h keit. – „Die Sittlichkeit leugnen“ – das kann e i n m a l heissen : leugnen, dass die sittlichen Motive, welche die Menschen a n g e b e n , wirklich sie zu ihren Handlungen getrieben haben, – es ist also die Behauptung, dass die Sittlichkeit in Worten bestehe und zur groben und feinen Betrügerei (namentlich Selbst-

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betrügerei) der Menschen gehöre, und vielleicht gerade bei den durch Tugend Berühmtesten am meisten. S o d a n n kann es heissen : leugnen, dass die sittlichen Urtheile auf Wahrheiten beruhen. Hier wird zugegeben, dass sie Motive des Handelns wirklich sind, dass aber auf diese Weise I r r t hüm e r, als Grund alles sittlichen Urtheilens, die Menschen zu ihren moralischen Handlungen treiben. Diess ist m e i n Gesichtspunct : doch möchte ich am wenigsten verkennen, dass i n s e h r v ie le n Fä l le n ein feines Misstrauen nach Art des ersten Gesichtspunctes, also im Geiste des La Rochefoucauld‚ auch im Rechte und jedenfalls vom höchsten allgemeinen Nutzen ist. – Ich leugne also die Sittlichkeit wie ich die Alchymie leugne, das heisst‚ ich leugne ihre Voraussetzungen : n ic ht aber, dass es Alchymisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. – Ich leugne auch die Unsittlichkeit : n ic ht , dass zahllose Menschen sich unsittlich f ü h le n , sondern dass es einen Grund in der Wa h r he it giebt, sich so zu fühlen. Ich leugne nicht, wie sich von selber | versteht – vorausgesetzt, dass ich kein Narr bin  –‚ dass viele Handlungen, welche unsittlich heissen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind ; ebenfalls, dass viele, die sittlich heissen, zu thun und zu fördern sind, – aber ich meine : das Eine wie das Andere au s a nd e r e n Gr ü nd e n , a l s b i s he r. Wir haben u m z u le r ne n ‚ – um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen : u m z u f ü h le n . 104. Unsere Wer thschät zungen. – Alle Handlungen gehen auf Werthschätzungen zurück, alle Werthschätzungen sind entweder e i g e ne oder a n g e nom me ne, – letztere bei Weitem die meisten. Warum nehmen wir sie an ? Aus Furcht,  – das heisst : wir halten es für rathsamer, uns so zu stellen, als ob sie auch die unsrigen wären – und gewöhnen uns an diese Verstellung, sodass sie zuletzt unsere Natur ist. Eigene Werth-

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schätzung : das will besagen, eine Sache in Bezug darauf messen, wie weit sie gerade uns und niemandem Anderen Lust oder Unlust macht, – etwas äusserst Seltenes ! – Aber wenigstens muss doch unsre Werthschätzung des Anderen, in der das Motiv dafür liegt, dass wir uns in den meisten Fällen s e i ne r Werthschätzung bedienen, von u n s ausgehen, unsere e i g e ne Bestimmung sein ? Ja, aber als K i nd e r machen wir sie, und lernen selten wieder um ; wir sind meist zeitlebens die Narren kindlicher angewöhnter Urtheile, in der Art, wie wir über unsre Nächsten (deren Geist, Rang, Moralität, Vorbildlichkeit, Verwerflichkeit) urtheilen und es nöthig fi nden, vor ihren Werthschätzungen zu huldigen. | 105. D e r S c he i n - E g oi s mu s . – Die Allermeisten, was sie auch immer von ihrem „Egoismus“ denken und sagen mögen, thun trotzdem ihr Lebenlang Nichts für ihr ego, sondern nur für das Phantom von ego, welches sich in den Köpfen ihrer Umgebung über sie gebildet und sich ihnen mitgetheilt hat, – in Folge dessen leben sie Alle zusammen in einem Nebel von unpersönlichen, halbpersönlichen Meinungen und willkürlichen, gleichsam dichterischen Werthschätzungen, Einer immer im Kopfe des Andern, und dieser Kopf wieder in anderen Köpfen : eine wunderliche Welt der Phantasmen, welche sich dabei einen so nüchternen Anschein zu geben weiss ! Dieser Nebel von Meinungen und Gewöhnungen wächst und lebt fast unabhängig von den Menschen, die er einhüllt ; in ihm liegt die ungeheure Wirkung allgemeiner Urtheile über „den Menschen“  – alle diese sich selber unbekannten Menschen glauben an das blutlose Abstractum „Mensch“, das heisst, an eine Fiction ; und jede Veränderung, die mit diesem Abstractum vorgenommen wird, durch die Urtheile einzelner Mächtiger (wie Fürsten und Philosophen), wirkt ausserordentlich und in unvernünftigem Maasse auf die grosse Mehrzahl,  –

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Alles aus dem Grunde, dass jeder Einzelne in dieser Mehrzahl kein wirkliches, ihm zugängliches und von ihm ergründetes ego der allgemeinen blassen Fiction entgegenzustellen und sie damit zu vernichten vermag. 106. Gegen d ie Def i n it ionen der mora l isc hen Ziele. – Man hört allerwärts jetzt das Ziel der Moral ungefähr so bestimmt : es sei die Erhaltung und Förderung der | Menschheit ; aber das heisst eine Formel haben wollen und weiter Nichts. Erhaltung, wor i n ? muss man sofort dagegen fragen, Förderung woh i n ? Ist nicht gerade das Wesentliche, die Antwort auf dieses Worin ? und Wohin ? in der Formel ausgelassen ? Was lässt sich also mit ihr für die Pfl ichtenlehre festsetzen, was nicht schon, stillschweigend und gedankenlos, jetzt als festgesetzt gilt ! Kann man aus ihr genügend absehen, o b man eine möglichst lange Existenz der Menschheit in’s Auge zu fassen habe ? Oder die möglichste Entthierung der Menschheit ? Wie verschieden würden in beiden Fällen die Mittel, das heisst die praktische Moral, sein müssen ! Gesetzt, man wollte der Menschheit die höchste ihr mögliche Vernünftigkeit geben : diess hiesse gewiss nicht ihr die höchste ihr mögliche Dauer verbürgen ! Oder gesetzt, man dächte an ihr „höchstes Glück“ als das Wohin und Worin : meint man dann den höchsten Grad, den allmählich einzelne Menschen erreichen könnten ? Oder eine, übrigens gar nicht zu berechnende letztens erreichbare Durchschnitts-Glückseligkeit Aller ? Und warum wäre die Moralität gerade der Weg dahin ? Ist nicht durch sie, im Grossen gesehen, eine solche Fülle von Unlust-Quellen aufgethan worden, dass man eher urtheilen könnte, mit jeder Verfeinerung der Sittlichkeit sei der Mensch bisher mit sich, mit seinem Nächsten und mit seinem Loose des Daseins u n z u f r ie d e ne r geworden ? Ist nicht der bisher moralischste Mensch des Glaubens gewesen, der einzig berechtigte Zu-

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stand des Menschen im Angesichte der Moral sei die t ie f s t e Un s e l i g k e it ? | 107. Un s e r A n r e c ht au f u n s e r e T horhe it . – Wie soll man handeln ? Wozu soll man handeln ?  – Bei den nächsten und gröbsten Bedürfnissen des Einzelnen beantworten sich diese Fragen leicht genug, aber in je feinere, umfänglichere und wichtigere Gebiete des Handelns man aufsteigt, um so unsicherer, folglich um so willkürlicher wird die Beantwortung sein. Nun aber soll hier gerade die Willkürlichkeit der Entscheidungen ausgeschlossen sein !  – so heischt es die Autorität der Moral : eine unklare Angst und Ehrfurcht soll den Menschen unverzüglich gerade bei jenen Handlungen leiten, deren Zwecke und Mittel ihm am wenigsten s of or t deutlich sind ! Diese Autorität der Moral unterbindet das Denken, bei Dingen, wo es gefährlich sein könnte, f a l s c h zu denken – : dergestalt pflegt sie sich vor ihren Anklägern zu rechtfertigen. Falsch : das heisst hier „gefährlich“, – aber gefährlich für wen ? Gewöhnlich ist es eigentlich nicht die Gefahr des Handelnden, welche die Inhaber der autoritativen Moral im Auge haben, sondern i h r e Gefahr, ihre mögliche Einbusse an Macht und Geltung, sobald das Recht, willkürlich und thöricht, nach eigener, kleiner oder grosser Vernunft zu handeln, Allen zugestanden wird : für sich selber nämlich machen sie unbedenklich Gebrauch von dem Rechte der Willkürlichkeit und Thorheit, – sie b e f e h le n , auch wo die Fragen „wie soll ich handeln ? wozu soll ich handeln ?“ kaum oder schwierig genug zu beantworten sind. – Und wenn die Ve r nu n f t der Menschheit so ausserordentlich langsam wächst, dass man dieses Wachsthum für den ganzen Gang der Menschheit oft geleugnet hat : was trägt mehr die Schuld daran, | als diese feierliche Anwesenheit, ja Allgegenwart moralischer Befehle, welche der i nd i v id ue l le n Frage nach dem Wozu ? und dem Wie ? gar nicht gestattet, laut zu werden ? Sind wir nicht dar-

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aufhin erzogen, gerade dann p at het i s c h z u f ü h le n und uns in’s Dunkle zu flüchten, wenn der Verstand so klar und kalt wie möglich blicken sollte ! Nämlich bei allen höheren und wichtigeren Angelegenheiten. 108. E i n i g e T he s e n . – Dem Individuum, s of e r n es sein Glück will, soll man keine Vorschriften über den Weg zum Glück geben : denn das individuelle Glück quillt aus eigenen, Jedermann unbekannten Gesetzen, es kann mit Vorschriften von Aussen her nur verhindert, gehemmt werden. – Die Vorschriften, welche man „moralisch“ nennt, sind in Wahrheit gegen die Individuen gerichtet und wollen durchaus nicht deren Glück. Ebenso wenig beziehen sich diese Vorschriften auf das „Glück und die Wohlfahrt der Menschheit“, – mit welchen Worten strenge Begriffe zu verbinden überhaupt nicht möglich ist, geschweige dass man sie als Leitsterne auf dem dunklen Ozean moralischer Bestrebungen gebrauchen könnte. – Es ist nicht wahr, dass die Moralität, wie das Vorurtheil will, der Entwickelung der Vernunft günstiger sei als die Un moralität. – Es ist nicht wahr, dass das u nbew usste Ziel in der Entwickelung jedes bewussten Wesens (Thier, Mensch, Menschheit u. s. w.) sein „höchstes Glück“ sei : vielmehr giebt es auf allen Stufen der Entwickelung ein besonderes und unvergleichbares, weder höheres noch niederes, sondern eben eigenthümliches Glück zu erlangen. Entwickelung will nicht Glück, sondern Entwickelung | und weiter Nichts.  – Nur wenn die Menschheit ein allgemein anerkanntes Z ie l hätte, könnte man vorschlagen „so und so s ol l gehandelt werden“ : einstweilen giebt es kein solches Ziel. Also soll man die Forderungen der Moral nicht in Beziehung zur Menschheit setzen, es ist diess Unvernunft und Spielerei.  – Der Menschheit ein Ziel a n e m pf e h le n ist etwas ganz Anderes : dann ist das Ziel als Etwas gedacht, das i n u n s e r e m B e l ieb e n

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i s t ; gesetzt, es beliebte der Menschheit so wie vorgeschlagen wird, so könnte sie sich daraufhin auch ein Moralgesetz g e b e n , ebenfalls aus ihrem Belieben heraus. Aber bisher sollte das Moralgesetz ü b e r dem Belieben stehen : man wollte diess Gesetz sich nicht eigentlich g eb e n , sondern es irgendwoher ne h me n oder irgendwo es au f f i nd e n oder irgendwoher es s ic h b e f e h le n l a s s e n . 109. Selbst-Beher rsc hu ng u nd Mässig u ng u nd i h r let ztes Mot iv. – Ich fi nde nicht mehr als sechs wesentlich verschiedene Methoden, um die Heftigkeit eines Triebes zu bekämpfen. Einmal kann man den Anlässen zur Befriedigung des Triebes ausweichen und durch lange und immer längere Zeitstrecken der Nichtbefriedigung ihn schwächen und abdorren machen. Sodann kann man eine strenge regelmässige Ordnung in seiner Befriedigung sich zum Gesetz machen ; indem man in ihn selber auf diese Weise eine Regel bringt und seine Fluth und Ebbe in feste Zeitgränzen einschliesst, hat man Zwischenzeiten gewonnen, wo er nicht mehr stört, – und von da aus kann man vielleicht zur ersten Methode übergehen. Drittens kann man sich | absichtlich einer wilden und unbändigen Befriedigung eines Triebes überlassen, um den Ekel davon einzuernten und mit dem Ekel eine Macht über den Trieb zu erlangen : vorausgesetzt, dass man es nicht dem Reiter gleich thut, der sein Pferd zu Tode hetzt und selber dabei den Hals bricht, – was leider die Regel bei diesem Versuche ist. Viertens giebt es einen intellectuellen Kunstgriff, nämlich mit der Befriedigung überhaupt irgend einen sehr peinlichen Gedanken so fest zu verbinden, dass, nach einiger Übung, der Gedanke der Befriedigung immer sogleich selber als sehr peinlich empfunden wird (zum Beispiel wenn der Christ sich gewöhnt, an die Nähe und den Hohn des Teufels beim Geschlechtsgenusse, oder an ewige Höllenstrafen für einen Mord aus Rache, oder auch nur an die Verächtlichkeit zu den-

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ken, welche zum Beispiel einem Geld-Diebstahl im Auge der von ihm verehrtesten Menschen folgt, oder wenn Mancher schon zu hundert Malen einem heftigen Verlangen nach dem Selbstmord die Vorstellung des Jammers und der Selbstvorwürfe von Verwandten und Freunden entgegengestellt und damit sich auf der Schwebe des Lebens erhalten hat : – jetzt folgen diese Vorstellungen in ihm auf einander, wie Ursache und Wirkung). Hierhin gehört es auch, wenn der Stolz des Menschen, wie zum Beispiel bei Lord Byron und Napoleon, sich aufbäumt, und das Übergewicht eines einzelnen Affectes über die gesammte Haltung und die Ordnung der Vernunft als Beleidigung empfi ndet : woraus dann die Gewohnheit und die Lust entsteht, den Trieb zu tyrannisiren und ihn gleichsam knirschen zu machen. („Ich will nicht der Sclave irgend eines Appetites sein“ – schrieb Byron in sein Tage|buch.) Fünftens : man nimmt eine Dislocation seiner Kraftmengen vor, indem man sich irgend eine besonders schwere und anstrengende Arbeit auferlegt oder sich absichtlich einem neuen Reize und Vergnügen unterwirft und dergestalt Gedanken und physisches Kräftespiel in andere Bahnen lenkt. Eben darauf läuft es auch hinaus, wenn man einen anderen Trieb zeitweilig begünstigt, ihm reiche Gelegenheit der Befriedigung giebt und ihn so zum Verschwender jener Kraft macht, über welche sonst der durch seine Heftigkeit lästig gewordene Trieb gebieten würde. Dieser oder Jener versteht es wohl auch, den einzelnen Trieb, der den Gewaltherrn spielen möchte, dadurch im Zaume zu halten, dass er allen seinen ihm bekannten anderen Trieben eine zeitweilige Aufmunterung und Festzeit giebt und sie das Futter aufzehren heisst, welches der Tyrann für sich allein haben will. Endlich sechstens : wer es aushält und vernünftig fi ndet, seine g e s a m mt e leibliche und seelische Organisation zu schwächen und niederzudrücken, der erreicht natürlich das Ziel der Schwächung eines einzelnen heftigen Triebes ebenfalls damit : wie zum Beispiel Der thut,

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welcher seine Sinnlichkeit aushungert und dabei freilich auch seine Rüstigkeit und nicht selten seinen Verstand mit aushungert und zu Schanden macht, gleich dem Asketen.  – Also : den Anlässen ausweichen, Regel in den Trieb hineinpflanzen, Übersättigung und Ekel an ihm erzeugen, und die Association eines quälenden Gedankens (wie den der Schande, der bösen Folgen oder des beleidigten Stolzes) zu Stande bringen, sodann die Dislocation der Kräfte und endlich die allgemeine Schwächung und Erschöpfung,  – das sind die sechs Methoden : d a s s | man aber überhaupt die Heftigkeit eines Triebes bekämpfen w i l l , steht nicht in unserer Macht, ebenso wenig, auf welche Methode man verfällt, ebenso wenig, ob man mit dieser Methode Erfolg hat. Vielmehr ist unser Intellect bei diesem ganzen Vorgange ersichtlich nur das blinde Werkzeug eines a nd er e n Tr ieb e s, welcher ein R iva l dessen ist, der uns durch seine Heftigkeit quält : sei es der Trieb nach Ruhe oder die Furcht vor Schande und anderen bösen Folgen oder die Liebe. Während „wir“ uns also über die Heftigkeit eines Triebes zu beklagen meinen, ist es im Grunde ein Trieb, we lc he r ü b e r e i ne n a nd e r e n k l a g t ; das heisst : die Wahrnehmung des Leidens an einer solchen He f t i g k e it setzt voraus, dass es einen ebenso heftigen oder noch heftigeren anderen Trieb giebt, und dass ein K a m pf bevorsteht, in welchem unser Intellect Partei nehmen muss. – 110. D a s , w a s s ic h w id e r s et z t .  – Man kann folgenden Vorgang an sich beobachten, und ich wollte, er würde oft beobachtet und bestätigt. Es entsteht in uns die Witterung einer Art von Lu s t , die wir noch nicht kannten, und folglich entsteht ein neues Ve rl a n g e n . Nun kommt es darauf an, w a s diesem Verlangen s i c h w i d e r s e t z t : sind es Dinge und Rücksichten gemeinerer Art, auch Menschen, welche wenig in unserer Achtung gelten, – so umkleidet sich das Ziel des

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neuen Verlangens mit der Empfi ndung „edel, gut, lobenswerth, opferwürdig,“ die ganze vererbte moralische Anlage nimmt es nunmehr in sich auf, legt es zu ihren als moralisch empfundenen Zielen – und jetzt meinen wir nicht mehr nach einer Lust, sondern nach einer Moralität zu | streben : was die Zuversichtlichkeit unseres Strebens sehr vermehrt. 111. A n d ie B ew u nd e r e r d e r O bje c t i v it ät . – Wer als Kind mannichfaltige und starke Gefühle, aber wenig feines Urtheil und Lust an der intellectualen Gerechtigkeit, bei den Verwandten und Bekannten, unter denen er aufwuchs, wahrgenommen und folglich im Nachbilden von Gefühlen seine beste Kraft und Zeit verbraucht hat : bemerkt als Erwachsener an sich, dass jedes neue Ding, jeder neue Mensch sofort Zuneigung oder Abneigung oder Neid oder Verachtung in ihm rege macht ; unter dem Drucke dieser Erfahrung, gegen den er sich ohnmächtig fühlt, bewundert er die Neut r a l it ät d e r E m pf i nd u n g , oder die „Objectivität“, wie ein Wunderding‚ als Sache des Genie’s oder der seltensten Moralität, und will nicht daran glauben, dass auch sie nur d a s K i nd d e r Zuc ht u nd G ewoh n he it i s t . 112. Zu r Nat u rgesc h ic hte von P f l ic ht u nd Rec ht. – Unsere Pfl ichten  – das sind die Rechte Anderer auf uns. Wodurch haben sie diese erworben ? Dadurch, dass sie uns für vertragsund vergeltungsfähig nahmen, für gleich und ähnlich mit sich ansetzten, dass sie uns daraufhin Etwas anvertrauten, uns erzogen, zurechtwiesen, unterstützten. Wir erfüllen unsre Pfl icht  – das heisst : wir rechtfertigen jene Vorstellung von unserer Macht, auf welche hin uns Alles erwiesen wurde, wir geben zurück, in dem Maasse, als man uns gab. So ist es unser Stolz, der die Pfl icht zu thun gebeut, – wir wollen unsre Selbstherrlichkeit wiederherstellen, | wenn wir dem, was

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Andre für uns thaten, Etwas entgegenstellen, das wir für sie thun‚ – denn Jene haben damit in die Sphäre unserer Macht eingegriffen und würden dauernd ihre Hand in ihr haben, wenn wir nicht mit der „Pfl icht“ eine Wiedervergeltung übten, das heisst in ihre Macht eingriffen. Nur auf Das, was in unsrer Macht steht, können sich die Rechte Anderer beziehen ; es wäre unvernünftig, wenn sie Etwas von uns wollten, das uns selber nicht gehört. Genauer muss man sagen : nur auf Das, was sie meinen, dass es in unserer Macht steht, voraussetzend, dass es das Selbe ist, von dem wir meinen, es stehe in unserer Macht. Es könnte leicht auf beiden Seiten der gleiche Irrthum sein : das Gefühl der Pfl icht hängt daran, dass wir in Bezug auf den Umkreis unserer Macht den selben G l au b e n haben, wie die Anderen : nämlich dass wir bestimmte Dinge versprechen, uns zu ihnen verpfl ichten k ö n n e n („Freiheit des Willens“).  – Meine Rechte : das ist jener Theil meiner Macht, den mir die Anderen nicht nur zugestanden haben, sondern in welchem sie mich erhalten wollen. Wie kommen diese Anderen dazu ? Einmal : durch ihre Klugheit und Furcht und Vorsicht : sei es, dass sie etwas Ähnliches von uns zurückerwarten (Schutz ihrer Rechte), dass sie einen Kampf mit uns für gefährlich oder unzweckmässig halten, dass sie in jeder Verringerung unserer Kraft einen Nachtheil für sich erblikken, weil wir dann zum Bündniss mit ihnen im Gegensatz zu einer feindseligen dritten Macht ungeeignet werden. Sodann : durch Schenkung und Abtretung. In diesem Falle haben die Anderen Macht genug und übergenug‚ um davon abgeben zu können und das abgegebene Stück Dem, welchem sie | es schenkten, zu verbürgen : wobei ein geringes Machtgefühl bei Dem, der sich beschenken lässt, vorausgesetzt wird. So entstehen Rechte : anerkannte und gewährleistete Machtgrade. Verschieben sich die Machtverhältnisse wesentlich, so vergehen Rechte und es bilden sich neue, – diess zeigt das Völkerrecht in seinem fortwährenden Vergehen und Entstehen. Nimmt

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unsere Macht wesentlich ab, so verändert sich das Gefühl Derer, welche bisher unser Recht gewährleisteten : sie ermessen, ob sie uns wieder in den alten Vollbesitz bringen können, – fühlen sie sich hierzu ausser Stande, so leugnen sie von da an unsere „Rechte“. Ebenso, wenn unsere Macht erheblich zunimmt, verändert sich das Gefühl Derer‚ welche sie bisher anerkannten und deren Anerkennung wir nun nicht mehr brauchen : sie versuchen wohl, dieselbe auf das frühere Maass herabzudrücken, sie werden eingreifen wollen und sich auf ihre „Pfl icht“ dabei berufen, – aber diess ist nur ein unnützes Wortemachen. Wo Recht her r s c ht , da wird ein Zustand und Grad von Macht aufrecht erhalten, eine Verminderung und Vermehrung abgewehrt. Das Recht Anderer ist die Concession unseres Gefühls von Macht an das Gefühl von Macht bei diesen Anderen. Wenn sich unsere Macht tief erschüttert und gebrochen zeigt, so hören unsere Rechte auf : dagegen hören, wenn wir sehr viel mächtiger geworden sind, die Rechte Anderer für uns auf, wie wir sie bis jetzt ihnen zugestanden. – Der „billige Mensch“ bedarf fortwährend des feinen Tactes einer Wage : für die Macht- und Rechtsgrade, welche, bei der vergänglichen Art der menschlichen Dinge, immer nur eine kurze Zeit im Gleichgewichte schweben werden, zumeist aber sinken oder steigen : – | billig sein ist folglich schwer und erfordert viel Übung, guten Willen und sehr viel sehr guten G e i s t . – 113. D a s St r eb e n n ac h Au s z e ic h nu n g. – Das Streben nach Auszeichnung hat fortwährend ein Augenmerk auf den Nächsten und will wissen, wie es ihm zu Muthe ist : aber die Mitempfi ndung und das Mitwissen, welche dieser Trieb zu seiner Befriedigung nöthig hat, sind weit davon entfernt, harmlos oder mitleidig oder gütig zu sein. Man will vielmehr wahrnehmen oder errathen, wie der Nächste an uns äusserlich oder innerlich le id et , wie er die Gewalt über sich verliert und dem

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Eindrucke nachgiebt, den unsere Hand oder auch nur unser Anblick auf ihn machen ; und selbst wenn der nach Auszeichnung Strebende einen freudigen, erhebenden oder erheiternden Eindruck macht und machen wollte, so geniesst er diesen Erfolg doch nicht, insofern er dabei den Nächsten erfreute, erhob, erheiterte, sondern insofern er sich der fremden Seele e i nd r üc k t e, deren Form veränderte und nach seinem Willen über ihr waltete. Das Streben nach Auszeichnung ist das Streben nach Überwältigung des Nächsten, sei es auch eine sehr mittelbare und nur gefühlte oder gar erträumte. Es giebt eine lange Reihe von Graden dieser heimlich begehrten Überwältigung, und ein vollständiges Verzeichniss derselben käme beinahe einer Geschichte der Cultur gleich, von der ersten noch fratzenhaften Barbarei an bis zur Fratze der Überfeinerung und der krankhaften Idealität hinauf. Das Streben nach Auszeichnung bringt f ü r d e n Näc h s t e n mit sich – um nur einige Stufen dieser langen Leiter mit Namen zu nen|nen – : Martern, dann Schläge, dann Entsetzen, dann angstvolles Erstaunen, dann Verwunderung, dann Neid, dann Bewunderung, dann Erhebung, dann Freude, dann Heiterkeit, dann Lachen, dann Verlachen, dann Verspotten‚ dann Verhöhnen, dann Schläge-austheilen, dann Martern-anthun :  – hier am Ende der Leiter steht der A s k et und Märtyrer, er empfi ndet den höchsten Genuss dabei, eben Das als Folge seines Triebes nach Auszeichnung selber davon zu tragen, was sein Gegenbild auf der ersten Sprosse der Leiter, der B a r b a r, dem Anderen zu leiden giebt, an dem und vor dem er sich auszeichnen will. Der Triumph des Asketen über sich selber, sein dabei nach Innen gewendetes Auge, welches den Menschen zu einem Leidenden und zu einem Zuschauenden zerspaltet sieht und fürderhin in die Aussenwelt nur hineinblickt, um aus ihr gleichsam Holz zum eigenen Scheiterhaufen zu sammeln, diese letzte Tragödie des Triebes nach Auszeichnung, bei der es nur noch Eine Person giebt, welche in sich selber

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verkohlt, – das ist der würdige Abschluss, der zu dem Anfange gehört : beidemal ein unsägliches Glück beim A n bl ic k vo n M a r t e r n ! In der That‚ das Glück, als das lebendigste Gefühl der Macht gedacht, ist vielleicht auf der Erde nirgendwo grösser gewesen, als in den Seelen abergläubischer Asketen. Diess drücken die Brahmanen in der Geschichte vom König Viçvamitra aus, der aus tausendjährigen Bu s s ü bu n g e n eine solche Kraft schöpfte, dass er es unternahm, einen neuen H i m me l zu erbauen. Ich glaube, in dieser ganzen Gattung innerer Erlebnisse sind wir jetzt grobe Neulinge und tastende Räthselrather ; vier Jahrtausende früher wusste man mehr von diesen verruchten Ver|feinerungen des Selbstgenusses. Die Schöpfung der Welt : vielleicht, dass sie damals von einem indischen Träumer als eine asketische Procedur gedacht worden ist, welche ein Gott mit sich vornimmt ! Vielleicht, dass der Gott sich in die bewegte Natur wie in ein Marterwerkzeug bannen wollte, um dabei seine Seligkeit und Macht verdoppelt zu fühlen ! Und gesetzt, es wäre gar ein Gott der Liebe : welcher Genuss für einen solchen, le id e nd e Menschen zu schaffen, an der ungestillten Marter im Anblick derselben recht göttlich und übermenschlich zu leiden und sich dergestalt selber zu tyrannisiren ! Und gar gesetzt, es wäre nicht nur ein Gott der Liebe, sondern auch ein Gott der Heiligkeit und Sündlosigkeit : welche Delirien des göttlichen Asketen sind zu ahnen, wenn er Sünde und Sünder und ewige Verdammnisse und unter seinem Himmel und Throne eine ungeheure Stätte der ewigen Qual und des ewigen Stöhnens und Seufzens schaff t ! – Es ist nicht ganz unmöglich, dass auch die Seelen des Paulus, des Dante, des Calvin und ihres Gleichen einmal in die schauerlichen Geheimnisse solcher Wollüste der Macht eingedrungen sind ; – und angesichts solcher Seelen kann man fragen : ja, ist denn wirklich der Kreislauf im Streben nach Auszeichnung mit dem Asketen am letzten Ende angelangt und in sich abgerollt ? Könnte dieser Kreis nicht noch einmal von Anfang an

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durchlaufen werden, mit der festgehaltenen Grundstimmung des Asketen und zugleich des mitleidenden Gottes ? Also Anderen wehe thun, um s ic h dadurch wehe zu thun, um damit wiederum über sich und sein Mitleiden zu triumphiren und in der äussersten Macht zu schwelgen ! – Verzeihung für die Ausschweifung im | Nachdenken über Alles, was in der seelischen Ausschweifung des Machtgelüstes auf Erden schon möglich gewesen sein kann ! 114. Vo n d e r E r k e n nt n i s s d e s L e i d e nd e n .  – Der Zustand kranker Menschen, die lange und furchtbar von ihren Leiden gemartert werden und deren Verstand trotzdem dabei sich nicht trübt, ist nicht ohne Werth für die Erkenntniss‚ – noch ganz abgesehen von den intellectuellen Wohlthaten, welche jede tiefe Einsamkeit, jede plötzliche und erlaubte Freiheit von allen Pfl ichten und Gewohnheiten mit sich bringen. Der Schwerleidende sieht aus seinem Zustande mit einer entsetzlichen Kälte h i n au s auf die Dinge : alle jene kleinen lügnerischen Zaubereien, in denen für gewöhnlich die Dinge schwimmen, wenn das Auge des Gesunden auf sie blickt, sind ihm verschwunden : ja, er selber liegt vor sich da ohne Flaum und Farbe. Gesetzt, dass er bisher in irgend einer gefährlichen Phantasterei lebte : diese höchste Ernüchterung durch Schmerzen ist das Mittel, ihn herauszureissen : und vielleicht das einzige Mittel. (Es ist möglich, dass diess dem Stifter des Christenthums am Kreuze begegnete : denn die bittersten aller Worte „mein Gott, warum hast du mich verlassen !“ enthalten, in aller Tiefe verstanden, wie sie verstanden werden dürfen, das Zeugniss einer allgemeinen Enttäuschung und Aufklärung über den Wahn seines Lebens ; er wurde in dem Augenblicke der höchsten Qual hellsichtig über sich selber, so wie der Dichter es von dem armen sterbenden Don Quixote erzählt.) Die ungeheure Spannung des Intellectes‚ welcher

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dem Schmerz Widerpart halten will, macht, dass Alles, | worauf er nun blickt, in einem neuen Lichte leuchtet : und der unsägliche Reiz, den alle neuen Beleuchtungen geben, ist oft mächtig genug, um allen Anlockungen zum Selbstmorde Trotz zu bieten und das Fortleben dem Leidenden als höchst begehrenswerth erscheinen zu lassen. Mit Verachtung gedenkt er der gemüthlichen warmen Nebelwelt, in der der Gesunde ohne Bedenken wandelt ; mit Verachtung gedenkt er der edelsten und geliebtesten Illusionen, in denen er früher mit sich selber spielte ; er hat einen Genuss daran, diese Verachtung wie aus der tiefsten Hölle heraufzubeschwören und der Seele so das bitterste Leid zu machen : durch dieses Gegengewicht hält er eben dem physischen Schmerze Stand, – er fühlt es, dass gerade diess Gegengewicht jetzt noththut ! In einer schauerlichen Hellsichtigkeit über sein Wesen ruft er sich zu : „sei einmal dein eigener Ankläger und Henker, nimm einmal dein Leiden als die von dir über dich verhängte Strafe ! Geniesse deine Überlegenheit als Richter ; mehr noch : geniesse dein Belieben, deine tyrannische Willkür ! Erhebe dich über dein Leben wie über dein Leiden, sieh hinab in die Gründe und die Grundlosigkeit !“ Unser Stolz bäumt sich auf, wie noch nie : es hat für ihn einen Reiz ohne Gleichen, gegen einen solchen Tyrannen wie der Schmerz ist, und gegen alle die Einflüsterungen, die er uns macht, damit wir gegen das Leben Zeugniss ablegen, – gerade das L eb e n gegen den Tyrannen zu ve r t r et e n . In diesem Zustande wehrt man sich mit Erbitterung gegen jeden Pessimismus, damit er nicht als Fol g e unseres Zustandes erscheine und uns als Besiegte demüthige. Nie ist ebenfalls der Reiz, Gerechtigkeit des Urtheils zu üben, | grösser‚ als jetzt, denn jetzt ist es ein Triumph über uns und den reizbarsten aller Zustände, der jede Ungerechtigkeit des Urtheils entschuldbar machen würde ; – aber wir wollen nicht entschuldigt sein, gerade jetzt wollen wir zeigen, dass wir „ohne Schuld“ sein können. Wir befi nden uns

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in förmlichen Krämpfen des Hochmuths. – Und nun kommt der erste Dämmerschein der Milderung, der Genesung – und fast die erste Wirkung ist, dass wir uns gegen die Übermacht unseres Hochmuthes wehren : wir nennen uns darin albern und eitel, – als ob wir Etwas erlebt hätten, das einzig wäre ! Wir demüthigen ohne Dankbarkeit den allmächtigen Stolz, durch den wir eben den Schmerz ertrugen und verlangen heftig nach einem Gegengift des Stolzes : wir wollen uns entfremdet und entpersönlicht werden, nachdem der Schmerz uns zu gewaltsam und zu lange p e r s ö n l ic h gemacht hatte. „Weg, weg mit diesem Stolze ! rufen wir, er war eine Krankheit und ein Krampf mehr !“ Wir sehen wieder hin auf Menschen und Natur – mit einem verlangenderen Auge : wir erinnern uns wehmüthig lächelnd, dass wir Einiges in Bezug auf sie jetzt neu und anders wissen, als vorher, dass ein Schleier gefallen ist, – aber es e r q u ic k t uns so, wieder die g e d ä m pft e n L ic ht e r d e s L eb e n s zu sehen und aus der furchtbaren nüchternen Helle herauszutreten, in welcher wir als Leidende die Dinge und durch die Dinge hindurch sahen. Wir zürnen nicht, wenn die Zaubereien der Gesundheit wieder zu spielen beginnen, – wir sehen wie umgewandelt zu, milde und immer noch müde. In diesem Zustande kann man nicht Musik hören, ohne zu weinen. – | 115. D a s s og e n a n nt e „ Ic h “. – Die Sprache und die Vorurtheile, auf denen die Sprache aufgebaut ist, sind uns vielfach in der Ergründung innerer Vorgänge und Triebe hinderlich : zum Beispiel dadurch, dass eigentlich Worte allein für s u p e rl at i v i s c he Grade dieser Vorgänge und Triebe da sind – ; nun aber sind wir gewohnt, dort, wo uns Worte fehlen, nicht mehr genau zu beobachten, weil es peinlich ist, dort noch genau zu denken ; ja, ehedem schloss man unwillkürlich, wo das Reich der Worte aufhöre‚ höre auch das Reich des Daseins auf. Zorn, Hass, Liebe, Mitleid, Begehren, Erkennen, Freude,

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Schmerz, – das sind Alles Namen für e x t r e me Zustände : die milderen mittleren und gar die immerwährend spielenden niederen Grade entgehen uns, und doch weben sie gerade das Gespinst unseres Charakters und Schicksals. Jene extremen Ausbrüche – und selbst das mässigste u n s b ew u s s t e Wohlgefallen oder Missfallen beim Essen einer Speise, beim Hören eines Tones ist vielleicht immer noch, richtig abgeschätzt, ein extremer Ausbruch – zerreissen sehr oft das Gespinst und sind dann gewaltthätige Ausnahmen, zumeist wohl in Folge von Aufstauungen : – und wie vermögen sie als solche den Beobachter irre zu führen ! Nicht weniger, als sie den handelnden Menschen in die Irre führen. W i r s i nd A l le n ic ht D a s , als was wir nach den Zuständen erscheinen, für die wir allein Bewusstsein und Worte – und folglich Lob und Tadel – haben ; wir ve r k e n ne n uns nach diesen gröberen Ausbrüchen, die uns allein bekannt werden, wir machen einen Schluss aus einem Material, in welchem die Ausnahmen die Regel überwiegen, wir verlesen | uns in dieser scheinbar deutlichsten Buchstabenschrift unseres Selbst. Un s e r e Me i nu n g ü b e r u n s aber, die wir auf diesem falschen Wege gefunden haben, das sogenannte „Ich“, arbeitet fürderhin mit an unserem Charakter und Schicksal. – 116. D ie u n b e k a n nt e We lt d e s „ S ubje c t s“. – Das, was den Menschen so schwer zu begreifen fällt, ist ihre Unwissenheit über sich selber, von den ältesten Zeiten bis jetzt ! Nicht nur in Bezug auf gut und böse, sondern in Bezug auf viel Wesentlicheres ! Noch immer lebt der uralte Wahn, dass man wisse, ganz genau wisse, w ie das men sc h l ic he Ha ndel n z u St a nde kom me, in jedem Falle. Nicht nur „Gott, der in’s Herz sieht“, nicht nur der Thäter, der seine That überlegt, – nein, auch jeder Andere zweifelt nicht, das Wesentliche im Vorgange der Handlung jedes Andern zu verstehen. „Ich weiss, was ich will, was ich gethan habe, ich bin frei und ver-

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antwortlich dafür, ich mache den Andern verantwortlich, ich kann alle sittlichen Möglichkeiten und alle inneren Bewegungen, die es vor einer Handlung giebt‚ beim Namen nennen ; ihr mögt handeln, wie ihr wollt,  – ich verstehe darin mich und euch Alle !“ – so dachte ehemals Jeder, so denkt fast noch Jeder. Sokrates und Plato, in diesem Stücke grosse Zweifler und bewunderungswürdige Neuerer, waren doch harmlos gläubig in Betreff jenes verhängnissvollsten Vorurtheils, jenes tiefsten Irrthums, dass „der richtigen Erkenntniss die richtige Handlung f ol g e n mü s s e“,  – sie waren in diesem Grundsatze immer noch die Erben des allgemeinen Wahnsinns und Dün|kels : dass es ein Wissen um das Wesen einer Handlung gebe. „Es wäre ja s c h r ec k l ic h , wenn der Einsicht in das Wesen der rechten That nicht die rechte That folgte“, – diess ist die einzige Art, wie jene Grossen diesen Gedanken zu beweisen für nöthig hielten, das Gegentheil schien ihnen undenkbar und toll – und doch ist diess Gegentheil gerade die nackte, seit Ewigkeiten täglich und stündlich bewiesene Wirklichkeit ! Ist es nicht gerade die „schreckliche“ Wahrheit : dass, was man von einer That überhaupt wissen kann, n ie m a l s ausreicht, sie zu thun, dass die Brücke von der Erkenntniss zur That in keinem einzigen Falle bisher geschlagen worden ist ? Die Handlungen sind n ie m a l s Das, als was sie uns erscheinen ! Wir haben so viel Mühe gehabt, zu lernen, dass die äusseren Dinge nicht so sind, wie sie uns erscheinen, – nun wohlan ! mit der inneren Welt steht es ebenso ! Die moralischen Handlungen sind in Wahrheit „etwas Anderes“, – mehr können wir nicht sagen : und alle Handlungen sind wesentlich unbekannt. Das Gegentheil war und ist der allgemeine Glaube : wir haben den ältesten Realismus gegen uns ; bis jetzt dachte die Menschheit : „eine Handlung ist Das, als was sie uns erscheint.“ (Beim Wiederlesen dieser Worte kommt mir eine sehr ausdrückliche Stelle Schopenhauer’s in’s Gedächtniss, welche ich anführen will, zum Beweise, dass auch er noch, und zwar ohne jeden

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Scrupel, in diesem moralischen Realismus hängt und hängen geblieben ist : „wirklich ist Jeder von uns ein competenter und vollkommen moralischer Richter, Gutes und Böses genau kennend‚ heilig, indem er das Gute liebt und das Böse verabscheut, – diess Alles ist Jeder, insofern nicht seine eigenen, sondern fremde | Handlungen untersucht werden und er blos zu billigen und zu missbilligen hat, die Last der Ausführung aber von fremden Schultern getragen wird. Jeder kann demnach als Beichtiger ganz und gar die Stelle Gottes vertreten.“) 117. Im Gef äng n iss. – Mein Auge, wie stark oder schwach es nun ist, sieht nur ein Stück weit, und in diesem Stück webe und lebe ich, diese Horizont-Linie ist mein nächstes grosses und kleines Verhängniss, dem ich nicht entlaufen kann. Um jedes Wesen legt sich derart ein concentrischer Kreis, der einen Mittelpunct hat und der ihm eigenthümlich ist. Ähnlich schliesst uns das Ohr in einen kleinen Raum ein, ähnlich das Getast. Nach diesen Horizonten, in welche, wie in Gefängnissmauern, Jeden von uns unsere Sinne einschliessen, me s s e n wir nun die Welt, wir nennen Dieses nah und Jenes fern, Dieses gross und Jenes klein, Dieses hart und Jenes weich : diess Messen nennen wir Empfi nden, – es sind Alles, Alles Irrthümer an sich ! Nach der Menge von Erlebnissen und Erregungen, die uns durchschnittlich in einem Zeitpuncte möglich sind, misst man sein Leben, als kurz oder lang, arm oder reich, voll oder leer : und nach dem durchschnittlichen menschlichen Leben misst man das aller anderen Geschöpfe, – es sind Alles, Alles Irrthümer an sich ! Hätten wir hundertfach schärfere Augen für die Nähe, so würde uns der Mensch ungeheuer lang erscheinen ; ja, es sind Organe denkbar, vermöge deren er als unermesslich empfunden würde. Andererseits könnten Organe so beschaffen sein, dass ganze Sonnensysteme verengt und zusammengeschnürt gleich einer einzigen Zelle empfunden

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werden : | und vor Wesen entgegengesetzter Ordnung könnte Eine Zelle des menschlichen Leibes sich als ein Sonnensystem in Bewegung, Bau und Harmonie darstellen. Die Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfi ndung eingesponnen : diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urtheile und „Erkenntnisse“, – es giebt durchaus kein Entrinnen, keine Schlupf- und Schleichwege in die w i rk l ic he Welt ! Wir sind in unserem Netze, wir Spinnen, und was wir auch darin fangen, wir können gar Nichts fangen, als was sich eben in u n s e r e m Netze fangen lässt. 118. Wa s i s t d e n n d e r Näc h s t e ! – Was begreifen wir denn von unserem Nächsten, als seine Gränzen, ich meine, Das, womit er sich auf und an uns gleichsam einzeichnet und eindrückt ? Wir begreifen Nichts von ihm, als die Ve r ä nd e r u n g e n a n u n s , deren Ursache er ist,  – unser Wissen von ihm gleicht einem hohlen g e f or mt e n Raume. Wir legen ihm die Empfi ndungen bei, die seine Handlungen in uns hervorrufen, und geben ihm so eine falsche umgekehrte Positivität. Wir bilden ihn nach unserer Kenntniss von uns, zu einem Satelliten unseres eigenen Systems : und wenn er uns leuchtet oder sich verfi nstert, und wir von Beidem die letzte Ursache sind, – so glauben wir doch das Gegentheil ! Welt der Phantome, in der wir leben ! Verkehrte, umgestülpte, leere, und doch vol l und g e r a d e geträumte Welt ! | 119. E r leb e n u nd E r d ic ht e n .  – Wie weit Einer seine Selbstkenntniss auch treiben mag, Nichts kann doch unvollständiger sein, als das Bild der gesammten Tr ieb e, die sein Wesen constituiren. Kaum dass er die gröberen beim Namen nennen kann : ihre Zahl und Stärke, ihre Ebbe und Fluth, ihr Spiel und Widerspiel unter einander, und vor Allem die Gesetze ihrer E r n ä h r u n g bleiben ihm ganz unbekannt. Diese

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Ernäh rung wird also ein Werk des Zufalls : unsere täglichen Erlebnisse werfen bald diesem, bald jenem Triebe eine Beute zu, die er gierig erfasst, aber das ganze Kommen und Gehen dieser Ereignisse steht ausser allem vernünftigen Zusammenhang mit den Nahrungsbedürfnissen der gesammten Triebe : sodass immer Zweierlei eintreten wird, das Verhungern und Verkümmern der einen und die Überfütterung der anderen. Jeder Moment unseres Lebens lässt einige Polypenarme unseres Wesens wachsen und einige andere verdorren, je nach der Nahrung, die der Moment in sich oder nicht in sich trägt. Unsere Erfahrungen, wie gesagt, sind alle in diesem Sinne Nahrungsmittel, aber ausgestreut mit blinder Hand, ohne Wissen um den, der hungert‚ und den, der schon Überfluss hat. Und in Folge dieser zufälligen Ernährung der Theile wird der ganze ausgewachsene Polyp etwas ebenso Zufälliges sein, wie es sein Werden ist. Deutlicher gesprochen : gesetzt, ein Trieb befi ndet sich in dem Puncte, wo er Befriedigung begehrt – oder Übung seiner Kraft, oder Entladung derselben oder Sättigung einer Leere – es ist Alles Bilderrede – : so sieht er jedes Vorkommniss des Tages darauf an, wie er es zu seinem Zwecke brauchen kann ; ob der Mensch nun läuft oder | ruht oder zürnt oder liest oder spricht oder kämpft oder jubelt, der Trieb in seinem Durste betastet gleichsam jeden Zustand, in den der Mensch geräth, und durchschnittlich fi ndet er Nichts für sich daran, er muss warten und weiter dürsten : eine Weile noch und dann wird er matt, und noch ein paar Tage oder Monate der NichtBefriedigung, dann dorrt er ab, wie eine Pflanze ohne Regen. Vielleicht würde diese Grausamkeit des Zufalls noch greller in die Augen fallen, wenn alle Triebe es so gründlich nehmen wollten, wie der Hu n g e r : der sich nicht mit g et r äu mt e r S p e i s e zufrieden giebt ; aber die meisten Triebe, namentlich die sogenannten moralischen, t hu n g e r a d e d ie s s , – wenn meine Vermuthung erlaubt ist, dass unsere Tr äu m e eben den Werth und Sinn haben, bis zu einem gewissen Grade

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jenes zufällige Ausbleiben der „Nahrung“ während des Tages, zu com p e n s i r e n . Warum war der Traum von gestern voller Zärtlichkeit und Thränen, der von vorgestern scherzhaft und übermüthig, ein früherer abenteuerlich und in einem beständigen düsteren Suchen ? Wesshalb geniesse ich in diesem unbeschreibliche Schönheiten der Musik, wesshalb schwebe und fl iege ich in einem anderen mit der Wonne eines Adlers hinauf nach fernen Bergspitzen ? Diese Erdichtungen, welche unseren Trieben der Zärtlichkeit oder des Scherzes oder der Abenteuerlichkeit oder unserm Verlangen nach Musik und Gebirge Spielraum und Entladung geben – und Jeder wird seine schlagenderen Beispiele zur Hand haben –, sind Interpretationen unserer Nervenreize während des Schlafens, s e h r f r e i e , sehr willkürliche Interpretationen von Bewegungen des Blutes und der Eingeweide, vom Druck des Armes und der Dekken, | von den Tönen der Thurmglocken, der Wetterhähne, der Nachtschwärmer und anderer Dinge der Art. Dass dieser Text, der im Allgemeinen doch für eine Nacht wie für die andere sehr ähnlich bleibt, so verschieden commentirt wird, dass die dichtende Vernunft heute und gestern so verschiedene Ur s ac he n für die selben Nervenreize s ic h vor s t e l lt : das hat darin seinen Grund, dass der Souffleur dieser Vernunft heute ein anderer war, als er gestern war, – ein anderer Tr ieb wollte sich befriedigen, bethätigen, üben, erquicken, entladen, – gerade er war in seiner hohen Fluth, und gestern war ein anderer darin. – Das wache Leben hat nicht diese Fr e i h e it der Interpretation wie das träumende, es ist weniger dichterisch und zügellos, – muss ich aber ausführen, dass unsere Triebe im Wachen ebenfalls nichts Anderes thun, als die Nervenreize interpretiren und nach ihrem Bedürfnisse deren „Ursachen“ ansetzen ? dass es zwischen Wachen und Träumen keinen we s e nt l ic h e n Unterschied giebt ? dass selbst bei einer Vergleichung sehr verschiedener Culturstufen die Freiheit der wachen Interpretation in der einen der Freiheit

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der anderen im Träumen Nichts nachgiebt ? dass auch unsere moralischen Urtheile und Werthschätzungen nur Bilder und Phantasien über einen uns unbekannten physiologischen Vorgang sind, eine Art angewöhnter Sprache, gewisse Nervenreize zu bezeichnen ? dass all unser sogenanntes Bewusstsein ein mehr oder weniger phantastischer Commentar über einen ungewussten, vielleicht unwissbaren, aber gefühlten Text ist ? – Man nehme ein kleines Erlebniss. Gesetzt, wir bemerken eines Tages, dass Jemand auf dem Markte über uns lacht, da wir vorübergehen : jenachdem dieser oder jener | Trieb in uns gerade auf seiner Höhe ist, wird diess Ereigniss für uns diess oder das bedeuten, – und je nach der Art Mensch, die wir sind, ist es ein ganz verschiedenes Ereigniss. Der Eine nimmt es hin wie einen Regentropfen, der Andere schüttelt es von sich wie ein Insect, Einer sucht daraus Händel zu machen, Einer prüft seine Kleidung, ob sie Anlass zum Lachen gebe, Einer denkt über das Lächerliche an sich in Folge davon nach, Einem thut es wohl, zur Heiterkeit und zum Sonnenschein der Welt, ohne zu wollen, einen Strahl gegeben zu haben – und in jedem Falle hat ein Trieb seine Befriedigung daran, sei es der des Ärgers oder der Kampflust oder des Nachdenkens oder des Wohlwollens. Dieser Trieb ergriff das Vorkommniss wie seine Beute : warum er gerade ? Weil er durstig und hungernd auf der Lauer lag.  – Neulich Vormittags um elf Uhr fiel unmittelbar und senkrecht vor mir ein Mann plötzlich zusammen, wie vom Blitz getroffen, alle Weiber der Umgebung schrieen laut auf ; ich selber stellte ihn auf seine Füsse und wartete ihn ab, bis die Sprache sich wieder einstellte, – während dem regte sich bei mir kein Muskel des Gesichts und kein Gefühl, weder das des Schreckens, noch das des Mitleidens, sondern ich that das Nächste und Vernünftigste und gieng kalt fort. Gesetzt, man hätte mir Tags vorher angekündigt, dass morgen um elf Uhr Jemand neben mir in dieser Weise niederstürzen werde, – ich hätte Qualen aller Art vorher gelitten, die Nacht nicht geschla-

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fen und wäre vielleicht im entscheidenden Augenblick dem Manne gleich geworden, anstatt ihm zu helfen. Inzwischen hätten nämlich alle möglichen Triebe Z e it g e h a bt , das Erlebniss sich vorzustellen und zu com|mentiren.  – Was sind denn unsere Erlebnisse ? Viel me h r Das, was wir hineinlegen, als Das, was darin liegt ! Oder muss es gar heissen : an sich liegt Nichts darin ? Erleben ist ein Erdichten ? – 120. Zu r B e r u h i g u n g d e s S k e pt i k e r s . – „Ich weiss durchaus nicht, was ich t hue ! Ich weiss durchaus nicht, was ich t hu n s ol l !“ – Du hast Recht, aber zweifle nicht daran : d u w i r s t g et h a n ! in jedem Augenblicke ! Die Menschheit hat zu allen Zeiten das Activum und das Passivum verwechselt, es ist ihr ewiger grammatikalischer Schnitzer. 121. „Ur s ac he u nd W i r k u n g“ ! – Auf diesem Spiegel – und unser Intellect ist ein Spiegel – geht Etwas vor, das Regelmässigkeit zeigt, ein bestimmtes Ding folgt jedesmal wieder auf ein anderes bestimmtes Ding, – das ne n ne n wir, wenn wir es wahrnehmen und nennen wollen, Ursache und Wirkung, wir Thoren ! Als ob wir da irgend Etwas begriffen hätten und begreifen könnten ! Wir haben ja Nichts gesehen, als die Bi ld e r von „Ursachen und Wirkungen“ ! Und eben diese Bi ld l ic h k e it macht ja die Einsicht in eine wesentlichere Verbindung, als die der Aufeinanderfolge ist, unmöglich ! 122. D ie Zwec k e i n der Nat u r. – Wer, als unbefangener Forscher, der Geschichte des Auges und seiner Formen bei den niedrigsten Geschöpfen nachgeht und das ganze schrittweise Werden des Auges zeigt, muss zu dem grossen Ergebniss kommen : dass das | Sehen n ic ht die Absicht bei der Entste-

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hung des Auges gewesen ist, vielmehr sich eingestellt hat, als d e r Zu f a l l den Apparat zusammengebracht hatte. Ein einziges solches Beispiel : und die „Zwecke“ fallen uns wie Schuppen von den Augen ! 123. Ve r nu n f t . – Wie die Vernunft in die Welt gekommen ist ? Wie billig, auf eine unvernünftige Weise, durch einen Zufall. Man wird ihn errathen müssen, wie ein Räthsel. 124. Wa s i s t Wol le n ! – Wir lachen über Den, welcher aus seiner Kammer tritt, in der Minute, da die Sonne aus der ihren tritt, und sagt : „ ic h w i l l , dass die Sonne aufgehe“ ; und über Den, welcher ein Rad nicht aufhalten kann und sagt : „ ic h w i l l , dass es rolle“ ; und über Den, welcher im Ringkampf niedergeworfen wird und sagt : „hier liege ich, aber ic h w i l l hier liegen !“ Aber, trotz allem Gelächter ! Machen wir es denn jemals anders, als einer von diesen Dreien, wenn wir das Wort gebrauchen : „ ic h w i l l “ ? 125. Vom „Reiche der Frei heit“. – Wir können viel, viel mehr Dinge denken, als thun und erleben, – das heisst, unser Denken ist oberflächlich und zufrieden mit der Oberfläche, ja, es merkt sie nicht. Wäre unser Intellect streng nach dem Maasse unserer Kraft und unserer Übung der Kraft e nt w ic k e lt , so würden wir den Grundsatz zu oberst in unserem Denken haben, dass wir nur begreifen können, was wir t hu n können,  – | we n n es überhaupt ein Begreifen giebt. Der Durstige entbehrt des Wassers, aber seine Gedankenbilder führen ihm unaufhörlich das Wasser vor die Augen, wie als ob Nichts leichter zu beschaffen wäre, – die oberflächliche und leicht zufriedengestellte Art des Intellectes kann das eigentliche nothleidende Bedürfniss nicht fassen und fühlt sich dabei überlegen : es ist stolz darauf, mehr zu können, schneller

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zu laufen, im Augenblick fast am Ziele zu sein, – und so erscheint das Reich der Gedanken im Vergleich mit dem Reiche des Thuns, Wollens und Erlebens als ein R e ic h d e r Fr e i he it : während es, wie gesagt, nur ein Reich der Oberfläche und der Genügsamkeit ist. 126. Ve r g e s s e n . – Dass es ein Vergessen giebt, ist noch nicht bewiesen ; was wir wissen, ist allein, dass die Wiedererinnerung nicht in unserer Macht steht. Vorläufig haben wir in diese Lücke unserer Macht jenes Wort „Vergessen“ gesetzt : gleich als ob es ein Vermögen mehr im Register sei. Aber was steht zuletzt in unserer Macht ! – Wenn jenes Wort in einer Lücke unserer Macht steht, sollten nicht die anderen Worte in einer Lücke unseres W i s s e n s u m u n s e r e M a c ht stehen ? 127. Nac h Zwe c k e n . – Von allen Handlungen werden wohl am wenigsten die nach Zwecken verstanden, weil sie immer als die verständlichsten gegolten haben und für unser Bewusstsein das Alltäglichste sind. Die grossen Probleme liegen auf der Gasse. | 128. D er Tr au m u nd d ie Ver a nt wor t l ic h k e it.  – In Allem wollt ihr verantwortlich sein ! Nur nicht für eure Träume ! Welche elende Schwächlichkeit, welcher Mangel an folgerichtigem Muthe ! Nichts ist me h r euer Eigen, als eure Träume ! Nichts mehr eue r Werk ! Stoff, Form, Dauer, Schauspieler, Zuschauer,  – in diesen Komödien seid ihr Alles ihr selber ! Und hier gerade scheut und schämt ihr euch vor euch, und schon Oedipus, der weise Oedipus wusste sich Trost aus dem Gedanken zu schöpfen, dass wir Nichts für Das können, was wir träumen ! Ich schliesse daraus : dass die grosse Mehrzahl der Menschen sich abscheulicher Träume bewusst sein muss. Wäre es anders : wie sehr würde man seine nächtliche Dich-

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terei für den Hochmuth des Menschen ausgebeutet haben ! – Muss ich hinzufügen, dass der weise Oedipus Recht hatte, dass wir wirklich nicht für unsere Träume,  – aber ebenso wenig für unser Wachen verantwortlich sind, und dass die Lehre von der Freiheit des Willens im Stolz und Machtgefühl des Menschen ihren Vater und ihre Mutter hat ? Ich sage diess vielleicht zu oft : aber wenigstens wird es dadurch noch nicht zum Irrthum. 129. D e r a n g ebl ic he K a m pf d e r Mot i ve. – Man redet vom „Kampf der Motive“, aber bezeichnet damit einen Kampf, der n ic ht der Kampf der Motive ist. Nämlich : in unserm überlegenden Bewusstsein treten vor einer That der Reihe nach die Fol g e n verschiedener Thaten hervor, welche alle wir meinen thun zu können, und wir vergleichen diese Folgen. Wir meinen, | zu einer That entschieden zu sein, wenn wir festgestellt haben, dass ihre Folgen die überwiegend günstigeren sein werden ; ehe es zu diesem Abschluss unserer Erwägung kommt, quälen wir uns oft redlich, wegen der grossen Schwierigkeit, die Folgen zu errathen, sie in ihrer ganzen Stärke zu sehen und zwar alle, ohne Fehler der Auslassung zu machen : wobei die Rechnung überdiess noch mit dem Zufalle dividirt werden muss. Ja, um das Schwierigste zu nennen : alle die Folgen, die einzeln so schwer festzustellen sind, müssen nun mit einander auf Einer Wage gegen einander abgewogen werden ; und so häufig fehlt uns für diese Casuistik des Vortheils die Wage nebst den Gewichten, wegen der Verschiedenheit in der Q u a l it ät aller dieser möglichen Folgen. Gesetzt aber, auch damit kämen wir in’s Reine, und der Zufall hätte uns gegenseitig abwägbare Folgen auf die Wage gelegt : so haben wir jetzt in der That im Bi ld e d e r Fol g e n Einer bestimmten Handlung ein Mot i v, gerade diese Handlung zu thun, – ja ! E i n Motiv ! Aber im Augenblicke, da wir schliesslich handeln, werden wir häufig genug von einer anderen Gat-

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tung Motiven bestimmt, als es die hier besprochene Gattung, die des „Bildes der Folgen“, ist. Da wirkt die Gewohnheit unseres Kräftespiels, oder ein kleiner Anstoss von einer Person, die wir fürchten oder ehren oder lieben, oder die Bequemlichkeit, welche vorzieht, was vor der Hand liegt zu thun, oder die Erregung der Phantasie, durch das nächste beste kleinste Ereigniss im entscheidenden Augenblick herbeigeführt, es wirkt Körperliches, das ganz unberechenbar auftritt, es wirkt die Laune, es wirkt der Sprung irgend eines Affectes, der gerade zufällig bereit ist, zu springen : | kurz, es wirken Motive, die wir zum Theil gar nicht, zum Theil sehr schlecht kennen und die wir n ie vor he r gegen einander in Rechnung setzen können. Wa h r s c he i n l ic h , dass auch unter ihnen ein Kampf Statt fi ndet, ein Hin- und Wegtreiben, ein Aufwiegen und Niederdrücken von Gewichttheilen – und diess wäre der eigentliche „Kampf der Motive“ : – etwas für uns völlig Unsichtbares und Unbewusstes. Ich habe die Folgen und Erfolge berechnet und damit Ein sehr wesentliches Motiv in die Schlachtreihe der Motive eingestellt, – aber diese Schlachtreihe selber stelle ich ebensowenig auf, als ich sie sehe : der Kampf selber ist mir verborgen, und der Sieg als Sieg ebenfalls ; denn wohl erfahre ich, was ich schliesslich t hue,  – aber welches Motiv damit eigentlich gesiegt hat, erfahre ich nicht. Woh l a b e r s i nd w i r g ewoh nt , alle diese unbewussten Vorgänge n ic ht in Anschlag zu bringen und uns die Vorbereitung einer That nur so weit zu denken, als sie bewusst ist : und so verwechseln wir den Kampf der Motive mit der Vergleichung der möglichen Folgen verschiedener Handlungen, – eine der folgenreichsten und für die Entwickelung der Moral verhängnissvollsten Verwechselungen ! 130. Zwec k e ? Wi l len ?  – Wir haben uns gewöhnt an zwei Reiche zu glauben, an das Reich der Zwe c k e und des W i l le n s und an das Reich der Zu f ä l le ; in letzterem geht es sinnlos

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zu, es geht, steht und fällt darin, ohne dass Jemand sagen könnte wesshalb ? wozu ? – Wir fürchten uns vor diesem mächtigen Reiche der grossen kosmischen Dummheit, denn wir lernen es | meistens so kennen, dass es in die andere Welt, in die der Zwecke und Absichten, hineinfällt wie ein Ziegelstein vom Dache, und uns irgend einen schönen Zweck todtschlägt. Dieser Glaube an die zwei Reiche ist eine uralte Romantik und Fabel : wir klugen Zwerge, mit unserem Willen und unseren Zwecken, werden durch die dummen, erzdummen Riesen, die Zufälle, belästigt, über den Haufen gerannt, oft todt getreten, – aber trotz alledem möchten wir nicht ohne die schauerliche Poesie dieser Nachbarschaft sein, denn jene Unthiere kommen oft, wenn uns das Leben im S p i n ne n net z e der Zwecke zu langweilig oder zu ängstlich geworden ist und geben eine erhabene Diversion, dadurch dass ihre Hand einmal das ganze Netz z e r r e i s s t , – nicht dass sie es gewollt hätten, diese Unvernünftigen ! Nicht dass sie es nur merkten ! Aber ihre groben Knochenhände greifen durch unser Netz hindurch, wie als ob es Luft wäre. – Die Griechen nannten diess Reich des Unberechenbaren und der erhabenen ewigen Bornirtheit Moira und stellten es als den Horizont um ihre Götter, über den sie weder hinauswirken, noch -sehen können : mit jenem heimlichen Trotz gegen die Götter, welcher bei mehreren Völkern sich vorfi ndet, in der Gestalt, dass man sie zwar anbetet‚ aber einen letzten Trumpf gegen sie in der Hand behält, zum Beispiel wenn man als Inder oder Perser sie sich abhängig vom O pf e r der Sterblichen denkt, sodass die Sterblichen schlimmsten Falls die Götter hungern und verhungern lassen können ; oder wenn man wie der harte melancholische Skandinavier mit der Vorstellung einer einstmaligen Götter-Dämmerung sich den Genuss der stillen Rache schaff t, zum Entgelt für die beständige Furcht, | welche seine bösen Götter ihm machen. Anders das Christenthum mit seinem weder indischen, noch persischen‚ noch griechischen, noch skandinavischen Grund-

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gefühle, welches den G e i s t d e r M a c ht im Staube anbeten und den Staub noch küssen hiess : diess gab zu verstehen, dass jenes allmächtige „Reich der Dummheit“ nicht so dumm sei wie es aussehe, dass w i r vielmehr die Dummen seien, die nicht merkten, dass hinter ihm – der liebe Gott stehe, er, der zwar die dunklen, krummen und wunderbaren Wege liebe, aber zuletzt doch Alles „herrlich hinausführe“. Diese neue Fabel vom lieben Gott, der bisher als Riesengeschlecht oder Moira verkannt worden sei und der Zwecke und Netze selber spinne, feiner noch als die unseres Verstandes – sodass sie demselben unverständlich, ja unverständig erscheinen mü s s t e n – diese Fabel war eine so kühne Umkehrung und ein so gewagtes Paradoxum, dass die zu fein gewordene alte Welt nicht zu widerstehen vermochte, so toll und w id e r s p r uc h s vol l die Sache auch klang ; – denn, im Vertrauen gesagt, es war ein Widerspruch darin : wenn unser Verstand den Verstand und die Zwecke Gottes nicht errathen kann, woher errieth er diese Beschaffenheit seines Verstandes ? und diese Beschaffenheit von Gottes Verstande ? – In der neueren Zeit ist in der That das Misstrauen gross geworden, ob der Ziegelstein, der vom Dache fällt, wirklich von der „gött lichen Liebe“ herabgeworfen werde – und die Menschen fangen wieder an, in die alte Spur der Riesen- und Zwergen-Romantik zurückzugerathen. L e r ne n wir also, weil es hohe Zeit dazu ist : in unserm vermeintlichen Sonderreiche der Zwecke und der Vernunft regieren ebenfalls die Riesen ! Und unsere Zwecke | und unsere Vernunft sind keine Zwerge, sondern Riesen ! Und unsere eigenen Netze werden d u r c h u n s s e l b e r ebenso oft und ebenso plump zerrissen wie von dem Ziegelsteine ! Und es ist nicht Alles Zweck, was so genannt wird, und noch weniger Alles Wille, was Wille heisst ! Und, wenn ihr schliessen wolltet : „es giebt also nur Ein Reich, das der Zufälle und der Dummheit ?“ – so ist hinzuzufügen : ja, vielleicht giebt es nur Ein Reich, vielleicht giebt es weder Willen noch Zwecke,

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und wir haben sie uns eingebildet. Jene eisernen Hände der Nothwendigkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln, spielen ihr Spiel unend liche Zeit : da mü s s e n Würfe vorkommen, die der Zweckmässigkeit und Vernünftigkeit jedes Grades vollkommen ähnlich sehen. V ie l le ic ht sind unsere Willensacte, unsere Zwecke nichts Anderes, als eben solche Würfe – und wir sind nur zu beschränkt und zu eitel dazu, unsere äusserste Beschränktheit zu begreifen : die nämlich, dass wir selber mit eisernen Händen den Würfelbecher schütteln, dass wir selber in unseren absichtlichsten Handlungen Nichts mehr thun, als das Spiel der Nothwendigkeit zu spielen. Vielleicht !  – Um über diess V ie l le ic ht hinauszukommen, müsste man schon in der Unterwelt und jenseits aller Oberflächen zu Gaste gewesen sein und am Tische der Persephone mit ihr selber gewürfelt und gewettet haben. 131. D ie mor a l i s c he n Mo d e n . – Wie sich die moralischen Gesammt-Urtheile verschoben haben ! Diese grössten Wunder der antiken Sittlichkeit, zum Beispiel Epiktet, wussten Nichts von der jetzt üblichen Verherrlichung des Denkens an Andere, des Lebens für Andere ; | man würde sie nach unserer moralischen Mode geradezu unmoralisch nennen müssen, denn sie haben sich mit allen Kräften f ü r ihr ego und g e g e n die Mitempfi ndung mit den Anderen (namentlich mit deren Leiden und sittlichen Gebrechen) gewehrt. Vielleicht dass sie uns antworten würden : „habt ihr an euch selber einen so langweiligen oder hässlichen Gegenstand, so denkt doch ja an Andere mehr, als an euch ! Ihr thut gut daran !“ 132. Die ausk l i ngende Ch r i st l ic h keit i n der Mora l. – „On n’est bon que par la pitié : il faut donc qu’il y ait quelque pitié dans tous nos sentiments“  – so klingt jetzt die Moral ! Und

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woher kommt das ? – Dass der Mensch der sympathischen, uninteressirten, gemeinnützigen, gesellschaftlichen Handlungen jetzt als der mor a l i s c he empfunden wird, – das ist vielleicht die allgemeinste Wirkung und Umstimmung, welche das Christenthum in Europa hervorgebracht hat : obwohl sie weder seine Absicht, noch seine Lehre gewesen ist. Aber es war das residuum christlicher Stimmungen, als der sehr entgegengesetzte, streng egoistische Grundglaube an das „Eins ist noth“, an die absolute Wichtigkeit des ewigen p e r s ön l ic he n Heils, mit den Dogmen, auf denen er ruhte, allmählich zurücktrat, und der Nebenglaube an die „Liebe“, an die „Nächstenliebe“, zusammenstimmend mit der ungeheuren Praxis der kirchlichen Barmherzigkeit, dadurch in den Vordergrund gedrängt wurde. Je mehr man sich von den Dogmen loslöste, um so mehr suchte man gleichsam die R ec ht f e r t i g u n g dieser Loslösung in einem Cultus der Menschenliebe : hierin hinter dem christlichen Ideale nicht | zurückzubleiben, sondern es womöglich zu ü b e r b iet e n , war ein geheimer Sporn bei allen französischen Freidenkern, von Voltaire bis auf Auguste Comte : und Letzterer hat mit seiner berühmten Moralformel vivre pour autrui in der That das Christenthum überchristlicht. Auf deutschem Boden hat Schopenhauer, auf englischem John Stuart Mill der Lehre von den sympathischen Affectionen und vom Mitleiden oder vom Nutzen Anderer als dem Princip des Handelns die meiste Berühmtheit gegeben : aber sie selber waren nur ein Echo, – jene Lehren sind mit einer gewaltigen Triebkraft überall und in den gröbsten und feinsten Gestalten zugleich aufgeschossen, ungefähr von der Zeit der französischen Revolution an, und alle socialistischen Systeme haben sich wie unwillkürlich auf den gemeinsamen Boden dieser Lehren gestellt. Es giebt vielleicht jetzt kein besser geglaubtes Vorurtheil, als diess : dass man w i s s e, was eigentlich das Moralische ausmache. Es scheint jetzt Jedermann woh l z ut hu n , wenn er hört, dass die Gesellschaft

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auf dem Wege sei, den Einzelnen den allgemeinen Bedürfnissen a n z u p a s s e n und dass d a s Glüc k u nd z u g leic h d a s O pfer de s Ei n z e l ne n darin liege, sich als ein nützliches Glied und Werkzeug des Ganzen zu fühlen : nur dass man gegenwärtig noch sehr schwankt, worin dieses Ganze zu suchen sei, ob in einem bestehenden oder zu begründenden Staate, oder in der Nation oder in einer Völker-Verbrüderung oder in kleinen neuen wirthschaftlichen Gemeinsamkeiten. Hierüber giebt es jetzt viel Nachdenken, Zweifeln, Kämpfen, viel Aufregung und Leidenschaft ; aber wundersam und wohltönend ist die Eintracht in der Forderung, dass das ego sich zu verleugnen habe, bis | es, in der Form der Anpassung an das Ganze, auch wieder seinen festen Kreis von Rechten und Pfl ichten bekomme, – bis es etwas ganz Neues und Anderes geworden sei. Man will nichts Geringeres – ob man es sich nun eingesteht oder nicht –‚ als eine gründliche Umbildung, ja Schwächung und Aufhebung des I nd i v id uu m s : man wird nicht müde, alles das Böse und Feindselige, das Verschwenderische, das Kostspielige, das Luxushafte in der bisherigen Form des individuellen Daseins aufzuzählen und anzuklagen, man hoff t wohlfeiler‚ ungefährlicher, gleichmässiger, einheitlicher zu wirthschaften, wenn es nur noch g r o s s e K ör p e r u nd d e r e n G l i e d e r giebt. Als g ut wird Alles empfunden, was irgendwie diesem körper- und gliederbildenden Triebe und seinen Hülfstrieben entspricht, diess ist der mor a l i s c he Gr u nd s t r om in unserem Zeitalter ; Mitempfi ndung und sociale Empfi ndung spielen dabei in einander über. (Kant steht noch ausserhalb dieser Bewegung : er lehrt ausdrücklich, dass wir gegen fremde Leiden unempfi ndlich sein müssen, wenn unser Wohlthun moralischen Werth haben soll, – was Schopenhauer, sehr ergrimmt, wie man begreifen wird, d ie K a n t i s c he A bg e s c h m ac k t he it nennt.)

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133. „ N ic ht me h r a n s ic h d e n k e n .“  – Man überlege es sich doch recht gründlich : warum springt man Einem, der vor uns in’s Wasser fällt, nach, obschon man ihm gar nicht geneigt ist ? Aus Mitleid : man denkt da nur noch an den Anderen, – sagt die Gedankenlosigkeit. Warum empfi ndet man Schmerz und Unbehagen mit Einem, der Blut speit, während man ihm sogar böse und | feindlich gesinnt ist ? Aus Mitleid : man denkt dabei eben nicht mehr an sich,  – sagt die selbe Gedankenlosigkeit. Die Wahrheit ist : im Mitleid – ich meine in dem, was irreführender Weise gewöhnlich Mitleid genannt zu werden pflegt, – denken wir zwar nicht mehr bewusst an uns, aber s e h r s t a r k u n b ew u s s t , wie wenn wir beim Ausgleiten eines Fusses, für uns jetzt unbewusst, die zweckmässigsten Gegenbewegungen machen und dabei ersichtlich allen unseren Verstand gebrauchen. Der Unfall des Andern beleidigt uns, er würde uns unserer Ohnmacht, vielleicht unserer Feigheit überführen, wenn wir ihm nicht Abhülfe brächten. Oder er bringt schon an sich eine Verringerung unsrer Ehre vor Anderen oder vor uns selber mit sich. Oder es liegt im Unfalle und Leiden eines Anderen ein Fingerzeig der Gefahr für uns ; und schon als Merkmale der menschlichen Gefährdetheit und Gebrechlichkeit überhaupt können sie auf uns peinlich wirken. Diese Art Pein und Beleidigung weisen wir zurück und vergelten sie durch eine Handlung des Mitleidens‚ in ihr kann eine feine Nothwehr oder auch Rache sein. Dass wir im Grunde stark an uns denken, lässt sich aus der Entscheidung errathen, welche wir in allen den Fällen treffen, wo wir dem Anblicke des Leidenden, Darbenden, Jammernden aus dem Wege gehen k ö n n e n : wir entschliessen uns, es n ic ht zu thun, wenn wir als die Mächtigeren, Helfenden hinzukommen können, des Beifalls sicher sind, unsern Glücks-Gegensatz empfi nden wollen oder auch uns durch den Anblick aus der Langenweile herauszureissen hoffen. Es ist irreführend,

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das Leid, welches uns bei einem solchen Anblick angethan wird und das sehr verschiedener Art sein kann, Mit-Leid zu benennen, denn unter allen | Umständen ist es ein Leid, von dem der vor uns Leidende f r e i ist : es ist uns zu eigen, wie ihm sein Leiden zu eigen ist. Nu r d ie s e s e i g ne L e id aber ist es, welches wir von uns abthun, wenn wir Handlungen des Mitleidens verüben. Doch thun wir Etwas der Art nie aus Einem Motive ; so gewiss wir uns dabei von einem Leiden befreien wollen, so gewiss geben wir bei der gleichen Handlung einem A nt r ieb e d e r Lu s t nach, – Lust entsteht beim Anblick eines Gegensatzes unsrer Lage, bei der Vorstellung, helfen zu können, wenn wir nur wollten, bei dem Gedanken an Lob und Erkenntlichkeit, im Falle wir hälfen, bei der Thätigkeit der Hülfe selber, insofern der Act gelingt und als etwas schrittweise Gelingendes dem Ausführenden an sich Ergötzen macht, namentlich aber in der Empfi ndung, dass unsere Handlung einer empörenden Ungerechtigkeit ein Ziel setzt (schon das Auslassen seiner Empörung erquickt). Diess Alles, Alles, und noch viel Feineres hinzugerechnet, ist „Mitleid“ : – wie plump fällt die Sprache mit ihrem Einen Worte über so ein polyphones Wesen her ! – Dass dagegen das Mitleiden e i n a r t i g mit dem Leiden sei, bei dessen Anblick es entsteht, oder dass es ein besonders feines durchdringendes Verstehen für dasselbe habe, diess Beides widerspricht der E r f a h r u n g , und wer es gerade in diesen beiden Hinsichten verherrlicht hat, dem f e h lt e eben auf diesem Bereiche des Moralischen die ausreichende Erfahrung. Das ist mein Zweifel bei all den unglaublichen Dingen, welche Schopenhauer vom Mitleide zu berichten weiss : er, der uns damit zum Glauben an seine grosse Neuigkeit bringen möchte, das Mitleiden – eben das von ihm so mangelhaft beobachtete, so | schlecht beschriebene Mitleiden  – sei die Quelle aller und jeder ehemaligen und zukünftigen moralischen Handlung – und gerade um der Fähigkeiten willen, die er ihm erst a n g e d ic ht et hat. – Was

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unterscheidet schliesslich die Menschen ohne Mitleid von den mitleidigen ? Vor Allem  – um auch hier nur im Groben zu zeichnen – haben sie nicht die reizbare Phantasie der Furcht, das feine Vermögen der Witterung für Gefahr ; auch ist ihre Eitelkeit nicht so schnell beleidigt, wenn Etwas geschieht, das sie verhindern könnten (ihre Vorsicht des Stolzes gebietet ihnen, sich nicht unnütz in fremde Dinge zu mischen, ja sie lieben es von sich selbst aus, dass Jeder sich selber helfe und seine eigenen Karten spiele). Zudem sind sie an das Ertragen von Schmerzen meistens gewöhnter, als die Mitleidigen ; auch will es ihnen nicht so unbillig dünken, dass Andere leiden, da sie selber gelitten haben. Zuletzt ist ihnen der Zustand der Weichherzigkeit peinlich, wie den Mitleidigen der Zustand des stoischen Gleichmuthes ; sie belegen ihn mit herabsetzenden Worten und meinen, dass ihre Männlichkeit und kalte Tapferkeit dabei in Gefahr sei, – sie verheimlichen die Thräne vor Anderen und wischen sie ab, unwillig über sich selber. Es ist eine a nd e r e Art von Egoisten‚ als die Mitleidigen ; – sie aber im ausgezeichneten Sinne b ö s e , und die Mitleidigen g ut zu nennen, ist Nichts, als eine moralische Mode, welche ihre Zeit hat : wie auch die umgekehrte Mode ihre Zeit gehabt hat, und eine lange Zeit ! 134. In wie fern man sich vor dem Mitleiden zu hüten hat. – Das Mitleiden‚ sofern es wirklich Leiden | schaff t – und diess sei hier unser einziger Gesichtspunct –, ist eine Schwäche, wie jedes Sich-verlieren an einen s c h ä d i g e nd e n Affect. Es ve r me h r t das Leiden in der Welt : mag mittelbar auch hie und da in Folge des Mitleidens ein Leiden verringert oder gehoben werden, so darf man diese gelegentlichen und im Ganzen unbedeutenden Folgen nicht benutzen, um sein Wesen zu rechtfertigen, welches, wie gesagt, schädigend ist. Gesetzt, es herrschte auch nur Einen Tag : so gienge die Menschheit an ihm sofort zu Grunde. An sich hat es so wenig einen guten

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Charakter, wie irgend ein Trieb : erst dort, wo es gefordert und gelobt wird – und diess geschieht dort, wo man das Schädigende in ihm nicht begreift, aber eine Q u e l le d e r L u s t darin entdeckt –, hängt sich ihm das gute Gewissen an, erst dann giebt man sich ihm gern hin und scheut nicht seine Kundgebung. Unter anderen Verhältnissen, wo begriffen wird, dass es schädigend ist, gilt es als Schwäche : oder, wie bei den Griechen, als ein krankhafter periodischer Affect, dem man durch zeitweilige willkürliche Entladungen seine Gefährlichkeit nehmen könne. –Wer einmal, versuchsweise, den Anlässen zum Mitleiden im praktischen Leben eine Zeitlang absichtlich nachgeht und sich alles Elend, dessen er in seiner Umgebung habhaft werden kann, immer vor die Seele stellt, wird unvermeidlich krank und melancholisch. Wer aber gar als Arzt i n i r g e n d e i n e m S i n ne der Menschheit dienen will, wird gegen jene Empfi ndung sehr vorsichtig werden müssen, – sie lähmt ihn in allen entscheidenden Augenblicken und unterbindet sein Wissen und seine hülfreiche feine Hand. | 135. D a s B e m it le id et we r d e n . – Unter Wilden denkt man mit moralischem Schauder an’s Bemitleidetwerden : da ist man aller Tugend bar. Mitleid-gewähren heisst so viel wie Verachten : ein verächtliches Wesen will man nicht leiden sehen, es gewährt diess keinen Genuss. Dagegen einen Feind leiden zu sehen, den man als ebenbürtig-stolz anerkennt und der unter Martern seinen Stolz nicht preisgiebt, und überhaupt jedes Wesen, welches sich nicht zum Mitleid-Anrufen, das heisst zur schmählichsten und tiefsten Demüthigung verstehen will, – das ist ein Genuss der Genüsse, dabei erhebt sich die Seele des Wilden zur B ew u nd e r u n g : er tödtet zuletzt einen solchen Tapferen‚ wenn er es in der Hand hat, und giebt ihm, dem Un g eb r o c he ne n , seine letzte E h r e : hätte er gejammert, den Ausdruck des kalten Hohnes aus dem Gesichte

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verloren, hätte er sich verächtlich gezeigt, – nun, so hätte er leben bleiben dürfen, wie ein Hund, – er hätte den Stolz des Zuschauenden nicht mehr gereizt und an Stelle der Bewunderung wäre Mitleiden getreten. 136. D a s G lüc k i m M it le id e n . – Wenn man, wie die Inder, als Z ie l der ganzen intellectuellen Thätigkeit die Erkenntniss des menschlichen E le nd e s aufstellt und durch viele Geschlechter des Geistes hindurch einem solchen entsetzlichen Vorsatze treu bleibt : so bekommt endlich, im Auge solcher Menschen des e r bl ic he n Pessimismus’, das M it le id e n einen neuen Werth, als leb e ne r h a lt e nd e Macht, um das Dasein doch auszuhalten, ob es gleich werth erscheint, vor Ekel | und Grausen weggeworfen zu werden. Mitleiden wird das Gegenmittel gegen den Selbstmord, als eine Empfi ndung, welche Lust enthält und Überlegenheit in kleinen Dosen zu kosten giebt : es zieht von uns ab, macht das Herz voll, verscheucht die Furcht und die Erstarrung, regt zu Worten, Klagen und Handlungen an, – es ist ve r h ä lt n i s s m ä s s i g e i n G lüc k , gemessen am Elende der Erkenntniss, welche das Individuum von allen Seiten in die Enge und Dunkelheit treibt und ihm den Athem nimmt. Glück aber, welches es auch sei, giebt Luft, Licht und freie Bewegung. 137. Wa r u m das „Ic h “ verdoppel n !   – Unsere eigenen Erlebnisse mit dem Auge ansehen, mit dem wir sie anzusehen pflegen, wenn es die Erlebnisse Anderer sind,  – diess beruhigt sehr und ist eine rathsame Medicin. Dagegen die Erlebnisse Anderer so ansehen und aufnehmen, w ie a l s o b s ie d ie u n s e r e n w ä r e n  – die Forderung einer Philosophie des Mitleidens –‚ diess würde uns zu Grunde richten, und in sehr kurzer Zeit : man mache doch nur den Versuch damit und phantasire nicht länger ! Gewiss ist ausserdem jene erste Maxime

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der Vernunft und dem guten Willen zur Vernünftigkeit g e m ä s s e r, denn wir urtheilen über den Werth und Sinn eines Ereignisses objectiver, wenn es an Anderen hervortritt und nicht an uns : zum Beispiel über den Werth eines Sterbefalles, eines Geldverlustes, einer Verleumdung. Mitleiden als Princip des Handelns, mit der Forderung : leide s o an dem Übel des Andern, wie er selber leidet, brächte dagegen mit sich, dass der Ich-Gesichtspunct, mit seiner Übertreibung | und Ausschweifung, auch noch der Gesichtspunct des Anderen, des Mitleidenden, werden müsste : sodass wir an unserem Ich und am Ich des Anderen zugleich zu leiden hätten und uns derart freiwillig mit einer doppelten Unvernunft beschwerten, anstatt die Last der eigenen so gering wie möglich zu machen. 138. D a s Z ä r t l ic he r we r d e n .  – Wenn wir Jemanden lieben, ehren, bewundern und nun, hinterher, fi nden, dass er leidet, – immer mit grossem Erstaunen, weil wir nicht anders denken, als dass unser von ihm herströmendes Glück aus einem überreichen Borne e i g e ne n Glückes komme, – so ändert sich unser Gefühl der Liebe, Verehrung und Bewunderung in et wa s We s e nt l ic he m : es wird z ä r t l ic he r, das heisst : die Kluft zwischen ihm und uns scheint sich zu überbrücken, eine Annäherung an Gleichheit scheint Statt zu fi nden. Jetzt erst gilt es uns als möglich, ihm z u r üc k g eb e n zu können, während er früher über unserer Dankbarkeit erhaben in unserer Vorstellung lebte. Es macht uns dieses Zurück gebenkönnen eine grosse Freude und Erhebung. Wir suchen zu errathen, was seinen Schmerz lindert, und geben ihm diess ; will er tröst liche Worte, Blicke, Aufmerksamkeiten, Dienste, Geschenke, – wir geben es ; vor Allem aber : will er uns le id e nd über sein Leid, so geben wir uns als leidend, haben aber bei alledem d e n G e nu s s d er t h ät i g e n D a n k ba rk e it : als welche, kurz gesagt, d ie g ut e R ac he i s t . Will und nimmt er gar Nichts von uns

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an, so gehen wir erkältet und traurig, fast gekränkt fort : es ist, als ob unsere Dankbarkeit zurückgewiesen würde, – und in | diesem Ehrenpuncte ist der Gütigste noch kitzlich. – Aus dem Allen folgt, dass, selbst für den günstigsten Fall, im Leiden etwas Erniedrigendes und im Mitleiden etwas Erhöhendes und Überlegenheit-Gebendes liegt ; was beide Empfi ndungen auf ewig von einander trennt. 139. A n g ebl ic h höhe r !  – Ihr sagt, die Moral des Mitleidens sei eine höhere Moral, als die des Stoicismus’ ? Beweist es ! aber bemerkt, dass über „höher“ und „niedriger“ in der Moral nicht wiederum nach moralischen Ellen abzumessen ist : denn es giebt keine absolute Moral. Nehmt also die Maassstäbe anders woher und – nun seht euch vor ! 140. L ob e n u nd Tad e l n .  – Läuft ein Krieg unglücklich aus, so frägt man nach Dem, der „schuld“ am Kriege sei ; geht er siegreich zu Ende, so preist man seinen Urheber. Die Schuld wird überall gesucht, wo ein Misserfolg ist ; denn dieser bringt eine Verstimmung mit sich, gegen welche das einzige Heilmittel unwillkürlich angewendet wird : eine neue Erregung des M ac ht g e f ü h l s   – und diese fi ndet sich in der Ve r u r t he i lu n g des „Schuldigen“. Dieser Schuldige ist nicht etwa der Sündenbock der Schuld Anderer : er ist das Opfer der Schwachen, Gedemüthigten, Herabgestimmten, welche irgend woran sich beweisen wollen, dass sie noch Stärke haben. Auch sich selber verurtheilen kann ein Mittel sein, nach einer Niederlage sich zum Gefühl der Stärke zu verhelfen. – Dagegen ist die Verherrlichung des Ur heb e r s oftmals das ebenso blinde | Ergebniss eines anderen Triebes, der sein Opfer haben will, – und diessmal riecht das Opfer dem Opferthiere selber süss und einladend – : wenn nämlich das Gefühl der Macht in

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einem Volke, in einer Gesellschaft durch einen grossen und bezaubernden Erfolg überfüllt ist und eine E r mü d u n g am Sie g e eintritt, so giebt man von seinem Stolze ab ; es erhebt sich das Gefühl der H i n g ebu n g und sucht sich sein Object. – Ob wir g et a d e lt oder g e lo bt werden, wir sind gewöhnlich dabei die Gelegenheiten, und allzuoft die willkürlich am Schopf gefassten und herbeigeschleppten Gelegenheiten für unsere Nächsten, den in ihnen angeschwollenen Trieb des Tadelns oder Lobens ausströmen zu lassen : wir erzeigen ihnen in beiden Fällen eine Wohlthat, an der wir kein Verdienst und für die sie keinen Dank haben. 141. Sc höner, aber wen iger wer t h. – Malerische Moralität : das ist die Moralität der steil aufschiessenden Affecte, der schroffen Übergänge, der pathetischen, eindringlichen, furchtbaren, feierlichen Gebärden und Töne. Es ist die h a l bw i ld e Stufe der Moralität : man lasse sich durch ihren ästhetischen Reiz nicht verlocken, ihr einen höheren Rang anzuweisen. 142. M i t e m p f i n d u n g.  – Um den Anderen zu verstehen, das heisst um sei n Gef ü h l i n u n s nac h z ubi lden, gehen wir zwar häufig auf den G r u n d seines so und so bestimmten Gefühls zurück und fragen zum Beispiel : w a r u m ist er betrübt ? – um dann aus dem selben Grunde selber betrübt zu werden ; aber viel gewöhn|licher ist es, diess zu unterlassen und das Gefühl nach den W i r k u n g e n , die es am Anderen übt und zeigt, in uns zu erzeugen, indem wir den Ausdruck seiner Augen, seiner Stimme, seines Ganges, seiner Haltung (oder gar deren Abbild in Wort, Gemälde, Musik) an unserem Leibe nachbilden (mindestens bis zu einer leisen Ähnlichkeit des Muskelspiels und der Innervation). Dann entsteht in uns ein ähnliches Gefühl, in Folge einer alten Association von

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Bewegung und Empfi ndung, welche darauf eingedrillt ist, rückwärts und vorwärts zu laufen. In dieser Geschicklichkeit, die Gefühle des Andern zu verstehen, haben wir es sehr weit gebracht, und fast unwillkürlich sind wir in Gegenwart eines Menschen immer in der Übung dieser Geschicklichkeit : man sehe sich namentlich das Linienspiel in den weiblichen Gesichtern an, wie es ganz vom unaufhörlichen Nachbilden und Wiederspiegeln dessen, was um sie herum empfunden wird, erzittert und glänzt. Am deutlichsten aber zeigt uns die Musik, welche Meister wir im schnellen und feinen Errathen von Gefühlen und in der Mitempfi ndung sind : wenn nämlich Musik ein Nachbild vom Nachbild von Gefühlen ist und doch, trotz dieser Entfernung und Unbestimmtheit, uns noch oft genug derselben theilhaftig macht, sodass wir traurig werden, ohne den geringsten Anlass zur Trauer, wie vollkommene Narren, blos weil wir Töne und Rhythmen hören, welche irgendwie an den Stimmklang und die Bewegung von Trauernden, oder gar von deren Gebräuchen, erinnern. Man erzählt von einem dänischen König, dass er von der Musik eines Sängers so in kriegerische Begeisterung hineingerissen wurde, dass er aufsprang und fünf Personen seines versammelten | Hofstaates tödtete : es gab keinen Krieg, keinen Feind, vielmehr von Allem das Gegentheil, aber die vom G e f ü h le z u r Ur s ac he z u r üc k s c h l ie s s e nd e Kraft war stark genug, um den Augenschein und die Vernunft zu überwältigen. Allein, diess ist eben fast immer die Wirkung der Musik (gesetzt, dass sie eben w i r k t  –) und man braucht so paradoxer Fälle nicht, um diess einzusehen : der Zustand des Gefühls, in den uns die Musik bringt, ist fast jedesmal im Widerspruch mit dem Augenschein unserer wirklichen Lage und der Vernunft, welche diese wirkliche Lage und ihre Ursachen erkennt. – Fragen wir, wodurch die Nachbildung der Gefühle Anderer uns so geläufig geworden ist, so bleibt kein Zweifel über die Antwort : der Mensch, als das furchtsamste aller Geschöpfe, vermöge seiner

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feinen und zerbrechlichen Natur, hat in seiner F u r c ht s a m k e it die Lehrmeisterin jener Mitempfi ndung, jenes schnellen Verständnisses für das Gefühl des Andern (auch des Thieres) gehabt. In langen Jahrtausenden sah er in allem Fremden und Belebten eine Gefahr : er bildete sofort bei einem solchen Anblick den Ausdruck der Züge und der Haltung nach und machte seinen Schluss über die Art der bösen Absicht hinter diesen Zügen und dieser Haltung. Dieses Ausdeuten aller Bewegungen und Linien au f A b s ic h t e n hat der Mensch sogar auf die Natur der unbeseelten Dinge angewendet – im Wahne, dass es nichts Unbeseeltes gebe : ich glaube, Alles, was wir Nat u r g e f ü h l nennen, beim Anblick von Himmel, Flur, Fels, Wald, Gewitter, Sternen, Meer, Landschaft, Frühling, hat hier seine Herkunft,  – ohne die uralte Übung der Furcht, diess Alles auf einen zweiten dahinterliegenden Sinn hin zu | sehen, hätten wir jetzt keine Freude an der Natur, wie wir keine Freude an Mensch und Thier haben würden, ohne jene Lehrmeisterin des Verstehens, die Furcht. Die Freude und das angenehme Erstaunen, endlich das Gefühl des Lächerlichen, sind nämlich die später geborenen Kinder der Mitempfi ndung und die viel jüngeren Geschwister der Furcht. – Die Fähigkeit des raschen Verstehens – welche somit auf der Fähigkeit beruht, s ic h r a s c h z u ve r s t e l le n  – nimmt bei stolzen selbstherrlichen Menschen und Völkern ab, weil sie weniger Furcht haben : dagegen sind alle Arten des Verstehens und Sich-Verstellens unter den ängstlichen Völkern zu Hause ; hier ist auch die rechte Heimath der nachahmenden Künste und der höheren Intelligenz.  – Wenn ich von einer solchen Theorie der Mitempfi ndung aus, wie ich sie hier vorschlage, an die jetzt gerade beliebte und heilig gesprochene Theorie eines mystischen Processes denke, vermöge dessen das M it le id aus zwei Wesen eines macht und dergestalt dem einen das unmittelbare Verstehen des anderen ermöglicht : wenn ich mich erinnere, dass ein so heller Kopf wie der Schopenhauer’s an

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solchem schwärmerischen und nichtswürdigen Krimskrams seine Freude hatte und diese Freude wieder auf helle und halbhelle Köpfe übergepflanzt hat : so weiss ich der Verwunderung und des Erbarmens kein Ende. Wie gross muss unsere Lust am unbegreiflichen Unsinn sein ! Wie nahe dem Verrückten steht immer noch der ganze Mensch, wenn er auf seine g e h e i me n intellectuellen Wünsche hinhört ! – (Wof ü r eigentlich fühlte sich Schopenhauer gegen Kant so dankbar gestimmt, so tief verpfl ichtet ? Es verräth sich einmal ganz unzweideutig : Jemand | hatte davon gesprochen, wie dem kategorischen Imperative Kant’s die qualitas occulta genommen und er b e g r e i f l ic h gemacht werden könne. Darüber bricht Schopenhauer in diese Worte aus : „Begreiflichkeit des kategorischen Imperativs ! Grundverkehrter Gedanke ! Ägyptische Finsterniss ! Das verhüte der Himmel, dass der nicht noch begreiflich werde ! Eben dass es ein Unbegreifliches giebt, dass d ie s e r Ja m me r d e s Ve r s t a nd e s und seine Begriffe begränzt, bedingt, endlich, trüglich ist ; diese Gewissheit ist Kant’s grosses Geschenk.“ – Man erwäge, ob Jemand einen guten Willen zur Erkenntniss der moralischen Dinge hat, der von vornherein durch den Glauben an die Un b e g r e i f l ic h k e it dieser Dinge sich beseligt fühlt ! Einer, der noch ehrlich an Erleuchtungen von Oben, an Magie und Geistererscheinungen und die metaphysische Hässlichkeit der Kröte glaubt !) 143. Wehe, wen n d ie ser Tr ieb er st w üt het !  – Gesetzt, der Trieb der Anhänglichkeit und Fürsorge für Andere (die „sympathische Affection“) wäre doppelt so stark, als er ist, so wäre es gar nicht auf der Erde au s z u h a lt e n . Man bedenke doch nur, was Jeder aus Anhänglichkeit und Fürsorge f ü r s ic h s e l b e r an Thorheiten begeht, täglich und stündlich, und wie unausstehlich er dabei anzusehen ist : wie wäre es, wenn w i r f ü r A nd e r e das Object dieser Thorheiten und Zudringlich-

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keiten würden, mit denen sie sich bisher nur selber heimgesucht haben ! Würde man dann nicht blindlings flüchten, sobald ein „Nächster“ uns nahe käme ? Und die sympathische Affection mit ebenso bösen | Worten belegen, mit denen wir jetzt den Egoismus belegen ? 144. D ie Oh r en vor dem Ja m mer z u h a lten. – Wenn wir uns durch den Jammer und das Leiden der anderen Sterblichen verdüstern lassen und unsern eigenen Himmel mit Wolken bedecken, wer hat dann die Folgen dieser Verdüsterung zu tragen ? Eben doch die anderen Sterblichen, und zu allen ihren Lasten noch hinzu ! Wir können weder hü l f r e ic h noch e r q u ic k l ic h für sie sein, wenn wir das Echo ihres Jammers sein wollen, ja auch wenn wir immer nur nach ihm hin unser Ohr richten, – es sei denn, dass wir die Kunst der Olympier erlernten und uns fürderhin am Unglück der Menschen e r b aut e n , anstatt daran unglücklich zu werden. Das ist aber etwas zu olympierhaft für uns : obwohl wir, mit dem Genuss der Tragödie, schon einen Schritt nach diesem idealischen GötterKanibalenthum gethan haben. 145. „Unegoi st i sc h ! “ – Jener ist hohl und will voll werden, Dieser ist überfüllt und will sich ausleeren, – Beide treibt es, sich ein Individuum zu suchen, das ihnen dazu dient. Und diesen Vorgang, im höchsten Sinne verstanden, nennt man beidemal mit Einem Worte : Liebe, – wie ? die Liebe sollte etwas Unegoistisches sein ? 146. Auc h über den Näc h sten h i nweg.  – Wie ? Das Wesen des wahrhaft Moralischen liege darin, dass wir die nächsten und unmittelbarsten Folgen unserer Handlungen für den Anderen in’s Auge fassen und | uns darnach entscheiden ? Diess

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ist nur eine enge und kleinbürgerliche Moral, wenn es auch Moral sein mag : aber höher und freier scheint es mir gedacht, auch über diese nächsten Folgen für den Anderen h i nwe gz u s e he n und entferntere Zwecke unter Umständen auc h d u r c h d a s L e i d d e s A nd e r e n zu fördern, – zum Beispiel die Erkenntniss zu fördern, auch trotz der Einsicht, dass unsere Freigeisterei zunächst und unmittelbar die Anderen in Zweifel, Kummer und Schlimmeres werfen wird. Dürfen wir unseren Nächsten nicht wenigstens so behandeln, wie wir uns behandeln ? Und wenn wir bei uns nicht so eng und kleinbürgerlich an die unmittelbaren Folgen und Leiden denken : warum mü s s t e n wir es bei ihm thun ? Gesetzt, wir hätten den Sinn der Aufopferung für uns : was würde uns verbieten, den Nächsten mit aufzuopfern ? – so wie es bisher der Staat und der Fürst thaten, die den einen Bürger den anderen zum Opfer brachten, „der allgemeinen Interessen wegen“, wie man sagte. Aber auch wir haben allgemeine und vielleicht allgemeinere Interessen : warum sollten den kommenden Geschlechtern nicht einige Individuen der gegenwärtigen Geschlechter zum Opfer gebracht werden dürfen ? sodass ihr Gram‚ ihre Unruhe, ihre Verzweiflung, ihre Fehlgriffe und Angstschritte für nöthig befunden würden, weil eine neue Pflugschar den Boden brechen und fruchtbar für Alle machen solle ? – Endlich : wir theilen zugleich die Gesinnung an den Nächsten mit, in der er s ic h a l s O pf e r f ü h le n kann, wir überreden ihn zu der Aufgabe, für die wir ihn benützen. Sind wir denn ohne Mitleid ? Aber wenn wir auch ü b e r u n s e r M it le id h i nwe g gegen uns selber den Sieg erringen wollen, ist diess nicht eine höhere | und freiere Haltung und Stimmung, als jene, bei der man sich sicher fühlt, wenn man herausgebracht hat, ob eine Handlung dem Nächsten woh l o d e r we he t hut ? Wir dagegen würden doch durch das Opfer – in welchem wir u nd d ie Näc h s t e n einbegriffen sind – das allgemeine Gefühl der menschlichen Mac ht stärken und höher heben, gesetzt auch,

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dass wir nicht Mehr erreichten. Aber schon diess wäre eine positive Vermehrung des G lüc k e s . – Zuletzt, wenn diess sogar – – doch hier kein Wort mehr ! Ein Blick genügt, ihr habt mich verstanden. 147. Ursache des „A ltr uismus“. – Von der Liebe haben die Menschen im Ganzen desshalb so emphatisch und vergöttlichend gesprochen, we i l s ie We n i g d avo n g e h a b t h a b e n und sich niemals an dieser Kost satt essen durften : so wurde sie ihnen „Götterkost“. Möge ein Dichter einmal im Bilde einer Utopie die a l l g e m e i n e M e n s c h e n l i e b e als vorhanden zeigen : gewiss, er wird einen qualvollen und lächerlichen Zustand zu beschreiben haben, dessengleichen die Erde noch nicht sah,  – Jedermann nicht von Einem Liebenden umschwärmt, belästigt und ersehnt, wie es jetzt vorkommt, sondern von Tausenden, ja von Jedermann, vermöge eines unbezwingbaren Triebes, den man dann ebenso beschimpfen und verfluchen wird, wie es die ältere Menschheit mit der Selbstsucht gethan hat ; und die Dichter jenes Zustandes, wenn man ihnen zum Dichten die Ruhe lässt, von Nichts träumend als von der seligen liebelosen Vergangenheit, der göttlichen Selbstsucht, der einstmals auf Erden noch möglichen Einsamkeit, Ungestörtheit, Unbeliebtheit, Gehasstheit, Verachtetheit und wie immer | die ganze Niedertracht unserer lieben Thierwelt heisst, in der w i r leben. 148. Au sbl ic k i n d ie Fer ne. – Sind nur die Handlungen moralisch, wie man wohl defi nirt hat, welche um des Anderen willen und nur um seinetwillen gethan werden, so giebt es keine moralischen Handlungen ! Sind nur die Handlungen moralisch – wie eine andere Defi nition lautet –, welche in Freiheit des Willens gethan werden, so giebt es ebenfalls keine moralischen Handlungen ! – Und was ist also Das, was man so

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ne n nt und das doch jedenfalls existirt und erklärt sein will ? Es sind die Wirkungen einiger intellectueller Fehlgriffe.  – Und gesetzt, man machte sich von diesen Irrthümern frei, was würde aus den „moralischen Handlungen“ ? – Vermöge dieser Irrthümer theilten wir bisher einigen Handlungen einen höheren Werth zu, als sie haben : wir trennten sie von den „egoistischen“ und den „unfreien“ Handlungen ab. Wenn wir sie jetzt diesen wieder zuordnen, wie wir thun müssen, so ve r r i n g e r n wir gewiss ihren Werth (ihr Werthgefühl), und zwar unter das billige Maass hinab, weil die „egoistischen“ und „unfreien“ Handlungen bisher zu niedrig geschätzt wurden, auf Grund jener angeblichen tiefsten und innerlichsten Verschiedenheit. – So werden gerade sie von jetzt ab weniger oft gethan werden, weil sie von nun an weniger geschätzt werden ?  – Unvermeidlich ! Wenigstens für eine gute Zeit, so lange die Wage des Werthgefühls unter der Reaction früherer Fehler steht ! Aber unsere Gegenrechnung ist die, dass wir den Menschen den guten Muth zu den als egoistisch verschrieenen Handlungen zurückgeben und den We r t h derselben | wiederherstellen, – w i r r au b e n d ie s e n d a s b ö s e G ew i s s e n ! Und da diese bisher weit die häufigsten waren und in alle Zukunft es sein werden, so nehmen wir dem ganzen Bilde der Handlungen und des Lebens seinen b ö s e n A n s c he i n ! Diess ist ein sehr hohes Ergebniss ! Wenn der Mensch sich nicht mehr für böse hält, hört er auf, es zu sein ! |

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149. K lei ne abweichende Hand lungen thun noth !  – In den Angelegenheiten der S it t e auch einmal w i d e r seine bessere Einsicht handeln ; hier in der Praxis nachgeben und sich die geistige Freiheit vorbehalten ; es so machen wie Alle und damit Allen eine Artigkeit und Wohlthat erweisen, zur Entschädigung gleichsam für das Abweichende unserer Meinungen : – das gilt bei vielen leidlich freigesinnten Menschen nicht nur als unbedenklich, sondern als „honett“, „human“, „tolerant“, „nicht pedantisch“, und wie die schönen Worte lauten mögen, mit denen das intellectuelle Gewissen in Schlaf gesungen wird : und so bringt Dieser sein Kind zur christlichen Taufe herzu und ist dabei Atheist, und Jener thut Kriegsdienste wie alle Welt, so sehr er auch den Völkerhass verdammt, und ein Dritter läuft mit einem Weibchen in die Kirche, weil es eine fromme Verwandtschaft hat, und macht Gelübde vor einem Priester, ohne sich zu schämen. „Es ist nicht we s e ntl ic h , wenn Unsereiner auch thut, was Alle immerdar thun und gethan haben“ – so klingt das grobe Vor u r t he i l ! Der g r o b e Irrthum ! Denn es giebt nichts We s e nt l ic he r e s , als wenn das bereits Mächtige, Altherkömmliche und vernunftlos Anerkannte durch die Handlung eines anerkannt Vernünftigen noch einmal bestätigt wird : damit erhält es in den Augen Aller, die | davon hören, die Sanction der Vernunft selber ! Alle Achtung vor eueren Meinungen ! Aber k le i ne a bwe i c he nd e H a nd lu n g e n sind mehr werth ! 150. D e r Zu f a l l d e r E he n . – Wäre ich ein Gott, und ein wohlwollender Gott, so würden mich die E h e n der Menschen

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mehr als alles Andere ungeduldig machen. Weit, weit kann ein Einzelner vorwärts kommen, in seinen siebenzig‚ ja in seinen dreissig Jahren, – es ist zum Erstaunen, selbst für Götter ! Aber sieht man dann, wie er das Erbe und Vermächtniss dieses Ringens und Siegens, den Lorber seiner Menschlichkeit, an den ersten besten Ort aufhängt, wo ihn ein Weiblein zerpflückt ; sieht man, wie gut er zu erringen, wie schlecht zu bewahren versteht, ja wie er gar nicht daran denkt, dass er vermittelst der Zeugung ein noch siegreicheres Leben vorbereiten könne : so wird man, wie gesagt, ungeduldig und sagt sich „es kann aus der Menschheit auf die Dauer Nichts werden, die Einzelnen werden verschwendet, der Zufall der Ehen macht alle Vernunft eines grossen Ganges der Menschheit unmöglich ; – hören wir auf, die eifrigen Zuschauer und Narren dieses Schauspiels ohne Ziel zu sein !“  – In dieser Stimmung zogen sich einstmals die Götter Epikur’s in ihre göttliche Stille und Seligkeit zurück : sie waren der Menschen und ihrer Liebeshändel müde. 151. H ier si nd neue Idea le z u er f i nden. – Es sollte nicht erlaubt sein, im Zustande der Verliebtheit einen Entschluss über sein Leben zu fassen und einer heftigen Grille wegen den Charakter seiner Gesellschaft ein für | allemal festzusetzen : man sollte die Schwüre der Liebenden öffentlich für ungültig erklären und ihnen die Ehe verweigern : – und zwar, weil man die Ehe unsäglich wichtiger nehmen sollte ! so dass sie in solchen Fällen, wo sie bisher zu Stande kam, für gewöhnlich gerade nicht zu Stande käme ! Sind nicht die meisten Ehen der Art, dass man keinen Dritten als Zeugen wünscht ? Und gerade dieser Dritte fehlt fast nie – das Kind – und ist mehr als ein Zeuge, nämlich der Sündenbock !

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152. E id f or me l . – „Wenn ich jetzt lüge, so bin ich kein anständiger Mensch mehr, und Jeder soll es mir in’s Gesicht sagen dürfen.“  – Diese Formel empfehle ich an Stelle des gerichtlichen Eides und der üblichen Anrufung Gottes dabei : sie ist s t ä r k e r. Auch der Fromme hat keinen Grund, sich ihr zu widersetzen : sobald nämlich der bisherige Eid nicht mehr hinreichend nüt z t , muss der Fromme auf seinen Katechismus hören, welcher vorschreibt „du sollst den Namen Gottes deines Herrn nicht u n nüt z l ic h führen !“ 153. E i n Un z u f r ie d e ne r. – Das ist einer jener alten Tapferen : er ärgert sich über die Civilisation, weil er meint, dieselbe ziele darauf, alle guten Dinge, Ehren, Schätze, schöne Weiber,  – auch den Feigen zugänglich zu machen. 154. Tr o s t d e r G e f ä h r d et e n . – Die Griechen, in einem Leben, welches grossen Gefahren und Umstürzen sehr nahe stand, suchten im Nachdenken und Erkennen | eine Art Sicherheit des Gefühls und letztes refugium. Wir, in einem unvergleichlich sichrerem Zustande, haben die Gefährlichkeit in’s Nachdenken und Erkennen getragen, und erholen und beruhigen uns von ihr a m L eb e n . 155. E rlo s c he ne S k e p s i s . – Kühne Wagnisse sind in der neuen Zeit seltener, als in der alten und mittelalterlichen,  – wahrscheinlich desshalb, weil die neue Zeit nicht mehr den Glauben an Vorzeichen, Orakel, Gestirne und Wahrsager hat. Das heisst: wir sind dazu unfähig geworden, an eine u n s bestimmte Zu k u n f t z u g l au b e n , so wie die Alten glaubten, welche – anders, als wir – in Beziehung auf Das, was kom mt , viel weniger Skeptiker waren, als in Beziehung auf Das, was d a i s t .

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156. Au s Ü b e r mut h b ö s e. – „Dass wir uns nur nicht zu wohl fühlen !“ – das war die heimliche Herzensangst der Griechen in der guten Zeit. D e s s h a l b predigten sie sich das Maass. Und wir ! 157. Cu lt us der „Nat u rlaute“.  –Wohin weist es, dass unsere Cultur gegen die Aeusserungen des Schmerzes, gegen Thränen, Klagen, Vorwürfe, Gebärden der Wuth oder der Demüthigung, nicht nur geduldig ist, dass sie dieselben gut heisst und unter die edleren Unvermeidlichkeiten rechnet ? – während der Geist der antiken Philosophie mit Verachtung auf sie sah und ihnen durchaus keine Nothwendigkeit zuerkannte. Man erinnere sich doch, wie Plato  – das heisst : keiner von den un|menschlichsten Philosophen – von dem Philoktet der tragischen Bühne redet. Sollte unsrer modernen Cultur vielleicht „die Philosophie“ fehlen ? Sollten wir, nach der Abschätzung jener alten Philosophen, vielleicht sammt und sonders zum „Pöbel“ gehören ? 158. Cl ima des Schmeich lers.  – Die hündischen Schmeichler muss man jetzt nicht mehr in der Nähe der Fürsten suchen, – diese haben alle den militärischen Geschmack, und der Schmeichler geht wider diesen. Aber in der Nähe der Banquiers und Künstler wächst jene Blume auch jetzt noch. 159. D ie To dt e ner wec k er. – Eitle Menschen schätzen ein Stück Vergangenheit von dem Augenblick an höher, von dem an sie es nachzuempfi nden vermögen (zumal wenn diess schwierig ist), ja sie wollen es womöglich jetzt wieder von den Todten erwecken. Da der Eiteln aber immer eine Unzahl da ist, so ist die Gefahr der historischen Studien, sobald eine ganze Zeit ihnen obliegt, in der That nicht gering : es wird zu viel Kraft

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an alle möglichen Todten-Erweckungen weggeworfen. Vielleicht versteht man die ganze Bewegung der Romantik am besten aus diesem Gesichtspuncte. 160. Eitel, begehrlich und wenig weise. – Eure Begierden sind grösser, als euer Verstand, und eure Eitelkeit ist noch grösser, als eure Begierden, – solchen Menschen, wie ihr seid, ist von Grund aus r e c ht v ie l | christliche Praxis und dazu ein Wenig Schopenhauerische Theorie anzurathen ! 161. S c hö n he it g e m ä s s d e m Z e it a lt e r. – Wenn unsere Bildhauer, Maler und Musiker den Sinn der Zeit treffen wollen, so müssen sie die Schönheit gedunsen‚ riesenhaft und nervös bilden : so wie die Griechen, im Banne ihrer Moral des Maasses, die Schönheit als Apollo vom Belvedere sahen und bildeten. Wir sollten ihn eigentlich h ä s s l ic h nennen ! Aber die albernen „Classicisten“ haben uns um alle Ehrlichkeit gebracht ! 162. D ie I r on ie d e r G e g e nw ä r t i g e n . – Augenblicklich ist es Europäer-Art, alle grossen Interessen mit Ironie zu behandeln, weil man vor Geschäftigkeit in ihrem Dienste keine Zeit hat, sie ernst zu nehmen. 163. G e g e n Rou s s e au . – Wenn es wahr ist, dass unsere Civilisation etwas Erbärmliches an sich hat : so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschliessen „diese erbärmliche Civilisation ist Schuld an unserer s c h le c ht e n Moralität“ oder gegen Rousseau zurückzuschliessen „unsere g u t e Moralität ist Schuld an dieser Erbärmlichkeit der Civilisation. Unsere schwachen, unmännlichen gesellschaftlichen Begriffe von gut und böse und die ungeheuere Überherrschaft derselben

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über Leib und Seele haben alle Leiber und alle Seelen endlich schwach gemacht und die selbständigen, unabhängigen, unbefangenen Menschen, die Pfeiler einer s t a r k e n | Civilisation, zerbrochen : wo man der s c h le c ht e n Moralität jetzt noch begegnet, da sieht man die letzten Trümmer dieser Pfeiler.“ So stehe denn Paradoxon gegen Paradoxon ! Unmöglich kann hier die Wahrheit auf beiden Seiten sein : und ist sie überhaupt auf einer von beiden ? Man prüfe. 164. V ie l le ic ht ve r f r ü ht . – Gegenwärtig scheint es so, dass unter allerhand falschen irreführenden Namen und zumeist in grosser Unklarheit von Seiten Derer, welche sich nicht an die bestehenden Sitten und Gesetze gebunden halten, die ersten Versuche gemacht werden, sich zu organisiren und damit sich ein R e c ht zu schaffen : während sie bisher, als Verbrecher, Freidenker, Unsittliche, Bösewichte verschrieen, unter dem Banne der Vogelfreiheit und des schlechten Gewissens, verderbt und verderbend, lebten. Diess sollte man im Ganzen und Grossen bi l l i g u nd g ut fi nden, wenn es auch das kommende Jahrhundert zu einem gefährlichen macht und Jedem das Gewehr um die Schulter hängt : schon damit eine Gegenmacht da ist, die immer daran erinnert, dass es keine allein-moralisch-machende Moral giebt und dass jede ausschliesslich sich selber bejahende Sittlichkeit zu viel gute Kraft tödtet und der Menschheit zu theuer zu stehen kommt. Die Abweichenden, welche so häufig die Erfi nderischen und Fruchtbaren sind, sollen nicht mehr geopfert werden ; es soll nicht einmal mehr für schändlich gelten, von der Moral abzuweichen, in Thaten und Gedanken ; es sollen zahlreiche neue Versuche des Lebens und der Gemeinschaft gemacht werden ; es soll eine ungeheuere Last von | schlechtem Gewissen aus der Welt geschaff t werden, – diese allgemeinsten Ziele sollten von allen Redlichen und Wahrheitsuchenden anerkannt und gefördert werden !

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165. Welc he Mora l n ic ht la ng wei lt. – Die sittlichen Hauptgebote, die ein Volk sich immer wieder lehren und vorpredigen lässt, stehen in Beziehung zu seinen Hauptfehlern, und desshalb werden sie ihm nicht langweilig. Die Griechen, denen die Mässigung, der kalte Muth, der gerechte Sinn und überhaupt die Verständigkeit allzuoft abhanden kamen, hatten ein Ohr für die vier sokratischen Tugenden, – denn man hatte sie so nöthig und doch gerade für sie so wenig Talent ! 166. A m S c he id ewe g e. – Pfui ! ihr wollt in ein System hinein, wo man entweder Rad sein muss, voll und ganz, oder unter die Räder geräth ! wo es sich von selber versteht, dass Jeder Das i s t , wozu er von Oben her g e m ac ht wird ! Wo das Suchen nach „Connexion“ zu den natürlichen Pfl ichten gehört ! wo Keiner sich beleidigt fühlt, wenn er auf einen Mann mit dem Winke aufmerksam gemacht wird „er kann Ihnen einmal nützen“ ; wo man sich nicht schämt, Besuche zu machen, um die Fürsprache einer Person zu erbitten ! wo man nicht einmal ahnt, wie man sich durch eine gefl issentliche Einordnung in solche Sitten ein für allemal als geringe Töpferwaare der Natur bezeichnet hat, welche Andere verbrauchen und zerbrechen dürfen, ohne sich sehr dafür verantwortlich zu fühlen ; gleich als ob man sagte : „an solcher Art, wie ich bin, wird es nie Mangel geben : nehmt mich hin ! Ohne Umstände !“ – | 167. D i e u n b e d i n g t e n Hu l d i g u n g e n .  – Wenn ich an den gelesensten deutschen Philosophen, an den gehörtesten deutschen Musiker und an den angesehensten deutschen Staatsmann denke, so muss ich mir eingestehen : es wird den Deutschen, diesem Volke der u n b e d i n g t e n Gefühle, jetzt recht sauer gemacht, und zwar von ihren eigenen grossen Män-

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nern. Es giebt da dreimal ein prachtvolles Schauspiel zu sehen : jedesmal einen Strom, in seinem eigenen, selbstgegrabenen Strombette‚ und so mächtig bewegt, dass es öfter scheinen könnte, als wollte er den Berg hinaufströmen. Und dennoch, wie weit man seine Verehrung auch treiben möge : wer möchte nicht gern a nd e r e r Meinung sein, als Schopenhauer, im Ganzen und Grossen ! – Und wer könnte jetzt Einer Meinung mit Richard Wagner sein, im Ganzen und im Kleinen ? so wahr es auch sein mag, was Jemand gesagt hat, dass überall, wo er Anstoss nimmt und wo er Anstoss giebt, ein Problem ve r g r a b e n liegt, – genug, er selber bringt es nicht an das Licht. – Und endlich, wie Viele möchten von ganzem Herzen mit Bismarck Einer Meinung sein, wenn er selber nur mit sich Einer Meinung wäre oder auch nur Miene machte, es fürderhin zu sein ! Zwar : oh ne Gr u nd s ät z e, a b e r m it G r u n d t r ieb e n , ein beweglicher Geist im Dienste starker Grundtriebe, und eben desshalb ohne Grundsätze,  – das sollte an einem Staatsmanne nichts Auff älliges haben, vielmehr als das Rechte und Naturgemässe gelten ; aber leider war es bisher so durchaus nicht deutsch ! ebenso wenig, als Lärm um Musik, und Missklang und Missmuth um den Musiker, ebenso wenig, | als die neue und ausserordentliche Stellung, welche Schopenhauer wählte : nämlich weder ü b e r den Dingen, noch auf den Knieen vor den Dingen – beides hätte noch deutsch heissen können –, sondern g e g e n die Dinge ! Unglaublich ! Und unangenehm ! Sich in Eine Reihe mit den Dingen stellen und doch als ihr Gegner, zu guterletzt gar als der Gegner seiner selber ! – was kann der unbedingte Verehrer mit einem solchen Vorbilde anfangen ! Und was überhaupt mit drei solchen Vorbildern, die unter einander selber nicht Frieden halten wollen ! Da ist Schopenhauer ein Gegner der Musik Wagner’s, und Wagner ein Gegner der Politik Bismarck’s, und Bismarck ein Gegner aller Wagnerei und Schopenhauerei ! Was bleibt da zu thun ! Wohin sich mit seinem Durste

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nach der „Huldigung in Bausch und Bogen“ flüchten ! Könnte man sich vielleicht aus der Musik des Musikers einige hundert Tacte guter Musik auslesen, die sich Einem an’s Herz legen und denen man sich gern an’s Herz legt, weil sie ein Herz haben, – könnte man mit diesem kleinen Raub bei Seite gehen und den ganzen Rest – vergessen ? Und ein eben solches Abkommen in Hinsicht des Philosophen und des Staatsmannes ausfi ndig machen,  – auslesen, sich an’s Herz legen und namentlich d e n R e s t ve r g e s s e n ? Ja, wenn nur das Vergessen nicht so schwer wäre ! Da gab es einen sehr stolzen Menschen, der durchaus nur von sich selber Etwas annehmen wollte, Gutes und Schlimmes : als er aber das Ve r g e s s e n nöthig hatte, konnte er es sich selber nicht geben, sondern musste dreimal die Geister beschwören ; sie kamen, sie hörten sein Verlangen, und zuletzt sagten sie : „nur diess gerade steht nicht in unserer Macht !“ Sollten | die Deutschen sich die Erfahrung M a n f r e d ’s nicht zu Nutze machen ? Warum erst noch die Geister beschwören ! Es ist unnütz, man vergisst nicht, wenn man vergessen will. Und wie gross wäre „der Rest“, den man hier, von diesen drei Grössen der Zeit, vergessen müsste, um fürderhin ihr Verehrer in Bausch und Bogen sein zu können ! Da ist es doch räthlicher, die gute Gelegenheit zu benutzen und etwas Neues zu versuchen : nämlich in der R e d l ic h k e it g e g e n s ic h s e l b e r zuzunehmen und aus einem Volke des gläubigen Nachsprechens und der bitterbösen blinden Feindseligkeit ein Volk der bedingten Zustimmung und der wohlwollenden Gegnerschaft zu werden ; zunächst aber zu lernen, dass unbedingte Huldigungen vor Personen etwas Lächerliches sind, dass hierin Umlernen auch für Deutsche nicht unrühmlich ist, und dass es einen tiefen, beherzigenswerthen Spruch giebt : „Ce qui importe, ce ne sont point les personnes : mais les choses.“ Dieser Spruch ist wie Der, welcher ihn sprach, gross, brav, einfach und schweigsam, – ganz wie Carnot, der Soldat und der Republicaner. – Aber darf man

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jetzt so von einem Franzosen zu Deutschen sprechen, noch dazu von einem Republicaner ? Vielleicht nicht ; ja, vielleicht darf man nicht einmal daran erinnern, was Niebuhr seiner Zeit den Deutschen sagen durfte : Niemand habe ihm so sehr den Eindruck der w a h r e n Gr ö s s e gegeben, als Carnot. 168. Ei n Vor bi ld . – Was liebe ich an Thukydides, was macht, dass ich ihn höher ehre, als Plato ? Er hat die umfänglichste und unbefangenste Freude an allem Typischen des Menschen und der Ereignisse und fi ndet, | dass zu jedem Typus ein Quantum g ut e r Ve r nu n f t gehört : d ie s e sucht er zu entdecken. Er hat eine grössere praktische Gerechtigkeit, als Plato ; er ist kein Verlästerer und Verkleinerer der Menschen, die ihm nicht gefallen oder die ihm im Leben wehe gethan haben. Im Gegentheil : er sieht etwas Grosses in alle Dinge und Personen hinein und zu ihnen hinzu, indem er nur Typen sieht ; was hätte auch die ganze Nachwelt, der er sein Werk weiht, mit dem zu schaffen, was n ic ht typisch wäre ! So kommt in ihm, dem Menschen-Denker, jene C u lt u r d e r u n b e f a n g e n s t e n We lt k e n nt n i s s zu einem letzten herrlichen Ausblühen‚ welche in Sophokles ihren Dichter, in Perikles ihren Staatsmann, in Hippokrates ihren Arzt, in Demokrit ihren Naturforscher hatte : jene Cultur‚ welche auf den Namen ihrer Lehrer, der S o ph i s t e n , getauft zu werden verdient und leider von diesem Augenblicke der Taufe an uns auf einmal blass und unfassbar zu werden beginnt,  – denn nun argwöhnen wir, es müsse eine sehr unsittliche Cultur gewesen sein, gegen welche ein Plato mit allen sokratischen Schulen kämpfte ! Die Wahrheit ist hier so verzwickt und verhäkelt, dass es Widerwillen macht, sie aufzudröseln : so laufe der alte Irrthum (error veritate simplicior) seinen alten Weg !

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169. D a s Gr iec h i s c he u n s s e h r f r emd . – Orientalisch oder Modern, Asiatisch oder Europäisch : im Verhältniss zum Griechischen ist diesem Allem die Massenhaftigkeit und der Genuss an der grossen Quantität als der Sprache des Erhabenen zu eigen, während man in Pästum, Pompeji und Athen und vor der ganzen grie|chischen Architektur so erstaunt darüber wird, m it w ie k le i n e n M a s s e n die Griechen etwas Erhabenes auszusprechen wissen und auszusprechen l ieb e n .  – Ebenfalls : wie einfach waren in Griechenland die Menschen sich selber i n i h r e r Vor s t e l lu n g ! Wie weit übertreffen wir sie in der Menschenkenntniss ! Wie labyrinthisch aber auch nehmen sich unsere Seelen und unsere Vorstellungen von den Seelen gegen die ihrigen aus ! Wollten und wagten wir eine Architektur nach u n s e r e r Seelen-Art (wir sind zu feige dazu !) – so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein ! Die uns eigene und uns wirklich aussprechende Musik lässt es schon errathen ! (In der Musik nämlich lassen sich die Menschen gehen, weil sie wähnen, es sei Niemand da, der sie selber u nt e r ihrer Musik zu sehen vermöge.) 170. A nder e Per s pec t ive de s G ef ü h le s. – Was ist unser Geschwätz von den Griechen ! Was verstehen wir denn von ihrer Kunst, deren Seele – die Leidenschaft für die m ä n n l ic he nackte Schönheit ist ! – Erst vo n d a au s empfanden sie die weibliche Schönheit. So hatten sie also für sie eine völlig andere Perspective, als wir. Und ähnlich stand es mit ihrer Liebe zum Weibe : sie verehrten anders, sie verachteten anders. 171. Die Er nä h r u ng des moder nen Men sc hen. – Er versteht Vieles, ja fast Alles zu verdauen, – es ist seine Art Ehrgeiz : aber er würde höherer Ordnung sein, wenn er diess gerade n ic ht

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verstünde ; homo pamphagus ist nicht die feinste Species. Wir leben zwischen einer Vergangenheit, die einen verrückteren und eigen|sinnigeren Geschmack hatte, als wir, und einer Zukunft, die vielleicht einen gewählteren haben wird, – wir leben zu sehr in der Mitte. 172. Tr a g ö d i e u n d Mu s i k .  – Männer in einer kriegerischen Grundverfassung des Gemüths, wie zum Beispiel die Griechen in der Zeit des Äschylus, sind sc hwer z u r ü h r en , und wenn das Mitleiden einmal über ihre Härte siegt, so ergreift es sie wie ein Taumel und gleich einer „dämonischen Gewalt“, – sie fühlen sich dann unfrei und von einem religiösen Schauder erregt. Hinterher haben sie ihre Bedenken gegen diesen Zustand ; so lange sie in ihm sind, geniessen sie das Entzücken des Ausser-sich-seins und des Wunderbaren, gemischt mit dem bittersten Wermuth des Leidens : es ist das so recht ein Getränk für Krieger, etwas Seltenes, Gefährliches und Bittersüsses, das Einem nicht leicht zu Theil wird. – An Seelen, die so das Mitleiden empfi nden, wendet sich die Tragödie, an harte und kriegerische Seelen, welche man schwer besiegt, sei es durch Furcht, sei es durch Mitleid, welchen es aber nütze ist, von Zeit zu Zeit e r we ic ht zu werden : aber was soll die Tragödie Denen, welche den „sympathischen Affectionen“ offen stehen wie die Segel den Winden ! Als die Athener weicher und empfi ndsamer geworden waren, zur Zeit Plato’s, – ach, wie ferne waren sie noch von der Rührseligkeit unserer Grossund Kleinstädter ! – aber doch klagten schon die Philosophen über die S c h ä d l ic h k e it der Tragödie. Ein Zeitalter voller Gefahren, wie das eben beginnende, in welchem die Tapferkeit und Männlichkeit im Preise steigen, wird vielleicht allmählich die Seelen | wieder so hart machen, dass tragische Dichter ihnen noth thun : einstweilen aber waren diese ein Wenig ü b e r f l ü s s i g ,  – um das mildeste Wort zu gebrauchen. – So kommt vielleicht auch für die Musik noch einmal

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das bessere Zeitalter (gewiss wird es das b ö s e r e sein !), dann, wenn die Künstler sich mit ihr an streng persönliche‚ in sich harte, vom dunklen Ernste eigener Leidenschaft beherrschte Menschen zu wenden haben : aber was soll die Musik diesen heutigen allzubeweglichen, unausgewachsenen, halbpersönlichen, neugierigen und nach Allem lüsternen Seelchen des verschwindenden Zeitalters ? 173. D ie L o b r e d ne r d e r A r b e it . – Bei der Verherrlichung der „Arbeit“, bei dem unermüdlichen Reden vom „Segen der Arbeit“ sehe ich den selben Hintergedanken, wie bei dem Lobe der gemeinnützigen unpersönlichen Handlungen : den der Furcht vor allem Individuellen. Im Grunde fühlt man jetzt, beim Anblick der Arbeit – man meint immer dabei jene harte Arbeitsamkeit von früh bis spät –‚ dass eine solche Arbeit die beste Polizei ist, dass sie Jeden im Zaume hält und die Entwickelung der Vernunft, der Begehrlichkeit, des Unabhängigkeitsgelüstes kräftig zu hindern versteht. Denn sie verbraucht ausserordentlich viel Nervenkraft und entzieht dieselbe dem Nachdenken, Grübeln, Träumen, Sorgen, Lieben, Hassen‚ sie stellt ein kleines Ziel immer in’s Auge und gewährt leichte und regelmässige Befriedigungen. So wird eine Gesellschaft, in welcher fortwährend hart gearbeitet wird, mehr Sicherheit haben : und die Sicherheit betet man jetzt als die oberste Gottheit an. – Und nun ! Entsetzen ! Gerade der „Arbeiter“ | ist g e f ä h r l ic h geworden ! Es wimmelt von „gefährlichen Individuen“ ! Und hinter ihnen die Gefahr der Gefahren – d a s individuum ! 174. Mor a l i s c he Mo d e e i ne r h a nd e lt r e i b e nd e n G e s e l ls c h a f t . – Hinter dem Grundsatze der jetzigen moralischen Mode : „moralische Handlungen sind die Handlungen der Sympathie für Andere“ sehe ich einen socialen Trieb der Furcht-

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samkeit walten, welcher sich in dieser Weise intellectuell vermummt : dieser Trieb will, als Oberstes, Wichtigstes, Nächstes, dass dem Leben a l le G e f ä h rl ic h k e it genommen werde, welche es früher hatte und dass daran Je d e r und mit allen Kräften helfen solle : desshalb dürfen nur Handlungen, welche auf die gemeinsame Sicherheit und das Sicherheitsgefühl der Gesellschaft abzielen, das Prädicat „gut“ bekommen ! – Wie wenig Freude müssen doch jetzt die Menschen an sich haben, wenn eine solche Tyrannei der Furchtsamkeit ihnen das oberste Sittengesetz vorschreibt, wenn sie es sich so widerspruchslos anbefehlen lassen, über sich, neben sich wegzusehen, aber für jeden Nothstand, für jedes Leiden anderwärts Luchs-Augen zu haben ! Sind wir denn bei einer solchen ungeheuren Absichtlichkeit, dem Leben alle Schärfen und Kanten abzureiben, nicht auf dem besten Wege, die Menschheit zu S a nd zu machen ? Sand ! Kleiner, weicher, runder, unendlicher Sand ! Ist das euer Ideal, ihr Herolde der sympathischen Affectionen ? – Inzwischen bleibt selbst die Frage unbeantwortet, ob man dem Anderen me h r nüt z t , indem man ihm unmittelbar fortwährend beispringt und h i l f t   – was doch nur sehr oberflächlich | geschehen kann, wo es nicht zu einem tyrannischen Übergreifen und Umbilden wird – oder indem man aus sich selber Etwas f or mt , was der Andere mit Genuss sieht, etwa einen schönen, ruhigen, in sich abgeschlossenen Garten, welcher hohe Mauern gegen die Stürme und den Staub der Landstrassen, aber auch eine gastfreundliche Pforte hat. 175. Gr u ndgeda n ke ei ner Cu lt u r der Ha ndelt reibenden. – Man sieht jetzt mehrfach die Cultur einer Gesellschaft im Entstehen, für welche das H a nd e lt r e i b e n ebenso sehr die Seele ist, als der persönliche Wettkampf es für die älteren Griechen und als Krieg, Sieg und Recht es für die Römer waren. Der Handeltreibende versteht Alles zu taxiren, ohne es zu ma-

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chen, und zwar zu taxiren n ac h d e m B e d ü r f n i s s e d e r Co n s u me nt e n , nicht nach seinem eigenen persönlichsten Bedürfnisse ; „wer und wie Viele consumiren diess ?“ ist seine Frage der Fragen. Diesen Typus der Taxation wendet er nun instinctiv und immerwährend an : auf Alles, und so auch auf die Hervorbringungen der Künste und Wissenschaften, der Denker, Gelehrten, Künstler, Staatsmänner, der Völker und Parteien, der ganzen Zeitalter : er fragt bei Allem, was geschaffen wird, nach Angebot und Nachfrage, u m f ü r s ic h den Wer t h ei ner Sac he fe st z u set z en. Diess zum Charakter einer ganzen Cultur gemacht, bis in’s Unbegränzte und Feinste durchgedacht und allem Wollen und Können aufgeformt : das ist es, worauf ihr Menschen des nächsten Jahrhunderts stolz sein werdet : wenn die Propheten der handeltreibenden Classe Recht haben, dieses | in euren Besitz zu geben ! Aber ich habe wenig Glauben an diese Propheten. Credat Judaeus Apella – mit Horaz zu reden. 176. D ie K r it i k ü b e r d ie V ä t e r. – Warum verträgt man jetzt die Wahrheit schon über die jüngste Vergangenheit ? Weil immer schon eine neue Generation da ist, die sich i m G e g e n s at z zu dieser Vergangenheit fühlt und die Erstlinge des Gefühles der Macht in dieser Kritik geniesst. Ehemals wollte umgekehrt die neue Generation sich auf die ältere g r ü n d e n , und sie begann sich zu f ü h le n , indem sie die Ansichten der Väter nicht nur annahm‚ sondern womöglich s t r e n g e r nahm. Die Kritik über die Väter war damals lasterhaft : jetzt b e g i n ne n die jüngeren Idealisten damit. 177. E i n s a m k e it le r ne n . – Oh, ihr armen Schelme in den grossen Städten der Weltpolitik, ihr jungen, begabten, vom Ehrgeiz gemarterten Männer, welche es für ihre Pfl icht halten,

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zu allen Begebenheiten – es begiebt sich immer Etwas – ihr Wort zu sagen ! Welche, wenn sie auf diese Art Staub und Lärm machen, glauben, der Wagen der Geschichte zu sein ! Welche, weil sie immer horchen, immer auf den Augenblick passen, wo sie ihr Wort hineinwerfen können, jede ächte Productivität verlieren ! Mögen sie auch noch so begehrlich nach grossen Werken sein : die tiefe Schweigsamkeit der Schwangerschaft kommt nie zu ihnen ! Das Ereigniss des Tages jagt sie wie Spreu vor sich her, während sie meinen, das Ereigniss zu jagen, – die armen Schelme ! – Wenn man einen Helden auf der | Bühne abgeben will, darf man nicht daran denken, Chorus zu machen, ja, man darf nicht einmal wissen, wie man Chorus macht. 178. Die Tägl ich-Abgenüt zten. – Diesen jungen Männern fehlt es weder an Charakter, noch an Begabung, noch an Fleiss : aber man hat ihnen nie Zeit gelassen, sich selber eine Richtung zu geben, vielmehr sie von Kindesbeinen an gewöhnt, eine Richtung zu empfangen. Damals, als sie reif genug waren, um „in die Wüste geschickt zu werden“, that man etwas Anderes, – man benutzte sie, man entwendete sie sich selber, man erzog sie zu dem t ä g l ic he n A bg e nut z t wer d e n , man machte ihnen eine Pfl ichtenlehre daraus – und jetzt können sie es nicht mehr entbehren und wollen es nicht anders. Nur darf man diesen armen Zugthieren ihre „Ferien“ nicht versagen – wie man es nennt, diess Musse-Ideal eines überarbeiteten Jahrhunderts : wo man einmal nach Herzenslust faulenzen und blödsinnig und kindisch sein darf. 179. So wen ig a ls mögl ich Staat ! – Alle politischen und wirthschaftlichen Verhältnisse sind es nicht werth, dass gerade die begabtesten Geister sich mit ihnen befassen dürften und müssten : ein solcher Verbrauch des Geistes ist im Grunde schlim-

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mer, als ein Nothstand. Es sind und bleiben Gebiete der Arbeit für die geringeren Köpfe, und andere als die geringen Köpfe sollten dieser Werkstätte nicht zu Diensten stehen : möge lieber die Maschine wieder einmal in Stücke gehen ! So wie es aber jetzt steht, wo nicht nur Alle täglich darum glauben w i s s e n zu müssen, sondern auch Jeder|mann alle Augenblicke dafür thätig sein will und seine eigene Arbeit darüber im Stiche lässt, ist es ein grosser und lächerlicher Wahnsinn. Man bezahlt die „allgemeine Sicherheit“ viel zu theuer um diesen Preis : und, was das Tollste ist, man bringt überdiess das Gegentheil der allgemeinen Sicherheit damit hervor, wie unser liebes Jahrhundert zu beweisen unternimmt : als ob es noch nie bewiesen wäre ! Die Gesellschaft diebessicher und feuerfest und unendlich bequem für jeden Handel und Wandel zu machen und den Staat zur Vorsehung im guten und schlimmen Sinne umzuwandeln, – diess sind niedere, mässige und nicht durchaus unentbehrliche Ziele, welche man nicht mit den höchsten Mitteln und Werkzeugen erstreben sollte, d ie e s ü b e r h au pt g iebt , – den Mitteln, die man eben für die höchsten und seltensten Zwecke sich au f z u s p a r e n hätte ! Unser Zeitalter, so viel es von Ökonomie redet, ist ein Verschwender : es verschwendet das Kostbarste, den Geist. 180. D ie K r ie g e. – Die grossen Kriege der Gegenwart sind die Wirkungen des historischen Studiums. 181. R e g ie r e n . – Die Einen regieren, aus Lust am Regieren ; die Andern, um nicht regiert zu werden : – Diesen ist es nur das geringere von zwei Übeln. 182. D ie g r ob e Con s eq ue n z . – Man sagt mit grosser Auszeichnung : „das ist ein Charakter !“ – ja ! wenn er grobe Consequenz

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zeigt, wenn die Consequenz auch dem stumpfen Auge einleuchtet ! Aber sobald ein feinerer | und tieferer Geist waltet und auf seine höhere Weise folgerichtig ist, leugnen die Zuschauer das Vorhandensein des Charakters. Desshalb spielen verschlagene Staatsmänner ihre Komödie gewöhnlich hinter einem Deckmantel der groben Consequenz. 183. Die A lten und d ie Jungen. – „Es ist etwas Unmoralisches an den Parlamenten – so denkt Der und Jener immer noch –, denn man darf da auch Ansichten g e g e n die Regierung haben !“ – „Man muss immer die Ansicht von der Sache haben, welche der gnädige Herr befiehlt“  – das ist das elfte Gebot in manchem braven alten Kopfe, namentlich im nördlichen Deutschland. Man lacht darüber wie über eine veraltete Mode : aber ehemals war es die Moral ! Vielleicht, dass man auch wieder einmal über Das lacht, was jetzt, unter dem parlamentarisch erzogenen jüngeren Geschlechte als moralisch gilt : nämlich die Politik der Partei über die eigne Weisheit zu stellen und jede Frage des öffentlichen Wohles so zu beantworten, wie es gerade guten Wind für die Segel der Partei macht. „Man muss die Ansicht von der Sache haben, welche die Situation der Partei erheischt“ – so würde der Kanon lauten. Im Dienste einer solchen Moral giebt es jetzt jede Art von Opfer, Selbstüberwindung und Martyrium. 184. D e r St a at a l s Er z eu g n i s s d e r A n a r c h i s t e n . – In den Ländern der gebändigten Menschen giebt es immer noch genug von den rückständigen und ungebändigten : augenblicklich sammeln sie sich in den socialistischen Lagern mehr als irgendwo anders. Sollte es | dazu kommen, dass diese einmal G e s et z e geben, so kann man darauf rechnen, dass sie sich an eine eiserne Kette legen und furchtbare Disciplin üben

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werden : – s ie k e n ne n s ic h ! Und sie werden diese Gesetze aushalten, im Bewusstsein, dass sie selber dieselben gegeben haben,  – das Gefühl der Macht, und d ie s e r Macht, ist zu jung und entzückend für sie, als dass sie nicht Alles um seinetwillen litten. 185. B et t le r. – Man soll die Bettler abschaffen : denn man ärgert sich, ihnen zu geben, und ärgert sich, ihnen nicht zu geben. 186. G e s c h ä f t s leut e. – Euer Geschäft – das ist euer grösstes Vorurtheil, es bindet euch an euren Ort, an eure Gesellschaft, an eure Neigungen. Im Geschäft fleissig, – aber im Geiste faul, mit eurer Dürftigkeit zufrieden und die Schürze der Pfl icht über diese Zufriedenheit gehängt : so lebt ihr, so wollt ihr eure Kinder ! 187. A u s e i n e r m ög l i c h e n Z u k u n f t .  – Ist ein Zustand undenkbar, wo der Übelthäter sich selber zur Anzeige bringt, sich selber seine Strafe öffentlich dictirt, im stolzen Gefühle, dass er so das Gesetz ehrt, das er selber gemacht hat, dass er seine Macht ausübt, indem er sich straft, die Macht des Gesetzgebers ; er kann sich einmal vergehen, aber er erhebt sich durch die freiwillige Strafe über sein Vergehen, er wischt das Vergehen durch Freimüthigkeit, Grösse und Ruhe nicht nur aus : er thut eine öffentliche Wohlthat hinzu. – | Diess wäre der Verbrecher einer möglichen Zukunft, welcher freilich auch eine Gesetzgebung der Zukunft voraussetzt, des Grundgedankens : „ich beuge mich nur dem Gesetze, welches ich selber gegeben habe, im Kleinen und Grossen.“ Es müssen so viele Versuche noch gemacht werden ! Es muss so manche Zukunft noch an’s Licht kommen !

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188. R au s c h u n d E r n ä h r u n g.  – Die Völker werden so sehr betrogen, weil sie immer einen Betrüger s uc he n , nämlich einen aufregenden Wein für ihre Sinne. Wenn sie nur d e n haben können, dann nehmen sie wohl mit schlechtem Brode fürlieb. Der Rausch gilt ihnen mehr, als die Nahrung, – hier ist der Köder, an dem sie immer anbeissen werden ! Was sind ihnen Männer, aus ihrer Mitte gewählt – und seien es die sachkundigsten Praktiker – gegen glänzende Eroberer, oder alte prunkhafte Fürstenhäuser ! Mindestens muss der Volksmann ihnen Eroberungen und Prunk in Aussicht stellen : so fi ndet er vielleicht Glauben. Sie gehorchen immer, und thun noch mehr, als gehorchen, vorausgesetzt, dass sie sich dabei berauschen können ! Man darf ihnen selbst die Ruhe und das Vergnügen nicht anbieten, ohne den Lorberkranz und seine verrückt machende Kraft darin. Dieser pöbelhafte Geschmack, welcher den R au sc h w ic ht iger n i m mt, a l s d ie Er nä hr u n g , ist aber keineswegs in der Tiefe des Pöbels entstanden : er ist vielmehr dorthin getragen, dorthin verpflanzt und dort nur noch am meisten rückständig und üppig aufschiessend‚ während er von den höchsten Intelligenzen her seinen Ursprung nimmt und Jahrtausende lang in ihnen geblüht hat. Das Volk ist der letzte w i ld e B o d e n , auf | dem dieses glänzende Unkraut noch gedeihen kann. – Wie ! Und ihm gerade sollte man die Politik anvertrauen ? Damit es sich aus ihr seinen täglichen Rausch mache ? 189. Vo n d e r g r o s s e n Pol it i k . – Soviel auch der Nutzen und die Eitelkeit, von Einzelnen wie von Völkern, in der g r o s s e n Pol it i k mitwirken mögen : das gewaltigste Wasser, das sie vorwärts treibt, ist das B e d ü r f n i s s d e s M ac ht g e f ü h l s , welches nicht nur in den Seelen der Fürsten und Mächtigen, sondern nicht zum geringsten Theil gerade in den niederen

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Schichten des Volkes aus unversieglichen Quellen von Zeit zu Zeit hervorstösst. Es kommt immer wieder die Stunde, wo die Masse ihr Leben, ihr Vermögen, ihr Gewissen, ihre Tugend daranzusetzen b e r e it i s t , um jenen ihren höchsten Genuss sich zu schaffen und als siegreiche, tyrannisch willkürliche Nation über andere Nationen zu schalten (oder sich schaltend zu denken). Da quellen die verschwenderischen, aufopfernden, hoffenden, vertrauenden, überverwegenen, phantastischen Gefühle so reichlich herauf, dass der ehrgeizige oder klug vorsorgende Fürst einen Krieg vom Zaune brechen und das gute Gewissen des Volkes seinem Unrecht unterschieben kann. Die grossen Eroberer haben immer die pathetische Sprache der Tugend im Munde geführt : sie hatten immer Massen um sich, welche sich im Zustande der Erhebung befanden und nur die erhobenste Sprache hören wollten. Wunderliche Tollheit der moralischen Urtheile ! Wenn der Mensch im Gefühle der Macht ist, so fühlt und nennt er sich g ut : und gerade dann fühlen und nennen ihn die Anderen, an denen er seine Macht | au s l a s s e n muss, b ö s e ! – Hesiod hat in der Fabel von den Menschenaltern das selbe Zeitalter, das der homerischen Helden, zweimal hinter einander gemalt und z we i au s e i ne m gemacht : von Denen aus gesehen, welche unter dem ehernen, entsetzlichen Druck dieser abenteuernden Gewaltmenschen standen oder durch ihre Vorfahren davon wussten, erschien es b ö s e : aber die Nachkommen dieser ritterlichen Geschlechter verehrten in ihm eine g ut e alte, selig-halbselige Zeit. Da wusste sich der Dichter nicht anders zu helfen, als er gethan hat, – er hatte wohl Zuhörer beider Gattungen um sich ! 190. D ie e hem a l i g e d eut s c he Bi ldu n g. – Als die Deutschen den anderen Völkern Europa’s anfiengen interessant zu werden – es ist nicht zu lange her –, geschah es vermöge einer Bildung, die sie jetzt nicht mehr besitzen, ja die sie mit einem

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blinden Eifer abgeschüttelt haben, wie als ob sie eine Krankheit gewesen sei : und doch wussten sie nichts Besseres dagegen einzutauschen, als den politischen und nationalen Wahnsinn. Freilich haben sie mit ihm erreicht, dass sie den anderen Völkern noch weit interessanter geworden sind, als sie es damals durch ihre Bildung waren : und so mögen sie ihre Zufriedenheit haben ! Inzwischen ist nicht zu leugnen, dass jene deutsche Bildung die Europäer genarrt hat und dass sie eines solchen Interesses, ja einer solchen Nachahmung und wetteifernden Aneignung nicht werth war. Man sehe sich heute einmal nach Schiller, Wilhelm von Humboldt, Schleier macher, Hegel, Schelling um, man lese ihre Briefwechsel und führe sich in den grossen Kreis ihrer | Anhänger ein : was ist ihnen gemeinsam, was an ihnen wirkt auf uns, wie wir jetzt sind, bald so unausstehlich, bald so rührend und bemitleidenswerth ? Einmal die Sucht, um jeden Preis moralisch e r r e g t zu erscheinen ; sodann das Verlangen nach glänzenden knochenlosen Allgemeinheiten, nebst der Absicht auf ein Schönersehen-wollen in Bezug auf Alles (Charaktere, Leidenschaften, Zeiten, Sitten),  – leider „schön“ nach einem schlechten verschwommenen Geschmack, der sich nichtsdestoweniger griechischer Abkunft rühmte. Es ist ein weicher, gutartiger, silbern glitzernder Idealismus, welcher vor Allem edel verstellte Gebärden und edel verstellte Stimmen haben will, ein Ding, ebenso anmaasslich als harmlos, beseelt vom herzlichsten Widerwillen gegen die „kalte“ oder „trockene“ Wirklichkeit, gegen die Anatomie, gegen die vollständigen Leidenschaften, gegen jede Art philosophischer Enthaltsamkeit und Skepsis, zumal aber gegen die Naturerkenntniss, sofern sie sich nicht zu einer religiösen Symbolik gebrauchen liess. Diesem Treiben der deutschen Bildung sah Goethe zu, in seiner Art : danebenstehend, mild widerstrebend, schweigsam, sich auf seinem eignen, besseren Wege immer mehr bestärkend. Dem sah etwas später auch Schopenhauer zu, – ihm war viel wirkliche

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Welt und Teufelei der Welt wieder sichtbar geworden, und er sprach davon ebenso grob als begeistert : denn diese Teufelei hat ihre S c hö n h e it !  – Und was verführte im Grunde die Ausländer, dass sie dem nicht so zusahen, wie Goethe und Schopenhauer, oder einfach davon absahen ? Es war jener matte Glanz, jenes räthselhafte Milchstrassen-Licht, welches um diese Bildung leuchtete : dabei sagte sich der Ausländer „Das ist uns sehr, sehr | ferne, da hört für uns Sehen, Hören, Verstehen, Geniessen, Abschätzen auf ; trotzdem könnten es Sterne sein ! Sollten die Deutschen in aller Stille eine Ecke des Himmels entdeckt und sich dort niedergelassen haben ? Man muss suchen, den Deutschen näher zu kommen.“ Und man kam ihnen näher : während kaum viel später die selben Deutschen sich zu bemühen anfiengen, den Milchstrassen-Glanz von sich abzustreifen ; sie wussten zu gut, dass sie nicht im Himmel gewesen waren, – sondern in einer Wolke ! 191. B e s s e r e Me n s c he n ! – Man sagt mir, unsere Kunst wende sich an die gierigen, unersättlichen, ungebändigten, verekelten, zerquälten Menschen der Gegenwart und zeige ihnen ein Bild von Seligkeit, Höhe und Entweltlichung neben dem Bilde ihrer Wüstheit : sodass sie einmal vergessen und aufathmen können, ja vielleicht den Antrieb zur Flucht und Umkehr mit aus jenem Vergessen zurückbringen. Arme Künstler, mit einem solchen Publicum ! Mit solchen halb priesterlichen, halb irrenärztlichen Hintergedanken ! Um wie viel glücklicher war Corneille – „unser grosser Corneille“, wie Frau von Sévigné, mit einem Accent des Weibes vor einem ganzen Ma n ne, ausruft‚ – um wie viel höher s e i ne Zuhörerschaft, welcher er mit den Bildern ritterlicher Tugenden, strenger Pfl icht, grossmüthiger Aufopferung, heldenhafter Bändigung seiner selber wohlthun konnte ! Wie anders liebten er und sie das Dasein, nicht aus einem blinden wüsten „Willen“ heraus, den

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man verflucht, weil man ihn nicht zu tödten vermag, sondern als einen Ort, auf dem Grösse und Humanität mitsam|men mög l ic h sind und wo selbst der strengste Zwang der Formen, die Unterwerfung unter eine fürstliche und geistliche Willkür weder den Stolz, noch die Ritterlichkeit, noch die Anmuth‚ noch den Geist aller Einzelnen unterdrücken können, vielmehr als ein Rei z u nd Spor n de s G eg en sat z e s zur angeborenen Selbstherrlichkeit und Vornehmheit, zur ererbten Macht des Wollens und der Leidenschaft empfunden werden ! 192. Sic h vol l kom mene G eg ner w ü n sc hen. – Man kann es den Franzosen nicht streitig machen, dass sie das c h r i s tl ic h s t e Volk der Erde gewesen sind : nicht in Hinsicht darauf, dass die Gläubigkeit der Masse bei ihnen grösser gewesen sei, als anderwärts, sondern desshalb, weil bei ihnen die schwierigsten christlichen Ideale sich in Menschen verwandelt haben und nicht nur Vorstellung, Ansatz, Halbheit geblieben sind. Da steht Pascal, in der Vereinigung von Gluth, Geist und Redlichkeit der erste aller Christen, – und man erwäge, was sich hier zu vereinigen hatte ! Da steht Fenelon‚ der vollkommene und bezaubernde Ausdruck der k i r c h l ic he n C u lt u r in allen ihren Kräften : eine goldene Mitte, die man als Historiker geneigt sein könnte, als etwas Unmögliches zu beweisen, während sie nur etwas unsäglich Schwieriges und Unwahrscheinliches gewesen ist. Da steht Frau von Guyon unter ihres Gleichen, den französischen Quietisten : und Alles, was die Beredtsamkeit und die Brunst des Apostels Paulus vom Zustande der erhabensten, liebendsten, stillsten, verzücktesten Halbgöttlichkeit des Christen zu errathen gesucht hat, ist da Wahrheit geworden und hat dabei | jene jüdische Zudringlichkeit, welche Paulus gegen Gott hat, abgestreift, Dank einer ächten, frauenhaften, feinen, vornehmen, altfranzösischen Naivität in Wort und Gebärde. Da steht der Grün-

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der der Trappistenklöster, er, der mit dem asketischen Ideale des Christenthums den letzten Ernst gemacht hat, nicht als eine Ausnahme unter Franzosen, sondern recht als Franzose : denn bis zu diesem Augenblick vermochte seine düstere Schöpfung nur unter Franzosen heimisch und kräftig zu bleiben, sie folgte ihnen in den Elsass und nach Algerien. Vergessen wir die Hugenotten nicht : schöner ist die Vereinigung des kriegerischen und arbeitsamen Sinnes, der feineren Sitte und der christlichen Strenge bisher nicht dagewesen. Und in Port Royal kam zum letzten Male das grosse christliche Gelehrtenthum zum Blühen : und das Blühen verstehen grosse Menschen in Frankreich besser, als anderwärts. Ferne davon, oberflächlich zu sein, hat ein grosser Franzose immer doch seine Oberfläche, eine natürliche Haut für seinen Inhalt und seine Tiefe,  – während die Tiefe eines grossen Deutschen zumeist wie in einer krausförmigen Kapsel verschlossen gehalten wird, als ein Elixir, das vor Licht und leichtfertigen Händen durch seine harte und wunderliche Hülle sich zu schützen sucht. – Und nun errathe man, warum dieses Volk der vollendeten Typen der Christlichkeit auch die vollendeten Gegentypen des unchristlichen Freigeistes erzeugen musste ! Der französische Freigeist kämpfte in sich immer mit grossen Menschen und nicht nur mit Dogmen und erhabenen Missgeburten, wie die Freigeister anderer Völker. | 193. Espr it u nd Mora l. – Der Deutsche, welcher sich auf das Geheimniss versteht, mit Geist, Wissen und Gemüth langweilig zu sein, und sich gewöhnt hat, die Langeweile als moralisch zu empfi nden, – hat vor dem französischen esprit die Angst, er möchte der Moral die Augen ausstechen – und doch eine Angst und Lust, wie das Vöglein vor der Klapperschlange. Von den berühmten Deutschen hat vielleicht Niemand mehr esprit gehabt, als He g e l , – aber er hatte dafür auch eine so

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grosse deutsche Angst vor ihm, dass sie seinen eigenthümlichen schlechten Stil geschaffen hat. Dessen Wesen ist nämlich, dass ein Kern umwickelt und nochmals und wiederum umwickelt wird, bis er kaum noch hindurchblickt, verschämt und neugierig, – wie „junge Frau’n durch ihre Schleier blikken“, um mit dem alten Weiberhasser Aeschylus zu reden – : jener Kern ist aber ein witziger, oft vorlauter Einfall über die geistigsten Dinge, eine feine, gewagte Wortverbindung, wie so Etwas in die G e s e l l s c h a f t vo n D e n k e r n gehört, als Zukost der Wissenschaft, – aber in jenen Umwickelungen präsentirt es sich als abstruse Wissenschaft selber und durchaus als höchst moralische Langeweile ! Da hatten die Deutschen eine ihnen e rl au bt e Form des esprit und sie genossen sie mit solchem ausgelassenen Entzücken, dass Schopenhauer’s guter, sehr guter Verstand davor stille stand, – er hat zeitlebens gegen das Schauspiel, welches ihm die Deutschen boten, gepoltert‚ aber es nie sich zu erklären vermocht. | 194. E it e l k e it d e r Mor a l le h r e r. – Der im Ganzen geringe Erfolg der Morallehrer hat darin seine Erklärung, dass sie zu viel auf Ein Mal wollten, das heisst, dass sie zu ehrgeizig waren : sie wollten allzugern Vorschriften f ü r A l le geben. Diess aber heisst im Unbestimmten schweifen und Reden an die Thiere halten, um sie zu Menschen zu machen : was Wunder, dass die Thiere diess langweilig fi nden ! Man sollte begränzte Kreise sich aussuchen und für sie die Moral suchen und fördern, also zum Beispiel Reden vor den Wölfen halten, um sie zu Hunden zu machen. Vor Allem aber bleibt der grosse Erfolg immer Dem, welcher weder Alle, noch begränzte Kreise, sondern Einen erziehen will und gar nicht nach rechts und links ausspäht. Das vorige Jahrhundert ist dem unseren eben dadurch überlegen, dass es in ihm so viele einzeln erzogene Menschen gab, nebst eben so vielen Erziehern, welche hier die Au f g a b e

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ihres Lebens gefunden hatten  – und mit der Aufgabe auch Wü r d e, vor sich und aller anderen „guten Gesellschaft“. 195. Die sogena n nte c lassi sc he Er ziehu ng. – Zu entdecken, dass unser Leben der Erkenntniss g ewe i ht ist ; dass wir es wegwerfen würden, nein ! dass wir es weggeworfen hätten, wenn nicht diese Weihe es vor uns selber schützte ; jenen Vers sich oft und mit Erschütterung vorsprechen : „Schicksal, ich f ol g e dir ! Und wollt’ ich nicht, ich mü s s t ’ es doch und unter Seufzen thun !“ |

– Und nun, bei einem Rückblick auf den Weg des Lebens, ebenfalls entdecken, dass Etwas nicht wieder gut zu machen ist : die Vergeudung unserer Jugend, als unsre Erzieher jene wissbegierigen, heissen und durstigen Jahre nicht dazu verwandten, uns der E r k e n nt n i s s der Dinge entgegenzuführen, sondern der sogenannten „classischen Bildung“ ! Die Vergeudung unserer Jugend, als man uns ein dürftiges Wissen um Griechen und Römer und deren Sprachen ebenso ungeschickt, als quälerisch beibrachte und zuwider dem obersten Satze aller Bildung : dass man nur Dem, d e r Hu n g e r d a r n ac h h at , eine Speise gebe ! Als man uns Mathematik und Physik auf eine gewaltsame Weise aufzwang, a n s t at t uns erst in die Verzweiflung der Unwissenheit zu führen und unser kleines tägliches Leben, unsere Hantierungen und Alles, was sich zwischen Morgen und Abend im Hause, in der Werkstatt, am Himmel, in der Landschaft begiebt, in Tausende von Problemen aufzulösen, von peinigenden, beschämenden, aufreizenden Problemen, – um unsrer Begierde dann zu zeigen, dass wir ein mathematisches und mechanisches Wissen zu allernächst n öt h i g haben und uns dann das erste wissenschaftliche E n t z ü c k e n an der absoluten Folgerichtigkeit dieses Wissens zu lehren ! Hätte man uns auch nur die E h r -

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f u r c h t vor diesen Wissenschaften gelehrt, hätte man uns mit dem Ringen und Unterliegen und Wieder-Weiterkämpfen der Grossen, von dem Martyrium, welches die Geschichte der s t r e n g e n Wissenschaft ist, auch nur Ein Mal die Seele erzittern machen ! Vielmehr blies uns der Hauch einer gewissen Geringschätzung der eigentlichen Wissenschaften an, zu Gunsten der Historie, der „formalen Bildung“ und der | „Classicität“ ! Und wir liessen uns so leicht betrügen ! Formale Bildung ! Hätten wir nicht auf die besten Lehrer unserer Gymnasien zeigen können, lachend und fragend : „wo ist denn da die formale Bildung ? Und wenn sie fehlt, wie sollen sie dieselbe lehren ?“ Und Classicität ! Lernten wir Etwas von dem, worin gerade die Alten ihre Jugend erzogen ? Lernten wir sprechen wie sie, schreiben wie sie ? Übten wir uns unablässig in der Fechtkunst des Gesprächs, in der Dialektik ? Lernten wir uns schön und stolz bewegen wie sie, ringen, werfen, faustkämpfen wie sie ? Lernten wir Etwas von der praktischen Asketik aller griechischen Philosophen ? Wurden wir in einer einzigen antiken Tugend geübt und in der Weise, wie die Alten sie übten ? Fehlte nicht überhaupt das ganze Nachdenken über Moral in unserer Erziehung, um wieviel mehr gar die einzig mögliche Kritik desselben, jene strengen und muthigen Versuche, in dieser oder jener Moral zu leb e n ? Erregte man in uns irgend ein Gefühl, das den Alten höher galt, als den Neueren ? Zeigte man uns die Eintheilung des Tages und des Lebens und die Ziele über dem Leben in einem antiken Geiste ? Lernten wir auch nur die alten Sprachen so, wie wir die lebender Völker lernen, – nämlich zum Sprechen und zum Bequem- und Gut-Sprechen ? Nirgends ein wirkliches Können, ein neues Vermögen als Ergebniss mühseliger Jahre ! Sondern ein Wissen darum, was ehemals Menschen gekonnt und vermocht haben ! Und was für ein Wissen ! Nichts wird mir von Jahr zu Jahr deutlicher, als dass alles griechische und antike Wesen, so schlicht und weltbekannt es vor uns zu liegen scheint, sehr

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schwer verständlich, ja, kaum zugänglich ist, und dass die übliche Leichtigkeit, mit der von den Alten | geredet wird, entweder eine Leichtfertigkeit oder ein alter erblicher Dünkel der Gedankenlosigkeit ist. Die ähnlichen Worte und Begriffe täuschen uns : aber hinter ihnen liegt immer eine Empfi ndung versteckt, welche dem modernen Empfi nden fremd, unverständlich oder peinlich s e i n mü s s t e. Das sind mir Gebiete, auf denen sich Knaben tummeln dürften ! Genug, wir haben es gethan, als wir Knaben waren und uns beinahe für immer dabei einen Widerwillen gegen das Alterthum heimgeholt, den Widerwillen einer scheinbar allzugrossen Vertraulichkeit ! Denn so weit geht die stolze Einbildung unserer classischen Erzieher, gleichsam i m B e s it z e d e r A lt e n zu sein, dass sie diesen Dünkel noch auf die Erzogenen überfl iessen lassen, nebst dem Verdachte, dass ein solcher Besitz nicht wohl selig machen könne, sondern dass er gut genug für rechtschaffene, arme, närrische alte Bücher-Drachen sei : „mögen diese auf ihrem Horte brüten ! er wird wohl ihrer würdig sein !“ – mit diesem stillen Hintergedanken vollendete sich unsere classische Erziehung. – Diess ist nicht wieder gut zu machen – an uns ! Aber denken wir nicht nur an uns ! 196. D ie per sön l ic h sten Fr agen der Wa h rheit.  – „Was ist Das eigentlich, was ich t hue ? Und was will gerade ich damit ?“  – das ist die Frage der Wahrheit, welche bei unserer jetzigen Art Bildung nicht gelehrt und folglich nicht gefragt wird, für sie giebt es keine Zeit. Dagegen mit Kindern von Possen zu reden und nicht von der Wahrheit, mit Frauen, die später Mütter werden sollen, Artigkeiten zu reden und nicht von der Wahrheit, mit Jünglingen von ihrer Zukunft und ihrem | Vergnügen zu reden und nicht von der Wahrheit, – dafür ist immer Zeit und Lust da ! – Aber was sind auch siebenzig Jahre ! – das läuft hin und ist bald zu Ende ; es liegt so

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Wenig daran, dass die Welle wisse, wie und wohin sie laufe ! Ja, es könnte Klugheit sein, es n ic ht z u w i s s e n . – „Zugegeben : aber stolz ist es nicht, auch nicht einmal darnach zu f r ag e n ; unsere Bildung macht die Menschen nicht stolz.“ – Um so besser ! – „Wirklich ?“ 197. D ie Fe i nd s c h a f t d e r D eut s c he n g e g e n d ie Au f k l är u n g. – Man überschlage den Beitrag, den die Deutschen der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts mit ihrer geistigen Arbeit der allgemeinen Cultur gebracht haben und nehme erstens die deutschen Philosophen : sie sind auf die erste und älteste Stufe der Speculation zurückgegangen, denn sie fanden in Begriffen ihr Genüge, anstatt in Erklärungen, gleich den Denkern träumerischer Zeitalter,  – eine vorwissenschaftliche Art der Philosophie wurde durch sie wieder lebendig gemacht. Zweitens die deutschen Historiker und Romantiker : ihre allgemeine Bemühung gieng dahin, ältere, primitive Empfi ndungen und namentlich das Christenthum‚ die Volksseele, Volkssage, Volkssprache‚ die Mittelalterlichkeit, die orientalische Asketik‚ das Inderthum zu Ehren zu bringen. Drittens die Naturforscher : sie kämpften gegen Newton’s und Voltaire’s Geist und suchten, gleich Goethe und Schopenhauer, den Gedanken einer vergöttlichten oder verteufelten Natur und ihrer durchgängigen ethischen und symbolischen Bedeutsamkeit wieder aufrecht zu stellen. Der ganze grosse Hang der Deutschen gieng gegen die Auf|klärung, und gegen die Revolution der Gesellschaft, welche mit grobem Missverständniss als deren Folge galt : die Pietät gegen alles noch Bestehende suchte sich in Pietät gegen Alles, was bestanden hat, umzusetzen, nur damit Herz und Geist wieder einmal vol l würden und keinen Raum mehr für zukünftige und neuernde Ziele hätten. Der Cultus des Gefühls wurde aufgerichtet an Stelle des Cultus’ der Vernunft, und die deutschen Musiker, als die Künstler des Unsichtbaren, Schwärmerischen, Mär-

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chenhaften, Sehnsüchtigen, bauten an dem neuen Tempel erfolgreicher, als alle Künstler des Wortes und der Gedanken. Bringen wir in Anrechnung, dass unzähliges Gute im Einzelnen gesagt und erforscht worden ist und Manches seitdem billiger beurtheilt wird, als jemals : so bleibt doch übrig, vom Ganzen zu sagen, dass es k e i ne g e r i n g e a l l g e me i ne G e f a h r war, unter dem Anscheine der voll- und endgültigsten Erkenntniss des Vergangenen die Erkenntniss überhaupt unter das Gefühl hinabzudrücken und – um mit Kant zu reden, der so seine eigene Aufgabe bestimmte – „dem Glauben wieder Bahn zu machen, indem man dem Wissen seine Gränzen wies.“ Athmen wir wieder freie Luft : die Stunde dieser Gefahr ist vorübergegangen ! Und seltsam : gerade die Geister, welche von den Deutschen so beredt beschworen wurden, sind auf die Dauer den Absichten ihrer Beschwörer am schädlichsten geworden,  – die Historie, das Verständniss des Ursprungs und der Entwickelung, die Mitempfi ndung für das Vergangene, die neu erregte Leidenschaft des Gefühls und der Erkenntniss, nachdem sie alle eine Zeit lang hülfreiche Gesellen des verdunkelnden, schwärmenden, zurückbildenden Geistes | schienen, haben eines Tages eine andere Natur angenommen und fl iegen nun mit den breitesten Flügeln an ihren alten Beschwörern vorüber und hinauf, als neue und stärkere Genien eben jener Au f k lä r u ng , wider welche sie beschworen waren. Diese Aufklärung haben wir jetzt weiterzuführen, – unbekümmert darum, dass es eine „grosse Revolution“ und wiederum eine „grosse Reaction“ gegen dieselbe gegeben hat, ja dass es Beides noch giebt : es sind doch nur Wellenspiele‚ im Vergleiche mit der wahrhaft grossen Fluth, in welcher w i r treiben und treiben wollen ! 198. Sei nem Vol ke den R a ng geben. – Viele grosse innere Erfahrungen haben, und auf und über ihnen mit einem geistigen

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Auge ruhen,  – das macht die Menschen der Cultur, welche ihrem Volke den R a n g geben. In Frankreich und Italien that diess der Adel, in Deutschland, wo der Adel bisher im Ganzen zu den Armen im Geiste gehörte (vielleicht nicht mehr auf lange), thaten es Priester, Lehrer und deren Nachkommen. 199. W i r s i nd vor ne h me r. – Treue, Grossmuth, die Scham des guten Rufs : diese Drei in Einer Gesinnung verbunden – das nennen wir a d e l i g ‚ vor ne h m , e d e l , und damit übertreffen wir die Griechen. Wir wollen es ja nicht preisgeben, aus dem Gefühle, dass die alten Gegenstände dieser Tugenden in der Achtung gesunken sind (und mit Recht), sondern behutsam diesem unserem köstlichen Erbtriebe neue Gegenstände unterschieben. – Um zu begreifen, dass die Gesinnung der vornehmsten | Griechen inmitten unserer immer noch ritterlichen und feudalistischen Vornehmheit als gering und kaum anständig empfunden werden müsste, erinnere man sich jenes Trostspruches, den Odysseus in schmählichen Lagen im Munde führt : „Ertrag’ es nur, mein liebes Herz ! du hast schon Hundemässigeres ertragen !“ Und dazu nehme man als Nutzanwendung des mythischen Vorbildes die Geschichte von jenem athenischen Officier, der, vor dem ganzen Generalstabe, von einem andern Officier mit dem Stocke bedroht, diese Schmach mit dem Worte von sich abschüttelte : „Schlag’ mich nur ! Nun aber höre mich auch !“ (Diess that Themistokles, jener vielgewandte Odysseus des classischen Zeitalters, der recht der Mann dazu war, in diesem schmählichen Augenblick jenen Trost- und Nothvers an sein „liebes Herz“ hinunterzuschicken.) Es lag den Griechen ferne, Leben und Tod einer Beschimpfung halber so leicht zu nehmen, wie wir es thun, unter dem Eindruck vererbter ritterlicher Abenteuerlichkeit und Opferlust ; oder Gelegenheiten aufzusuchen, wo man Beides auf ein ehrenvolles Spiel setzen könne, wie wir bei Duellen ;

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oder die Erhaltung des guten Namens (Ehre) höher zu achten, als die Eroberung des bösen Namens, wenn Letzteres mit Ruhm und Machtgefühl verträglich ist ; oder den ständischen Vorurtheilen und Glaubensartikeln Treue zu halten, wenn sie verhindern könnten, ein Tyrann zu werden. Denn diess ist das unedle Geheimniss jedes guten griechischen Aristokraten : er hält aus tiefster Eifersucht jeden seiner Standesgenossen auf gleichem Fusse mit sich, ist aber jeden Augenblick wie ein Tiger bereit, auf seine Beute, die Gewaltherrschaft, loszustürzen : was ist ihm dabei Lüge, Mord, Verrath, Ver|kauf der Vaterstadt ! Die Gerechtigkeit wurde dieser Art Menschen ausserordentlich schwer, sie galt beinahe für etwas Unglaubliches ; „der Gerechte“  – das klang unter Griechen wie „der Heilige“ unter Christen. Wenn aber gar Sokrates sagte : „der Tugendhafte ist der Glücklichste“, so traute man seinen Ohren nicht, man glaubte etwas Verrücktes gehört zu haben. Denn bei dem Bilde des Glücklichsten dachte jeder Mann vornehmer Abkunft an die vollendete Rücksichtslosigkeit und Teufelei des Tyrannen, der seinem Übermuthe und seiner Lust Alles und Alle opfert. Unter Menschen, welche im Geheimen über ein solches Glück wild phantasirten, konnte freilich die Verehrung des Staates nicht tief genug gepflanzt werden, – aber ich meine : Menschen, deren Machtgelüst nicht mehr so blind wüthet, wie das jener vornehmen Griechen, haben auch jene Abgötterei des Staats-Begriffes nicht mehr nöthig, mit welcher damals jenes Gelüst im Zaume gehalten wurde. 200. A r mut h e r t r a g e n . – Der grosse Vorzug adeliger Abkunft ist, dass sie die Armuth besser ertragen lässt. 201. Zu k u n f t des Adels. – Die Gebärden der vornehmen Welt drücken aus, dass in ihren Gliedern fortwährend das Bewusst-

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sein der Macht sein reizvolles Spiel spielt. So lässt sich der Mensch von adeliger Sitte, Mann oder Weib, nicht gern wie ganz erschöpft in den Sessel fallen, er vermeidet es, wo alle Welt es sich bequem macht, zum Beispiel auf der Eisenbahn, den Rücken anzulehnen, er scheint nicht müde zu werden, | wenn er stundenlang bei Hofe auf seinen Füssen steht, er richtet sein Haus nicht auf das Behagliche, sondern grossräumig und würdevoll, wie zu einem Aufenthalt grösserer (auch längerer) Wesen ein, er beantwortet eine herausfordernde Rede mit Haltung und geistiger Helle, nicht wie entsetzt, zermalmt, beschämt, ausser Athem, nach Art des Plebejers. So wie er den Anschein einer beständig gegenwärtigen hohen physischen Kraft zu wahren weiss, wünscht er auch durch beständige Heiterkeit und Verbindlichkeit, selbst in peinlichen Lagen, den Eindruck aufrecht zu erhalten, dass seine Seele und sein Geist den Gefahren und den Über raschungen gewachsen ist. Eine vornehme Cultur kann in Absicht der Leidenschaften entweder dem Reiter gleichen, der Wonne empfi ndet, ein leidenschaftliches stolzes Thier im spanischen Tritt gehen zu lassen – man stelle sich das Zeitalter Ludwig’s des Vierzehnten vor Augen –, oder dem Reiter, der sein Pferd wie eine Naturgewalt unter sich hinschiessen fühlt, hart an der Gränze, wo Pferd und Reiter den Kopf verlieren, aber im Genuss der Wonne, gerade jetzt noch den Kopf oben zu behalten : in beiden Fällen athmet die vornehme C u lt u r Macht, und wenn sie sehr oft in ihren Sitten auch nur den Schein des Machtgefühls fordert, so wächst doch durch den Eindruck, welchen dieses Spiel auf die Nicht-Vornehmen macht, und durch das Schauspiel dieses Eindrucks, das wirkliche Gefühl der Überlegenheit fortwährend. – Diess unbestreitbare Glück der vornehmen Cultur, welches auf dem Gefühl der Überlegenheit sich auf baut, beginnt jetzt auf eine noch höhere Stufe zu steigen, da es nunmehr, Dank allen freien Geistern, dem adelig Geborenen und Er|zogenen erlaubt und nicht mehr schimpf-

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lich ist, in den Orden der Erkenntniss zu treten und dort geistigere Weihen zu holen, höhere Ritterdienste zu lernen, als bisher, und zu jenem Ideal der s ie g r e ic he n We i s he it aufzuschauen‚ welches noch keine Zeit mit so gutem Gewissen vor sich aufstellen durfte, wie die Zeit, welche gerade jetzt kommen will. Zu guterletzt : womit soll sich denn fürderhin der Adel beschäftigen, wenn es von Tag zu Tage mehr den Anschein hat, dass es u n a n s t ä nd i g wird, sich mit Politik zu befassen ? – – 202. Zur Pf lege der Gesund heit. – Man hat kaum angefangen, über die Physiologie der Verbrecher nachzudenken und doch steht man schon vor der unabweislichen Einsicht, dass zwischen Verbrechern und Geisteskranken kein wesentlicher Unterschied besteht : vorausgesetzt, dass man g l au bt , die ü bl i c he moralische Denkweise sei die Denkweise der g e i s t i g e n G e s u n d h e i t . Kein Glaube aber wird jetzt so gut noch geglaubt, wie dieser, und so scheue man sich nicht, seine Consequenz zu ziehen und den Verbrecher wie einen Geisteskranken zu behandeln : vor Allem nicht mit hochmüthiger Barmherzigkeit, sondern mit ärztlicher Klugheit, ärztlichem guten Willen. Es thut ihm Luftwechsel, andere Gesellschaft, zeitweiliges Verschwinden, vielleicht Alleinsein und eine neue Beschäftigung noth, – gut ! Vielleicht fi ndet er es selber in seinem Vortheil, eine Zeit hindurch in einem Gewahrsam zu leben, um so Schutz gegen sich selber und einen lästigen t yr a n n i s c he n Tr ieb zu fi nden, – gut ! Man soll ihm die Möglichkeit und die Mittel des Geheiltwerdens (der Aus|rottung, Umbildung, Sublimirung jenes Triebes) ganz klar vorlegen, auch, im schlimmen Falle, die Unwahrscheinlichkeit desselben ; man soll dem unheilbaren Verbrecher, der sich selber zum Greuel geworden ist, die Gelegenheit zum Selbstmord anbieten. Diess als äusserstes Mittel der Erleichterung vorbehalten : soll man Nichts verabsäumen, um vor Allem dem Ver-

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brecher den guten Muth und die Freiheit des Gemüthes wieder zu geben ; man soll Gewissensbisse wie eine Sache der Unreinlichkeit ihm von der Seele wischen und ihm Fingerzeige geben, wie er den Schaden, welchen er vielleicht an dem Einen geübt, durch eine Wohlthat am Anderen, ja vielleicht an der Gesammtheit ausgleichen und überbieten könne. Alles in äusserster Schonung ! Und namentlich in Anonymität oder unter neuen Namen und mit häufigerem Ortswechsel, damit die Unbescholtenheit des Rufes und sein künftiges Leben so wenig wie möglich dabei Gefahr laufe. Jetzt zwar will immer noch Der, welchem ein Schaden zugefügt ist, ganz abgesehen davon, wie dieser Schaden etwa gut zu machen ist, seine R ac he haben und wendet sich ihrethalben an die Gerichte,  – und diess hält einstweilen unsere abscheulichen Strafordnungen noch aufrecht, sammt ihrer Krämerwage und dem Au f w ie g e nwol le n d e r S c hu ld du r c h d ie St r a fe : aber dürften wir nicht hierüber hinaus kommen können ? Wie erleichtert wäre das allgemeine Gefühl des Lebens, wenn man mit dem Glauben an die Schuld auch vom alten Instinct der Rache sich losmachte und es selbst als eine feine Klugheit der Glücklichen betrachtete, mit dem Christenthum den Segen über seine Feinde zu sprechen und Denen woh l z ut hu n , die uns beleidigt | haben ! Schaffen wir den Begriff der Sü nd e aus der Welt – und schicken wir ihm den Begriff der St r a f e bald hinterdrein ! Mögen diese verbannten Unholde irgendwo anders fürderhin, als unter Menschen, leben, wenn sie durchaus leben wollen und nicht am eigenen Ekel zu Grunde gehen ! – Inzwischen erwäge man, dass die Einbusse, welche die Gesellschaft und die Einzelnen durch die Verbrecher erleiden, der Einbusse ganz gleichartig ist, welche sie von den Kranken erleiden : die Kranken verbreiten Sorge, Missmuth, produciren nicht, zehren den Ertrag Anderer auf, brauchen Wärter, Ärzte, Unterhaltung und leben von der Zeit und den Kräften der Gesunden. Trotzdem würde man jetzt Den als unmensch-

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lich bezeichnen, welcher dafür an den Kranken R ac he nehmen wollte. Ehedem freilich that man diess ; in rohen Zuständen der Cultur und jetzt noch bei manchen wilden Völkern, wird der Kranke in der That als Verbrecher behandelt, als die Gefahr der Gemeinde und als Wohnsitz irgend eines dämonischen Wesens, welches sich ihm in Folge einer Schuld einverleibt hat, – da heisst es : jeder Kranke ist ein Schuldiger ! Und wir, – sollten wir noch nicht reif für die entgegengesetzte Anschauung sein ? sollten wir noch nicht sagen dürfen : jeder „Schuldige“ ist ein Kranker ? – Nein, die Stunde dafür ist noch nicht gekommen. Noch fehlen vor Allem die Ärzte, für welche Das, was wir bisher praktische Moral nannten, sich in ein Stück ihrer Heilkunst und Heilwissenschaft umgewandelt haben muss ; noch fehlt allgemein jenes hungrige Interesse an diesen Dingen, das vielleicht einmal dem Sturm und Drang jener alten religiösen Erregungen nicht unähnlich erscheinen wird ; noch sind die Kirchen nicht im Besitz | der Pfleger der Gesundheit ; noch gehört die Lehre von dem Leibe und von der Diät nicht zu den Verpfl ichtungen aller niederen und höheren Schulen ; noch giebt es keine stillen Vereine Solcher, welche sich unter einander verpfl ichtet haben, auf die Hülfe der Gerichte und auf Strafe und Rache an ihren Übelthätern zu verzichten ; noch hat kein Denker den Muth gehabt, die Gesundheit einer Gesellschaft und der Einzelnen darnach zu bemessen, wie viel Parasiten sie ertragen kann, und noch fand sich kein Staatengründer‚ welcher die Pflugschar im Geiste jener freigebigen und mildherzigen Rede führte : „willst du das Land bauen, so baue mit dem Pfluge : da geneusst dein der Vogel und der Wolf, der hinter deinem Pfluge geht, – e s g e neu s s t d e i n a l le C r e at u r.“ 203. Gegen d ie sch lechte Diät. – Pfui über die Mahlzeiten, welche jetzt die Menschen machen, in den Gasthäusern sowohl

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als überall, wo die wohlbestellte Classe der Gesellschaft lebt ! Selbst wenn hochansehnliche Gelehrte zusammenkommen, ist es die selbe Sitte, welche ihren Tisch wie den des Banquiers füllt : nach dem Gesetz des „Viel zu viel“ und des „Vielerlei“, – woraus folgt, dass die Speisen auf den Effect und nicht auf die Wirkung hin zubereitet werden, und aufregende Getränke helfen müssen, die Schwere im Magen und Gehirn zu vertreiben. Pfui, welche Wüstheit und Überempfi ndsamkeit muss die allgemeine Folge sein ! Pfui, welche Träume müssen ihnen kommen ! Pfui, welche Künste und Bücher werden der Nachtisch solcher Mahlzeiten sein ! Und mögen sie thun, was sie wollen : in ihrem Thun wird der Pfeffer und der Widerspruch oder | die Weltmüdigkeit regieren ! (Die reiche Classe in England hat ihr Christenthum nöthig, um ihre Verdauungsbeschwerden und ihre Kopfschmerzen ertragen zu können.) Zuletzt, um das Lustige an der Sache und nicht nur deren Ekelhaftes zu sagen, sind diese Menschen keineswegs Schlemmer ; unser Jahrhundert und seine Art Geschäftigkeit ist mächtiger über ihre Glieder, als ihr Bauch : was wollen also diese Mahlzeiten ?  – S ie r e p r ä s e nt i r e n ! Was, in aller Heiligen Namen ? Den Stand ? – Nein, das Geld : man hat keinen Stand mehr ! Man ist „Individuum“ ! Aber Geld ist Macht, Ruhm, Würde, Vorrang, Einfluss ; Geld macht jetzt das grosse oder kleine moralische Vorurtheil für einen Menschen, je nachdem er davon hat ! Niemand will es unter den Scheffel, Niemand möchte es auf den Tisch stellen ; folglich muss das Geld einen Repräsentanten haben, den man auf den Tisch stellen kann : siehe unsere Mahlzeiten ! – 204. D a n ae u nd G ot t i m G old e. – Woher diese unmässige Ungeduld, welche jetzt den Menschen zum Verbrecher macht, in Zuständen, welche den entgegengesetzten Hang besser erklären würden ? Denn, wenn Dieser falsches Gewicht gebraucht, Jener sein Haus anbrennt, nachdem er es hoch versichert hat,

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ein Dritter am Prägen falschen Geldes Antheil nimmt, wenn drei Viertel der höheren Gesellschaft dem erlaubten Betruge nachhängt und am schlechten Gewissen der Börse und der Speculation zu tragen hat : was treibt sie ? Nicht die eigentliche Noth, es geht ihnen nicht so ganz schlecht, vielleicht sogar essen und trinken sie ohne Sorge, – aber eine furchtbare Ungeduld darüber, dass das Geld sich zu | langsam häuft und eine ebenso furchtbare Lust und Liebe zu gehäuftem Gelde drängt sie bei Tag und bei der Nacht. In dieser Ungeduld und dieser Liebe aber kommt jener Fanatismus des M a c h t g e lü s t e s wieder zum Vorschein, welcher ehemals durch den Glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein, entzündet wurde und der so schöne Namen trug, dass man es daraufhin wagen konnte, m it g ut e m G ew i s s e n unmenschlich zu sein ( Juden, Ketzer und gute Bücher zu verbrennen und ganze höhere Culturen wie die von Peru und Mexiko auszurotten). Die Mittel des Machtgelüstes haben sich verändert, aber der selbe Vulcan glüht noch immer, die Ungeduld und die unmässige Liebe wollen ihre Opfer : und was man ehedem „um Gottes willen“ that, thut man jetzt um des Geldes willen, das heisst um dessen willen, was jet z t am höchsten Machtgefühl und gutes Gewissen giebt. 205. Vom Vol k e I s r ae l . – Zu den Schauspielen, auf welche uns das nächste Jahrhundert einladet‚ gehört die Entscheidung im Schicksale der europäischen Juden. Dass sie ihren Würfel geworfen, ihren Rubikon überschritten haben, greift man jetzt mit beiden Händen : es bleibt ihnen nur noch übrig, entweder die Herren Europa’s zu werden oder Europa zu verlieren, so wie sie einst vor langen Zeiten Aegypten verloren, wo sie sich vor ein ähnliches Entweder-Oder gestellt hatten. In Europa aber haben sie eine Schule von achtzehn Jahrhunderten durchgemacht, wie sie hier kein andres Volk aufweisen kann, und zwar so, dass nicht eben der Gemeinschaft, aber umsomehr

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den Einzelnen die Erfahrungen dieser entsetzlichen Übungszeit zu Gute ge|kommen sind. In Folge davon sind die seelischen und geistigen Hülfsquellen bei den jetzigen Juden ausserordentlich ; sie greifen in der Noth am seltensten von Allen, die Europa bewohnen, zum Becher oder zum Selbstmord, um einer tiefen Verlegenheit zu entgehen, – was dem geringer Begabten so nahe liegt. Jeder Jude hat in der Geschichte seiner Väter und Grossväter eine Fundgrube von Beispielen kältester Besonnenheit und Beharrlichkeit in furchtbaren Lagen, von feinster Überlistung und Ausnützung des Unglücks und des Zufalls ; ihre Tapferkeit unter dem Deckmantel erbärmlicher Unterwerfung, ihr Heroismus im spernere se sperni übertriff t die Tugenden aller Heiligen. Man hat sie verächtlich machen wollen, dadurch dass man sie zwei Jahrtausende lang verächtlich behandelte und ihnen den Zugang zu allen Ehren, zu allem Ehrbaren verwehrte, dafür sie um so tiefer in die schmutzigeren Gewerbe hineinstiess, – und wahrhaftig, sie sind unter dieser Procedur nicht reinlicher geworden. Aber verächtlich ? Sie haben selber nie aufgehört, sich zu den höchsten Dingen berufen zu glauben, und ebenso haben die Tugenden aller Leidenden nie aufgehört, sie zu schmücken. Die Art, wie sie ihre Väter und ihre Kinder ehren, die Vernunft ihrer Ehen und Ehesitten zeichnet sie unter allen Europäern aus. Zu alledem verstanden sie es, ein Gefühl der Macht und der ewigen Rache sich aus eben den Gewerben zu schaffen, welche man ihnen überliess (oder denen man sie überliess) ; man muss es zur Entschuldigung selbst ihres Wuchers sagen, dass sie ohne diese gelegentliche angenehme und nützliche Folterung ihrer Verächter es schwerlich ausgehalten hätten, sich so lange selbst zu achten. Denn unsere Achtung vor uns selber | ist daran gebunden, dass wir Wiedervergeltung im Guten und Schlimmen üben können. Dabei reisst sie ihre Rache nicht leicht zu weit : denn sie haben Alle die Freisinnigkeit, auch die der Seele, zu welcher der häufige Wechsel des Ortes, des Klima’s, der Sitten

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von Nachbarn und Unterdrückern den Menschen erzieht, sie besitzen die bei Weitem grösste Erfahrung in allem menschlichen Verkehre und üben selbst in der Leidenschaft noch die Vorsicht dieser Erfahrung. Ihrer geistigen Geschmeidigkeit und Gewitztheit sind sie so sicher, dass sie nie, selbst in der bittersten Lage nicht, nöthig haben, mit der physischen Kraft, als grobe Arbeiter, Lastträger, Ackerbausclaven ihr Brod zu erwerben. Ihren Manieren merkt man noch an, dass man ihnen niemals ritterlich vornehme Empfi ndungen in die Seele und schöne Waffen um den Leib gegeben hat : etwas Zudringliches wechselt mit einer oft zärtlichen, fast stets peinlichen Unterwürfigkeit. Aber jetzt, da sie unvermeidlich von Jahr zu Jahr mehr sich mit dem besten Adel Europa’s verschwägern, werden sie bald eine gute Erbschaft von Manieren des Geistes und Leibes gemacht haben : sodass sie in hundert Jahren schon vornehm genug dreinschauen werden, um als Herren bei den ihnen Unterworfenen nicht S c h a m zu erregen. Und darauf kommt es an ! Desshalb ist ein Austrag ihrer Sache für jetzt noch verfrüht ! Sie wissen selber am besten, dass an eine Eroberung Europa’s und an irgend welche Gewaltsamkeit für sie nicht zu denken ist : wohl aber, dass Europa irgendwann einmal wie eine völlig reife Frucht ihnen in die Hand fallen dürfte, welche sich ihr nur leicht entgegenstreckt. Inzwischen haben sie dazu nöthig, auf allen Gebieten der euro|päischen Auszeichnung sich auszuzeichnen und unter den Ersten zu stehen : bis sie es so weit bringen, Das, was auszeichnen soll, selber zu bestimmen. Dann werden sie die Erfi nder und Wegzeiger der Europäer heissen und nicht mehr deren Scham beleidigen. Und wohin soll auch diese Fülle angesammelter grosser Eindrücke, welche die jüdische Geschichte für jede jüdische Familie ausmacht, diese Fülle von Leidenschaften, Tugenden, Entschlüssen, Entsagungen, Kämpfen, Siegen aller Art, – wohin soll sie sich ausströmen, wenn nicht zuletzt in grosse geistige Menschen und Werke ! Dann, wenn die Juden

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auf solche Edelsteine und goldene Gefässe als ihr Werk hinzuweisen haben, wie sie die europäischen Völker kürzerer und weniger tiefer Erfahrung nicht hervorzubringen vermögen und vermochten, wenn Israel seine ewige Rache in eine ewige Segnung Europa’s verwandelt haben wird : dann wird jener siebente Tag wieder einmal da sein, an dem der alte Judengott sich seiner selber, seiner Schöpfung und seines auserwählten Volkes f r eue n darf, – und wir Alle, Alle wollen uns mit ihm freun ! 206. D e r u n mög l ic he St a nd .  – Arm, fröhlich und unabhängig ! – das ist beisammen möglich ; arm, fröhlich und Sclave ! – das ist auch möglich,  – und ich wüsste den Arbeitern der Fabrik-Sclaverei nichts Besseres zu sagen : gesetzt, sie empfi nden es nicht überhaupt als S c h a nd e, dergestalt, wie es geschieht, als Schrauben einer Maschine und gleichsam als Lükkenbüsser der menschlichen Erfi ndungskunst ve r b r auc ht zu werden ! Pfui ! zu glauben, dass durch höhere Zahlung das We s e nt l ic he ihres Elends, ich meine, ihre unper|sönliche Verknechtung, gehoben werden könne ! Pfui ! sich aufreden zu lassen, durch eine Steigerung dieser Unpersönlichkeit‚ innerhalb des maschinenhaften Getriebes einer neuen Gesellschaft könne die Schande der Sclaverei zur Tugend gemacht werden ! Pfui ! einen Preis zu haben, für den man nicht mehr Person, sondern Schraube wird ! Seid ihr die Mitverschworenen in der jetzigen Narrheit der Nationen, welche vor Allem möglichst viel produciren und möglichst reich sein wollen ? Eure Sache wäre es, ihnen die Gegenrechnung vorzuhalten : wie grosse Summen i n ne r e n Werthes für ein solches äusserliches Ziel weggeworfen werden ! Wo ist aber euer innerer Werth, wenn ihr nicht mehr wisst, was frei athmen heisst ? euch selber nicht einmal nothdürftig in der Gewalt habt ? eurer wie eines abgestandenen Getränkes allzu oft überdrüssig werdet ? nach der Zeitung hinhorcht und den reichen Nachbar anschielt,

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lüstern gemacht durch das schnelle Steigen und Fallen von Macht, Geld und Meinungen ? wenn ihr keinen Glauben mehr an die Philosophie, die Lumpen trägt, an die Freimüthigkeit des Bedürfnisslosen habt ? wenn euch die freiwillige idyllische Armuth, Berufs- und Ehelosigkeit, wie sie recht wohl den Geistigeren unter euch anstehen sollte, zum Gelächter geworden ist ? Dagegen die Pfeife der socialistischen Rattenfänger immer im Ohre tönt, die euch mit tollen Hoff nungen brünstig machen wollen ? welche euch heissen, b e r e it zu sein und Nichts weiter, bereit von heute auf morgen, sodass ihr auf Etwas von Aussen her wartet und wartet und in Allem sonst lebt, wie ihr sonst gelebt habt, – bis dieses Warten zum Hunger und zum Durst und zum Fieber und zum Wahnsinn wird, und endlich der Tag | der bestia triumphans in aller Herrlichkeit aufgeht ? – Dagegen sollte doch Jeder bei sich denken : „lieber auswandern, in wilden und frischen Gegenden der Welt He r r zu werden suchen und vor Allem Herr über mich selber ; den Ort so lange wechseln, als noch irgend ein Zeichen von Sclaverei mir winkt ; dem Abenteuer und dem Kriege nicht aus dem Wege gehen und für die schlimmsten Zufälle den Tod in Bereitschaft halten : nur nicht länger diese unanständige Knechtschaft, nur nicht länger diess Sauer- und Giftig- und Verschwörerischwerden !“ Diess wäre die rechte Gesinnung : die Arbeiter in Europa sollten sich a l s St a nd fürderhin für eine Menschen-Unmöglichkeit, und nicht nur, wie meistens geschieht, als etwas hart und unzweckmässig Eingerichtetes erklären ; sie sollten ein Zeitalter des grossen Ausschwärmens im europäischen Bienenstocke herauff ühren, wie dergleichen bisher noch nicht erlebt wurde, und, durch diese That der Freizügigkeit im grossen Stil, gegen die Maschine, das Capital und die jetzt ihnen drohende Wahl protestiren, entweder Sclave des Staates oder Sclave einer Umsturz-Partei werden zu mü s s e n . Möge sich Europa des vierten Theiles seiner Bewohner erleichtern ! Ihm und ihnen wird es leichter um’s Herz

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werden ! In der Ferne erst, bei den Unternehmungen schwärmender Colonisten-Züge wird man recht erkennen, wie viel gute Vernunft und Billigkeit‚ wie viel gesundes Misstrauen die Mutter Europa ihren Söhnen einverleibt hat,  – diesen Söhnen, welche es neben ihr, dem verdumpften alten Weibe, nicht mehr aushalten konnten und Gefahr liefen, griesgrämig, reizbar und genusssüchtig‚ wie sie selber, zu werden. Ausserhalb Europa’s werden die Tugenden Europa’s mit diesen Arbeitern | auf der Wanderschaft sein ; und Das, was zu gefährlichem Missmuth und verbrecherischem Hange innerhalb der Heimath zu entarten begann, wird draussen eine wilde schöne Natürlichkeit gewinnen und Heroismus heissen. – So käme doch endlich auch wieder reinere Luft in das alte, jetzt übervölkerte und in sich brütende Europa ! Mag es immerhin dann an „Arbeitskräften“ etwas fehlen ! Vielleicht wird man sich dabei besinnen, dass man an viele Bedürfnisse sich erst seitdem gewöhnt hat, als es so le ic ht wurde, sie zu befriedigen, – man wird einige Bedürfnisse wieder verlernen ! Vielleicht auch wird man dann C h i ne s e n hereinholen : und diese würden die Denk- und Lebensweise mitbringen, welche sich für arbeitsame Ameisen schickt. Ja, sie könnten im Ganzen dazu helfen, dem unruhigen und sich aufreibenden Europa etwas asiatische Ruhe und Betrachtsamkeit und – was am meisten wohl noth thut – asiatische D aue r h a f t i g k e it in’s Geblüt zu geben. 207. Ve rh a lt e n d e r D eut s c he n z u r Mor a l. – Ein Deutscher ist grosser Dinge fähig, aber es ist unwahrscheinlich, dass er sie thut : denn er gehorcht, wo e r k a n n , wie diess einem an sich trägen Geiste wohlthut. Wird er in die Noth gebracht, allein zu stehen und seine Trägheit abzuwerfen, ist es ihm nicht mehr möglich, als Ziffer in einer Summe unterzuducken (in dieser Eigenschaft ist er bei Weitem nicht so viel werth wie ein Franzose oder Engländer) – so entdeckt er seine Kräfte :

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dann wird er gefährlich, böse, tief, verwegen, und bringt den Schatz von schlafender Energie an’s Licht, den er in sich trägt und an den sonst Niemand | (und er selber nicht) glaubte. Wenn ein Deutscher sich in solchem Falle selbst gehorcht – es ist die grosse Ausnahme –, so geschieht es mit der gleichen Schwerfälligkeit, Unerbittlichkeit und Dauer, mit der er sonst seinem Fürsten, seinen amtlichen Obliegenheiten gehorcht : sodass er, wie gesagt, dann grossen Dingen gewachsen ist, die zu dem „schwachen Charakter“, den er bei sich voraussetzt, in gar keinem Verhältniss stehen. Für gewöhnlich aber fürchtet er sich, vo n s ic h a l le i n abzuhängen, zu i m p r o v i s i r e n : desshalb verbraucht Deutschland so viel Beamte, so viel Tinte. – Der Leichtsinn ist ihm fremd, für ihn ist er zu ängstlich ; aber in ganz neuen Lagen, die ihn aus der Schläfrigkeit herausziehen, ist er b e i n a he leichtsinnig ; er geniesst dann die Seltenheit der neuen Lage wie einen Rausch, und er versteht sich auf den Rausch ! So ist der Deutsche jetzt in der Politik beinahe leichtsinnig : hat er das Vorurtheil der Gründlichkeit und des Ernstes auch hier für sich und benutzt er es im Verkehr mit den anderen politischen Mächten reichlich, so ist er doch insgeheim voller Übermuth, einmal schwärmen und launenhaft und neuerungssüchtig sein zu dürfen und mit Personen, Parteien, Hoff nungen wie mit Masken zu wechseln. – Die deutschen Gelehrten, welche bisher das Ansehen hatten, die Deutschesten unter den Deutschen zu sein, waren und sind vielleicht noch so gut wie die deutschen Soldaten, wegen ihres tiefen, fast kindlichen Hanges zum Gehorchen in allen äusseren Dingen und der Nöthigung, in der Wissenschaft viel allein zu stehen und Viel zu verantworten ; wenn sie ihre stolze, schlichte und geduldige Art und ihre Freiheit von politischer Narrheit zu sichern wissen, in Zeiten, wo der Wind anders bläst, | so steht noch Grosses von ihnen zu erwarten : so wie sie sind (oder waren), sind sie der embryonische Zustand von etwas Höhe r e m . – Der Vortheil und der

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Nachtheil der Deutschen, und selbst ihrer Gelehrten, war bisher, dass sie dem Aberglauben und der Lust, zu glauben, näher standen, als andere Völker ; ihre Laster sind, nach wie vor, der Trunk und der Hang zum Selbstmord (dieser ein Zeichen von Schwerfälligkeit des Geistes, der schnell dazu gebracht werden kann, die Zügel wegzuwerfen) ; ihre Gefahr liegt in Allem, was die Verstandeskräfte bindet und die Affecte entfesselt (wie zum Beispiel der übermässige Gebrauch der Musik und der geistigen Getränke) : denn der deutsche Affect ist gegen den eigenen Nutzen gerichtet und selbstzerstörerisch wie der des Trunkenboldes. Die Begeisterung selber ist in Deutschland weniger werth, als anderwärts, denn sie ist unfruchtbar. Wenn je ein Deutscher etwas Grosses that, so geschah es in der Noth, im Zustande der Tapferkeit, der zusammengebissenen Zähne, der gespanntesten Besonnenheit und oft der Grossmuth. – Der Umgang mit ihnen wäre wohl anzurathen,  – denn fast jeder Deutsche hat Etwas zu g eb e n , wenn man versteht, ihn dahin zu bringen, dass er es f i nd et , w ied e r f i nd et (er ist unordentlich in sich). – – Wenn nun ein Volk dieser Art sich mit Moral abgiebt : welche Moral wird es sein, die gerade ihm genugthut ? Sicherlich wird es zuerst wollen, dass sein herzlicher Hang zum Gehorsam in ihr idealisirt erscheine. „Der Mensch muss Etwas haben, dem er u n b e d i n g t g e hor c he n kann“  – das ist eine deutsche Empfi ndung, eine deutsche Folgerichtigkeit : man begegnet ihr auf dem Grunde aller deutschen Morallehren. Wie anders ist der Eindruck, | wenn man sich vor die gesammte antike Moral stellt ! Alle diese griechischen Denker, so vielartig ihr Bild uns entgegenkommt, scheinen als Moralisten dem Turnmeister zu gleichen, der einem Jünglinge zuspricht „Komm ! Folge mir ! Ergieb dich meiner Zucht ! So wirst du es vielleicht so hoch bringen, vor allen Hellenen einen Preis davonzutragen.“ Persönliche Auszeichnung, – das ist die antike Tugend. Sich unterwerfen, folgen, öffentlich oder in der Verborgen-

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heit‚ – das ist deutsche Tugend. Lange vor Kant und seinem kategorischen Imperativ hatte Luther aus der selben Empfi ndung gesagt : es müsse ein Wesen geben, dem der Mensch unbedingt vertrauen könne, – es war sein G ot t e s b ewe i s , er wollte, gröber und volksthümlicher als Kant, dass man nicht einem Begriff, sondern einer Person unbedingt gehorche und schliesslich hat auch Kant seinen Umweg um die Moral nur desshalb genommen, um zum G e hor s a m g e g e n d ie Pe r s on zu gelangen : das ist eben der Cultus des Deutschen, je weniger ihm gerade vom Cultus in der Religion übrig geblieben ist. Griechen und Römer empfanden anders und würden über ein solches „es mu s s ein Wesen geben“ – gespottet haben : es gehörte zu ihrer südländischen Freiheit des Gefühls, sich des „unbedingten Vertrauens“ zu erwehren und im letzten Verschluss des Herzens eine kleine Skepsis gegen Alles und Jedes, sei es Gott oder Mensch oder Begriff, zurückzubehalten. Gar der antike Philosoph ! Nil admirari – in diesem Satze sieht er die Philosophie. Und ein Deutscher, nämlich Schopenhauer, geht so weit im Gegentheil, zu sagen : admirari id est philosophari. – Wie aber nun, wenn der Deutsche einmal, wie es vorkommt, in den | Zustand geräth, wo er g r o s s e r D i n g e fähig ist ? Wenn die Stunde der Au s n a h me, die Stunde des Ungehorsams kommt ? – Ich glaube nicht, dass Schopenhauer mit Recht sagt, es sei der einzige Vorzug der Deutschen vor anderen Völkern, dass es unter ihnen mehr Atheisten gebe, als anderwärts, – aber Das weiss ich : wenn der Deutsche in den Zustand geräth, wo er grosser Dinge fähig ist, so e r hebt e r s ic h a l le m a l ü b e r d ie Mor a l ! Und wie sollte er nicht ? Jetzt muss er etwas Neues thun, nämlich befehlen – sich oder Anderen ! Das Befehlen hat ihn aber seine deutsche Moral nicht gelehrt ! Das Befehlen ist in ihr vergessen ! |

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208. G ew i s s e n s f r a g e. – „Und in summa : was wollt ihr eigentlich Neues ?“ – Wir wollen nicht mehr die Ursachen zu Sündern und die Folgen zu Henkern machen. 209. Die Nüt zl ich keit der strengsten Theor ien. – Man sieht einem Menschen viele Schwächen der Moralität nach und handhabt dabei ein grobes Sieb, vor au s g e s et z t , dass er sich immer zur strengsten T heor ie d e r Mor a l bekennt ! Dagegen hat man das Leben der freigeistischen Moralisten immer unter das Mikroskop gestellt : mit dem Hintergedanken, dass ein Fehltritt des Lebens das sicherste Argument gegen eine unwillkommene Erkenntniss sei. 210. D a s „ a n s ic h “. – Ehemals fragte man : was ist das Lächerliche ? wie als ob es ausser uns Dinge gebe, welchen das Lächerliche als Eigenschaft anhafte, und man erschöpfte sich in Einfällen (ein Theologe meinte sogar, dass es „die Naivität der Sünde“ sei). Jetzt fragt man : was ist das Lachen ? Wie entsteht das Lachen ? Man hat sich besonnen und endlich festgestellt, dass es nichts Gutes, nichts Schönes, nichts Erhabenes, nichts Böses an sich giebt‚ wohl aber Seelenzustände, in denen wir die Dinge ausser und in uns mit solchen Worten belegen. Wir haben die Prädicate der Dinge wieder | z u r üc k g e nom me n , oder wenigstens uns daran erinnert, dass wir sie ihnen g e l ie he n haben : – sehen wir zu, dass wir bei dieser Einsicht die Fä h i g k e it zum Verleihen nicht verlieren, und dass wir nicht zugleich r e ic he r und g e i z i g e r geworden sind.

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211. A n d ie Träu mer der Un sterbl ic h keit. – Diesem schönen Bewusstsein eurer selbst wünscht ihr also e w i g e D aue r ? Ist das nicht schamlos ? Denkt ihr denn nicht an alle anderen Dinge, die e u c h dann in alle Ewigkeit zu e r t r a g e n hätten, wie sie euch bisher ertragen haben mit einer mehr als christlichen Geduld ? Oder meint ihr, ihnen ein ewiges Wohlgefühl an euch geben zu können ? Ein einziger unsterblicher Mensch auf der Erde wäre ja schon genug, um alles Andere, das noch da wäre, durch Ü b e r d r u s s a n i h m in eine allgemeine Sterbe- und Aufhängewuth zu versetzen ! Und ihr Erdenbewohner mit euren Begriffelchen von ein paar Tausend Zeitminütchen wollt dem ewigen allgemeinen Dasein ewig lästig fallen ! Giebt es etwas Zudringlicheres ! – Zuletzt : seien wir milde gegen ein Wesen von siebenzig Jahren ! – es hat seine Phantasie im Ausmalen der e i g ne n „ewigen Langenweile“ nicht üben können, – es fehlte ihm an der Zeit ! 212. Wor i n m a n s ic h k e n nt . – Sobald ein Thier ein anderes sieht, so misst es sich im Geiste mit ihm ; und ebenso machen es die Menschen wilder Zeitalter. Daraus ergiebt sich, dass sich da jeder Mensch fast nur in Hinsicht auf seine Wehr- und Angriffskräfte kennen lernt. | 213. Die Men sc hen des ver feh lten Leben s. – Die Einen sind aus solchem St of f e, dass es der Gesellschaft erlaubt ist, Diess oder Jenes aus ihnen zu m a c h e n : unter allen Umständen werden sie sich gut dabei befi nden und nicht über ein verfehltes Leben zu klagen haben. Andere sind von zu besonderem Stoffe – es braucht desshalb noch kein besonders edler, sondern eben nur ein seltnerer zu sein –, als dass sie nicht sich schlecht befi nden müssten, den einzigen Fall ausgenommen,

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dass sie ihrem einzigen Zwecke gemäss leben können :  – in allen anderen Fällen hat die Gesellschaft den Schaden davon. Denn Alles, was dem Einzelnen als verfehltes, missrathenes Leben erscheint, seine ganze Bürde von Missmuth, Lähmung, Erkrankung, Reizbarkeit, Begehrlichkeit, wirft er auf die Gesellschaft zurück – und so bildet sich um sie eine schlechte dumpfe Luft und, im günstigsten Falle, eine Gewitterwolke. 214. Wa s Nac h s ic ht ! – Ihr leidet, und verlangt, dass wir nachsichtig gegen euch sind, wenn ihr im Leiden den Dingen und Menschen Unrecht thut ! Aber was liegt an unserer Nachsicht ! Ihr aber solltet vor s ic ht i g e r um euer selbst willen sein ! Das ist eine schöne Art, sich für sein Leiden so zu entschädigen, dass man noch dazu s e i n Ur t he i l s c h ä d i g t ! Auf euch selber fällt eure eigne Rache zurück, wenn ihr Etwas verunglimpft ; ihr trübt damit eue r Auge, nicht das der Anderen : ihr gewöhnt euch an das Fa l s c h - u nd S c h ie f- S e he n ! | 215. Mo r a l d e r O p f e r t h i e r e .  – „Sich begeistert hingeben“, „sich selber zum Opfer bringen“ – diess sind die Stichworte eurer Moral, und ich glaube es gerne, dass ihr, wie ihr sagt, „es damit ehrlich meint“ : nur kenne ich euch besser, als ihr euch kennt, wenn eure „Ehrlichkeit“ mit einer solchen Moral Arm in Arm zu gehen vermag. Ihr seht von der Höhe derselben herab auf jene andere nüchterne Moral, welche Selbstbeherrschung, Strenge, Gehorsam fordert, ihr nennt sie wohl gar egoistisch, und gewiss ! – ihr s e id ehrlich gegen euch, wenn sie euch missfällt, – sie mu s s euch missfallen ! Denn indem ihr euch begeistert hingebt und aus euch ein Opfer macht, geniesst ihr jenen Rausch des Gedankens, nunmehr eins zu sein mit dem Mächtigen, sei es ein Gott oder ein Mensch, dem ihr euch weiht : ihr schwelgt in dem Gefühle seiner Macht,

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die eben wieder durch ein Opfer bezeugt ist. In Wahrheit s c he i nt ihr euch nur zu opfern, ihr wandelt euch vielmehr in Gedanken zu Göttern um und geniesst euch als solche. Von diesem Genusse aus gerechnet, – wie schwach und arm dünkt euch jene „egoistische“ Moral des Gehorsams, der Pfl icht, der Vernünftigkeit : sie missfällt euch, weil hier wirklich geopfert und hingegeben werden muss, oh ne dass der Opferer sich in einen Gott verwandelt wähnt, wie ihr wähnt. Kurz, i h r wollt den Rausch und das Übermaass, und jene von euch verachtete Moral hebt den Finger auf g e g e n Rausch und Übermaass, – ich glaube euch wohl, dass sie euch Missbehagen macht ! | 216. D ie B ö s e n u nd d ie Mu s i k . – Sollte die volle Seligkeit der Liebe, welche im u n b e d i n g t e n Ve r t r aue n liegt‚ jemals anderen Personen zu Theil geworden sein, als tief misstrauischen, bösen und galligen ? Diese nämlich geniessen in ihr die ungeheure, nie geglaubte und glaubliche Au s n a h me ihrer Seele ! Eines Tages kommt jene gränzenlose, traumhafte Empfi ndung über sie, gegen die sich ihr ganzes übriges heimliches und sichtbares Leben abhebt : wie ein köstliches Räthsel und Wunder, voll goldenen Glanzes und über alle Worte und Bilder hinaus. Das unbedingte Vertrauen macht stumm ; ja, selbst ein Leiden und eine Schwere ist in diesem seligen Stummwerden, wesshalb auch solche vom Glück gedrückte Seelen der Mu s i k dankbarer zu sein pflegen, als alle anderen und besseren : denn durch die Musik hindurch sehen und hören sie, wie durch einen farbigen Rauch, ihre Liebe gleichsam f e r ne r, rührender und weniger schwer geworden ; Musik ist ihnen das einzige Mittel, ihrem ausserordentlichen Zustande z u z u s c h aue n und mit einer Art von Entfremdung und Erleichterung erst seines Anblicks theilhaft zu werden. Jeder Liebende denkt bei der Musik : „sie redet von mir, sie redet an meiner Statt, s ie we i s s A l le s !“ –

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217. D e r K ü n s t le r. – Die Deutschen wollen durch den Künstler in eine Art erträumter Passion kommen ; die Italiäner wollen durch ihn von ihren wirklichen Passionen ausruhen ; die Franzosen wollen von ihm Gelegenheit, ihr Urtheil zu beweisen, und Anlässe zum Reden haben. Also seien wir billig ! | 218. M it sei nen Sc hwäc hen a ls Kü n st ler sc ha lten. – Wenn wir durchaus Schwächen haben sollen und sie als Gesetze über uns endlich auch anerkennen müssen, so wünsche ich Jedem wenigstens so viel künstlerische Kraft, dass er aus seinen Schwächen die Folie seiner Tugenden und durch seine Schwächen uns begehrlich nach seinen Tugenden zu machen verstehe : Das, was in so ausgezeichnetem Maasse die grossen Musiker verstanden haben. Wie häufig ist in Beethoven’s Musik ein grober rechthaberischer, ungeduldiger Ton, bei Mozart eine Jovialität biederer Gesellen, bei der Herz und Geist ein Wenig fürlieb nehmen müssen, bei Richard Wagner eine abspringende und zudringende Unruhe, bei der dem Geduldigsten die gute Laune eb e n abhanden kommen will : d a aber kehrt er zu seiner Kraft zurück, und ebenso Jene ; sie Alle haben uns mit ihren Schwächen einen Heisshunger nach ihren Tugenden und eine zehnmal empfi ndlichere Zunge für jeden Tropfen tönenden Geistes, tönender Schönheit, tönender Güte gemacht. 219. D e r B et r u g b e i d e r D e müt h i g u n g. – Du hast deinem Nächsten mit deiner Unvernunft ein tiefes Leid zugefügt und ein unwiederbringliches Glück zerstört – und nun gewinnst du es über deine Eitelkeit, zu ihm zu gehen, du demüthigst dich vor ihm, giebst deine Unvernunft vor ihm der Verachtung preis und meinst, nach dieser harten, für dich äusserst beschwerlichen Scene sei im Grunde Alles wieder in Ordnung

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gebracht, – deine freiwillige Einbusse an Ehre gleiche die unfreiwillige Einbusse des Andern an Glück aus : mit | diesem Gefühle gehst du erhoben und in deiner Tugend wiederhergestellt davon. Aber der Andere hat sein tiefes Leid wie vorher, es liegt ihm gar nichts Tröstliches darin, dass du unvernünftig bist und es gesagt hast, er erinnert sich sogar des peinlichen Anblicks, den du ihm gegeben hast, als du dich vor ihm selbst verachtetest‚ wie einer neuen Wunde, welche er dir verdankt, – aber er denkt nicht an Rache und begreift nicht, wie zwischen dir und ihm Etwas au s g e g l ic he n werden könnte. Im Grunde hast du jene Scene vor dir selber aufgeführt und für dich selber : du hattest einen Zeugen dazu eingeladen, deinetwegen wiederum und nicht seinetwegen, – betrüge dich nicht ! 220. Wü rde u nd Fu rc ht sa m keit. – Die Ceremonien, die Amtsund Standestrachten, die ernsten Mienen‚ das feierliche Dreinschauen, die langsame Gangart, die gewundene Rede und Alles überhaupt, was Würde heisst : das ist die Verstellungsform Derer, welche im Grunde furchtsam sind, – sie wollen damit fürchten machen (sich oder Das, was sie repräsentiren). Die Furchtlosen, das heisst ursprünglich : die jederzeit und unzweifelhaft Fürchterlichen haben Würde und Ceremonien nicht nöthig, sie bringen die Ehrlichkeit, das Geradezu in Worten und Gebärden in Ruf und noch mehr in Verruf, als Anzeichen der selbstbewussten Fürchterlichkeit. 221. Mor a l it ät d e s O pf e r s . – Die Moralität, welche sich nach der Aufopferung bemisst, ist die der halbwilden Stufe. Die Vernunft hat da nur einen schwierigen | und blutigen Sieg innerhalb der Seele, es sind gewaltige Gegentriebe niederzuwerfen ; ohne eine Art Grausamkeit, wie bei den Opfern, welche kanibalische Götter verlangen, geht es dabei nicht ab.

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222. Wo Fa n at i s mu s z u w ü n s c he n i s t . – Phlegmatische Naturen sind nur so zu begeistern, dass man sie fanatisirt. 223. D a s g e f ü r c h t e t e A u g e .  – Nichts wird von Künstlern, Dichtern und Schriftstellern mehr gefürchtet, als jenes Auge, welches ihren k le i ne n B et r u g sieht, welches nachträglich wahrnimmt, wie oft sie an dem Gränzwege gestanden haben, wo es entweder zur unschuldigen Lust an sich selber oder zum Effect-machen abführte ; welches ihnen nachrechnet, wenn sie Wenig für viel verkaufen wollten, wenn sie zu erheben und zu schmücken suchten, ohne selber erhoben zu sein ; welches den Gedanken durch allen Trug ihrer Kunst hindurch so sieht, wie er zuerst vor ihnen stand, vielleicht wie eine entzückende Lichtgestalt, vielleicht aber auch als ein Diebstahl an aller Welt, als ein Alltags-Gedanke, den sie dehnen, kürzen, färben, einwickeln, würzen mussten, um Etwas aus ihm zu machen, anstatt dass der Gedanke Etwas aus ihnen machte, – oh dieses Auge, welches alle eure Unruhe, euer Spähen und Gieren, euer Nachmachen und Überbieten (diess ist nur ein neidisches Nachmachen) eurem Werke anmerkt, welches eure Schamröthe so gut kennt, wie eure Kunst, diese Röthe zu verbergen und vor euch selber umzudeuten ! | 224. Da s „Erhebende“ a m Un g lüc k de s Näc h sten. – Er ist im Unglück, und nun kommen die „Mitleidigen“ und malen ihm sein Unglück aus, – endlich gehen sie befriedigt und erhoben fort : sie haben sich an dem Entsetzen des Unglücklichen wie an dem eigenen Entsetzen geweidet und sich einen guten Nachmittag gemacht.

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225. M it tel, u m sc h nel l verac htet z u werden. – Ein Mensch, der schnell und viel spricht, sinkt ausserordentlich tief in unserer Achtung, nach dem kürzesten Verkehre, und selbst wenn er verständig spricht, – nicht nur in dem Maasse als er lästig fällt, sondern weit tiefer. Denn wir errathen, wie vielen Menschen er schon lästig gefallen ist, und rechnen zu dem Missbehagen‚ das er macht, noch die Missachtung hinzu, welche wir für ihn voraussetzen. 226. Vo m Ve r k e h r e m i t C e l e b r i t ä t e n .  – A : Aber warum weichst du diesem grossen Manne aus ? – B : Ich möchte ihn nicht verkennen lernen ! Unsere Fehler vertragen sich nicht bei einander : ich bin kurzsichtig und misstrauisch, und er trägt seine falschen Diamanten so gern wie seine ächten. 227. K e t t e n t r ä g e r.  – Vorsicht vor allen Geistern, die an Ketten liegen ! Zum Beispiel vor den klugen Frauen, welche ihr Schicksal in eine kleine, dumpfe Umgebung gebannt hat und die darin alt werden. Zwar liegen sie | scheinbar träge und halb blind in der Sonne da : aber bei jedem fremden Tritt, bei allem Unvermutheten fahren sie auf, um zu beissen ; sie nehmen an Allem Rache, was ihrer Hundehütte entkommen ist. 228. R ac he i m L o b e. – Hier ist eine geschriebene Seite voller Lob, und ihr nennt sie flach : aber wenn ihr errathet, dass Rache in diesem Lobe verborgen liegt, so werdet ihr sie fast überfein fi nden und an dem Reichthum kleiner kühner Striche und Figuren euch sehr ergötzen. Nicht der Mensch, sondern seine Rache ist so fein, reich und erfi nderisch ; er selber merkt kaum Etwas davon.

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229. St ol z .  – Ach, ihr kennt alle das Gefühl nicht, welches der Gefolterte nach der Folterung hat, wenn er in die Zelle zurückgebracht wird und sein Geheimniss mit ihm ! – er hält es immer noch mit den Zähnen fest. Was wisst ihr vom Jubel des menschlichen Stolzes ! 230. „Ut i l it a r i s c h “.  – Jetzt gehen die Empfi ndungen in moralischen Dingen so kreuz und quer, dass man für diesen Menschen eine Moral durch ihre Nützlichkeit beweist, für jenen gerade durch die Nützlichkeit widerlegt. 231. Von d er d eut s c he n Tu g e nd .  – Wie entartet in seinem Geschmack, wie sclavisch vor Würden, Ständen, Trachten, Pomp und Prunk muss ein Volk gewesen sein, als es das S c h l i c h t e als das S c h le c h t e , den | schlichten Mann als den schlechten Mann abschätzte ! Man soll dem moralischen Hochmuthe der Deutschen immer diess Wörtlein „schlecht“ und Nichts weiter entgegenhalten ! 232. Au s e i ne r D i s put at io n . – A : Freund, Sie haben sich heiser gesprochen !  – B : So bin ich widerlegt. Reden wir nicht weiter davon. 233. D ie „G ew i s s e n h a f t e n“. – Habt ihr Acht gegeben, was für Menschen am meisten Werth auf strengste Gewissenhaftigkeit legen ? Die, welche sich vieler erbärmlicher Empfi ndungen bewusst sind, ängstlich von sich und an sich denken und Angst vor Anderen haben, die ihr Inneres so sehr wie möglich verbergen wollen, – sie suchen s ic h s e l b e r z u i m p o n i r e n , durch jene Strenge der Gewissenhaftigkeit und Härte der Pfl icht, vermöge des strengen und harten Eindrucks, den

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Andere von ihnen dadurch bekommen müssen (namentlich Untergebene). 234. S c heu vor d e m R u h me. – A : Dass Einer seinem Ruhme ausweicht, dass Einer seinen Lobredner absichtlich beleidigt, dass Einer sich scheut, Urtheile über sich zu hören, aus Scheu vor dem Lobe, – d a s f i nd et m a n , d a s g iebt e s , – glaubt oder glaubt es nicht ! – B : Das fi ndet sich, das giebt sich ! Nur etwas Geduld, Junker Hochmuth ! – 235. D a n k a bwe i s e n . – Man darf wohl eine Bitte abweisen, aber nimmermehr darf man einen Dank ab|weisen (oder, was das Selbe ist, ihn kalt und conventionell annehmen). Diess beleidigt tief – und warum ? 236. St r a f e. – Ein seltsames Ding, unsere Strafe ! Sie reinigt nicht den Verbrecher, sie ist kein A b büssen : im Gegentheil, sie beschmutzt mehr, als das Verbrechen selber. 237. E i ne P a r t e i not h . – Es giebt eine lächerliche, aber nicht ungefährliche Betrübniss fast in jeder Partei : an ihr leiden alle Die, welche die jahrelangen, treuen und ehrenwerthen Verfechter der Parteimeinung waren und plötzlich, eines Tages, merken, dass ein viel Mächtigerer die Trompete in die Hand genommen hat. Wie wollen sie es ertragen, stumm gemacht zu sein ! Und so werden sie laut und mitunter in neuen Tönen. 238. D a s St r eb e n n ac h A n mut h . – Wenn eine starke Natur nicht den Hang der Grausamkeit hat und nicht immer von sich selber occupirt ist, so strebt sie unwillkürlich nach A n mut h , – diess ist ihr Abzeichen. Die schwachen Charaktere

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dagegen lieben die herben Urtheile, – sie gesellen sich zu den Helden der Menschenverachtung, zu den religiösen oder philosophischen Anschwärzern des Daseins oder ziehen sich hinter strenge Sitten und peinliche „Lebensberufe“ zurück : so suchen sie sich einen Charakter und eine Art Stärke zu schaffen. Und diess thun sie ebenfalls unwillkürlich. | 239. Wi n k f ü r Mora l i sten. – Unsere Musiker haben eine grosse Entdeckung gemacht : die i nt e r e s s a nt e H ä s s l ic h k e it ist auch in ihrer Kunst möglich ! Und so werfen sie sich in diesen eröff neten Ozean des Hässlichen, wie trunken, und noch niemals war es so leicht, Musik zu machen. Jetzt hat man erst den allgemeinen dunkelfarbigen Hintergrund gewonnen, auf dem ein noch so kleiner Lichtstreifen schöner Musik den Glanz von Gold und Smaragd erhält ; jetzt wagt man erst den Zuhörer in Sturm, Empörung und ausser Athem zu bringen, u m ihm nachher durch einen Augenblick des Hinsinkens in Ruhe ein Gefühl der Seligkeit zu geben, welches der Schätzung der Musik überhaupt zu Gute kommt. Man hat den Contrast entdeckt : jetzt erst sind die stärksten Effecte möglich – und woh l f e i l : Niemand fragt mehr nach guter Musik. Aber ihr müsst euch beeilen ! Es ist für jede Kunst nur eine kurze Spanne Zeit noch, wenn sie erst zu dieser Entdeckung gelangt ist. – Oh, wenn unsere Denker Ohren hätten, um in die Seelen unserer Musiker, vermittelst ihrer Musik, hineinzuhören ! Wie lange muss man warten, ehe solch eine Gelegenheit sich wiederfi ndet, den innerlichen Menschen auf der bösen That und in der Unschuld dieser That zu ertappen ! Denn unsere Musiker haben nicht den leisesten Geruch davon, dass sie ihre eigene Geschichte, die Geschichte der Verhässlichung der Seele, in Musik setzen. Ehemals musste der gute Musiker beinahe um seiner Kunst willen ein guter Mensch werden – Und jetzt ! |

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240. Vo n d e r Mor a l it ät d e r S c h au bü h n e . – Wer da meint, Shakespeare’s Theater wirke moralisch und der Anblick des Macbeth ziehe unwiderstehlich vom Bösen des Ehrgeizes ab, der irrt sich : und er irrt sich noch einmal, wenn er glaubt, Shakespeare selber habe so empfunden wie er. Wer wirklich vom rasenden Ehrgeiz besessen ist, sieht diess sein Bild mit Lu s t ; und wenn der Held an seiner Leidenschaft zu Grunde geht, so ist diess gerade die schärfste Würze in dem heissen Getränke dieser Lust. Empfand es der Dichter denn anders ? Wie königlich, und durchaus nicht schurkenhaft, läuft sein Ehrgeiziger vom Augenblick des grossen Verbrechens an seine Bahn ! Erst von da ab zieht er „dämonisch“ an und reizt ähnliche Naturen zur Nachahmung auf ; – dämonisch heisst hier : zum Trotz g e g e n Vortheil und Leben, zu Gunsten eines Gedankens und Triebes. Glaubt ihr denn, Tristan und Isolde gäben dadurch eine Lehre g e g e n den Ehebruch, dass sie Beide an ihm zu Grunde gehen ? Diess hiesse die Dichter auf den Kopf stellen : welche, wie namentlich Shakespeare, verliebt in die Leidenschaften an sich sind, und nicht am geringsten in ihre t o d b e r e it e n Stimmungen : – jene, wo das Herz nicht fester mehr am Leben hängt, als ein Tropfen am Glase. Nicht die Schuld und deren schlimmer Ausgang liegt ihnen am Herzen, dem Shakespeare so wenig wie dem Sophokles (im Ajax, Philoktet, Oedipus) : so leicht es gewesen wäre, in den genannten Fällen die Schuld zum Hebel des Drama’s zu machen, so bestimmt ist diess gerade vermieden. Ebensowenig will der Tragödiendichter mit seinen Bildern des Lebens g e g e n das Leben einnehmen ! Er ruft vielmehr : „es ist | der Reiz allen Reizes, dieses aufregende, wechselnde, gefährliche, düstere und oft sonnendurchglühte Dasein ! Es ist ein A b e nt eue r, zu leben, – nehmt diese oder jene Partei darin, immer wird es diesen Charakter behalten !“ – So spricht er aus einer unruhigen und kraftvollen Zeit heraus, die von ihrer Überfülle

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an Blut und Energie halb trunken und betäubt ist, – aus einer böseren Zeit heraus, als die unsere ist : wesshalb wir nöthig haben, uns den Zweck eines Shakespearischen Drama’s erst z u r e c ht und g e r e c ht zu machen, das heisst, es nicht zu verstehen. 241. Fu rc ht u nd I ntel l igen z. – Wenn es wahr ist, was man jetzt des Bestimmtesten behauptet, dass die Ursache des schwarzen Hautpigmentes n ic ht im Lichte zu suchen sei : könnte es vielleicht die letzte Wirkung häufiger und durch Jahrtausende gehäufter Wuthanfälle sein (und Blutunterströmungen der Haut) ? Während bei anderen i nt e l l i g e nt e r e n Stämmen das ebenso häufige Erschrecken und Bleichwerden endlich die weisse Hautfarbe ergeben hätte ? – Denn der Grad der Furchtsamkeit ist ein Gradmesser der Intelligenz : und sich oft der blinden Wuth überlassen, das Zeichen davon, dass die Thierheit noch ganz nahe ist und sich wieder durchsetzen möchte. – Braun-grau wäre also wohl die Urfarbe des Menschen, – etwas Affen- und Bärenhaftes, wie billig. 242. U n a b h ä n g i g k e i t .  – Unabhängigkeit (in ihrer schwächsten Dosis „Gedankenfreiheit“ benannt) ist die Form der Entsagung, welche der Herrschsüchtige end|lich annimmt, – er, der lange Das gesucht hat, was er beherrschen könnte, und Nichts gefunden hat, als sich selber. 243. D ie z we i R ic ht u n g e n .  – Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir endlich Nichts, als die Dinge auf ihm. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt wieder auf Nichts, als auf den Spiegel. – Diess ist die allgemeinste Geschichte der Erkenntniss.

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244. Fr eud e a m W i rk l ic he n . – Unser jetziger Hang zur Freude am Wirklichen – wir haben ihn fast Alle – ist nur daraus zu verstehen, dass wir so lange und bis zum Überdruss Freude am Unwirklichen gehabt haben. An sich ist es ein nicht unbedenklicher Hang, so wie er jetzt auftritt, ohne Wahl und Feinheit : – seine mindeste Gefahr ist die Geschmacklosigkeit. 245. Fe i n h e it d e s M a c h t g e f ü h l s .  – Napoleon ärgerte sich, schlecht zu sprechen, und belog sich hierüber nicht : aber seine Herrschsucht, die keine Gelegenheit verschmähte und feiner war, als sein feiner Geist, brachte ihn dahin, noch schlechter zu sprechen, a l s e r k o n nt e. So rächte er sich an seinem eignen Ärger (er war eifersüchtig auf alle seine Affecte, weil sie M a c ht hatten) und genoss sein autokratisches B e l ie b e n . Sodann, in Hinsicht auf Ohren und Urtheil der Hörenden, genoss er diess Belieben noch einmal : wie als ob so zu ihnen zu reden immer noch gut genug sei. Ja, er frohlockte im Geheimen bei dem Gedanken, durch Blitz und Donner | der höchsten Autorität – welche im Bunde von Macht und Genialität liegt – das Urtheil zu betäuben und den Geschmack irrezuführen ; während Beides in ihm kalt und stolz an der Wahrheit festhielt, dass er s c h le c ht spreche. – Napoleon, als ein vollkommen zu Ende gedachter und ausgearbeiteter Typus Eines Triebes, gehört zu der antiken Menschheit : deren Merkmale – der einfache Auf bau und das erfi nderische Ausbilden und Ausdichten Eines Motivs oder weniger Motive  – leicht genug zu erkennen sind. 246. A r i stoteles u nd d ie Ehe. – Bei den Kindern der grossen Genie’s bricht der Wahnsinn heraus, bei den Kindern der grossen Tugendhaften der Stumpfsinn – bemerkt Aristoteles. Wollte er damit die Ausnahme-Menschen zur Ehe einladen ?

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247. Herk u n f t de s sc h lec hten Temp er a ment s.  – Das Ungerechte und Sprunghafte im Gemüth mancher Menschen, ihre Unordnung und Maasslosigkeit sind die letzten Folgen unzähliger logischer Ungenauigkeiten, Ungründlichkeiten und übereilter Schlüsse, welcher sich ihre Vorfahren schuldig gemacht haben. Die Menschen mit gutem Temperament dagegen stammen aus überlegsamen und gründlichen Geschlechtern, welche die Vernunft hochgestellt haben, – ob zu löblichen oder bösen Zwecken, das kommt nicht so sehr in Betracht. 248. Ve r s t e l lu n g a l s P f l ic ht . – Am meisten ist die Güte durch die lange Verstellung, welche Güte zu | scheinen suchte, entwickelt worden : überall, wo grosse Macht bestand, wurde die Nothwendigkeit gerade dieser Art von Verstellung eingesehen, – sie flösst Sicherheit und Vertrauen ein und verhundertfacht die wirkliche Summe der physischen Macht. Die Lüge ist, wenn nicht die Mutter, so doch die Amme der Güte. Die Ehrlichkeit ist ebenfalls am meisten durch die Anforderung eines Anscheins der Ehrlichkeit und Biederkeit grossgezogen worden : in den erblichen Aristokratien. Aus der dauernden Übung einer Verstellung entsteht zuletzt Nat u r : die Verstellung hebt sich am Ende selber auf, und Organe und Instincte sind die kaum erwarteten Früchte im Garten der Heuchelei. 249. Wer ist den n je a l lei n ! – Der Furchtsame weiss nicht, was Alleinsein ist : hinter seinem Stuhle steht immer ein Feind. – Oh, wer die Geschichte jenes feinen Gefühls, welches Einsamkeit heisst, uns erzählen könnte !

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250. Nac ht u nd Mu s i k . – Das Ohr, das Organ der Furcht, hat sich nur in der Nacht und in der Halbnacht dunkler Wälder und Höhlen so reich entwickeln können, wie es sich entwikkelt hat, gemäss der Lebensweise des furchtsamen, das heisst des allerlängsten menschlichen Zeitalters, welches es gegeben hat : im Hellen ist das Ohr weniger nöthig. Daher der Charakter der Musik, als einer Kunst der Nacht und Halbnacht. 251. St oi s c h . – Es giebt eine Heiterkeit des Stoikers, wenn er sich von dem Ceremoniell beengt fühlt, das | er selber seinem Wandel vorgeschrieben hat, er geniesst sich dabei als Herrschenden. 252. M a n e r w ä g e ! – Der gestraft wird, ist nicht mehr Der, welcher die That gethan hat. Er ist immer der Sündenbock. 253. Au g e n s c he i n . – Schlimm ! Schlimm ! Was man am besten, am hartnäckigsten beweisen muss, das ist der Augenschein. Denn Allzuvielen fehlen die Augen, ihn zu sehen. Aber es ist so langweilig ! 254. Die Vor weg neh menden. – Das Auszeichnende, aber auch Gefährliche in den dichterischen Naturen ist ihre e r s c hö p f e n d e Phantasie : die, welche Das, was wird und werden könnte, vorweg nimmt, vorweg geniesst, vorweg erleidet und im endlichen Augenblick des Geschehens und der That bereits mü d e ist. Lord Byron, der diess Alles zu gut kannte, schrieb in sein Tagebuch : „Wenn ich einen Sohn habe, so soll er etwas ganz Prosaisches werden – Jurist oder Seeräuber.“

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255. G e s p r äc h ü b e r Mu s i k . – A : Was sagen Sie zu dieser Musik ? – B : Sie hat mich überwältigt, ich habe gar Nichts zu sagen. Horch ! Da beginnt sie von Neuem ! – A : Um so besser ! Sehen wir zu, dass w i r sie diessmal überwältigen. Darf ich einige Worte zu dieser Musik machen ? Und Ihnen auch ein Drama zeigen, welches Sie vielleicht beim ersten Hören nicht sehen wollten ? – B : Wohlan ! ich habe zwei Ohren | und mehr, wenn es nöthig ist. Rücken Sie dicht an mich heran !  – A :  –  Diess ist es noch nicht, was e r uns sagen will, er verspricht bisher nur, dass er Etwas sagen werde, etwas Unerhörtes, wie er mit diesen Gebärden zu verstehen giebt. Denn Gebärden sind es. Wie er winkt ! sich hoch aufrichtet ! die Arme wirft ! Und jetzt scheint ihm der höchste Augenblick der Spannung gekommen : noch zwei Fanfaren, und er führt sein Thema vor, prächtig und geputzt, wie klirrend von edlen Steinen. Ist es eine schöne Frau ? Oder ein schönes Pferd ? Genug, er sieht entzückt um sich, denn er hat Blicke des Entzückens zu sammeln, – jetzt erst gefällt ihm sein Thema ganz, jetzt wird er erfi ndsam, wagt neue und kühne Züge. Wie er sein Thema heraustreibt ! Ah ! Geben Sie Acht, – er versteht nicht nur, es zu schmücken, sondern auch zu s c h m i n k e n ! Ja, er weiss, was Farbe der Gesundheit ist, er versteht sich darauf, sie erscheinen zu lassen, – er ist feiner in seiner Selbstkenntniss, als ich dachte. Und jetzt ist er überzeugt, dass er seine Hörer überzeugt hat, er giebt seine Einfälle, als seien es die wichtigsten Dinge unter der Sonne, er hat unverschämte Fingerzeige auf sein Thema, als sei es zu gut für diese Welt. – Ha, wie misstrauisch er ist ! Dass wir nur nicht müde werden ! So verschüttet er seine Melodien unter Süssigkeiten‚ – jetzt ruft er sogar unsere gröberen Sinne an, um uns aufzuregen und so wieder unter seine Gewalt zu bringen ! Hören Sie, wie er das Elementarische stürmischer und donnernder Rhythmen beschwört ! Und jetzt, da er merkt, dass diese uns fassen, würgen und bei-

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nahe zerdrücken, wagt er es, sein Thema wieder in’s Spiel der Elemente zu mischen und uns Halbbetäubte | und Erschütterte zu ü b e r r e d e n , unsere Betäubung und Erschütterung sei die Wirkung seines Wunder-Thema’s. Und fürderhin glauben es ihm die Zuhörer : sobald es erklingt, entsteht in ihnen eine Erinnerung an jene erschütternde Elementarwirkung, – diese Erinnerung kommt jetzt dem Thema zu Gute, – es ist nun „dämonisch“ geworden ! Was für ein Kenner der Seele er ist ! Er gebietet mit den Künsten eines Volksredners über uns. – Aber die Musik verstummt ! – B : Und gut, dass sie es thut ! denn ich kann es nicht mehr ertragen, S ie zu hören ! Zehnmal lieber will ich doch mich t äu s c he n l a s s e n , als Einmal in Ihrer Art die Wahrheit zu wissen ! – A : Diess ist es, was ich von Ihnen hören wollte. So, wie Sie, sind die Besten jetzt : ihr seid zufrieden damit, euch täuschen zu lassen ! Ihr kommt mit groben und lüsternen Ohren, ihr bringt das Gewissen der Kunst zum Hören nicht mit, ihr habt eure f e i n s t e R e d l ic h k e it unterwegs weggeworfen ! Und damit verderbt ihr die Kunst und die Künstler ! Immer, wenn ihr klatscht und jubelt, habt ihr das Gewissen der Künstler in den Händen, – und wehe, wenn sie merken, dass ihr zwischen unschuldiger und schuldiger Musik nicht unterscheiden könnt ! Ich meine wahrlich nicht „gute“ und „schlechte“ Musik, – von dieser und jener giebt es in beiden Arten ! Aber ich nenne eine u n s c hu ld i g e Mu s i k jene, welche ganz und gar nur an sich denkt, an sich glaubt, und über sich die Welt vergessen hat, – das Vonselber-Ertönen der tiefsten Einsamkeit, die über sich mit sich redet und nicht mehr weiss, dass es Hörer und Lauscher und Wirkungen und Missverständnisse und Misserfolge da draussen giebt. – Zuletzt : die Musik, welche wir eben | hörten, i s t gerade von dieser edlen und seltenen Art, und Alles, was ich von ihr sagte, war erlogen,  – verzeihen Sie meine Bosheit, wenn Sie Lust haben ! – B : Oh, Sie lieben also d ie s e Musik auch ? Dann sind Ihnen viele Sünden vergeben !

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256. Glück der Bösen. – Diese stillen, düsteren, bösen Menschen haben Etwas, das ihr ihnen nicht streitig machen könnt, einen seltenen und seltsamen Genuss im dolce far niente, eine Abend- und Sonnenuntergangs-Ruhe, wie sie nur ein Herz kennt, das allzu oft durch Affecte verzehrt, zerrissen, vergiftet worden ist. 257. Wor t e i n u n s g e g e nw ä r t i g. – Wir drücken unsere Gedanken immer mit den Worten aus, die uns zur Hand sind. Oder um meinen ganzen Verdacht auszudrücken : wir haben in jedem Momente eben nur den Gedanken, für welchen uns die Worte zur Hand sind, die ihn ungefähr auszudrücken vermögen. 258. D e m Hu nd e s c h me ic he l n .  – Man muss diesem Hunde nur einmal das Fell streichen : sofort knistert er und sprüht Funken, wie jeder andere Schmeichler – und ist geistreich auf seine Art. Warum sollten wir ihn nicht so ertragen ! 259. D e r e he m a l i g e L o b r e d ne r. – „Er ist stumm über mich geworden, obwohl er die Wahrheit jetzt weiss und sie sagen könnte. Aber sie würde wie Rache klingen – und er achtet die Wahrheit so hoch, der Achtungswürdige !“ | 260. A mu let der Abhä ng igen. – Wer unvermeidlich von einem Gebieter abhängig ist, soll Etwas haben, wodurch er Furcht einflösst und den Gebieter im Zaume hält, zum Beispiel Rechtschaffenheit oder Aufrichtigkeit oder eine böse Zunge.

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261. Wa r u m s o e r h a b e n ! – Oh, ich kenne diess Gethier ! Freilich gefällt es sich selber besser, wenn es auf zwei Beinen „wie ein Gott“ daherschreitet, – aber wenn es wieder auf seine vier Füsse zurückgefallen ist, gefällt es mir besser : diess steht ihm so unvergleichlich natürlicher ! 262. D e r D ä mon d e r Mac ht . – Nicht die Nothdurft, nicht die Begierde, – nein, die Liebe zur Macht ist der Dämon der Menschen. Man gebe ihnen Alles, Gesundheit, Nahrung, Wohnung, Unterhaltung, – sie sind und bleiben unglücklich und grillig : denn der Dämon wartet und wartet und will befriedigt sein. Man nehme ihnen Alles und befriedige diesen : so sind sie beinahe glücklich‚ – so glücklich als eben Menschen und Dämonen sein können. Aber warum sage ich diess noch ? Luther hat es schon gesagt, und besser als ich, in den Versen : „Nehmen sie uns den Leib, Gut, Ehr’, Kind und Weib : lass fahren dahin, – das Reich muss uns doch bleiben !“ Ja ! Ja ! Das „Reich“ ! 263. Der Widerspr uch leibhaf t und beseelt. – Im sogenannten Genie ist ein physiologischer Widerspruch : es besitzt einmal viele wilde, unordentliche, unwillkür|liche Bewegung und sodann wiederum viele höchste Zweckthätigkeit der Bewegung, – dabei ist ihm ein Spiegel zu eigen, der beide Bewegungen neben einander und in einander, aber auch oft genug wider einander zeigt. In Folge dieses Anblicks ist es oft unglücklich, und wenn es ihm am wohlsten wird, im Schaffen, so ist es, weil es vergisst, dass es gerade jetzt mit höchster Zweckthätigkeit etwas Phantastisches und Unvernünftiges thut (das ist alle Kunst) – thun muss.

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264. Sic h i r r e n wol le n . – Neidische Menschen mit feinerer Witterung suchen ihren Rivalen nicht genauer kennen zu lernen, um sich ihm überlegen fühlen zu können. 265. Das Theater hat sei ne Zeit. – Wenn die Phantasie eines Volkes nachlässt, entsteht der Hang in ihm, seine Sagen sich auf der Bühne vorführen zu lassen, jetzt e r t r ä g t es die groben Ersatzstücke der Phantasie, – aber für jenes Zeitalter, dem der epische Rhapsode zugehört, ist das Theater und der als Held verkleidete Schauspieler ein Hemmschuh anstatt ein Flügel der Phantasie : zu nah, zu bestimmt, zu schwer, zu wenig Traum und Vogelflug. 266. O h n e A n mut h .  – Er hat einen Mangel an Anmuth, und weiss es : oh, wie er es versteht, diess zu maskiren ! Durch strenge Tugend, durch Düsterkeit des Blickes, durch angenommenes Misstrauen gegen die Menschen und das Dasein, durch derbe Possen, durch Verachtung der feineren Lebensart, durch Pathos und | Ansprüche, durch cynische Philosophie, – ja, er ist zum Charakter geworden, im steten Bewusstsein seines Mangels. 267. Wa r u m s o s t ol z ! – Ein edler Charakter unterscheidet sich von einem gemeinen dadurch, dass er eine Anzahl Gewohnheiten und Gesichtspuncte n ic ht z u r H a nd h at , wie jener : sie sind ihm zufällig nicht vererbt und nicht anerzogen. 268. Sc yl la u nd Char ybd is des Red ners.  – Wie schwer war es in Athen, so zu sprechen, dass man die Zuhörer f ü r die Sache gewann, ohne sie d u r c h d ie For m abzustossen oder

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vo n der Sache mit ihr abzuziehen ! Wie schwer ist es noch in Frankreich, so zu schreiben ! 269. Die K ran ken und d ie Kunst. – Gegen jede Art von Trübsal und Seelen-Elend soll man zunächst versuchen : Veränderung der Diät und körperliche derbe Arbeit. Aber die Menschen sind gewohnt, in diesem Falle nach Mitteln der Berauschung zu greifen : zum Beispiel nach der Kunst, – zu ihrem und der Kunst Unheil ! Merkt ihr nicht, dass, wenn ihr als Kranke nach der Kunst verlangt, ihr die Künstler krank macht ? 270. A n s c he i ne nd e Tole r a n z . – Es sind diess gute, wohlwollende, verständige Worte über und für die Wissenschaft, aber ! aber ! ich sehe h i nt e r diese eure Toleranz gegen die Wissenschaft ! Im Winkel eures | Herzens meint ihr trotz alledem, s ie s e i euc h n ic ht nöt h i g , es sei grossmüthig von euch, sie gelten zu lassen, ja, ihre Fürsprecher zu sein, zumal die Wissenschaft gegen eure Meinungen nicht diese Grossmuth übe ! Wisst ihr, dass ihr gar kein Recht zu dieser Toleranz-Übung habt ? dass diese huldreiche Gebärde eine gröbere Verunglimpfung der Wissenschaft ist, als ein offener Hohn, welchen sich irgend ein übermüthiger Priester oder Künstler gegen sie erlaubt ? Es fehlt euch jenes strenge Gewissen für Das, was wahr und wirklich ist, es quält und martert euch nicht, die Wissenschaft im Widerspruch mit euren Empfi ndungen zu fi nden, ihr kennt die gierige Sehnsucht der Erkenntniss nicht als ein Gesetz über euch waltend, ihr fühlt keine Pfl icht in dem Verlangen, mit dem Auge überall gegenwärtig zu sein, wo erkannt wird, Nichts sich entschlüpfen zu lassen, w a s erkannt ist. Ihr k e n nt D a s n ic ht , was ihr so tolerant behandelt ! Und nur, we i l ihr es nicht kennt, gelingt es euch, so gnädige Mienen anzunehmen ! Ihr, gerade ihr würdet erbittert und fana-

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tisch blicken, wenn die Wissenschaft euch einmal in’s Gesicht leuchten wollte, mit i h r e n Augen ! – Was kümmert es uns also, dass ihr Toleranz übt – gegen ein Ph a nt om ! und nicht einmal gegen uns ! Und was liegt an uns ! 271. D ie Fe s t s t i m mu n g. – Gerade für jene Menschen, welche am hitzigsten nach Macht streben, ist es unbeschreiblich angenehm, sich ü b e r w ä lt i g t zu fühlen ! Plötzlich und tief in ein Gefühl, wie in einen Strudel hinabzusinken ! Sich die Zügel aus der Hand reissen zu lassen, und einer Bewegung wer weiss wohin ? zu|zusehen ! Wer es ist, was es ist, das uns diesen Dienst leistet, – es ist ein grosser Dienst : wir sind so glücklich und athemlos und fühlen eine Ausnahme-Stille um uns wie im mittelsten Grunde der Erde. Einmal ganz ohne Macht ! Ein Spielball von Urkräften ! Es ist eine Ausspannung in diesem Glück, ein Abwerfen der grossen Last, ein Abwärtsrollen ohne Mühen wie in blinder Schwerkraft. Es ist der Traum des Bergsteigers, der sein Z ie l zwar oben hat, aber unterwegs aus tiefer Müdigkeit einmal einschläft und vom G lüc k d e s G e g e n s a t z e s   – eben vom mühelosesten Abwärtsrollen  – träumt. – Ich beschreibe das Glück, wie ich es mir bei unserer jetzigen gehetzten, machtdürstigen Gesellschaft Europa’s und Amerika’s denke. Hier und da wollen sie einmal in die Oh n m ac ht zurücktaumeln, – diesen Genuss bieten ihnen Kriege, Künste, Religionen, Genie’s. Wenn man sich einem Alles verschlingenden und zerdrückenden Eindruck einmal zeitweilig überlassen hat – es ist die moderne Fe s t s t i m mu n g ! – dann ist man wieder freier, erholter, kälter, strenger und strebt unermüdlich nach dem Gegentheil weiter : nach M ac ht . – 272. Die Rei n ig ung der Rasse. – Es giebt wahrscheinlich keine reinen, sondern nur reingewordene Rassen, und diese in gros-

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ser Seltenheit. Das Gewöhnliche sind die gekreuzten Rassen, bei denen sich immer, neben der Disharmonie von Körperformen (zum Beispiel wenn Auge und Mund nicht zu einander stimmen), auch Disharmonien der Gewohnheiten und Werthbegriffe fi nden müssen. (Livingstone hörte Jemand sagen : „Gott schuf weisse und schwarze Menschen, der Teufel | aber schuf die Halbrassen“.) Gekreuzte Rassen sind stets zugleich auch gekreuzte Culturen, gekreuzte Moralitäten : sie sind meistens böser, grausamer, unruhiger. Die Reinheit ist das letzte Resultat von zahllosen Anpassungen, Einsaugungen und Ausscheidungen, und der Fortschritt zur Reinheit zeigt sich darin, dass die in einer Rasse vorhandene Kraft sich immer mehr auf einzelne ausgewählte Functionen b e s c h r ä n k t , während sie vordem zu viel und oft Widersprechendes zu besorgen hatte : eine solche Beschränkung wird sich immer zugleich auch wie eine Ve r a r mu n g ausnehmen und will vorsichtig und zart beurtheilt sein. Endlich aber, wenn der Process der Reinigung gelungen ist, steht alle jene Kraft, die früher bei dem Kampfe der disharmonischen Eigenschaften daraufgieng, dem gesammten Organismus zu Gebote : wesshalb reingewordene Rassen immer auch s t ä r k e r und s c hö ne r geworden sind. – Die Griechen geben uns das Muster einer reingewordenen Rasse und Cultur : und hoffentlich gelingt einmal auch eine reine europäische Rasse und Cultur. 273. D a s L o b e n . – Hier ist Einer, dem du anmerkst, dass er dich lo b e n will : du beisst die Lippen zusammen‚ das Herz wird geschnürt : ach, dass d e r Kelch vorübergienge ! Aber er geht nicht, er kommt ! Trinken wir also die süsse Unverschämtheit des Lobredners, überwinden wir den Ekel und die tiefe Verachtung für den Kern seines Lobes, ziehen wir die Falten der dankbaren Freude über’s Gesicht !  – er hat uns ja wohlthun wollen ! Und jetzt, nachdem es geschehen, wissen wir,

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dass er sich sehr erhaben fühlt, er hat einen Sieg über | uns errungen, – ja ! und auch über sich selber, der Hund ! – denn es wurde ihm nicht leicht, sich diess Lob abzuringen. 274. Men sc hen rec ht u nd -vor rec ht. – Wir Menschen sind die einzigen Geschöpfe, welche, wenn sie missrathen, sich selber durchstreichen können wie einen missrathenen Satz, – sei es, dass wir diess zur Ehre der Menschheit oder aus Mitleiden mit ihr oder aus Widerwillen gegen uns thun. 275. D e r Ve r w a n d e lt e .  – Jetzt wird er tugendhaft, nur um Anderen wehe damit zu thun. Seht nicht soviel nach ihm hin ! 276. Wie of t ! Wie u nverhof f t ! – Wie viele verheirathete Männer haben den Morgen erlebt, wo es ihnen tagte, dass ihre junge Gattin langweilig ist und das Gegentheil glaubt ! Gar nicht zu reden von jenen Weibern, deren Fleisch willig und deren Geist schwach ist ! 277. Wa r me u nd k a lt e Tu g e nd e n . – Den Muth als kalte Herzhaftigkeit und Unerschütterlichkeit und den Muth als hitzige, halbblinde Bravour, – beides nennt man mit Einem Namen ! Wie verschieden sind doch die k a lt e n Tu g e nd e n von den wa r me n ! Und Narr wäre Der, welcher meinte, das „Gutsein“ werde nur durch die Wärme hinzugethan : und kein geringerer Narr Der, welcher es nur der Kälte zuschreiben wollte ! Die Wahrheit ist, dass die Menschheit den warmen und den | kalten Muth sehr nützlich gefunden hat, und überdiess nicht häufig genug, um ihn nicht in beiden Farben unter die Edelsteine zu rechnen.

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278. Das verbi nd l iche Gedächt n iss. – Wer einen hohen Rang hat, thut gut, sich ein verbindliches Gedächtniss anzuschaffen, das heisst, sich von den Personen alles mögliche Gute zu merken und dahinter einen Strich zu machen : damit hält man sie in einer angenehmen Abhängigkeit. So kann der Mensch auch mit sich selber verfahren : ob er ein verbindliches Gedächtniss hat oder nicht, das entscheidet zuletzt über seine eigene Haltung zu sich selber, über die Vornehmheit, Güte oder das Misstrauen bei der Beobachtung seiner Neigungen und Absichten und zuletzt wieder über die Art der Neigungen und Absichten selber. 279. Wor i n w i r K ü n s t ler wer d e n . – Wer Jemanden zu seinem Abgott macht, versucht, sich vor sich selber zu rechtfertigen, indem er ihn in’s Ideal erhebt ; er wird zum Künstler daran, um ein gutes Gewissen zu haben. Wenn er leidet, so leidet er nicht am N ic ht w i s s e n , sondern am Sich-belügen, als ob er nicht wüsste. – Die innere Noth und Lust eines solchen Menschen – und alle leidenschaftlich Liebenden gehören dazu – ist mit gewöhnlichen Eimern nicht auszuschöpfen. 280. K i nd l ic h . – Wer lebt, wie die Kinder – also nicht um sein Brod kämpft und nicht glaubt, dass seinen Handlungen eine endgültige Bedeutung zukomme – bleibt kindlich. | 281. D a s Ic h w i l l A l le s h a b e n . – Es scheint, dass der Mensch überhaupt nur handelt, u m zu besitzen : wenigstens legen die Sprachen diesen Gedanken nahe, welche alles vergangene Handeln so betrachten, als ob wir damit Etwas besässen („ich h a b e gesprochen, gekämpft, gesiegt“ : das ist, ich bin nun im Besitze meines Spruches‚ Kampfes, Sieges). Wie habsüchtig

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nimmt sich hierbei der Mensch aus ! Selbst die Vergangenheit sich nicht entwinden lassen, gerade auch sie noch h ab e n wollen ! 282. G e f a h r i n d er S c hön he it . – Diese Frau ist schön und klug : ach, wie viel klüger aber würde sie geworden sein, wenn sie nicht schön wäre ! 283. H au s f r ied e n u nd S ee le n f r ied e n . – Unsere gewöhnliche Stimmung hängt von der Stimmung ab, in der wir unsere Umgebung zu erhalten wissen. 284. Das Neue a ls a lt vorbr i ngen. – Viele erscheinen gereizt, wenn man ihnen eine Neuigkeit erzählt, sie empfi nden das Übergewicht, welches die Neuigkeit Dem giebt, der sie früher weiss. 285. Wo hör t d a s Ic h au f ? – Die Meisten nehmen eine Sache, die sie w i s s e n , unter ihre Protection, wie als ob das Wissen sie schon zu ihrem Eigenthum mache. Die Aneignungslust des Ichgefühls hat keine Gränzen : | die grossen Männer reden so, als ob die ganze Zeit hinter ihnen stünde und sie der Kopf dieses langen Leibes seien, und die guten Frauen rechnen sich die Schönheit ihrer Kinder, ihrer Kleider, ihres Hundes, ihres Arztes, ihrer Stadt zum Verdienste und wagen es nur nicht, zu sagen „das Alles bin ich“. Chi non ha, non è – sagt man in Italien. 286. Haus- u nd Sc hoosst h iere u nd Ver wa ndtes. – Giebt es etwas Ekelhafteres, als die Sentimentalität gegen Pflanzen und Thiere, von Seiten eines Geschöpfes, das wie der wüthendste Feind von Anbeginn unter ihnen gehaust hat und zuletzt bei seinen geschwächten und verstümmelten Opfern gar noch auf zärtliche Gefühle Anspruch erhebt ! Vor dieser

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Art „Natur“ geziemt dem Menschen vor Allem E r n s t , wenn anders er ein denkender Mensch ist. 287. Zwe i Fr eu nd e. – Es waren Freunde, aber sie haben aufgehört, es zu sein, und sie knüpften von beiden Seiten zugleich ihre Freundschaft los, der Eine, weil er sich zu sehr verkannt glaubte, der Andere, weil er sich zu sehr erkannt glaubte  – und Beide haben sich dabei getäuscht ! – denn Jeder von ihnen kannte sich selber nicht genug. 288. K omö d ie d e r E d le n . – Die, welchen die edle herzliche Vertraulichkeit nicht gelingt, versuchen es, ihre edle Natur durch Zurückhaltung und Strenge und | eine gewisse Geringschätzung der Vertraulichkeit errathen zu lassen : wie als ob das starke Gefühl ihres Vertrauens Scham hätte, sich zu zeigen. 289. Wo ma n Nichts gegen ei ne Tugend sagen darf. – Unter den Feiglingen ist es von schlechtem Tone, Etwas gegen die Tapferkeit zu sagen, und erregt Verachtung ; und rücksichtslose Menschen zeigen sich erbittert, wenn Etwas gegen das Mitleiden gesagt wird. 290. E i ne Ve r g eu d u n g.  – Bei erregbaren und plötzlichen Naturen sind die ersten Worte und Handlungen meisthin u n b e z e ic h ne nd für ihren eigentlichen Charakter (sie werden durch die Umstände eingegeben und sind gleichsam Nachahmungen vom Geiste der Umstände), aber weil sie einmal gesprochen und gethan sind, so müssen die später nachkommenden eigentlichen Charakterworte und Charakterhandlungen häufig im Ausgleichen oder im Wieder-gut- oder -vergessen-Machen d a r au f g e he n .

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291. A n m a a s s u n g. – Anmaassung ist ein gespielter und erheuchelter Stolz ; dem Stolze aber ist gerade eigenthümlich, dass er kein Spiel, keine Verstellung und Heuchelei kann und mag, – insofern ist die Anmaassung die Heuchelei der Unfähigkeit zur Heuchelei, etwas sehr Schweres und meist Misslingendes. Gesetzt aber, dass er sich, wie gewöhnlich geschieht, dabei verräth, so erwartet den Anmaassenden eine dreifache Unannehmlichkeit : man zürnt ihm, weil er uns betrügen | will, und zürnt ihm, weil er sich über uns hat erhaben zeigen wollen, – und zuletzt lacht man noch über ihn, weil ihm Beides missrathen ist. Wie sehr ist also von der Anmaassung abzurathen ! 292. E i ne A r t Ve r k e n nu n g. – Wenn wir Jemanden sprechen hören, so genügt oft der Klang eines einzigen Consonanten (zum Beispiel eines r), um uns einen Zweifel über die Ehrlichkeit seiner Empfi ndung einzuflössen : w i r sind diesen Klang nicht gewöhnt und würden ihn m ac he n müssen, mit Willkür, – er klingt uns „gemacht“. Hier ist ein Gebiet der gröbsten Verkennung : und das Selbe gilt vom Stile eines Schriftstellers, der Gewohnheiten hat, welche nicht aller Welt Gewohnheiten sind. Seine „Natürlichkeit“ wird nur von ihm als solche empfunden, und gerade mit dem, was er selber als „gemacht“ fühlt, weil er damit einmal der Mode und dem sogenannten „guten Geschmacke“ nachgegeben hat, gefällt er vielleicht und erregt Zutrauen. 293. D a n k b a r. – Ein Gran dankbaren Sinnes und Pietät zu viel : – und man leidet daran wie an einem Laster und geräth mit seiner ganzen Selbständigkeit und Redlichkeit unter das böse Gewissen.

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294. He i l i g e. – Die s i n n l ic h s t e n Männer sind es, welche vor den Frauen fl iehn und den Leib martern mü s s e n . 295. Fe i n he it d e s D ie ne n s . – Innerhalb der grossen Kunst des Dienens gehört es zu den feinsten Aufgaben, | einem unbändig Ehrgeizigen zu dienen, der zwar der stärkste Egoist in Allem ist, aber durchaus nicht dafür gelten will (es ist diess gerade ein Stück seines Ehrgeizes), dem Alles nach Willen und Laune geschehen muss und doch immer so, dass es den Anschein hat, als ob er sich aufopferte und selten für sich selber Etwas wolle. 296. D a s D ue l l . – Ich erachte es als einen Vortheil, sagte Jemand, ein Duell haben zu können, wenn ich durchaus eines nöthig habe ; denn es giebt allezeit brave Kameraden um mich. Das Duell ist der letzte übrig gebliebene, völlig ehrenvolle Weg zum Selbstmord, leider ein Umschweif, und nicht einmal ein ganz sicherer. 297. Ve r d e r bl ic h . – Man verdirbt einen Jüngling am sichersten, wenn man ihn anleitet, den Gleichdenkenden höher zu achten, als den Andersdenkenden. 298. Der Heroen- Cu lt us u nd sei ne Fa nat i ker. – Der Fanatiker eines Ideals, welches Fleisch und Blut hat, ist gewöhnlich so lange im Rechte, als er ve r ne i nt , und er ist furchtbar darin : er kennt das Verneinte so gut wie sich selber, aus dem einfachsten Grunde, dass er von dorther kommt, dort zu Hause ist und sich im Geheimen immer fürchtet, dorthin noch zurückzumüssen, – er will sich die Rückkehr unmöglich machen, durch die Art, wie er verneint. Sobald er aber bejaht,

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macht er die Augen halb zu und fängt an zu idealisiren (häufig auch nur, um den zu Hause | Gebliebenen damit wehe zu thun –) ; man nennt diess wohl etwas Künstlerisches, – gut, aber es ist auch etwas Unredliches daran. Der Idealist einer Person stellt sich diese Person so in die Ferne, dass er sie nicht mehr scharf sehen kann  – und nun deutet er, was er noch sieht, in’s „Schöne“ um, das will sagen : in’s Symmetrische, Weichlinienhafte, Unbestimmte. Da er sein in der Ferne und Höhe schwebendes Ideal nunmehr auch anbeten will, so hat er, zum Schutze vor dem profanum vulgus, nöthig‚ einen Tempel für seine Anbetung zu bauen. Hierhin bringt er alle ehrwürdigen und geweihten Gegenstände, die er sonst noch besitzt, damit deren Zauber auch noch dem Ideal zu Gute komme und es in dieser Na h r u n g wachse und immer göttlicher werde. Zuletzt hat er wirklich seinen Gott fertig gemacht, – aber wehe ! es giebt Einen, der darum weiss, wie das zugegangen ist, sein intellectuelles Gewissen, – und es giebt auch Einen, der dagegen, ganz unbewusst, protestirt, nämlich der Vergöttlichte selber, der nunmehr, in Folge von Cultus, Lobgesang und Weihrauch, unausstehlich wird und augenscheinlich in abscheulicher Weise sich als Nicht-Gott und Allzu-sehr-Mensch verräth. Hier bleibt nun einem solchen Fanatiker nur noch Ein Ausweg : er lässt sich und seines Gleichen geduldig misshandeln und interpretirt das ganze Elend auch noch in majorem dei gloriam, durch eine neue Gattung von Selbstbetrug und edler Lüge : er nimmt gegen sich Partei und empfi ndet, als Gemisshandelter und als Interpret, dabei Etwas wie ein Martyrium, – so steigt er auf den Gipfel seines Dünkels. – Menschen dieser Art lebten zum Beispiel um Na p o leo n : ja vielleicht ist gerade er es, der die romantische | dem Geiste der Aufklärung fremde Prostration vor dem „Genie“ und dem „Heros“ unserem Jahrhundert in die Seele gegeben hat, er, vor dem ein Byron sich nicht zu sagen schämte, er sei ein „Wurm gegen solch ein Wesen“. (Die Formeln einer sol-

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chen Prostration sind von jenem alten anmaasslichen Wirrund Murrkopfe‚ Thomas Carlyle, gefunden worden, der ein langes Leben darauf verwendet hat, die Vernunft seiner Engländer romantisch zu machen : umsonst !) 299. A n sc hei n de s Her oi smu s. – Sich mitten unter die Feinde werfen, kann das Merkmal der Feigheit sein. 300. G n ä d i g g e g e n d e n S c h me ic h le r. – Die letzte Klugheit der unersättlich Ehrgeizigen ist, ihre Menschenverachtung nicht merken zu lassen, welche der Anblick der Schmeichler ihnen einflösst : sondern gnädig auch gegen sie zu erscheinen, wie ein Gott, der nicht anders als gnädig sein kann. 301. „C h a r a k t e r vol l “. – „Was ich einmal gesagt habe, das thue ich“ – diese Denkweise gilt als charaktervoll. Wie viele Handlungen werden gethan, nicht weil sie als die vernünftigsten ausgewählt worden sind, sondern weil sie, als sie uns einfielen, auf irgend welche Art unsere Ehrsucht und Eitelkeit gereizt haben, sodass wir dabei verbleiben und sie blindlings durchsetzen ! So mehren sie bei uns selber den Glauben an unseren Charakter und unser gutes Gewissen, also, im Ganzen, unsere K r a f t : während das Auswählen des möglichst | Vernünftigen die Skepsis gegen uns und dermaassen ein Gefühl der Schwäche in uns unterhält. 302. E i n m a l , z we i m a l u nd d r e i m a l w a h r ! – Die Menschen lügen unsäglich oft, aber sie denken hinterher nicht daran und glauben im Ganzen nicht daran.

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303. K u r z we i l d e s Me n s c he n k e n ne r s . – Er glaubt mich zu kennen und fühlt sich fein und wichtig, wenn er so und so mit mir verkehrt : ich hüte mich, ihn zu enttäuschen. Denn ich würde es zu entgelten haben, während er mir jetzt woh lw i l l , da ich ihm ein Gefühl der wissenden Überlegenheit verschaffe. – Da ist ein Anderer : der fürchtet sich, dass ich mir einbilde, ihn zu kennen, und sieht sich dabei erniedrigt. So beträgt er sich schauerlich und unbestimmt und sucht mich über sich in die Irre zu führen, – um sich über mich wieder zu erheben. 304. Die Welt-Vernichter. – Diesem gelingt Etwas nicht ; schliesslich ruft er empört aus : „so möge doch die ganze Welt zu Grunde gehen !“ Dieses abscheuliche Gefühl ist der Gipfel des Neides, welcher folgert : weil ich Et w a s nicht haben kann, soll alle Welt N ic ht s haben ! soll alle Welt Nichts s e i n ! 305. G e i z . – Unser Geiz beim Kaufen nimmt mit der Wohlfeilheit der Gegenstände zu, – warum ? Ist es, dass die kleinen PreisUnterschiede eben erst das kleine Auge des Geizes m ac he n ? | 306. G r i e c h i s c h e s Id e a l .  – Was bewunderten die Griechen an Odysseus ? Vor Allem die Fähigkeit zur Lüge und zur listigen und furchtbaren Wiedervergeltung ; den Umständen gewachsen sein ; wenn es gilt, edler erscheinen als der Edelste ; sein können, w a s m a n w i l l ; heldenhafte Beharrlichkeit ; sich alle Mittel zu Gebote stellen ; Geist haben – sein Geist ist die Bewunderung der Götter, sie lächeln, wenn sie daran denken – : diess Alles ist griechisches Id e a l ! Das Merkwürdigste daran ist, dass hier der Gegensatz von Scheinen und Sein gar nicht gefühlt und also auch nicht

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sittlich angerechnet wird. Gab es je so gründliche Schauspieler ! 307. Facta ! Ja Facta f icta ! – Ein Geschichtsschreiber hat es nicht mit dem, was wirklich geschehen ist, sondern nur mit den vermeintlichen Ereignissen zu thun : denn nur diese haben g e w i r k t . Ebenso nur mit den vermeintlichen Helden. Sein Thema, die sogenannte Weltgeschichte, sind Meinungen über vermeintliche Handlungen und deren vermeint liche Motive, welche wieder Anlass zu Meinungen und Handlungen geben, deren Realität aber sofort wieder verdampft und nur als Dampf w i r k t , – ein fortwährendes Zeugen und Schwangerwerden von Phantomen über den tiefen Nebeln der unergründlichen Wirklichkeit. Alle Historiker erzählen von Dingen, die nie existirt haben, ausser in der Vorstellung. 308. Sic h n ic ht au f d e n H a nd e l ver s t e he n i s t vor ne h m . – Seine Tugend nur zum höchsten Preise ver|kaufen oder gar mit ihr Wucher treiben, als Lehrer, Beamter, Künstler,  – macht aus Genie und Begabung eine Krämer-Angelegenheit. Mit seiner We i s he it soll man nun einmal nicht k lu g sein wollen ! 309. Fu r c ht u nd L ieb e. – Die Furcht hat die allgemeine Einsicht über den Menschen mehr gefördert, als die Liebe, denn die Furcht will errathen, wer der Andere ist, was er kann, was er will : sich hierin zu täuschen, wäre Gefahr und Nachtheil. Umgekehrt hat die Liebe einen geheimen Impuls, in dem Andern so viel Schönes als möglich zu sehen oder ihn sich so hoch als möglich zu heben : sich dabei zu täuschen, wäre für sie eine Lust und ein Vortheil – und so thut sie es.

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310. D ie G ut müt h i g e n . – Die Gutmüthigen haben ihr Wesen durch die beständige Furcht erlangt, welche ihre Voreltern vor fremden Übergriffen gehabt haben, – sie milderten, beschwichtigten, baten ab, beugten vor, zerstreuten, schmeichelten, duckten sich, verbargen den Schmerz, den Verdruss, glätteten sofort wieder ihre Züge – und zuletzt vererbten sie diesen ganzen zarten und wohlgespielten Mechanismus auf ihre Kinder und Enkel. Diesen gab ein günstigeres Geschick keinen Anlass zu jener beständigen Furcht : nichtsdestoweniger spielen sie beständig auf ihrem Instrumente. 311. Die sogenan nte Seele. – Die Summe innerer Bewegungen, welche dem Menschen le ic ht f a l le n und | die er in Folge dessen gerne und mit Anmuth thut, nennt man seine Seele ; – er gilt als seelenlos, wenn er Mühe und Härte bei inneren Bewegungen merken lässt. 312. D ie Ve r g e s s l ic he n . – In den Ausbrüchen der Leidenschaft und im Phantasiren des Traumes und des Irrsinns entdeckt der Mensch seine und der Menschheit Vorgeschichte wieder : die T h ierhe it mit ihren wilden Grimassen ; sein Gedächtniss greift einmal weit genug rückwärts, während sein civilisirter Zustand sich aus dem Vergessen dieser Urerfahrungen, also aus dem Nachlassen jenes Gedächtnisses entwickelt. Wer als ein Vergesslicher höchster Gattung allem Diesen immerdar sehr fern geblieben ist, ve r s t e ht d ie Me n s c he n n ic ht , – aber es ist ein Vortheil für Alle, wenn es hier und da solche Einzelne giebt, welche „sie nicht verstehen“ und die gleichsam aus göttlichem Samen gezeugt und von der Vernunft geboren sind.

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313. D er n ic ht me h r er w ü n s c ht e Fr eu nd .  – Den Freund, dessen Hoff nungen man nicht befriedigen kann, wünscht man sich lieber zum Feinde. 314. Aus der Gesel lschaf t der Den ker. – Inmitten des Ozeans des Werdens wachen wir auf einem Inselchen, das nicht grösser als ein Nachen ist, auf, wir Abenteuerer und Wander vögel, und sehen uns hier eine kleine Weile um : so eilig und so neugierig wie möglich, denn wie schnell kann uns ein Wind verwehen | oder eine Welle über das Inselchen hinwegspülen, sodass Nichts mehr von uns da ist ! Aber hier, auf diesem kleinen Raume, fi nden wir andere Wandervögel und hören von früheren, – und so leben wir eine köstliche Minute der Erkenntniss und des Errathens, unter fröhlichem Flügelschlagen und Gezwitscher mit einander und abenteuern im Geiste hinaus auf den Ozean, nicht weniger stolz als er selber ! 315. Sic h e nt äu s s e r n . – Etwas von seinem Eigenthume fahren lassen, sein Recht aufgeben – macht Freude, wenn es grossen Reichthum anzeigt. Dahin gehört die Grossmuth. 316. S c hw a c he S e c t e n .  – Die Secten‚ welche fühlen, dass sie schwach bleiben werden, machen Jagd auf einzelne intelligente Anhänger und wollen durch Qualität ersetzen, was ihnen an Quantität abgeht. Hierin liegt keine geringe Gefahr für die Intelligenten. 317. Da s Ur t hei l de s A bend s. – Wer über sein Tages- und Lebenswerk nachdenkt, wenn er am Ende und müde ist, kommt gewöhnlich zu einer melancholischen Betrachtung : das liegt

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aber nicht am Tage und am Leben, sondern an der Müdigkeit. – Mitten im Schaffen nehmen wir uns gewöhnlich keine Zeit zu Urtheilen über das Leben und das Dasein, und mitten im Geniessen auch nicht : kommt es aber einmal doch dazu, so geben wir Dem nicht mehr Recht, welcher auf den | siebenten Tag und die Ruhe wartete, um Alles, was da ist, sehr schön zu fi nden, – er hatte den b e s s e r e n Augenblick verpasst. 318. Vor s i c h t vor d e n S y s t e m a t i k e r n ! – Es giebt eine Schauspielerei der Systematiker : indem sie ein System ausfüllen wollen und den Horizont darum rund machen, müssen sie versuchen, ihre schwächeren Eigenschaften im Stile ihrer stärkeren auftreten zu lassen, – sie wollen vollständige und einartig starke Naturen darstellen. 319. Gastf reundschaf t. – Der Sinn in den Gebräuchen der Gastfreundschaft ist : das Feindliche im Fremden zu lähmen. Wo man im Fremden nicht mehr zunächst den Feind empfi ndet, nimmt die Gastfreundschaft ab ; sie blüht, so lange ihre böse Voraussetzung blüht. 320. Vom Wet t e r. – Ein sehr ungewöhnliches und unberechenbares Wetter macht die Menschen auch gegen einander misstrauisch ; sie werden dabei neuerungssüchtig, denn sie müssen von ihren Gewohnheiten abgehen. Desshalb lieben die Despoten alle Länderstriche, wo das Wetter moralisch ist. 321. G e f a h r i n d e r Un s c hu ld . – Die unschuldigen Menschen werden in allen Stücken die Opfer, weil ihre Unwissenheit sie hindert, zwischen Maass und Übermaass zu unterscheiden und bei Zeiten vorsichtig gegen sich selber zu sein. So gewöh-

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nen sich unschuldige, | das heisst unwissende junge Frauen an den häufigen Genuss der Aphrodisien und entbehren ihn später sehr, wenn ihre Männer krank oder frühzeitig welk werden ; gerade die harmlose und gläubige Auffassung, als ob diese häufige Art, mit ihnen zu verkehren, das Recht und die Regel sei, bringt sie zu einem Bedürfniss, welches sie später den heftigsten Anfechtungen und Schlimmerem aussetzt. Aber ganz allgemein und hoch genommen : wer einen Menschen und ein Ding liebt, ohne ihn und es zu kennen, wird die Beute von Etwas, das er nicht lieben würde, wenn er es sehen könnte. Überall, wo Erfahrenheit, Vorsicht und abgewogene Schritte noth thun, wird gerade der Unschuldige am gründlichsten verdorben werden, denn er muss mit blinden Augen die Hefe und das unterste Gift jeder Sache austrinken. Man erwäge die Praxis aller Fürsten, Kirchen, Secten, Parteien, Körperschaften : wird nicht immer der Unschuldige als der süsseste Köder zu den ganz gefährlichen und verruchten Fällen verwendet ? – so wie Odysseus den unschuldigen Neoptolemos verwendet, um dem alten kranken Einsiedler und Unhold von Lemnos den Bogen und die Pfeile abzulisten. – Das Christenthum, mit seiner Verachtung der Welt, hat aus der Unwissenheit eine Tu g e nd gemacht, die christliche Unschuld, vielleicht weil das häufigste Resultat dieser Unschuld eben, wie angedeutet, die Schuld, das Schuldgefühl und die Verzweiflung ist, somit eine Tugend, welche auf dem Umweg der Hölle zum Himmel führt : denn nun erst können sich die düsteren Propyläen des christlichen Heils aufthun, nun erst wirkt die Verheissung einer nachgeborenen z we it e n Un s c hu ld : – sie ist eine der schönsten Erfi ndungen des Christenthums ! | 322. Womög l ic h oh ne A r zt leben. – Es will mir scheinen, als ob ein Kranker leichtsinniger sei, wenn er einen Arzt hat, als wenn er selber seine Gesundheit besorgt. Im ersten Falle

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genügt es ihm, streng in Bezug auf alles Vorgeschriebene zu sein ; im andern Falle fassen wir Das, worauf jene Vorschriften abzielen, unsere Gesundheit, mit mehr Gewissen in’s Auge und bemerken viel mehr, gebieten und verbieten uns viel mehr, als auf Veranlassung des Arztes geschehen würde.  – Alle Regeln haben diese Wirkung : vom Zwecke hinter der Regel abzuziehen und leichtsinniger zu machen. – Und wie würde der Leichtsinn der Menschheit in’s Unbändige und Zerstörerische gestiegen sein, wenn sie jemals vollkommen ehrlich der Gottheit als ihrem Arzte Alles überlassen hätte, nach dem Worte „wie Gott will“ ! – 323. Ve r d u n k e lu n g d e s H i m me l s . – Kennt ihr die Rache der schüchternen Menschen, welche sich in der Gesellschaft benehmen, als hätten sie ihre Gliedmaassen gestohlen ? Die Rache der demüthigen christenmässigen Seelen, welche sich auf Erden überall nur durchschleichen ? Die Rache Derer, die immer sogleich urtheilen und immer sogleich Unrecht bekommen ? Die Rache der Trunkenbolde aller Gattungen, denen der Morgen das Unheimlichste am Tage ist ? Desgleichen der Krankenbolde aller Gattungen, der Kränkelnden und Gedrückten, welche nicht mehr den Muth haben, gesund zu werden ? Die Zahl dieser kleinen Rachsüchtigen und gar die ihrer kleinen Rache-Acte ist ungeheuer ; die ganze Luft | schwirrt fortwährend von den abgeschossenen Pfeilen und Pfeilchen ihrer Bosheit, sodass die Sonne und der Himmel des Lebens dadurch verdunkelt werden – nicht nur ihnen, sondern noch mehr uns, den Anderen, Übrigen : was schlimmer ist, als dass sie uns allzu oft Haut und Herz ritzen. L eu g ne n wir nicht mitunter Sonne und Himmel, blos weil wir sie so lange nicht gesehen haben ? – Also : Einsamkeit ! Auch darum Einsamkeit !

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324. Ph i lo s o ph ie d e r S c h au s p ie le r. – Es ist der beglückende Wahn der grossen Schauspieler, dass es den historischen Personen, welche sie darstellen, wirklich so zu Muthe gewesen sei, wie ihnen bei ihrer Darstellung, – aber sie irren sich stark darin : ihre nachahmende und errathende Kraft, die sie gerne für ein hellseherisches Vermögen ausgeben möchten, dringt nur gerade tief genug ein, um Gebärden, Töne und Blicke und überhaupt das Äusserliche zu erklären ; das heisst, der Schatten von der Seele eines grossen Helden, Staatsmannes, Kriegers, Ehrgeizigen, Eifersüchtigen, Verzweifelnden wird von ihnen erhascht, sie dringen bis nahe an die Seele, aber nicht bis in den Geist ihrer Objecte. Das wäre freilich eine schöne Entdeckung, dass es nur des hellseherischen Schauspielers bedürfe, statt aller Denker, Kenner, Fachmänner, um in’s We s e n irgend eines Zustandes hinabzuleuchten ! Vergessen wir doch nie, sobald derartige Anmaassungen laut werden, dass der Schauspieler eben ein idealer Affe ist und so sehr Affe, dass er an das „Wesen“ und das „Wesentliche“ gar nicht zu glauben vermag : Alles wird ihm Spiel, Ton, Gebärde, Bühne, Coulisse und Publicum. | 325. A b s e it s leb e n u nd g l au b e n . – Das Mittel, um der Prophet und Wundermann seiner Zeit zu werden, gilt heute noch wie vor Alters : man lebe abseits, mit wenig Kenntnissen, einigen Gedanken und sehr viel Dünkel,  – endlich stellt sich der Glaube bei uns ein, dass die Menschheit ohne uns nicht fortkommen könne, we i l w i r n ä m l ic h g a n z er s ic ht l ic h ohne sie fortkommen. Sobald dieser Glaube da ist, fi ndet man auch Glauben. Zuletzt ein Rath für Den, der ihn brauchen mag (er wurde Wesley von seinem geistlichen Lehrer Böhler gegeben) : „Predige den Glauben, bis du ihn hast, und dann wirst du ihn predigen, weil du ihn hast !“ –

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326. S e i n e Um s t ä n d e k e n n e n .  – Unsere Kräfte können wir abschätzen, aber nicht unsere K r a f t . Die Umstände verbergen und zeigen uns dieselbe nicht nur, – nein ! sie vergrössern und verkleinern sie. Man soll sich für eine variable Grösse halten, deren Leistungsfähigkeit unter Umständen der Begünstigung vielleicht der allerhöchsten gleichkommen kann : man soll also über die Umstände nachdenken und keinen Fleiss in deren Beobachtung scheuen. 327. Ei ne Fabe l. – Der Don Juan der Erkenntniss : er ist noch von keinem Philosophen und Dichter entdeckt worden. Ihm fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist, Kitzel und Genuss an Jagd und Intriguen der Erkenntniss – bis an die höchsten und fernsten Sterne der Erkenntniss hinauf ! – bis ihm zuletzt Nichts | mehr zu erjagen übrig bleibt, als das absolut We het hue nd e der Erkenntniss, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt. So gelüstet es ihn am Ende nach der Hölle, – es ist die letzte Erkenntniss‚ die ihn ve r f ü h r t . Vielleicht, dass auch sie ihn enttäuscht, wie alles Erkannte ! Und dann müsste er in alle Ewigkeit stehen bleiben, an die Enttäuschung festgenagelt und selber zum steinernen Gast geworden, mit einem Verlangen nach einer Abendmahlzeit der Erkenntniss, die ihm nie mehr zu Theil wird ! – denn die ganze Welt der Dinge hat diesem Hungrigen keinen Bissen mehr zu reichen. 328. Wor au f id e a l i s t i s c he T heor ie n r at he n l a s s e n . – Man triff t die idealistischen Theorien am sichersten bei den unbedenklichen Praktikern ; denn sie brauchen deren Lichtglanz für ihren Ruf. Sie greifen darnach mit ihren Instincten und haben gar kein Gefühl von Heuchelei dabei : so wenig ein

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Engländer mit seiner Christlichkeit und Sonntagsheiligung sich als Heuchler fühlt. Umgekehrt : den beschaulichen Naturen, welche sich gegen alles Phantasiren in Zucht zu halten haben und auch den Ruf der Schwärmerei scheuen, genügen allein die harten realistischen Theorien : nach ihnen greifen sie mit der gleichen instinctiven Nöthigung, und ohne ihre Ehrlichkeit dabei zu verlieren. 329. D ie Ve rleu md e r d e r He it e r k e it . – Tief vom Leben verwundete Menschen haben alle Heiterkeit verdächtigt, als ob sie immer kindlich und kindisch sei | und eine Unvernunft verrathe, bei deren Anblick man nur Erbarmen und Rührung empfi nden könne, wie wenn ein dem Tode nahes Kind auf seinem Bette noch seine Spielsachen liebkost. Solche Menschen sehen unter allen Rosen verborgene und verhehlte Gräber ; Lustbarkeiten, Getümmel, fröhliche Musik erscheint ihnen wie die entschlossene Selbsttäuschung des Schwerkranken, der noch einmal eine Minute den Rausch des Lebens schlürfen will. Aber dieses Urtheil über die Heiterkeit ist nichts Anderes, als deren Strahlenbrechung auf dem düsteren Grunde der Ermüdung und Krankheit : es ist selber etwas Rührendes, Unvernünftiges, zum Mitleiden Drängendes, ja sogar etwas Kindliches und Kindisches‚ aber aus jener z we it e n K i nd he it her, welche dem Alter folgt und dem Tode voranläuft. 330. Noc h n ic ht genug ! – Es ist noch nicht genug, eine Sache zu beweisen, man muss die Menschen zu ihr auch noch verführen oder zu ihr erheben. Desshalb soll der Wissende lernen, seine Weisheit zu s a g e n : und oft so, dass sie wie Thorheit k lingt !

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331. Rec ht u nd Gr ä n z e.  – Der Asketismus ist für Solche die rechte Denkweise, welche ihre sinnlichen Triebe ausrotten müssen, weil dieselben wüthende Raubthiere sind. Aber auch nur für Solche ! 332. D e r au f g ebl a s e ne St i l . – Ein Künstler, der sein hochgeschwollenes Gefühl nicht im Werke entladen und sich so erleichtern, sondern vielmehr gerade das | Gefühl der Schwellung mittheilen will, ist schwülstig und sein Stil ist der aufgeblasene Stil. 333. „ Me n s c h l ic h k e it“. – Wir halten die Thiere nicht für moralische Wesen. Aber meint ihr denn, dass die Thiere uns für moralische Wesen halten ? – Ein Thier‚ welches reden konnte, sagte : „Menschlichkeit ist ein Vorurtheil, an dem wenigstens wir Thiere nicht leiden.“ 334. Der Woh lthätige. – Der Wohlthätige befriedigt ein Bedürfniss seines Gemüths, wenn er wohlthut. Je stärker dieses Bedürfniss ist, um so weniger denkt er sich in den Anderen hinein, der ihm dient, sein Bedürfniss zu stillen, er wird unzart und beleidigt unter Umständen. (Diess sagt man der jüdischen Wohlthätigkeit und Barmherzigkeit nach : welche bekanntlich etwas hitziger ist, als die anderer Völker.) 335. D a m it L ieb e a l s L ieb e g e s pü r t wer d e.  – Wir haben nöthig‚ gegen uns redlich zu sein und uns sehr gut zu kennen, um gegen Andere jene menschenfreundliche Verstellung üben zu können, welche Liebe und Güte genannt wird.

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336. We s sen s i nd w i r f ä h i g ? – Einer war durch seinen ungerathenen und boshaften Sohn den ganzen Tag so gequält worden, dass er ihn Abends erschlug und aufathmend zur übrigen Familie sagte : „So ! nun können wir ruhig schlafen !“ – Was wissen wir, wozu uns Umstände treiben k ö n nt e n ! | 337. „ Na t ü r l ic h “.  – In seinen Fehlern wenigstens n a t ü r l ic h zu sein‚ – ist vielleicht das letzte Lob eines künstlichen und überall sonst schauspielerischen und halbächten Künstlers. Ein solches Wesen wird desshalb gerade seine Fehler keck herauslassen. 338. E r s at z - G ew i s s e n . – Der eine Mensch ist für den anderen sein Gewissen : und diess ist namentlich wichtig, wenn der andere sonst keines hat. 339. Ver wa nd lung der Pf l ichten. – Wenn die Pfl icht aufhört, schwer zu fallen, wenn sie sich nach langer Übung zur lustvollen Neigung und zum Bedürfniss umwandelt, dann werden die Rechte Anderer, auf welche sich unsere Pfl ichten, jetzt unsere Neigungen beziehen, etwas Anderes : nämlich Anlässe zu angenehmen Empfi ndungen für uns. Der Andere wird vermöge seiner Rechte von da an liebenswürdig (anstatt ehrwürdig und furchtbar, wie vordem). Wir suchen unsere L u s t , wenn wir jetzt den Bereich seiner Macht anerkennen und unterhalten. Als die Quietisten keine Last mehr an ihrem Christenthume hatten und in Gott nur ihre Lust fanden, nahmen sie ihren Wahlspruch „Alles zur Ehre Gottes !“ an : was sie auch immer in diesem Sinne thaten, es war kein Opfer mehr ; es hiess so viel als „Alles zu unserm Vergnügen !“ Zu verlangen, dass die Pfl icht i m me r etwas lästig falle – wie es Kant thut  – heisst | verlangen, dass sie niemals Gewohnheit und

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Sitte werde : in diesem Verlangen steckt ein kleiner Rest von asketischer Grausamkeit. 340. D e r Au g e n s c he i n i s t g e g e n d e n H i s t or i k er. – Es ist eine gut bewiesene Sache, dass die Menschen aus dem Mutterleibe hervorgehen : trotzdem lassen erwachsene Kinder, die neben ihrer Mutter stehen, die Hypothese als sehr ungereimt erscheinen ; sie hat den Augenschein gegen sich. 341. Vor t he i l i m Ve r k e n ne n . – Jemand sagte, er habe in der Kindheit eine solche Verachtung gegen die gefallsüchtigen Grillen des melancholischen Temperaments gehabt, dass es ihm bis zur Mitte seines Lebens verborgen geblieben sei, welches Temperament er habe : nämlich eben das melancholische. Er erklärte diess für die beste aller möglichen Unwissenheiten. 342. N ic ht z u ve r we c h s e l n ! – Ja ! Er betrachtet die Sache von allen Seiten und ihr meint, das sei ein rechter Mann der Erkenntniss. Aber er will nur den Preis herabsetzen, – er will sie kaufen ! 343. A ngebl ich mora l isch. – Ihr wollt nie mit euch unzufrieden werden, nie an euch leiden, – und nennt diess euren moralischen Hang ! Nun gut, ein Andrer mag es eure Feigheit nennen. Aber Eins ist gewiss : ihr werdet niemals die Reise um die Welt (die ihr selber seid !) machen und in euch selber ein Zufall und eine Scholle auf der Scholle bleiben ! Glaubt ihr denn, dass | wir Andersgesinnten der reinen Narrheit halber uns der Reise durch die eigenen Öden, Sümpfe und Eisgebirge aussetzen und Schmerzen und Überdruss an uns freiwillig erwählen, wie die Säulenheiligen ?

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344. Fe i n he it i m Fe h l g r e i f e n . – Wenn Homer, wie man sagt, bisweilen geschlafen hat, so war er klüger als alle die Künstler des schlaflosen Ehrgeizes. Man muss die Bewunderer zu Athem kommen lassen, dadurch dass man sie von Zeit zu Zeit in Tadler verwandelt ; denn Niemand hält eine ununterbrochen glänzende und wache Güte aus ; und statt wohlzuthun, wird ein Meister der Art zum Zuchtmeister, den man hasst, während er vor uns hergeht. 345. Un s e r G l ü c k i s t k e i n A r g u m e n t f ü r u nd w id e r.  – Viele Menschen sind nur eines geringen Glückes fähig : es ist ebenso wenig ein Einwand gegen ihre Weisheit, dass diese ihnen nicht mehr Glück geben könne, als es ein Einwand gegen die Heilkunst ist, dass manche Menschen nicht zu curiren und andere immer kränklich sind. Möge Jeder mit gutem Glück gerade die Lebensauffassung fi nden, bei der er s e i n höchstes Maass von Glück verwirklichen kann : dabei kann sein Leben immer noch erbärmlich und wenig neidenswerth sein. 346. We i b e r f e i nd e. – „Das Weib ist unser Feind“ – wer so als Mann zu Männern spricht, aus dem redet der ungebändigte Trieb, der nicht nur sich selber, sondern auch seine Mittel hasst. | 347. E i ne S c hu le d e s Red ne r s.  – Wenn man ein Jahr lang schweigt, so verlernt man das Schwätzen und lernt das Reden. Die Pythagoreer waren die besten Staatsmänner ihrer Zeit. 348. G ef ü h l der Mac ht. – Man unterscheide wohl : wer das Gefühl der Macht erst gewinnen will, greift nach allen Mitteln

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und verschmäht keine Nahrung desselben. Wer es aber hat, der ist sehr wählerisch und vornehm in seinem Geschmack geworden ; selten, dass ihm Etwas noch genugthut. 349. N ic ht g a r s o w ic ht i g. – Bei einem Sterbefalle, dem man zusieht, steigt ein Gedanke regelmässig auf, den man sofort, aus einem falschen Gefühl der Anständigkeit, in sich unterdrückt : dass der Act des Sterbens nicht so bedeutend sei, wie die allgemeine Ehrfurcht behauptet, und dass der Sterbende im Leben wahrscheinlich wichtigere Dinge verloren habe, als er hier zu verlieren im Begriffe steht. Das Ende ist hier gewiss nicht das Ziel. – 350. Wie ma n am besten verspr icht. – Wenn ein Versprechen gemacht wird, so ist es nicht das Wort, welches verspricht, sondern das Unausgesprochene hinter dem Worte. Ja, die Worte machen ein Versprechen unkräftiger, indem sie eine Kraft entladen und verbrauchen, welche ein Theil jener Kraft ist, die ver|spricht. Lasst euch also die Hand reichen und legt dabei den Finger auf den Mund, – so macht ihr die sichersten Gelöbnisse. 351. G ewöh n l ic h m i s s ve r s t a nd e n . – Im Gespräche bemerkt man den Einen bemüht, eine Falle zu legen, in welche der Andere fällt, nicht aus Bosheit, wie man denken sollte, sondern aus Vergnügen an der eignen Pfi ffigkeit : dann wieder Andre, welche den Witz vorbereiten, damit der Andre ihn mache, und welche die Schleife knüpfen, damit Jener den Knoten daraus ziehe : nicht aus Wohlwollen, wie man denken sollte, sondern aus Bosheit und Verachtung der groben Intellecte.

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352. Cent r u m. – Jenes Gefühl : „ich bin der Mittelpunct der Welt !“ tritt sehr stark auf, wenn man plötzlich von der Schande überfallen wird ; man steht dann da wie betäubt inmitten einer Brandung und fühlt sich geblendet wie von Einem grossen Auge, das von allen Seiten auf uns und durch uns blickt. 353. R e d e f r e i he it .  – „Die Wahrheit muss gesagt werden, und wenn die Welt in Stücke gehen sollte !“ – so ruft, mit grossem Munde, der grosse Fichte ! – Ja ! Ja ! Aber man müsste sie auch haben ! – Aber er meint, Jeder solle seine Meinung sagen, und wenn Alles drunter und drüber gienge. Darüber liesse sich mit ihm noch rechten. 354. Mut h z u m L e id e n . – So wie wir jetzt sind, können wir eine ziemliche Menge von Unlust ertragen, und | unser Magen ist auf diese schwere Kost eingerichtet. Vielleicht fänden wir ohne sie die Mahlzeit des Lebens fade : und ohne den guten Willen zum Schmerze würden wir allzu viele Freuden fahren lassen müssen ! 355. Ve r e h r e r. – Wer so verehrt, dass er den Nichtverehrenden kreuzigt, gehört zu den Henkern seiner Partei, – man hütet sich‚ ihm die Hand zu geben, selbst wenn man auch von der Partei ist. 356. W i r k u n g d e s G lüc k e s . – Die erste Wirkung des Glückes ist das G e f ü h l d e r M ac ht : diese will s ic h äu s s e r n , sei es gegen uns selber oder gegen andere Menschen oder gegen Vorstellungen oder gegen eingebildete Wesen. Die gewöhnlichsten Arten, sich zu äussern, sind : Beschenken, Verspotten, Vernichten, – alle drei mit einem gemeinsamen Grundtriebe.

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357. Mor a l i s c he St e c h f l ie g e n .  – Jene Moralisten, denen die Liebe zur Erkenntniss abgeht und welche nur den Genuss des Wehethuns kennen – haben den Geist und die Langeweile von Kleinstädtern ; ihr ebenso grausames, als jämmerliches Vergnügen ist, dem Nachbar auf die Finger zu sehen und unvermerkt eine Nadel so zu stecken, dass er sich daran sticht. In ihnen ist die Unart kleiner Knaben rückständig, welche nicht munter sein können ohne etwas Jagd und Misshandlung von Lebendigem und Todtem. | 358. Gr ü nd e u nd i h r e Gr u nd lo s i g k e it . – Du hast eine Abneigung gegen ihn und bringst auch reichliche Gründe für diese Abneigung vor, – ich glaube aber nur deiner Abneigung, und nicht deinen Gründen ! Es ist eine Schönthuerei vor dir selber, Das, was instinctiv geschieht, dir und mir wie einen Vernunftschluss vorzuführen. 359. Et w a s g ut he i s s e n . – Man heisst die Ehe gut, erstens weil man sie noch nicht kennt, zweitens weil man sich an sie gewöhnt hat, drittens weil man sie geschlossen hat, – das heisst fast in allen Fällen. Und doch ist damit Nichts für die Güte der Ehe überhaupt bewiesen. 360. K e i ne Ut i l it a r ie r. – „Die Macht, der viel Böses angethan und angedacht wird, ist mehr werth, als die Ohnmacht, der nur Gutes widerfährt“,  – so empfanden die Griechen. Das heisst : das Gefühl der Macht wurde von ihnen höher geschätzt, als irgend ein Nutzen oder guter Ruf. 361. H ä s s l ic h s c he i ne n . – Die Mässigkeit sieht sich selber als schön ; sie ist unschuldig daran, dass sie im Auge des Unmässigen rauh und nüchtern, folglich als hässlich erscheint.

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362. Ve r s c h ie d e n i m H a s s e. – Manche hassen erst, wenn sie sich schwach und müde fühlen : sonst sind sie billig und übersehend. Andre hassen erst, wenn sie | die Möglichkeit der Rache sehen : sonst hüten sie sich vor allem heimlichen und lauten Zorn, und denken, wenn es Anlässe dazu giebt, daran vorbei. 363. Me n s c he n d e s Zu f a l l s . – Das Wesentliche an jeder Erfi ndung thut der Zufall, aber den meisten Menschen begegnet dieser Zufall nicht. 364. Wa h l der Umgebu ng. – Man hüte sich, in einer Umgebung zu leben, vor der man weder würdig schweigen, noch sein Höheres mitzutheilen vermag, sodass unsere Klagen und Bedürfnisse und die ganze Geschichte unserer Nothstände zur Mittheilung übrig bleiben. Dabei wird man mit sich unzufrieden, und unzufrieden mit dieser Umgebung, ja, nimmt den Verdruss, sich immer als Klagenden zu empfi nden, noch zu dem Nothstande hinzu, der uns klagen macht. Sondern dort soll man leben, wo man s ic h s c h ä mt , von sich zu reden, und es nicht nöthig hat. – Aber wer denkt an solche Dinge, an eine Wa h l in solchen Dingen ! Man redet von seinem „Verhängniss“, stellt sich mit breitem Rücken hin und seufzt „ich unglückseliger Atlas !“ 365. E it e l k e it . – Die Eitelkeit ist die Furcht, original zu erscheinen, also ein Mangel an Stolz, aber nicht nothwendig ein Mangel an Originalität. 366. Ve r b r e c he r - K u m me r. – Man leidet als entdeckter Verbrecher nicht am Verbrechen, sondern an der | Schande oder am Verdruss über eine gemachte Dummheit oder an der Entbehrung des gewohnten Elementes, und es bedarf einer Feinheit,

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die selten ist, hierin zu unterscheiden. Jeder, der viel in Gefängnissen und Zuchthäusern verkehrt hat, ist erstaunt, wie selten daselbst ein unzweideutiger „Gewissensbiss“ anzutreffen ist : um so mehr aber das Heimweh nach dem alten bösen geliebten Verbrechen. 367. I m me r g lüc k l ic h s c he i ne n . – Als die Philosophie Sache des öffentlichen Wetteifers war, im Griechenland des dritten Jahrhunderts, gab es nicht wenige Philosophen, welche glücklich durch den Hintergedanken wurden, dass Andere, die nach anderen Principien lebten und sich dabei quälten, an ihrem Glücke Ärger haben müssten : sie glaubten, mit ihrem Glücke jene am besten zu widerlegen, und dazu genügte es ihnen, immer glücklich zu scheinen : aber dabei mussten sie auf die Dauer glücklich we r d e n ! Diess war zum Beispiel das Loos der Cyniker. 368. Gr u nd v ie le r Ve r k e n nu n g.  – Die Moralität der zunehmenden Nervenkraft ist freudig und unruhig ; die Moralität der abnehmenden Nervenkraft, am Abende oder bei Kranken und alten Leuten, ist leidend, beruhigend, abwartend, wehmüthig, ja nicht selten düster. Je nachdem man von dieser oder jener hat, versteht man die uns fehlende nicht, und dem Andern legt man sie oft als Unsittlichkeit und Schwäche aus. | 369. Sic h über sei ne Erbä r m l ic h keit z u heben. – Das sind mir stolze Gesellen, die, um das Gefühl ihrer Würde und Wichtigkeit herzustellen, immer erst Andere brauchen, die sie anherrschen und vergewaltigen können : Solche nämlich, deren Ohnmacht und Feigheit es erlaubt, dass Einer vor ihnen ungestraft erhabene und zornige Gebärden machen kann ! – sodass sie die Erbärmlichkeit ihrer Umgebung nöthig haben, um sich auf einen Augenblick über die eigene Erbärmlichkeit

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zu heben ! – Dazu hat Mancher einen Hund, ein Andrer einen Freund, ein Dritter eine Frau, ein Vierter eine Partei und ein sehr Seltener ein ganzes Zeitalter nöthig. 370. Inw iefer n der Den ker sei nen Fei nd l iebt. – Nie Etwas zurückhalten oder dir verschweigen, was gegen deinen Gedanken gedacht werden kann ! Gelobe es dir ! Es gehört zur ersten Redlichkeit des Denkens. Du musst jeden Tag auch deinen Feldzug gegen dich selber führen. Ein Sieg und eine eroberte Schanze sind nicht mehr deine Angelegenheit, sondern die der Wahrheit,  – aber auch deine Niederlage ist nicht mehr deine Angelegenheit ! 371. D a s B ö s e d e r S t ä r k e.  – Die Gewaltthätigkeit als Folge der Leidenschaft, zum Beispiel des Zornes, ist physiologisch als ein Versuch zu verstehen, einem drohenden Erstickungsanfall vorzubeugen. Zahllose Handlungen des Übermuths, der sich an anderen Personen auslässt, sind Ableitungen eines plötzlichen Blutandranges durch eine starke Muskel-Action gewesen : | und vielleicht gehört das ganze „Böse der Stärke“ unter diesen Gesichtspunct. (Das Böse der Stärke thut dem Andern wehe, ohne daran zu denken, – es mu s s sich auslassen ; das Böse der Schwäche w i l l wehe thun und die Zeichen des Leidens sehen.) 372. Z u r E h r e d e r K e n ne r.  – Sobald Einer, ohne Kenner zu sein, doch den Urtheiler spielt, soll man sofort protestiren : ob es nun Männlein oder Weiblein sei. Schwärmerei und Entzükken für ein Ding oder einen Menschen sind keine Argumente : Widerwillen und Hass gegen sie auch nicht.

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373. Ve r r ät he r i s c he r Tad e l . – „Er kennt die Menschen nicht“ – das heisst im Munde des Einen : „er kennt die Gemeinheit nicht“, im Munde des Andern : „er kennt die Ungewöhnlichkeit nicht und die Gemeinheit zu gut“. 374. We r t h d e s O pf e r s. – Je mehr man den Staaten und Fürsten das Recht aberkennt, die Einzelnen zu opfern (wie bei der Rechtspflege, der Heeresfolge u. s. w.), um so höher wird der Werth der Selbst-Opferung steigen. 375. Zu d eut l ic h r e d e n . – Man kann aus verschiedenen Gründen zu deutlich articulirt sprechen : einmal, aus Misstrauen gegen sich, in einer neuen ungeübten Sprache, sodann aber auch aus Misstrauen gegen die Anderen, wegen ihrer Dummheit oder Langsamkeit des | Verständnisses. Und so auch im Geistigsten : unsere Mittheilung ist mitunter zu deutlich, zu peinlich, weil Die, welchen wir uns mittheilen‚ uns sonst nicht verstehen. Folglich ist der vollkommene und leichte Stil nur vor einer vollkommenen Zuhörerschaft e rl au bt . 376. V ie l s c h l a f e n . – Was thun, um sich anzuregen, wenn man müde und seiner selbst satt ist ? Der Eine empfiehlt die Spielbank, der Andere das Christenthum, der Dritte die Electricität. Das Beste aber, mein lieber Melancholiker, ist und bleibt : v ie l s c h l a f e n , eigentlich und uneigentlich ! So wird man auch seinen Morgen wieder haben ! Das Kunststück der Lebensweisheit ist, den Schlaf jeder Art zur rechten Zeit einzuschieben wissen.

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377. Worauf pha ntastische Idea le rathen lassen. – Dort‚ wo unsere Mängel liegen, ergeht sich unsere Schwärmerei. Den schwärmerischen Satz „liebet eure Feinde !“ haben Juden erfi nden müssen, die besten Hasser, die es gegeben hat, und die schönste Verherrlichung der Keuschheit ist von Solchen gedichtet worden, die in ihrer Jugend wüst und abscheulich gelebt haben. 378. R e i ne H a nd u nd r e i ne Wa nd .  – Man soll weder Gott noch den Teufel an die Wand malen. Man verdirbt damit seine Wand und seine Nachbarschaft. 379. Wa h r s c he i n l ic h u nd u nw a h r s c he i n l ic h . – Eine Frau liebte heimlich einen Mann, hob ihn hoch über | sich und sagte sich im Geheimsten hundert Male : „wenn mich ein solcher Mann liebte, so wäre diess wie eine Gnade, vor der ich im Staube liegen müsste !“ – Und dem Manne gieng es ganz ebenso, und gerade in Bezug auf diese Frau, und er sagte sich im Geheimsten auch gerade diesen Gedanken. Als endlich einmal Beiden die Zunge sich gelöst hatte und sie alles das Verschwiegene und Verschwiegenste des Herzens einander sagten, entstand schliesslich ein Stillschweigen und einige Besinnung. Darauf hob die Frau an, mit erkälteter Stimme : „aber es ist ja ganz klar ! wir sind Beide nicht Das, was wir geliebt haben ! Wenn du Das bist, was du sagst und nicht mehr, so habe ich mich umsonst erniedrigt und dich geliebt ; der Dämon verführte mich so wie dich.“  – Diese sehr wahrscheinliche Geschichte kommt nie vor, – wesshalb ? 380. Er probter Rath. – Von allen Trostmitteln thut Trostbedürftigen Nichts so wohl, als die Behauptung, für ihren Fall gebe

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es keinen Trost. Darin liegt eine solche Auszeichnung, dass sie wieder den Kopf erheben. 381. S e i ne „ E i n z e l he it“ k e n ne n . – Wir vergessen zu leicht, dass wir im Auge fremder Menschen, die uns zum ersten Male sehen, etwas ganz Anderes sind, als Das, wofür wir uns selber halten : meistens Nichts mehr, als eine in die Augen springende Einzelheit, welche den Eindruck bestimmt. So kann der sanftmüthigste und billigste Mensch, wenn er nur einen grossen Schnurrbart hat, gleichsam im Schatten desselben sitzen, | und ruhig sitzen, – die gewöhnlichen Augen sehen in ihm den Zub e hör zu einem grossen Schnurrbart, will sagen : einen militärischen, leicht auf brausenden, unter Umständen gewaltsamen Charakter  – und benehmen sich darnach vor ihm. 382. G ä r t ne r u nd G a r t e n . – Aus feuchten trüben Tagen, Einsamkeit, lieblosen Worten an uns, wachsen S c h l ü s s e auf wie Pilze : sie sind eines Morgens da, wir wissen nicht woher, und sehen sich grau und griesgrämig nach uns um. Wehe dem Denker, der nicht der Gärtner, sondern nur der Boden seiner Gewächse ist ! 383. Die Komöd ie des M it leiden s. – Wir mögen noch so sehr an einem Unglücklichen Antheil nehmen : in seiner Gegenwart spielen wir immer etwas Komödie, wir sagen Vieles nicht, was wir denken und wie wir es denken, mit jener Behutsamkeit des Arztes am Bette von Schwerkranken. 384. Wu nd e rl ic he He i l i g e.  – Es giebt Kleinmüthige, welche von ihrem besten Werke und Wirken Nichts halten und es schlecht zur Mittheilung oder zum Vortrage bringen : aber aus

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einer Art Rache halten sie auch Nichts von der Sympathie Anderer oder glauben gar nicht an Sympathie ; sie schämen sich, von sich selber hingerissen zu erscheinen und fühlen ein trotziges Wohlbehagen darin, lächerlich zu werden. – Diess sind Zustände aus der Seele melancholischer Künstler. | 385. D ie E it e l n . – Wir sind wie Schauläden, in denen wir selber unsere angeblichen Eigenschaften, welche Andere uns zusprechen, fortwährend anordnen, verdecken oder in’s Licht stellen, – um u n s zu betrügen. 386. D ie Pat het i s c he n u nd d ie Na ive n . – Es kann eine sehr unedle Gewohnheit sein, keine Gelegenheit vorbei zu lassen, wo man sich pathetisch zeigen kann : um jenes Genusses willen, sich den Zuschauer dabei zu denken, der sich an die Brust schlägt und sich selber jämmerlich und klein fühlt. Es kann folglich auch ein Zeichen des Edelsinns sein, mit pathetischen Lagen Spott zu treiben und in ihnen sich unwürdig zu benehmen. Der alte kriegerische Adel Frankreich’s hatte diese Art Vornehmheit und Feinheit. 387. P r ob e e i ner Ü b erle g u n g vor d e r E he. – Gesetzt, sie liebte mich, wie lästig würde sie mir auf die Dauer werden ! Und gesetzt, sie liebte mich nicht, wie lästig würde sie erst da mir auf die Dauer werden ! – Es handelt sich nur um zwei verschiedene Arten des Lästigen : – heirathen wir also ! 388. Die Schurkerei m it g utem Gew issen. – Im kleinen Handel übervortheilt zu werden, – das ist in manchen Gegenden, zum Beispiel in Tyrol, so unangenehm, weil man das böse Gesicht und die grobe Begierde darin, nebst dem schlechten

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Gewissen und der | plumpen Feindseligkeit, welche im betrügerischen Verkäufer gegen uns entsteht, noch obendrein in den schlechten Kauf bekommt. In Venedig dagegen ist der Prellende von Herzen über das gelungene Schelmenstück vergnügt und gar nicht feindselig gegen den Geprellten gestimmt, ja geneigt, ihm eine Artigkeit zu erweisen und namentlich mit ihm zu lachen, falls er dazu Lust haben sollte. – Kurz, man muss zur Schurkerei auch den Geist und das gute Gewissen haben : das versöhnt den Betrogenen beinahe mit dem Betruge. 389. Et w a s z u s c hwe r. – Sehr brave Leute, die aber etwas zu schwer sind, um höflich und liebenswürdig zu sein, suchen eine Artigkeit sofort mit einer ernsthaften Dienstleistung oder mit einem Beitrag aus ihrer Kraft zu beantworten. Es ist rührend anzusehen, wie sie ihre Goldstücke schüchtern heranbringen‚ wenn ein Anderer ihnen seine vergoldeten Pfennige geboten hat. 390. G e i s t ve r b e r g e n . – Wenn wir Jemanden dabei ertappen, dass er seinen Geist vor uns verbirgt, so nennen wir ihn böse : und zwar um so mehr, wenn wir argwöhnen, dass Artigkeit und Menschenfreundlichkeit ihn dazu getrieben haben. 391. Der böse Augenbl ic k . – Lebhafte Naturen lügen nur einen Augenblick : nachher haben sie sich selber belogen und sind überzeugt und rechtschaffen. | 392. B e d i n g u n g d e r Höf l ic h k e it . – Die Höflichkeit ist eine sehr gute Sache und wirklich eine der vier Haupttugenden (wenn auch die letzte) : aber damit wir uns einander nicht mit ihr lästig werden, muss Der, mit dem ich gerade zu thun

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habe, um einen Grad weniger oder mehr höflich sein, als ich es bin, – sonst kommen wir nicht von der Stelle, und die Salbe salbt nicht nur, sondern klebt uns fest. 393. G e f ä h rl ic he Tu g e nd e n . – „Er vergisst Nichts, aber er vergiebt Alles.“ – Dann wird er doppelt gehasst, denn er beschämt doppelt, mit seinem Gedächtniss und mit seiner Grossmuth. 394. Oh ne E it e l k e it .  – Leidenschaftliche Menschen denken wenig an Das, was die Anderen denken, ihr Zustand erhebt sie über die Eitelkeit. 395. D i e C o nt e m p l a t io n .  – Bei dem einen Denker folgt der dem Denker eigene beschauliche Zustand immer auf den Zustand der Furcht, bei einem andern immer auf den Zustand der Begierde. Dem ersten scheint demnach die Beschaulichkeit mit dem Gefühl der Sic he rhe it verbunden, dem andern mit dem Gefühl der S ät t i g u n g – das heisst : jener ist dabei muthig, dieser überdrüssig und neutral gestimmt. 396. Au f d e r Ja g d . – Jener ist auf der Jagd, angenehme Wahrheiten zu haschen, dieser – unangenehme. | Aber auch der Erstere hat mehr Vergnügen an der Jagd, als an der Beute. 397. E r z ie hu n g. – Die Erziehung ist eine Fortsetzung der Zeugung und oft eine Art nachträglicher Beschönigung derselben. 398. Wor a n d e r H it z i g er e z u erk e n ne n i s t . – Von zwei Personen, die mit einander kämpfen oder sich lieben oder sich be-

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wundern, übernimmt die, welche die hitzigere ist, immer die unbequemere Stellung. Das Selbe gilt auch von zwei Völkern. 399. Sic h ve r t he id i g e n . – Manche Menschen haben das beste Recht, so und so zu handeln ; aber wenn sie sich darob vertheidigen‚ glaubt man’s nicht mehr – und irrt sich. 400. Mor a l i s c he Ve r z ä r t e lu n g. – Es giebt zart moralische Naturen‚ welche bei jedem Erfolge Beschämung und bei jedem Misserfolge Gewissensbisse haben. 401. G e f ä h rl ic h s t e s Ve rle r ne n . – Man fängt damit an, zu verlernen, Andere zu lieben und hört damit auf, an sich nichts Liebenswerthes mehr zu fi nden. 402. Auc h ei ne Tolera n z. – „Eine Minute zu lange auf glühenden Kohlen gelegen haben und ein Wenig dabei a n z u b r e n n e n ,  – das schadet noch Nichts, bei | Menschen und Kastanien ! Diese kleine Bitterkeit und Härte lässt erst recht schmecken, wie süss und milde der Kern ist.“ – Ja ! So urtheilt ihr Geniessenden ! Ihr sublimen Menschenfresser ! 403. Ve r s c h i e d e n e r S t ol z .  – Die Frauen sind es, welche bei der Vorstellung erbleichen, ihr Geliebter möchte ihrer nicht werth sein ; die Männer sind es, welche bei der Vorstellung erbleichen, sie möchten ihrer Geliebten nicht werth sein. Es ist hier von ganzen Frauen, ganzen Männern die Rede. Solche Männer, als die Menschen der Zuversichtlichkeit und des Machtgefühls f ü r g e wöh n l i c h , haben im Zustande

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der Passion ihre Verschämtheit, ihren Zweifel an sich ; solche Frauen aber fühlen sich sonst immer als die Schwachen, zur Hingebung Bereiten, aber in der hohen Au s n a h me der Passion haben sie ihren Stolz und ihr Machtgefühl, – als welches frägt : wer ist me i ne r würdig ? 404. Wem man selten gerecht wird. – Mancher kann sich nicht für etwas Gutes und Grosses erwärmen, ohne schweres Unrecht nach irgend einer Seite hin zu thun : diess ist s e i ne Art Moralität. 405. Lu x u s . – Der Hang zum Luxus geht in die Tiefe eines Menschen : er verräth, dass das Überflüssige und Unmässige das Wasser ist, in dem seine Seele am liebsten schwimmt. | 406. Unsterblich machen. – Wer seinen Gegner tödten will, mag erwägen, ob er ihn nicht gerade dadurch bei sich verewigt. 407. Wider u n ser n C h a r a k ter. – Geht die Wahrheit, die wir zu sagen haben, wider unsern Charakter  – wie es oft vorkommt  –, so benehmen wir uns dabei, als ob wir schlecht lögen und erregen Misstrauen. 408. Wo v ie l M i ld e not h t hut . – Manche Naturen haben nur die Wahl, entweder öffentliche Übelthäter oder geheime Leidträger zu sein. 409. K r a n k he it . – Unter Krankheit ist zu verstehen : eine unzeitige Annäherung des Alters, der Hässlichkeit und der pessimistischen Urtheile : welche Dinge zu einander gehören.

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410. D ie Ä n g s t l ic he n . – Gerade die ungeschickten ängstlichen Wesen werden leicht zu Todtschlägern : sie verstehen die kleine zweckentsprechende Vertheidigung oder Rache nicht, ihr Hass weiss aus Mangel an Geist und Geistesgegenwart keinen andern Ausweg, als die Vernichtung. 411. Oh ne H a s s . – Du willst von deiner Leidenschaft Abschied nehmen ? Thue es, aber oh ne H a s s gegen sie ! Sonst hast du eine zweite Leidenschaft. – Die | Seele der Christen, die sich von der Sünde freigemacht hat, wird gewöhnlich hinterher durch den Hass gegen die Sünde ruinirt. Sieh die Gesichter der grossen Christen an ! Es sind die Gesichter von grossen Hassern. 412. Geistreich und beschränkt. – Er versteht Nichts zu schätzen, ausser sich ; und wenn er Andere schätzen will, so muss er sie immer erst in sich verwandeln. Darin aber ist er geistreich. 413. D ie p r i vat e n u nd öf f e nt l ic he n A n k l ä g e r. – Sieh dir Jeden genau an, der anklagt und inquirirt, – er enthüllt dabei seinen Charakter : und zwar nicht selten einen schlechteren Charakter, als das Opfer hat, hinter dessen Verbrechen er her ist. Der Anklagende meint in aller Unschuld, der Gegner eines Frevels und eines Frevlers müsse schon an sich von gutem Charakter sein oder als gut gelten, – und so lässt er sich gehen, das heisst : er lässt sich he r au s . 414. D ie f r e i w i l l i g Bl i nd e n . – Es giebt eine Art schwärmerischer, bis zum Äussersten gehender Hingebung an eine Person oder Partei, die verräth, dass wir im Geheimen uns ihr

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überlegen fühlen und darüber mit uns grollen. Wir blenden uns gleichsam freiwillig zur Strafe dafür, dass unser Auge zu viel gesehen hat. 415. R e me d iu m a mor i s . – Immer noch hilft gegen die Liebe in den meisten Fällen jenes alte Radicalmittel : die Gegenliebe. | 416. Wo i s t d e r s c h l i m m s t e Fe i nd ?  – Wer seine Sache gut führen kann und sich dessen bewusst ist, ist gegen seinen Widersacher meist versöhnlich gestimmt. Aber zu glauben, dass man die gute Sache für sich habe, und zu wissen, dass man n ic ht geschickt ist, sie zu vertheidigen, – das macht einen ingrimmigen und unversöhnlichen Hass auf den Gegner der eignen Sache. – Möge Jeder darnach berechnen, wo seine schlimmsten Feinde zu suchen sind ! 417. Gr ä n z e a l le r D e mut h . – Zu der Demuth, welche spricht : credo quia absurdum est, und ihre Vernunft zum Opfer anbietet, brachte es wohl schon Mancher : aber Keiner, so viel ich weiss, bis zu jener Demuth, die doch nur einen Schritt davon entfernt ist und welche spricht : credo quia absurdus sum. 418. Wa h r s p ie le r e i . – Mancher ist wahrhaftig, – nicht weil er es verabscheut, Empfi ndungen zu heucheln, sondern weil es ihm schlecht gelingen würde, seiner Heuchelei Glauben zu verschaffen. Kurz, er traut seinem Talent als Schauspieler nicht und zieht die Redlichkeit vor, die „Wahrspielerei“. 419. Mut h i n d e r P a r t e i . – Die armen Schafe sagen zu ihrem Zugführer : „gehe nur immer voran, so wird es uns nie an

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Muth fehlen, dir zu folgen.“ Der arme | Zugführer aber denkt bei sich : „folgt mir nur immer nach, so wird es mir nie an Muth fehlen, euch zu führen.“ 420. Versc h lagen heit des O pfer t h iers. – Es ist eine traurige Verschlagenheit, wenn man sich über Jemanden täuschen will, dem man sich geopfert hat, und ihm Gelegenheit bietet, wo er uns so erscheinen muss, wie wir wünschen, dass er wäre. 421. D u r c h A n d r e h i n d u r c h .  – Es giebt Menschen, die gar nicht anders gesehen werden wollen, als durch Andre hindurchschimmernd. Und daran ist viel Klugheit. 422. A nd e r n Fr eu d e m ac he n . – Warum geht Freudemachen über alle Freuden ? – Weil man damit seinen fünfzig eignen Trieben auf Einmal eine Freude macht. Es mögen das einzeln sehr kleine Freuden sein : aber thut man sie alle in Eine Hand, so hat man die Hand voller, als jemals sonst, – und das Herz auch ! – |

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423. I m g r o s s e n S c hwe i g e n . – Hier ist das Meer, hier können wir der Stadt vergessen. Zwar lärmen eben jetzt noch ihre Glocken das Ave Maria – es ist jener düstere und thörichte, aber süsse Lärm am Kreuzwege von Tag und Nacht –, aber nur noch einen Augenblick ! Jetzt schweigt Alles ! Das Meer liegt bleich und glänzend da, es kann nicht reden. Der Himmel spielt sein ewiges stummes Abendspiel mit rothen‚ gelben, grünen Farben, er kann nicht reden. Die kleinen Klippen und Felsenbänder, welche in’s Meer hineinlaufen‚ wie um den Ort zu fi nden, wo es am einsamsten ist, sie können alle nicht reden. Diese ungeheure Stummheit, die uns plötzlich überfällt, ist schön und grausenhaft, das Herz schwillt dabei. – Oh der Gleissnerei dieser stummen Schönheit ! Wie gut könnte sie reden, und wie böse auch, wenn sie wollte ! Ihre gebundene Zunge und ihr leidendes Glück im Antlitz ist eine Tücke, um über dein Mitgefühl zu spotten ! – Sei es drum ! Ich schäme mich dessen nicht, der Spott solcher Mächte zu sein. Aber ich bemitleide dich, Natur, weil du schweigen musst, auch wenn es nur deine Bosheit ist, die dir die Zunge bindet : ja, ich bemitleide dich um deiner Bosheit willen ! – Ach, es wird noch stiller, und noch einmal schwillt mir das Herz : es erschrickt vor einer neuen Wahrheit, e s k a n n auc h n ic ht r e d e n , es spottet selber mit, wenn der | Mund Etwas in diese Schönheit hinausruft, es geniesst selber seine süsse Bosheit des Schweigens. Das Sprechen, ja das Denken wird mir verhasst : höre ich denn nicht hinter jedem Worte den Irrthum, die Einbildung, den Wahngeist lachen ? Muss ich nicht meines Mitleidens spotten ? Meines Spottes spotten ? – Oh Meer ! Oh Abend ! Ihr seid schlimme Lehrmeister ! Ihr lehrt den Menschen au f hör e n ,

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Mensch zu sein ! Soll er sich euch hingeben ? Soll er werden, wie ihr es jetzt seid, bleich, glänzend, stumm, ungeheuer, über sich selber ruhend ? Über sich selber erhaben ? 424. Fü r we n d ie Wa h r he it d a i s t . – Bis jetzt sind die Irrthümer die t r o s t r e ic he n Mächte gewesen : nun erwartet man von den erkannten Wahrheiten die selbe Wirkung und wartet ein Wenig lange schon. Wie, wenn die Wahrheiten gerade diess – zu trösten – nicht zu leisten vermöchten ? – Wäre diess denn ein Einwand gegen die Wahrheiten ? Was haben diese mit den Zuständen leidender, verkümmerter, kranker Menschen gemeinsam, dass sie gerade ihnen nützlich sein müssten ? Es ist doch kein Beweis gegen die Wa h r he it einer Pflanze, wenn festgestellt wird, dass sie zur Genesung kranker Menschen Nichts beiträgt. Aber ehemals war man bis zu dem Grade vom Menschen als dem Zwecke der Natur überzeugt, dass man ohne Weiteres annahm, es könne auch durch die Erkenntniss Nichts aufgedeckt werden, was nicht dem Menschen heilsam und nützlich sei, ja, es k ö n ne, es d ü r f e gar keine anderen Dinge g e b e n .  – Vielleicht folgt aus alledem der Satz, dass die Wahrheit a l s G a n z e s und | Zusammenhängendes nur für die zugleich mächtigen und harmlosen, freud- und friedenvollen Seelen (wie es die des Aristoteles war) da ist, ebenso wie diese wohl auch nur im Stande sein werden, s ie z u s uc he n : denn die anderen suchen He i l m it t e l für sich, mögen sie noch so stolz über ihren Intellect und dessen Freiheit denken, – sie suchen n ic ht die Wahrheit. Daher kommt es, dass diese Anderen so wenig ächte Freude an der Wissenschaft haben und ihr Kälte, Trockenheit und Unmenschlichkeit zum Vorwurf machen : es ist diess das Urtheil der Kranken über die Spiele der Gesunden. – Auch die griechischen Götter verstanden nicht zu trösten ; als endlich auch die griechischen Menschen allesammt

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krank wurden, war diess ein Grund zum Untergang solcher Götter. 425. W i r G öt t e r i n d e r Ve r b a n nu n g ! – Durch I r r t hü me r über ihre Herkunft, ihre Einzigkeit, ihre Bestimmung, und durch A n f or d e r u n g e n , die auf Grund dieser Irrthümer gestellt wurden, hat sich die Menschheit hoch gehoben und sich immer wieder „selber übertroffen“ : aber durch die selben Irrthümer ist unsäglich viel Leiden, gegenseitige Verfolgung, Verdächtigung, Verkennung‚ und noch mehr Elend des Einzelnen in sich und an sich in die Welt gekommen. Die Menschen sind le id e nd e Geschöpfe geworden, in Folge ihrer Moralen : was sie damit eingekauft haben, das ist, Alles in Allem, ein Gefühl, als ob sie im Grunde zu gut und zu bedeutend für die Erde wären und nur vorübergehend sich auf ihr aufhielten. „Der leidende Hochmüthige“ ist einstweilen immer noch der höchste Typus des Menschen. | 426. Fa r b e n bl i n d h e it d e r D e n k e r.  – Wie anders sahen die Griechen in ihre Natur, wenn ihnen, wie man sich eingestehen muss, das Auge für Blau und Grün blind war, und sie statt des ersteren ein tieferes Braun, statt des zweiten ein Gelb sahen (wenn sie also mit gleichem Worte zum Beispiel die Farbe des dunkelen Haares, die der Kornblume und die des südländischen Meeres bezeichneten, und wiederum mit gleichem Worte die Farbe der grünsten Gewächse und der menschlichen Haut, des Honigs und der gelben Harze : sodass ihre grössten Maler bezeugtermaassen ihre Welt nur mit Schwarz, Weiss, Roth und Gelb wiedergegeben haben),  – wie anders und wie viel näher an den Menschen gerückt musste ihnen die Natur erscheinen, weil in ihrem Auge die Farben des Menschen auch in der Natur überwogen und diese gleichsam in dem Farbenäther der Menschheit schwamm ! (Blau und Grün entmenschlichen die Natur mehr, als alles Andere.) Auf die-

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sem M a n g e l ist die spielende Leichtigkeit, welche die Griechen auszeichnet, Naturvorgänge als Götter und Halbgötter, das heisst als menschartige Gestalten zu sehen, grossgewachsen. – Diess sei aber nur das Gleichniss für eine weitere Vermuthung. Jeder Denker malt seine Welt und jedes Ding mit weniger Farben, a l s e s g iebt , und ist gegen einzelne Farben blind. Diess ist nicht nur ein Mangel. Er sieht vermöge dieser Annäherung und Vereinfachung Harmonien der Farben i n d ie D i n g e h i ne i n , welche einen grossen Reiz haben und eine Bereicherung der Natur ausmachen können. Vielleicht ist diess sogar der Weg gewesen, auf dem die Menschheit d e n G e nu s s im Anblick des Daseins erst gelernt | hat : dadurch, dass ihr dieses Dasein zunächst in einem oder zwei Farbentönen und dadurch harmonisirt vorgeführt wurde : sie übte sich gleichsam auf diese wenigen Töne ein, bevor sie zu mehreren übergehen konnte. Und noch jetzt arbeitet sich mancher Einzelne aus einer theilweisen Farbenblindheit in ein reicheres Sehen und Unterscheiden hinaus : wobei er aber nicht nur neue Genüsse fi ndet, sondern immer auch einige der früheren au fg eb e n u nd ve rl ier e n mu s s . 427. Die Verschönerung der Wissenschaft. – Wie die RococoGartenkunst entstand, aus dem Gefühl „die Natur ist hässlich, wild, langweilig, – auf ! wir wollen sie verschönern (embellir la nature) !“ – so entsteht aus dem Gefühl „die Wissenschaft ist hässlich, trocken, trostlos, schwierig, langwierig, – auf ! lasst uns sie verschönern !“ immer wieder Etwas, das sich d ie Ph i lo s o ph ie nennt. Sie will, was alle Künste und Dichtungen wollen, – vor Allem u nt e r h a lt e n : sie will diess aber, gemäss ihrem ererbten Stolze, in einer erhabeneren und höheren Art, vor einer Auswahl von Geistern. Für diese eine Gartenkunst zu schaffen, deren Hauptreiz wie bei jener „gemeineren“ die Täu s c hu n g d e r Au g e n ist (durch Tempel, Fernblicke, Grot-

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ten, Irrpfade, Wasserfälle, um im Gleichnisse zu reden), die Wissenschaft in einem Auszuge und mit allerlei wunderbaren und plötzlichen Beleuchtungen vorzuführen und so viel Unbestimmtheit, Unvernunft und Träumerei in sie einzumischen, dass man in ihr „wie in der wilden Natur“ und doch ohne Mühsal und Langeweile wandeln könne, – das ist kein geringer Ehrgeiz : wer ihn hat, träumt | sogar davon, auf diese Art die Religion entbehrlich zu machen, welche bei den früheren Menschen die höchste Gattung von Unterhaltungskunst abgegeben hat. – Diess geht nun seinen Gang und erreicht eines Tages seine hohe Fluth : jetzt schon beginnen die Gegenstimmen gegen die Philosophie laut zu werden, welche rufen „Rückkehr zur Wissenschaft ! Zur Natur und Natürlichkeit der Wissenschaft !“ – womit vielleicht ein Zeitalter a n hebt , das die mächtigste Schönheit gerade in den „wilden, hässlichen“ Theilen der Wissenschaft entdeckt, wie man seit Rousseau erst den Sinn für die Schönheit des Hochgebirges und der Wüste entdeckt hat. 428. Zwe i A r t e n Mor a l i s t e n . – Ein Gesetz der Natur zum ersten Male sehen und ganz sehen, also es n ac hwe i s e n (zum Beispiel das der Fallkraft, der Licht- und Schallreflexion) ist etwas Anderes und die Sache anderer Geister, als ein solches Gesetz e r k l ä r e n . So unterscheiden sich auch jene Moralisten, welche die menschlichen Gesetze und Gewohnheiten sehen und aufzeigen – die feinohrigen, feinnasigen, feinäugigen Moralisten – durchaus von denen, welche das Beobachtete erklären. Die letzteren müssen vor Allem e r f i nd e r i s c h sein und eine durch Scharfsinn und Wissen e nt z ü g e lt e Phantasie haben. 429. D ie neue L e id e n s c h a f t . – Warum fürchten und hassen wir eine mögliche Rückkehr zur Barbarei ? Weil sie die Menschen unglücklicher machen würde, als sie es sind ? Ach nein !

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Die Barbaren aller Zeiten hatten me h r Glück : täuschen wir uns nicht ! – Sondern unser | Tr ieb z u r E r k e n nt n i s s ist zu stark, als dass wir noch das Glück ohne Erkenntniss oder das Glück eines starken festen Wahnes zu schätzen vermöchten ; es macht Pein, uns solche Zustände auch nur vorzustellen ! Die Unruhe des Entdeckens und Errathens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglückliche Liebe dem Liebenden wird : welche er um keinen Preis gegen den Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde ; – ja, vielleicht sind wir auch u n g lüc k l ic h Liebende ! Die Erkenntniss hat sich in uns zur Leidenschaft verwandelt, die vor keinem Opfer erschrickt und im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen ; wir glauben aufrichtig, dass die gesammte Menschheit unter dem Drange und Leiden d ie s e r Leidenschaft sich erhabener und getrösteter glauben müsste als bisher, wo sie den Neid auf das gröbere Behagen, das im Gefolge der Barbarei kommt, noch nicht überwunden hat. Vielleicht selbst, dass die Menschheit an dieser Leidenschaft der Erkenntniss zu Grunde geht ! – auch dieser Gedanke vermag Nichts über uns ! Hat sich denn das Christenthum je vor einem ähnlichen Gedanken gescheut. Sind die Liebe und der Tod nicht Geschwister ? Ja, wir hassen die Barbarei, – wir wollen Alle lieber den Untergang der Menschheit, als den Rückgang der Erkenntniss ! Und zuletzt : wenn die Menschheit nicht an einer L e id e n s c h a f t zu Grunde geht, so wird sie an einer S c hw äc he zu Grunde gehen : was will man lieber ? Diess ist die Hauptfrage. Wollen wir für sie ein Ende im Feuer und Licht oder im Sande ? – 430. Au c h he ld e n h a f t .  – Dinge vom übelsten Geruche thun, von denen man kaum zu reden wagt, die | aber nützlich und nöthig sind, – ist auch heldenhaft. Die Griechen haben sich nicht geschämt, unter die grossen Arbeiten des Herakles auch die Ausmistung eines Stalles zu setzen.

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431. D ie Me i nu n g e n d e r G e g ne r. – Um zu messen, wie fein oder wie schwachsinnig von Natur auch die gescheutesten Köpfe sind, gebe man darauf Acht, wie sie die Meinungen ihrer Gegner auffassen und wiedergeben : dabei verräth sie das natürliche Maass jedes Intellectes. – Der vollkommene Weise erhebt, ohne es zu wollen, seinen Gegner in’s Ideal und macht dessen Widerspruch frei von allen Flecken und Zufalligkeiten : erst wenn dadurch aus seinem Gegner ein Gott mit leuchtenden Waffen geworden ist, kämpft er gegen ihn. 432. For s c he r u nd Ve r s uc he r. – Es giebt keine alleinwissendmachende Methode der Wissenschaft ! Wir müssen versuchsweise mit den Dingen verfahren, bald böse, bald gut gegen sie sein und Gerechtigkeit, Leidenschaft und Kälte nach einander für sie haben. Dieser redet mit den Dingen als Polizist, Jener als Beichtvater, ein Dritter als Wanderer und Neugieriger. Bald mit Sympathie, bald mit Vergewaltigung wird man ihnen Etwas abdringen ; Einen führt Ehrfurcht vor ihren Geheimnissen vorwärts und zur Einsicht, Einen wiederum Indiscretion und Schelmerei in der Erklärung von Geheimnissen. Wir Forscher sind wie alle Eroberer, Entdecker, Schiff fahrer, Abenteuerer von einer verwegenen Moralität und müssen es uns gefallen lassen, im Ganzen für böse zu gelten. | 433. M it neue n Au g e n s e he n . – Gesetzt, dass unter Schönheit in der Kunst immer die Nac h b i ld u n g d e s G lüc k l ic he n zu verstehen ist – und so halte ich es für die Wahrheit –‚ je nachdem eine Zeit, ein Volk, ein grosses in sich selber gesetzgeberisches Individuum sich den Glücklichen vorstellt : was giebt dann der sogenannte R e a l i s mu s der jetzigen Künstler über das Glück unserer Zeit zu verstehen ? Es ist unzweifel-

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haft s e i ne Art von Schönheit, welche wir jetzt am leichtesten zu erfassen und zu geniessen wissen. Folglich muss man wohl glauben, das jetzige u n s eigene Glück liege im Realistischen, in möglichst scharfen Sinnen und treuer Auffassung des Wirklichen‚ nicht also in der Realität, sondern i m W i s s e n u m d ie Re a l it ät ? So sehr hat die Wirkung der Wissenschaft schon Tiefe und Breite gewonnen, dass die Künstler des Jahrhunderts, ohne es zu wollen, bereits zu Verherrlichern der wissenschaftlichen „Seligkeiten“ an sich geworden sind ! 434. F ü r s p r ac he e i n le g e n . – Für die grossen Landschaftsmaler sind die anspruchslosen Gegenden da, die merkwürdigen und seltenen Gegenden aber für die kleinen. Nämlich : die grossen Dinge der Natur und Menschheit müssen für alle die Kleinen, Mittelmässigen und Ehrgeizigen unter ihren Verehrern Fürsprache einlegen, – aber d e r Gr o s s e legt Fürsprache für die s c h l ic ht e n Dinge ein. 435. N ic ht u nve r me r k t z u Gr u nd e g e he n . – Nicht Einmal, sondern fortwährend bröckelt es an unserer | Tüchtigkeit und Grösse ; die kleine Vegetation, welche zwischen Allem hineinwächst und sich überall anzuklammern versteht, diese ruinirt Das, was gross an uns ist, – die alltägliche, stündliche übersehene Erbärmlichkeit unserer Umgebung, die tausend Würzelchen dieser oder jener kleinen und kleinmüthigen Empfi ndung, welche aus unserer Nachbarschaft, aus unserem Amte, unserer Geselligkeit, unserer Tageseintheilung herauswächst. Lassen wir diess kleine Unkraut unbemerkt, so gehen wir an ihm unbemerkt zu Grunde ! – Und wollt ihr durchaus zu Grunde gehen, so thut es lieber au f e i n m a l und plötzlich : dann bleiben vielleicht von euch e r h a b e n e Tr ü m me r übrig ! Und nicht, wie jetzt zu befürchten steht, Maulwurfshügel ! Und Gras und Unkraut auf ihnen, die klei-

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nen Siegreichen, bescheiden wie vordem, und zu erbärmlich selbst zum Triumphiren ! 436. Ca s u i s t i s c h . – Es giebt eine bitterböse Alternative, der nicht Jedermanns Tapferkeit und Charakter gewachsen ist : als Passagier eines Schiffes zu entdecken, dass Capitän und Steuermann gefährliche Fehler machen und dass man ihnen in nautischem Wissen überlegen sei, – und nun sich zu fragen : Wie ! wenn du gegen sie eine Meuterei erregtest und sie Beide gefangen nehmen liessest ? Verpfl ichtet dich deine Überlegenheit nicht dazu ? Und sind sie nicht wiederum im Rechte, dich einzusperren, weil du den Gehorsam untergräbst ? – Diess ist ein Gleichniss für höhere und bösere Lagen : wobei zuletzt immer noch die Frage bleibt, was uns unsere Überlegenheit, unseren Glauben an uns selber in solchen Fällen gewährleistet. Der Erfolg ? Aber da | muss man eben schon das Ding t hu n , welches alle Gefahren in sich trägt, – und nicht nur Gefahren für uns, sondern für das Schiff. 437. Vor r e c ht e. – Wer sich selber wirklich besitzt, das heisst wer sich endgültig e r o b e r t h at , betrachtet es fürderhin als sein eigenes Vorrecht, sich zu strafen, sich zu begnadigen, sich zu bemitleiden : er braucht diess Niemandem zuzugestehen, er kann es aber auch einem Andern mit Freiheit in die Hand geben, einem Freunde zum Beispiel, – aber er weiss‚ dass er damit ein R e c ht verleiht und dass man nur aus dem Besitze der M ac ht heraus Rechte verleihen kann. 438. Me n s c h u nd D i n g e. – Warum sieht der Mensch die Dinge nicht ? Er steht selber im Wege : er verdeckt die Dinge.

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439. Me r k m a le d e s G lüc k s . – Das Gemeinsame aller Glücksempfi ndungen ist zweierlei : F ü l le des Gefühls und Ü b e r mut h darin, sodass man wie ein Fisch sein Element um sich fühlt und in ihm springt. Gute Christen werden verstehen, was christliche Ausgelassenheit ist. 440. Nic ht ent sagen ! – Auf die Welt verzichten, ohne sie zu kennen, gleich einer No n ne, – das giebt eine unfruchtbare, vielleicht schwermüthige Einsamkeit. Diess hat Nichts gemein mit der Einsamkeit der vita contemplativa des Denkers : wenn er s ie wählt, will er keines|wegs entsagen ; vielmehr wäre es ihm Entsagung, Schwermuth‚ Untergang seiner selbst, in der vita practica ausharren zu müssen : auf diese verzichtet er, weil er sie kennt, weil er sich kennt. So springt er in s e i n Wasser, so gewinnt er s e i ne Heiterkeit. 441. War um das Nächste uns immer fer ner w ird. – Je mehr wir an Alles, was war und sein wird, denken, um so bleicher wird uns Das, was gerade jetzt ist. Wenn wir mit Gestorbenen leben und in ihrem Sterben mitsterben, was sind uns dann noch die „Nächsten“ ? Wir werden einsamer, – und zwar we i l die ganze Fluth der Menschheit um uns rauscht. Die Gluth in uns, die allem Menschlichen gilt, nimmt immer zu – und d a r u m blicken wir auf Das, was uns umgiebt, wie als ob es gleichgültiger und schattenhafter geworden wäre. – Aber unser kalter Blick b e le id i g t ! 442. D ie R e g e l . – „Die Regel ist mir immer interessanter, als die Ausnahme“ – wer so empfi ndet, der ist in der Erkenntniss weit voraus und gehört zu den Eingeweihten.

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443. Zu r E r z ie hu n g. – Allmählich ist mir das Licht über den allgemeinsten Mangel unserer Art Bildung und Erziehung aufgegangen : Niemand lernt, Niemand strebt darnach, Niemand lehrt – d ie E i n s a m k e it e r t r a g e n . | 444. Ve r w u nd e r u n g ü b e r W id e r s t a nd . – Weil Etwas für uns durchsichtig geworden ist, meinen wir, es könne uns nunmehr keinen Widerstand leisten  – und sind dann erstaunt, dass wir hindurchsehen und doch nicht hindurch können ! Es ist diess die selbe Thorheit und das selbe Erstaunen, in welches die Fliege vor jedem Glasfenster geräth. 445. Worin sich d ie Edelsten verrech nen. – Man giebt Jemandem endlich sein Bestes, sein Kleinod,  – nun hat die Liebe Nichts mehr zu geben : aber Der, welcher es annimmt, hat daran gewiss nicht s e i n Bestes, und folglich fehlt ihm jene volle und letzte Erkenntlichkeit‚ auf welche der Gebende rechnet. 446. R a n g o r d nu n g.  – Es giebt erstens oberflächliche Denker, zweitens tiefe Denker – solche, welche in die Tiefe einer Sache gehen –, drittens gründliche Denker, die einer Sache auf den Grund gehen, – was sehr viel mehr werth ist, als nur in ihre Tiefe hinabsteigen ! – endlich solche, welche den Kopf in den Morast stecken : was doch weder ein Zeichen von Tiefe noch von Gründlichkeit sein sollte ! Es sind die lieben Untergründlichen. 447. M e i s t e r u n d S c hü le r.  – Zur Humanität eines Meisters gehört, seine Schüler vor sich zu warnen. |

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448. Die Wirk lich keit ehren. – Wie kann man dieser jubelnden Volksmenge ohne Thränen und ohne Zustimmung zusehen ! Wir dachten vorher gering von dem Gegenstand ihres Jubels und würden noch immer so denken, we n n wir ihn nicht erlebt hätten ! Wozu können uns also die Erlebnisse fortreissen ! Was sind unsere Meinungen ! Man muss, um sich nicht zu verlieren, um seine Ve r nu n f t nicht zu verlieren, vor den Erlebnissen flüchten ! So floh Plato vor der Wirklichkeit und wollte die Dinge nur in den blassen Gedankenbildern anschauen ; er war voller Empfi ndung und wusste, wie leicht die Wellen der Empfi ndung über seiner Vernunft zusammenschlugen. – So hätte sich demnach der Weise zu sagen : „ich will die W i r k l ic h k e it ehren, aber ihr den Rücken dabei zuwenden, we i l ich sie kenne und fürchte ?“ – er müsste es machen wie africanische Völkerschaften vor ihrem Fürsten : welche ihm nur rückwärts nahen und ihre Verehrung zugleich mit ihrer Angst zu zeigen wissen ? 449. Wo s i n d d ie B e d ü r f t i g e n d e s G e i s t e s ? – Ah ! Wie es mich anwidert, einem Anderen die eigenen Gedanken au fz u d r ä n g e n ! Wie ich mich jeder Stimmung und heimlichen Umkehr in mir freue, bei der die Gedanken A nd e r e r gegen die eigenen zu Rechte kommen ! Ab und zu giebt es aber ein noch höheres Fest, dann, wenn es einmal e rl au bt ist, sein geistiges Haus und Habe weg z usc hen ken, dem Beicht vater gleich, der im Winkel sitzt, begierig, dass e i n B e d ü r f t i g e r komme und von der Noth seiner Gedanken erzähle, damit er ihm wieder einmal Hand und Herz voll und | die beunruhigte Seele le ic ht m ac he ! Nicht nur, dass er keinen Ruhm davon haben will : er möchte auch der Dankbarkeit aus dem Wege laufen, denn sie ist zudringlich und ohne Scheu vor Einsamkeit und Stillschweigen. Aber namenlos oder leicht verspottet leben, zu niedrig, um Neid oder Feindschaft zu erwecken, mit

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einem Kopf ohne Fieber, einer Handvoll Wissen und einem Beutel voll Erfahrungen ausgerüstet, gleichsam ein Armenarzt des Geistes sein und Dem und Jenem, dessen Kopf du r c h Me i nu n g e n ve r s tör t i s t , helfen, ohne dass er recht merkt, wer ihm geholfen hat ! Nicht vor ihm Recht haben und einen Sieg feiern wollen, sondern so zu ihm sprechen, dass er das Rechte nach einem kleinen unvermerkten Fingerzeig oder Widerspruch sich selber sagt und stolz darüber fortgeht ! Wie eine geringe Herberge sein‚ die Niemanden zurückstösst, der bedürftig ist, die aber hinterher vergessen oder verlacht wird ! Nichts voraus haben, weder die bessere Nahrung, noch die reinere Luft, noch den freudigeren Geist, – sondern abgeben, zurückgeben, mittheilen, ärmer werden ! Niedrig sein können, um Vielen zugänglich und für Niemanden demüthigend zu sein ! Viel Unrecht auf sich liegen haben und durch die Wurmgänge aller Art Irrthümer gekrochen sein, um zu vielen verborgenen Seelen auf ihren geheimen Wegen gelangen zu können ! Immer in einer Art Liebe und immer in einer Art Selbstsucht und Selbstgeniessens ! Im Besitz einer Herrschaft und zugleich verborgen und entsagend sein ! Beständig in der Sonne und Milde der Anmuth liegen und doch die Aufstiege zum Erhabenen in der Nähe wissen ! – Das wäre ein Leben ! Das wäre ein Grund, lange zu leben ! | 450. D ie L oc k u ng der Erken nt n i ss.  – Auf leidenschaftliche Geister wirkt der Blick durch das Thor der Wissenschaft wie der Zauber aller Zauber ; und vermuthlich werden sie dabei zu Phantasten und im günstigen Falle zu Dichtern : so heftig ist ihre Begierde nach dem Glück der Erkennenden. Geht es euch nicht durch alle Sinne, – dieser Ton der süssen Lockung, mit dem die Wissenschaft ihre frohe Botschaft verkündet hat, in hundert Worten und im hundert-ersten und schönsten : „Lass den Wahn schwinden ! Dann ist auch das ‚Wehe mir !‘

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verschwunden ; und mit dem ‚Wehe mir !‘ ist auch das Wehe dahin.“ (Marc Aurel.) 451. We m e i n Hof n a r r nöt h i g i s t . – Die sehr Schönen, die sehr Guten, die sehr Mächtigen erfahren fast nie über irgend Etwas die volle und gemeine Wahrheit, – denn in ihrer Gegenwart lügt man unwillkürlich ein Wenig, weil man ihre Wirkungen empfi ndet und diesen Wirkungen gemäss Das, was man an Wahrheit mittheilen könnte, in der Form einer A n p a s s u n g vorbringt (also Farben und Grade des Thatsächlichen fälscht, Einzelheiten weglässt oder hinzuthut und Das, was sich gar nicht anpassen lassen will, hinter seinen Lippen zurückbehält). Wollen Menschen der Art trotz Alledem und durchaus die Wahrheit hören, so müssen sie sich ihren Hofn a r r e n halten, – ein Wesen mit dem Vorrechte des Verrückten, sich nicht anpassen zu können. | 452. Un g e d u ld .  – Es giebt einen Grad von Ungeduld bei Menschen der That und des Gedankens, welcher sie, bei einem Misserfolge, sofort in das entgegengesetzte Reich übertreten, sich dort passioniren und in Unternehmungen einlassen heisst, – bis auch von hier wieder ein Zögern des Erfolges sie vertreibt : so irren sie, abenteuernd und heftig, durch die Praxis vieler Reiche und Naturen und können zuletzt, durch die Allkenntniss von Menschen und Dingen, welche ihre ungeheuere Wanderung und Übung in ihnen zurücklässt, und bei einiger Milderung ihres Triebes, – zu mächtigen Praktikern werden. So wird ein Fehler des Charakters zur Schule des Genie’s. 453. Mor a l i s c he s I nt e r r e g nu m .  – Wer wäre jetzt schon im Stande, Das zu beschreiben, was einmal die moralischen Gefühle und Urtheile a blö s e n wird ! – so sicher man auch ein-

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zusehen vermag, dass diese in allen Fundamenten irrthümlich angelegt sind und ihr Gebäude der Reparatur unfähig ist : ihre Verbindlichkeit muss von Tag zu Tage immer abnehmen, sofern nur die Verbindlichkeit der Vernunft nicht abnimmt ! Die Gesetze des Lebens und Handelns neu auf bauen, – zu dieser Aufgabe sind unsere Wissenschaften der Physiologie, Medicin, Gesellschafts- und Einsamkeitslehre ihrer selbst noch nicht sicher genug : und nur aus ihnen kann man die Grundsteine für neue Ideale (wenn auch nicht die neuen Ideale selber) entnehmen. So leben wir denn ein vorl äu f i g e s Dasein oder ein n ac h l äu f i g e s Dasein, je nach Geschmack und Begabung, und thun am besten, in diesem | Interregnum, so sehr, als nur möglich, unsere eigenen reges zu sein und kleine Ve r s uc h s s t a at e n zu gründen. Wir sind Experimente : wollen wir es auch sein ! 454. Zw i s c he n r ed e. – Ein Buch, wie dieses, ist nicht zum Durchlesen und Vorlesen, sondern zum Aufschlagen, namentlich im Spazierengehen und auf Reisen, man muss den Kopf hinein- und immer wieder hinausstecken können und nichts Gewohntes um sich fi nden. 455. D ie e r s t e Nat u r. – So wie man uns jetzt erzieht, bekommen wir zuerst eine z we it e Nat u r : und wir haben sie, wenn die Welt uns reif, mündig, brauchbar nennt. Einige Wenige sind Schlangen genug, um diese Haut eines Tages abzustossen : dann, wenn unter ihrer Hülle ihre e r s t e Nat u r reif geworden ist. Bei den Meisten vertrocknet der Keim davon. 456. E i ne we r d e nd e Tu g e nd . – Solche Behauptungen und Verheissungen, wie die der antiken Philosophen von der Einheit der Tugend und der Glückseligkeit, oder wie die des Christenthums „Trachtet am ersten nach dem Reiche Gottes, so

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wird euch solches Alles zufallen !“ – sind nie mit voller Redlichkeit‚ und doch immer ohne schlechtes Gewissen, gemacht worden : man stellte solche Sätze, deren Wahrheit man sehr wünschte, keck als die Wahrheit gegen den Augenschein auf, und empfand dabei nicht einen religiösen oder moralischen Gewissensbiss  – denn man war in honorem majorem | der Tugend oder Gottes über die Wirklichkeit hinausgegangen und ohne alle eigennützigen Absichten ! Auf dieser St u f e d e r Wa h r h a f t i g k e it stehen noch viele brave Menschen : wenn sie sich selbstlos f ü h le n , scheint es ihnen erlaubt, es mit der Wahrheit le ic ht e r z u ne h me n . Man beachte doch, dass weder unter den sokratischen, noch unter den christlichen Tugenden die R e d l ic h k e it vorkommt : diese ist eine der jüngsten Tugenden, noch wenig gereift, noch oft verwechselt und verkannt, ihrer selber noch kaum bewusst, – etwas Werdendes, das wir fördern oder hemmen können, je nachdem unser Sinn steht. 457. L e t z t e S c hw e i g s a m k e i t .  – Einzelnen geht es so wie Schatzgräbern : sie entdecken zufällig die verborgen gehaltenen Dinge einer fremden Seele und haben daran ein Wissen, welches oft schwer zu tragen ist ! Man kann unter Umständen Lebende und Todte bis zu einem Grade gut kennen und innerlich ausfi ndig machen, dass es Einem peinlich wird, von ihnen gegen Andere zu reden : man fürchtet mit jedem Worte indiscret zu sein. – Ich könnte mir ein plötzliches Stummwerden des weisesten Historikers denken. 458. D a s g r o s s e L o o s . – Das ist etwas sehr Seltenes, aber ein Ding zum Entzücken : der Mensch nämlich mit schön gestaltetem Intellecte, welcher den Charakter, die Neigungen und auc h d ie E rleb n i s s e hat, die zu einem solchen Intellecte gehören. |

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459. D i e G r o s s mü t h i g k e it d e s D e n k e r s .  – Rousseau und Schopenhauer – Beide waren stolz genug, ihrem Dasein den Wahlspruch aufzuschreiben : vitam impendere vero. Und Beide wiederum  – was mögen sie in ihrem Stolze gelitten haben, dass es ihnen nicht gelingen wollte, verum impendere vitae ! – verum, wie es jeder von ihnen verstand –, dass ihr Leben neben ihrer Erkenntniss nebenherlief wie ein launischer Bass, der zur Melodie nicht stimmen will ! – Aber es stünde schlimm um die Erkenntniss‚ wenn sie jedem Denker nur in dem Maasse zugemessen würde, als sie ihm gerade auf den Leib passt ! Und es stünde schlimm um die Denker, wenn ihre Eitelkeit so gross wäre, dass sie diess allein ertrügen ! Gerade darin glänzt die schönste Tugend des grossen Denkers : die Grossmüthigkeit, dass er als Erkennender sich selber und sein Leben unverzagt‚ oftmals beschämt‚ oftmals mit erhabenem Spotte und lächelnd – zum Opfer bringt. 460. S e i ne g e f ä h rl ic he n St u nd e n au s nüt z e n . – Man lernt einen Menschen und einen Zustand ganz anders kennen, wenn Gefahr um Hab und Gut, Ehre, Leben und Tod, für uns und unsere Liebsten, in jeder ihrer Bewegungen liegt : wie zum Beispiel Tiberius tiefer über das Innere des Kaisers Augustus und seines Regimentes nachgedacht und mehr davon gewusst haben muss, als dem weisesten Historiker es auch nur möglich wäre. Nun leben wir Alle vergleichungsweise in einer viel zu grossen Sicherheit, als dass wir gute Menschenkenner werden könnten : der Eine erkennt aus | Liebhaberei, der Andere aus Langerweile, der Dritte aus Gewohnheit ; niemals heisst es : „erkenne, oder geh’ zu Grunde !“ Solange sich uns die Wahrheiten nicht mit Messern in’s Fleisch schneiden, haben wir in uns einen geheimen Vorbehalt der Geringschätzung gegen sie : sie scheinen uns immer noch den „gefiederten

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Träumen“ zu ähnlich, wie als ob wir sie haben und auch nicht haben könnten, – als ob Etwas an ihnen in unserem Belieben stünde, als ob wir auch von diesen unseren Wahrheiten e r w ac he n könnten ! 461. H ic R hodus, h ic sa lta. – Unsere Musik, die sich in Alles verwandeln kann und verwandeln muss, weil sie, wie der Dämon des Meeres, an sich keinen Charakter hat : diese Musik ist ehemals dem c h r i s t l ic he n G e le h r t e n nachgegangen und hat dessen Ideal in Klänge zu übersetzen vermocht : warum sollte sie nicht endlich auch jenen helleren, freudigeren und allgemeinen Klang fi nden, der d e m id e a le n D e n k e r entspricht ? – eine Musik, die erst in den weiten schwebenden Wölbungen s e i ne r Seele sich he i m i s c h auf und nieder zu wiegen vermöchte ? – Unsere Musik war bisher so gross‚ so gut : bei ihr war kein Ding unmöglich ! So zeige sie denn, dass es möglich ist, diese Drei : Erhabenheit, tiefes und warmes Licht und die Wonne der höchsten Folgerichtigkeit auf Einmal zu empfi nden ! 462. L a n g s a m e C u r e n .  – Die chronischen Krankheiten der Seele entstehen wie die des Leibes, sehr selten nur durch einmalige grobe Vergehungen gegen die Vernunft von Leib und Seele, sondern gewöhnlich durch zahllose | unbemerkte kleine Nachlässigkeiten. – Wer zum Beispiel Tag für Tag um einen noch so unbedeutenden Grad zu schwach athmet und zu wenig Luft in die Lunge nimmt, sodass sie als Ganzes nicht hinreichend angestrengt und geübt wird, trägt endlich ein chronisches Lungenleiden davon : in einem solchen Falle kann die Heilung auf keinem anderen Wege erfolgen, als dass wiederum zahllose kleine Übungen des Gegentheils vorgenommen und unvermerkt andere Gewohnheiten gepflegt werden, zum Beispiel, wenn man sich zur Regel macht, alle Viertelstunden des Tages Einmal stark und tief aufzuathmen

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(womöglich platt am Boden liegend ; eine Uhr, welche die Viertelstunden schlägt, muss dabei zur Lebensgefährtin gewählt werden). L a n g s a m und kleinlich sind alle diese Curen ; auch wer seine Seele heilen will, soll über die Veränderung der kleinsten Gewohnheiten nachdenken. Mancher sagt zehnmal des Tages ein böses kaltes Wort an seine Umgebung und denkt sich Wenig dabei, namentlich nicht, dass nach einigen Jahren er ein G e s et z der Gewohnheit über sich geschaffen hat, welches ihn nunmehr nöt h i g t , zehnmal jedes Tages seine Umgebung zu verstimmen. Aber er kann sich auch daran gewöhnen, ihr zehnmal wohlzuthun ! – 463. A m s ieb e nt e n Ta g e. – „Ihr preist Jenes als mein S c h a ff e n ? Ich habe nur von mir hinweggethan, was mir lästig war ! Meine Seele ist über der Eitelkeit der Schaffenden erhaben. – Ihr preist Diess als meine R e s i g n at io n ? Ich habe nur von mir hinweggethan, was mir lästig war ! Meine Seele ist über der Eitelkeit der Resignirten erhaben.“ | 464. S c h a m d e s S c he n k e nd e n . – Es ist so ungrossmüthig, immer den Gebenden und Schenkenden zu machen und dabei sein Gesicht zu zeigen ! Aber geben und schenken und seinen Namen und seine Gunst verhehlen ! Oder keinen Namen haben, wie die Natur, in der uns eben Diess mehr als Alles erquickt‚ hier endlich einmal nicht mehr einem Schenkenden und Gebenden, nicht mehr einem „gnädigen Gesichte“ zu begegnen ! – Freilich, ihr verscherzt euch auch diese Erquickung, denn ihr habt einen Gott in diese Natur gesteckt – und nun ist wieder Alles unfrei und beklommen ! Wie ? Niemals mit sich allein sein dürfen ? Nie mehr unbewacht‚ unbehütet, ungegängelt, unbeschenkt ? Wenn immer ein Anderer um uns ist, so ist das Beste von Muth und Güte in der Welt unmöglich gemacht.

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Möchte man nicht gegen diese Zudringlichkeit des Himmels, gegen diesen unvermeidlichen übernatürlichen Nachbar ganz des Teufels werden ! – Aber es ist nicht nöthig, es war ja nur ein Traum ! Wachen wir auf ! 465. Bei ei ner Begeg nu ng. – A : Wohin blickst du ? Du stehst so lange schon still hier. – B : Immer das Alte und das Neue ! Die Hülfsbedürftigkeit einer Sache reisst mich so weit und so tief in sie hinein, dass ich endlich ihr dabei auf den Grund komme und einsehe, dass sie nicht gar so viel werth ist. Am Ende aller solcher Erfahrungen steht eine Art Trauer und Starrheit. Diess erlebe ich alle Tage im Kleinen zu dreien Malen. | 466. Ve rlu s t i m R u h me. – Welcher Vorzug, als ein Unbekannter zu den Menschen reden zu dürfen ! „Die Hälfte unserer Tugend“ nehmen uns die Götter, wenn sie uns das Incognito nehmen und uns berühmt machen. 467. Zwe i m a l G e d u ld ! – „Damit machst du vielen Menschen Schmerz.“ – Ich weiss es ; und weiss auch diess‚ dass ich doppelt dafür leiden muss, einmal durch Mitleid an ihrem Leide und dann durch die Rache, die sie an mir nehmen werden. Aber trotzdem ist es nicht weniger nöthig‚ so zu thun‚ wie ich thue. 468. Das Reic h der Sc hön heit i st g rösser. – Wie wir in der Natur herumgehen, listig und froh, um die Allem eigene Schönheit zu entdecken und gleichsam auf der That zu ertappen, wie wir bald bei Sonnenschein, bald bei gewitterhaftem Himmel, bald in der bleichsten Dämmerung einen Versuch machen, jenes Stück Küste mit Felsen, Meerbuchten, Ölbäumen und Pinien so zu sehen, wie es zu seiner Vollkommenheit und

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Meisterschaft kommt : so sollten wir auch unter den Menschen umhergehen, als ihre Entdecker und Ausspäher, Gutes und Böses ihnen erweisend, damit die ihnen eigene Schönheit sich offenbare, welche bei Diesem sonnenhaft, bei Jenem gewitterhaft und bei einem Dritten erst in der halben Nacht und bei Regenhimmel sich entfaltet. Ist es denn verboten, den b ö s e n Menschen als eine wilde Landschaft zu g e n ie s s e n , die ihre eigenen kühnen Linien und Lichtwirkungen hat, wenn | der selbe Mensch, solange er sich gut und gesetzlich stellt, unserm Auge wie eine Verzeichnung und Carricatur erscheint und als ein Flecken in der Natur uns Pein macht ? – Ja, es ist verboten : bisher war es nur erlaubt, im Mor a l i s c h - G ut e n nach Schönheit zu suchen, – Grund genug, dass man so Wenig gefunden und sich so viel nach imaginären Schönheiten ohne Knochen hat umthun müssen ! – So gewiss es hundert Arten von Glück bei den Bösen giebt, von denen die Tugendhaften Nichts ahnen, so giebt es an ihnen auch hundert Arten von Schönheit : und viele sind noch nicht entdeckt. 469. Die Unmensch l ich keit des Weisen. – Bei dem schweren, Alles zermalmenden Gange des Weisen, welcher, nach dem buddhistischen Liede, „einsam wandelt wie das Rhinozeros“, – bedarf es von Zeit zu Zeit der Zeichen einer versöhnlichen und gemilderten Menschlichkeit : und zwar nicht nur jener schnelleren Schritte, jener artigen und geselligen Wendungen des Geistes, nicht nur des Witzes und einer gewissen Selbstverspottung, sondern selbst der Widersprüche, der gelegentlichen Rückfälle in die herrschende Ungereimtheit. Damit er nicht der Walze gleiche, welche wie das Verhängniss daherrollt, muss der Weise, der lehren will, seine Fe h le r zu seiner Beschönigung gebrauchen, und indem er sagt „verachtet mich !“, bittet er um die Gunst, der Fürsprecher einer anmaasslichen Wahrheit zu sein. Er will euch in’s Gebirge

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führen, er wird euer Leben vielleicht in Gefahr bringen : dafür überlässt er es euch willig, vorher und nachher, an einem solchen Führer Rache zu nehmen, – es ist der Preis, um den er sich | selber den Genuss macht, vor a n z u g e he n . – Gedenkt ihr dessen, was euch durch den Sinn gieng, als er euch einmal durch eine fi nstere Höhle auf schlüpfrigen Wegen geleitete ? Wie euer Herz, klopfend und missmuthig, sich sagte : „dieser Führer da könnte Besseres thun, als hier herumzukriechen ! Er gehört zu einer neugierigen Art von Müssiggängern : – ist es nicht schon zu viel Ehre für ihn, dass wir ihm überhaupt einen Werth zuzuerkennen scheinen, indem wir ihm f ol g e n ?“ 470. A m Gast ma h le Vieler. – Wie glücklich ist man, wenn man so genährt wird, wie die Vögel, aus der Hand Eines, der den Vögeln ausstreut, ohne sie genauer anzusehen und auf ihre Würdigkeit zu prüfen ! Zu leben als ein Vogel, der kommt und fortfl iegt und keinen Namen im Schnabel trägt ! So am Gastmahle Vieler mich zu sättigen, ist meine Freude. 471. E i ne a nd e r e Näc h s t e n l ieb e. – Das aufgeregte, lärmende, ungleiche, nervöse Wesen macht den Gegensatz zur g r o s s e n L e id e n s c h a f t : diese, wie eine stille düstere Gluth im Innern wohnend und dort alles Heisse und Hitzige sammelnd, lässt den Menschen nach Aussen hin kalt und gleichgültig blicken und drückt den Zügen eine gewisse Impassibilität auf. Solche Menschen sind gelegentlich wohl der Näc h s t e n l ieb e fähig,  – aber sie ist anderer Art, als die der Geselligen und Gefallsüchtigen : es ist eine milde, betrachtsame, gelassene Freundlichkeit ; sie blicken gleichsam aus den Fenstern ihrer Burg hinaus, die ihre Festung und eben dadurch ihr | Gefängniss ist : – der Blick in’s Fremde, Freie, in d a s A nd e r e thut ihnen so wohl !

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472. Sic h n ic ht r ec ht f e r t i g e n . – A : Aber warum willst du dich nicht rechtfertigen ? – B : Ich könnte es, hierin und in hundert Dingen, aber ich verachte das Vergnügen, das in der Rechtfertigung liegt : denn diese Dinge sind für mich nicht gross genug, und lieber will ich Flecken an mir tragen, als jenen Kleinlichen zu ihrer hämischen Freude zu verhelfen, dass sie sagen könnten : „er nimmt diese Dinge doch sehr wichtig !“ Diess ist eben nicht wahr ! Vielleicht müsste mir noch mehr an mir selber gelegen sein, um eine Pfl icht zu haben, fehlerhafte Vorstellungen über mich zu berichtigen ;  – ich bin zu gleichgültig und träge gegen mich und so auch gegen Das, was durch mich gewirkt wird. 473. Wo man sei n Haus bauen sol l. – Wenn du in der Einsamkeit dich gross und fruchtbar fühlst, so wird dich die Geselligkeit verkleinern und veröden : und umgekehrt. Machtvolle Milde, wie die eines Vaters :  – wo diese Stimmung dich ergreift, da gründe dein Haus, sei es nun im Gewühl oder in der Stille. Ubi pater sum, ibi patria. 474. D ie e i n z i g e n We g e. – „Dialektik ist der einzige Weg, um zu den göttlichen Wesen und hinter den Schleier der Erscheinung zu gelangen“  – diess behauptet Plato ebenso feierlich und leidenschaftlich, als es Schopenhauer von dem Gegensatze der Dialektik behauptet,  – und Beide haben Unrecht. Denn es | g iebt Das gar nicht, zu dem hin sie einen Weg uns zeigen wollen. – Und waren nicht alle grossen Leidenschaften der Menschheit bisher solche Leidenschaften für ein Nichts ? Und alle ihre Feierlichkeiten – Feierlichkeiten um ein Nichts ?

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475. S c hwe r we r d e n .  – Ihr kennt ihn nicht : er kann viel Gewichte an sich hängen, er nimmt sie doch alle mit in die Höhe. Und ihr schliesst, nach eurem kleinen Flügelschlage‚ er wolle u nt e n bleiben, we i l er diese Gewichte an sich hänge ! 476. A m E r nt e f e s t e d e s G e i s t e s . – Das häuft sich von Tag zu Tage und quillt auf, Erfahrungen, Erlebnisse, Gedanken über sie und Träume über diese Gedanken, – ein unermesslicher, entzückender Reichthum ! Sein Anblick macht Schwindeln ; ich begreife nicht mehr, wie man die Geistig-Armen s e l i g preisen kann ! – Aber ich beneide sie mitunter, dann, wenn ich müde bin : denn die Ve r wa lt u n g eines solchen Reichthumes ist eine schwere Sache, und ihre Schwere erdrückt nicht selten alles Glück. – Ja, wenn es genügte, ihn nur anzublicken ! Wenn man nur der Geizhals seiner Erkenntnisse wäre ! 477. Vo n d e r S k e p s i s e rlö s t . – A : „Andre kommen misslaunig und schwach, zernagt, wurmstichig, ja halb zerfressen aus einer allgemeinen moralischen Skepsis heraus, – ich aber muthiger und gesünder als je, mit wiedererworbenen Instincten. Wo scharfer Wind weht, die See hoch geht und keine kleine Gefahr zu bestehen | ist, da wird mir wohl. Zum Wurm bin ich nicht geworden, ob ich gleich oftmals wie ein Wurm habe arbeiten und graben müssen.“ – B : Du hast eben au f g e hör t , Skeptiker zu sein ! Denn du ve r ne i n s t ! – A : „Und damit habe ich wieder Ja-sagen gelernt.“ 478. G e he n w i r vor ü b e r ! – Schont ihn ! Lasst ihn in seiner Einsamkeit ! Wollt ihr ihn ganz zerbrechen ? Er hat einen Sprung bekommen, wie ein Glas, in das sich plötzlich etwas zu Heisses ergoss, – und er war ein so kostbares Glas !

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479. L ieb e u n d Wa h r h a f t i g k e it .  – Wir sind aus Liebe arge Verbrecher an der Wahrheit und gewohnte Hehler und Stehler, welche mehr wahr sein lassen, als uns wahr scheint,  – desshalb muss der Denker immer wieder von Zeit zu Zeit die Personen, welche er liebt (es werden nicht gerade die sein, welche ihn lieben), in die Flucht jagen, damit sie ihren Stachel und ihre Bosheit zeigen und aufhören, ihn zu ve r f ü h r e n . Demnach wird die Güte des Denkers ihren ab- und zunehmenden Mond haben. 480. Unve r m e i d l i c h .  – Erlebt, was ihr wollt : wer euch nicht wohl will, sieht in eurem Erlebniss einen Anlass, euch zu verkleinern ! Erfahrt die tiefsten Umwälzungen des Gemüths und der Erkenntniss und gelangt endlich wie ein Genesender mit schmerzlichem Lächeln hinaus in Freiheit und lichte Stille : – es wird doch Einer sagen „Der da hält seine Krankheit für ein Argument, seine Ohnmacht für den Beweis der Ohn|macht Aller ; er ist eitel genug, um krank zu werden, damit er das Übergewicht des Leidenden fühle.“ – Und gesetzt, dass Jemand seine eignen Fesseln sprengt und sich dabei tief verwundet : so wird ein Andrer mit Spott darauf hinzeigen. „Wie gross ist doch seine Ungeschicklichkeit !“ wird er sagen ; „So muss es einem Menschen ergehen, der an seine Fesseln gewöhnt ist und Narr genug ist, sie zu zerreissen !“ 481. Zwei Deut sc he. – Vergleicht man Kant und Schopenhauer mit Plato, Spinoza, Pascal, Rousseau, Goethe in Absehung auf ihre Seele und nicht auf ihren Geist : so sind die erstgenannten Denker im Nachtheil : ihre Gedanken machen nicht eine leidenschaftliche Seelen-Geschichte aus, es giebt da keinen Roman, keine Krisen, Katastrophen und Todesstunden zu errathen, ihr Denken ist nicht zugleich eine unwillkür-

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liche Biographie einer Seele, sondern, im Falle Kant’s, eines K o p f e s , im Falle Schopenhauer’s, die Beschreibung und Spiegelung eines C h a r a k t e r s („des unveränderlichen“) und die Freude am „Spiegel“ selber, das heisst an einem vorzüglichen Intellecte. Kant erscheint, wenn er durch seine Gedanken hindurchschimmert, als wacker und ehrenwerth im besten Sinne, aber als unbedeutend : es fehlt ihm an Breite und Macht ; er hat nicht zu viel erlebt, und seine Art, zu arbeiten, nimmt ihm die Z e it , Etwas zu erleben, – ich denke, wie billig, nicht an grobe „Ereignisse“ von Aussen, sondern an die Schicksale und Zuckungen, denen das einsamste und stillste Leben verfällt, welches Musse hat und in der Leidenschaft des Denkens verbrennt. Schopenhauer hat einen | Vorsprung vor ihm : er besitzt wenigstens eine gewisse he f t i g e H ä s s l ic h k e it der Natur, in Hass, Begierde, Eitelkeit, Misstrauen, er ist etwas wilder angelegt und hatte Zeit und Musse für diese Wildheit. Aber ihm fehlte die „Entwickelung“ : wie sie in seinem Gedankenumkreise fehlte ; er hatte keine „Geschichte“. 482. Sei nen Umg a n g s uc hen. – Suchen wir denn zu viel, wenn wir den Umgang von Männern suchen, welche mild, wohlschmeckend und nahrhaft geworden sind wie Kastanien, die man zur rechten Zeit in’s Feuer gelegt und aus dem Feuer genommen hat ? Welche Weniges vom Leben erwarten, und dieses lieber als geschenkt, und nicht als verdient, annehmen, wie als ob die Vögel und die Bienen es ihnen gebracht hätten ? Welche zu stolz sind, um sich je belohnt fühlen zu können ? Und zu ernst in ihrer Leidenschaft der Erkenntniss und der Redlichkeit, als dass sie noch Zeit und Gefälligkeit für den Ruhm hätten ? – Solche Männer würden wir Philosophen nennen ; und sie selber werden immer noch einen bescheideneren Namen fi nden.

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483. Ü berd r uss am Menschen. – A : Erkenne ! Ja ! Aber immer als Mensch ! Wie ? Immer vor der gleichen Komödie sitzen, in der gleichen Komödie spielen ? Niemals aus anderen, als aus d ie s e n Augen in die Dinge sehen können ? Und welche unzählbaren Arten von Wesen mag es geben, deren Organe besser zur Erkenntniss taugen ! Was wird am Ende aller ihrer Erkenntniss die Menschheit erkannt haben ? – ihre Organe ! | Und das heisst vielleicht : die Unmöglichkeit der Erkenntniss ! Jammer und Ekel ! – B : Das ist ein böser Anfall, – d ie Ve r nu n f t fällt dich an ! Aber morgen wirst du wieder mitten im Erkennen sein und damit auch mitten in der Unvernunft, will sagen : in der Lu s t am Menschlichen. Gehen wir an’s Meer ! – 484. Der ei g ene Weg. – Wenn wir den entscheidenden Schritt thun und den Weg antreten, welchen man den „eigenen Weg“ nennt : so enthüllt sich uns plötzlich ein Geheimniss : wer auch alles mit uns freund und vertraut war, – Alle haben sich bisher eine Überlegenheit über uns eingebildet und sind beleidigt. Die Besten von ihnen sind nachsichtig und warten geduldig, dass wir den „rechten Weg“ – sie wissen ihn ja ! – schon wieder fi nden werden. Die Anderen spotten und thun, als sei man vorübergehend närrisch geworden oder bezeichnen hämisch einen Verführer. Die Böseren erklären uns für eitle Narren und suchen unsere Motive zu schwärzen, und der Schlimmste sieht in uns seinen schlimmsten Feind, einen, den nach Rache für eine lange Abhängigkeit dürstet, – und fürchtet sich vor uns. – Was also thun ? Ich rathe : seine Souveränität damit anfangen, dass man für ein Jahr voraus allen uns Bekannten für Sünden jeder Art Amnestie zusichert.

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485. Fer ne Perspect iven. – A : Aber warum diese Einsamkeit ? – B : Ich zürne Niemandem. Aber allein scheine ich meine Freunde deutlicher und schöner zu sehen, als zusammen mit ihnen ; und als ich die Musik | am meisten liebte und empfand, lebte ich ferne von ihr. Es scheint, ich brauche die fernen Perspectiven, um gut von den Dingen zu denken. 486. G old u nd Hu n g e r. – Hier und da giebt es einen Menschen, der Alles, was er berührt, in Gold verwandelt. Eines guten bösen Tages wird er entdecken, dass er selber dabei verhungern muss. Er hat Alles glänzend, herrlich, idealisch-unnahbar um sich, und nun sehnt er sich nach Dingen, welche in Gold zu verwandeln i h m d u r c h au s u n m ö g l i c h ist  – und w i e sehnt er sich ! Wie ein Verhungernder nach Speise ! – Wonach wird er greifen ? 487. S c h a m . – Da steht das schöne Ross und scharrt den Boden, es schnaubt, es verlangt nach einem Ritte und liebt Den, der es sonst reitet, – aber oh Scham ! dieser kann sich heute nicht hinaufschwingen, er ist müde. – Diess ist die Scham des ermüdeten Denkers vor seiner eigenen Philosophie. 488. G eg en d ie Ver sc hwendu n g der L iebe. – Erröthen wir nicht, wenn wir uns auf einer heftigen Abneigung ertappen ? Aber wir sollten es auch bei heftigen Zuneigungen thun, der Ungerechtigkeit wegen, die auch in ihnen liegt ! Ja, noch mehr : es giebt Menschen, die sich wie eingeengt und geschnürten Herzens fühlen, wenn Jemand ihnen seine Zuneigung nur s o zu Gute kommen lässt, dass er damit Anderen Etwas von Zuneigung e nt z ie ht . Wenn wir es der Stimme anhören, | dass wir ausgewählt, vorgezogen werden ! Ach, ich bin nicht dank-

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bar für dieses Auswählen, ich merke, dass ich es Dem nachtrage, der mich so auszeichnen will : er soll mich nicht auf Un k o s t e n der Anderen lieben ! Will ich doch schon zusehen, mit mir mich selber zu ertragen ! Und oft habe ich noch das Herz voll und Grund zu Übermuth, – einem Solchen, der Solches hat, soll man Nichts bringen, was A nd e r e nöthig, bitter nöthig haben ! 489. Freu nde i n der Not h. – Mitunter merken wir, dass einer unserer Freunde mehr zu einem Andern, als zu uns gehört, dass sein Zartsinn sich bei dieser Entscheidung quält und seine Selbstsucht dieser Entscheidung nicht gewachsen ist : da müssen wir es ihm erleichtern und ihn von uns f or t b e le id i g e n . – Diess ist ebenfalls da nöthig, wo wir in eine Art zu denken übergehen, welche ihm verderblich sein würde : unsere Liebe zu ihm muss uns treiben, durch ein Unrecht, das wir auf uns nehmen, ihm ein gutes Gewissen zu seiner Lossagung von uns zu schaffen. 490. D ie s e k le i ne n Wa h rhe it e n ! – „Ihr kennt diess Alles, aber ihr habt es nie erlebt,  – ich nehme euer Zeugniss nicht an. Diese „kleinen Wahrheiten“ !  – sie dünken euch klein, weil ihr sie nicht mit eurem Blute bezahlt habt !“ – Aber sind sie denn gross, desshalb, weil man Zuv ie l dafür bezahlt hat ? Und Blut ist immer ein Zuviel ! – „Glaubt ihr ? Was ihr geizig mit Blute seid !“ | 491. Auc h d e s s h a l b E i n s a m k e it ! – A : So willst du wieder in deine Wüste zurück ? – B : Ich bin nicht schnell, ich muss auf mich warten, – es wird spät, bis jedesmal das Wasser aus dem Brunnen meines Selbst an’s Licht kommt, und oft muss ich länger Durst leiden, als ich Geduld habe. Desshalb gehe ich in die Einsamkeit, – um nicht aus den Cisternen für Jedermann

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zu trinken. Unter Vielen lebe ich wie Viele und denke nicht wie ich ; nach einiger Zeit ist es mir dann immer, als wolle man mich aus mir verbannen und mir die Seele rauben – und ich werde böse auf Jedermann und fürchte Jedermann. Die Wüste thut mir dann noth, um wieder gut zu werden. 492. Unter den Südw i nden. – A : „Ich verstehe mich nicht mehr ! Gestern noch war es in mir so stürmisch und dabei so warm, so sonnig  – und hell bis zum Äussersten. Und heute ! Alles ist nun ruhig, weit, schwermüthig, dunkel, wie die Lagune von Venedig : – ich will Nichts und athme tief auf dabei und doch bin ich [mir] insgeheim unwillig über diess Nichts-Wollen : – so plätschern die Wellen hin und her, im See meiner Melancholie. – B : Du beschreibst da eine kleine angenehme Krankheit. Der nächste Nordostwind wird sie von dir nehmen! – A : Warum doch ! 493. Auf dem eigenen Baume. – A : „Ich habe bei den Gedanken keines Denkers so viel Vergnügen, wie bei den eigenen : das sagt freilich Nichts über ihren | Werth, aber ich müsste ein Narr sein, um die für mich schmackhaftesten Früchte zurückzusetzen, weil sie zufällig auf me i ne m Baume wachsen ! – Und ich war einmal dieser Narr.“ – B : „Andern geht es umgekehrt : und auch diess sagt Nichts über den Werth ihrer Gedanken, namentlich noch Nichts gegen ihren Werth.“ 494. Let ztes A rg ument des Tapferen. – „In diesem Gebüsche sind Schlangen.“ – Gut, ich werde in das Gebüsch gehen und sie tödten. – „Aber vielleicht wirst du dabei das Opfer, und sie werden nicht einmal das deine !“ – Was liegt an mir !

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495. Un s e r e L e h r e r. – In der Jugend nimmt man seine Lehrer und Wegweiser aus der Gegenwart und aus den Kreisen, auf welche wir gerade stossen : wir haben die gedankenlose Zuversicht, dass die Gegenwart Lehrer haben müsse, die für uns mehr, als für jeden Anderen taugen und dass wir sie fi nden müssen, ohne viel zu suchen. Für diese Kinderei muss man später hartes Lösegeld zahlen : m a n mu s s s e i ne L e h r e r a n s ic h a b bü s s e n . Dann geht man wohl nach den rechten Wegweisern suchen in der ganzen Welt herum, die Vorwelt eingerechnet, – aber es ist vielleicht zu spät. Und schlimmsten Falles entdecken wir, dass sie lebten, als wir jung waren – und dass wir uns damals vergriffen haben. 496. Das böse Pr i ncip. – Plato hat es prachtvoll beschrieben, wie der philosophische Denker inmitten jeder bestehenden Gesellschaft als der Ausbund aller Ruch|losigkeit gelten muss : denn als Kritiker aller Sitten ist er der Gegensatz des sittlichen Menschen, und wenn er es nicht so weit bringt, der Gesetzgeber neuer Sitten zu werden, so bleibt er in der Erinnerung der Menschen zurück als „das böse Princip“. Wir dürfen hieraus errathen, wie die ziemlich freisinnige und neuerungssüchtige Stadt Athen dem Rufe Plato’s bei seinen Lebzeiten mitgespielt hat : was Wunders, dass er – der, wie er selber sagt, den „politischen Trieb“ im Leibe hatte, – dreimal einen Versuch in Sicilien gemacht hat, wo sich damals gerade ein gesammtgriechischer Mittelmeer-Staat vorzubereiten schien ? In ihm und mit seiner Hülfe gedachte Plato für alle Griechen Das zu thun, was Muhammed später für seine Araber that : die grossen und kleinen Bräuche und namentlich die tägliche Lebensweise von Jedermann festzusetzen. Mög l ic h waren seine Gedanken, so gewiss die des Muhammed möglich waren : sind doch viel unglaublichere, die des Christenthums,

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als möglich bewiesen worden ! Ein paar Zufälle weniger und ein paar andere Zufälle mehr – und die Welt hätte die Platonisirung des europäischen Südens erlebt ; und gesetzt, dieser Zustand dauerte jetzt noch fort, so würde muthmaasslich in Plato das „gute Princip“ von uns verehrt werden. Aber der Erfolg fehlte ihm : und so blieb ihm der Ruf eines Phantasten und Utopisten, – die härteren Namen sind mit dem alten Athen zu Grunde gegangen. 497. Das rei nmachende Auge.  – Von „Genius“ wäre am ehesten bei solchen Menschen zu reden, wo der Geist, wie bei Plato, Spinoza und Goethe, an den Charakter und | das Temperament nur lo s e a n g e k nü pf t erscheint, als ein beflügeltes Wesen, das sich von jenen leicht trennen und sich dann weit über sie erheben kann. Dagegen haben gerade Solche am lebhaftesten von ihrem „Genius“ gesprochen, welche von ihrem Temperamente n ie lo s k a me n und ihm den geistigsten, grössten‚ allgemeinsten, ja unter Umständen kosmischen Ausdruck zu geben wussten (wie zum Beispiel Schopenhauer). Diese Genie’s konnten nicht über sich hinausfl iegen, aber sie glaubten s ic h vorzufi nden, wiederzufi nden, wohin sie auch nur flogen, – das ist i h r e „Grösse“, und k a n n Grösse sein ! – Die Anderen, welchen der Name eigentlicher zukommt, haben das r e i ne, r e i n m ac he nd e Au g e, das nicht aus ihrem Temperament und Charakter gewachsen scheint, sondern frei von ihnen und meist in einem milden Widerspruch gegen sie auf die Welt wie auf einen Gott blickt und diesen Gott liebt. Auch ihnen ist aber dieses Auge nicht mit Einem Male geschenkt : es giebt eine Übung und Vorschule des Sehens, und wer rechtes Glück hat, fi ndet zur rechten Zeit auch einen Lehrer des reinen Sehens. 498. Nicht forder n ! – Ihr kennt ihn nicht ! Ja, er unter w ir f t sich leicht und frei den Menschen und den Dingen, und ist gütig

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gegen Beide ; seine einzige Bitte ist, in Ruhe gelassen zu werden, – aber nur s ol a n g e Menschen und Dinge nicht Unterwerfung f or d e r n . Alles Fordern macht ihn stolz, scheu und kriegerisch. | 499. D e r B ö s e. – „Nur der Einsame ist böse,“ rief Diderot : und sogleich fühlte sich Rousseau tödtlich verletzt. Folglich gestand er sich zu, dass Diderot Recht habe. In der That hat jeder böse Hang inmitten der Gesellschaft und Geselligkeit so viel Zwang sich anzuthun, so viel Larven vorzunehmen, so oft sich selbst in das Prokrustes-Bett der Tugend zu legen, dass man recht wohl von einem Märtyrerthum des Bösen reden könnte. In der Einsamkeit fällt diess Alles dahin. Wer böse ist, ist es am meisten in der Einsamkeit : auch am besten – und folglich für das Auge Dessen, der überall nur ein Schauspiel sieht, auch am schönsten. 500. W id e r d e n St r ic h . – Ein Denker kann sich Jahre lang zwingen, wider den Strich zu denken : ich meine, nicht den Gedanken zu folgen, die sich ihm von Innen her anbieten, sondern denen, zu welchen ein Amt, eine vorgeschriebene Zeiteintheilung, eine willkürliche Art von Fleiss ihn zu verpfl ichten scheinen. Endlich aber wird er krank : denn diese anscheinend moralische Überwindung verdirbt seine Nervenkraft ebenso gründlich, wie es nur eine zur Regel gemachte Ausschweifung thun könnte. 501. S t e r bl i c h e S e e le n !  – In Betreff der Erkenntniss ist vielleicht die nützlichste Errungenschaft : dass der Glaube an die unsterbliche Seele aufgegeben ist. Jetzt darf die Menschheit warten, jetzt hat sie nicht mehr nöthig‚ sich zu überstürzen und halbgeprüfte | Gedanken hinunterzuwürgen, wie sie ehedem musste. Denn damals hieng das Heil der armen „ewigen Seele“ von ihren Erkenntnissen während des kurzen Lebens

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ab, sie musste sich von heut zu morgen e nt s c he id e n , – die „Erkenntniss“ hatte eine entsetzliche Wichtigkeit ! Wir haben den guten Muth zum Irren, Versuchen, Vorläufig-nehmen wieder erobert – es ist Alles nicht so wichtig ! – und gerade desshalb können Individuen und Geschlechter jetzt Aufgaben von einer Grossartigkeit in’s Auge fassen, welche früheren Zeiten als Wahnsinn und Spiel mit Himmel und Hölle erschienen sein würden. Wir dürfen mit uns selber experimentiren ! Ja die Menschheit darf es mit sich ! Die grössten Opfer sind der Erkenntniss noch nicht gebracht worden, – ja, es wäre früher Gotteslästerung und Preisgeben des ewigen Heils gewesen, solche Gedanken auch nur zu a h ne n , wie sie unserem Thun jetzt voranlaufen. 502. Ei n Wor t f ür d rei versch iedene Zustä nde. – In der Leidenschaft bricht bei Diesem das wilde, scheussliche, unausstehliche Thier hervor ; Jener erhebt sich durch sie in eine Höhe und Grösse und Pracht der Gebärde, gegen die sein sonstiges Sein dürftig erscheint. Ein Dritter, durch und durch veredelt, hat auch den edelsten Sturm und Drang, er ist in diesem Zustande die w i ld s c hö ne Nat u r und nur um einen Grad t ie f e r, als die grosse ruhig-schöne Natur, welche er für gewöhnlich darstellt : aber von den Menschen wird er in der Leidenschaft mehr begriffen und gerade dieser Momente wegen mehr verehrt, – er ist ihnen da einen Schritt näher und verwandter. Sie empfi nden Entzücken | und Entsetzen bei einem solchen Anblick und nennen ihn g e r a d e d a : göttlich. 503. Fr eu nd s c h a f t . – Jener Einwand gegen das philosophische Leben, dass man mit ihm seinen Freunden u n nü t z l i c h werde, wäre nie einem Modernen gekommen : er ist antik. Das Alter thum hat die Freundschaft tief und stark ausgelebt,

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ausgedacht und fast mit sich in’s Grab gelegt. Diess ist sein Vorsprung vor uns : dagegen haben wir die idealisirte Geschlechtsliebe aufzuweisen. Alle grossen Tüchtigkeiten der antiken Menschen hatten darin ihren Halt, dass M a n n ne b e n M a n n stand, und dass nicht ein Weib den Anspruch erheben durfte, das Nächste, Höchste, ja Einzige seiner Liebe zu sein, – wie die Passion zu empfi nden lehrt. Vielleicht wachsen unsere Bäume nicht so hoch, wegen des Epheu’s und der Weinreben daran. 504. Ve r s öh ne n !  – Sollte es denn die Aufgabe der Philosophie sein, zwischen dem, was das K i nd gelernt und der M a n n erkannt hat, zu ve r s öh ne n ? Sollte die Philosophie gerade die Aufgabe der Jünglinge sein, weil diese in der Mitte zwischen Kind und Mann stehen und das mittlere Bedürfniss haben ? Fast will es so scheinen, wenn man erwägt, in welchen Lebensaltern die Philosophen jetzt ihre Conception zu machen pflegen : dann, wenn es zum Glauben zu spät und zum Wissen noch zu früh ist. 505. D i e P r a k t i s c h e n .  – Wir Denker haben den Wo h l g e s c h m a c k aller Dinge erst festzustellen und nöthigen|falls ihn zu decretiren. Die praktischen Leute nehmen ihn endlich von uns an, ihre Abhängigkeit von uns ist unglaublich gross und das lächerlichste Schauspiel der Welt, so wenig sie um dieselbe wissen und so stolz sie über uns Unpraktische hinwegzureden lieben : ja sie würden ihr praktisches Leben geringschätzen, wenn wir es geringschätzen wollten : – wozu uns hier und da ein kleines Rachegelüst reizen könnte. 506. D ie nöt h i g e Au s t r o c k nu n g a l le s Gut e n . – Wie ! Man müsse ein Werk gerade so auffassen, wie die Zeit, die es hervorbrachte ? Aber man hat mehr Freude, mehr Erstaunen und

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auch mehr zu lernen daran, wenn man es gerade nicht so auffasst ! Habt ihr nicht gemerkt, dass jedes neue gute Werk, so lange es in der feuchten Luft seiner Zeit liegt, seinen mindesten Werth besitzt, – gerade weil es so sehr noch den Geruch des Marktes und der Gegnerschaft und der neuesten Meinungen und alles Vergänglichen zwischen heut und morgen an sich trägt ? Später trocknet es aus, seine „Zeitlichkeit“ stirbt ab – und dann erst bekommt es seinen tiefen Glanz und Wohlgeruch, ja, wenn es darnach ist, sein stilles Auge der Ewigkeit. 507. Gegen d ie Ty ra n nei des Wa h ren. – Selbst wenn wir so toll wären, alle unsere Meinungen für wahr zu halten, so würden wir doch nicht wollen, dass sie allein existirten  – : ich wüsste nicht, warum die Alleinherrschaft und Allmacht der Wahrheit zu wünschen wäre ; mir genügte schon, dass sie eine g r o s s e M ac ht habe. Aber sie muss k ä m pf e n können und eine Gegner|schaft haben, und man muss sich von ihr im Unwahren ab und zu e r hole n können, – sonst wird sie uns langweilig, kraft- und geschmacklos werden und uns eben dazu auch machen. 508. Nic ht pat het isc h neh men. – Das, was wir thun, um uns zu nüt z e n , soll uns keinen moralischen Lobspruch eintragen, weder von Anderen, noch von uns selber ; ebenso wenig Das, was wir thun, um uns an uns zu f r eue n . In solchen Fällen das Pathetisch-nehmen abweisen und sich selber alles Pathetischen enthalten, ist der g ute Ton bei allen höheren Menschen : und wer sich an ihn gewöhnt hat, dem ist die Na iv i tät wiedergeschenkt. 509. Da s d r it te Auge.  – Wie ! du bedarfst noch des Theaters ! Bist du noch so jung ? Werde klug und suche die Tragödie und Komödie dort, wo sie besser gespielt wird ! Wo es interessan-

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ter und interessirter zugeht ! Ja, es ist nicht ganz leicht, dabei eben nur Zuschauer zu bleiben, – aber lerne es ! Und fast in allen Lagen, die dir schwer und peinlich fallen, hast du dann ein Pförtchen zur Freude und eine Zuflucht, selbst noch, wenn deine eigenen Leidenschaften über dich herfallen. Mache dein Theater-Auge auf, das grosse dritte Auge, welches durch die zwei anderen in die Welt schaut ! 510. Sei nen Tu genden ent lau fen. – Was liegt an einem Denker, wenn er nicht gelegentlich seinen eigenen Tugenden zu entlaufen weiss ! Er soll ja „nicht nur ein moralisches Wesen“ sein ! | 511. Die Versucher i n. – Die Ehrlichkeit ist die grosse Versucherin aller Fanatiker. Was sich Luthern in Gestalt des Teufels oder eines schönen Weibes zu nahen schien und was er auf jene ungeschlachte Manier von sich abwehrte, war wohl die Ehrlichkeit und vielleicht, in seltneren Fällen, sogar die Wahrheit. 512. G e g e n d ie S ac he n mut h i g. – Wer seiner Natur nach gegen Personen rücksichtsvoll oder ängstlich ist, aber seinen Muth gegen die Sachen hat, scheut sich vor neuen und näheren Bekanntschaften und beschränkt seine alten : damit sein Incognito und seine Rücksichtslosigkeit in der Wahrheit zusammenwachsen. 513. S c h r a n k e u n d S c h ö n h e i t .  – Suchst du Menschen mit s c h ö n e r Cultur ? Aber dann musst du dir, wie wenn du schöne Gegenden suchst, auch b e s c h r ä n k t e Aussichten und Ansichten gefallen lassen. – Gewiss giebt es auch panoramatische Menschen, gewiss sind sie, wie die panoramatischen Gegenden, lehrreich und erstaunlich : aber nicht schön.

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514. A n d ie St ä r k e r e n . – Ihr stärkeren und hochmüthigen Geister, nur um Eins seid gebeten : legt uns Anderen keine neue Last auf, sondern nehmt Etwas von unserer Last auf euch, da ihr ja die Stärkeren seid ! Aber ihr macht es so gerne umgekehrt : denn i h r wollt fl iegen, und desshalb sollen wir auch noch eure Last zu unserer tragen : das heisst, w i r sollen kriechen ! | 515. Zu n a h me der Sc hön heit. – Warum nimmt die Schönheit mit der Civilisation zu ? Weil bei dem civilisirten Menschen die drei Gelegenheiten zur Hässlichkeit selten und immer seltener kommen : erstens die Affecte in ihren wildesten Ausbrüchen, zweitens die leiblichen Anstrengungen des äussersten Grades, drittens die Nöthigung, durch den Anblick Furcht einzuflössen, welche auf niederen und gefährdeten Culturstufen so gross und häufig ist, dass sie selbst Gebärden und Ceremoniell festsetzt und die Hässlichkeit zur P f l ic ht macht. 516. Sei nen Dä mon n ic ht i n d ie Näc h sten fa h ren lassen ! – Bleiben wir immerhin für unsere Zeit dabei, dass Wohlwollen und Wohlthun den guten Menschen ausmache ; nur lasst uns hinzufügen : „vorausgesetzt, dass er zuerst g e g e n s ic h s e lb e r wohlwollend und wohlthuend gesinnt sei !“ Denn oh ne D ie s e s – wenn er vor sich fl ieht, sich hasst, sich Schaden zufügt – ist er gewiss kein guter Mensch. Dann rettet er sich nur i n d ie A nd e r e n , vor sich selber : mögen diese Anderen zusehen, dass sie nicht schlimm dabei fahren, so wohl er ihnen anscheinend auch will ! – Aber gerade Diess : das ego fl iehen und hassen und im Anderen, für den Anderen leben – hat man bisher, ebenso gedankenlos als zuversichtlich, „u ne g oi s t i s c h “ u nd fol g l ic h „g ut“ geheissen !

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517. Zu r L ieb e ve r f ü h r e n . – Wer sich selber hasst, den haben wir zu fürchten, denn wir werden die Opfer | seines Grolls und seiner Rache sein. Sehen wir also zu, wie wir ihn zur Liebe zu sich selber verführen ! 518. R e s i g n at ion . – Was ist Ergebung ? Es ist die bequemste Lage eines Kranken, der sich lange unter Martern herumgeworfen hat, um sie zu f i nd e n , der dadurch mü d e w a r d  – und sie nun auch fand ! 519. Bet rogen werden. – Sobald ihr handeln wollt, müsst ihr die Thür zum Zweifel verschliessen‚  – sagte ein Handelnder.  – Und du fürchtest dich nicht, auf diese Weise d e r B et r og e ne zu werden ? – antwortete ein Beschaulicher. 520. D ie ew i g e To d t e n f e ie r. – Es könnte Jemand über die Geschichte weg eine fortgesetzte Grabrede zu hören glauben : man begrub und begräbt immer sein Liebstes, Gedanken und Hoff nungen, und erhielt und erhält Stolz dafür, gloria mundi, das heisst, den Pomp der Leichenrede. Damit soll Alles gut gemacht werden ! Und der Leichenredner ist immer noch der grösste öffentliche Wohlthäter ! 521. Au s n a h me - E it e l k e it . – Jener hat Eine hohe Eigenschaft, zu seinem Troste : über den Rest seines Wesens – es ist fast Alles Rest ! – gleitet sein Blick verächtlich hin. Aber er erholt sich von sich selber, wenn er wie zu seinem Heiligthume geht ; schon der Weg dahin dünkt ihm wie ein Aufsteigen auf breiten sanften Stufen : – und ihr Grausamen nennt ihn desshalb eitel ! |

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522. D ie We i s he it oh ne Oh r e n . – Täglich zu hören, was über uns gesprochen wird, oder gar zu ergrübeln, was über uns gedacht wird, – das vernichtet den stärksten Mann. Darum lassen uns ja die Anderen leben, um täglich über uns Recht zu behalten ! Sie würden uns ja nicht aushalten, wenn wir gegen sie Recht hätten oder gar h ab e n wol lt e n ! Kurz, bringen wir der allgemeinen Verträglichkeit das Opfer, horchen wir nicht hin, wenn über uns geredet, gelobt, getadelt, gewünscht, gehoff t wird, denken wir auch nicht einmal daran ! 523. H i nt e r f r a g e n . – Bei Allem, was ein Mensch sichtbar werden lässt, kann man fragen : was soll es verbergen ? Wovon soll es den Blick ablenken ? Welches Vorurtheil soll es erregen ? Und dann noch : bis wie weit geht die Feinheit dieser Verstellung ? Und worin vergreift er sich dabei ? 524. Eifersucht der Ei nsamen. – Zwischen geselligen und einsamen Naturen ist dieser Unterschied (vorausgesetzt, dass beide Geist haben !) : die ersteren werden zufrieden oder beinahe zufrieden mit einer Sache, welche sie auch sei, von dem Augenblicke an, da sie eine mittheilbare glückliche Wendung über dieselbe in ihrem Geiste gefunden haben, – das versöhnt sie mit dem Teufel selber ! Die Einsamen aber haben ihr stilles Entzücken, ihre stille Qual an einer Sache, sie hassen die geistreiche glänzende Ausstellung ihrer innersten Probleme, wie sie die allzugewählte Tracht an ihrer Geliebten | hassen : sie sehen dann melancholisch auf sie hin, wie als ob der Verdacht ihnen aufstiege, dass sie Anderen gefallen wolle ! Diess ist die Eifersucht aller einsamen Denker und leidenschaftlichen Träumer auf den esprit.

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525. W i r k u n g d e s L o b e s . – Die Einen werden durch grosses Lob schamhaft, die Anderen frech. 526. N ic ht S y m b ol s e i n wol le n . – Ich beklage die Fürsten : es ist ihnen nicht erlaubt, sich zeitweilig im Verkehre zu annulliren und so lernen sie die Menschen nur aus einer unbequemen Lage und Verstellung kennen ; der fortwährende Zwang, Etwas zu bedeuten, macht sie zuletzt thatsächlich zu feierlichen Nullen. – Und so geht es Allen, welche ihre Pfl icht darin sehen, Symbole zu sein. 527. D ie Ve r s t e c k t e n . – Habt ihr jene Menschen noch nicht gefunden, welche auch ihr entzücktes Herz festhalten und pressen und welche lieber stumm werden, als dass sie die Scham des Maasses verlören ?  – Und jene Unbequemen und oft so Gutartigen fandet ihr auch noch nicht, welche nicht erkannt werden wollen, und die ihre Fusstapfen im Sande immer wieder verwischen, ja die Betrüger sind, vor Anderen und vor sich, um verborgen zu bleiben ? 528. S e lt ne r e E nt h a lt s a m k e it . – Es ist oft kein geringes Zeichen von Humanität, einen Andern nicht beurtheilen zu wollen und sich zu weigern, über ihn zu denken. | 529. Wodu rc h Men sc hen u nd Völ ker Gla n z bekom men. – Wie viele ächte i nd i v id ue l le Handlungen werden desshalb u nt e rl a s s e n , weil man, bevor man sie thut, einsieht oder argwöhnt‚ dass sie missverstanden werden ! – also gerade jene Handlungen, welche überhaupt We r t h h a b e n , im Guten und Schlimmen. Je höher also eine Zeit, ein Volk die Indi-

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viduen achtet und je mehr man ihnen das Recht und Übergewicht zugesteht, um so mehr Handlungen jener Art werden sich an’s Licht wagen – und so breitet sich zuletzt ein Schimmer von Ehrlichkeit, von Ächtheit im Guten und Schlimmen über ganzen Zeiten und Völkern aus, dass sie, wie zum Beispiel die Griechen, nach ihrem Untergange noch Jahrtausende lang gleich manchen Sternen fortleuchten. 530. Um s c hwe i f e d e s D e n k e r s . – Bei Manchen ist der Gang ihres gesammten Denkens streng und unerbittlich kühn, ja, mitunter grausam gegen sich, aber im Einzelnen sind sie milde und beugsam ; sie drehen sich zehnmal um eine Sache, mit wohlwollendem Zögern, aber endlich gehen sie ihren strengen Weg weiter. Es sind Ströme mit vielen Krümmungen und abgeschiedenen Einsiedeleien ; es giebt Stellen in ihrem Laufe, wo der Strom mit sich selber Versteckens spielt und sich eine kurze Idylle macht, mit Inseln, Bäumen, Grotten und Wasserfällen : und dann zieht er wieder weiter, an Felsen vorüber und sich durch das härteste Gestein zwingend. | 531. Die Ku n st a nders empf i nden. – Von der Zeit an, wo man einsiedlerisch-gesellig, verzehrend und verzehrt, mit tiefen fruchtbaren Gedanken, und nur noch mit ihnen, lebt, will man von der Kunst entweder überhaupt Nichts mehr oder man will etwas ganz Anderes, als früher, – das heisst, man ändert seinen Geschmack. Denn früher wollte man durch die Thür der Kunst gerade in das Element auf einen Augenblick hineintauchen, in welchem man nun dauernd lebt ; damals träumte man sich damit in das Entzücken eines Besitzes, und nun besitzt man. Ja, vorübergehend wegwerfen, was man jetzt hat, und sich arm, als Kind, Bettler und Narr träumen – kann uns nunmehr gelegentlich entzücken.

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532. „Die Liebe mac ht g leic h.“ – Die Liebe will dem Andern, dem sie sich weiht, jedes Gefühl von Fr e md s e i n ersparen, sie ist folglich voller Verstellung und Anähnlichung, sie betrügt fortwährend und schauspielert eine Gleichheit, die es in Wahrheit nicht giebt. Und diess geschieht so instinctiv, dass liebende Frauen diese Verstellung und beständige zarteste Betrügerei ableugnen und kühn behaupten, die Liebe m ac he g le ic h (das heisst sie thue ein Wunder !). – Dieser Vorgang ist einfach, wenn die eine Person s ic h l ie b e n l ä s s t und es nicht nöthig fi ndet, sich zu verstellen, vielmehr diess der anderen, liebenden überlässt : aber nichts Verwickelteres und Undurchdringbareres von Schauspielerei giebt es, als wenn beide in der vollen Leidenschaft für einander sind und folglich Jeder sich aufgiebt und sich dem Anderen gleichstellen und ihm allein gleich|machen will : und keiner zuletzt mehr weiss, was er nachahmen, wozu er sich verstellen, als was er sich geben soll. Die schöne Tollheit dieses Schauspiels ist zu gut für diese Welt und zu fein für menschliche Augen. 533. W i r A n f ä n g e r ! – Was erräth und sieht ein Schauspieler Alles, wenn er einen anderen spielen sieht ! Er weiss es, wenn ein Muskel an einer Gebärde den Dienst versagt, er sondert jene kleinen, gemachten Dinge ab, welche einzeln und kaltblütig vor dem Spiegel eingeübt sind und nicht in’s Ganze hineinwachsen wollen, er fühlt es, wenn der Spieler von seiner eigenen Erfi ndung auf der Scene überrascht wird und wenn er sie in der Überraschung ve r d i r bt . – Wie anders wieder sieht ein Maler auf einen vor ihm sich bewegenden Menschen ! Er sieht namentlich sofort Vieles h i n z u , um das Gegenwärtige zu vervollständigen und zur ganzen Wirkung zu bringen ; er probirt im Geiste mehrere Beleuchtungen des selben Gegenstandes, er dividirt das Ganze der Wirkung durch einen Gegen-

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satz, den er hinzustellt. – Hätten wir doch erst das Auge dieses Schauspielers und dieses Malers für das Reich der menschlichen Seelen ! 534. D ie k le i n e n D o s e n .  – Soll eine Veränderung möglichst in die Tiefe gehen, so gebe man das Mittel in den kleinsten Dosen, aber unablässig auf weite Zeitstrecken hin ! Was ist Grosses auf Einmal zu schaffen ! So wollen wir uns hüten, den Zustand der Moral, an den wir gewöhnt sind, mit einer neuen Werthschätzung der Dinge Hals über Kopf und unter Gewaltsamkeiten | zu vertauschen, – nein, wir wollen in ihm noch lange, lange fortleben – bis wir, sehr spät vermuthlich, inne werden, dass d ie neue We r t h s c h ät z u n g in uns zur überwiegenden Gewalt geworden ist und dass die kleinen Dosen derselben, a n d ie w i r u n s vo n jet z t a b g ewöh ne n mü s s e n , eine neue Natur in uns gelegt haben. – Man fängt ja an, auch diess einzusehen, dass der letzte Versuch einer grossen Veränderung der Werthschätzungen, und zwar in Bezug auf die politischen Dinge, – die „grosse Revolution“ – nicht me h r war, als eine pathetische und blutige Q u ac k s a l b er e i , welche durch plötzliche Krisen dem gläubigen Europa die Hoff nung auf plöt z l ic he Genesung beizubringen wusste – und damit alle politischen Kranken bis auf diesen Augenblick u n g e d u ld i g u nd g e f ä h rl ic h gemacht hat. – 535. Die Wa h rheit hat d ie Mac ht nöt h ig.  – An sich ist die Wahrheit durchaus keine Macht, – was auch immer des Gegentheils der schönthuerische Aufklärer zu sagen gewohnt sein mag ! – Sie muss vielmehr die Macht auf ihre Seite ziehen oder sich auf die Seite der Macht schlagen, sonst wird sie immer wieder zu Grunde gehen ! Diess ist nun genug und übergenug bewiesen !

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536. D ie D au me n s c h r au b e. – Es empört endlich, immer und immer wieder zu sehen, wie grausam Jeder seine paar PrivatTugenden den Anderen, die sie zufällig nicht haben, aufrechnet, wie er sie damit zwickt und plagt. Und so wollen wir es auch mit dem „Sinn für Redlichkeit“ menschlich treiben, so gewiss man an | ihm eine Daumenschraube besitzt, um allen diesen grossartigen Selbstlingen, die auch jetzt noch ihren Glauben der ganzen Welt aufdringen wollen, bis auf ’s Blut wehe zu thun : – wir haben sie an uns selber erprobt ! 537. Me i s t e r s c h a f t . – Die Meisterschaft ist dann erreicht, wenn man sich in der Ausführung weder vergreift, no c h z ög e r t . 538. Mor a l i sc her I r r s i n n de s G en ie’s. – Bei einer gewissen Gattung grosser Geister giebt es ein peinliches, zum Theil fürchterliches Schauspiel zu beobachten : ihre fruchtbarsten Augenblicke, ihre Flüge aufwärts und in die Ferne scheinen ihrer gesammten Constitution nicht gemäss zu sein und irgendwie über deren Kraft hinauszugehen‚ sodass jedes Mal ein Fehler und auf die Dauer die Fe h le r h a f t i g k e it d e r M a s c h i ne zurückbleibt, als welche sich aber wiederum, bei so hochgeistigen Naturen wie den hier gemeinten, in allerlei moralischen und intellectuellen Symptomen viel regelmässiger als in körperlichen Nothzuständen zu erkennen giebt. So könnte das unbegreiflich Ängstliche, Eitle, Gehässige, Neidische‚ Eingeschnürte und Einschnürende, welches plötzlich aus ihnen hervorspringt, jenes ganze Allzupersönliche und Unfreie in Naturen, wie denen Rousseau’s und Schopenhauer’s, recht wohl die Folge eines periodischen Herzleidens sein : diess aber die Folge eines Nervenleidens und dieses endlich die Folge – –. So lange der Genius in uns wohnt, sind wir be-

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herzt, ja wie toll, und achten nicht des Lebens, der Gesundheit und der Ehre ; wir durchfl iegen den Tag freier, als | ein Adler, und sind sicherer im Dunkel, als die Eule. Aber auf einmal verlässt er uns, und ebenso plötzlich fällt tiefe Furchtsamkeit auf uns : wir verstehen uns selber nicht mehr, wir leiden an allem Erlebten, an allem Nichterlebten‚ wir sind wie unter nackten Felsen, vor einem Sturme, und zugleich wie erbärmliche Kindsseelen‚ die sich vor einem Geraschel und einem Schatten fürchten. – Drei Viertel alles Bösen, das in der Welt gethan wird, geschieht aus Furchtsamkeit : und diese ist vor Allem ein physiologischer Vorgang ! – 539. W i s s t i h r auc h , w a s i h r wol lt ? – Hat euch nie die Angst geplagt, ihr möchet gar nicht dazu taugen, Das, was wahr ist, zu erkennen ? Die Angst, dass euer Sinn zu stumpf, und selbst euer Feingefühl des Sehens noch viel zu grob sei ? Wenn ihr einmal merktet, w a s für ein Wille hinter eurem Sehen waltete ? Zum Beispiel, wie ihr gestern me h r sehen wolltet, als ein Anderer, heute es a nd e r s sehen wollt, als der Andere, oder wie ihr von vornherein euch sehnt, eine Übereinstimmung, oder das Gegentheil von dem zu fi nden, was man bisher zu fi nden vermeinte ! Oh der schämenswerthen Gelüste ! Wie ihr oft nach dem Starkwirkenden, oft nach dem Beruhigenden ausspäht. – weil ihr gerade müde seid ! Immer voller geheimer Vorherbestimmungen‚ w ie die Wahrheit beschaffen sein müsse, dass ihr, gerade ihr sie annehmen könntet ! Oder meint ihr, heute, da ihr gefroren und trocken wie ein heller Morgen im Winter seid und euch Nichts am Herzen liegt, ihr hättet bessere Augen ? Gehört nicht Wärme und Schwärmerei dazu, einem Gedankendinge G e r e c ht i g k e it zu schaffen ? – u nd d a s eb e n he i s s t | S e he n ! Als ob ihr überhaupt mit Gedankendingen anders verkehren k ö n n t e t , als mit Menschen ! Es ist in diesem Verkehre die gleiche Moralität,

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die gleiche Ehrenhaftigkeit, der gleiche Hintergedanke, die gleiche Schlaff heit, die gleiche Furchtsamkeit, – euer ganzes liebens- und hassenswürdiges Ich ! Eure körperlichen Ermattungen werden den Dingen matte Farben geben, eure Fieber werden Ungeheuer aus ihnen machen ! Leuchtet euer Morgen nicht anders auf die Dinge, als euer Abend ? Fürchtet ihr nicht in der Höhle jeder Erkenntniss euer eigenes Gespenst wieder zu fi nden, als das Gespinnst, in welches die Wahrheit sich vor euch verkleidet hat ? Ist es nicht eine schauerliche Komödie, in welcher ihr so unbedachtsam mitspielen wollt ? – 540. L e r ne n . – Michelangelo sah in Raffael das Studium, in sich die Natur : dort das L e r ne n , hier die B e g a bu n g. Indessen ist diess eine Pedanterie, mit aller Ehrfurcht vor dem grossen Pedanten gesagt. Was ist denn Begabung Anderes, als ein Name für ein ä lt e r e s Stück Lernens, Erfahrens, Einübens, Aneignens, Einverleibens, sei es auf der Stufe unserer Väter oder noch früher ! Und wiederum : Der, welcher lernt, b e g a bt s ic h s e l b e r, – nur ist es nicht so leicht, zu le r ne n , und nicht nur die Sache des guten Willens ; man muss lernen k ö n ne n . Bei einem Künstler stellt sich dem oft der Neid entgegen, oder jener Stolz, welcher beim Gefühl des Fremdartigen sofort seine Stacheln hervorkehrt und sich unwillkürlich in einen Vertheidigungszustand, statt in den des Lernenden, versetzt. An beidem fehlte es Raffael, gleich Goethe, und dess|halb waren sie g r o s s e L e r ne r und nicht nur die Ausbeuter jener Erzgänge, welche sich aus dem Geschiebe und der Geschichte ihrer Vorfahren ausgelaugt hatten. Raffael verschwindet vor uns als Lernender, mitten in der Aneignung dessen, was sein grosser Nebenbuhler als s e i ne „Natur“ bezeichnete : er trug täglich ein Stück davon hinweg, dieser edelste Dieb ; aber ehe er den ganzen Michelangelo in sich hinübergetragen hatte, starb er – und die letzte Reihe seiner Werke, als der A n f a n g

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eines neuen Studienplanes, ist weniger vollkommen und schlechthin gut, eben weil der grosse Lerner vom Tode in seinem schwierigsten Pensum gestört worden ist und das rechtfertigende letzte Ziel, nach welchem er ausschaute, mit sich genommen hat. 541. Wie ma n verstei ner n sol l. – Langsam, langsam hart werden wie ein Edelstein – und zuletzt still und zur Freude der Ewigkeit liegen bleiben. 542. Der Ph i losoph u nd das A lter. – Man thut nicht klug, den Abend über den Tag urtheilen zu lassen : denn allzu oft wird da die Ermüdung zur Richterin über Kraft, Erfolg und guten Willen. Und ebenso sollte die höchste Vorsicht in Absehung auf das A lt e r und seine Beurtheilung des Lebens geboten sein, zumal das Alter, wie der Abend, sich in eine neue und reizende Moralität zu verkleiden liebt und durch Abendröthe, Dämmerung, friedliche oder sehnsüchtige Stille den Tag zu beschämen weiss. Die Pietät, welche wir dem alten Manne entgegenbringen, zumal wenn es ein alter Denker | und Weiser ist, macht uns leicht blind gegen die A lt e r u n g s e i ne s G e i s t e s , und es thut immer noth, die Me r k m a le solcher Alterung und Ermüdung aus ihrem Versteck, das heisst : das p hy s iolog i s c h e Phänomen hinter dem moralischen Fürund Vorurtheile hervorzuziehen, um nicht die Narren der Pietät und die Schädiger der Erkenntniss zu werden. Nicht selten nämlich tritt der alte Mann in den Wahn einer grossen moralischen Erneuerung und Wiedergeburt und giebt von dieser Empfi ndung aus Urtheile über das Werk und den Gang seines Lebens ab, wie als ob er jetzt erst hellsichtig geworden sei : und doch steht hinter diesem Wohlgefühle und diesem zuversichtlichen Urtheilen als Einbläserin nicht die Weisheit, sondern die Mü d i g k e it . Als deren gefährlichstes Kennzeichen mag wohl der G e n i e g l au b e bezeichnet werden, welcher erst

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um diese Lebensgränze grosse und halbgrosse Männer des Geistes zu überfallen pflegt : der Glaube an eine Ausnahmestellung und an Ausnahmerechte. Der von ihm heimgesuchte Denker hält es nunmehr für erlaubt, s ic h e s le ic ht e r z u m ac he n und als Genie mehr zu decretiren, als zu beweisen : wahrscheinlich ist aber eben der Trieb, welchen die Müdigkeit des Geistes nach E rle ic ht e r u n g empfi ndet, die stärkste Quelle jenes Glaubens, er geht ihm der Zeit nach zuvor, wie es auch anders erscheinen möge. Sodann : um diese Zeit will man gemäss der Genusssucht aller Müden und Alten die Resultate seines Denkens g e n ie s s e n , anstatt sie wieder zu prüfen und auszusäen, und hat dazu nöthig, sie sich mundgerecht und geniessbar zu machen und ihre Trockenheit, Kälte und Würzlosigkeit zu beseitigen ; und so geschieht es, dass der alte Denker sich scheinbar über | das Werk seines Lebens erhebt, in Wahrheit aber dasselbe durch eingemischte Schwärmereien, Süssigkeiten, Würzen, dichterische Nebel und mystische Lichter verdirbt. So ergieng es zuletzt Plato, so ergieng es zuletzt jenem grossen rechtschaffenen Franzosen, dem die Deutschen und die Engländer dieses Jahrhunderts, als einem Umschlinger und Bändiger der strengen Wissenschaften, Keinen an die Seite zu stellen vermögen, Auguste Comte. Ein drittes Merkmal der Ermüdung : jener Ehrgeiz, welcher in der Brust des grossen Denkers stürmte, als er jung war, und der damals in Nichts sein Genügen fand, ist nun auch alt geworden, er greift, wie Einer, der keine Zeit mehr zu verlieren hat, nach den gröberen und bereiteren Mitteln der Befriedigung, das heisst, nach denen der thätigen, herrschenden, gewaltsamen, erobernden Naturen : von jetzt ab will er Institutionen gründen, die seinen Namen tragen, und nicht mehr Gedanken-Bauten ; was sind ihm jetzt noch die ätherhaften Siege und Ehren im Reiche der Beweise und Widerlegungen ! was ist ihm eine Verewigung in Büchern, ein zitterndes Frohlocken in der Seele eines Lesers ! Die Institution dagegen ist ein Tem-

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pel, – das weiss er wohl, und ein Tempel von Stein und Dauer erhält seinen Gott sicherer am Leben, als die Opfergaben zarter und seltener Seelen. Vielleicht fi ndet er um diese Zeit auch zum ersten Mal jene Liebe, welche mehr einem Gotte gilt, als einem Menschen, und sein ganzes Wesen mildert und versüsst sich unter den Strahlen einer solchen Sonne gleich einer Frucht im Herbste. Ja, er wird göttlicher und schöner, der grosse Alte – und trotzdem ist es das Alter und die Müdigkeit, welche ihm e rl au b e n , derartig auszureifen, stille | zu werden und in der leuchtenden Abgötterei einer Frau auszuruhen. Nun ist es vorbei mit seinem früheren trotzigen, dem eignen Selbst überlegenen Verlangen nach ächten Schülern, nämlich ächten Fortdenkern, das heisst, ächten Gegnern : jenes Verlangen kam aus der ungeschwächten Kraft, aus dem bewussten Stolze, jederzeit noch selber der Gegner und Todfeind seiner eigenen Lehre werden zu können,  – jetzt will er entschlossene Parteigänger, unbedenk liche Kameraden, Hülfstruppen, Herolde, ein pomphaftes Gefolge. Jetzt hält er überhaupt die furchtbare Isolation nicht mehr aus, in der jeder vorwärts- und vorausfl iegende Geist lebt, er umstellt sich nunmehr mit Gegenständen der Verehrung, der Gemeinschaft, der Rührung und Liebe, er will es endlich auch einmal so gut haben, wie alle Religiösen, und in der G e me i nd e feiern, was er hochschätzt, ja, er wird dazu eine Religion erfi nden, um nur die Gemeinde zu haben. So lebt der weise Alte und geräth dabei unvermerkt in eine solche klägliche Nähe zu priesterhaften, dichterischen Ausschweifungen, dass man sich kaum dabei seiner weisen und strengen Jugend, seiner damaligen straffen Moralität des Kopfes, seiner wahrhaft männlichen Scheu vor Einfällen und Schwärmereien erinnern darf. Wenn er sich früher mit anderen, älteren Denkern verglich, so geschah es, um seine Schwäche ernst mit ihrer Kraft zu messen und gegen sich selber kälter und freier zu werden : jetzt thut er es nur, um sich bei der Vergleichung am eigenen Wahne zu berau-

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schen. Früher dachte er mit Zuversicht an die kommenden Denker, ja, mit Wonne sah er sich einstmals in ihrem volleren Lichte untergehen : jetzt quält es ihn, nicht der Letzte sein zu können, er | sinnt über Mittel nach, mit seiner Erbschaft, die er den Menschen schenkt, auch eine Beschränkung des souveränen Denkens ihnen aufzuerlegen, er fürchtet und verunglimpft den Stolz und den Freiheitsdurst der individuellen Geister  – : nach ihm soll keiner mehr seinen Intellect völlig frei walten lassen, er selber will als das Bollwerk für immer stehen bleiben, an welches die Brandung des Denkens überhaupt schlagen dürfe,  – das sind seine geheimen, vielleicht nicht einmal immer geheimen Wünsche ! Die harte Thatsache hinter solchen Wünschen ist aber, dass er selber vor seiner Lehre H a lt g e m ac ht h at und in ihr seinen Gränzstein, sein „Bis hierher und nicht weiter“ aufgerichtet hat. Indem er sich selber k a no n i s i r t , hat er auch das Zeugniss des Todes über sich ausgestellt : von jetzt ab d a r f sein Geist sich nicht weiter entwickeln, die Zeit für ihn ist um, der Zeiger fällt. Wenn ein grosser Denker aus sich eine bindende Institution für die zukünftige Menschheit machen will, darf man sicherlich annehmen, dass er über den Gipfel seiner Kraft gegangen und sehr müde, sehr nahe seinem Sonnenuntergange ist. 543. Nic ht d ie Leiden sc ha f t z u m A rg u ment der Wa h rheit mac hen ! – Oh, ihr gutartigen und sogar edlen Schwärmer, ich kenne euch ! Ihr wollt Recht behalten, vor uns, aber auch vor euch, und vor Allem vor euch ! – und ein reizbares und feines böses Gewissen stachelt und treibt euch so oft gerade gegen euere Schwärmerei ! Wie geistreich werdet ihr dann, in der Überlistung und Betäubung dieses Gewissens ! Wie hasst ihr die Ehrlichen, Einfachen, Reinlichen, wie meidet | ihr ihre unschuldigen Augen ! Jenes b e s s e r e W i s s e n , dessen Vertreter s ie sind und dessen Stimme ihr in euch selber zu laut hört,

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wie es an eurem Glauben zweifelt, – wie sucht ihr es zu verdächtigen, als schlechte Gewohnheit, als Krankheit der Zeit, als Vernachlässigung und Ansteckung eurer eigenen geistigen Gesundheit ! Bis zum Hass gegen die Kritik, die Wissenschaft, die Vernunft treibt ihr es ! Ihr müsst die Geschichte fälschen, damit sie für euch zeuge, ihr müsst Tugenden leugnen, damit sie die eurer Abgötter und Ideale nicht in Schatten stellen ! Farbige Bilder, wo Vernunftgründe noth thäten ! Gluth und Macht der Ausdrücke ! Silberne Nebel ! Ambrosische Nächte ! Ihr versteht euch darauf, zu beleuchten und zu verdunkeln, und m it L ic h t zu verdunkeln ! Und wirklich, wenn eure Leidenschaft in’s Toben geräth, so kommt ein Augenblick, da ihr euch sagt : jetzt habe ich mir das gute Gewissen e r o b e r t , jetzt bin ich hochherzig, muthig, selbstverleugnend, grossartig, jetzt bin ich ehrlich ! Wie dürstet ihr nach diesen Augenblicken, wo eure Leidenschaft euch vor euch selber volles, unbedingtes Recht und gleichsam die Unschuld giebt, wo ihr in Kampf, Rausch, Wuth, Hoff nung ausser euch und über alle Zweifel hinweg seid, wo ihr decretirt „wer nicht ausser sich ist, wie wir, der kann gar nicht wissen, was und wo die Wahrheit ist !“ Wie dürstet ihr darnach, Menschen eures Glaubens in diesem Zustande – es ist der der L a s t e r h a f t i g k e it d e s I nt e l le c t e s  – zu fi nden und an ihrem Brande eure Flammen zu entzünden ! Oh über euer Martyrium ! Über euren Sieg der heilig gesprochenen Lüge ! Müsst ihr euch s o v ie l Leides selber anthun ? – Mü s s t ihr ? – | 544. Wie ma n jet z t Ph i losoph ie t reibt.  – Ich merke wohl : unsere philosophirenden Jünglinge, Frauen und Künstler verlangen jetzt gerade d a s G e g e nt h e i l dessen von der Philosophie, was die Griechen von ihr empfiengen ! Wer das fortwährende Jauchzen nicht hört, welches durch jede Rede und Gegenrede eines platonischen Dialogs geht, das Jauch-

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zen über die neue Erfi ndung des ve r nü n f t i g e n Denkens‚ was versteht der von Plato, was von der alten Philosophie ? Damals füllten sich die Seelen mit Trunkenheit, wenn das strenge und nüchterne Spiel der Begriffe, der Verallgemeinerung, Widerlegung, Engführung getrieben wurde, – mit jener Trunkenheit, welche vielleicht auch die alten grossen strengen und nüchternen Contrapunctiker der Musik gekannt haben. Damals hatte man in Griechenland den anderen älteren und ehedem allmächtigeren Geschmack noch auf der Zunge : und gegen ihn hob sich das Neue so zauberhaft ab, dass man von der Dialektik, der „göttlichen Kunst“, wie im Liebeswahnsinn sang und stammelte. Jenes Alte aber war das Denken im Banne der Sittlichkeit, für das es lauter festgestellte Urtheile, festgestellte Ursachen, keine anderen Gründe als die der Autorität gab : sodass Denken ein Nac h r e d e n war und aller Genuss der Rede und des Gesprächs in der For m liegen musste. (Überall, wo der Gehalt als ewig und allgültig gedacht wird, giebt es nur Einen grossen Zauber : den der wechselnden Form, das heisst der Mode. Der Grieche genoss auch an den Dichtern, von den Zeiten Homer’s her, und später an den Plastikern, nicht die Originalität, sondern deren Widerspiel.) Sokrates war es, der den entgegengesetzten Zauber, den der | Ursache und Wirkung, des Grundes und der Folge entdeckte : und wir modernen Menschen sind so sehr an die Nothdurft der Logik gewöhnt und zu ihr erzogen, dass sie uns als der normale Geschmack auf der Zunge liegt und als solche den Lüsternen und Dünkelhaften zuwider sein muss. Was sich gegen ihn abhebt, entzückt diese : ihr feinerer Ehrgeiz möchte gar zu gerne sich glauben machen, dass ihre Seelen Ausnahmen seien, nicht dialektische und vernünftige Wesen, sondern  – nun zum Beispiel „intuitive Wesen“, begabt mit dem „inneren Sinn“ oder mit der „intellectualen Anschauung“. Vor Allem aber wollen sie „künstlerische Naturen“ sein, mit einem Genius im Kopfe und einem Dämon im

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Leibe und folglich auch mit Sonderrechten für diese und jene Welt, namentlich mit dem Götter-Vorrecht, unbegreiflich zu sein. – D a s treibt nun auch Philosophie ! Ich fürchte, sie merken eines Tages, dass sie sich vergriffen haben, – das, was sie wollen, ist Religion ! 545. Aber w i r g lauben euc h n ic ht ! – Ihr möchtet euch gerne als Menschenkenner geben, aber wir werden euch nicht durchschlüpfen lassen ! Sollen wir es nicht merken, dass ihr euch erfahrener, tiefer, erregter, vollständiger darstellt, als ihr seid ? So gut wir an jenem Maler es fühlen, wie schon in der Führung seines Pinsels eine Anmaassung liegt : so gut wir es jenem Musiker anhören, dass er durch die Art, wie er sein Thema einführt, es als höher ausgeben möchte, als es ist. Habt ihr G e s c h ic ht e in euch erlebt, Erschütterungen, Erdbeben, weite lange Traurigkeiten, blitzartige Beglückungen ? Seid ihr närrisch gewesen mit grossen und | kleinen Narren ? Habt ihr den Wahn und das Wehe der guten Menschen wirklich getragen ? Und das Wehe und die Art Glück der schlechtesten hinzu ? Dann redet mir von Moral, sonst nicht ! 546. S c l ave u n d Id e a l i s t .  – Der Epiktetische Mensch wäre wahrlich nicht nach dem Geschmacke Derer, welche jetzt nach dem Ideale streben. Die stete Spannung seines Wesens, der nach Innen gewendete unermüdliche Blick, das Verschlossene, Vorsichtige, Unmittheilsame seines Auges, falls es sich einmal der Aussenwelt zukehrt ; und gar das Schweigen oder Kurzreden : Alles Merkmale der strengsten Tapferkeit, – was wäre das für unsere Idealisten, die vor Allem nach der E xp a n s io n lüstern sind ! Zu alledem ist er nicht fanatisch, er hasst die Schaustellung und die Ruhmredigkeit unserer Idealisten : sein Hochmuth, so gross er ist, will doch nicht die Anderen stören, er gesteht eine gewisse milde Annäherung zu

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und möchte Niemandem die gute Laune verderben,  – ja er kann lächeln ! Es ist sehr viel antike Humanität in diesem Ideale ! Das Schönste aber ist, dass ihm die Angst vor Gott völlig abgeht, dass er streng an die Vernunft glaubt, dass er kein Bussredner ist. Epiktet war ein Sclave : sein idealer Mensch ist ohne Stand und in allen Ständen möglich, vor Allem aber wird er in der tiefen, niedrigen Masse zu suchen sein, als der Stille, Sich-Selbst-Genügende innerhalb einer allgemeinen Verknechtung, der sich nach Aussen hin für sich selber wehrt und fortwährend im Zustande der höchsten Tapferkeit lebt. Von dem C h r i s t e n unterscheidet er sich vor Allem hierin, dass der Christ | in Hoff nung lebt, in der Vertröstung auf „unaussprechbare Herrlichkeiten“, dass er sich beschenken lässt und das Beste von der göttlichen Liebe und Gnade, und nicht von sich, erwartet und annimmt : während Epiktet nicht hoff t und sein Bestes sich nicht schenken lässt, – er besitzt es, er hält es tapfer in seiner Hand, er macht es der ganzen Welt streitig, wenn diese es ihm rauben will. Das Christenthum war für eine andere Gattung antiker Sclaven gemacht, für die willens- und vernunftschwachen, also für die grosse Masse der Sclaven. 547. D ie Ty r a n nen de s G ei ste s. – Der Gang der Wissenschaft wird jetzt nicht mehr durch die zufällige Thatsache, dass der Mensch ungefähr siebenzig Jahre alt wird, gekreuzt, wie es allzulange der Fall war. Ehemals wollte Einer während dieses Zeitraumes an’s Ende der Erkenntniss kommen und nach diesem allgemeinen Gelüste schätzte man die Methoden der Erkenntniss ab. Die kleinen einzelnen Fragen und Versuche galten als verächtlich, man wollte den kürzesten Weg, man glaubte, weil Alles in der Welt au f den Men sc hen h i n eingerichtet schien, dass auch die Erkennbarkeit der Dinge auf ein menschliches Zeitmaass eingerichtet sei. Alles mit Einem Schlage, mit Einem Worte zu lösen, – das war der geheime

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Wunsch : unter dem Bilde des gordischen Knotens oder unter dem des Eies des Columbus dachte man sich die Aufgabe ; man zweifelte nicht, dass es möglich sei, auch in der Erkenntniss nach Art des Alexander oder des Columbus zum Ziele zu kommen und alle Fragen mit Einer Antwort zu erledigen. „Ein R ät h s e l ist zu lösen“ : so trat das Lebensziel vor das | Auge des Philosophen ; zunächst war das Räthsel zu fi nden und das Problem der Welt in die einfachste Räthselform zusammenzudrängen. Der gränzenlose Ehrgeiz und Jubel, der „Enträthsler der Welt“ zu sein, machte die Träume des Denkers aus : Nichts schien ihm der Mühe werth, wenn es nicht das Mittel war, Alles f ü r i h n zu Ende zu bringen ! So war Philosophie eine Art höchsten Ringens um die Tyrannenherrschaft des Geistes,  – dass eine solche irgend einem Sehr-Glücklichen, Feinen, Erfi ndsamen, Kühnen, Gewaltigen vorbehalten und aufgespart sei,  – einem Einzigen !  – daran zweifelte Keiner, und Mehrere haben gewähnt, zuletzt noch Schopenhauer, dieser Einzige zu sein.  – Daraus ergiebt sich, dass im Grossen und Ganzen die Wissenschaft bisher durch die mor a l i s c he B e s c h r ä n k t he it ihrer Jünger zurückgeblieben ist und dass sie mit einer höheren und g r o s s müt h i g e r e n Grundempfi ndung fürderhin getrieben werden muss. „Was liegt an mir !“ – steht über der Thür des künftigen Denkers. 548. D e r S i e g ü b e r d ie K r a f t . – Erwägt man, was bisher Alles als „übermenschlicher Geist“, als „Genie“ verehrt worden ist, so kommt man zu dem traurigen Schlusse, dass im Ganzen die Intellectualität der Menschheit doch etwas sehr Niedriges und Armseliges gewesen sein muss : so wenig Geist gehörte bisher dazu, um sich gleich erheblich über sie hinaus zu fühlen ! Ach, um den wohlfeilen Ruhm des „Genie’s“ ! Wie schnell ist sein Thron errichtet, seine Anbetung zum Brauch geworden ! Immer noch liegt man vor der K r a f t auf den Knieen –

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nach alter Sclaven-Gewohnheit  – und doch | ist, wenn der Grad von Ve r e h r u n g s w ü r d i g k e i t festgestellt werden soll‚ nur d e r G r a d d e r Ve r nu n f t i n d e r K r a f t entscheidend : man muss messen, inwieweit gerade die Kraft durch etwas Höheres überwunden worden ist und als ihr Werkzeug und Mittel nunmehr in Diensten steht ! Aber für ein solches Messen giebt es noch gar zu wenig Augen, ja zumeist wird noch das Messen des Genie’s für einen Frevel gehalten. Und so geht vielleicht das Schönste immer noch im Dunkel vor sich und versinkt, kaum geboren, in ewige Nacht,  – nämlich das Schauspiel jener Kraft, welche ein Genie n ic ht au f We r k e, sondern au f s ic h a l s We r k , verwendet, das heisst auf seine eigene Bändigung, auf Reinigung seiner Phantasie, auf Ordnung und Auswahl im Zuströmen von Aufgaben und Einfällen. Noch immer ist der grosse Mensch gerade in dem Grössten, was Verehrung erheischt, unsichtbar wie ein zu fernes Gestirn : sein Sie g ü b e r d ie K r a f t bleibt ohne Augen und folglich auch ohne Lied und Sänger. Noch immer ist die Rangordnung der Grösse für alle vergangene Menschheit noch nicht festgesetzt. 549. „Selbstf lucht“. – Jene Menschen der intellectuellen Krämpfe, welche gegen sich selber ungeduldig und verfi nstert sind, wie Byron oder Alfred de Musset, und in Allem, was sie thun, durchgehenden Pferden gleichen, ja, die aus ihrem eigenen Schaffen nur eine kurze, die Adern fast sprengende Lust und Gluth und dann eine um so winterlichere Öde und Vergrämtheit davontragen, wie sollen sie es in s ic h aushalten ! Sie dürsten nach einem Aufgehen in einem „ Au s s e r - s ic h “ ; ist man mit | einem solchen Durste ein Christ, so zielt man nach dem Aufgehen in Gott, nach dem „Ganz-eins-mit-ihmwerden“ ; ist man Shakespeare, so genügt einem erst das Aufgehen in Bildern des leidenschaftlichsten Lebens ; ist man Byron, so dürstet man nach T h at e n , weil diese noch mehr uns von uns

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abziehen, als Gedanken, Gefühle und Werke. Und so wäre vielleicht doch der Thatendrang im Grunde Selbstflucht ?  – würde Pascal uns fragen. Und in der That ! Bei den höchsten Exemplaren des Thatendranges möchte der Satz sich beweisen lassen : man erwäge doch, mit dem Wissen und den Erfahrungen eines Irrenarztes, wie billig, – dass Vier von den Thatendurstigsten aller Zeiten Epileptiker gewesen sind (nämlich Alexander, Cäsar, Muhammed und Napoleon) : so wie auch Byron diesem Leiden unterworfen war. 550. E r k e n nt n i s s u nd S c hö n he it . – Wenn die Menschen, so wie sie immer noch thun, ihre Verehrung und ihr Glücksgefühl für die Werke der Einbildung und der Verstellung gleichsam aufsparen, so darf es nicht Wunder nehmen, wenn sie sich beim Gegensatz der Einbildung und Verstellung kalt und unlustig fi nden. Das Entzücken, welches schon beim kleinsten sicheren endgültigen Schritt und Fortschritt der Einsicht entsteht und welches aus der jetzigen Art der Wissenschaft so reichlich und schon für so Viele herausströmt, – dieses Entzücken wird einstweilen von allen Denen nicht g e g l au bt , welche sich daran gewöhnt haben, immer nur beim Verlassen der Wirklichkeit, beim Sprung in die Tiefen des Scheins entzückt zu werden. Diese meinen, die Wirklichkeit sei hässlich : aber daran denken sie | nicht, dass die Erkenntniss auch der hässlichsten Wirklichkeit schön ist, ebenso dass wer oft und viel erkennt, zuletzt sehr ferne davon ist, das grosse Ganze der Wirklichkeit, deren Entdeckung ihm immer Glück gab, hässlich zu fi nden. Giebt es denn etwas „an sich Schönes“ ? Das Glück der Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt und macht Alles, was da ist, sonniger ; die Erkenntniss legt ihre Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern, auf die Dauer, in die Dinge ; – möge die zukünftige Menschheit für diesen Satz ihr Zeugniss abgeben ! Inzwischen gedenken wir einer

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alten Erfahrung : zwei so grundverschiedene Menschen, wie Plato und Aristoteles, kamen in dem überein, was d a s hö c h s t e G lüc k ausmache, nicht nur für sie oder für Menschen, sondern an sich, selbst für Götter der letzten Seligkeiten : sie fanden es i m E r k e n ne n , in der Thätigkeit eines wohlgeübten fi ndenden und erfi ndenden Ve r s t a nd e s (n ic ht etwa in der „Intuition“, wie die deutschen Halb- und Ganztheologen, n ic ht in der Vision, wie die Mystiker, und ebenfalls n ic ht im Schaffen, wie alle Praktiker). Ähnlich urtheilten Descartes und Spinoza : wie müssen sie Alle die Erkenntniss g e no s s e n haben ! Und welche Gefahr für ihre Redlichkeit, dadurch zu Lobrednern der Dinge zu werden ! – 551. Vo n z u k ü n f t i g e n Tu g e nd e n . – Wie kommt es, dass, je begreiflicher die Welt geworden ist, um so mehr die Feierlichkeit jeder Art abgenommen hat ? Ist es, dass die Furcht so sehr das Grundelement jener Ehrfurcht war, welche uns bei allem Unbekannten, Geheimnissvollen überfiel und uns vor dem Unbegreiflichen | niedersinken und um Gnade bitten lehrte ? Und sollte die Welt dadurch, dass wir weniger furchtsam geworden sind, nicht auch an Reiz für uns verloren haben ? Sollte mit unserer Furchtsamkeit nicht auch unsre eigene Würde und Feierlichkeit, u n sr e ei g ene Fu rc htba rk eit , geringer geworden sein ? Vielleicht, dass wir die Welt und uns selber geringer achten, seit wir muthiger über sie und uns denken ? Vielleicht, dass es eine Zukunft giebt, wo dieser Muth des Denkens so angewachsen sein wird, dass er als der äusserste Hochmuth sich ü b e r den Menschen und Dingen fühlt, – wo der Weise als der am meisten Muthige sich selber und das Dasein am meisten unter sich sieht ? – Diese Gattung des Muthes, welche nicht ferne einer ausschweifenden Grossmuth ist, f e h lt e bisher der Menschheit. – Oh, wollten doch die Dichter wieder werden, was sie einstmals gewesen sein sollen : –

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S e he r, die uns Etwas von dem Mög l ic he n erzählen ! Jetzt, da ihnen das Wirkliche und das Vergangene immer mehr aus den Händen genommen wird und werden muss, – denn die Zeit der harmlosen Falschmünzerei ist zu Ende ! Wollten sie uns von den z u k ü n f t i g e n Tu g e nd e n Etwas vorausempfi nden lassen ! Oder von Tugenden, die nie auf Erden sein werden, obschon sie irgendwo in der Welt sein könnten,  – von purpurnglühenden Sternbildern und ganzen Milchstrassen des Schönen ! Wo seid ihr, ihr Astronomen des Ideals ? 552. Die idea l isc he Selbstsuc ht. – Giebt es einen weihevolleren Zustand, als den der Schwangerschaft ? Alles, was man thut, in dem stillen Glauben thun, es | müsse irgendwie dem Werdenden in uns zu Gute kommen ! Es müsse seinen geheimnissvollen Werth, an den wir mit Entzücken denken, e r höhe n ! Da geht man Vielem aus dem Wege, ohne hart sich zwingen zu müssen ! Da unterdrückt man ein heftiges Wort, man giebt versöhnlich die Hand : aus dem Mildesten und Besten soll das Kind hervorwachsen. Es schaudert uns vor unsrer Schärfe und Plötzlichkeit : wie wenn sie dem geliebtesten Unbekannten einen Tropfen Unheil in den Becher seines Lebens gösse ! Alles ist verschleiert, ahnungsvoll, man weiss von Nichts, wie es zugeht, man wartet ab und sucht b e r e it zu sein. Dabei waltet ein reines und reinigendes Gefühl tiefer Unverantwortlichkeit in uns, fast wie es ein Zuschauer vor dem geschlossenen Vorhang hat, – e s wächst, e s tritt an den Tag : w i r haben Nichts in der Hand, zu bestimmen, weder seinen Werth, noch seine Stunde. Einzig auf jeden mittelbaren segnenden und wehrenden Einfluss sind wir angewiesen. „Es ist etwas Grösseres, das hier wächst, als wir sind“ ist unsere geheimste Hoff nung : ihm legen wir Alles zurecht, dass es gedeihlich zur Welt komme : nicht nur alles Nützliche, sondern auch die Herzlichkeiten und Kränze unserer Seele.  – I n d i e s e r We i h e soll man

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leben ! Kann man leben ! Und sei das Erwartete ein Gedanke, eine That, – wir haben zu allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhältniss, als das der Schwangerschaft und sollten das anmaassliche Reden von „Wollen“ und „Schaffen“ in den Wind blasen ! Diess ist die rechte id e a l i s c he S e l b s t s uc ht : immer zu sorgen und zu wachen und die Seele still zu halten, dass unsere Fruchtbarkeit s c hö n z u E n d e g e h e ! So, in dieser mittelbaren Art | sorgen und wachen wir für den Nutz e n A l le r ; und die Stimmung, in der wir leben, diese stolze und milde Stimmung, ist ein Öl, welches sich weit um uns her auch auf die unruhigen Seelen ausbreitet. – Aber w u n d e rl ic h sind die Schwangeren ! Seien wir also auch wunderlich und verargen wir es den Anderen nicht, wenn sie es sein müssen ! Und selbst, wo diess in’s Schlimme und Gefährliche sich verläuft : bleiben wir in der Ehrfurcht vor dem Werdenden nicht hinter der weltlichen Gerechtigkeit zurück, welche dem Richter und dem Henker nicht erlaubt, eine Schwangere zu berühren ! 553. Au f Umwe g e n . – Wohin will diese ganze Philosophie mit allen ihren Umwegen ? Thut sie mehr, als einen stäten und starken Trieb gleichsam in Vernunft zu übersetzen, einen Trieb nach milder Sonne, heller und bewegter Luft, süd lichen Pflanzen, Meeres-Athem, flüchtiger Fleisch-, Eier- und Früchtenahrung, heissem Wasser zum Getränke, tagelangen stillen Wanderungen, wenigem Sprechen, seltenem und vorsichtigem Lesen, einsamem Wohnen, reinlichen, schlichten und fast soldatischen Gewohnheiten, kurz nach allen Dingen, die gerade mir am besten schmecken, gerade mir am zuträglichsten sind ? Eine Philosophie, welche im Grunde der Instinct für eine persönliche Diät ist ? Ein Instinct, welcher nach meiner Luft, meiner Höhe, meiner Witterung, meiner Art Gesundheit durch den Umweg meines Kopfes sucht ? Es giebt viele andere und gewiss auch viele höhere Erhabenheiten der

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Philosophie, und nicht nur solche, welche düsterer und anspruchsvoller sind, als die meinen, – vielleicht sind auch sie insgesammt | nichts Anderes, als intellectuelle Umwege derartig persönlicher Triebe ? – Inzwischen sehe ich mit einem neuen Auge auf das heimliche und einsame Schwärmen eines Schmetterlings, hoch an den Felsenufern des See’s, wo viele gute Pflanzen wachsen : er fl iegt umher, unbekümmert darum, dass er nur das Leben Eines Tages noch lebt, und dass die Nacht zu kalt für seine geflügelte Gebrechlichkeit sein wird. Es würde sich wohl auch für ihn eine Philosophie fi nden lassen : ob es schon nicht die meine sein mag. – 554. Vorsc h r it t. – Wenn man den For t sc h r it t rühmt, so rühmt man damit nur die Bewegung und Die, welche uns nicht auf der Stelle stehen bleiben lassen, – und damit ist gewiss unter Umständen viel gethan, insonderheit, wenn man unter Ägyptern lebt. Im beweglichen Europa aber, wo sich die Bewegung, wie man sagt, „von selber versteht“ – ach, wenn w i r nur auch Etwas davon verstünden ! – lobe ich mir den Vor s c h r it t und die Vorschreitenden, das heisst Die, welche sich selber immer wieder zurücklassen und die gar nicht daran denken, ob ihnen Jemand sonst nachkommt. „Wo ich Halt mache, da fi nde ich mich allein : wozu sollte ich Halt machen ! Die Wüste ist noch gross !“ – so empfi ndet ein solcher Vorschreitender. 555. Die ger i ng sten genügen sc hon. – Man soll den Ereignissen aus dem Wege gehen, wenn man weiss, dass die g e r i n gs t e n sich schon stark genug auf uns einzeichnen, – und diesen entgeht man doch nicht. – | Der Denker muss einen ungefähren Kanon aller der Dinge in sich haben, welche er überhaupt noch e r leb e n w i l l .

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556. D ie g uten Vier. – R e d l ic h gegen uns und was s o n s t uns Freund ist ; t a pf e r gegen den Feind ; g r o s s müt h i g gegen den Besiegten ; höf l ic h – immer : so wollen uns die vier Cardinaltugenden. 557. Au f e i ne n Fe i nd lo s . – Wie gut klingen schlechte Musik und schlechte Gründe, wenn man auf einen Feind los marschirt ! 558. Aber auch n icht sei ne Tugenden verbergen ! – Ich liebe die Menschen, welche durchsichtiges Wasser sind und die, mit Pope zu reden, auch „die Unreinlichkeiten auf dem Grunde ihres Stromes sehen lassen.“ Selbst für sie giebt es aber noch eine Eitelkeit, freilich von seltener und sublimirter Art : Einige von ihnen wollen, dass man eben nur die Unreinlichkeiten sehe und die Durchsichtigkeit des Wassers, die diess möglich macht, für Nichts achte. Kein Geringerer, als Gotama Buddha, hat die Eitelkeit dieser Wenigen erdacht, in der Formel : „lasset eure Sünden sehen vor den Leuten und verberget eure Tugenden !“ Diess heisst aber der Welt kein gutes Schauspiel geben, – es ist eine Sünde wider den Geschmack. 559. „ N ic ht s z u s e h r !“  – Wie oft wird dem Einzelnen angerathen, sich ein Ziel zu setzen, das er nicht erreichen | kann und das über seine Kräfte geht, um so wenigstens Das zu erreichen, was seine Kräfte bei der a l le r hö c h s t e n A n s p a n nu n g leisten können ! Ist diess aber wirklich so wünschenswerth ? Bekommen nicht nothwendig die besten Menschen, die nach dieser Lehre leben, und ihre besten Handlungen etwas Übertriebenes und Verzerrtes, eben weil zu viel Spannung in ihnen ist ? Und verbreitet sich nicht ein grauer Schimmer von E r f ol g lo s i g k e it dadurch über die Welt, dass man

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immer kämpfende Athleten, ungeheure Gebärden und nirgends einen bekränzten und siegesgemuthen Sieger sieht ? 560. Wa s u n s f r e i s t e ht . – Man kann wie ein Gärtner mit seinen Trieben schalten und, was Wenige wissen, die Keime des Zornes, des Mitleidens, des Nachgrübelns, der Eitelkeit so fruchtbar und nutzbringend ziehen wie ein schönes Obst an Spalieren ; man kann es thun mit dem guten und dem schlechten Geschmack eines Gärtners und gleichsam in französischer oder englischer oder holländischer oder chinesischer Manier, man kann auch die Natur walten lassen und nur hier und da für ein Wenig Schmuck und Reinigung sorgen, man kann endlich auch ohne alles Wissen und Nachdenken die Pflanzen in ihren natürlichen Begünstigungen und Hindernissen aufwachsen und unter sich ihren Kampf auskämpfen lassen, – ja, man kann an einer solchen Wildniss seine Freude haben und gerade diese Freude haben wollen, wenn man auch seine Noth damit hat. Diess Alles steht uns frei : aber wie Viele wissen denn davon, dass uns diess frei steht ? G l au b e n nicht die Meisten an s ic h wie an vollendete au sg ewac h s e ne | T h ats a c h e n ? Haben nicht grosse Philosophen noch ihr Siegel auf diess Vorurtheil gedrückt, mit der Lehre von der Unveränderlichkeit des Charakters ? 561. Sei n Glüc k auc h leuc hten lassen. – Wie die Maler, welche den tiefen, leuchtenden Ton des wirklichen Himmels auf keine Weise erreichen können, genöthigt sind, alle Farben, die sie zu ihrer Landschaft brauchen, um ein paar Töne niedriger zu nehmen, als die Natur sie zeigt : wie sie durch diesen Kunstgriff wieder eine Ähnlichkeit im Glanze und eine Harmonie der Töne erreichen, welche der in der Natur entspricht : so müssen sich auch Dichter und Philosophen zu helfen wis-

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sen, denen der leuchtende Glanz des Glückes unerreichbar ist ; indem sie alle Dinge um einige Grade dunkler färben, als sie sind, wirkt ihr Licht, auf welches sie sich verstehen, beinahe sonnenhaft und dem Lichte des vollen Glücks ähnlich. – Der Pessimist, der die schwärzesten und düstersten Farben allen Dingen giebt, verbraucht nur Flammen und Blitze, himmlische Glorien und Alles, was grelle Leuchtkraft hat und die Augen unsicher macht ; bei ihm ist die Helle nur dazu da, das Entsetzen zu vermehren und mehr Schreckliches in den Dingen ahnen zu lassen, als sie haben. 562. D ie S e s s h a f t e n u nd d ie Fr e ie n . – Erst in der Unterwelt zeigt man uns Etwas von dem düsteren Hintergrunde aller jener Abenteurer-Seligkeit, welche um Odysseus und Seinesgleichen wie ein ewiges Meeresleuchten liegt,  – von jenem Hintergrunde, den man | dann nicht mehr vergisst : die Mutter des Odysseus starb aus Gram und Verlangen nach ihrem Kinde ! Den Einen treibt es von Ort zu Ort, und dem Andern, dem S e s s h a f t e n und Zärtlichen, bricht das Herz darüber : so ist es immer ! Der Kummer bricht Denen das Herz, welche es erleben, dass gerade ihr Geliebtester ihre Meinung, ihren Glauben verlässt, – es gehört diess in die Tragödie, welche die freien Geister m ac he n , – um die sie mitunter auch w i s s e n ! Dann müssen sie auch wohl einmal, wie Odysseus, zu den Todten steigen, um ihren Gram zu heben und ihre Zärtlichkeit zu beschwichtigen. 563. Der Wa h n der sit t l ic hen Weltord nu ng. – Es g iebt g a r kei ne ew ige Not hwend ig keit, welche forderte, dass jede Schuld gebüsst und bezahlt werde, – es war ein schrecklicher, zum kleinsten Theile nützlicher Wahn, dass es eine solche gebe – : ebenso wie es ein Wahn ist, dass Alles eine Schuld ist, was a l s s olc he gefühlt wird. Nicht d ie D i n g e, sondern die

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Meinungen über D i n g e, d ie e s g a r n ic ht g iebt , haben die Menschen so verstört ! 564. Gleich neben der Erfahr ung ! – Auch grosse Geister haben nur ihre fünf Finger breite E r f a h r u n g ,  – gleich da neben hört ihr Nachdenken auf : und es beginnt ihr unend licher leerer Raum und ihre Dummheit. 565. Wü rde u nd Unw i ssen heit i m Bu nde. – Wo wir verstehen, da werden wir artig, glücklich, erfi nderisch, | und überall, wo wir nur genug gelernt und uns Augen und Ohren g e m ac ht haben, zeigt unsere Seele mehr Geschmeidigkeit und Anmuth. Aber wir begreifen so Wenig und sind armselig unterrichtet, und so kommt es selten dazu, dass wir eine Sache umarmen und uns dabei selber liebenswerth machen : vielmehr gehen wir steif und unempfi ndlich durch die Stadt, die Natur, die Geschichte und bilden uns Etwas auf diese Haltung und Kälte ein, als ob sie eine Wirkung der Überlegenheit sei. Ja, unsere Unwissenheit und unser geringer Durst nach Wissen verstehen sich treffl ich darauf, als Würde, als Charakter einherzustolzieren. 566. Woh l fei l leben. – Die wohlfeilste und harmloseste Art zu leben ist die des Denkers : denn, um gleich das Wichtigste zu sagen, er bedarf gerade der Dinge am meisten, welche die Anderen geringschätzen und übriglassen –. Sodann : er freut sich leicht und kennt keine kostspieligen Zugänge zum Vergnügen ; seine Arbeit ist nicht hart, sondern gleichsam südländisch ; sein Tag und seine Nacht werden nicht durch Gewissensbisse verdorben ; er bewegt sich, isst, trinkt und schläft nach dem Maasse, dass sein Geist immer ruhiger, kräftiger und heller werde ; er freut sich seines Leibes und hat keinen Grund, ihn zu fürchten ; er bedarf der Geselligkeit nicht, es sei

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denn von Zeit zu Zeit, um hinterher seine Einsamkeit um so zärtlicher zu umarmen ; er hat an den Todten Ersatz für Lebende, und selbst für Freunde einen Ersatz : nämlich an den Besten, die je gelebt haben. – Man erwäge, ob nicht die umgekehrten Gelüste und Gewohnheiten es sind, welche das | Leben der Menschen kostspielig, und folglich mühsam, und oft unausstehlich machen. – In einem anderen Sinne freilich ist das Leben des Denkers das kostspieligste, – es ist Nichts zu gut für ihn ; und gerade d e s B e s t e n zu entbehren wäre hier eine u ne r t r ä g l ic he Entbehrung. 567. Im Felde. – „Wir müssen die Dinge lustiger nehmen, als sie es verdienen ; zumal wir sie lange Zeit ernster genommen haben, als sie es verdienen.“ – So sprechen brave Soldaten der Erkenntniss. 568. D ic hter u nd Vog e l. – Der Vogel Phönix zeigte dem Dichter eine glühende und verkohlende Rolle. „Erschrick nicht ! sagte er, es ist dein Werk ! Es hat nicht den Geist der Zeit und noch weniger den Geist Derer‚ die gegen die Zeit sind : folglich muss es verbrannt werden. Aber diess ist ein gutes Zeichen. Es giebt manche Arten von Morgenröthen.“ 569. A n d ie E i n s a me n . – Wenn wir die Ehre anderer Personen nicht in unseren Selbstgesprächen ebenso schonen, wie in der Öffentlichkeit, so sind wir unanständige Menschen. 570. Ve rlu s t e. – Es giebt Verluste, welche der Seele eine Erhabenheit mittheilen, bei der sie sich des Jammerns enthält und sich wie unter hohen schwarzen Cypressen schweigend ergeht. |

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571. Feld-Apot heke der Seele. – Welches ist das stärkste Heilmittel ? – Der Sieg. 572. D a s L eb e n s ol l u n s b e r u h i g e n . – Wenn man, wie der Denker, für gewöhnlich in dem grossen Strome des Gedankens und Gefühls lebt, und selbst unsere Träume in der Nacht diesem Strome folgen : so begehrt man vom L eb e n Beruhigung und Stille, – während Andere gerade vom Leben ausruhen wollen, wenn sie sich der Meditation übergeben. 573. Sic h h äut e n . – Die Schlange, welche sich nicht häuten kann, geht zu Grunde. Ebenso die Geister, welche man verhindert, ihre Meinungen zu wechseln ; sie hören auf, Geist zu sein. 574. N ic ht z u ve r g e s s e n ! – Je höher wir uns erheben, um so kleiner erscheinen wir Denen, welche nicht fl iegen können. 575. Wir Luf t-Sch if f fa hrer des Geistes ! – Alle diese kühnen Vögel, die in’s Weite, Weiteste hinausfl iegen,  – gewiss ! irgendwo werden sie nicht mehr weiter können und sich auf einen Mast oder eine kärgliche Klippe niederhocken  – und noch dazu so dankbar für diese erbärmliche Unterkunft ! Aber wer dürfte daraus schliessen, dass es vor ihnen k e i ne ungeheuere | freie Bahn mehr gebe, dass sie so weit geflogen sind, als man fl iegen k ön ne ! Alle unsere grossen Lehrmeister und Vorläufer sind endlich stehen geblieben, und es ist nicht die edelste und anmuthigste Gebärde, mit der die Müdigkeit stehen bleibt : auch mir und dir wird es so ergehen ! Was geht das aber mich und dich an ! A nd e r e Vög e l we r d e n we i t e r f l ie g e n ! Diese unsere Einsicht und Gläubigkeit fl iegt

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mit ihnen um die Wette hinaus und hinauf, sie steigt geradewegs über unserm Haupte und über seiner Ohnmacht in die Höhe und sieht von dort aus in die Ferne, sieht die Schaaren viel mächtigerer Vögel, als wir sind, voraus, die dahin streben werden, wohin wir strebten, und wo Alles noch Meer, Meer, Meer ist !  – Und wohin wollen wir denn ? Wollen wir denn ü b e r das Meer ? Wohin reisst uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust ? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit u nt e r g e g a n g e n sind ? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen‚ dass auch wir, n ac h We s t e n s t eue r nd , e i n I nd ie n z u e r r e ic he n hof f t e n , – dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern ? Oder, meine Brüder ? Oder ? –

Nachwort von Claus-Artur Scheier

Morgenröthe Gedanken über die moralischen Vorurtheile

„Mit diesem Buche beginnt mein Feldzug gegen die Moral“, wird Ecce homo erinnern (EH, M 1). Schon im Februar 1881 hatte Nietzsche seinem Verleger Schmeitzner geschrieben : „Das Buch ist das, was man ‚einen entscheidenden Schritt‘ nennt – ein Schicksal mehr als ein Buch.“1 Wohl galt ihm jedes seiner Bücher als entscheidender Schritt und Schicksal, aber als Fingerzeige, wie diesmal das Fatum zu lesen sei, weisen die beiden der Morgenröthe gewidmeten Abschnitte in Ecce homo überraschenderweise in divergierende Richtungen : Wie schon Menschliches, Allzumenschliches ist auch die Morgenröthe zu lesen als „Denkmal einer Krisis“ (EH, MA 1). Hieß jene Krisis noch Wagner, heißt diese schon Nietzsche, und die Crux verbirgt sich – Nietzsches Anführungszeichen signalisieren es – in der Rede von der „‚Rückkehr zu mir‘“ (ebd. 4). Wohin nämlich ? Einerseits zum Ich der Geburt der Tragödie als zum „ersten tragischen Philosophen“ (EH, GT 3), anderseits in dies Ich von nun an als zurückkehrendes, sich reflektierendes – als Rückkehren, Prozeß : „Gewiss, er wird zurückkehren“ (M, Vorrede 1) … Der Feldzug gegen die Moral beginnt, beginnt aber auch erst, und aller Beginn ist zweideutig. Der zweite der zwei Abschnitte des Ecce homo-Kapitels rechtfertigt die beiläufige Revision des Untertitels der Morgenröthe : aus den „Gedanken über die moralischen Vorurtheile“ sind „Gedanken über die Moral als Vorurtheil“ geworden, zusammengefaßt als die Einsicht, dass die Menschheit nicht von selber auf dem rechten Wege ist, dass sie durchaus nicht göttlich regiert wird, dass vielmehr gerade 1

An Ernst Schmeitzer, 23. Februar 1881.

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unter ihren heiligsten Werthbegriffen der Instinkt der Verneinung, der Verderbniss, der décadence-Instinkt verführerisch gewaltet hat. Die Frage nach der Herkunft der moralischen Werthe ist deshalb für mich eine Frage ersten Ranges, weil sie die Zukunft der Menschheit bedingt. (EH, M 2)

1888 – wenn es keine Vorsehung gibt und die Menschheit auch nicht von selber auf dem rechten Weg ist, dann ist einzugreifen, die bisherige Welt umzuschaffen. 1881 war erst umzulernen : ‚Die Sittlichkeit leugnen‘ – das kann einmal heissen : leugnen, dass die sittlichen Motive, welche die Menschen angeben, wirklich sie zu ihren Handlungen getrieben haben, – es ist also die Behauptung, dass die Sittlichkeit in Worten bestehe und zur groben und feinen Betrügerei (namentlich Selbstbetrügerei) der Menschen gehöre […]. Sodann kann es heissen : leugnen, dass die sittlichen Urtheile auf Wahrheiten beruhen. Hier wird zugegeben, dass sie Motive des Handelns wirklich sind, dass aber auf diese Weise Irrthümer, als Grund alles sittlichen Urtheilens, die Menschen zu ihren moralischen Handlungen treiben. Diess ist mein Gesichtspunct […]. Ich leugne nicht, […] dass viele Handlungen, welche unsittlich heissen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, dass viele, die sittlich heissen, zu thun und zu fördern sind, – aber ich meine : das Eine wie das Andere aus anderen Gründen, als bisher. Wir haben umzulernen, – um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen : umzufühlen.2

So ist der nach-zarathustrische Gedanke entschieden ‚schaffend‘ („Wie man mit dem Hammer philosophirt“), während die Morgenröthe Nietzsches im engsten Sinn reflektierendes Buch ist : „Weder grosses, noch auch kleines Geschütz : ist die Wirkung des Buchs negativ, so sind es seine Mittel um so 2

M 103, vgl. 34 : Die „Geschichte der moralischen Gefühle [ist] eine

ganz andere, als die Geschichte der moralischen Begriffe. Erstere sind mächtig vor der Handlung, letztere namentlich nach der Handlung, angesichts der Nöthigung, sich über sie auszusprechen“.

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weniger, diese Mittel, aus denen die Wirkung wie ein Schluss, nicht wie ein Kanonenschuss folgt.“ (EH, M 1) Und denkwürdig genug für den Beginn eines Feldzugs gegen die Moral : Sie wird gar „nicht angegriffen, sie kommt nur nicht mehr in Betracht…“ (ebd.) Stattdessen ein Buch, das wie kein andres „in der Sonne liegt, rund, glücklich, einem Seegethier gleich, das zwischen Felsen 3 sich sonnt“ : Zuletzt war ich's selbst, dieses Seegethier : fast jeder Satz des Buchs ist erdacht, erschlüpft […]. Die Kunst, die es voraus hat, ist keine kleine darin, Dinge, die leicht und ohne Geräusch vorbeihuschen, Augenblicke, die ich göttliche Eidechsen nenne, ein wenig fest zu machen – nicht etwa mit der Grausamkeit jenes jungen Griechengottes, der das arme Eidechslein einfach anspiesste, aber immerhin doch mit etwas Spitzem, mit der Feder … (EH, M 1)

In der Reflexion auf sich sind die neuen Erkenntnisse erschlüpft, der Philosoph selber die Eidechse, die er, kein Apollon Sauroktonos, nur mit der Spitzfeder erhascht als Wanderer, der auf seinen Wegen niemandem begegnet, „das bringen die ‚eignen Wege‘ mit sich“ (ebd., 2) – niemandem als sich selbst. Nicht länger mit seinem Schatten, sondern darin wandernd ist er ein „scheinbare[r] Trophonios und Unterirdische[r]“,4 der „in den 3

Vgl. M 47 : „Überall, wo die Uralten ein Wort hinstellten, da glaubten sie eine Entdeckung gemacht zu haben. Wie anders stand es in Wahrheit ! – Jetzt muss man bei jeder Erkenntniss über steinharte verewigte Worte stolpern, und wird dabei eher ein Bein brechen, als ein Wort.“ 4 M, Vorrede 1. Trophonios habe zusammen mit seinem Bruder Agamedes den Apollontempel in Delphi erbaut und Agamedes getötet (eine „Nietzsche contra Wagner“ – Parallele); er sei geflohen und bei Lebadeia von der Erde verschlungen worden. Dort gab es seitdem ein Orakel. In Aristophanes’ Wolken (507 f.) fürchtet sich Strepsiades, bei Sokrates einzutreten, wie vor der Katabasis in Trophonios’ Höhle. Trophonios trug den Beinamen pais skótios, für Nietzsche eine naheliegende Assoziation mit dem skoteinós, dem „dunklen“ Heraklit. Vgl. PHtZ 1 (KGW III.2, S. 302 f.) : „In anderen Zeiten ist der Philosoph ein zufälliger einsamer

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Grund“ bohrt.5 Diesen „dunklen Boden [des] Unbewußtseins“6 hatte Wagner im Beethoven beschworen, und die Geburt der Tragödie hatte ihn aufgedeckt als die dionysische Differenz, verzaubert von Rousseau, Kant und Schopenhauer ins „majestätische sittliche Gebäude“7 der „Circe der Philosophen“.8 Wanderer in feindseligster Umgebung, entweder sich durchschleichend oder mit geballten Fäusten sich durchdrängend. Allein bei den Griechen ist der Philosoph nicht zufällig : wenn er im sechsten und fünften Jahrhundert unter den ungeheuren Gefahren und Verführungen der Verweltlichung erscheint und gleichsam aus der Höhle des Trophonios mitten in die Üppigkeit, das Entdeckerglück den Reichthum und die Sinnlichkeit der griechischen Kolonien hineinschreitet, so ahnen wir, daß er als ein edler Warner kommt, zu demselben Zwecke, zu dem in jenen Jahrhunderten die Tragödie geboren wurde“. 5 Ebd. Vgl. EH, MA 4 : „Jenes unterste Selbst, gleichsam verschüttet, gleichsam still geworden […] erwachte langsam, schüchtern, zweifelhaft, – aber endlich redete es wieder. Nie habe ich so viel Glück an mir gehabt, als in den kränksten und schmerzhaftesten Zeiten meines Lebens : man hat nur die ‚Morgenröthe‘ oder etwa den ‚Wanderer und seinen Schatten‘ sich anzusehn, um zu begreifen, was diese ‚Rückkehr zu mir‘ war“. 6 Richard Wagner : Beethoven, Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. Leipzig 61912/14 [SSD], Bd. 9, S. 65. 7 Vgl. Kant : Kritik der reinen Vernunft, Von den Ideen überhaupt, A  318 f., B 375 f. : „Denn in Betracht der Natur giebt uns Erfahrung die Regel an die Hand und ist der Quell der Wahrheit; in Ansehung der sittlichen Gesetze aber ist Erfahrung (leider !) die Mutter des Scheins, und es ist höchst verwerflich, die Gesetze über das, was ich thun soll, von demjenigen herzunehmen, oder dadurch einschränken zu wollen, was gethan wird. / Statt aller dieser Betrachtungen, deren gehörige Ausführung in der That die eigenthümliche Würde der Philosophie ausmacht, beschäftigen wir uns jetzt mit einer nicht so glänzenden, aber doch auch nicht verdienstlosen Arbeit, nämlich : den Boden zu jenen majestätischen sittlichen Gebäuden eben und baufest zu machen, in welchem sich allerlei Maulwurfsgänge einer vergeblich, aber mit guter Zuversicht auf Schätze grabenden Vernunft vorfinden, und die jenes Bauwerk unsicher machen.“ 8 M, Vorrede 3. „Die Musik als Circe …“, wird es in Der Fall Wagner heißen (WA, Nachschrift). Dazu GM 3.2 (vgl. NW, Wagner als Apostel der Keuschheit 2).

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Für die Entwicklung des Denkers sind jene Wege im Labyrinth und „Felsen-Wirrwarr nahe bei Genua“ (EH, M 1) allerdings „ein Schicksal mehr als ein Buch“. Nach der Geburt der Tragödie, den Unzeitgemäßen und den drei Schüben von Menschliches, Allzumenschliches weiß er sich zum erstenmal nicht nur allein, sondern in sich gefangen : Mein Auge, wie stark oder schwach es nun ist, sieht nur ein Stück weit, und in diesem Stück webe und lebe ich, diese Horizont-Linie ist mein nächstes grosses und kleines Verhängniss, dem ich nicht entlaufen kann. Um jedes Wesen legt sich derart ein concentrischer Kreis, der einen Mittelpunct hat und der ihm eigenthümlich ist. […] Die Gewohnheiten unserer Sinne haben uns in Lug und Trug der Empfi ndung eingesponnen : diese wieder sind die Grundlagen aller unserer Urtheile und ‚Erkenntnisse‘, – es giebt durchaus kein Entrinnen, keine Schlupf- und Schleichwege in die wirkliche Welt ! Wir sind in unserem Netze, wir Spinnen, und was wir auch darin fangen, wir können gar Nichts fangen, als was sich eben in unserem Netze fangen lässt. (M 117)

Von hier an ist Nietzsche auf dem Weg zum System „des synthetischen Begriffs ‚ich‘“ ( JGB 19) -„Vorsicht vor den Systematikern !“ (M 318) warnt die Morgenröthe sich selber –, und weiß fortan, daß wir vom Nächsten nichts begreifen als das, „womit er sich auf und an uns gleichsam einzeichnet und eindrückt […] als die Veränderungen an uns, deren Ursache er ist, – unser Wissen von ihm gleicht einem hohlen geformten Raume.“ (ebd.) Das läßt den letzten Brief an den verehrten Jacob Burckhardt noch diesseits der Psychiatrie verstehen : Lieber Herr Professor, / zuletzt wäre ich sehr viel lieber Basler Professor als Gott; aber ich habe es nicht gewagt, meinen Privat-Egoismus so weit zu treiben, um seinetwegen die Schaff ung der Welt zu unterlassen.9 […] Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit 9

Vgl. M 45 : „Ein Tragödien-Ausgang der Erkenntniss. – Von allen Mit-

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zusetzt, ist, daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin; auch mit den Kindern, die ich in die Welt gesetzt habe [sc. den Büchern], steht es so, daß ich mit einigem Mißtrauen erwäge, ob nicht Alle, die in das ‚Reich Gottes‘ kommen, auch aus Gott kommen.10

„In herzlicher Liebe Ihr Nietzsche“ – die Briefe und Billette zuvor sind wechselnd unterschrieben mit „N.“, „Caesar“, „Dionysos“ und „Der Gekreuzigte“. Noch ist der Weg weit zur Synthesis mit Zarathustra, geschweige mit dem weltschaffenden Gott, aber im dritten Teil von Menschliches, Allzumenschliches konstellierte sich schon die Synthesis von Ich und Schatten,11 die von der Morgenröthe ins Werk gesetzt wird : „Vor Allem und zuerst die Werke ! Das heisst Übung, Übung, Übung ! Der dazu gehörige ‚Glaube‘ wird sich schon einstellen, – dessen seid versichert !“ (M 22) Gewiß. Nur sind die Werke ihrerseits Mittel, weil es zuletzt zu tun ist um „das Schauspiel jener Kraft, welche ein Genie nicht auf Werke, sondern auf sich als Werk, verwendet, das heisst auf seine eigene Bändigung, auf Reinigung seiner Phantasie, auf Ordnung und Auswahl im Zuströmen von Aufgaben und Einfällen“ (M 548). So beginnt der Feldzug gegen die Moral als Feldzug gegen sich : „Du musst jeden Tag auch deinen Feldzug gegen dich selber führen. Ein Sieg und eine eroberte Schanze sind nicht mehr deine Angelegenheit, sondern die der Wahrheit, – aber auch deine Niederlage ist nicht mehr deine Angelegenheit !“12

teln der Erhebung sind es die Menschenopfer gewesen, welche zu allen Zeiten den Menschen am meisten erhoben und gehoben haben.“ 10 An Jacob Burckhadt, 6. Januar 1889. 11 IV-1.15[27] (1876) : „Deutlichkeit ist Vereinigung von Licht und Schatten.“ 12 M 370. Vgl. 48 : „‚Erkenne dich selbst‘ ist die ganze Wissenschaft. – Erst am Ende der Erkenntnis wird der Mensch sich selber erkannt haben. Denn die Dinge sind nur die Gränzen des Menschen.“

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Inzwischen gedenken wir einer alten Erfahrung : zwei so grundverschiedene Menschen, wie Plato und Aristoteles, kamen in dem überein, was das höchste Glück ausmache, nicht nur für sie oder für Menschen, sondern an sich, selbst für Götter der letzten Seligkeiten : sie fanden es im Erkennen, in der Thätigkeit eines wohlgeübten fi ndenden und erfi ndenden Verstandes (nicht etwa in der ‚Intuition‘, wie die deutschen Halb- und Ganztheologen, nicht in der Vision, wie die Mystiker, und ebenfalls nicht im Schaffen, wie alle Praktiker).13

Solchen „beschaulichen Naturen, welche sich gegen alles Phantasiren in Zucht zu halten haben und auch den Ruf der Schwärmerei scheuen, genügen allein die harten realistischen Theorien“ (M 328), wie Menschliches, Allzumenschliches sie ausbuchstabiert hatte, aber : „Mit der Einsicht in den Ursprung nimmt die Bedeutungslosigkeit des Ursprungs zu : während das Nächste, das Um-uns und In-uns allmählich Farben und Schönheiten und Räthsel und Reichthümer von Bedeutung aufzuzeigen beginnt, von denen sich die ältere Menschheit nichts träumen liess.“ (M 44) Wer darum meint, die Wirklichkeit sei häßlich, denkt nicht daran, dass die Erkenntniss auch der hässlichsten Wirklichkeit schön ist, ebenso dass wer oft und viel erkennt, zuletzt sehr ferne davon ist, das grosse Ganze der Wirklichkeit, deren Entdeckung ihm immer 13

M 550. Nietzsche verkennt bezeichnenderweise die Bestimmung

der klassischen theôria, die alles andre war als die „Thätigkeit eines wohlgeübten fi ndenden und erfi ndenden Verstandes“, sondern reines Anschauen (noys, intellectus) des „wahrhaft Wirklichen“. Indem die nach-metaphysische Moderne das transzendentale Signifi kat in allen seinen Spielarten abgeschaff t hat, verzichtete sie auch auf die theôria und zog sich zurück auf die Theorie, die stets intentional zu denken ist als Theorie-für …, ihrerseits ein Konstrukt. Dazu M 505 : „Wir Denker haben den Wohlgeschmack aller Dinge erst festzustellen und nöthigenfalls ihn zu decretiren. Die praktischen Leute nehmen ihn endlich von uns an, ihre Abhängigkeit von uns ist unglaublich gross und das lächerlichste Schauspiel der Welt“.

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Glück gab, hässlich zu fi nden. Giebt es denn etwas ‚an sich Schönes‘ ? Das Glück der Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt und macht Alles, was da ist, sonniger; die Erkenntniss legt ihre Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern, auf die Dauer, in die Dinge; – möge die zukünftige Menschheit für diesen Satz ihr Zeugniss abgeben ! (M 550)

1885/86 erprobt Nietzsche neue Buchtitel, darunter : „‚Wir Eidechsen des Glücks.‘ / Gedanken eines Dankbaren.“14 Im jüngst abgeschlossenen vierten Teil von Also sprach Zarathustra hieß es unter dem Titel Mittags : „Das Wenigste gerade, das Leiseste, Leichteste, einer Eidechse Rascheln, ein Hauch, ein Husch, ein Augen-Blick – Wenig macht die Art des besten Glücks.“15 – „Glück aber, welches es auch sei, giebt Luft, Licht und freie Bewegung“ (M 136), und Nietzsche verstand sich wie kein andrer Denker auf das schwierige Glück in der Moderne, der „die Gegenwart selbst zur Paradoxie der Zeit“ geworden ist : „zur Einheit der Differenz von Vergangenheit und Zukunft, zum durch sie ausgeschlossenen, in sie eingeschlossenen Dritten, zur Zeit, in der man keine Zeit hat“.16 Schon Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben weiß : „Bei dem kleinsten aber und bei dem grössten Glücke ist es immer Eines, wodurch Glück zum Glücke wird : das Vergessen-können oder, gelehrter ausgedrückt, das Vermögen, während seiner Dauer unhistorisch zu empfi nden.“ (HL 1) Dies Glück, das alte Glück Epikurs,17 ist die im „AugenBlick“ ins Selbst-Gefühl sich einfaltende Reflexion. Aber sie 14 15

VIII-1.1[143].

Za 4.10 : Mittags. Niklas Luhmann : Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992 (11990) S. 613. 17 „Die Weisheit ist um keinen Schritt über Epikur hinausgekommen – und oftmals viele tausend Schritt hinter ihn zurück.“ (IV-2.23[56], 1876/77) „Wellen – an ruhigem Sommertage am Ufer schlürfen – Epicur's Garten-Glück“ (IV-3.30[31] (1878), vgl. JGB 7 : „dieser Gartengott Epicur“) 16

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faltet sich auch immer nur ein im Augenblick und gebiert sich im nächsten daraus neu. Selbst-Gefühl ist die Reflexion als dies einfache In-sich-Erzittern, und die sich wieder entfaltende Reflexion bringt ihre Herkunft mit und hat Zukunft, sie ist Vorgefühl – daß dieser glückliche Augenblick die Welt sein könnte : „Oh, wollten doch die Dichter wieder werden, was sie einstmals gewesen sein sollen : – Seher, die uns Etwas von dem Möglichen erzählen ! […] – von purpurnglühenden Sternbildern und ganzen Milchstrassen des Schönen ! Wo seid ihr, ihr Astronomen des Ideals ?“18 So hat die Reflexion nicht das theoretische Ich zum Gegenstand, das leere,19 sondern das poietische, das schaffende Ich in statu nascendi, das Ich, das schwanger geht mit seiner Möglichkeit : „Ja, ich bin stolz darauf, den Charakter Epikur's anders zu empfi nden, als irgend Jemand vielleicht, und bei Allem, was ich von ihm höre und lese, das Glück des Nachmittags des Alterthums zu geniessen : – ich sehe sein Auge auf ein weites weissliches Meer blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, während grosses und kleines Gethier in ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie diess Licht und jenes Auge selber“ (FW 45). 18 M 551. Ein Jahrhundert später steht diesen literarischen Astronomen am nächsten vielleicht Italo Calvinos Palomar. Für die „New York Times Book Review“ schrieb der Autor 1983 : „Beim Wiederlesen des Ganzen fällt mir ein, daß die Geschichte von Palomar sich zusammenfassen läßt in zwei Sätzen : ‚Ein Mann macht sich auf den Weg, um, Schritt für Schritt, zur Weisheit zu gelangen. Er ist noch nicht angekommen‘.“ (Italo Calvino : Palomar, Milano 1994, S. IX) 19 Vgl. M 243 : „Versuchen wir den Spiegel an sich zu betrachten, so entdecken wir endlich Nichts, als die Dinge auf ihm. Wollen wir die Dinge fassen, so kommen wir zuletzt wieder auf Nichts, als auf den Spiegel. – Diess ist die allgemeinste Geschichte der Erkenntniss.“ In der Nachbarschaft zum sechs Jahre älteren Franz Brentano eine denkbar genaue Bestimmung des intentionalen Bewußtseins. Vgl. Ludwig Wittgenstein : „Das Ich des Solipsismus schrumpft zum ausdehnungslosen Punkt zusammen, und es bleibt die ihm koordinierte Realität.“ (Logisch-philosophische Abhandlung [Tractatus] 5.64)

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Giebt es einen weihevolleren Zustand, als den der Schwangerschaft ? Alles, was man thut, in dem stillen Glauben thun, es müsse irgendwie dem Werdenden in uns zu Gute kommen ! Es müsse seinen geheimnissvollen Werth, an den wir mit Entzücken denken, erhöhen ! […] Dabei waltet ein reines und reinigendes Gefühl tiefer Unverantwortlichkeit in uns, fast wie es ein Zuschauer vor dem geschlossenen Vorhang hat, – es wächst, es tritt an den Tag […]. ‚Es ist etwas Grösseres, das hier wächst, als wir sind‘ ist unsere geheimste Hoff nung […] – wir haben zu allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhältniss, als das der Schwangerschaft und sollten das anmaassliche Reden von ‚Wollen‘ und ‚Schaffen‘ in den Wind blasen ! Diess ist die rechte idealische Selbstsucht : immer zu sorgen und zu wachen und die Seele still zu halten, dass unsere Fruchtbarkeit schön zu Ende gehe ! (M 552)

Das eigentümliche Glück ebenso wie die eigentümliche Gefahr des Buchs haben darin ihr Schwergewicht, daß es im Beginn des Feldzugs gegen die Moral zögert. Die Wirkung folgt „wie ein Schluss, nicht wie ein Kanonenschuss“, die Moral kommt „nicht mehr in Betracht“; „fast jeder Satz des Buchs ist erdacht, erschlüpft“, aber der Eidechse bleibt im In-uns des moralischen Labyrinths wie im Um-uns des südlichen Felsen-Wirrwarrs „Viel Tag für Dichten, Schleichen, Einsam-Munkeln“.20 Jeder „leise[n] Regung unserer amphibischen Natur“ nachhängend,21 ist dies die „Einsamkeit der vita contemplativa des Denkers : wenn er sie wählt, will er keineswegs entsagen; vielmehr wäre es ihm Entsagung, Schwer20

„Mein Glück“, FW, Anhang : Lieder des Prinzen Vogelfrei. M 89. Wir sind „Amphibien“ ( VIII-1.7[54], 1887), und noch 1888 bewundert Nietzsche Wagner, weil er der Kunst manches hinzugefügt hat, „was bisher unausdrücklich und selbst der Kunst unwürdig erschien – […] manches ganz Kleine und Mikroskopische der Seele, gleichsam die Schuppen ihrer amphibischen Natur“ (NW, Wo ich bewundere, dazu FW 87). 21

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muth, Untergang seiner selbst, in der vita practica ausharren zu müssen“.22 Noch einmal scheint er sich für Schopenhauers „reines willenloses Subject der Erkenntniß“ zu nehmen,23 dem das Dasein, „rein angeschaut, […] frei von Quaal, ein bedeutsames Schauspiel gewährt“.24 Nur ist Schopenhauers Schauspiel einzig als Trauerspiel bedeutsam und führt zur „gänzlichen Resignation“,25 während Nietzsches vita contemplativa der Möglichkeit nicht entsagt, deren Schauspiel vielmehr sucht – wie die Dichter „Seher“ sein sollen, „die uns Etwas von dem Möglichen erzählen“ (M 551). Und noch angesichts der lebendigen Möglichkeit selbst, vor der eignen „Schwangerschaft“, verharrt die Kontemplation „fast wie […] ein Zuschauer vor dem geschlossenen Vorhang“ : in der Vorstellung – im Bild. Wo aber „die Menschheit nicht von selber auf dem rechten Wege ist“ (EH, M 2), da ist das Nichtstun der Reflexion moralisch verwerflich,26 und genau dies wird Zarathustras Sorge sein :

22 23

M 440. Zur „vita contemplativa“ vgl. 41 f.

Arthur Schopenhauer : Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 34, Werke, hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1991 (11988), Bd 1, S. 243 f. (vgl. GT 5). 24 Ebd., § 52, S. 353. (Vgl. M 509 : „Wie ! du bedarfst noch des Theaters ! Bist du noch so jung ? Werde klug und suche die Tragödie und Komödie dort, wo sie besser gespielt wird ! Wo es interessanter und interessirter zugeht ! Ja, es ist nicht ganz leicht, dabei eben nur Zuschauer zu bleiben, – aber lerne es ! […] Mache dein Theater-Auge auf, das grosse dritte Auge, welches durch die zwei anderen in die Welt schaut !“) 25 Ebd., § 68, S. 505. 26 So stellt das Buch „in der That einen Widerspruch dar und fürchtet sich nicht davor : in ihm wird der Moral das Vertrauen gekündigt – warum doch ? Aus Moralität ! […] und dies ist die letzte Moral, die sich auch uns noch hörbar macht, die auch wir noch zu leben wissen, hier, wenn irgend worin, sind auch wir noch Menschen des Gewissens : dass wir nämlich nicht wieder zurückwollen“ (M, Vorrede 4).

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Wo ist Unschuld ? Wo der Wille zur Zeugung ist. Und wer über sich hinaus schaffen will, der hat mir den reinsten Willen. / Wo ist Schönheit ? Wo ich mit allem Willen wollen muß; wo ich lieben und untergehn will, daß ein Bild nicht nur Bild bleibe.27

Wenn Ecce homo die Kritik am kontemplativen dolce far niente (vgl. M 256) in den Kontrast seiner beiden der Morgenröthe gewidmeten Abschnitte verstecken wird, dann auch darum, weil bereits der Zarathustra nicht viel Federlesens gemacht hat. Die Rede Von der unbefleckten Erkenntniss (Nietzsches boshafte Übersetzung von theôria und contemplatio) fährt nach der Beschwörung von Unschuld und Schönheit fort : Lieben und Untergehn : das reimt sich seit Ewigkeiten. Wille zur Liebe : das ist, willig auch sein zum Tode. Also rede ich zu euch Feiglingen ! / Aber nun will euer entmanntes Schielen ‚Beschaulichkeit‘ heissen ! Und was mit feigen Augen sich tasten lässt, soll ‚schön‘ getauft werden ! Oh, ihr Beschmutzer edler Namen ! / Aber das soll euer Fluch sein, ihr Unbefleckten, ihr Rein-Erkennenden, dass ihr nie gebären werdet : und wenn ihr auch breit und trächtig am Horizonte liegt […]. / Wahrlich, ihr täuscht, ihr ‚Beschaulichen‘ ! Auch Zarathustra war einst der Narr eurer göttlichen Häute; nicht errieth er das Schlangengeringel, mit denen sie gestopft waren. / Eines Gottes Seele wähnte ich einst spielen zu sehn in euren Spielen, ihr Rein-Erkennenden ! Keine bessere Kunst wähnte ich einst als eure Künste ! / Schlangen-Unflath und schlimmen Geruch verhehlte mir die Ferne : und dass einer Eidechse List lüstern hier herumschlich. / Aber ich kam euch nah : da kam mir der Tag – und nun kommt er euch, – zu Ende gieng des Mondes Liebschaft ! / Seht doch hin ! Ertappt und bleich steht er da – vor der Morgenröthe ! (Za 2.15)

27

Za 2.15 : Von der unbefleckten Erkenntniss. – Nach dem Ringen mit seinem „abgründlichsten Gedanken“ wird der „Genesende“ seine Tiere tadeln : „Und ihr schautet dem Allen zu ?“ (Za 3.13 : Der Genesende 2)

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Mittags wird Zarathustra den Eidechsen wieder gut sein, und die Rede von der „unbefleckten Erkenntniss“ macht nur noch einmal deutlich, daß nicht allein der Wanderer seinen Schatten hat, sondern auch die Eidechse. „‚Es giebt so viele Morgenröthen, die noch nicht geleuchtet haben‘ – diese indische Inschrift steht auf der Thür zu diesem Buche. Wo sucht sein Urheber jenen neuen Morgen“ ?28 Das Woher war eindeutig : „Mit der ‚Morgenröthe‘ nahm ich zuerst den Kampf gegen die Entselbstungs-Moral auf“ (EH, M 2); aber das Wohin war zweideutig geblieben. In der Fröhlichen Wissenschaft wird es „Auf die Schiffe !“29 heißen, die hier noch Luft-Schiffe sind :30 Wir Luft-Schiff fahrer des Geistes ! – Und wohin wollen wir denn ? Wollen wir denn über das Meer ? Wohin reisst uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust ? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit untergegangen sind ? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, dass auch wir, nach Westen steuernd, ein Indien zu erreichen hoff ten, – dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern ? Oder, meine Brüder ? Oder ? –

„Unendlichkeit ! Schön ist’s ‚in diesem Meer zu scheitern.‘“,31 zitiert Nietzsche den Schlußvers von Leopardis L’Infinito im Herbst 1880. Die Morgenröthe „ist das einzige Buch, das mit einem ‚Oder ?‘ schliesst …“ (EH, M 1) und genau damit schließen kann, weil es selbst das ganze Entweder ist.

28

EH, M 1. V-1.4[130] (1880) : „In Indien ist das Höchste Contempla-

tion“. 29 30

FW 289, vgl. FW 124 und 343.

„Luftwandeln“ (aerobateîn) – eine auf Sokrates gemünzte Wortschöpfung des Aristophanes (vgl. Wolken 225 und Platon : Apol. 19c). Zu Aristophanes vgl. GT 13 und 17, JGB 28. 31 „E il naufragar m’è dolce in questo mare.“ (V-1.6[364], 1880).

Editorische Notiz

Die Wiedergabe des Textes der Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile erfolgt nach der Neuen Ausgabe von 1887 der 1881 in erster Auflage erschienenen Schrift, der Nietzsche jetzt die 1886 verfaßte neue „einführende“ Vorrede voranstellte. Die Eigentümlichkeiten der Orthographie der Zeit und der Interpunktion Nietzsches bleiben unverändert erhalten; offenkundige Fehler wurden stillschweigend korrigiert, die Edition des Textes in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Colli und Montinari (Berlin 1967 ff.) wurde durchgängig vergleichend herangezogen. Der Seitenumbruch der Originalausgabe wird im Text fortlaufend durch einen senkrechten Strich | markiert und im Kolumnentitel innen mit Angabe der Seitenzahlen angezeigt.

Siglenverzeichnis

AC

Der Antichrist (1888)

EH

Ecce homo (1888/89)

FW

Die fröhliche Wissenschaft (1882)

GD

Götzen-Dämmerung (1889)

GM

Zur Genealogie der Moral (1887)

GT

Die Geburt der Tragödie (1872)

HL

Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874)

JGB

Jenseits von Gut und Böse (1886)

KGB

Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1975 ff.

KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1967 ff. M

Morgenröthe (1881)

MA

Menschliches, Allzumenschliches

NW

Nietzsche contra Wagner (1894)

PhtZ

Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873)

SE

Schopenhauer als Erzieher (1874)

UB

Unzeitgemässe Betrachtungen

WA

Der Fall Wagner (1888)

WB

Richard Wagner in Bayreuth (1878)

Za

Also sprach Zarathustra

Besondere Empfehlung des Norddeutschen Rundfunks und der Süddeutschen Zeitung auf der Sachbuchbestenliste:

Chronik der philosophischen Werke Von der Erfindung des Buchdrucks bis ins 20. Jahrhundert Erarbeitet von Arnim Regenbogen XX, 639 Seiten. 978-3-7873-2241-1. Kartoniert.

Diese Chronik verzeichnet und beschreibt die seit der Erfindung des Buchdrucks publizierten Hauptwerke der Philosophie – einschließlich der Erstdrucke der bis dahin nur handschriftlich überlieferten antiken und mittelalterlichen Texte. Sie eröffnet die Möglichkeit, getrennt erschienene aber evtl. in Wechselwirkung stehende Werke miteinander in Verbindung zu setzen. Die Chronik der philosophischen Werke bildet eine kongeniale Ergänzung zum Programm der »Philosophischen Bibliothek«. »Sehr nützliche Chronik ... Zum Glück wird es einem nicht leichter als möglich gemacht.« Süddeutsche Zeitung »Ungemein spannend ... gute Einleitungen«

Philosophie Magazin

meiner.de/chronik

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Philosophische Werke in sechs Bänden H e r au s g e g e b e n von c l au s -a r t u r s c h e i e r

BAND 5

F E L I X M E I N ER V ER L AG H A M BU RG

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Die fröhliche Wissenschaft Wir Furchtlosen (Neue Ausgabe 1887)

M i t N ac h wor t e n von c l au s -A r t u r S c h e i e r

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 655

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http ://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN 978-3-7873-2425-5 ISBN eBook: 978-3-7873-2432-3

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© Felix Meiner Verlag, Hamburg 2013. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Viervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§ 53, 54 URG ausdrücklich gestatten. Satz : Type & Buch Kusel, Hamburg. Druck und Bindung : C. H. Beck, Nördlingen. Werkdruck papier : alterungsbeständig nach DIN-ISO 9706, hergestellt aus 100 % chlor frei gebleichtem Zellstoff. Printed in Germany.

Inhalt

Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“)

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

„Scherz, List und Rache“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Erstes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Zweites Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

77

Drittes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Viertes Buch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Fünftes Buch. Wir Furchtlosen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Anhang: Lieder des Prinzen Vogelfrei . . . . . . . . . . . . . . . 287 Nachworte des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335

Friedrich Nietzsche

Die fröhliche Wissenschaft. („la gaya scienza“)

Ich wohne in meinem eignen Haus, Hab Niemandem nie nichts nachgemacht Und – lachte noch jeden Meister aus, Der nicht sich selber ausgelacht. Ueber meiner Hausthür.

Neue Ausgabe mit einem Anhange: Lieder des Prinzen Vogelfrei.

3

iii | iv

Vorrede zur zweiten Ausgabe.

1. Diesem Buche thut vielleicht nicht nur Eine Vorrede noth ; und zuletzt bliebe immer noch der Zweifel bestehn, ob Jemand, ohne etwas Aehnliches erlebt zu haben, dem E r le b n i s s e dieses Buchs durch Vorreden näher gebracht werden kann. Es scheint in der Sprache des Thauwinds geschrieben : es ist Ueber muth, Unruhe, Widerspruch, Aprilwetter darin, so dass man beständig ebenso an die Nähe des Winters als an den Sieg über den Winter gemahnt wird, der kommt, kommen muss, vielleicht schon gekommen ist … Die Dankbarkeit strömt fortwährend aus, als ob eben das Unerwartetste geschehn sei, die Dankbarkeit eines Genesenden, – denn die G e n e s u n g war dieses Unerwartetste. „Fröhliche Wissenschaft“ : das bedeutet die Saturnalien eines Geistes, der einem furchtbaren langen Drucke geduldig widerstanden hat – geduldig, streng, kalt, ohne sich zu unterwerfen, aber ohne Hoff nung –, und der jetzt mit Einem Male von der | Hoff nung angefallen wird, von der Hoff nung auf Gesundheit, von der Tr u n k e n he it der Genesung. Was Wunders, dass dabei viel Unvernünftiges und Närrisches an’s Licht kommt, viel muthwillige Zärtlichkeit, selbst auf Probleme verschwendet, die ein stachlichtes Fell haben und nicht darnach angethan sind, geliebkost und gelockt zu werden. Dies ganze Buch ist eben Nichts als eine Lustbarkeit nach langer Entbehrung und Ohnmacht, das Frohlocken der wiederkehrenden Kraft, des neu erwachten Glaubens an ein Morgen und Uebermorgen, des plötzlichen Gefühls und Vorgefühls von Zukunft, von nahen Abenteuern, von wieder offenen Meeren, von wieder erlaubten, wieder geglaubten Zielen. Und was lag nunmehr Alles hinter mir !

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Vorrede

iv | v

Dieses Stück Wüste, Erschöpfung, Unglaube, Vereisung mitten in der Jugend, dieses eingeschaltete Greisenthum an unrechter Stelle, diese Tyrannei des Schmerzes überboten noch durch die Tyrannei des Stolzes, der die Fol g e r u n g e n des Schmerzes ablehnte – und Folgerungen sind Tröstungen –, diese radikale Vereinsamung als Nothwehr gegen eine krankhaft hellseherisch gewordene Menschenverachtung, diese grundsätzliche Einschränkung auf das Bittere, Herbe, Wehethuende der Erkenntniss, wie sie der E k e l verordnete, der aus einer unvorsichtigen geistigen Diät und Verwöhnung – man heisst sie Romantik – allmählich gewachsen war –, oh wer mir das Alles nachfühlen könnte ! Wer es aber könnte, würde mir sicher noch mehr zu Gute halten als etwas Thorheit, Ausgelassenheit, „fröhliche Wissenschaft“, – zum Beispiel die Handvoll Lieder, welche dem Buche dies Mal beigegeben sind – Lieder, in denen sich ein Dichter auf | eine schwer verzeihliche Weise über alle Dichter lustig macht. – Ach, es sind nicht nur die Dichter und ihre schönen „lyrischen Gefühle“, an denen dieser Wieder-Erstandene seine Bosheit auslassen muss : wer weiss, was für ein Opfer er sich sucht, was für ein Unthier von parodischem Stoff ihn in Kürze reizen wird ? „Incipit t r a g o e d i a“ – heisst es am Schlusse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs : man sei auf seiner Hut ! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an : incipit p a r o d i a , es ist kein Zweifel … 2. – Aber lassen wir Herrn Nietzsche : was geht es uns an, dass Herr Nietzsche wieder gesund wurde ? … Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen, wie die nach dem Verhältniss von Gesundheit und Philosophie, und für den Fall, dass er selber krank wird, bringt er seine ganze wissenschaftliche Neugierde mit in seine Krankheit. Man hat nämlich, vorausgesetzt, dass man eine Person ist, nothwendig auch die Philosophie seiner Person : doch giebt es da einen erheblichen

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Vorrede

5

Unterschied. Bei dem Einen sind es seine Mängel, welche philosophiren, bei dem Andern seine Reichthümer und Kräfte. Ersterer hat seine Philosophie nöt h i g , sei es als Halt, Beruhigung, Arznei, Erlösung, Erhebung, Selbstentfremdung ; bei Letzterem ist sie nur ein schöner Luxus, im besten Falle die Wollust einer triumphirenden Dankbarkeit, welche sich zuletzt noch in kosmischen Majuskeln an den Himmel der Begriffe schreiben muss. Im andren, gewöhnlicheren | Falle aber, wenn die Nothstände Philosophie treiben, wie bei allen kranken Denkern – und vielleicht überwiegen die kranken Denker in der Geschichte der Philosophie – : was wird aus dem Gedanken selbst werden, der unter den D r uc k der Krankheit gebracht wird ? Dies ist die Frage, die den Psychologen angeht : und hier ist das Experiment möglich. Nicht anders als es ein Reisender macht, der sich vorsetzt, zu einer bestimmten Stunde aufzuwachen und sich dann ruhig dem Schlafe überlässt : so ergeben wir Philosophen, gesetzt, dass wir krank werden, uns zeitweilig mit Leib und Seele der Krankheit – wir machen gleichsam vor uns die Augen zu. Und wie Jener weiss, dass irgend Etwas n ic ht schläft, irgend Etwas die Stunden abzählt und ihn aufwecken wird, so wissen auch wir, dass der entscheidende Augenblick uns wach fi nden wird, – dass dann Etwas hervorspringt und den Geist au f d e r T h at ertappt, ich meine auf der Schwäche oder Umkehr oder Ergebung oder Verhärtung oder Verdüsterung und wie alle die krankhaften Zustände des Geistes heissen, welche in gesunden Tagen den St ol z des Geistes wider sich haben (denn es bleibt bei dem alten Reime „der stolze Geist, der Pfau, das Pferd sind die drei stölzesten Thier’ auf der Erd“ –). Man lernt nach einer derartigen Selbst-Befragung, Selbst-Versuchung, mit einem feineren Auge nach Allem, was überhaupt bisher philosophirt worden ist, hinsehn ; man erräth besser als vorher die unwillkürlichen Abwege, Seitengassen, Ruhestellen, S o n n e n stellen des Gedankens, auf die leidende Denker gerade als Leidende

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Vorrede

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geführt und verführt werden, man weiss | nunmehr, wohin unbewusst der kranke L e i b und sein Bedürfniss den Geist drängt, stösst, lockt – nach Sonne, Stille, Milde, Geduld, Arznei, Labsal in irgend einem Sinne. Jede Philosophie, welche den Frieden höher stellt als den Krieg, jede Ethik mit einer negativen Fassung des Begriffs Glück, jede Metaphysik und Physik, welche ein Finale kennt, einen Endzustand irgend welcher Art, jedes vorwiegend aesthetische oder religiöse Verlangen nach einem Abseits, Jenseits, Ausserhalb, Oberhalb erlaubt zu fragen, ob nicht die Krankheit das gewesen ist, was den Philosophen inspirirt hat. Die unbewusste Verkleidung physiologischer Bedürfnisse unter die Mäntel des Objektiven, Ideellen, Rein-Geistigen geht bis zum Erschrecken weit, – und oft genug habe ich mich gefragt, ob nicht, im Grossen gerechnet, Philosophie bisher überhaupt nur eine Auslegung des Leibes und ein M i s s ve r s t ä nd n i s s d e s L e i b e s gewesen ist. Hinter den höchsten Werthurtheilen, von denen bisher die Geschichte des Gedankens geleitet wurde, liegen Missverständnisse der leiblichen Beschaffenheit verborgen, sei es von Einzelnen, sei es von Ständen oder ganzen Rassen. Man darf alle jene kühnen Tollheiten der Metaphysik, sonderlich deren Antworten auf die Frage nach dem We r t h des Daseins, zunächst immer als Symptome bestimmter Leiber ansehn ; und wenn derartigen Welt-Bejahungen oder Welt-Verneinungen in Bausch und Bogen, wissenschaftlich gemessen, nicht ein Korn von Bedeutung innewohnt, so geben sie doch dem Historiker und Psychologen um so werthvollere Winke, als Symptome, wie gesagt, des Leibes, seines Gerathens und Missrathens, seiner Fülle, Mäch|tigkeit, Selbstherrlichkeit in der Geschichte, oder aber seiner Hemmungen, Ermüdungen, Verarmungen, seines Vorgefühls vom Ende, seines Willens zum Ende. Ich erwarte immer noch, dass ein philosophischer A r z t im ausnahmsweisen Sinne des Wortes – ein Solcher, der dem Problem der Gesammt-Gesundheit von Volk, Zeit,

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Vorrede

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Rasse, Menschheit nachzugehn hat – einmal den Muth haben wird, meinen Verdacht auf die Spitze zu bringen und den Satz zu wagen : bei allem Philosophiren handelte es sich bisher gar nicht um Wahrheit, sondern um etwas Anderes, sagen wir um Gesundheit, Zukunft, Wachsthum, Macht, Leben … 3. – Man erräth, dass ich nicht mit Undankbarkeit von jener Zeit schweren Siechthums Abschied nehmen möchte, deren Gewinn auch heute noch nicht für mich ausgeschöpft ist : so wie ich mir gut genug bewusst bin, was ich überhaupt in meiner wechselreichen Gesundheit vor allen Vierschrötigen des Geistes voraus habe. Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen : er k a n n eben nicht anders als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen, – diese Kunst der Transfiguration i s t eben Philosophie. Es steht uns Philosophen nicht frei, zwischen Seele und Leib zu trennen, wie das Volk trennt, es steht uns noch weniger frei, zwischen Seele und Geist zu trennen. Wir sind keine denkenden Frösche, keine Objektivir- und Registrir-Apparate mit kalt gestellten Eingeweiden, – wir müssen beständig | unsre Gedanken aus unsrem Schmerz gebären und mütterlich ihnen Alles mitgeben, was wir von Blut, Herz, Feuer, Lust, Leidenschaft, Qual, Gewissen, Schicksal, Verhängniss in uns haben. Leben – das heisst für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln, auch Alles, was uns trifft, wir k ön ne n gar nicht anders. Und was die Krankheit angeht : würden wir nicht fast zu fragen versucht sein, ob sie uns überhaupt entbehrlich ist ? Erst der grosse Schmerz ist der letzte Befreier des Geistes, als der Lehrmeister des g r o s s e n Ve r d ac ht e s , der aus jedem U ein X macht, ein ächtes rechtes X, das heisst den vorletzten Buchstaben vor dem letzten … Erst der grosse Schmerz, jener

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Vorrede

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lange langsame Schmerz, der sich Zeit nimmt, in dem wir gleichsam wie mit grünem Holze verbrannt werden, zwingt uns Philosophen, in unsre letzte Tiefe zu steigen und alles Vertrauen, alles Gutmüthige, Verschleiernde, Milde, Mittlere, wohinein wir vielleicht vordem unsre Menschlichkeit gesetzt haben, von uns zu thun. Ich zweifle, ob ein solcher Schmerz „verbessert“ – ; aber ich weiss, dass er uns ve r t ie f t . Sei es nun, dass wir ihm unsern Stolz, unsern Hohn, unsre Willenskraft entgegenstellen lernen und es dem Indianer gleichthun, der, wie schlimm auch gepeinigt, sich an seinem Peiniger durch die Bosheit seiner Zunge schadlos hält ; sei es, dass wir uns vor dem Schmerz in jenes orientalische Nichts zurückziehn – man heisst es Nirvana –, in das stumme, starre, taube Sich-Ergeben, Sich-Vergessen, Sich-Auslöschen : man kommt aus solchen langen gefährlichen Uebungen der Herrschaft über sich als ein andrer Mensch heraus, mit einigen Fragezeichen | mehr, vor Allem mit dem W i l le n , fürderhin mehr, tiefer, strenger, härter, böser, stiller zu fragen als man bis dahin gefragt hatte. Das Vertrauen zum Leben ist dahin : das Leben selbst wurde zum P r o ble m . – Möge man ja nicht glauben, dass Einer damit nothwendig zum Düsterling geworden sei ! Selbst die Liebe zum Leben ist noch möglich, – nur liebt man anders. Es ist die Liebe zu einem Weibe, das uns Zweifel macht … Der Reiz alles Problematischen, die Freude am X ist aber bei solchen geistigeren, vergeistigteren Menschen zu gross, als dass diese Freude nicht immer wieder wie eine helle Gluth über alle Noth des Problematischen, über alle Gefahr der Unsicherheit, selbst über die Eifersucht des Liebenden zusammenschlüge. Wir kennen ein neues Glück … 4. Zuletzt, dass das Wesentlichste nicht ungesagt bleibe : man kommt aus solchen Abgründen, aus solchem schweren Siechthum, auch aus dem Siechthum des schweren Verdachts,

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Vorrede

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n e u g e b o r e n zurück, gehäutet, kitzlicher, boshafter, mit einem feineren Geschmacke für die Freude, mit einer zarteren Zunge für alle guten Dinge, mit lustigeren Sinnen, mit einer zweiten gefährlicheren Unschuld in der Freude, kindlicher zugleich und hundert Mal raffi nirter als man jemals vorher gewesen war. Oh wie Einem nunmehr der Genuss zuwider ist, der grobe dumpfe braune Genuss, wie ihn sonst die Geniessenden, unsre „Gebildeten“, unsre Reichen und Regierenden verstehn ! Wie boshaft wir nunmehr dem grossen JahrmarktsBumbum zuhören, mit dem sich der „gebildete Mensch“ und Gross|städter heute durch Kunst, Buch und Musik zu „geistigen Genüssen“, unter Mithülfe geistiger Getränke, nothzüchtigen lässt ! Wie uns jetzt der Theater-Schrei der Leidenschaft in den Ohren weh thut, wie unsrem Geschmacke der ganze romantische Aufruhr und Sinnen-Wirrwarr, den der gebildete Pöbel liebt, sammt seinen Aspirationen nach dem Erhabenen, Gehobenen, Verschrobenen fremd geworden ist ! Nein, wenn wir Genesenden überhaupt eine Kunst noch brauchen, so ist es eine a nd r e Kunst – eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst, welche wie eine helle Flamme in einen unbewölkten Himmel hineinlodert ! Vor Allem : eine Kunst für Künstler, nur für Künstler ! Wir verstehn uns hinterdrein besser auf Das, was d a z u zuerst noth thut, die Heiterkeit, je d e Heiterkeit, meine Freunde ! auch als Künstler – : ich möchte es beweisen. Wir wissen Einiges jetzt zu gut, wir Wissenden : oh wie wir nunmehr lernen, gut zu vergessen, gut n ic h t-zu-wissen, als Künstler ! Und was unsere Zukunft betriff t : man wird uns schwerlich wieder auf den Pfaden jener ägyptischen Jünglinge fi nden, welche Nachts Tempel unsicher machen, Bildsäulen umarmen und durchaus Alles, was mit guten Gründen verdeckt gehalten wird, entschleiern, aufdecken, in helles Licht stellen wollen. Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur „Wahrheit um jeden Preis“, dieser Jünglings-Wahnsinn in der

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Vorrede

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Liebe zur Wahrheit – ist uns verleidet : dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief … Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht ; wir haben | genug gelebt, um dies zu glauben. Heute gilt es uns als eine Sache der Schicklichkeit, dass man nicht Alles nackt sehn, nicht bei Allem dabei sein, nicht Alles verstehn und „wissen“ wolle. „Ist es wahr, dass der liebe Gott überall zugegen ist ?“ fragte ein kleines Mädchen seine Mutter : „aber ich fi nde das unanständig“ – ein Wink für Philosophen ! Man sollte die S c h a m besser in Ehren halten, mit der sich die Natur hinter Räthsel und bunte Ungewissheiten versteckt hat. Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das Gründe hat, ihre Gründe nicht sehn zu lassen ? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu reden, Baubo ? … Oh diese Griechen ! Sie verstanden sich darauf, zu leb e n : dazu thut Noth, tapfer bei der Oberfläche, der Falte, der Haut stehen zu bleiben, den Schein anzubeten, an Formen, an Töne, an Worte, an den ganzen Olymp des Scheins zu glauben ! Diese Griechen waren oberflächlich – au s Tie f e ! Und kommen wir nicht eben darauf zurück, wir Wagehalse des Geistes, die wir die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert und uns von da aus umgesehn haben, die wir von da aus h i n a bg e s e h n haben ? Sind wir nicht eben darin – Griechen ? Anbeter der Formen, der Töne, der Worte ? Eben darum – Künstler ? R ut a bei Genua, im Herbst 1886. |

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3–5

„Scherz, List und Rache.“ Vorspiel in deutschen Reimen. | 1. E i n l a d u n g. Wagt’s mit meiner Kost, ihr Esser ! Morgen schmeckt sie euch schon besser Und schon übermorgen gut ! Wollt ihr dann noch mehr, – so machen Meine alten sieben Sachen Mir zu sieben neuen Muth. 2. Me i n G lüc k . Seit ich des Suchens müde ward, Erlernte ich das Finden. Seit mir ein Wind hielt Widerpart, Segl’ ich mit allen Winden. 3. Unve r z a g t . Wo du stehst, grab tief hinein ! Drunten ist die Quelle ! Lass die dunklen Männer schrein : „Stets ist drunten – Hölle !“ 4. Zw ie g e s p r äc h . A. War ich krank ? Bin ich genesen ? Und wer ist mein Arzt gewesen ? Wie vergass ich alles Das ! B. Jetzt erst glaub ich dich genesen : Denn gesund ist, wer vergass. |

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„Scherz, List und Rache.“

5. A n d ie Tu g e nd s a me n . Unseren Tugenden auch soll’n leicht die Füsse sich heben : Gleich den Versen Homer’s müssen sie kommen u nd g e h n ! 6. We lt- K lu g he it . Bleib nicht auf ebnem Feld ! Steig nicht zu hoch hinaus ! Am schönsten sieht die Welt Von halber Höhe aus. 7. Va d e me c u m – Va d et e c u m . Es lockt dich meine Art und Sprach, Du folgest mir, du gehst mir nach ? Geh nur dir selber treulich nach : – So folgst du mir – gemach ! gemach ! 8. B e i d e r d r it t e n H äut u n g. Schon krümmt und bricht sich mir die Haut, Schon giert mit neuem Drange, So viel sie Erde schon verdaut, Nach Erd’ in mir die Schlange. Schon kriech’ ich zwischen Stein und Gras Hungrig auf krummer Fährte, Zu essen Das, was stets ich ass, Dich, Schlangenkost, dich, Erde ! |

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Vorspiel in deutschen Reimen

9. Me i ne Ro s e n . Ja ! Mein Glück – es will beglücken – , Alles Glück will ja beglücken ! Wollt ihr meine Rosen pflücken ? Müsst euch bücken und verstecken Zwischen Fels und Dornenhecken, Oft die Fingerchen euch lecken ! Denn mein Glück – es liebt das Necken ! Denn mein Glück – es liebt die Tücken ! – Wollt ihr meine Rosen pflücken ? 10. D e r Ve r äc ht e r. Vieles lass ich fall’n und rollen, Und ihr nennt mich drum Verächter. Wer da trinkt aus allzuvollen Bechern, lässt viel fall’n und rollen – , Denkt vom Weine drum nicht schlechter. 11. D a s S p r üc hwor t s p r ic ht . Scharf und milde, grob und fein, Vertraut und seltsam, schmutzig und rein, Der Narren und Weisen Stelldichein : Diess Alles bin ich, will ich sein, Taube zugleich, Schlange und Schwein ! 12. A n e i ne n L ic ht f r eu nd . Willst du nicht Aug’ und Sinn ermatten, Lauf ’ auch der Sonne nach im Schatten ! |

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„Scherz, List und Rache.“

13. F ü r Tä n z e r. Glattes Eis Ein Paradeis Für Den, der gut zu tanzen weiss. 14. D e r Br ave. Lieber aus ganzem Holz eine Feindschaft, Als eine geleimte Freundschaft ! 15. Ro s t . Auch Rost thut Noth : Scharfsein ist nicht genung ! Sonst sagt man stets von dir : „er ist zu jung !“ 16. Au f w ä r t s . „Wie komm ich am besten den Berg hinan ?“ Steig nur hinauf und denk nicht dran ! 17. S p r uc h d e s G ew a lt me n s c he n . Bitte nie ! Lass diess Gewimmer ! Nimm, ich bitte dich, nimm immer ! 18. S c h m a le S e e le n . Schmale Seelen sind mir verhasst ; Da steht nichts Gutes, nichts Böses fast. | 19. D e r u n f r e i w i l l i g e Ve r f ü h r e r. Er schoss ein leeres Wort zum Zeitvertreib In’s Blaue – und doch fiel darob ein Weib.

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Vorspiel in deutschen Reimen

20. Z u r E r w ä g u n g. Zwiefacher Schmerz ist leichter zu tragen, Als Ein Schmerz : willst du darauf es wagen ? 21. G e g e n d ie Hof f a h r t . Blas dich nicht auf : sonst bringet dich Zum Platzen schon ein kleiner Stich. 22. M a n n u nd We i b. „Raub dir das Weib, für das dein Herze fühlt !“ – So denkt der Mann ; das Weib raubt nicht, es stiehlt. 23. I nt e r p r et at io n . Leg ich mich aus, so leg ich mich hinein : Ich kann nicht selbst mein Interprete sein. Doch wer nur steigt auf seiner eignen Bahn, Trägt auch mein Bild zu hellerm Licht hinan. 24. Pe s s i m i s t e n -A r z ne i . Du klagst, dass Nichts dir schmackhaft sei ? Noch immer, Freund, die alten Mucken ? Ich hör dich lästern, lärmen, spucken – Geduld und Herz bricht mir dabei. | Folg mir, mein Freund ! Entschliess dich frei, Ein fettes Krötchen zu verschlucken, Geschwind und ohne hinzugucken ! – Das hilft dir von der Dyspepsei !

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„Scherz, List und Rache.“

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25. Bit t e. Ich kenne mancher Menschen Sinn Und weiss nicht, wer ich selber bin ! Mein Auge ist mir viel zu nah – Ich bin nicht, was ich seh und sah. Ich wollte mir schon besser nützen, Könnt’ ich mir selber ferner sitzen. Zwar nicht so ferne wie mein Feind ! Zu fern sitzt schon der nächste Freund – Doch zwischen dem und mir die Mitte ! Errathet ihr, um was ich bitte ? 26. Me i ne H ä r t e. Ich muss weg über hundert Stufen, Ich muss empor und hör euch rufen : „Hart bist du ! Sind wir denn von Stein ?“ – Ich muss weg über hundert Stufen, Und Niemand möchte Stufe sein. 27. D e r Wa nd r e r. „Kein Pfad mehr ! Abgrund rings und Todtenstille !“ – So wolltest du’s ! Vom Pfade wich dein Wille ! Nun, Wandrer, gilt’s ! Nun blicke kalt und klar ! Verloren bist du, glaubst du – an Gefahr. | 28. Tr o s t f ü r A n f ä n g e r. Seht das Kind umgrunzt von Schweinen, Hülflos, mit verkrümmten Zeh’n ! Weinen kann es, Nichts als weinen – Lernt es jemals stehn und gehn ?

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Vorspiel in deutschen Reimen

Unverzagt ! Bald, sollt’ ich meinen, Könnt das Kind ihr tanzen sehn ! Steht es erst auf beiden Beinen, Wird’s auch auf dem Kopfe stehn. 29. St e r ne n - E g oi s mu s . Rollt’ ich mich rundes Rollefass Nicht um mich selbst ohn’ Unterlass, Wie hielt’ ich’s aus, ohne anzubrennen, Der heissen Sonne nachzurennen ? 30. D e r Näc h s t e. Nah hab den Nächsten ich nicht gerne : Fort mit ihm in die Höh und Ferne ! Wie würd’ er sonst zu meinem Sterne ? – 31. D e r ve rk ap pt e He i l i g e. Dass dein Glück uns nicht bedrücke, Legst du um dich Teufelstücke, Teufelswitz und Teufelskleid. Doch umsonst ! Aus deinem Blicke Blickt hervor die Heiligkeit ! | 32. D e r Un f r e ie. A. Er steht und horcht : was konnt’ ihn irren ? Was hört er vor den Ohren schwirren ? Was war’s, das ihn darniederschlug ? B. Wie Jeder, der einst Ketten trug, Hört überall er – Kettenklirren.

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„Scherz, List und Rache.“

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33. D e r E i n s a me. Verhasst ist mir das Folgen und das Führen. Gehorchen ? Nein ! Und aber nein – Regieren ! Wer s ic h nicht schrecklich ist, macht Niemand Schrecken : Und nur wer Schrecken macht, kann Andre führen. Verhasst ist mir’s schon, selber mich zu führen ! Ich liebe es, gleich Wald- und Meeresthieren, Mich für ein gutes Weilchen zu verlieren, In holder Irrniss grüblerisch zu hocken, Von ferne her mich endlich heimzulocken, Mich selber zu mir selber – zu verführen. 34. S e nec a et ho c g e nu s om ne. Das schreibt und schreibt sein unausstehlich weises Larifari, Als gält es primum scribere, Deinde philosophari. 35. Eis. Ja ! Mitunter mach’ ich Eis : Nützlich ist Eis zum Verdauen ! Hättet ihr viel zu verdauen, Oh wie liebtet ihr mein Eis ! | 36. Ju g e nd s c h r i f t e n . Meiner Weisheit A und O Klang mir hier : was hört’ ich doch ! Jetzo klingt mir’s nicht mehr so, Nur das ew’ge Ah ! und Oh ! Meiner Jugend hör ich noch.

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Vorspiel in deutschen Reimen

37. Vor s ic ht . In jener Gegend reist man jetzt nicht gut ; Und hast du Geist, sei doppelt auf der Hut ! Man lockt und liebt dich, bis man dich zerreisst : Schwarmgeister sind’s – : da fehlt es stets an Geist ! 38. D e r Fr om me s p r ic ht . Gott liebt uns, we i l er uns erschuf ! – „Der Mensch schuf Gott !“ – sagt drauf ihr Feinen. Und soll nicht lieben, was er schuf ? Soll’s gar, we i l er es schuf, verneinen ? Das hinkt, das trägt des Teufels Huf. 39. I m S om me r. Im Schweisse unsres Angesichts Soll’n unser Brod wir essen ? Im Schweisse isst man lieber Nichts, Nach weiser Aerzte Ermessen. Der Hundsstern winkt : woran gebricht’s ? Was will sein feurig Winken ? Im Schweisse unsres Angesichts Soll’n unsren Wein wir trinken ! | 40. Oh ne Ne id . Ja, neidlos blickt er : und ihr ehrt ihn drum ? Er blickt sich nicht nach euren Ehren um ; Er hat des Adlers Auge für die Ferne, Er sieht euch nicht ! – er sieht nur Sterne, Sterne.

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„Scherz, List und Rache.“

41. He r a k l it i s mu s. Alles Glück auf Erden, Freunde, giebt der Kampf ! Ja, um Freund zu werden, Braucht es Pulverdampf ! Eins in Drei’n sind Freunde : Brüder vor der Noth, Gleiche vor dem Feinde, Freie – vor dem Tod ! 42. Gr u nd s at z d e r A l l z u f e i ne n . Lieber auf den Zehen noch, Als auf allen Vieren ! Lieber durch ein Schlüsselloch, Als durch off ne Thüren ! 43. Zu s p r uc h . Auf Ruhm hast du den Sinn gericht ? Dann acht’ der Lehre : Bei Zeiten leiste frei Verzicht Auf Ehre ! | 44. D e r Gr ü nd l ic he. Ein Forscher ich ? Oh spart diess Wort ! – Ich bin nur s c hwe r – so manche Pfund’ ! Ich falle, falle immerfort Und endlich auf den Grund !

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45. F ü r i m me r. „Heut komm’ ich, weil mir’s heute frommt“ – Denkt Jeder, der für immer kommt. Was ficht ihn an der Welt Gered’ : „Du kommst zu früh ! Du kommst zu spät !“ 46. Ur t he i le d e r Mü d e n . Der Sonne fluchen alle Matten ; Der Bäume Werth ist ihnen – Schatten ! 47. N ie d e r g a n g. „Er sinkt, er fällt jetzt“ – höhnt ihr hin und wieder ; Die Wahrheit ist : er steigt zu euch hernieder ! Sein Ueberglück ward ihm zum Ungemach, Sein Ueberlicht geht eurem Dunkel nach. 48. G e g e n d ie G e s et z e. Von heut an hängt an härner Schnur Um meinen Hals die Stunden-Uhr : Von heut an hört der Sterne Lauf, Sonn’, Hahnenschrei und Schatten auf, | Und was mir je die Zeit verkünd’t, Das ist jetzt stumm und taub und blind : – Es schweigt mir jegliche Natur Beim Tiktak von Gesetz und Uhr. 49. D e r We i s e s p r ic ht . Dem Volke fremd und nützlich doch dem Volke, Zieh ich des Weges, Sonne bald, bald Wolke – Und immer über diesem Volke !

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50. D e n K o pf ve rlor e n . Sie hat jetzt Geist – wie kam’s, dass sie ihn fand ? Ein Mann verlor durch sie jüngst den Verstand, Sein Kopf war reich vor diesem Zeitvertreibe : Zum Teufel gieng sein Kopf – nein ! nein ! zum Weibe ! 51. Fr om me Wü n s c he. „Mögen alle Schlüssel doch Flugs verloren gehen, Und in jedem Schlüsselloch Sich der Dietrich drehen !“ Also denkt zu jeder Frist Jeder, der – ein Dietrich ist. 52. M it d e m F u s s e s c h r e i b e n . Ich schreib nicht mit der Hand allein : Der Fuss will stets mit Schreiber sein. Fest, frei und tapfer läuft er mir Bald durch das Feld, bald durchs Papier. | 53. „ Me n s c h l ic he s, A l l z u me n s c h l ic he s.“ E i n Buc h . Schwermüthig scheu, solang du rückwärts schaust, Der Zukunft trauend, wo du selbst dir traust : Oh Vogel, rechn’ ich dich den Adlern zu ? Bist du Minerva’s Liebling U-hu-hu ? 54. Me i ne m L e s e r. Ein gut Gebiss und einen guten Magen – Diess wünsch’ ich dir !

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Und hast du erst mein Buch vertragen, Verträgst du dich gewiss mit mir ! 55. D e r r e a l i s t i s c h e M a le r. „Treu die Natur und ganz !“ – Wie fängt er’s an : Wann wäre je Natur im Bilde a bg et h a n ? Unendlich ist das kleinste Stück der Welt ! – Er malt zuletzt davon, was ihm g e f ä l lt . Und was gefällt ihm ? Was er malen k a n n ! 56. D ic ht e r - E it e l k e it . Gebt mir Leim nur : denn zum Leime Find’ ich selber mir schon Holz ! Sinn in vier unsinn’ge Reime Legen – ist kein kleiner Stolz ! 57. W ä h le r i s c he r G e s c h m ac k . Wenn man frei mich wählen liesse, Wählt’ ich gern ein Plätzchen mir Mitten drin im Paradiese : Gerner noch – vor seiner Thür ! | 58. D ie k r u m me Na s e. Die Nase schauet trutziglich In’s Land, der Nüster blähet sich – Drum fällst du, Nashorn ohne Horn, Mein stolzes Menschlein, stets nach vorn ! Und stets beisammen fi nd’t sich das : Gerader Stolz, gekrümmte Nas.

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59. D ie Fe d e r k r it z e lt . Die Feder kritzelt : Hölle das ! Bin ich verdammt zum Kritzeln-Müssen ? – So greif ’ ich kühn zum Tintenfass Und schreib’ mit dicken Tintenflüssen. Wie läuft das hin, so voll, so breit ! Wie glückt mir Alles, wie ich’s treibe ! Zwar fehlt der Schrift die Deutlichkeit – Was thut’s ? Wer liest denn, was ich schreibe ? 60. Höhe r e Me n s c he n . Der steigt empor – ihn soll man loben ! Doch Jener kommt allzeit von Oben ! Der lebt dem Lobe selbst enthoben, Der i s t von Droben ! 61. D e r S k e pt i k e r s p r ic ht . Halb ist dein Leben um, Der Zeiger rückt, die Seele schaudert dir ! Lang schweift sie schon herum Und sucht und fand nicht – und sie zaudert hier ? | Halb ist dein Leben um : Schmerz war’s und Irrthum, Stund’ um Stund’ dahier ! Was suchst du noch ? Wa r u m ? – – Diess eben such’ ich – Grund um Grund dafür ! 62. E c c e homo. Ja ! Ich weiss, woher ich stamme ! Ungesättigt gleich der Flamme Glühe und verzehr’ ich mich.

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Licht wird Alles, was ich fasse, Kohle Alles, was ich lasse : Flamme bin ich sicherlich. 63. St e r ne n - Mor a l . Vorausbestimmt zur Sternenbahn, Was geht dich, Stern, das Dunkel an ? Roll’ selig hin durch diese Zeit ! Ihr Elend sei dir fremd und weit ! Der fernsten Welt gehört dein Schein : Mitleid soll Sünde für dich sein ! Nur Ein Gebot gilt dir : sei rein ! |

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1. D ie L e h r e r vom Zwe c k e d e s D a s e i n s . – Ich mag nun mit gutem oder bösem Blicke auf die Menschen sehen, ich fi nde sie immer bei Einer Aufgabe, Alle und jeden Einzelnen in Sonderheit : Das zu thun, was der Erhaltung der menschlichen Gattung frommt. Und zwar wahrlich nicht aus einem Gefühl der Liebe für diese Gattung, sondern einfach, weil Nichts in ihnen älter, stärker, unerbittlicher, unüberwindlicher ist, als jener Instinct, – weil dieser Instinct eben d a s We s e n unserer Art und Heerde ist. Ob man schon schnell genug mit der üblichen Kurzsichtigkeit auf fünf Schritt hin seine Nächsten säuberlich in nützliche und schädliche, gute und böse Menschen auseinander zu thun pflegt, bei einer Abrechnung im Grossen, bei einem längeren Nachdenken über das Ganze wird man gegen dieses Säubern und Auseinanderthun misstrauisch und lässt es endlich sein. Auch der schädlichste Mensch ist vielleicht immer noch der allernützlichste, in Hinsicht auf die Erhaltung der Art ; denn er unterhält bei sich oder, durch seine Wirkung, bei Anderen Triebe, ohne welche die Menschheit längst erschlaff t oder verfault wäre. Der Hass, die Schadenfreude, die Raub- und Herrschsucht und was Alles sonst böse genannt wird : es gehört zu der erstaunlichen Oekonomie der Arterhaltung, freilich zu einer kostspieligen, verschwenderischen und im Ganzen höchst thörichten Oekonomie : – welche aber b ew ie s e ner Ma a s s e n unser Geschlecht bisher erhalten hat. | Ich weiss nicht mehr, ob du, mein lieber Mitmensch und Nächster, überhaupt zu Ungunsten der Art, also „unvernünftig“ und „schlecht“ leben k a n n s t ; Das, was der Art hätte schaden können, ist vielleicht seit vielen Jahrtausenden schon ausgestorben und gehört jetzt zu den Dingen,

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die selbst bei Gott nicht mehr möglich sind. Hänge deinen besten oder deinen schlechtesten Begierden nach und vor Allem : geh’ zu Grunde ! – in Beidem bist du wahrscheinlich immer noch irgendwie der Förderer und Wohlthäter der Menschheit und darfst dir daraufhin deine Lobredner halten – und ebenso deine Spötter ! Aber du wirst nie den fi nden, der dich, den Einzelnen, auch in deinem Besten ganz zu verspotten verstünde, der deine grenzenlose Fliegen- und Frosch-Armseligkeit dir so genügend, wie es sich mit der Wahrheit vertrüge, zu Gemüthe führen könnte ! Ueber sich selber lachen, wie man lachen müsste, um au s d e r g a n z e n Wa h r h e it h e r au s zu lachen, – dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten viel zu wenig Genie ! Es giebt vielleicht auch für das Lachen noch eine Zukunft ! Dann, wenn der Satz „die Art ist Alles, Einer ist immer Keiner“ – sich der Menschheit einverleibt hat und Jedem jederzeit der Zugang zu dieser letzten Befreiung und Unverantwortlichkeit offen steht. Vielleicht wird sich dann das Lachen mit der Weisheit verbündet haben, vielleicht giebt es dann nur noch „fröhliche Wissenschaft“. Einstweilen ist es noch ganz anders, einstweilen ist die Komödie des Daseins sich selber noch nicht „bewusst geworden“, einstweilen ist es immer noch die Zeit der Tragödie, die Zeit der Moralen und Religionen. Was bedeutet das immer neue Erscheinen jener Stifter der | Moralen und Religionen, jener Urheber des Kampfes um sittliche Schätzungen, jener Lehrer der Gewissensbisse und der Religionskriege ? Was bedeuten diese Helden auf dieser Bühne ? Denn es waren bisher die Helden derselben, und alles Uebrige, zeitweilig allein Sichtbare und Allzunahe, hat immer nur zur Vorbereitung dieser Helden gedient, sei es als Maschinerie und Coulisse oder in der Rolle von Vertrauten und Kammerdienern. (Die Poeten zum Beispiel waren immer die Kammerdiener irgend einer Moral.) – Es versteht sich von selber, dass auch diese Tragöden im Interesse der A r t arbeiten, wenn sie

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auch glauben mögen, im Interesse Gottes und als Sendlinge Gottes zu arbeiten. Auch sie fördern das Leben der Gattung, i nd e m s ie d e n G l au b e n a n d a s L eb e n f ör d e r n . „Es ist werth zu leben – so ruft ein Jeder von ihnen – es hat Etwas auf sich mit diesem Leben, das Leben hat Etwas hinter sich, unter sich, nehmt euch in Acht !“ Jener Trieb, welcher in den höchsten und gemeinsten Menschen gleichmässig waltet, der Trieb der Arterhaltung, bricht von Zeit zu Zeit als Vernunft und Leidenschaft des Geistes hervor ; er hat dann ein glänzendes Gefolge von Gründen um sich und will mit aller Gewalt vergessen machen, dass er im Grunde Trieb, Instinct, Thorheit, Grundlosigkeit ist. Das Leben s ol l geliebt werden, d e n n ! Der Mensch s ol l sich und seinen Nächsten fördern, d e n n ! Und wie alle diese Soll’s und Denn’s heissen und in Zukunft noch heissen mögen ! Damit Das, was nothwendig und immer, von sich aus und ohne allen Zweck geschieht, von jetzt an auf einen Zweck hin gethan erscheine und dem Menschen als Vernunft und letztes Gebot einleuchte, – dazu tritt der ethische | Lehrer auf, als der Lehrer vom Zweck des Daseins ; dazu erfi ndet er ein zweites und anderes Dasein und hebt mittelst seiner neuen Mechanik dieses alte gemeine Dasein aus seinen alten gemeinen Angeln. Ja ! er will durchaus nicht, dass wir über das Dasein l ac he n , noch auch über uns, – noch auch über ihn ; für ihn ist Einer immer Einer, etwas Erstes und Letztes und Ungeheures, für ihn giebt es keine Art, keine Summen, keine Nullen. Wie thöricht und schwärmerisch auch seine Erfi ndungen und Schätzungen sein mögen, wie sehr er den Gang der Natur verkennt und ihre Bedingungen verleugnet : – und alle Ethiken waren zeither bis zu dem Grade thöricht und widernatürlich, dass an jeder von ihnen die Menschheit zu Grunde gegangen sein würde, falls sie sich der Menschheit bemächtigt hätte – immerhin ! jedesmal wenn „der Held“ auf die Bühne trat, wurde etwas Neues erreicht, das schauerliche Gegenstück des Lachens, jene tiefe

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Erschütterung vieler Einzelner bei dem Gedanken : „ja, es ist werth zu leben ! ja, ich bin werth zu leben !“ – das Leben und ich und du und wir Alle einander wurden uns wieder einmal für einige Zeit i nt e r e s s a nt . – Es ist nicht zu leugnen, dass au f d ie D au e r über jeden Einzelnen dieser grossen Zwecklehrer bisher das Lachen und die Vernunft und die Natur Herr geworden ist : die kurze Tragödie gieng schliesslich immer in die ewige Komödie des Daseins über und zurück, und die „Wellen unzähligen Gelächters“ – mit Aeschylus zu reden – müssen zuletzt auch über den grössten dieser Tragöden noch hinwegschlagen. Aber bei alle diesem corrigirenden Lachen ist im Ganzen doch durch diess immer neue Erscheinen jener Lehrer vom Zweck des Daseins die menschliche Natur | verändert worden, – sie hat jetzt ein Bedürfniss mehr, eben das Bedürfniss nach dem immer neuen Erscheinen solcher Lehrer und Lehren vom „Zweck“. Der Mensch ist allmählich zu einem phantastischen Thiere geworden, welches eine ExistenzBedingung mehr, als jedes andere Thier, zu erfüllen hat : der Mensch mu s s von Zeit zu Zeit glauben, zu wissen, w a r u m er existirt, seine Gattung kann nicht gedeihen ohne ein periodisches Zutrauen zu dem Leben ! Ohne Glauben an die Ve r nu n f t i m L eb e n ! Und immer wieder wird von Zeit zu Zeit das menschliche Geschlecht decretiren : „es giebt Etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf !“ Und der vorsichtigste Menschenfreund wird hinzufügen : „nicht nur das Lachen und die fröhliche Weisheit, sondern auch das Tragische mit all seiner erhabenen Unvernunft gehört unter die Mittel und Nothwendigkeiten der Arterhaltung !“ – Und folglich ! Folglich ! Folglich ! Oh versteht ihr mich, meine Brüder ? Versteht ihr dieses neue Gesetz der Ebbe und Fluth ? Auch wir haben unsere Zeit ! 2. D a s i nt e l le c t u a le G ew i s s e n . – Ich mache immer wieder die gleiche Erfahrung und sträube mich ebenso immer von

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Neuem gegen sie, ich will es nicht glauben, ob ich es gleich mit Händen greife : d e n A l le r me i s t e n f e h lt d a s i nt e l le c t u a le G ew i s s e n ; ja es wollte mir oft scheinen, als ob man mit der Forderung eines solchen in den volkreichsten Städten einsam wie in der Wüste sei. Es sieht dich Jeder mit fremden Augen an und handhabt seine Wage weiter, diess gut, jenes böse nennend ; es macht Niemandem eine Scham röthe, wenn du merken lässest, dass diese Gewichte | nicht vollwichtig sind, – es macht auch keine Empörung gegen dich : vielleicht lacht man über deinen Zweifel. Ich will sagen : die A l le r me i s t e n fi nden es nicht verächtlich, diess oder jenes zu glauben und darnach zu leben, oh ne sich vorher der letzten und sichersten Gründe für und wider bewusst worden zu sein und ohne sich auch nur die Mühe um solche Gründe hinterdrein zu geben, – die begabtesten Männer und die edelsten Frauen gehören noch zu diesen „Allermeisten“. Was ist mir aber Gutherzigkeit, Feinheit und Genie, wenn der Mensch dieser Tugenden schlaffe Gefühle im Glauben und Urtheilen bei sich duldet, wenn d a s Ve rl a n g e n n ac h G ew i s s he it ihm nicht als die innerste Begierde und tiefste Noth gilt, – als Das, was die höheren Menschen von den niederen scheidet ! Ich fand bei gewissen Frommen einen Hass gegen die Vernunft vor und war ihnen gut dafür : so verrieth sich doch wenigstens noch das böse intellectuale Gewissen ! Aber inmitten dieser rerum concordia discors und der ganzen wundervollen Ungewissheit und Vieldeutigkeit des Daseins stehen u nd n ic ht f r a g e n , nicht zittern vor Begierde und Lust des Fragens, nicht einmal den Fragenden hassen, vielleicht gar noch an ihm sich matt ergötzen – das ist es, was ich als ve r äc htl ic h empfi nde, und diese Empfi ndung ist es, nach der ich zuerst bei Jedermann suche :  – irgend eine Narrheit überredet mich immer wieder, jeder Mensch habe diese Empfi ndung, als Mensch. Es ist meine Art von Ungerechtigkeit.

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3. E de l u nd G emei n. – Den gemeinen Naturen erscheinen alle edlen, grossmüthigen Gefühle als un|zweckmässig und desshalb zu allererst als unglaubwürdig : sie zwinkern mit den Augen, wenn sie von dergleichen hören, und scheinen sagen zu wollen „es wird wohl irgend ein guter Vortheil dabei sein, man kann nicht durch alle Wände sehen“ : – sie sind argwöhnisch gegen den Edlen, als ob er den Vortheil auf Schleichwegen suche. Werden sie von der Abwesenheit selbstischer Absichten und Gewinnste allzu deutlich überzeugt, so gilt ihnen der Edle als eine Art von Narren : sie verachten ihn in seiner Freude und lachen über den Glanz seiner Augen. „Wie kann man sich darüber freuen im Nachtheil zu sein, wie kann man mit off nen Augen in Nachtheil gerathen wollen ! Es muss eine Krankheit der Vernunft mit der edlen Affection verbunden sein“ – so denken sie und blicken geringschätzig dabei : wie sie die Freude geringschätzen, welche der Irrsinnige von seiner fi xen Idee her hat. Die gemeine Natur ist dadurch ausgezeichnet, dass sie ihren Vortheil unverrückt im Auge behält und dass diess Denken an Zweck und Vortheil selbst stärker, als die stärksten Triebe in ihr ist : sich durch jene Triebe nicht zu unzweckmässigen Handlungen verleiten lassen – das ist ihre Weisheit und ihr Selbstgefühl. Im Vergleich mit ihr ist die höhere Natur die u nve r nü n f t i g e r e : – denn der Edle, Grossmüthige, Aufopfernde unterliegt in der That seinen Trieben, und in seinen besten Augenblicken p au s i r t seine Vernunft. Ein Thier, das mit Lebensgefahr seine Jungen beschützt oder in der Zeit der Brunst dem Weibchen auch in den Tod folgt, denkt nicht an die Gefahr und den Tod, seine Vernunft pausirt ebenfalls, weil die Lust an seiner Brut oder an dem Weibchen und die Furcht, dieser Lust beraubt zu | werden es ganz beherrschen ; es wird dümmer, als es sonst ist, gleich dem Edlen und Grossmüthigen. Dieser besitzt einige Lust- und Unlust-Gefühle in solcher Stärke, dass der Intel-

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lect dagegen schweigen oder sich zu ihrem Dienste hergeben muss : es tritt dann bei ihnen das Herz in den Kopf und man spricht nunmehr von „Leidenschaft“. (Hier und da kommt auch wohl der Gegensatz dazu und gleichsam die „Umkehrung der Leidenschaft“ vor, zum Beispiel bei Fontenelle, dem Jemand einmal die Hand auf das Herz legte, mit den Worten : „Was Sie da haben, mein Theuerster, ist auch Gehirn“.) Die Unvernunft oder Quervernunft der Leidenschaft ist es, die der Gemeine am Edlen verachtet, zumal wenn diese sich auf Objecte richtet, deren Werth ihm ganz phantastisch und willkürlich zu sein scheint. Er ärgert sich über Den, welcher der Leidenschaft des Bauches unterliegt, aber er begreift doch den Reiz, welcher hier den Tyrannen macht ; aber er begreift es nicht, wie man zum Beispiel einer Leidenschaft der Erkenntniss zu Liebe seine Gesundheit und Ehre auf ’s Spiel setzen könne. Der Geschmack der höheren Natur richtet sich auf Ausnahmen, auf Dinge, die gewöhnlich kalt lassen und keine Süssigkeit zu haben scheinen ; die höhere Natur hat ein singuläres Werthmaass. Dazu ist sie meistens des Glaubens, n ic ht ein singuläres Werthmaass in ihrer Idiosynkrasie des Geschmacks zu haben, sie setzt vielmehr ihre Werthe und Unwerthe als die überhaupt gültigen Werthe und Unwerthe an, und geräth damit in’s Unverständliche und Unpraktische. Es ist sehr selten, dass eine höhere Natur soviel Vernunft übrig behält, um Alltags-Menschen als solche zu verstehen und zu behandeln : zu allermeist glaubt sie an ihre | Leidenschaft als an die verborgen gehaltene Leidenschaft Aller und ist gerade in diesem Glauben voller Gluth und Beredtsamkeit. Wenn nun solche Ausnahme-Menschen sich selber nicht als Ausnahmen fühlen, wie sollten sie jemals die gemeinen Naturen verstehen und die Regel billig abschätzen können ! – und so reden auch sie von der Thorheit, Zweckwidrigkeit und Phantasterei der Menschheit, voller Verwunderung, wie toll die Welt laufe und warum sie sich nicht zu dem bekennen wolle,

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was „ihr Noth thue“. – Diess ist die ewige Ungerechtigkeit der Edlen. 4. D a s A r t e r h a lt e nd e. – Die stärksten und bösesten Geister haben bis jetzt die Menschheit am meisten vorwärts gebracht : sie entzündeten immer wieder die einschlafenden Leidenschaften – alle geordnete Gesellschaft schläfert die Leidenschaften ein –, sie weckten immer wieder den Sinn der Vergleichung, des Widerspruchs, der Lust am Neuen, Gewagten, Unerprobten, sie zwangen die Menschen, Meinungen gegen Meinungen, Musterbilder gegen Musterbilder zu stellen. Mit den Waffen, mit Umsturz der Grenzsteine, durch Verletzung der Pietäten zumeist : aber auch durch neue Religionen und Moralen ! Die selbe „Bosheit“ ist in jedem Lehrer und Prediger des Neue n , – welche einen Eroberer verrufen macht, wenn sie auch sich feiner äussert, nicht sogleich die Muskeln in Bewegung setzt und eben desshalb auch nicht so verrufen macht ! Das Neue ist aber unter allen Umständen das B ö s e, als Das, was erobern, die alten Grenzsteine und die alten Pietäten umwerfen will ; und nur das Alte ist das Gute ! Die guten Menschen jeder | Zeit sind die, welche die alten Gedanken in die Tiefe graben und mit ihnen Frucht tragen, die Ackerbauer des Geistes. Aber jedes Land wird endlich ausgenützt, und immer wieder muss die Pflugschar des Bösen kommen. – Es giebt jetzt eine gründliche Irrlehre der Moral, welche namentlich in England sehr gefeiert wird : nach ihr sind die Urtheile „gut“ und „böse“ die Aufsammlung der Erfahrungen über „zweckmässig“ und „unzweckmässig“ ; nach ihr ist das GutGenannte das Arterhaltende, das Bös-Genannte aber das der Art Schädliche. In Wahrheit sind aber die bösen Triebe in eben so hohem Grade zweckmässig, arterhaltend und unentbehrlich wie die guten : – nur ist ihre Function eine verschiedene.

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5. Un b e d i n g t e P f l ic ht e n . – Alle Menschen, welche fühlen, dass sie die stärksten Worte und Klänge, die beredtesten Gebärden und Stellungen nöthig haben, um ü b e rh aupt zu wirken, Revolutions-Politiker, Socialisten, Bussprediger mit und ohne Christenthum, bei denen allen es keine halben Erfolge geben darf : alle diese reden von „Pfl ichten“, und zwar immer von Pfl ichten mit dem Charakter des Unbedingten – ohne solche hätten sie kein Recht zu ihrem grossen Pathos : das wissen sie recht wohl ! So greifen sie nach Philosophieen der Moral, welche irgend einen kategorischen Imperativ predigen, oder sie nehmen ein gutes Stück Religion in sich hinein, wie diess zum Beispiel Mazzini gethan hat. Weil sie wollen, dass ihnen unbedingt vertraut werde, haben sie zuerst nöthig, dass sie sich selber unbedingt vertrauen, auf Grund irgend eines letzten indiscutabeln und an sich erhabenen Gebotes, als dessen Diener und Werkzeuge sie | sich fühlen und ausgeben möchten. Hier haben wir die natürlichsten und meistens sehr einflussreichen Gegner der moralischen Aufklärung und Skepsis : aber sie sind selten. Dagegen giebt es eine sehr umfängliche Classe dieser Gegner überall dort, wo das Interesse die Unterwerfung lehrt, während Ruf und Ehre die Unterwerfung zu verbieten scheinen. Wer sich entwürdigt fühlt bei dem Gedanken, das We r k z eu g eines Fürsten oder einer Partei und Secte oder gar einer Geldmacht zu sein, zum Beispiel als Abkömmling einer alten, stolzen Familie, aber eben diess Werkzeug sein will oder sein muss, vor sich und vor der Oeffentlichkeit, der hat pathetische Principien nöthig, die man jederzeit in den Mund nehmen kann : – Principien eines unbedingten Sollens, welchen man sich ohne Beschämung unterwerfen und unterworfen zeigen darf. Alle feinere Servilität hält am kategorischen Imperativ fest und ist der Todfeind Derer, welche der Pfl icht den unbedingten Charakter nehmen wollen : so fordert es von ihnen der Anstand, und nicht nur der Anstand.

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6. Ve r l u s t a n Wü r d e . – Das Nachdenken ist um all seine Würde der Form gekommen, man hat das Ceremoniell und die feierliche Gebärde des Nachdenkens zum Gespött gemacht und würde einen weisen Mann alten Stils nicht mehr aushalten. Wir denken zu rasch, und unterwegs, und mitten im Gehen, mitten in Geschäften aller Art, selbst wenn wir an das Ernsthafteste denken ; wir brauchen wenig Vorbereitung, selbst wenig Stille : – es ist, als ob wir eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe herumtrügen, welche selbst unter | den ungünstigsten Umständen noch arbeitet. Ehemals sah man es Jedem an, dass er einmal denken wollte – es war wohl die Ausnahme ! –, dass er jetzt weiser werden wollte und sich auf einen Gedanken gefasst machte : man zog ein Gesicht dazu, wie zu einem Gebet, und hielt den Schritt an ; ja man stand stundenlang auf der Strasse still, wenn der Gedanke „kam“ – auf einem oder auf zwei Beinen. So war es „der Sache würdig“ ! 7. Et w a s f ü r A r b e it s a me. – Wer jetzt aus den moralischen Dingen ein Studium machen will, eröff net sich ein ungeheures Feld der Arbeit. Alle Arten Passionen müssen einzeln durchdacht, einzeln durch Zeiten, Völker, grosse und kleine Einzelne verfolgt werden ; ihre ganze Vernunft und alle ihre Werthschätzungen und Beleuchtungen der Dinge sollen an’s Licht hinaus ! Bisher hat alles Das, was dem Dasein Farbe gegeben hat, noch keine Geschichte : oder wo gäbe es eine Geschichte der Liebe, der Habsucht, des Neides, des Gewissens, der Pietät, der Grausamkeit ? Selbst eine vergleichende Geschichte des Rechtes, oder auch nur der Strafe, fehlt bisher vollständig. Hat man schon die verschiedene Eintheilung des Tages, die Folgen einer regelmässigen Festsetzung von Arbeit, Fest und Ruhe zum Gegenstand der Forschung gemacht ? Kennt man die moralischen Wirkungen der Nahrungsmittel ? Giebt es

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eine Philosophie der Ernährung ? (Der immer wieder losbrechende Lärm für und wider den Vegetarianismus beweist schon, dass es noch keine solche Philosophie giebt !) Sind die Erfahrungen über das Zusammenleben, zum Beispiel die Erfahrungen der Klöster, schon gesammelt ? Ist die Dia|lektik der Ehe und Freundschaft schon dargestellt ? Die Sitten der Gelehrten, der Kaufleute, Künstler, Handwerker, – haben sie schon ihre Denker gefunden ? Es ist so viel daran zu denken ! Alles, was bis jetzt die Menschen als ihre „Existenz-Bedingungen“ betrachtet haben, und alle Vernunft, Leidenschaft und Aberglauben an dieser Betrachtung, – ist diess schon zu Ende erforscht ? Allein die Beobachtung des verschiedenen Wachsthums, welches die menschlichen Triebe je nach dem verschiedenen moralischen Klima gehabt haben und noch haben könnten, giebt schon zu viel der Arbeit für den Arbeitsamsten ; es bedarf ganzer Geschlechter und planmässig zusammen arbeitender Geschlechter von Gelehrten, um hier die Gesichtspuncte und das Material zu erschöpfen. Das Selbe gilt von der Nachweisung der Gründe für die Verschiedenheit des moralischen Klimas („we s s h a l b leuchtet hier diese Sonne eines moralischen Grundurtheils und Hauptwerthmessers – und dort jene ?“). Und wieder eine neue Arbeit ist es, welche die Irrthümlichkeit aller dieser Gründe und das ganze Wesen des bisherigen moralischen Urtheils feststellt. Gesetzt, alle diese Arbeiten seien gethan, so träte die heikeligste aller Fragen in den Vordergrund, ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu g eb e n , nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten kann – und dann würde ein Experimentiren am Platze sein, an dem jede Art von Heroismus sich befriedigen könnte, ein Jahrhunderte langes Experimentiren, welches alle grossen Arbeiten und Aufopferungen der bisherigen Geschichte in Schatten stellen könnte. Bisher hat die Wissenschaft ihre Cyklopen-Bauten noch nicht gebaut ; auch dafür wird die Zeit kommen. |

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8. Un b ew u s s t e Tu g e nd e n . – Alle Eigenschaften eines Menschen, deren er sich bewusst ist – und namentlich, wenn er deren Sichtbarkeit und Evidenz auch für seine Umgebung voraussetzt – stehen unter ganz anderen Gesetzen der Entwickelung, als jene Eigenschaften, welche ihm unbekannt oder schlecht bekannt sind und die sich auch vor dem Auge des feineren Beobachters durch ihre Feinheit verbergen und wie hinter das Nichts zu verstecken wissen. So steht es mit den feinen Sculpturen auf den Schuppen der Reptilien : es würde ein Irrthum sein, in ihnen einen Schmuck oder eine Waffe zu vermuthen – denn man sieht sie erst mit dem Mikroskop, also mit einem so künstlich verschärften Auge, wie es ähn liche Thiere, für welche es etwa Schmuck oder Waffe zu bedeuten hätte, nicht besitzen ! Unsere sichtbaren moralischen Qualitäten, und namentlich unsere sichtbar geg laubten gehen ihren Gang, – und die unsichtbaren ganz gleichnamigen, welche uns in Hinsicht auf Andere weder Schmuck noch Waffe sind, gehen auc h i h ren Ga ng : einen ganz anderen wahrscheinlich, und mit Linien und Feinheiten und Sculpturen, welche vielleicht einem Gotte mit einem göttlichen Mikroskope Vergnügen machen könnten. Wir haben zum Beispiel unsern Fleiss, unsern Ehrgeiz, unsern Scharfsinn : alle Welt weiss darum –, und ausserdem haben wir wahrscheinlich noch einmal u n s e r e n Fleiss, u n s e r e n Ehrgeiz, u n s e r e n Scharfsinn ; aber für diese unsere Reptilien-Schuppen ist das Mikroskop noch nicht erfunden ! – Und hier werden die Freunde der instinctiven Moralität sagen : „Bravo ! Er hält wenigstens un|bewusste Tugenden für möglich, – das genügt uns !“ – Oh ihr Genügsamen ! 9. Un sere Er upt ionen. – Unzähliges, was sich die Menschheit auf früheren Stufen aneignete, aber so schwach und embryonisch, dass es Niemand als angeeignet wahrzunehmen wusste,

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stösst plötzlich, lange darauf, vielleicht nach Jahrhunderten, an’s Licht ; es ist inzwischen stark und reif geworden. Manchen Zeitaltern scheint diess oder jenes Talent, diese oder jene Tugend ganz zu fehlen, wie manchen Menschen : aber man warte nur bis auf die Enkel und Enkelskinder, wenn man Zeit hat, zu warten, – sie bringen das Innere ihrer Grossväter an die Sonne, jenes Innere, von dem die Grossväter selbst noch Nichts wussten. Oft ist schon der Sohn der Verräther seines Vaters : dieser versteht sich selber besser, seit er seinen Sohn hat. Wir haben Alle verborgene Gärten und Pflanzungen in uns ; und, mit einem andern Gleichnisse, wir sind Alle wachsende Vulcane, die ihre Stunde der Eruption haben werden : – wie nahe aber oder wie ferne diese ist, das freilich weiss Niemand, selbst der liebe Gott nicht. 10. Ei ne A r t von Atav i smus. – Die seltenen Menschen einer Zeit verstehe ich am liebsten als plötzlich auftauchende Nachschösslinge vergangener Culturen und deren Kräften : gleichsam als den Atavismus eines Volkes und seiner Gesittung : – so  ist wirklich Etwas noch an ihnen zu ve r s t e h e n ! Jetzt erscheinen sie fremd, selten, ausserordentlich : und wer diese Kräfte in sich fühlt, hat | sie gegen eine widerstrebende andere Welt zu pflegen, zu vertheidigen, zu ehren, gross zu ziehen : und so wird er damit entweder ein grosser Mensch oder ein verrückter und absonderlicher, sofern er überhaupt nicht bei Zeiten zu Grunde geht. Ehedem waren diese selben Eigenschaften gewöhnlich und galten folglich als gemein : sie zeichneten nicht aus. Vielleicht wurden sie gefordert, vorausgesetzt ; es war unmöglich, mit ihnen gross zu werden, und schon desshalb, weil die Gefahr fehlte, mit ihnen auch toll und einsam zu werden. – Die e r h a lt e n d e n Geschlechter und Kasten eines Volkes sind es vornehmlich, in denen solche Nachschläge alter Triebe vorkommen, während keine Wahrscheinlichkeit

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für solchen Atavismus ist, wo Rassen, Gewohnheiten, Werthschätzungen zu rasch wechseln. Das Tempo bedeutet nämlich unter den Kräften der Entwickelung bei Völkern ebensoviel wie bei der Musik ; für unseren Fall ist durchaus ein Andante der Entwickelung nothwendig, als das Tempo eines leidenschaftlichen und langsamen Geistes : – und der Art ist ja der Geist conservativer Geschlechter. 11. D a s B ew u s s t s e i n . – Die Bewusstheit ist die letzte und späteste Entwickelung des Organischen und folglich auch das Unfertigste und Unkräftigste daran. Aus der Bewusstheit stammen unzählige Fehlgriffe, welche machen, dass ein Thier, ein Mensch zu Grunde geht, früher als es nöthig wäre, „über das Geschick“, wie Homer sagt. Wäre nicht der erhaltende Verband der Instincte so überaus viel mächtiger, diente er nicht im Ganzen als Regulator : an ihrem verkehrten Urtheilen und Phantasiren mit offenen Augen, an ihrer Ungründ|lichkeit und Leichtgläubigkeit, kurz eben an ihrer Bewusstheit müsste die Menschheit zu Grunde gehen : oder vielmehr, ohne jenes gäbe es diese längst nicht mehr ! Bevor eine Function ausgebildet und reif ist, ist sie eine Gefahr des Organismus : gut, wenn sie so lange tüchtig tyrannisirt wird ! So wird die Bewusstheit tüchtig tyrannisirt – und nicht am wenigsten von dem Stolze darauf ! Man denkt, hier sei d e r K e r n des Menschen ; sein Bleibendes, Ewiges, Letztes, Ursprünglichstes ! Man hält die Bewusstheit für eine feste gegebene Grösse ! Leugnet ihr Wachsthum, ihre Intermittenzen ! Nimmt sie als „Einheit des Organismus“ ! – Diese lächerliche Ueberschätzung und Verkennung des Bewusstseins hat die grosse Nützlichkeit zur Folge, dass damit eine allzuschnelle Ausbildung desselben ve r h i nd e r t worden ist. Weil die Menschen die Bewusstheit schon zu haben glaubten, haben sie sich wenig Mühe darum gegeben, sie zu erwerben – und auch jetzt noch steht es nicht

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anders ! Es ist immer noch eine ganz neue und eben erst dem menschlichen Auge aufdämmernde, kaum noch deutlich erkennbare Au fg a b e , d a s Wi s s en s ic h ei n z uverlei b en und instinctiv zu machen, – eine Aufgabe, welche nur von Denen gesehen wird, die begriffen haben, dass bisher nur unsere I r r t hü me r uns einverleibt waren und dass alle unsere Bewusstheit sich auf Irrthümer bezieht ! 12. Vo m Z i e le d e r W i s s e n s c h a f t . – Wie ? Das letzte Ziel der Wissenschaft sei, dem Menschen möglichst viel Lust und möglichst wenig Unlust zu schaffen ? Wie, wenn nun Lust und Unlust so mit einem Stricke zusammengeknüpft wären, dass, wer möglichst viel von | der einen haben w i l l , auch möglichst viel von der andern haben mu s s , – dass, wer das „Himmelhoch-Jauchzen“ lernen will, sich auch für das „zumTode-betrübt“ bereit halten muss ? Und so steht es vielleicht ! Die Stoiker glaubten wenigstens, dass es so stehe, und waren consequent, als sie nach möglichst wenig Lust begehrten, um möglichst wenig Unlust vom Leben zu haben (wenn man den Spruch im Munde führte „Der Tugendhafte ist der Glücklichste“, so hatte man in ihm sowohl ein Aushängeschild der Schule für die grosse Masse, als auch eine casuistische Feinheit für die Feinen). Auch heute noch habt ihr die Wahl : entweder mög l ic h s t we n i g Un lu s t , kurz Schmerzlosigkeit – und im Grunde dürften Socialisten und Politiker aller Parteien ihren Leuten ehrlicher Weise nicht mehr verheissen – oder mög l ic h s t v ie l Un lu s t als Preis für das Wachsthum einer Fülle von feinen und bisher selten gekosteten Lüsten und Freuden ! Entschliesst ihr euch für das Erstere, wollt ihr also die Schmerzhaftigkeit der Menschen herabdrücken und vermindern, nun, so müsst ihr auch ihre Fä h i g k e it z u r F r e u d e herabdrücken und vermindern. In der That kann man m it d e r W i s s e n s c h a f t das eine wie das andere Ziel

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fördern ! Vielleicht ist sie jetzt noch bekannter wegen ihrer Kraft, den Menschen um seine Freuden zu bringen, und ihn kälter, statuenhafter, stoischer zu machen. Aber sie könnte auch noch als die g r o s s e S c h m e r z b r i n g e r i n entdeckt werden ! – Und dann würde vielleicht zugleich ihre Gegenkraft entdeckt sein, ihr ungeheures Vermögen, neue Sternenwelten der Freude aufleuchten zu lassen ! | 13. Zur Leh re vom Mac htgef ü h l. – Mit Wohlthun und Wehethun übt man seine Macht an Andern aus – mehr will man dabei nicht ! Mit We het hu n an Solchen, denen wir unsere Macht erst fühlbar machen müssen ; denn der Schmerz ist ein viel empfi ndlicheres Mittel dazu als die Lust : – der Schmerz fragt immer nach der Ursache, während die Lust geneigt ist, bei sich selber stehen zu bleiben und nicht rückwärts zu schauen. Mit Woh lt hu n und Wohlwollen an Solchen, die irgendwie schon von uns abhängen (das heisst gewohnt sind, an uns als ihre Ursachen zu denken) ; wir wollen ihre Macht mehren, weil wir so die unsere mehren, oder wir wollen ihnen den Vortheil zeigen, den es hat, in unserer Macht zu stehen, – so werden sie mit ihrer Lage zufriedener und gegen die Feinde u n s e r e r Macht feindseliger und kampf bereiter sein. Ob wir beim Wohl- oder Wehethun Opfer bringen, verändert den letzten Werth unserer Handlungen nicht ; selbst wenn wir unser Leben daran setzen, wie der Märtyrer zu Gunsten seiner Kirche, es ist ein Opfer, gebracht u n s e r e m Verlangen nach Macht, oder zum Zweck der Erhaltung unseres Machtgefühls. Wer da empfi ndet „ich bin im Besitz der Wahrheit“, wie viel Besitzthümer lässt der nicht fahren, um diese Empfi ndung zu retten ! Was wirft er nicht Alles über Bord, um sich „oben“ zu erhalten, – das heisst ü b e r den Andern, welche der „Wahrheit“ ermangeln ! Gewiss ist der Zustand, wo wir wehe thun, selten so angenehm, so ungemischt-angenehm,

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wie der, in welchem wir wohl thun, – es ist ein Zeichen, dass uns noch Macht fehlt, oder verräth den Verdruss über diese Armuth, es bringt neue Gefahren und Unsicherheiten für unseren vorhan|denen Besitz von Macht mit sich und umwölkt unsern Horizont durch die Aussicht auf Rache, Hohn, Strafe, Misserfolg. Nur für die reizbarsten und begehrlichsten Menschen des Machtgefühles mag es lustvoller sein, dem Widerstrebenden das Siegel der Macht aufzudrücken ; für solche, denen der Anblick des bereits Unterworfenen (als welcher der Gegenstand des Wohlwollens ist) Last und Langeweile macht. Es kommt darauf an, wie man gewöhnt ist, sein Leben zu w ü r z e n ; es ist eine Sache des Geschmackes, ob man lieber den langsamen oder den plötzlichen, den sicheren oder den gefährlichen und verwegenen Machtzuwachs haben will, – man sucht diese oder jene Würze immer nach seinem Temperamente. Eine leichte Beute ist stolzen Naturen etwas Verächtliches, sie empfi nden ein Wohlgefühl erst beim Anblick ungebrochener Menschen, welche ihnen Feind werden könnten, und ebenso beim Anblick aller schwer zugänglichen Besitzthümer ; gegen den Leidenden sind sie oft hart, denn er ist ihres Strebens und Stolzes nicht werth, – aber um so verbindlicher zeigen sie sich gegen die G le ic he n , mit denen ein Kampf und Ringen jedenfalls ehrenvoll wäre, we n n sich einmal eine Gelegenheit dazu fi nden sollte. Unter dem Wohlgefühle d ie s e r Perspective haben sich die Menschen der ritterlichen Kaste gegen einander an eine ausgesuchte Höflichkeit gewöhnt. – Mitleid ist das angenehmste Gefühl bei Solchen, welche wenig stolz sind und keine Aussicht auf grosse Eroberungen haben : für sie ist die leichte Beute – und das ist jeder Leidende – etwas Entzückendes. Man rühmt das Mitleid als die Tugend der Freudenmädchen. |

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14. Wa s A l le s L ieb e g e n a n nt w i r d . – Habsucht und Liebe : wie verschieden empfi nden wir bei jedem dieser Worte ! – und doch könnte es der selbe Trieb sein, zweimal benannt, das eine Mal verunglimpft vom Standpuncte der bereits Habenden aus, in denen der Trieb etwas zur Ruhe gekommen ist und die nun für ihre „Habe“ fürchten ; das andere Mal vom Standpuncte der Unbefriedigten, Durstigen aus, und daher verherrlicht als „gut“. Unsere Nächstenliebe – ist sie nicht ein Drang nach neuem E i g e nt hu m ? Und ebenso unsere Liebe zum Wissen, zur Wahrheit und überhaupt all jener Drang nach Neuigkeiten ? Wir werden des Alten, sicher Besessenen allmählich überdrüssig und strecken die Hände wieder aus ; selbst die schönste Landschaft, in der wir drei Monate leben, ist unserer Liebe nicht mehr gewiss, und irgend eine fernere Küste reizt unsere Habsucht an : der Besitz wird durch das Besitzen zumeist geringer. Unsere Lust an uns selber will sich so aufrecht erhalten, dass sie immer wieder etwas Neues i n u n s s e l b e r verwandelt, – das eben heisst Besitzen. Eines Besitzes überdrüssig werden, das ist : unserer selber überdrüssig werden. (Man kann auch am Zuviel leiden, – auch die Begierde, wegzuwerfen, auszutheilen, kann sich den Ehrennamen „Liebe“ zulegen.) Wenn wir Jemanden leiden sehen, so benutzen wir gerne die jetzt gebotene Gelegenheit, Besitz von ihm zu ergreifen ; diess thut zum Beispiel der Wohlthätige und Mitleidige, auch er nennt die in ihm erweckte Begierde nach neuem Besitz „Liebe“, und hat seine Lust dabei wie bei einer neuen ihm winkenden Eroberung. Am deutlichsten aber verräth sich die Liebe der Geschlechter | als Drang nach Eigenthum : der Liebende will den unbedingten Alleinbesitz der von ihm ersehnten Person, er will eine ebenso unbedingte Macht über ihre Seele wie ihren Leib, er will allein geliebt sein und als das Höchste und Begehrenswertheste in der andern Seele wohnen und herrschen. Erwägt man, dass diess nichts Ande-

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res heisst, als alle Welt von einem kostbaren Gute, Glücke und Genusse au s s c h l ie s s e n : erwägt man, dass der Liebende auf die Verarmung und Entbehrung aller anderen Mitbewerber ausgeht und zum Drachen seines goldenen Hortes werden möchte, als der rücksichtsloseste und selbstsüchtigste aller „Eroberer“ und Ausbeuter : erwägt man endlich, dass dem Liebenden selber die ganze andere Welt gleichgültig, blass, werthlos erscheint und er jedes Opfer zu bringen, jede Ordnung zu stören, jedes Interesse hintennach zu setzen bereit ist : so wundert man sich in der That, dass diese wilde Habsucht und Ungerechtigkeit der Geschlechtsliebe dermaassen verherrlicht und vergöttlicht worden ist, wie zu allen Zeiten geschehen, ja, dass man aus dieser Liebe den Begriff Liebe als den Gegensatz des Egoismus hergenommen hat, während sie vielleicht gerade der unbefangenste Ausdruck des Egoismus ist. Hier haben offenbar die Nichtbesitzenden und Begehrenden den Sprachgebrauch gemacht, – es gab wohl ihrer immer zu viele. Solche, welchen auf diesem Bereiche viel Besitz und Sättigung gegönnt war, haben wohl hier und da ein Wort vom „wüthenden Dämon“ fallen lassen, wie jener liebenswürdigste und geliebteste aller Athener, Sophokles : aber Eros lachte jederzeit über solche Lästerer, – es waren immer gerade seine grössten Lieblinge. – Es giebt wohl hier und da auf Erden eine Art | Fortsetzung der Liebe, bei der jenes habsüchtige Verlangen zweier Personen nach einander einer neuen Begierde und Habsucht, einem g e me i n s a me n höheren Durste nach einem über ihnen stehenden Ideale gewichen ist : aber wer kennt diese Liebe ? Wer hat sie erlebt ? Ihr rechter Name ist Fr eu nd s c h a f t . 15. Au s der Fer ne. – Dieser Berg macht die ganze Gegend, die er beherrscht, auf alle Weise reizend und bedeutungsvoll : nachdem wir diess uns zum hundertsten Male gesagt haben, sind wir so unvernünftig und so dankbar gegen ihn gestimmt,

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dass wir glauben, er, der Geber dieses Reizes, müsse selber das Reizvollste der Gegend sein – und so steigen wir auf ihn hinauf und sind enttäuscht. Plötzlich ist er selber, und die ganze Landschaft um uns, unter uns wie entzaubert ; wir hatten vergessen, dass manche Grösse, wie manche Güte, nur auf eine gewisse Distanz hin gesehen werden will, und durchaus von unten, nicht von oben, – so allein w i r k t s ie. Vielleicht kennst du Menschen in deiner Nähe, die sich selber nur aus einer gewissen Ferne ansehen dürfen, um sich überhaupt erträglich oder anziehend und kraftgebend zu fi nden ; die Selbsterkenntniss ist ihnen zu widerrathen. 16. Ueber den Steg. – Im Verkehre mit Personen, welche gegen ihre Gefühle schamhaft sind, muss man sich verstellen können ; sie empfi nden einen plötzlichen Hass gegen Den, welcher sie auf einem zärtlichen oder schwärmerischen und hochgehenden Gefühle ertappt, wie als ob er ihre Heimlichkeiten gesehen habe. Will | man ihnen in solchen Augenblicken wohl thun, so mache man sie lachen oder sage irgend eine kalte scherzhafte Bosheit : – ihr Gefühl erfriert dabei, und sie sind ihrer wieder mächtig. Doch ich gebe die Moral vor der Geschichte. – Wir sind uns Einmal im Leben so nahe gewesen, dass Nichts unsere Freund- und Bruderschaft mehr zu hemmen schien und nur noch ein kleiner Steg zwischen uns war. Indem du ihn eben betreten wolltest, fragte ich dich : „willst du zu mir über den Steg ?“ – Aber da wolltest du nicht mehr ; und als ich nochmals bat, schwiegst du. Seitdem sind Berge und reissende Ströme, und was nur trennt und fremd macht, zwischen uns geworfen, und wenn wir auch zu einander wollten, wir könnten es nicht mehr ! Gedenkst du aber jetzt jenes kleinen Steges, so hast du nicht Worte mehr, – nur noch Schluchzen und Verwunderung.

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17. S e i ne A r mut h mot i v i r e n . – Wir können freilich durch kein Kunststück aus einer armen Tugend eine reiche, reichfl iessende machen, aber wohl können wir ihre Armuth schön in die Nothwendigkeit umdeuten, sodass ihr Anblick uns nicht mehr wehe thut, und wir ihrethalben dem Fatum keine vorwurfsvollen Gesichter machen. So thut der weise Gärtner, der das arme Wässerchen seines Gartens einer Quellnymphe in den Arm legt und also die Armuth motivirt : – und wer hätte nicht gleich ihm die Nymphen nöthig ! 18. A nt i k e r St ol z . – Die antike Färbung der Vornehmheit fehlt uns, weil unserem Gefühle der antike | Sclave fehlt. Ein Grieche edler Abkunft fand zwischen seiner Höhe und jener letzten Niedrigkeit solche ungeheure Zwischen-Stufen und eine solche Ferne, dass er den Sclaven kaum noch deutlich sehen konnte : selbst Plato hat ihn nicht ganz mehr gesehen. Anders wir, gewöhnt wie wir sind an die L e h r e von der Gleichheit der Menschen, wenn auch nicht an die Gleichheit selber. Ein Wesen, das nicht über sich selber verfügen kann und dem die Musse fehlt, – das gilt unserem Auge noch keineswegs als etwas Verächtliches ; es ist von derlei Sclavenhaftem vielleicht zu viel an Jedem von uns, nach den Bedingungen unserer gesellschaftlichen Ordnung und Thätigkeit, welche grundverschieden von denen der Alten sind. – Der griechische Philosoph gieng durch das Leben mit dem geheimen Gefühle, dass es viel mehr Sclaven gebe, als man vermeine – nämlich, dass Jedermann Sclave sei, der nicht Philosoph sei ; sein Stolz schwoll über, wenn er erwog, dass auch die Mächtigsten der Erde unter diesen seinen Sclaven seien. Auch dieser Stolz ist uns fremd und unmöglich ; nicht einmal im Gleichniss hat das Wort „Sclave“ für uns seine volle Kraft.

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19. D a s B ö s e. – Prüfet das Leben der besten und fruchtbarsten Menschen und Völker und fragt euch, ob ein Baum, der stolz in die Höhe wachsen soll, des schlechten Wetters und der Stürme entbehren könne : ob Ungunst und Widerstand von aussen, ob irgend welche Arten von Hass, Eifersucht, Eigensinn, Misstrauen, Härte, Habgier und Gewaltsamkeit nicht zu den b e g ü n s t i g e nd e n Umständen gehören, ohne welche ein grosses Wachsthum selbst in der Tugend kaum | möglich ist ? Das Gift, an dem die schwächere Natur zu Grunde geht, ist für den Starken Stärkung – und er nennt es auch nicht Gift. 20. Wü r d e d e r T ho r h e it . – Einige Jahrtausende weiter auf der Bahn des letzten Jahrhunderts ! – und in Allem, was der Mensch thut, wird die höchste Klugheit sichtbar sein : aber eben damit wird die Klugheit alle ihre Würde verloren haben. Es ist dann zwar nothwendig, klug zu sein, aber auch so gewöhnlich und so gemein, dass ein eklerer Geschmack diese Nothwendigkeit als eine G e me i n he it empfi nden wird. Und ebenso wie eine Tyrannei der Wahrheit und Wissenschaft im Stande wäre, die Lüge hoch im Preise steigen zu machen, so könnte eine Tyrannei der Klugheit eine neue Gattung von Edelsinn hervortreiben. Edel sein – das hiesse dann vielleicht : Thorheiten im Kopfe haben. 21. A n d ie L e h r e r d e r S e l b s t lo s i g k e it . – Man nennt die Tugenden eines Menschen g ut , nicht in Hinsicht auf die Wirkungen, welche sie für ihn selber haben, sondern in Hinsicht auf die Wirkungen, welche wir von ihnen für uns und die Gesellschaft voraussetzen : – man ist von jeher im Lobe der Tugenden sehr wenig „selbstlos“, sehr wenig „unegoistisch“ gewesen ! Sonst nämlich hätte man sehen müssen, dass die

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Tugenden (wie Fleiss, Gehorsam, Keuschheit, Pietät, Gerechtigkeit) ihren Inhabern meistens s c h ä d l i c h sind, als Triebe, welche allzu heftig und begehrlich in ihnen walten und von der Vernunft sich durchaus nicht im Gleichgewicht zu | den andern Trieben halten lassen wollen. Wenn du eine Tugend hast, eine wirkliche, ganze Tugend (und nicht nur ein Triebchen nach einer Tugend !) – so bist du ihr O pf e r ! Aber der Nachbar lobt eben desshalb deine Tugend ! Man lobt den Fleissigen, ob er gleich die Sehkraft seiner Augen oder die Ursprünglichkeit und Frische seines Geistes mit diesem Fleisse schädigt ; man ehrt und bedauert den Jüngling, welcher sich „zu Schanden gearbeitet hat“, weil man urtheilt : „Für das ganze Grosse der Gesellschaft ist auch der Verlust des besten Einzelnen nur ein kleines Opfer ! Schlimm, dass das Opfer Noth thut ! Viel schlimmer freilich, wenn der Einzelne anders denken und seine Erhaltung und Entwickelung wichtiger nehmen sollte, als seine Arbeit im Dienste der Gesellschaft !“ Und so bedauert man diesen Jüngling, nicht um seiner selber willen, sondern weil ein ergebenes und gegen sich rücksichtsloses We rk z eu g – ein sogenannter „braver Mensch“ – durch diesen Tod der Gesellschaft verloren gegangen ist. Vielleicht erwägt man noch, ob es im Interesse der Gesellschaft nützlicher gewesen sein würde, wenn er minder rücksichtslos gegen sich gearbeitet und sich länger erhalten hätte, – ja man gesteht sich wohl einen Vortheil davon zu, schlägt aber jenen anderen Vortheil, dass ein O p f e r gebracht und die Gesinnung des Opferthiers sich wieder einmal au g e n s c he i n l ic h bestätigt hat, für höher und nachhaltiger an. Es ist also einmal die Werkzeug-Natur in den Tugenden, die eigentlich gelobt wird, wenn die Tugenden gelobt werden, und sodann der blinde in jeder Tugend waltende Trieb, welcher durch den Gesammt-Vortheil des Individuums sich nicht in Schranken halten lässt, kurz : die Unvernunft in der Tugend, vermöge | deren das Einzelwesen sich zur Function des Ganzen umwan-

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deln lässt. Das Lob der Tugenden ist das Lob von etwas PrivatSchädlichem, – das Lob von Trieben, welche dem Menschen seine edelste Selbstsucht und die Kraft zur höchsten Obhut über sich selber nehmen. – Freilich : zur Erziehung und zur Einverleibung tugendhafter Gewohnheiten kehrt man eine Reihe von Wirkungen der Tugend heraus, welche Tugend und Privat-Vortheil als verschwistert erscheinen lassen, – und es giebt in der That eine solche Geschwisterschaft ! Der blindwüthende Fleiss zum Beispiel, diese typische Tugend eines Werkzeuges, wird dargestellt als der Weg zu Reichthum und Ehre und als das heilsamste Gift gegen die Langeweile und die Leidenschaften : aber man verschweigt seine Gefahr, seine höchste Gefährlichkeit. Die Erziehung verfährt durchweg so : sie sucht den Einzelnen durch eine Reihe von Reizen und Vortheilen zu einer Denk- und Handlungsweise zu bestimmen, welche, wenn sie Gewohnheit, Trieb und Leidenschaft geworden ist, w id e r s e i ne n let z t e n Vor t he i l , aber „zum allgemeinen Besten“ in ihm und über ihn herrscht. Wie oft sehe ich es, dass der blindwüthende Fleiss zwar Reichthümer und Ehre schaff t, aber zugleich den Organen die Feinheit nimmt, vermöge deren es einen Genuss an Reichthum und Ehren geben könnte, ebenso, dass jenes Hauptmittel gegen die Langeweile und die Leidenschaften zugleich die Sinne stumpf und den Geist widerspänstig gegen neue Reize macht. (Das fleissigste aller Zeitalter – unser Zeitalter – weiss aus seinem vielen Fleisse und Gelde Nichts zu machen, als immer wieder mehr Geld und immer wieder mehr Fleiss : es gehört eben mehr Genie dazu, auszugeben, als zu er|werben ! – Nun, wir werden unsere „Enkel“ haben !) Gelingt die Erziehung, so ist jede Tugend des Einzelnen eine öffentliche Nützlichkeit und ein privater Nachtheil im Sinne des höchsten privaten Zieles, – wahrscheinlich irgend eine geistig-sinnliche Verkümmerung oder gar der frühzeitige Untergang : man erwäge der Reihe nach von diesem Gesichtspuncte aus die Tugend des Gehor-

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sams, der Keuschheit, der Pietät, der Gerechtigkeit. Das Lob des Selbstlosen, Aufopfernden, Tugendhaften – also Desjenigen, der nicht seine ganze Kraft und Vernunft auf s e i ne Erhaltung, Entwickelung, Erhebung, Förderung, Macht-Erweiterung verwendet, sondern in Bezug auf sich bescheiden und gedankenlos, vielleicht sogar gleichgültig oder ironisch lebt, – dieses Lob ist jedenfalls nicht aus dem Geiste der Selbstlosigkeit entsprungen ! Der „Nächste“ lobt die Selbstlosigkeit, weil e r d u r c h s ie Vor t h e i le h at ! Dächte der Nächste selber „selbstlos“, so würde er jenen Abbruch an Kraft, jene Schädigung zu s e i n e n Gunsten abweisen, der Entstehung solcher Neigungen entgegenarbeiten und vor Allem seine Selbstlosigkeit eben dadurch bekunden, dass er dieselbe n ic ht g ut nennte ! – Hiermit ist der Grundwiderspruch jener Moral angedeutet, welche gerade jetzt sehr in Ehren steht : die Mot ive zu dieser Moral stehen im Gegensatz zu ihrem P r i nc i p e ! Das, womit sich diese Moral beweisen will, widerlegt sich aus ihrem Kriterium des Moralischen ! Der Satz „du sollst dir selber entsagen und dich zum Opfer bringen“ dürfte, um seiner eigenen Moral nicht zuwiderzugehen, nur von einem Wesen decretirt werden, welches damit selber seinem Vortheil entsagte und vielleicht in der verlangten Aufopferung der Einzelnen | seinen eigenen Untergang herbeiführte. Sobald aber der Nächste (oder die Gesellschaft) den Altruismus u m d e s Nutz e n s w i l le n anempfiehlt, wird der gerade entgegengesetzte Satz „du sollst den Vortheil auch auf Unkosten alles Anderen suchen“ zur Anwendung gebracht, also in Einem Athem ein „Du sollst“ und „Du sollst nicht“ gepredigt ! 22. L’ord r e du jou r pou r le r oi. – Der Tag beginnt : beginnen wir für diesen Tag die Geschäfte und Feste unseres allergnädigsten Herrn zu ordnen, der jetzt noch zu ruhen geruht. Seine Majestät hat heute schlechtes Wetter : wir werden uns

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hüten, es schlecht zu nennen ; man wird nicht vom Wetter reden, – aber wir werden die Geschäfte heute etwas feierlicher und die Feste etwas festlicher nehmen, als sonst nöthig wäre. Seine Majestät wird vielleicht sogar krank sein : wir werden zum Frühstück die letzte gute Neuigkeit vom Abend präsentiren, die Ankunft des Herrn von Montaigne, der so angenehm über seine Krankheit zu scherzen weiss, – er leidet am Stein. Wir werden einige Personen empfangen (Personen ! – was würde jener alte aufgeblasene Frosch, der unter ihnen sein wird, sagen, wenn er diess Wort hörte ! „Ich bin keine Person, würde er sagen, sondern immer die Sache selber“.) – und der Empfang wird länger dauern, als irgend Jemandem angenehm ist : Grund genug, von jenem Dichter zu erzählen, der auf seine Thüre schrieb : „wer hier eintritt, wird mir eine Ehre erweisen ; wer es nicht thut – ein Vergnügen.“ – Diess heisst fürwahr eine Unhöflichkeit auf höfliche Manier sagen ! Und vielleicht hat dieser Dichter für seinen Theil ganz Recht, unhöflich zu sein : | man sagt, dass seine Verse besser seien, als der Verse-Schmied. Nun, so mag er noch viele machen und sich selber möglichst der Welt entziehen : und das ist ja der Sinn seiner artigen Unart ! Umgekehrt ist ein Fürst immer mehr werth, als sein „Vers“, selbst wenn – doch was machen wir ? Wir plaudern, und der ganze Hof meint, wir arbeiteten schon und zerbrächen uns die Köpfe : man sieht kein Licht früher, als das in unserem Fenster brennen. – Horch ! War das nicht die Glocke ? Zum Teufel ! Der Tag und der Tanz beginnt, und wir wissen seine Touren nicht ! So müssen wir improvisiren, – alle Welt improvisirt ihren Tag. Machen wir es heute einmal wie alle Welt ! – Und damit verschwand mein wunderlicher Morgentraum, wahrscheinlich vor den harten Schlägen der Thurmuhr, die eben mit all der Wichtigkeit, die ihr eigen ist, die fünfte Stunde verkündete. Es scheint mir, dass diessmal der Gott der Träume sich über meine Gewohnheiten lustig machen wollte, – es ist meine Gewohnheit, den Tag so zu

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beginnen, dass ich ihn f ü r m ic h zurecht lege und erträglich mache, und es mag sein, dass ich diess öfters zu förmlich und zu prinzenhaft gethan habe. 23. D ie A n z e ic he n d e r Cor r upt ion . – Man beachte an jenen von Zeit zu Zeit nothwendigen Zuständen der Gesellschaft, welche mit dem Wort „Corruption“ bezeichnet werden, folgende Anzeichen. Sobald irgend wo die Corruption eintritt, nimmt ein bunter A b e r g l au b e überhand und der bisherige Gesammtglaube eines Volkes wird blass und ohnmächtig dagegen : der Aberglaube ist nämlich die Freigeisterei zweiten Ranges, | – wer sich ihm ergiebt, wählt gewisse ihm zusagende Formen und Formeln aus und erlaubt sich ein Recht der Wahl. Der Abergläubische ist, im Vergleich mit dem Religiösen, immer viel mehr „Person“, als dieser, und eine abergläubische Gesellschaft wird eine solche sein, in der es schon viele Individuen und Lust am Individuellen giebt. Von diesem Standpuncte aus gesehen, erscheint der Aberglaube immer als ein For t s c h r it t gegen den Glauben und als Zeichen dafür, dass der Intellect unabhängiger wird und sein Recht haben will. Ueber Corruption klagen dann die Verehrer der alten Religion und Religiosität, – sie haben bisher auch den Sprachgebrauch bestimmt und dem Aberglauben eine üble Nachrede selbst bei den freiesten Geistern gemacht. Lernen wir, dass er ein Sympton der Au f k l ä r u n g ist. – Zweitens beschuldigt man eine Gesellschaft, in der die Corruption Platz greift, der E r s c h l a f f u n g : und ersichtlich nimmt in ihr die Schätzung des Krieges und die Lust am Kriege ab, und die Bequemlichkeiten des Lebens werden jetzt eben so heiss erstrebt, wie ehedem die kriegerischen und gymnastischen Ehren. Aber man pflegt zu übersehen, dass jene alte Volks-Energie und Volks-Leidenschaft, welche durch den Krieg und die Kampfspiele eine prachtvolle Sichtbarkeit bekam, jetzt sich in

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unzählige Privat-Leidenschaften umgesetzt hat und nur weniger sichtbar geworden ist ; ja, wahrscheinlich ist in Zuständen der „Corruption“ die Macht und Gewalt der jetzt verbrauchten Energie eines Volkes grösser, als je, und das Individuum giebt so verschwenderisch davon aus, wie es ehedem nicht konnte, – es war damals noch nicht reich genug dazu ! Und so sind es gerade die Zeiten der | „Erschlaff ung“, wo die Tragödie durch die Häuser und Gassen läuft, wo die grosse Liebe und der grosse Hass geboren werden, und die Flamme der Erkenntniss lichterloh zum Himmel aufschlägt. – Drittens pflegt man, gleichsam zur Entschädigung für den Tadel des Aberglaubens und der Erschlaff ung, solchen Zeiten der Corruption nachzusagen, dass sie milder seien und dass jetzt die Grausamkeit, gegen die ältere gläubigere und stärkere Zeit gerechnet, sehr in Abnahme komme. Aber auch dem Lobe kann ich nicht beipfl ichten, ebensowenig als jenem Tadel : nur so viel gebe ich zu, dass jetzt die Grausamkeit sich verfeinert, und dass ihre älteren Formen von nun an wider den Geschmack gehen ; aber die Verwundung und Folterung durch Wort und Blick erreicht in Zeiten der Corruption ihre höchste Ausbildung, – jetzt erst wird die B o s he it geschaffen und die Lust an der Bosheit. Die Menschen der Corruption sind witzig und verläumderisch ; sie wissen, dass es noch andere Arten des Mordes giebt, als durch Dolch und Ueberfall, – sie wissen auch, dass alles G ut g e s a g t e geglaubt wird. – Viertens : wenn „die Sitten verfallen“, so tauchen zuerst jene Wesen auf, welche man Tyrannen nennt : es sind die Vorläufer und gleichsam die frühreifen E r s t l i n g e d e r I nd i v id ue n . Noch eine kleine Weile : und diese Frucht der Früchte hängt reif und gelb am Baume eines Volkes, – und nur um dieser Früchte willen gab es diesen Baum ! Ist der Verfall auf seine Höhe gekommen und der Kampf aller Art Tyrannen ebenfalls, so kommt dann immer der Cäsar, der Schluss-Tyrann, der dem ermüdeten Ringen um Alleinherrschaft ein Ende macht, indem er die

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Müdigkeit für sich arbeiten lässt. Zu seiner Zeit ist gewöhnlich das Individuum am | reifsten und folglich die „Cultur“ am höchsten und fruchtbarsten, aber nicht um seinetwillen und nicht durch ihn : obwohl die höchsten Cultur-Menschen ihrem Cäsar damit zu schmeicheln lieben, dass sie sich als s e i n Werk ausgeben. Die Wahrheit aber ist, dass sie Ruhe von Aussen nöthig haben, weil sie ihre Unruhe und Arbeit in sich haben. In diesen Zeiten ist die Bestechlichkeit und der Verrath am grössten : denn die Liebe zu dem eben erst entdeckten ego ist jetzt viel mächtiger, als die Liebe zum alten, verbrauchten, todtgeredeten „Vaterlande“ ; und das Bedürfniss, sich irgendwie gegen die furchtbaren Schwankungen des Glückes sicherzustellen, öff net auch edlere Hände, sobald ein Mächtiger und Reicher sich bereit zeigt, Gold in sie zu schütten. Es giebt jetzt so wenig sichere Zukunft : da lebt man für heute : ein Zustand der Seele, bei dem alle Verführer ein leichtes Spiel spielen, – man lässt sich nämlich auch nur „für heute“ verführen und bestechen und behält sich die Zukunft und die Tugend vor ! Die Individuen, diese wahren An- und Für-sich’s, sorgen, wie bekannt, mehr für den Augenblick, als ihre Gegensätze, die Heerden-Menschen, weil sie sich selber für ebenso unberechenbar halten wie die Zukunft ; ebenso knüpfen sie sich gerne an Gewaltmenschen an, weil sie sich Handlungen und Auskünfte zutrauen, die bei der Menge weder auf Verständniss noch auf Gnade rechnen können, – aber der Tyrann oder Cäsar versteht das Recht des Individuums auch in seiner Ausschreitung und hat ein Interesse daran, einer kühneren Privatmoral das Wort zu reden und selbst die Hand zu bieten. Denn er denkt von sich und will über sich gedacht haben, was Napoleon einmal in seiner | classischen Art und Weise ausgesprochen hat : „ich habe das Recht, auf Alles, worüber man gegen mich Klage führt, durch ein ewiges „Das-bin-ich“ zu antworten. Ich bin abseits von aller Welt, ich nehme von Niemandem Bedingungen an. Ich will, dass man sich auch meinen Phanta-

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sieen unterwerfe und es ganz einfach fi nde, wenn ich mich diesen oder jenen Zerstreuungen hingebe.“ So sprach Napoleon einmal zu seiner Gemahlin, als diese Gründe hatte, die eheliche Treue ihres Gatten in Frage zu ziehen. – Die Zeiten der Corruption sind die, in welchen die Aepfel vom Baume fallen : ich meine die Individuen, die Samenträger der Zukunft, die Urheber der geistigen Colonisation und Neubildung von Staats- und Gesellschaftsverbänden. Corruption ist nur ein Schimpfwort für die He r b s t z e it e n eines Volkes. 24. Ve r s c h ie d e ne Un z u f r ie d e n he it . – Die schwachen und gleichsam weiblichen Unzufriedenen sind die Erfi ndsamen für die Verschönerung und Vertiefung des Lebens, die starken Unzufriedenen – die Mannspersonen unter ihnen, im Bilde zu bleiben – für Verbesserung und Sicherung des Lebens. Die Ersteren zeigen darin ihre Schwäche und Weiberart, dass sie sich gerne zeitweilig täuschen lassen und wohl schon mit ein Wenig Rausch und Schwärmerei einmal fürlieb nehmen, aber im Ganzen nie zu befriedigen sind und an der Unheilbarkeit ihrer Unzufriedenheit leiden ; überdiess sind sie die Förderer aller Derer, welche opiatische und narkotische Tröstungen zu schaffen wissen, und eben darum Jenen gram, die den Arzt höher als den Priester schätzen, – dadurch unterhalten sie die For t|d aue r der wirklichen Nothstände ! Hätte es nicht seit den Zeiten des Mittelalters eine Ueberzahl von Unzufriedenen dieser Art in Europa gegeben, so würde vielleicht die berühmte europäische Fähigkeit zur beständigen Ve r wa nd e lu n g gar nicht entstanden sein : denn die Ansprüche der starken Unzufriedenen sind zu grob und im Grunde zu anspruchslos, um nicht endlich einmal zur Ruhe gebracht werden zu können. China ist das Beispiel eines Landes, wo die Unzufriedenheit im Grossen und die Fähigkeit der Verwandelung seit vielen Jahrhunderten ausgestorben ist ; und

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die Socialisten und Staats-Götzendiener Europa’s könnten es mit ihren Maassregeln zur Verbesserung und Sicherung des Lebens auch in Europa leicht zu chinesischen Zuständen und einem chinesischen „Glücke“ bringen, vorausgesetzt, dass sie hier zuerst jene kränklichere, zartere, weiblichere, einstweilen noch überreichlich vorhandene Unzufriedenheit und Romantik ausrotten könnten. Europa ist ein Kranker, der seiner Unheilbarkeit und ewigen Verwandelung seines Leidens den höchsten Dank schuldig ist ; diese beständigen neuen Lagen, diese ebenso beständigen neuen Gefahren, Schmerzen und Auskunftsmittel haben zuletzt eine intellectuale Reizbarkeit erzeugt, welche beinahe so viel, als Genie, und jedenfalls die Mutter alles Genie’s ist. 25. Nic ht z u r Erken nt n i ss vor au sbest i m mt. – Es giebt eine gar nicht seltene blöde Demüthigkeit, mit der behaftet man ein für alle Mal nicht zum Jünger der Erkenntniss taugt. Nämlich : in dem Augenblick, wo ein Mensch dieser Art etwas Auffälliges wahr|nimmt, dreht er sich gleichsam auf dem Fusse um und sagt sich : „Du hast dich getäuscht ! Wo hast du deine Sinne gehabt ! Diess darf nicht die Wahrheit sein !“ – und nun, statt noch einmal schärfer hinzusehen und hinzuhören, läuft er wie eingeschüchtert dem auff älligen Dinge aus dem Wege und sucht es sich so schnell wie möglich aus dem Kopfe zu schlagen. Sein innerlicher Kanon nämlich lautet : „Ich will Nichts sehen, was der üblichen Meinung über die Dinge widerspricht ! Bin ic h dazu gemacht, neue Wahrheiten zu entdekken ? Es giebt schon der alten zu viele.“ 26. Wa s h e i s s t L e b e n ? – Leben – das heisst : fortwährend Etwas von sich abstossen, das sterben will ; Leben – das heisst : grausam und unerbittlich gegen Alles sein, was schwach und alt an uns, und nicht nur an uns, wird. Leben – das heisst also :

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ohne Pietät gegen Sterbende, Elende und Greise sein ? Immerfort Mörder sein ? – Und doch hat der alte Moses gesagt : „Du sollst nicht tödten !“ 27. Der Ent sagende. – Was thut der Entsagende ? Er strebt nach einer höheren Welt, er will weiter und ferner und höher fl iegen, als alle Menschen der Bejahung, – er w i r f t Vieles weg, was seinen Flug beschweren würde, und Manches darunter, was ihm nicht unwerth, nicht unliebsam ist : er opfert es seiner Begierde zur Höhe. Dieses Opfern, dieses Wegwerfen ist nun gerade Das, was allein sichtbar an ihm wird : darnach giebt man ihm den Namen des Entsagenden, und als dieser steht er vor uns, eingehüllt in seine Kapuze | und wie die Seele eines härenen Hemdes. Mit diesem Effecte, den er auf uns macht, ist er aber wohl zufrieden : er will vor uns seine Begierde, seinen Stolz, seine Absicht, üb e r uns hinauszufl iegen, verborgen halten. – Ja ! Er ist klüger, als wir dachten, und so höflich gegen uns – dieser Bejahende ! Denn das ist er gleich uns, auch indem er entsagt. 28. M it s e i ne m B e s t e n s c h a d e n . – Unsere Stärken treiben uns mitunter so weit vor, dass wir unsere Schwächen nicht mehr aushalten können und an ihnen zu Grunde gehen : wir sehen auch wohl diesen Ausgang voraus und wollen es trotzdem nicht anders. Da werden wir hart gegen Das an uns, was geschont sein will, und unsere Grösse ist auch unsere Unbarmherzigkeit. – Ein solches Erlebniss, das wir zuletzt mit dem Leben bezahlen müssen, ist ein Gleichniss für das gesammte Wirken grosser Menschen auf Andere und auf ihre Zeit : – gerade mit ihrem Besten, mit dem, was nur sie können, richten sie viele Schwache, Unsichere, Werdende, Wollende zu Grunde, und sind hierdurch schädlich. Ja es kann der Fall vorkommen, dass sie, im Ganzen gerechnet, nur schaden,

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weil ihr Bestes allein von Solchen angenommen und gleichsam aufgetrunken wird, welche an ihm, wie an einem zu starken Getränke, ihren Verstand und ihre Selbstsucht verlieren : sie werden so berauscht, dass sie ihre Glieder auf allen den Irrwegen brechen müssen, wohin sie der Rausch treibt. 29. D ie H i n z u- Lü g ne r. – Als man in Frankreich die Einheiten des Aristoteles zu bekämpfen und folglich | auch zu vertheidigen anfieng, da war es wieder einmal zu sehen, was so oft zu sehen ist, aber so ungern gesehen wird : – m a n log s ic h Gr ü nd e vor, um derenthalben jene Gesetze bestehen sollten, blos um sich nicht einzugestehen, dass man sich an die Herrschaft dieser Gesetze g ewöh nt habe und es nicht mehr anders haben wolle. Und so macht man es innerhalb jeder herrschenden Moral und Religion und hat es von jeher gemacht : die Gründe und die Absichten hinter der Gewohnheit werden immer zu ihr erst hinzugelogen, wenn Einige anfangen, die Gewohnheit zu bestreiten und nach Gründen und Absichten zu f r a g e n . Hier steckt die grosse Unehrlichkeit der Conservativen aller Zeiten : – es sind die Hinzu-Lügner. 30. K omö d ie n s p ie l d e r B e r ü h mt e n . – Berühmte Männer, welche ihren Ruhm nöt h i g h a b e n , wie zum Beispiel alle Politiker, wählen ihre Verbündeten und Freunde nie mehr ohne Hintergedanken : von diesem wollen sie ein Stück Glanz und Abglanz seiner Tugend, von jenem das Furchteinflössende gewisser bedenklicher Eigenschaften, die Jedermann an ihm kennt, einem andern stehlen sie den Ruf seines Müssig ganges, seines In-der-Sonne-liegens, weil es ihren eigenen Zwecken frommt, zeitweilig für unachtsam und träge zu gelten : – es verdeckt, dass sie auf der Lauer liegen ; bald brauchen sie den Phantasten, bald den Kenner, bald den Grübler, bald den

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Pedanten in ihrer Nähe und gleichsam als ihr gegenwärtiges Selbst, aber eben so bald brauchen sie dieselben nicht mehr ! Und so sterben fortwährend ihre Umgebungen und Aussenseiten ab, während Alles sich | in diese Umgebung zu drängen scheint und zu ihrem „Charakter“ werden will : darin gleichen sie den grossen Städten. Ihr Ruf ist fortwährend im Wandel wie ihr Charakter, denn ihre wechselnden Mittel verlangen diesen Wechsel, und schieben bald diese, bald jene wirkliche oder erdichtete Eigenschaft hervor und auf die Bühne h i n au s : ihre Freunde und Verbündeten gehören, wie gesagt, zu diesen Bühnen-Eigenschaften. Dagegen muss Das, was sie wollen, um so mehr fest und ehern und weithin glänzend stehen bleiben, – und auch diess hat bisweilen seine Komödie und sein Bühnenspiel nöthig. 31. H a nd e l u nd A d e l . – Kaufen und verkaufen gilt jetzt als gemein, wie die Kunst des Lesens und Schreibens ; Jeder ist jetzt darin eingeübt, selbst wenn er kein Handelsmann ist, und übt sich noch an jedem Tage in dieser Technik : ganz wie ehemals, im Zeitalter der wilderen Menschheit, Jedermann Jäger war und sich Tag für Tag in der Technik der Jagd übte. Damals war die Jagd gemein : aber wie diese endlich ein Privilegium der Mächtigen und Vornehmen wurde und damit den Charakter der Alltäglichkeit und Gemeinheit verlor – dadurch, dass sie aufhörte nothwendig zu sein und eine Sache der Laune und des Luxus wurde : – so könnte es irgendwann einmal mit dem Kaufen und Verkaufen werden. Es sind Zustände der Gesellschaft denkbar, wo nicht verkauft und gekauft wird und wo die Nothwendigkeit dieser Technik allmählich ganz verloren geht : vielleicht, dass dann Einzelne, welche dem Gesetze des allgemeinen Zustandes weniger unterworfen sind, sich dann das Kaufen und Verkaufen wie einen Lu x u s d e r | E m pf i n d u n g erlauben. Dann erst bekäme der Handel Vornehmheit,

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und die Adeligen würden sich dann vielleicht ebenso gern mit dem Handel abgeben, wie bisher mit dem Kriege und der Politik : während umgekehrt die Schätzung der Politik sich dann völlig geändert haben könnte. Schon jetzt hört sie auf, das Handwerk des Edelmannes zu sein : und es wäre möglich, dass man sie eines Tages so gemein fände, um sie, gleich aller Partei- und Tageslitteratur, unter die Rubrik „Prostitution des Geistes“ zu bringen. 32. Une r w ü n s c ht e Jü n g e r. – Was soll ich mit diesen beiden Jünglingen machen ! rief mit Unmuth ein Philosoph, welcher die Jugend „verdarb“, wie Sokrates sie einst verdorben hat, – es sind mir unwillkommene Schüler. Der da kann nicht Nein sagen und jener sagt zu Allem : „Halb und halb.“ Gesetzt, sie ergriffen meine Lehre, so würde der Erstere zu viel le id e n , denn meine Denkweise erfordert eine kriegerische Seele, ein Wehethun-Wollen, eine Lust am Neinsagen, eine harte Haut, – er würde an offenen und inneren Wunden dahin siechen. Und der Andere wird sich aus jeder Sache, die er vertritt, eine Mittelmässigkeit zurecht machen und sie dergestalt zur Mittelmässigkeit machen, – einen solchen Jünger wünsche ich meinem Feinde. 33. Au s s e r h a l b d e s Hör s a a le s . – „Um Ihnen zu beweisen, dass der Mensch im Grunde zu den gutartigen Thieren gehört, würde ich Sie daran erinnern, wie leichtgläubig er so lange gewesen ist. Jetzt erst ist er, | ganz spät und nach ungeheurer Selbstüberwindung, ein m i s s t r au i s c he s Thier geworden, – ja ! der Mensch ist jetzt böser als je.“ – Ich verstehe diess nicht : warum sollte der Mensch jetzt misstrauischer und böser sein ? – „Weil er jetzt eine Wissenschaft hat, – nöthig hat !“ –

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34. H i stor ia abscond it a. – Jeder grosse Mensch hat eine rückwirkende Kraft : alle Geschichte wird um seinetwillen wieder auf die Wage gestellt, und tausend Geheimnisse der Vergangenheit kriechen aus ihren Schlupfwinkeln – hinein in s e i ne Sonne. Es ist gar nicht abzusehen, was Alles einmal noch Geschichte sein wird. Die Vergangenheit ist vielleicht immer noch wesentlich unentdeckt ! Es bedarf noch so vieler rückwirkender Kräfte ! 35. K et z e r e i u nd He xe r e i . – Anders denken, als Sitte ist – das ist lange nicht so sehr die Wirkung eines besseren Intellectes, als die Wirkung starker, böser Neigungen, loslösender, isolirender, trotziger, schadenfroher, hämischer Neigungen. Die Ketzerei ist das Seitenstück zur Hexerei und gewiss ebensowenig, als diese, etwas Harmloses oder gar an sich selber Verehrungswürdiges. Die Ketzer und die Hexen sind zwei Gattungen böser Menschen : gemeinsam ist ihnen, dass sie sich auch als böse fühlen, dass aber ihre unbezwingliche Lust ist, an dem, was herrscht (Menschen oder Meinungen), sich schädigend auszulassen. Die Reformation, eine Art Verdoppelung des mittelalterlichen Geistes, zu einer Zeit, als er bereits das gute Gewissen nicht mehr bei sich hatte, brachte sie beide in grösster Fülle hervor. | 36. L et z t e Wor t e. – Man wird sich erinnern, dass der Kaiser Augustus, jener fürchterliche Mensch, der sich ebenso in der Gewalt hatte und der ebenso schweigen konnte wie irgend ein weiser Sokrates, mit seinem letzten Worte indiscret gegen sich selber wurde : er liess zum ersten Male seine Maske fallen, als er zu verstehen gab, dass er eine Maske getragen und eine Komödie gespielt habe, – er hatte den Vater des Vaterlandes und die Weisheit auf dem Throne gespielt, gut bis zur Illusion ! Plaudite amici, comoedia fi nita est ! – Der Gedanke

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des sterbenden Nero : qualis artifex pereo ! war auch der Gedanke des sterbenden Augustus : Histrionen-Eitelkeit ! Histrionen-Schwatzhaftigkeit ! Und recht das Gegenstück zum sterbenden Sokrates ! – Aber Tiberius starb schweigsam, dieser gequälteste aller Selbstquäler, – d e r war ächt und kein Schauspieler ! Was mag dem wohl zuletzt durch den Kopf gegangen sein ! Vielleicht diess : „Das Leben – das ist ein langer Tod. Ich Narr, der ich so Vielen das Leben verkürzte ! War ic h dazu gemacht, ein Wohlthäter zu sein ? Ich hätte ihnen das ewige Leben geben sollen : so hätte ich sie ewig s t e r b e n s e he n können. D a f ü r hatte ich ja so gute Augen : qualis spectator pereo !“ Als er nach einem langen Todeskampfe doch wieder zu Kräften zu kommen schien, hielt man es für rathsam, ihn mit Bettkissen zu ersticken, – er starb eines doppelten Todes. 37. Au s d r e i I r r t hü me r n . – Man hat in den letzten Jahrhunderten die Wissenschaft gefördert, theils weil man mit ihr und durch sie Gottes Güte und Weisheit | am besten zu verstehen hoff te – das Hauptmotiv in der Seele der grossen Engländer (wie Newton) –, theils weil man an die absolute Nützlichkeit der Erkenntniss glaubte, namentlich an den innersten Verband von Moral, Wissen und Glück – das Hauptmotiv in der Seele der grossen Franzosen (wie Voltaire) –, theils weil man in der Wissenschaft etwas Selbstloses, Harmloses, Sichselber-Genügendes, wahrhaft Unschuldiges zu haben und zu lieben meinte, an dem die bösen Triebe des Menschen überhaupt nicht betheiligt seien – das Hauptmotiv in der Seele Spinoza’s, der sich als Erkennender göttlich fühlte : – also aus drei Irrthümern. 38. D ie E x plo s i ve n . – Erwägt man, wie explosionsbedürftig die Kraft junger Männer daliegt, so wundert man sich nicht, sie so unfein und so wenig wählerisch sich für diese oder jene

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Sache entscheiden zu sehen : Das, was sie reizt, ist der Anblick des Eifers, der um eine Sache ist, und gleichsam der Anblick der brennenden Lunte, – nicht die Sache selber. Die feineren Verführer verstehen sich desshalb darauf, ihnen die Explosion in Aussicht zu stellen und von der Begründung ihrer Sache abzusehen : mit Gründen gewinnt man diese Pulverfässer nicht ! 39. Ve r ä nd e r t e r G e s c h m ac k . – Die Veränderung des allgemeinen Geschmackes ist mächtiger, als die der Meinungen ; Meinungen mit allen Beweisen, Widerlegungen und der ganzen intellectuellen Maskerade sind nur Symptome des veränderten Geschmacks und ganz gewiss gerade Das n ic ht , wofür man sie noch so häufig | anspricht, dessen Ursachen. Wie verändert sich der allgemeine Geschmack ? Dadurch, dass Einzelne, Mächtige, Einflussreiche ohne Schamgefühl i h r hoc est ridiculum, hoc est absurdum, also das Urtheil ihres Geschmacks und Ekels, aussprechen und tyrannisch durchsetzen : – sie legen damit Vielen einen Zwang auf, aus dem allmählich eine Gewöhnung noch Mehrerer und zuletzt ein B e d ü r f n i s s A l le r wird. Dass diese Einzelnen aber anders empfi nden und „schmecken“, das hat gewöhnlich seinen Grund in einer Absonderlichkeit ihrer Lebensweise, Ernährung, Verdauung, vielleicht in einem Mehr oder Weniger der anorganischen Salze in ihrem Blute und Gehirn, kurz in der Physis : sie haben aber den Muth, sich zu ihrer Physis zu bekennen und deren Forderungen noch in ihren feinsten Tönen Gehör zu schenken : ihre ästhetischen und moralischen Urtheile sind solche „feinste Töne“ der Physis. 40. Vo m M a n g e l d e r vo r n e h m e n Fo r m . – Soldaten und Führer haben immer noch ein viel höheres Verhalten zu einander, als Arbeiter und Arbeitgeber. Einstweilen wenigstens

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steht alle militärisch begründete Cultur noch hoch über aller sogenannten industriellen Cultur : letztere in ihrer jetzigen Gestalt ist überhaupt die gemeinste Daseinsform, die es bisher gegeben hat. Hier wirkt einfach das Gesetz der Noth : man will leben und muss sich verkaufen, aber man verachtet Den, der diese Noth ausnützt und sich den Arbeiter k au f t . Es ist seltsam, dass die Unterwerfung unter mächtige, furchterregende, ja schreckliche Personen, unter Tyrannen und Heerführer, bei Weitem nicht so peinlich empfunden | wird, als diese Unterwerfung unter unbekannte und uninteressante Personen, wie es alle Grössen der Industrie sind : in dem Arbeitgeber sieht der Arbeiter gewöhnlich nur einen listigen, aussaugenden, auf alle Noth speculirenden Hund von Menschen, dessen Name, Gestalt, Sitte und Ruf ihm ganz gleichgültig sind. Den Fabricanten und Gross-Unternehmern des Handels fehlten bisher wahrscheinlich allzusehr alle jene Formen und Abzeichen der höh e r e n R a s s e , welche erst die Pe r s o ne n interessant werden lassen ; hätten sie die Vornehmheit des Geburts-Adels im Blick und in der Gebärde, so gäbe es vielleicht keinen Socialismus der Massen. Denn diese sind im Grunde bereit zur S c l ave r e i jeder Art, vorausgesetzt, dass der Höhere über ihnen sich beständig als höher, als zum Befehlen g eb or e n legitimirt – durch die vornehme Form ! Der gemeinste Mann fühlt, dass die Vornehmheit nicht zu improvisiren ist und dass er in ihr die Frucht langer Zeiten zu ehren hat, – aber die Abwesenheit der höheren Form und die berüchtigte Fabricanten-Vulgarität mit rothen, feisten Händen, bringen ihn auf den Gedanken, dass nur Zufall und Glück hier den Einen über den Andern erhoben habe : wohlan, so schliesst er bei sich, versuchen w i r einmal den Zufall und das Glück ! Werfen wir einmal die Würfel ! – und der Socialismus beginnt.

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41. G e g e n d i e R e u e . – Der Denker sieht in seinen eigenen Handlungen Versuche und Fragen, irgend worüber Aufschluss zu erhalten : Erfolg und Misserfolg sind ihm zu allererst A nt wor t e n . Sich aber darüber, dass Etwas missräth, ärgern oder gar Reue empfi nden – das über|lässt er Denen, welche handeln, weil es ihnen befohlen wird, und welche Prügel zu erwarten haben, wenn der gnädige Herr mit dem Erfolg nicht zufrieden ist. 42. A r b e it u nd L a n g ewe i le. – Sich Arbeit suchen um des Lohnes willen – darin sind sich in den Ländern der Civilisation jetzt fast alle Menschen gleich ; ihnen allen ist Arbeit ein Mittel, und nicht selber das Ziel ; wesshalb sie in der Wahl der Arbeit wenig fein sind, vorausgesetzt, dass sie einen reichlichen Gewinn abwirft. Nun giebt es seltenere Menschen, welche lieber zu Grunde gehen wollen, als ohne Lu s t an der Arbeit arbeiten : jene Wählerischen, schwer zu Befriedigenden, denen mit einem reichlichen Gewinn nicht gedient wird, wenn die Arbeit nicht selber der Gewinn aller Gewinne ist. Zu dieser seltenen Gattung von Menschen gehören die Künstler und Contemplativen aller Art, aber auch schon jene Müssiggänger, die ihr Leben auf der Jagd, auf Reisen oder in Liebeshändeln und Abenteuern zubringen. Alle diese wollen Arbeit und Noth, sofern sie mit Lust verbunden ist, und die schwerste, härteste Arbeit, wenn es sein muss. Sonst aber sind sie von einer entschlossenen Trägheit, sei es selbst, dass Verarmung, Unehre, Gefahr der Gesundheit und des Lebens an diese Trägheit geknüpft sein sollte. Sie fürchten die Langeweile nicht so sehr, als die Arbeit ohne Lust : ja, sie haben viel Langeweile nöthig, wenn ihnen i h r e Arbeit gelingen soll. Für den Denker und für alle erfi ndsamen Geister ist Langeweile jene unangenehme „Windstille“ der Seele, welche der glücklichen Fahrt und den lustigen Winden vorangeht ; er muss sie ertragen,

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muss ihre | Wirkung bei sich a bw a r t e n : – d a s gerade ist es, was die geringeren Naturen durchaus nicht von sich erlangen können ! Langeweile auf jede Weise von sich scheuchen ist gemein : wie arbeiten ohne Lust gemein ist. Es zeichnet vielleicht die Asiaten vor den Europäern aus, dass sie einer längeren, tieferen Ruhe fähig sind, als diese ; selbst ihre Narcotica wirken langsam und verlangen Geduld, im Gegensatz zu der widrigen Plötzlichkeit des europäischen Giftes, des Alkohols. 43. Wa s d ie G e s et z e ve r r at he n . – Man vergreift sich sehr, wenn man die Strafgesetze eines Volkes studirt, als ob sie ein Ausdruck seines Charakters wären ; die Gesetze verrathen nicht Das, was ein Volk ist, sondern Das, was ihm fremd, seltsam, ungeheuerlich, ausländisch erscheint. Die Gesetze beziehen sich auf die Ausnahmen der Sittlichkeit der Sitte ; und die härtesten Strafen treffen Das, was der Sitte des Nachbarvolkes gemäss ist. So giebt es bei den Wahabiten nur zwei Todsünden : einen anderen Gott haben als den Wahabiten-Gott und – rauchen (es wird bei ihnen bezeichnet als „die schmachvolle Art des Trinkens“). „Und wie steht es mit Mord und Ehebruch ?“ – fragte erstaunt der Engländer, der diese Dinge erfuhr. „Nun, Gott ist gnädig und barmherzig !“ – sagte der alte Häuptling. – So gab es bei den alten Römern die Vorstellung, dass ein Weib sich nur auf zweierlei Art tödtlich versündigen könne : einmal durch Ehebruch, sodann – durch Weintrinken. Der alte Cato meinte, man habe das Küssen unter Verwandten nur desshalb zur Sitte gemacht, um die Weiber in diesem Puncte unter Con|trole zu halten ; ein Kuss bedeute : riecht sie nach Wein ? Man hat wirklich Frauen, die beim Weine ertappt wurden, mit dem Tode gestraft : und gewiss nicht nur, weil die Weiber mitunter unter der Einwirkung des Weines alles Nein-Sagen verlernen ; die Römer fürchteten vor Allem das orgiastische und dionysische Wesen, von dem die Weiber des

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europäischen Südens damals, als der Wein noch neu in Europa war, von Zeit zu Zeit heimgesucht wurden, als eine ungeheuerliche Ausländerei, welche den Grund der römischen Empfi ndung umwarf ; es war ihnen wie ein Verrath an Rom, wie die Einverleibung des Auslandes. 44. D ie g e g l au bt e n Mot i ve. – So wichtig es sein mag, die Motive zu wissen, nach denen wirklich die Menschheit bisher gehandelt hat : vielleicht ist der G l au b e an diese oder jene Motive, also Das, was die Menschheit sich selber als die eigentlichen Hebel ihres Thuns bisher untergeschoben und eingebildet hat, etwas noch Wesentlicheres für den Erkennenden. Das innere Glück und Elend der Menschen ist ihnen nämlich je nach ihrem Glauben an diese oder jene Motive zu Theil geworden, – n ic ht aber durch Das, was wirklich Motiv war ! Alles diess Letztere hat ein Interesse zweiten Ranges. 45. E p i k u r. – Ja, ich bin stolz darauf, den Charakter Epikur’s anders zu empfi nden, als irgend Jemand vielleicht, und bei Allem, was ich von ihm höre und lese, das Glück des Nachmittags des Alterthums zu geniessen : – ich sehe sein Auge auf ein weites weissliches Meer | blicken, über Uferfelsen hin, auf denen die Sonne liegt, während grosses und kleines Gethier in ihrem Lichte spielt, sicher und ruhig wie diess Licht und jenes Auge selber. Solch ein Glück hat nur ein fortwährend Leidender erfi nden können, das Glück eines Auges, vor dem das Meer des Daseins stille geworden ist, und das nun an seiner Oberfläche und an dieser bunten, zarten, schaudernden Meeres-Haut sich nicht mehr satt sehen kann : es gab nie zuvor eine solche Bescheidenheit der Wollust.

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46. Un s e r E r s t au n e n . – Es liegt ein tiefes und gründliches Glück darin, dass die Wissenschaft Dinge ermittelt, die St a nd h a lt e n und die immer wieder den Grund zu neuen Ermittelungen abgeben : – es könnte ja anders sein ! Ja, wir sind so sehr von all der Unsicherheit und Phantasterei unserer Urtheile und von dem ewigen Wandel aller mensch lichen Gesetze und Begriffe überzeugt, dass es uns eigentlich ein Erstaunen macht, w ie s e h r die Ergebnisse der Wissenschaft Stand halten ! Früher wusste man Nichts von dieser Wandelbarkeit alles Menschlichen, die Sitte der Sittlichkeit hielt den Glauben aufrecht, dass das ganze innere Leben des Menschen mit ewigen Klammern an die eherne Nothwendigkeit geheftet sei : – vielleicht empfand man damals eine ähnliche Wollust des Erstaunens, wenn man sich Märchen und Feengeschichten erzählen liess. Das Wunderbare that jenen Menschen so wohl, die der Regel und der Ewigkeit mitunter wohl müde werden mochten. Einmal den Boden verlieren ! Schweben ! Irren ! Toll sein ! – das gehörte zum Paradies und zur Schwelgerei früherer Zeiten : während unsere Glückseligkeit der des | Schiffbrüchigen gleicht, der an’s Land gestiegen ist und mit beiden Füssen sich auf die alte feste Erde stellt – staunend, dass sie nicht schwankt. 47. Von der Unterd r üc k u n g der L eiden sc h a f ten. – Wenn man sich anhaltend den Ausdruck der Leidenschaften verbietet, wie als etwas den „Gemeinen“, den gröberen, bürgerlichen, bäuerlichen Naturen zu Ueberlassendes, – also nicht die Leidenschaften selber unterdrücken will, sondern nur ihre Sprache und Gebärde : so erreicht man nichtsdestoweniger eben Das m it , was man nicht will : die Unterdrückung der Leidenschaften selber, mindestens ihre Schwächung und Veränderung : – wie diess zum belehrendsten Beispiele der Hof Ludwig’s des Vierzehnten und Alles, was von ihm abhängig

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war, erlebt hat. Das Zeitalter d a r au f , erzogen in der Unterdrückung des Ausdrucks, hatte die Leidenschaften selber nicht mehr und ein anmuthiges, flaches, spielendes Wesen an ihrer Stelle, – ein Zeitalter, das mit der Unfähigkeit behaftet war, unartig zu sein : sodass selbst eine Beleidigung nicht anders als mit verbindlichen Worten angenommen und zurückgegeben wurde. Vielleicht giebt unsere Gegenwart das merkwürdigste Gegenstück dazu ab : ich sehe überall, im Leben und auf dem Theater, und nicht am wenigsten in Allem, was geschrieben wird, das Wohlbehagen an allen g r öb e r e n Ausbrüchen und Gebärden der Leidenschaft : es wird jetzt eine gewisse Convention der Leidenschaftlichkeit verlangt, – nur nicht die Leidenschaft selber ! Trotzdem wird man s i e damit zuletzt erreichen, und unsere Nachkommen werden eine ä c h t e W i l d h e it haben und nicht nur eine Wildheit und Ungebärdigkeit der Formen. | 48. Ken nt n iss der Not h. – Vielleicht werden die Menschen und Zeiten durch Nichts so sehr von einander geschieden, als durch den verschiedenen Grad von Kenntniss der Noth, den sie haben : Noth der Seele wie des Leibes. In Bezug auf letztere sind wir Jetzigen vielleicht allesammt, trotz unserer Gebrechen und Gebrechlichkeiten, aus Mangel an reicher SelbstErfahrung Stümper und Phantasten zugleich : im Vergleich zu einem Zeitalter der Furcht – dem längsten aller Zeitalter –, wo der Einzelne sich selber gegen Gewalt zu schützen hatte und um dieses Zieles willen selber Gewaltmensch sein musste. Damals machte ein Mann seine reiche Schule körperlicher Qualen und Entbehrungen durch und begriff selbst in einer gewissen Grausamkeit gegen sich, in einer freiwilligen Uebung des Schmerzes, ein ihm nothwendiges Mittel seiner Erhaltung ; damals erzog man seine Umgebung zum Ertragen des Schmerzes, damals fügte man gern Schmerz zu und sah das

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Furchtbarste dieser Art über Andere ergehen, ohne ein anderes Gefühl, als das der eigenen Sicherheit. Was die Noth der Seele aber betriff t, so sehe ich mir jetzt jeden Menschen darauf an, ob er sie aus Erfahrung oder Beschreibung kennt ; ob er diese Kenntniss zu heucheln doch noch für nöthig hält, etwa als ein Zeichen der feineren Bildung, oder ob er überhaupt an grosse Seelenschmerzen im Grunde seiner Seele nicht glaubt und es ihm bei Nennung derselben ähnlich ergeht, wie bei Nennung grosser körperlicher Erduldungen : wobei ihm seine Zahn- und Magenschmerzen einfallen. So aber scheint es mir bei den Meisten jetzt zu stehen. Aus der allgemeinen Ungeübtheit im Schmerz beiderlei Gestalt und | einer gewissen Seltenheit des Anblicks eines Leidenden ergiebt sich nun eine wichtige Folge : man hasst jetzt den Schmerz viel mehr, als frühere Menschen, und redet ihm viel übler nach als je, ja, man fi ndet schon das Vorhandensein des Schmerzes a l s e i ne s G e d a n k e n s kaum erträglich und macht dem gesammten Dasein eine Gewissenssache und einen Vorwurf daraus. Das Auftauchen pessimistischer Philosophien ist durchaus nicht das Merkmal grosser, furchtbarer Nothstände ; sondern diese Fragezeichen am Werthe alles Lebens werden in Zeiten gemacht, wo die Verfeinerung und Erleichterung des Daseins bereits die unvermeidlichen Mückenstiche der Seele und des Leibes als gar zu blutig und bösartig befi ndet und in der Armuth an wirklichen Schmerz-Erfahrungen am liebsten schon q u ä le nd e a l l g e me i ne Vor s t e l lu n g e n als das Leid höchster Gattung erscheinen lassen möchte. – Es gäbe schon ein Recept gegen pessimistische Philosophien und die übergrosse Empfi ndlichkeit, welche mir die eigentliche „Noth der Gegenwart“ zu sein scheint : – aber vielleicht klingt diess Recept schon zu grausam und würde selber unter die Anzeichen gerechnet werden, auf Grund deren hin man jetzt urtheilt : „Das Dasein ist etwas Böses“. Nun ! Das Recept gegen „die Noth“ lautet : Not h .

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49. Gr o s s mut h u nd Ve r w a nd t e s . – Jene paradoxen Erscheinungen, wie die plötzliche Kälte im Benehmen des Gemüthsmenschen, wie der Humor des Melancholikers, wie vor Allem die Gr o s s mut h , als eine plötzliche Verzichtleistung auf Rache oder Befriedigung des Neides – treten an Menschen auf, in denen eine mäch|tige innere Schleuderkraft ist, an Menschen der plötzlichen Sättigung und des plötzlichen Ekels. Ihre Befriedigungen sind so schnell und so stark, dass diesen sofort Ueberdruss und Widerwille und eine Flucht in den entgegengesetzten Geschmack auf dem Fusse folgt : in diesem Gegensatze löst sich der Krampf der Empfi ndung aus, bei Diesem durch plötzliche Kälte, bei Jenem durch Gelächter, bei einem Dritten durch Thränen und Selbstaufopferung. Mir erscheint der Grossmüthige – wenigstens jene Art des Grossmüthigen, die immer am meisten Eindruck gemacht hat – als ein Mensch des äussersten Rachedurstes, dem eine Befriedigung sich in der Nähe zeigt und der sie so reichlich, gründlich und bis zum letzten Tropfen s c hon i n d e r Vor s t e l lu n g austrinkt, dass ein ungeheurer schneller Ekel dieser schnellen Ausschweifung folgt, – er erhebt sich nunmehr „über sich“, wie man sagt, und verzeiht seinem Feinde, ja segnet und ehrt ihn. Mit dieser Vergewaltigung seiner selber, mit dieser Verhöhnung seines eben noch so mächtigen Rachetriebes giebt er aber nur dem neuen Triebe nach, der eben jetzt in ihm mächtig geworden ist (dem Ekel), und thut diess ebenso ungeduldig und ausschweifend wie er kurz vorher die Freude an der Rache mit der Phantasie vor we g n a h m und gleichsam ausschöpfte. Es ist in der Grossmuth der selbe Grad von Egoismus wie in der Rache, aber eine andere Qualität des Egoismus. 50. D a s A r g u me nt d e r Ve r e i n s a mu n g. – Der Vorwurf des Gewissens ist auch beim Gewissenhaftesten schwach gegen

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das Gefühl : „Diess und Jenes ist wider die gute Sitte d e i ne r Gesellschaft.“ Ein kalter Blick, | ein verzogener Mund von Seiten Derer, unter denen und für die man erzogen ist, wird auch vom Stärksten noch g e f ü r c ht et . Was wird da eigentlich gefürchtet ? Die Vereinsamung ! als das Argument, welches auch die besten Argumente für eine Person oder Sache niederschlägt ! – So redet der Heerden-Instinct aus uns. 51. Wa h r he it s s i n n . – Ich lobe mir eine jede Skepsis, auf welche mir erlaubt ist zu antworten : „Versuchen wir’s !“ Aber ich mag von allen Dingen und allen Fragen, welche das Experiment nicht zulassen, Nichts mehr hören. Diess ist die Grenze meines „Wahrheitssinnes“ : denn dort hat die Tapferkeit ihr Recht verloren. 52. Wa s A nd e r e vo n u n s w i s s e n . – Das, was wir von uns selber wissen und im Gedächtniss haben, ist für das Glück unseres Lebens nicht so entscheidend, wie man glaubt. Eines Tages stürzt Das, was A nd e r e von uns wissen (oder zu wissen meinen) über uns her – und jetzt erkennen wir, dass es das Mächtigere ist. Man wird mit seinem schlechten Gewissen leichter fertig, als mit seinem schlechten Rufe. 53. Wo das Gute beg i n nt. – Wo die geringe Sehkraft des Auges den bösen Trieb wegen seiner Verfeinerung nicht mehr als solchen zu sehen vermag, da setzt der Mensch das Reich des Guten an, und die Empfi ndung, nunmehr in’s Reich des Guten übergetreten zu sein, bringt alle die Triebe in Miterregung, welche durch die bösen Triebe bedroht und eingeschränkt waren, | wie das Gefühl der Sicherheit, des Behagens, des Wohlwollens. Also : je stumpfer das Auge, desto weiter reicht das Gute ! Daher die ewige Heiterkeit des Volkes und der Kin-

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der ! Daher die Düsterkeit und der dem schlechten Gewissen verwandte Gram der grossen Denker ! 54. D a s B ew u s s t s e i n vom S c he i ne. – Wie wundervoll und neu und zugleich wie schauerlich und ironisch fühle ich mich mit meiner Erkenntniss zum gesammten Dasein gestellt ! Ich habe für mich e nt d ec k t , dass die alte Mensch- und Thierheit, ja die gesammte Urzeit und Vergangenheit alles empfi ndenden Seins in mir fortdichtet, fortliebt, forthasst, fortschliesst, – ich bin plötzlich mitten in diesem Traume erwacht, aber nur zum Bewusstsein, dass ich eben träume und dass ich weiterträumen mu s s , um nicht zu Grunde zu gehen : wie der Nachtwandler weiterträumen muss, um nicht hinabzustürzen. Was ist mir jetzt „Schein“ ! Wahrlich nicht der Gegensatz irgend eines Wesens, – was weiss ich von irgend welchem Wesen auszusagen, als eben nur die Prädicate seines Scheines ! Wahrlich nicht eine todte Maske, die man einem unbekannten X aufsetzen und auch wohl abnehmen könnte ! Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber, das soweit in seiner Selbstverspottung geht, mich fühlen zu lassen, dass hier Schein und Irrlicht und Geistertanz und nichts Mehr ist, – dass unter allen diesen Träumenden auch ich, der „Erkennende“, meinen Tanz tanze, dass der Erkennende ein Mittel ist, den irdischen Tanz in die Länge zu ziehen und insofern zu den Festordnern des Daseins gehört, und dass die erhabene Consequenz und Verbundenheit | aller Erkenntnisse vielleicht das höchste Mittel ist und sein wird, die Allgemeinheit der Träumerei und die Allverständlichkeit aller dieser Träumenden unter einander und eben damit d ie D aue r d e s Tr au me s au f r e c ht z u e r h a lt e n . 55. D e r let z t e E d e l s i n n . – Was macht denn „edel“ ? Gewiss nicht, dass man Opfer bringt ; auch der rasend Wollüstige

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bringt Opfer. Gewiss nicht, dass man überhaupt einer Leidenschaft folgt ; es giebt verächtliche Leidenschaften. Gewiss nicht, dass man für Andere Etwas thut und ohne Selbstsucht : vielleicht ist die Consequenz der Selbstsucht gerade bei dem Edelsten am grössten. – Sondern dass die Leidenschaft, die den Edeln befällt, eine Sonderheit ist, ohne dass er um diese Sonderheit weiss : der Gebrauch eines seltenen und singulären Maassstabes und beinahe eine Verrücktheit : das Gefühl der Hitze in Dingen, welche sich für alle Anderen kalt anfühlen : ein Errathen von Werthen, für die die Wage noch nicht erfunden ist : ein Opferbringen auf Altären, die einem unbekannten Gotte geweiht sind : eine Tapferkeit ohne den Willen zur Ehre : eine Selbstgenügsamkeit, welche Ueberfluss hat und an Menschen und Dinge mittheilt. Bisher war es also das Seltene und die Unwissenheit um diess Seltensein, was edel machte. Dabei erwäge man aber, dass durch diese Richtschnur alles Gewöhnte, Nächste und Unentbehrliche, kurz, das am meisten Arterhaltende, und überhaupt die R e g e l in der bisherigen Menschheit, unbillig beurtheilt und im Ganzen verleumdet worden ist, zu Gunsten der Ausnahmen. Der Anwalt der Regel werden – das könnte vielleicht die letzte Form und | Feinheit sein, in welcher der Edelsinn auf Erden sich offenbart. 56. D ie B e g ie r d e n ac h L e id e n . – Denke ich an die Begierde, Etwas zu thun, wie sie die Millionen junger Europäer fortwährend kitzelt und stachelt, welche alle die Langeweile und sich selber nicht ertragen können, – so begreife ich, dass in ihnen eine Begierde, Etwas zu leiden, sein muss, um aus ihrem Leiden einen probablen Grund zum Thun, zur That herzunehmen. Noth ist nöthig ! Daher das Geschrei der Politiker, daher die vielen falschen, erdichteten, übertriebenen „Nothstände“ aller möglichen Classen und die blinde Bereitwilligkeit, an sie zu glauben. Diese junge Welt verlangt, vo n Au s s e n he r

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solle – nicht etwa das Glück – sondern das Unglück kommen oder sichtbar werden ; und ihre Phantasie ist schon voraus geschäftig, ein Ungeheuer daraus zu formen, damit sie nachher mit einem Ungeheuer kämpfen könne. Fühlten diese Nothsüchtigen in sich die Kraft, von Innen her sich selber wohlzuthun, sich selber Etwas anzuthun, so würden sie auch verstehen, von Innen her sich eine eigene, selbsteigene Noth zu schaffen. Ihre Erfi ndungen könnten dann feiner sein und ihre Befriedigungen könnten wie gute Musik klingen : während sie jetzt die Welt mit ihrem Nothgeschrei und folglich gar zu oft erst mit dem Not h g e f ü h le anfüllen ! Sie verstehen mit sich Nichts anzufangen – und so malen sie das Unglück Anderer an die Wand : sie haben immer Andere nöthig ! Und immer wieder andere Andere ! – Verzeihung, meine Freunde, ich habe gewagt, mein G lüc k an die Wand zu malen. |

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57. A n d ie R e a l i s t e n . – Ihr nüchternen Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und Phantasterei gewappnet fühlt und gerne einen Stolz und einen Zierath aus eurer Leere machen möchtet, ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen : vor euch allein stehe die Wirklichkeit entschleiert, und ihr selber wäret vielleicht der beste Theil davon, – oh ihr geliebten Bilder von Sais ! Aber seid nicht auch ihr in eurem entschleiertsten Zustande noch höchst leidenschaftliche und dunkle Wesen, verglichen mit den Fischen, und immer noch einem verliebten Künstler allzu ähnlich ? – und was ist für einen verliebten Künstler „Wirklichkeit“ ! Immer noch tragt ihr die Schätzungen der Dinge mit euch herum, welche in den Leidenschaften und Verliebtheiten früherer Jahrhunderte ihren Ursprung haben ! Immer noch ist eurer Nüchternheit eine geheime und unvertilgbare Trunkenheit einverleibt ! Eure Liebe zur „Wirklichkeit“ zum Beispiel – oh das ist eine alte uralte „Liebe“ ! In jeder Empfi ndung, in jedem Sinneseindruck ist ein Stück dieser alten Liebe : und ebenso hat irgend eine Phantasterei, ein Vorurtheil, eine Unvernunft, eine Unwissenheit, eine Furcht und was sonst noch Alles ! daran gearbeitet und gewebt. Da jener Berg ! Da jene Wolke ! Was ist denn daran „wirklich“ ? Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zut h at davon | ab, ihr Nüchternen ! Ja, wenn ihr das könntet ! Wenn ihr eure Herkunft, Vergangenheit, Vorschule vergessen könntet, – eure gesammte Menschheit und Thierheit ! Es giebt für uns keine „Wirklichkeit“ – und auch für euch nicht, ihr Nüchternen –, wir sind einander lange nicht so fremd, als ihr meint, und vielleicht ist unser guter Wille, über die Trun-

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kenheit hinauszukommen, ebenso achtbar als euer Glaube, der Trunkenheit überhaupt u n f ä h i g zu sein. 58. Nu r a l s S c h a f f e nd e ! – Diess hat mir die grösste Mühe gemacht und macht mir noch immerfort die grösste Mühe : einzusehen, dass unsäglich mehr daran liegt, w ie d ie D i n g e he i s s e n , als was sie sind. Der Ruf, Name und Anschein, die Geltung, das übliche Maass und Gewicht eines Dinges – im Ursprunge zuallermeist ein Irrthum und eine Willkürlichkeit, den Dingen übergeworfen wie ein Kleid und seinem Wesen und selbst seiner Haut ganz fremd – ist durch den Glauben daran und sein Fortwachsen von Geschlecht zu Geschlecht dem Dinge allmählich gleichsam an- und eingewachsen und zu seinem Leibe selber geworden : der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast immer zum Wesen und w i r k t als Wesen ! Was wäre das für ein Narr, der da meinte, es genüge, auf diesen Ursprung und diese Nebelhülle des Wahnes hinzuweisen, um die als wesenhaft geltende Welt, die sogenannte „W i r kl ic h k e it“, z u ve r n ic ht e n ! Nur als Schaffende können wir vernichten ! – Aber vergessen wir auch diess nicht : es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue „Dinge“ zu schaffen. | 59. W i r K ü n s t le r ! – Wenn wir ein Weib lieben, so haben wir leicht einen Hass auf die Natur, aller der widerlichen Natürlichkeiten gedenkend, denen jedes Weib ausgesetzt ist ; gerne denken wir überhaupt daran vorbei, aber wenn einmal unsere Seele diese Dinge streift, so zuckt sie ungeduldig und blickt, wie gesagt, verächtlich nach der Natur hin : – wir sind beleidigt, die Natur scheint in unsern Besitz einzugreifen und mit den ungeweihtesten Händen. Da macht man die Ohren zu gegen alle Physiologie und decretirt für sich insgeheim „ich will

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davon, dass der Mensch noch etwas Anderes ist, ausser S e e le u nd For m , Nichts hören !“ „Der Mensch unter der Haut“ ist allen Liebenden ein Greuel und Ungedanke, eine Gottes- und Liebeslästerung. – Nun, so wie jetzt noch der Liebende empfi ndet, in Hinsicht der Natur und Natürlichkeit, so empfand ehedem jeder Verehrer Gottes und seiner „heiligen Allmacht“ : bei Allem, was von der Natur gesagt wurde, durch Astronomen, Geologen, Physiologen, Aerzte, sah er einen Eingriff in seinen köstlichsten Besitz und folglich einen Angriff, – und noch dazu eine Schamlosigkeit des Angreifenden ! Das „Naturgesetz“ klang ihm schon wie eine Verleumdung Gottes ; im Grunde hätte er gar zu gerne alle Mechanik auf moralische Willens- und Willküracte zurückgeführt gesehn : – aber weil ihm Niemand diesen Dienst erweisen konnte, so ve r he h lt e er sich die Natur und Mechanik, so gut er konnte und lebte im Traum. Oh diese Menschen von ehedem haben verstanden zu t r äu me n und hatten nicht erst nöthig, einzuschlafen ! – und auch wir Menschen von heute verstehen es noch viel zu gut, mit allem | unseren guten Willen zum Wachsein und zum Tage ! Es genügt, zu lieben, zu hassen, zu begehren, überhaupt zu empfi nden, – s of or t kommt der Geist und die Kraft des Traumes über uns, und wir steigen offenen Auges und kalt gegen alle Gefahr auf den gefährlichsten Wegen empor, hinauf auf die Dächer und Thürme der Phantasterei, und ohne allen Schwindel, wie geboren zum Klettern – wir Nachtwandler des Tages ! Wir Künstler ! Wir Verhehler der Natürlichkeit ! Wir Mond- und Gottsüchtigen ! Wir todtenstillen unermüdlichen Wanderer, auf Höhen, die wir nicht als Höhen sehen, sondern als unsere Ebenen, als unsere Sicherheiten ! 60. Die Fr auen u nd i h re Wi rk u ng i n d ie Fer ne. – Habe ich noch Ohren ? Bin ich nur noch Ohr und Nichts weiter mehr ? Hier stehe ich inmitten des Brandes der Brandung, deren weisse

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Flammen bis zu meinem Fusse heraufzüngeln : – von allen Seiten heult, droht, schreit, schrillt es auf mich zu, während in der tiefsten Tiefe der alte Erderschütterer seine Arie singt, dumpf wie ein brüllender Stier : er stampft sich dazu einen solchen Erderschütterer-Tact, dass selbst diesen verwetterten Felsunholden hier das Herz darüber im Leibe zittert. Da, plötzlich, wie aus dem Nichts geboren, erscheint vor dem Thore dieses höllischen Labyrinthes, nur wenige Klafter weit entfernt, – ein grosses Segelschiff, schweigsam wie ein Gespenst dahergleitend. Oh diese gespenstische Schönheit ! Mit welchem Zauber fasst sie mich an ! Wie ? Hat alle Ruhe und Schweigsamkeit der Welt sich hier eingeschiff t ? Sitzt mein Glück selber an diesem stillen Platze, mein glücklicheres | Ich, mein zweites verewigtes Selbst ? Nicht todt sein und doch auch nicht mehr lebend ? Als ein geisterhaftes, stilles, schauendes, gleitendes, schwebendes Mittelwesen ? Dem Schiffe gleichend, welches mit seinen weissen Segeln wie ein ungeheurer Schmetterling über das dunkle Meer hinläuft ! Ja ! Ueb e r das Dasein hinlaufen ! Das ist es ! Das wäre es ! – – Es scheint, der Lärm hier hat mich zum Phantasten gemacht ? Aller grosser Lärm macht, dass wir das Glück in die Stille und Ferne setzen. Wenn ein Mann inmitten s e i ne s Lärmes steht, inmitten seiner Brandung von Würfen und Entwürfen : da sieht er auch wohl stille zauberhafte Wesen an sich vorübergleiten, nach deren Glück und Zurückgezogenheit er sich sehnt, – e s s i nd d ie Fr aue n . Fast meint er, dort bei den Frauen wohne sein besseres Selbst : an diesen stillen Plätzen werde auch die lauteste Brandung zur Todtenstille und das Leben selber zum Traume über das Leben. Jedoch ! Jedoch ! Mein edler Schwärmer, es giebt auch auf dem schönsten Segelschiffe so viel Geräusch und Lärm und leider so viel kleinen erbärmlichen Lärm ! Der Zauber und die mächtigste Wirkung der Frauen ist, um die Sprache der Philosophen zu reden, eine Wirkung in die Ferne, eine actio in distans : dazu gehört aber, zuerst und vor Allem – D i s t a n z !

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61. Zu Ehren der Freundschaf t. – Dass das Gefühl der Freundschaft dem Alterthum als das höchste Gefühl galt, höher selbst als der gerühmteste Stolz des Selbstgenügsamen und Weisen, ja gleichsam als dessen einzige und noch heiligere Geschwisterschaft : diess drückt | sehr gut die Geschichte von jenem macedonischen Könige aus, der einem weltverachtenden Philosophen Athen’s ein Talent zum Geschenk machte und es von ihm zurückerhielt. „Wie ? sagte der König, hat er denn keinen Freund ?“ Damit wollte er sagen : „ich ehre diesen Stolz des Weisen und Unabhängigen, aber ich würde seine Menschlichkeit noch höher ehren, wenn der Freund in ihm den Sieg über seinen Stolz davongetragen hätte. Vor mir hat sich der Philosoph herabgesetzt, indem er zeigte, dass er eines der beiden höchsten Gefühle nicht kennt, – und zwar das höhere nicht !“ 62. L ieb e. – Die Liebe vergiebt dem Geliebten sogar die Begierde. 63. Da s Weib i n der Mu si k . – Wie kommt es, dass warme und regnerische Winde auch die musikalische Stimmung und die erfi nderische Lust der Melodie mit sich führen ? Sind es nicht die selben Winde, welche die Kirchen füllen und den Frauen verliebte Gedanken geben ? 64. S k e pt i k e r. – Ich fürchte, dass altgewordene Frauen im geheimsten Verstecke ihres Herzens skeptischer sind, als alle Männer : sie glauben an die Oberflächlichkeit des Daseins als an sein Wesen, und alle Tugend und Tiefe ist ihnen nur Verhüllung dieser „Wahrheit“, die sehr wünschenswerthe Verhüllung eines pudendum – , also eine Sache des Anstandes und der Scham, und nicht mehr ! |

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65. H i n g e b u n g. – Es giebt edle Frauen mit einer gewissen Armuth des Geistes, welche, um ihre tiefste Hingebung au s z u d r üc k e n , sich nicht anders zu helfen wissen, als so, dass sie ihre Tugend und Scham anbieten : es ist ihnen ihr Höchstes. Und oft wird diess Geschenk angenommen, ohne so tief zu verpfl ichten, als die Geberinnen voraussetzen, – eine sehr schwermüthige Geschichte ! 66. D ie St ä rk e der Sc hwac hen. – Alle Frauen sind fein darin, ihre Schwäche zu übertreiben, ja sie sind erfi nderisch in Schwächen, um ganz und gar als zerbrechliche Zierathen zu erscheinen, denen selbst ein Stäubchen wehe thut : ihr Dasein soll dem Manne seine Plumpheit zu Gemüthe führen und in’s Gewissen schieben. So wehren sie sich gegen die Starken und alles „Faustrecht“. 67. S ic h s e l b e r heuc he l n . – Sie liebt ihn nun und blickt seitdem mit so ruhigem Vertrauen vor sich hin wie eine Kuh : aber wehe ! Gerade diess war seine Bezauberung, dass sie durchaus veränderlich und unfassbar schien ! Er hatte eben schon zu viel beständiges Wetter an sich selber ! Sollte sie nicht gut thun, ihren alten Charakter zu heucheln ? Lieblosigkeit zu heucheln ? Räth ihr also nicht – die Liebe ? Vivat comoedia ! 68. W i l le u nd W i l l i g k e it . – Man brachte einen Jüngling zu einem weisen Manne und sagte : „Siehe, das ist Einer, der durch die Weiber verdorben wird !“ | Der weise Mann schüttelte den Kopf und lächelte. „Die Männer sind es, rief er, welche die Weiber verderben : und Alles, was die Weiber fehlen, soll an den Männern gebüsst und gebessert werden, – denn der Mann macht sich das Bild des Weibes, und das Weib bildet

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sich nach diesem Bilde.“ – „Du bist zu mildherzig gegen die Weiber, sagte einer der Umstehenden, du kennst sie nicht !“ Der weise Mann antwortete : „Des Mannes Art ist Wille, des Weibes Art Willigkeit, – so ist es das Gesetz der Geschlechter, wahrlich ! ein hartes Gesetz für das Weib ! Alle Menschen sind unschuldig für ihr Dasein, die Weiber aber sind unschuldig im zweiten Grade : wer könnte für sie des Oels und der Milde genug haben.“ – Was Oel ! Was Milde ! rief ein Anderer aus der Menge ; man muss die Weiber besser erziehen ! – „Man muss die Männer besser erziehen,“ sagte der weise Mann und winkte dem Jünglinge, dass er ihm folge. – Der Jüngling aber folgte ihm nicht. 69. Fä h i g k e it z u r R ac he. – Dass Einer sich nicht vertheidigen kann und folglich auch nicht will, gereicht ihm in unsern Augen noch nicht zur Schande : aber wir schätzen Den gering, der zur Rache weder das Vermögen noch den guten Willen hat, – gleichgültig ob Mann oder Weib. Würde uns ein Weib festhalten (oder wie man sagt „fesseln“) können, dem wir nicht zutrauten, dass es unter Umständen den Dolch (irgend eine Art von Dolch) g e g e n u n s gut zu handhaben wüsste ? Oder gegen sich : was in einem bestimmten Falle die empfi ndlichere Rache wäre (die chinesische Rache). | 70. D ie H e r r i n n e n d e r H e r r e n . – Eine tiefe mächtige Altstimme, wie man sie bisweilen im Theater hört, zieht uns plötzlich den Vorhang vor Möglichkeiten auf, an die wir für gewöhnlich nicht glauben : wir glauben mit Einem Male daran, dass es irgendwo in der Welt Frauen mit hohen, heldenhaften, königlichen Seelen geben könne, fähig und bereit zu grandiosen Entgegnungen, Entschliessungen und Aufopferungen, fähig und bereit zur Herrschaft über Männer, weil in ihnen das Beste vom Manne, über das Geschlecht hinaus, zum

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leibhaften Ideale geworden ist. Zwar sollen solche Stimmen nach der Absicht des Theaters gerade n ic ht diesen Begriff vom Weibe geben : gewöhnlich sollen sie den idealen männlichen Liebhaber, zum Beispiel einen Romeo, darstellen ; aber nach meiner Erfahrung zu urtheilen, verrechnet sich dabei das Theater und der Musiker, der von einer solchen Stimme solche Wirkungen erwartet, ganz regelmässig. Man glaubt nicht an d ie s e Liebhaber : diese Stimmen enthalten immer noch eine Farbe des Mütterlichen und Hausfrauenhaften, und gerade dann am meisten, wenn Liebe in ihrem Klange ist. 71. Vo n d e r we i bl ic he n K eu s c h he it . – Es ist etwas ganz Erstaunliches und Ungeheures in der Erziehung der vornehmen Frauen, ja vielleicht giebt es nichts Paradoxeres. Alle Welt ist darüber einverstanden, sie in eroticis so unwissend wie möglich zu erziehen und ihnen eine tiefe Scham vor dergleichen und die äusserste Ungeduld und Flucht beim Andeuten dieser Dinge in die Seele zu geben. Alle „Ehre“ des | Weibes steht im Grunde nur hier auf dem Spiele : was verziehe man ihnen sonst nicht ! Aber hierin sollen sie unwissend bis in’s Herz hinein bleiben : – sie sollen weder Augen, noch Ohren, noch Worte, noch Gedanken für diess ihr „Böses“ haben : ja das Wissen ist hier schon das Böse. Und nun ! Wie mit einem grausigen Blitzschlage in die Wirklichkeit und das Wissen geschleudert werden, mit der Ehe – und zwar durch Den, welchen sie am meisten lieben und hochhalten : Liebe und Scham im Widerspruch ertappen, ja Entzücken, Preisgebung, Pfl icht, Mitleid und Schrecken über die unerwartete Nachbarschaft von Gott und Thier und was Alles sonst noch ! in Einem empfi nden müssen ! – Da hat man in der That sich einen Seelen-Knoten geknüpft, der seines Gleichen sucht ! Selbst die mitleidige Neugier des weisesten Menschenkenners reicht nicht aus, zu errathen, wie sich dieses und jenes Weib in diese

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Lösung des Räthsels und in diess Räthsel von Lösung zu fi nden weiss, und was für schauerliche, weithin greifende Verdachte sich dabei in der armen aus den Fugen gerathenen Seele regen müssen, ja wie die letzte Philosophie und Skepsis des Weibes an diesem Puncte ihre Anker wirft ! – Hinterher das selbe tiefe Schweigen wie vorher : und oft ein Schweigen vor sich selber, ein Augen-Zuschliessen vor sich selber. – Die jungen Frauen bemühen sich sehr darum, oberflächlich und gedankenlos zu erscheinen ; die feinsten unter ihnen erheucheln eine Art Frechheit. – Die Frauen empfi nden leicht ihre Männer als ein Fragezeichen ihrer Ehre und ihre Kinder als eine Apologie oder Busse, – sie bedürfen der Kinder und wünschen sie sich, in einem ganz anderen Sinne als ein Mann sich Kinder wünscht. | – Kurz, man kann nicht mild genug gegen die Frauen sein ! 72. D ie Müt t e r. – Die Thiere denken anders über die Weiber, als die Menschen ; ihnen gilt das Weibchen als das productive Wesen. Vaterliebe giebt es bei ihnen nicht, aber so Etwas wie Liebe zu den Kindern einer Geliebten und Gewöhnung an sie. Die Weibchen haben an den Kindern Befriedigung ihrer Herrschsucht, ein Eigenthum, eine Beschäftigung, etwas ihnen ganz Verständliches, mit dem man schwätzen kann : diess Alles zusammen ist Mutterliebe, – sie ist mit der Liebe des Künstlers zu seinem Werke zu vergleichen. Die Schwangerschaft hat die Weiber milder, abwartender, furchtsamer, unterwerfungslustiger gemacht ; und ebenso erzeugt die geistige Schwangerschaft den Charakter der Contemplativen, welcher dem weiblichen Charakter verwandt ist : – es sind die männlichen Mütter. – Bei den Thieren gilt das männliche Geschlecht als das schöne. 73. He i l i g e Gr au s a m k e it . – Zu einem Heiligen trat ein Mann, der ein eben geborenes Kind in den Händen hielt. „Was soll ich

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mit dem Kinde machen ? fragte er, es ist elend, missgestaltet und hat nicht genug Leben, um zu sterben.“ „Tödte es, rief der Heilige mit schrecklicher Stimme, tödte es und halte es dann drei Tage und drei Nächte lang in deinen Armen, auf dass du dir ein Gedächtniss machest : – so wirst du nie wieder ein Kind zeugen, wenn es nicht an der Zeit für dich ist, zu zeugen.“ – Als der Mann diess gehört hatte, gieng er enttäuscht davon ; und Viele tadelten den | Heiligen, weil er zu einer Grausamkeit gerathen hatte, denn er hatte gerathen, das Kind zu tödten. „Aber ist es nicht grausamer, es leben zu lassen ?“ sagte der Heilige. 74. D ie E r f ol g lo s e n . – Jenen armen Frauen fehlt es immer an Erfolg, welche in Gegenwart Dessen, den sie lieben, unruhig und unsicher werden und zu viel reden : denn die Männer werden am sichersten durch eine gewisse heimliche und phlegmatische Zärtlichkeit verführt. 75. D a s d r it t e G e s c h le c ht . – „Ein kleiner Mann ist eine Paradoxie, aber doch ein Mann, – aber die kleinen Weibchen scheinen mir, im Vergleich mit hochwüchsigen Frauen, von einem anderen Geschlechte zu sein“ – sagte ein alter Tanzmeister. Ein kleines Weib ist niemals schön – sagte der alte Aristoteles. 76. D ie g r ö s s t e G e f a h r. – Hätte es nicht allezeit eine Ueberzahl von Menschen gegeben, welche die Zucht ihres Kopfes – ihre „Vernünftigkeit“ – als ihren Stolz, ihre Verpfl ichtung, ihre Tugend fühlten, welche durch alles Phantasiren und Ausschweifen des Denkens beleidigt oder beschämt wurden, als die Freunde „des gesunden Menschenverstandes“ : so wäre die Menschheit längst zu Grunde gegangen ! Ueber ihr schwebte und schwebt fortwährend als ihre grösste Gefahr

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der ausbrechende I r r s i n n – das heisst eben das Ausbrechen des Beliebens im Empfi nden, Sehen und Hören, der Genuss in der Zuchtlosigkeit des Kopfes, die Freude | am MenschenUnverstande. Nicht die Wahrheit und Gewissheit ist der Gegensatz der Welt des Irrsinnigen, sondern die Allgemeinheit und Allverbindlichkeit eines Glaubens, kurz das Nicht-Beliebige im Urtheilen. Und die grösste Arbeit der Menschen bisher war die, über sehr viele Dinge mit einander übereinzustimmen und sich ein G e set z der Ueber ei n st i m mu n g aufzulegen  – gleichgültig, ob diese Dinge wahr oder falsch sind. Diess ist die Zucht des Kopfes, welche die Menschheit erhalten hat ; – aber die Gegentriebe sind immer noch so mächtig, dass man im Grunde von der Zukunft der Menschheit mit wenig Vertrauen reden darf. Fortwährend schiebt und verschiebt sich noch das Bild der Dinge, und vielleicht von jetzt ab mehr und schneller als je ; fortwährend sträuben sich gerade die ausgesuchtesten Geister gegen jene Allverbindlichkeit – die Erforscher der Wa h r he it voran ! Fortwährend erzeugt jener Glaube als Allerweltsglaube einen Ekel und eine neue Lüsternheit bei feineren Köpfen : und schon das langsame Tempo, welches er für alle geistigen Processe verlangt, jene Nachahmung der Schildkröte, welche hier als die Norm anerkannt wird, macht Künstler und Dichter zu Ueberläufern :  – diese ungeduldigen Geister sind es, in denen eine förmliche Lust am Irrsinn ausbricht, weil der Irrsinn ein so fröhliches Tempo hat ! Es bedarf also der tugendhaften Intellecte, – ach ! ich will das unzweideutigste Wort gebrauchen – es bedarf der t u g e nd h a f t e n D u m m he it , es bedarf unerschütterlicher Tactschläger des l a n g s a me n Geistes, damit die Gläubigen des grossen Gesammtglaubens bei einander bleiben und ihren Tanz weitertanzen : es ist eine Nothdurft ersten Ranges, welche hier gebietet und fordert. | W i r A n d e r n s i nd d ie Au s n a h me u nd d ie G e f a h r, – wir bedürfen ewig der Vertheidigung ! – Nun, es lässt sich wirklich

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etwas zu Gunsten der Ausnahme sagen, vo r au s g e s e t z t , d a s s s ie n ie R e g e l we r d e n w i l l . 77. Da s T h ier m it g utem G ew i s sen. – Das Gemeine in Alledem, was im Süden Europa’s gefällt – sei diess nun die italiänische Oper (zum Beispiel Rossini’s und Bellini’s) oder der spanische Abenteuer-Roman (uns in der französischen Verkleidung des Gil Blas am besten zugänglich) – bleibt mir nicht verborgen, aber es beleidigt mich nicht, ebensowenig als die Gemeinheit, der man bei einer Wanderung durch Pompeji und im Grunde selbst beim Lesen jedes antiken Buches begegnet : woher kommt diess ? Ist es, dass hier die Scham fehlt und dass alles Gemeine so sicher und seiner gewiss auftritt, wie irgend etwas Edles, Liebliches und Leidenschaftliches in der selben Art Musik oder Roman ? „Das Thier hat sein Recht wie der Mensch : so mag es frei herumlaufen, und du, mein lieber Mitmensch, bist auch diess Thier noch, trotz Alledem !“ – das scheint mir die Moral der Sache und die Eigenheit der südländischen Humanität zu sein. Der schlechte Geschmack hat sein Recht wie der gute, und sogar ein Vorrecht vor ihm, falls er das grosse Bedürfniss, die sichere Befriedigung und gleichsam eine allgemeine Sprache, eine unbedingt verständliche Larve und Gebärde ist : der gute, gewählte Geschmack hat dagegen immer etwas Suchendes, Versuchtes, seines Verständnisses nicht völlig Gewisses, – er ist und war niemals volksthümlich ! Volksthümlich ist und bleibt die M a s k e ! So mag denn alles diess | Maskenhafte in den Melodien und Cadenzen, in den Sprüngen und Lustigkeiten des Rhythmus dieser Opern dahinlaufen ! Gar das antike Leben ! Was versteht man von dem, wenn man die Lust an der Maske, das gute Gewissen alles Maskenhaften nicht versteht ! Hier ist das Bad und die Erholung des antiken Geistes : – und vielleicht war diess Bad den seltenen und erhabenen Naturen der alten Welt noch nöthi-

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ger, als den gemeinen. – Dagegen beleidigt mich eine gemeine Wendung in nordischen Werken, zum Beispiel in deutscher Musik, unsäglich. Hier ist S c h a m dabei, der Künstler ist vor sich selber hinabgestiegen und konnte es nicht einmal verhüten, dabei zu erröthen : wir schämen uns mit ihm und sind so beleidigt, weil wir ahnen, dass er unseretwegen glaubte hinabsteigen zu müssen. 78. Wof ü r w i r d a n k ba r sei n sol len. – Erst die Künstler, und namentlich die des Theaters, haben den Menschen Augen und Ohren eingesetzt, um Das mit einigem Vergnügen zu hören und zu sehen, was Jeder selber ist, selber erlebt, selber will ; erst sie haben uns die Schätzung des Helden, der in jedem von allen diesen Alltagsmenschen verborgen ist, und die Kunst gelehrt, wie man sich selber als Held, aus der Ferne und gleichsam vereinfacht und verklärt ansehen könne, – die Kunst, sich vor sich selber „in Scene zu setzen“. So allein kommen wir über einige niedrige Details an uns hinweg ! Ohne jene Kunst würden wir Nichts als Vordergrund sein und ganz und gar im Banne jener Optik leben, welche das Nächste und Gemeinste als ungeheuer gross und als die Wirklichkeit an sich erscheinen lässt. – | Vielleicht giebt es ein Verdienst ähnlicher Art an jener Religion, welche die Sündhaftigkeit jedes einzelnen Menschen mit dem Vergrösserungsglase ansehen hiess und aus dem Sünder einen grossen, unsterblichen Verbrecher machte : indem sie ewige Perspectiven um ihn beschrieb, lehrte sie den Menschen, sich aus der Ferne und als etwas Vergangenes, Ganzes sehen. 79. Re i z d e r Unvol l k om me n he it . – Ich sehe hier einen Dichter, der, wie so mancher Mensch, durch seine Unvollkommenheiten einen höheren Reiz ausübt, als durch alles Das, was sich unter seiner Hand rundet und vollkommen gestaltet, – ja er

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hat den Vortheil und den Ruhm vielmehr von seinem letzten Unvermögen, als von seiner reichen Kraft. Sein Werk spricht es niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte, was er g e s e he n h ab e n mö c ht e: es scheint, dass er den Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und niemals sie selber : – aber eine ungeheure Lüsternheit nach dieser Vision ist in seiner Seele zurückgeblieben, und aus ihr nimmt er seine ebenso ungeheure Beredtsamkeit des Verlangens und Heisshungers. Mit ihr hebt er Den, welcher ihm zuhört, über sein Werk und alle „Werke“ hinaus und giebt ihm Flügel, um so hoch zu steigen, wie Zuhörer nie sonst steigen : und so, selber zu Dichtern und Sehern geworden, zollen sie dem Urheber ihres Glückes eine Bewunderung, wie als ob er sie unmittelbar zum Schauen seines Heiligsten und Letzten geführt hätte, wie als ob er sein Ziel erreicht und seine Vision wirklich g e s e he n und mitgetheilt hätte. Es kommt seinem Ruhme zu Gute, nicht eigentlich an’s Ziel gekommen zu sein. | 80. K u n s t u n d Nat u r. – Die Griechen (oder wenigstens die Athener) hörten gerne gut reden : ja sie hatten einen gierigen Hang darnach, der sie mehr als alles Andere von den NichtGriechen unterscheidet. Und so verlangten sie selbst von der Leidenschaft auf der Bühne, dass sie gut rede, und liessen die Unnatürlichkeit des dramatischen Verses mit Wonne über sich ergehen : – in der Natur ist ja die Leidenschaft so wortkarg ! so stumm und verlegen ! Oder wenn sie Worte fi ndet, so verwirrt und unvernünftig und sich selber zur Scham ! Nun haben wir uns Alle, Dank den Griechen, an diese Unnatur auf der Bühne gewöhnt, wie wir jene andere Unnatur, die s i n g e nd e Leidenschaft ertragen und gerne ertragen, Dank den Italiänern. – Es ist uns ein Bedürfniss geworden, welches wir aus der Wirklichkeit nicht befriedigen können : Menschen in den schwersten Lagen gut und ausführlich reden zu hören :

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es entzückt uns jetzt, wenn der tragische Held da noch Worte, Gründe, beredte Gebärden und im Ganzen eine helle Geistigkeit fi ndet, wo das Leben sich den Abgründen nähert, und der wirkliche Mensch meistens den Kopf und gewiss die schöne Sprache verliert. Diese Art A bwe ic hu n g vo n d e r Nat u r ist vielleicht die angenehmste Mahlzeit für den Stolz des Menschen ; ihretwegen überhaupt liebt er die Kunst, als den Ausdruck einer hohen, heldenhaften Unnatürlichkeit und Convention. Man macht mit Recht dem dramatischen Dichter einen Vorwurf daraus, wenn er nicht Alles in Vernunft und Wort verwandelt, sondern immer einen Rest S c hwe i g e n in der Hand zurückbehält : – so wie man mit dem Musiker der Oper unzufrieden ist, der für den höchsten Affect | nicht eine Melodie, sondern nur ein affectvolles „natürliches“ Stammeln und Schreien zu fi nden weiss. Hier s ol l eben der Natur widersprochen werden ! Hier s ol l eben der gemeine Reiz der Illusion einem höheren Reize weichen ! Die Griechen gehen auf diesem Wege weit, weit – zum Erschrecken weit ! Wie sie die Bühne so schmal wie möglich bilden und alle Wirkung durch tiefe Hintergründe sich verbieten, wie sie dem Schauspieler das Mienenspiel und die leichte Bewegung unmöglich machen und ihn in einen feierlichen, steifen, maskenhaften Popanz verwandeln, so haben sie auch der Leidenschaft selber den tiefen Hintergrund genommen und ihr ein Gesetz der schönen Rede dictirt, ja sie haben überhaupt Alles gethan, um der elementaren Wirkung furcht- und mitleiderweckender Bilder entgegenzuwirken : sie wol lten eben n ic ht Fu rc ht u nd M it leid, – Aristoteles in Ehren und höchsten Ehren ! aber er traf sicherlich nicht den Nagel, geschweige den Kopf des Nagels, als er vom letzten Zweck der griechischen Tragödie sprach ! Man sehe sich doch die griechischen Dichter der Tragödie darauf hin an, w a s am Meisten ihren Fleiss, ihre Erfi ndsamkeit, ihren Wetteifer erregt hat, – gewiss nicht die Absicht auf Ueberwältigung der Zuschauer durch Affecte !

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Der Athener gieng in’s Theater, u m s c höne R e d e n z u hö r e n ! Und um schöne Reden war es dem Sophokles zu thun ! – man vergebe mir diese Ketzerei ! – Sehr verschieden steht es mit der e r n s t e n O p e r : alle ihre Meister lassen es sich angelegen sein, zu verhüten, dass man ihre Personen verstehe. Ein gelegentlich aufgeraff tes Wort mag dem unaufmerksamen Zuhörer zu Hülfe kommen : im Ganzen muss die Situation sich selber erklären, – es liegt Nichts an den Reden ! – so denken | sie Alle und so haben sie Alle mit den Worten ihre Possen getrieben. Vielleicht hat es ihnen nur an Muth gefehlt, um ihre letzte Geringschätzung des Wortes ganz auszudrücken : ein wenig Frechheit mehr bei Rossini und er hätte durchweg la-la-la-la singen lassen – und es wäre Vernunft dabei gewesen ! Es soll den Personen der Oper eben nicht „auf ’s Wort“ geglaubt werden, sondern auf den Ton ! Das ist der Unterschied, das ist die schöne Un n at ü rl ic h k e it , derentwegen man in die Oper geht ! Selbst das recitativo secco will nicht eigentlich als Wort und Text angehört sein : diese Art von Halbmusik soll vielmehr dem musicalischen Ohre zunächst eine kleine Ruhe geben (die Ruhe von der Me lo d ie, als dem sublimsten und desshalb auch anstrengendsten Genusse dieser Kunst) –, aber sehr bald etwas Anderes : nämlich eine wachsende Ungeduld, ein wachsendes Widerstreben, eine neue Begierde nach g a n z e r Musik, nach Melodie. – Wie verhält es sich, von diesem Gesichtspuncte aus gesehen, mit der Kunst Richard Wagner’s ? Vielleicht anders ? Oft wollte es mir scheinen, als ob man Wort u nd Musik seiner Schöpfungen vor der Auff ührung auswendig gelernt haben müsste : denn ohne diess – so schien es mir – hör e man weder die Worte noch selber die Musik. 81. Gr ie c h i s c he r G e s c h m ac k . – „Was ist Schönes daran ? – sagte jener Feldmesser nach einer Auff ührung der Iphigenie – es wird Nichts darin bewiesen !“ Sollten die Griechen so fern

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von diesem Geschmacke gewesen sein ? Bei Sophokles wenigstens wird „Alles bewiesen“. | 82. D e r e s p r it u n g r ie c h i s c h . – Die Griechen sind in allem ihrem Denken unbeschreiblich logisch und schlicht ; sie sind dessen, wenigstens für ihre lange gute Zeit, nicht überdrüssig geworden, wie die Franzosen es so häufig werden : welche gar zu gerne einen kleinen Sprung in’s Gegentheil machen und den Geist der Logik eigentlich nur vertragen, wenn er durch eine Menge solcher kleiner Sprünge in’s Gegentheil seine g e s e l l i g e Artigkeit, seine gesellige Selbstverleugnung verräth. Logik erscheint ihnen als nothwendig, wie Brod und Wasser, aber auch gleich diesen als eine Art Gefangenenkost, sobald sie rein und allein genossen werden sollen. In der guten Gesellschaft muss man niemals vollständig und allein Recht haben wollen, wie es alle reine Logik will : daher die kleine Dosis Unvernunft in allem französischen esprit. – Der gesellige Sinn der Griechen war bei Weitem weniger entwickelt, als der der Franzosen es ist und war : daher so wenig esprit bei ihren geistreichsten Männern, daher so wenig Witz selbst bei ihren Witzbolden, daher – ach ! Man wird mir schon diese meine Sätze nicht glauben, und wie viele der Art habe ich noch auf der Seele ! – Est res magna tacere – sagt Martial mit allen Geschwätzigen. 83. Ueb e r s et z u n g e n . – Man kann den Grad des historischen Sinnes, welchen eine Zeit besitzt, daran abschätzen, wie diese Zeit Ueb e r s et z u n g e n macht und vergangene Zeiten und Bücher sich einzuverleiben sucht. Die Franzosen Corneille’s, und auch noch die der Revolution, bemächtigten sich des römischen Alterthums | in einer Weise, zu der wir nicht den Muth mehr hätten – Dank unserem höheren historischen Sinne. Und das römische Alterthum selbst : wie gewaltsam

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und naiv zugleich legte es seine Hand auf alles Gute und Hohe des griechischen älteren Alterthums ! Wie übersetzten sie in die römische Gegenwart hinein ! Wie verwischten sie absichtlich und unbekümmert den Flügelstaub des Schmetterlings Augenblick ! So übersetzte Horaz hier und da den Alcäus oder den Archilochus, so Properz den Callimachus und Philetas (Dichter gleichen Ranges mit Theokrit, wenn wir urtheilen d ü r f e n) : was lag ihnen daran, dass der eigentliche Schöpfer Diess und Jenes erlebt und die Zeichen davon in sein Gedicht hineingeschrieben hatte ! – als Dichter waren sie dem antiquarischen Spürgeiste, der dem historischen Sinne voranläuft, abhold, als Dichter liessen sie diese ganz persönlichen Dinge und Namen und Alles, was einer Stadt, einer Küste, einem Jahrhundert als seine Tracht und Maske zu eigen war, nicht gelten, sondern stellten flugs das Gegenwärtige und das Römische an seine Stelle. Sie scheinen uns zu fragen : „Sollen wir das Alte nicht für uns neu machen und u n s in ihm zurechtlegen ? Sollen wir nicht unsere Seele diesem todten Leibe einblasen dürfen ? denn todt ist er nun einmal : wie hässlich ist alles Todte !“ – Sie kannten den Genuss des historischen Sinnes nicht ; das Vergangene und Fremde war ihnen peinlich, und als Römern ein Anreiz zu einer römischen Eroberung. In der That, man eroberte damals, wenn man übersetzte, – nicht nur so, dass man das Historische wegliess : nein, man fügte die Anspielung auf das Gegenwärtige hinzu, man strich vor Allem den Namen des Dichters hinweg und setzte den | eigenen an seine Stelle – nicht im Gefühl des Diebstahls, sondern mit dem allerbesten Gewissen des imperium Romanum. 84. Vom Ur s p r u n g e d e r Po e s ie. – Die Liebhaber des Phantastischen am Menschen, welche zugleich die Lehre von der instinctiven Moralität vertreten, schliessen so : „gesetzt, man habe zu allen Zeiten den Nutzen als die höchste Gottheit ver-

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ehrt, woher dann in aller Welt ist die Poesie gekommen ? – diese Rhythmisirung der Rede, welche der Deutlichkeit der Mittheilung eher entgegenwirkt, als förderlich ist, und die trotzdem wie ein Hohn auf alle nützliche Zweckmässigkeit überall auf Erden aufgeschossen ist und noch aufschiesst ! Die wildschöne Unvernünftigkeit der Poesie widerlegt euch, ihr Utilitarier ! Gerade vom Nutzen einmal lo s k om me n wollen – das hat den Menschen erhoben, das hat ihn zur Moralität und Kunst inspirirt !“ Nun ich muss hierin einmal den Utilitariern zu Gefallen reden, – sie haben ja so selten Recht, dass es zum Erbarmen ist ! Man hatte in jenen alten Zeiten, welche die Poesie in’s Dasein riefen, doch die Nützlichkeit dabei im Auge und eine sehr grosse Nützlichkeit – damals als man den Rhythmus in die Rede dringen liess, jene Gewalt, die alle Atome des Satzes neu ordnet, die Worte wählen heisst und den Gedanken neu färbt und dunkler, fremder, ferner macht : freilich eine a b e r g l äu b i s c h e Nüt z l ic h k e it ! Es sollte vermöge des Rhythmus den Göttern ein menschliches Anliegen tiefer eingeprägt werden, nachdem man bemerkt hatte, dass der Mensch einen Vers besser im Gedächtniss behält, als eine ungebundene Rede ; ebenfalls meinte man durch das | rhythmische Tiktak über grössere Fernen hin sich hörbar zu machen ; das rhythmisirte Gebet schien den Göttern näher an’s Ohr zu kommen. Vor Allem aber wollte man den Nutzen von jener elementaren Ueberwältigung haben, welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt : der Rhythmus ist ein Zwang ; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen ; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, – wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter ! Man versuchte sie also durch den Rhythmus zu z w i n g e n und eine Gewalt über sie auszuüben : man warf ihnen die Poesie wie eine magische Schlinge um. Es gab noch eine wunderlichere Vorstellung : und diese gerade hat vielleicht am mäch-

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tigsten zur Entstehung der Poesie gewirkt. Bei den Pythagoreern erscheint sie als philosophische Lehre und als Kunstgriff der Erziehung : aber längst bevor es Philosophen gab, gestand man der Musik die Kraft zu, die Affecte zu entladen, die Seele zu reinigen, die ferocia animi zu mildern – und zwar gerade durch das Rhythmische in der Musik. Wenn die richtige Spannung und Harmonie der Seele verloren gegangen war, musste man t a n z e n , in dem Tacte des Sängers, – das war das Recept dieser Heilkunst. Mit ihr stillte Terpander einen Aufruhr, besänftigte Empedokles einen Rasenden, reinigte Damon einen liebessiechen Jüngling ; mit ihr nahm man auch die wildgewordenen rachsüchtigen Götter in Cur. Zuerst dadurch, dass man den Taumel und die Ausgelassenheit ihrer Affecte auf ’s Höchste trieb, also den Rasenden toll, den Rachsüchtigen rachetrunken machte : – alle orgiastischen Culte wollen die ferocia einer Gottheit auf Ein Mal | entladen und zur Orgie machen, damit sie hinterher sich freier und ruhiger fühle und den Menschen in Ruhe lasse. Melos bedeutet seiner Wurzel nach ein Besänftigungsmittel, nicht weil es selber sanft ist, sondern weil seine Nachwirkung sanft macht. – Und nicht nur im Cultusliede, auch bei dem weltlichen Liede der ältesten Zeiten ist die Voraussetzung, dass das Rhythmische eine magische Kraft übe, zum Beispiel beim Wasserschöpfen oder Rudern, das Lied ist eine Bezauberung der hierbei thätig gedachten Dämonen, es macht sie willfährig, unfrei und zum Werkzeug des Menschen. Und so oft man handelt, hat man einen Anlass zu singen, – je d e Handlung ist an die Beihülfe von Geistern geknüpft : Zauberlied und Besprechung scheinen die Urgestalt der Poesie zu sein. Wenn der Vers auch beim Orakel verwendet wurde – die Griechen sagten, der Hexameter sei in Delphi erfunden –, so sollte der Rhythmus auch hier einen Zwang ausüben. Sich prophezeien lassen – das bedeutet ursprünglich (nach der mir wahrscheinlichen Ableitung des griechischen Wortes) : sich Etwas bestimmen lassen ; man

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glaubt die Zukunft erzwingen zu können dadurch, dass man Apollo für sich gewinnt : er, der nach der ältesten Vorstellung viel mehr, als ein vorhersehender Gott ist. So wie die Formel ausgesprochen wird, buchstäblich und rhythmisch genau, so bindet sie die Zukunft : die Formel aber ist die Erfi ndung Apollo’s, welcher als Gott der Rhythmen auch die Göttinnen des Schicksals binden kann. – Im Ganzen gesehen und gefragt : gab es für die alte abergläubische Art des Menschen überhaupt etwas Nüt z l ic he r e s , als den Rhythmus ? Mit ihm konnte man Alles : eine Arbeit magisch fördern ; einen Gott nöthigen, zu erscheinen, | nahe zu sein, zuzu hören ; die Zukunft sich nach seinem Willen zurecht machen ; die eigene Seele von irgend einem Uebermaasse (der Angst, der Manie, des Mitleids, der Rachsucht) entladen, und nicht nur die eigene Seele, sondern die des bösesten Dämons, – ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott. Ein solches Grundgefühl lässt sich nicht mehr völlig ausrotten, – und noch jetzt, nach Jahrtausende langer Arbeit in der Bekämpfung solchen Aberglaubens, wird auch der Weiseste von uns gelegentlich zum Narren des Rhythmus, sei es auch nur darin, dass er einen Gedanken als w a h r e r e m pf i nd et , wenn er eine metrische Form hat und mit einem gött lichen Hopsasa daher kommt. Ist es nicht eine sehr lustige Sache, dass immer noch die ernstesten Philosophen, so streng sie es sonst mit aller Gewissheit nehmen, sich auf D ic ht e r s p r üc he berufen, um ihren Gedanken Kraft und Glaubwürdigkeit zu geben ? – und doch ist es für eine Wahrheit gefährlicher, wenn der Dichter ihr zustimmt, als wenn er ihr widerspricht ! Denn wie Homer sagt : „Viel ja lügen die Sänger !“ – 85. Das Gute u nd das Sc höne. – Die Künstler verher rl ic hen fortwährend – sie thun nichts Anderes – : und zwar alle jene Zustände und Dinge, welche in dem Rufe stehen, dass bei

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ihnen und in ihnen der Mensch sich einmal gut oder gross, oder trunken, oder lustig, oder wohl und weise fühlen kann. Diese au s g e le s e ne n Dinge und Zustände, deren Werth für das menschliche G lüc k als sicher und abgeschätzt gilt, sind die Objecte der Künstler : sie liegen immer auf der | Lauer, dergleichen zu entdecken und in’s Gebiet der Kunst hinüberzuziehen. Ich will sagen : sie sind nicht selber die Taxatoren des Glückes und des Glücklichen, aber sie drängen sich immer in die Nähe dieser Taxatoren, mit der grössten Neugierde und Lust, sich ihre Schätzungen sofort zu Nutze zu machen. So werden sie, weil sie ausser ihrer Ungeduld auch die grossen Lungen der Herolde und die Füsse der Läufer haben, immer auch unter den Ersten sein, die das neue Gute verherrlichen, und oft als Die e r s c he i ne n , welche es zuerst gut nennen und als gut taxiren. Diess aber ist, wie gesagt, ein Irrthum : sie sind nur geschwinder und lauter, als die wirklichen Taxatoren. – Und wer sind denn diese ? – Es sind die Reichen und die Müssigen. 86. Vom T he at e r. – Dieser Tag gab mir wieder starke und hohe Gefühle, und wenn ich an seinem Abende Musik und Kunst haben könnte, so weiss ich wohl, welche Musik und Kunst ich n ic ht haben möchte, nämlich alle jene nicht, welche ihre Zuhörer berauschen und zu einem Augenblicke starken und hohen Gefühls e m p o r t r e i b e n möchte, – jene Menschen des Alltags der Seele, die am Abende nicht Siegern auf Triumphwägen gleichen, sondern müden Maulthieren, an denen das Leben die Peitsche etwas zu oft geübt hat. Was würden jene Menschen überhaupt von „höheren Stimmungen“ wissen, wenn es nicht rauscherzeugende Mittel und idealische Peitschenschläge gäbe ! – und so haben sie ihre Begeisterer, wie sie ihre Weine haben. Aber was ist mir ihr Getränk und ihre Trunkenheit ! Was braucht der Begeisterte den Wein ! Vielmehr blickt er | mit einer Art von Ekel auf die Mittel und

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Mittler hin, welche hier eine Wirkung ohne zureichenden Grund erzeugen sollen, – eine Nachäff ung der hohen Seelenfluth ! – Wie ? Man schenkt dem Maulwurf Flügel und stolze Einbildungen, – vor Schlafengehen, bevor er in seine Höhle kriecht ? Man schickt ihn in’s Theater und setzt ihm grosse Gläser vor seine blinden und müden Augen ? Menschen, deren Leben keine „Handlung“, sondern ein Geschäft ist, sitzen vor der Bühne und schauen fremdartigen Wesen zu, denen das Leben mehr ist, als ein Geschäft ? „So ist es anständig“, sagt ihr, „so ist es unterhaltend, so will es die Bildung !“ – Nun denn ! So fehlt mir allzuoft die Bildung : denn dieser Anblick ist mir allzuoft ekelhaft. Wer an sich der Tragödie und Komödie genug hat, bleibt wohl am Liebsten fern vom Theater ; oder, zur Ausnahme, der ganze Vorgang – Theater und Publicum und Dichter eingerechnet – wird ihm zum eigentlichen tragischen und komischen Schauspiel, sodass das aufgeführte Stück dagegen ihm nur wenig bedeutet. Wer Etwas wie Faust und Manfred ist, was liegt dem an den Fausten und Manfreden des Theaters ! – während es ihm gewiss noch zu denken giebt, d a s s man überhaupt dergleichen Figuren auf ’s Theater bringt. Die s t ä rk s t e n Gedanken und Leidenschaften vor Denen, welche des Denkens und der Leidenschaft nicht fähig sind – aber des R au s c he s ! Und je ne als ein Mittel zu diesem ! Und Theater und Musik das Haschisch-Rauchen und Betel-Kauen der Europäer ! Oh wer erzählt uns die ganze Geschichte der Narcotica ! – Es ist beinahe die Geschichte der „Bildung“, der sogenannten höheren Bildung ! | 87. Vo n d e r E it e l k e it d e r K ü n s t le r. – Ich glaube, dass die Künstler oft nicht wissen, was sie am besten können, weil sie zu eitel sind und ihren Sinn auf etwas Stolzeres gerichtet haben, als diese kleinen Pflanzen zu sein scheinen, welche neu, seltsam und schön, in wirklicher Vollkommenheit auf ihrem

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Boden zu wachsen vermögen. Das letzthin Gute ihres eigenen Gartens und Weinbergs wird von ihnen obenhin abgeschätzt, und ihre Liebe und ihre Einsicht sind nicht gleichen Ranges. Da ist ein Musiker, der mehr als irgend ein Musiker darin seine Meisterschaft hat, die Töne aus dem Reiche leidender, gedrückter, gemarterter Seelen zu fi nden und auch noch den stummen Thieren Sprache zu geben. Niemand kommt ihm gleich in den Farben des späten Herbstes, dem unbeschreiblich führenden Glücke eines letzten, allerletzten, allerkürzesten Geniessens, er kennt einen Klang für jene heimlich-unheimlichen Mitternächte der Seele, wo Ursache und Wirkung aus den Fugen gekommen zu sein scheinen und jeden Augenblick Etwas „aus dem Nichts“ entstehen kann ; er schöpft am glücklichsten von Allen aus dem unteren Grunde des menschlichen Glückes und gleichsam aus dessen ausgetrunkenem Becher, wo die herbsten und widrigsten Tropfen zu guter- und böserletzt mit den süssesten zusammengelaufen sind ; er kennt jenes müde Sich-schieben der Seele, die nicht mehr springen und fl iegen, ja nicht mehr gehen kann ; er hat den scheuen Blick des verhehlten Schmerzes, des Verstehens ohne Trost, des Abschiednehmens ohne Geständniss ; ja, als der Orpheus alles heimlichen Elendes ist er grösser, als irgend Einer, und Manches ist durch ihn überhaupt der | Kunst hinzugefügt worden, was bisher unausdrückbar und selbst der Kunst unwürdig erschien, und mit Worten namentlich nur zu verscheuchen, nicht zu fassen war, – manches ganz Kleine und Mikroskopische der Seele : ja, es ist der Meister des ganz Kleinen. Aber er w i l l es nicht sein ! Sein C h a r a k t e r liebt vielmehr die grossen Wände und die verwegene Wandmalerei ! Es entgeht ihm, dass sein G e i s t einen anderen Geschmack und Hang hat und am liebsten still in den Winkeln zusammengestürzter Häuser sitzt : – da, verborgen, sich selber verborgen, malt er seine eigentlichen Meisterstücke, welche alle sehr kurz sind, oft nur Einen Tact lang, – da erst wird er

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ganz gut, gross und vollkommen, da vielleicht allein. – Aber er weiss es nicht ! Er ist zu eitel dazu, es zu wissen. 88. D e r E r n s t u m d ie Wa h r he it . – Ernst um die Wahrheit ! Wie Verschiedenes verstehen die Menschen bei diesen Worten ! Eben die selben Ansichten und Arten von Beweis und Prüfung, welche ein Denker an sich wie eine Leichtfertigkeit empfi ndet, der er zu seiner Scham in dieser oder jener Stunde unterlegen ist, – eben die selben Ansichten können einem Künstler, der auf sie stösst und mit ihnen zeitweilig lebt, das Bewusstsein geben, jetzt habe ihn der tiefste Ernst um die Wahrheit erfasst, und es sei bewunderungswürdig, dass er, obschon Künstler, doch zugleich die ernsthafteste Begierde nach dem Gegensatze des Scheinenden zeige. So ist es möglich, dass Einer gerade mit seinem Pathos von Ernsthaftigkeit verräth, wie oberflächlich und genügsam sein Geist bisher im Reiche der Erkenntniss | gespielt hat. – Und ist nicht Alles, was wir w ic ht i g nehmen, unser Verräther ? Es zeigt, wo unsere Gewichte liegen und wofür wir keine Gewichte besitzen. 89. Jet z t u nd e he d e m . – Was liegt an aller unsrer Kunst der Kunstwerke, wenn jene höhere Kunst, die Kunst der Feste, uns abhanden kommt ! Ehemals waren alle Kunstwerke an der grossen Feststrasse der Menschheit aufgestellt, als Erinnerungszeichen und Denkmäler hoher und seliger Momente. Jetzt will man mit den Kunstwerken die armen Erschöpften und Kranken von der grossen Leidensstrasse der Menschheit bei Seite locken, für ein lüsternes Augenblickchen ; man bietet ihnen einen kleinen Rausch und Wahnsinn an.

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90. L ic ht e r u nd S c h at t e n . – Die Bücher und Niederschriften sind bei verschiedenen Denkern Verschiedenes : der Eine hat im Buche die Lichter zusammengebracht, die er geschwind aus den Strahlen einer ihm aufleuchtenden Erkenntniss wegzustehlen und heimzutragen wusste ; ein Anderer giebt nur die Schatten, die Nachbilder in Grau und Schwarz von dem wieder, was Tags zuvor in seiner Seele sich auf baute. 91. Vor s ic ht . – Alfieri hat, wie bekannt, sehr viel gelogen, als er den erstaunten Zeitgenossen seine Lebensgeschichte erzählte. Er log aus jenem Despotismus gegen sich selber, den er zum Beispiel in der Art bewies, wie er sich seine eigene Sprache schuf und sich zum Dichter tyrannisirte : – er hatte endlich eine strenge | Form von Erhabenheit gefunden, in welche er sein Leben und sein Gedächtniss h i ne i n p r e s s t e : es wird viel Qual dabei gewesen sein. – Ich würde auch einer Lebensgeschichte Platon’s, von ihm selber geschrieben, keinen Glauben schenken : so wenig, als der Rousseau’s, oder der vita nuova Dante’s. 92. P r o s a u nd Po e s ie. – Man beachte doch, dass die grossen Meister der Prosa fast immer auch Dichter gewesen sind, sei es öffentlich, oder auch nur im Geheimen und für das „Kämmerlein“ ; und fürwahr, man schreibt nur im A n g e s ic ht e d e r Po e s ie gute Prosa ! Denn diese ist ein ununterbrochener artiger Krieg mit der Poesie : alle ihre Reize bestehen darin, dass beständig der Poesie ausgewichen und widersprochen wird ; jedes Abstractum will als Schalkheit gegen diese und wie mit spöttischer Stimme vorgetragen sein ; jede Trocken heit und Kühle soll die liebliche Göttin in eine liebliche Verzweifelung bringen ; oft giebt es Annäherungen, Versöhnungen des Augenblickes und dann ein plötzliches Zurückspringen und

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Auslachen ; oft wird der Vorhang aufgezogen und grelles Licht hereingelassen, während gerade die Göttin ihre Dämmerungen und dumpfen Farben geniesst ; oft wird ihr das Wort aus dem Munde genommen und nach einer Melodie abgesungen, bei der sie die feinen Hände vor die feinen Oehrchen hält – und so giebt es tausend Vergnügungen des Krieges, die Niederlagen mitgezählt, von denen die Unpoetischen, die sogenannten Prosa-Menschen, gar Nichts wissen : – diese schreiben und sprechen denn auch nur schlechte Prosa ! D e r K r ie g i st der Vater | a l ler g uten D i n g e, der Krieg ist auch der Vater der guten Prosa ! – Vier sehr seltsame und wahrhaft dichterische Menschen waren es in diesem Jahrhundert, welche an die Meisterschaft der Prosa gereicht haben, für die sonst diess Jahrhundert nicht gemacht ist – aus Mangel an Poesie, wie angedeutet. Um von Goethe abzusehen, welchen billigerweise das Jahrhundert in Anspruch nimmt, das ihn hervorbrachte : so sehe ich nur Giacomo Leopardi, Prosper Mérimée, Ralph Waldo Emerson und Walter Savage Landor, den Verfasser der Imaginary Conversations, als würdig an, Meister der Prosa zu heissen. 93. A b e r w a r u m s c h r e i b s t d e n n d u ? – A. : Ich gehöre nicht zu Denen, welche mit der nassen Feder in der Hand d e n k e n ; und noch weniger zu Jenen, die sich gar vor dem offenen Tintenfasse ihren Leidenschaften überlassen, auf ihrem Stuhle sitzend und auf ’s Papier starrend. Ich ärgere oder schäme mich alles Schreibens ; Schreiben ist für mich eine Nothdurft, – selbst im Gleichniss davon zu reden, ist mir widerlich. B. : Aber warum schreibst du dann ? A. : Ja, mein Lieber, im Vertrauen gesagt : ich habe bisher noch kein anderes Mittel gefunden, meine Gedanken lo s z u wer d e n . B. : Und warum willst du sie los werden ? A. : Warum ich will ? Will ich denn ? Ich muss. – B. : Genug ! Genug !

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94. Wac h s t hu m n ac h d e m To d e. – Jene kleinen verwegenen Worte über moralische Dinge, welche Fontenelle in seinen unsterblichen Todtengesprächen hinwarf, galten seiner Zeit als Paradoxien und Spiele eines | nicht unbedenklichen Witzes ; selbst die höchsten Richter des Geschmackes und des Geistes sahen nicht mehr darin, – ja, vielleicht Fontenelle selber nicht. Nun ereignet sich etwas Unglaubliches : diese Gedanken werden Wahrheiten ! Die Wissenschaft beweist sie ! Das Spiel wird zum Ernst ! Und wir lesen jene Dialoge mit einer anderen Empfi ndung, als Voltaire und Helvetius sie lasen, und heben unwillkürlich ihren Urheber in eine andere und v ie l höhe r e Rangclasse der Geister, als Jene thaten, – mit Recht ? Mit Unrecht ? 95. C h a m f o r t . – Dass ein solcher Kenner der Menschen und der Menge, wie Chamfort, eben der Menge beisprang und nicht in philosophischer Entsagung und Abwehr seitwärts stehen blieb, das weiss ich mir nicht anders zu erklären, als so : Ein Instinct war in ihm stärker, als seine Weisheit, und war nie befriedigt worden, der Hass gegen alle Noblesse des Geblüts : vielleicht der alte nur zu erklärliche Hass seiner Mutter, welcher durch die Liebe zur Mutter in ihm heilig gesprochen war, – ein Instinct der Rache von seinen Knabenjahren her, der die Stunde erwartete, die Mutter zu rächen. Und nun hatte ihn das Leben und sein Genie, und ach ! am meisten wohl das väterliche Blut in seinen Adern dazu verführt, eben dieser Noblesse sich einzureihen und gleichzustellen – viele viele Jahre lang ! Endlich ertrug er aber seinen eigenen Anblick, den Anblick des „alten Menschen“ unter dem alten Regime nicht mehr ; er gerieth in eine heftige Leidenschaft der Busse, und i n d ie s e r zog er das Gewand des Pöbels an, als s e i ne Art von härener Kutte ! Sein böses Ge|wissen war die Versäumniss der Rache. – Gesetzt, Chamfort wäre damals um einen Grad

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mehr Philosoph geblieben, so hätte die Revolution ihren tragischen Witz und ihren schärfsten Stachel nicht bekommen : sie würde als ein viel dümmeres Ereigniss gelten und keine solche Verführung der Geister sein. Aber der Hass und die Rache Chamfort’s erzogen ein ganzes Geschlecht : und die erlauchtesten Menschen machten diese Schule durch. Man erwäge doch, dass Mirabeau zu Chamfort wie zu seinem höheren und älteren Selbst aufsah, von dem er Antriebe, Warnungen und Richtersprüche erwartete und ertrug, – Mirabeau, der als Mensch zu einem ganz anderen Range der Grösse gehört, als selbst die Ersten unter den staatsmännischen Grössen von gestern und heute. – Seltsam, dass trotz einem solchen Freunde und Fürsprecher – man hat ja die Briefe Mirabeau’s an Chamfort – dieser witzigste aller Moralisten den Franzosen fremd geblieben ist, nicht anders, als Stendhal, der vielleicht unter allen Franzosen d ie s e s Jahrhunderts die gedankenreichsten Augen und Ohren gehabt hat. Ist es, dass Letzterer im Grunde zu viel von einem Deutschen und Engländer an sich hatte, um den Parisern noch erträglich zu sein ? – während Chamfort, ein Mensch, reich an Tiefen und Hintergründen der Seele, düster, leidend, glühend, – ein Denker, der das Lachen als das Heilmittel gegen das Leben nöthig fand, und der sich beinahe verloren gab, an jedem Tage, wo er nicht gelacht hatte, – vielmehr wie ein Italiäner und Blutsverwandter Dante’s und Leopardi’s erscheint, als wie ein Franzose ! Man kennt die letzten Worte Chamfort’s : „Ah ! mon ami, sagte er zu Sieyès, je m’en vais enfi n de ce monde, | où il faut que le coeur se brise ou se bronze –“. Das sind sicherlich nicht Worte eines sterbenden Franzosen. 96. Zwe i R e d n e r. – Von diesen beiden Rednern erreicht der eine die ganze Vernunft seiner Sache nur dann, wenn er sich der Leidenschaft überlässt : erst diese pumpt genug Blut und Hitze ihm in’s Gehirn, um seine hohe Geistigkeit zur Offen-

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barung zu zwingen. Der Andere versucht wohl hier und da das Selbe : mit Hülfe der Leidenschaft seine Sache volltönend, heftig und hinreissend vorzubringen, – aber gewöhnlich mit einem schlechten Erfolge. Er redet dann sehr bald dunkel und verwirrt, er übertreibt, macht Auslassungen und erregt gegen die Vernunft seiner Sache Misstrauen : ja, er selber empfi ndet dabei diess Misstrauen, und daraus erklären sich plötzliche Sprünge in die kältesten und abstossendsten Töne, welche in dem Zuhörer einen Zweifel erregen, ob seine ganze Leidenschaftlichkeit ächt gewesen sei. Bei ihm überfluthet jedes Mal die Leidenschaft den Geist ; vielleicht, weil sie stärker ist, als bei dem Ersten. Aber er ist auf der Höhe seiner Kraft, wenn er dem andringenden Sturme seiner Empfi ndung widersteht und ihn gleichsam verhöhnt : da erst tritt sein Geist ganz aus seinem Versteck heraus, ein logischer, spöttischer, spielender, und doch furchtbarer Geist. 97. Von der Gesc hwät zig keit der Sc h r i f t stel ler. – Es giebt eine Geschwätzigkeit des Zornes, – häufig bei Luther, auch bei Schopenhauer. Eine Geschwätzigkeit aus einem zu grossen Vorrathe von Begriffsformeln | wie bei Kant. Eine Geschwätzigkeit aus Lust an immer neuen Wendungen der selben Sache : man fi ndet sie bei Montaigne. Eine Geschwätzigkeit hämischer Naturen : wer Schriften dieser Zeit liest, wird sich hierbei zweier Schriftsteller erinnern. Eine Geschwätzigkeit aus Lust an guten Worten und Sprachformen : nicht selten in der Prosa Goethe’s. Eine Geschwätzigkeit aus innerem Wohlgefallen an Lärm und Wirrwarr der Empfi ndungen : zum Beispiel bei Carlyle. 98. Z u m R u h m e S h a k e s p e a r e’s . – Das Schönste, was ich zum Ruhme Shakespeare’s, d e s Me n s c he n , zu sagen wüsste, ist diess : er hat an Brutus geglaubt und kein Stäubchen

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Misstrauens auf diese Art Tugend geworfen ! Ihm hat er seine beste Tragödie geweiht – sie wird jetzt immer noch mit einem falschen Namen genannt –, ihm und dem furchtbarsten Inbegriff hoher Moral. Unabhängigkeit der Seele ! – das gilt es hier ! Kein Opfer kann da zu gross sein : seinen liebsten Freund selbst muss man ihr opfern können, und sei er noch dazu der herrlichste Mensch, die Zierde der Welt, das Genie ohne Gleichen, – wenn man nämlich die Freiheit als die Freiheit grosser Seelen liebt, und durch ihn d ie s e r Freiheit Gefahr droht : – derart muss Shakespeare gefühlt haben ! Die Höhe, in welche er Cäsar stellt, ist die feinste Ehre, die er Brutus erweisen konnte : so erst erhebt er dessen inneres Problem in’s Ungeheure und ebenso die seelische Kraft, welche d ie s e n K not e n zu zerhauen vermochte ! – Und war es wirklich die politische Freiheit, welche diesen Dichter zum Mitgefühl mit Brutus trieb, – zum Mitschuldigen des Brutus machte ? | Oder war die politische Freiheit nur eine Symbolik für irgend etwas Unaussprechbares ? Stehen wir vielleicht vor irgend einem unbekannt gebliebenen dunklen Ereignisse und Abenteuer aus des Dichters eigener Seele, von dem er nur durch Zeichen reden mochte ? Was ist alle Hamlet-Melancholie gegen die Melancholie des Brutus ! – und vielleicht kennt Shakespeare auch diese, wie er jene kannte, aus Erfahrung ! Vielleicht hatte auch er seine fi nstere Stunde und seinen bösen Engel, gleich Brutus ! – Was es aber auch derart von Aehnlichkeiten und geheimen Bezügen gegeben haben mag : vor der ganzen Gestalt und Tugend des Brutus warf Shakespeare sich auf den Boden und fühlte sich unwürdig und ferne : – das Zeugniss dafür hat er in seine Tragödie hineingeschrieben. Zweimal hat er in ihr einen Poeten vorgeführt und zweimal eine solche ungeduldige und allerletzte Verachtung über ihn geschüttet, dass es wie ein Schrei klingt, – wie der Schrei der Selbstverachtung. Brutus, selbst Brutus verliert die Geduld, als der Poet auftritt, eingebildet, pathetisch, zudringlich, wie Poeten zu sein pfle-

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gen, als ein Wesen, welches von Möglichkeiten der Grösse, auch der sittlichen Grösse, zu strotzen scheint und es doch in der Philosophie der That und des Lebens selten selbst bis zur gemeinen Rechtschaffenheit bringt. „Kennt er die Zeit, s o k e n n’ ic h s e i ne L au ne n , – fort mit dem Schellen-Hanswurst !“ – ruft Brutus. Man übersetze sich diess zurück in die Seele des Poeten, der es dichtete. 99. Die A n hä nger Sc hopen hauer’s. – Was man bei der Berührung von Cultur-Völkern und Barbaren | zu sehen bekommt : dass regelmässig die niedrigere Cultur von der höheren zuerst deren Laster, Schwächen und Ausschweifungen annimmt, von da aus einen Reiz auf sich ausgeübt fühlt und endlich vermittelst der angeeigneten Laster und Schwächen Etwas von der werthhaltigen Kraft der höheren Cultur mit auf sich überströmen lässt : – das kann man auch in der Nähe und ohne Reisen zu Barbaren-Völkern mit ansehen, freilich etwas verfeinert und vergeistigt und nicht so leicht mit Händen zu greifen. Was pflegen doch die Anhänger S c ho p e n h aue r ’s in Deutschland von ihrem Meister zuerst anzunehmen ? – als welche, im Vergleich zu dessen überlegener Cultur, sich barbarenhaft genug vorkommen müssen, um auch durch ihn zuerst barbarenhaft fascinirt und verführt zu werden. Ist es sein harter Thatsachen-Sinn, sein guter Wille zu Helligkeit und Vernunft, der ihn oft so englisch und so wenig deutsch erscheinen lässt ? Oder die Stärke seines intellectuellen Gewissens, das einen lebenslangen Widerspruch zwischen Sein und Wollen au s h ie lt und ihn dazu zwang, sich auch in seinen Schriften beständig und fast in jedem Puncte zu widersprechen ? Oder seine Reinlichkeit in Dingen der Kirche und des christlichen Gottes ? – denn hierin war er reinlich wie kein deutscher Philosoph bisher, so dass er „als Voltairianer“ lebte und starb. Oder seine unsterblichen Lehren von der Intellec-

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tualität der Anschauung, von der Apriorität des Causalitätsgesetzes, von der Werkzeug-Natur des Intellects und der Unfreiheit des Willens ? Nein, diess Alles bezaubert nicht und wird nicht als bezaubernd gefühlt : aber die mystischen Verlegenheiten und Ausflüchte Schopenhauer’s, an jenen Stellen, wo der Thatsachen-Denker sich vom eitlen | Triebe, der Enträthseler der Welt zu sein, verführen und verderben liess, die unbeweisbare Lehre von E i n e m W i l le n („alle Ursachen sind nur Gelegenheitsursachen der Erscheinung des Willens zu dieser Zeit, an diesem Orte“, „der Wille zum Leben ist in jedem Wesen, auch dem geringsten, ganz und ungetheilt vorhanden, so vollständig, wie in Allen, die je waren, sind und sein werden, zusammengenommen“), die L eu g nu n g d e s I nd i v id uu m s („alle Löwen sind im Grunde nur Ein Löwe“, „die Vielheit der Individuen ist ein Schein“ ; sowie auch die E nt w ic k lu n g nur ein Schein ist : – er nennt den Gedanken de Lamarck’s „einen genialen, absurden Irrthum“), die Schwärmerei vom G e n ie („in der ästhetischen Anschauung ist das Individuum nicht mehr Individuum, sondern reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subject der Erkenntniss“ ; „das Subject, indem es in dem angeschauten Gegenstande ganz aufgeht, ist dieser Gegenstand selbst geworden“), der Unsinn vom M it le id e und der in ihm ermöglichten Durchbrechung des principii individuationis als der Quelle aller Moralität, hinzugerechnet solche Behauptungen „das Sterben ist eigentlich der Zweck des Daseins“, „es lässt sich a priori nicht geradezu die Möglichkeit ableugnen, dass eine magische Wirkung nicht auch sollte von einem bereits Gestorbenen ausgehen können“ : diese und ähnliche Au s s c hwe i f u n g e n und Laster des Philosophen werden immer am ersten angenommen und zur Sache des Glaubens gemacht : – Laster und Ausschweifungen sind nämlich immer am leichtesten nachzuahmen und wollen keine lange Vorübung. Doch reden wir von dem berühmtesten der lebenden Schopenhauerianer, von

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Richard Wagner. – Ihm ist es ergangen, wie es schon | manchem Künstler ergangen ist : er vergriff sich in der Deutung der Gestalten, die er schuf, und verkannte die unausgesprochene Philosophie seiner eigensten Kunst. Richard Wagner hat sich bis in die Mitte seines Lebens durch Hegel irreführen lassen ; er that das Selbe noch einmal, als er später Schopenhauer’s Lehre aus seinen Gestalten herauslas und mit „Wille“, „Genie“ und „Mitleid“ sich selber zu formuliren begann. Trotzdem wird es wahr bleiben : Nichts geht gerade so sehr wider den Geist Schopenhauer’s, als das eigentlich Wagnerische an den Helden Wagner’s : ich meine die Unschuld der höchsten Selbstsucht, der Glaube an die grosse Leidenschaft als an das Gute an sich, mit Einem Worte, das Siegfriedhafte im Antlitze seiner Helden. „Das Alles riecht eher noch nach Spinoza als nach mir“ – würde vielleicht Schopenhauer sagen. So gute Gründe also Wagner hätte, sich gerade nach anderen Philosophen umzusehen als nach Schopenhauer : die Bezauberung, der er in Betreff dieses Denkers unterlegen ist, hat ihn nicht nur gegen alle anderen Philosophen, sondern sogar gegen die Wissenschaft selber blind gemacht ; immer mehr will seine ganze Kunst sich als Seitenstück und Ergänzung der Schopenhauerschen Philosophie geben und immer ausdrücklicher verzichtet sie auf den höheren Ehrgeiz, Seitenstück und Ergänzung der menschlichen Erkenntniss und Wissenschaft zu werden. Und nicht nur reizt ihn dazu der ganze geheimnissvolle Prunk dieser Philosophie, welche auch einen Cagliostro gereizt haben würde : auch die einzelnen Gebärden und die Affecte der Philosophen waren stets Verführer ! Schopenhauerisch ist zum Beispiel Wagner’s Ereiferung über die Verderbniss der deutschen Sprache ; und wenn man hierin | die Nachahmung gut heissen sollte, so darf doch auch nicht verschwiegen werden, dass Wagner’s Stil selber nicht wenig an all den Geschwüren und Geschwülsten krankt, deren Anblick Schopenhauern so wüthend machte, und dass, in Hinsicht auf

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die deutsch schreibenden Wagnerianer, die Wagnerei sich so gefährlich zu erweisen beginnt, als nur irgend eine Hegelei sich erwiesen hat. Schopenhauerisch ist Wagner’s Hass gegen die Juden, denen er selbst in ihrer grössten That nicht gerecht zu werden vermag : die Juden sind ja die Erfi nder des Christenthums ! Schopenhauerisch ist der Versuch Wagner’s, das Christenthum als ein verwehtes Korn des Buddhismus aufzufassen und für Europa, unter zeitweiliger Annäherung an katholisch-christliche Formeln und Empfi ndungen, ein buddhistisches Zeitalter vorzubereiten. Schopenhauerisch ist Wagner’s Predigt zu Gunsten der Barmherzigkeit im Verkehre mit Thieren ; Schopenhauer’s Vorgänger hierin war bekanntlich Voltaire, der vielleicht auch schon, gleich seinen Nachfolgern, seinen Hass gegen gewisse Dinge und Menschen als Barmherzigkeit gegen Thiere zu verkleiden wusste. Wenigstens ist Wagner’s Hass gegen die Wissenschaft, der aus seiner Predigt spricht, gewiss nicht vom Geiste der Mildherzigkeit und Güte eingegeben – noch auch, wie es sich von selber versteht, vom G e i s t e überhaupt. – Zuletzt ist wenig an der Philosophie eines Künstlers gelegen, falls sie eben nur eine nachträgliche Philosophie ist und seiner Kunst selber keinen Schaden thut. Man kann sich nicht genug davor hüten, einem Künstler um einer gelegentlichen, vielleicht sehr unglücklichen und anmaasslichen Maskerade willen gram zu werden ; vergessen wir doch nicht, dass die lieben | Künstler sammt und sonders ein wenig Schauspieler sind und sein müssen und ohne Schauspielerei es schwerlich auf die Länge aushielten. Bleiben wir Wagnern in dem treu, was an ihm w a h r und ursprünglich ist, – und namentlich dadurch, dass wir, seine Jünger, uns selber in dem treu bleiben, was an uns wahr und ursprünglich ist. Lassen wir ihm seine intellectuellen Launen und Krämpfe, erwägen wir vielmehr in Billigkeit, welche seltsamen Nahrungen und Nothdürfte eine Kunst, wie die seine, haben d a r f , um leben und wachsen zu können ! Es liegt Nichts

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daran, dass er als Denker so oft Unrecht hat ; Gerechtigkeit und Geduld sind nicht s e i ne Sache. Genug, dass sein Leben vor sich selber Recht hat und Recht behält : – dieses Leben, welches Jedem von uns zuruft : „Sei ein Mann und folge mir nicht nach, – sondern dir ! Sondern dir !“ Auch u n s e r Leben soll vor uns selber Recht behalten ! Auch wir sollen frei und furchtlos, in unschuldiger Selbstigkeit aus uns selber wachsen und blühen ! Und so klingen mir, bei der Betrachtung eines solchen Menschen, auch heute noch, wie ehedem, diese Sätze an’s Ohr : „dass Leidenschaft besser ist, als Stoicismus und Heuchelei, dass Ehrlich-sein, selbst im Bösen, besser ist, als sich selber an die Sittlichkeit des Herkommens verlieren, dass der freie Mensch sowohl gut als böse sein kann, dass aber der unfreie Mensch eine Schande der Natur ist, und an keinem himmlischen noch irdischen Troste Antheil hat ; endlich dass Jeder, der f rei werden w i l l, es du rc h sic h selber werden muss, und dass Niemandem die Freiheit als ein Wundergeschenk in den Schooss fällt“. (Richard Wagner in Bayreuth S. 94.) | 100. Hu ld i g e n le r ne n . – Auch das Huldigen müssen die Menschen lernen wie das Verachten. Jeder, der auf neuen Bahnen geht und Viele auf neue Bahnen geführt hat, entdeckt mit Staunen, wie ungeschickt und arm diese Vielen im Ausdruck ihrer Dankbarkeit sind, ja wie selten sich überhaupt auch nur die Dankbarkeit äussern k a n n . Es ist als ob ihr immer, wenn sie einmal reden will, Etwas in die Kehle komme, sodass sie sich nur räuspert und im Räuspern wieder verstummt. Die Art, wie ein Denker die Wirkung seiner Gedanken und ihre umbildende und erschütternde Gewalt zu spüren bekommt, ist beinahe eine Komödie ; mitunter hat es das Ansehen, als ob Die, auf welche gewirkt worden ist, sich im Grunde dadurch beleidigt fühlten und ihre, wie sie fürchten, bedrohte Selbständigkeit nur in allerlei Unarten zu äussern wüssten.

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Es bedarf ganzer Geschlechter, um auch nur eine höfliche Convention des Dankes zu erfi nden : und erst sehr spät kommt jener Zeitpunct, wo selbst in die Dankbarkeit eine Art Geist und Genialität gefahren ist : dann ist gewöhnlich auch Einer da, welcher der grosse Dank-Empfänger ist, nicht nur für Das, was er selber Gutes gethan hat, sondern zumeist für Das, was von seinen Vorgängern als ein Schatz des Höchsten und Besten allmählich aufgehäuft worden ist. 101. Volt a i r e. – Ueberall, wo es einen Hof gab, hat er das Gesetz des Gut-Sprechens und damit auch das Gesetz des Stils für alle Schreibenden gegeben. Die höfische Sprache ist aber die Sprache des Höflings, d e r k e i n Fac h h at und der sich selbst in Gesprächen | über wissenschaftliche Dinge alle bequemen technischen Ausdrücke verbietet, weil sie nach dem Fache schmecken, desshalb ist der technische Ausdruck und Alles, was den Specialisten verräth, in den Ländern einer höfischen Cultur ein F le c k e n d e s St i l s . Man ist jetzt, wo alle Höfe Caricaturen von sonst und jetzt geworden sind, erstaunt, selbst Voltaire in diesem Puncte unsäglich spröde und peinlich zu fi nden (zum Beispiel in seinem Urtheil über solche Stilisten, wie Fontenelle und Montesquieu), – wir sind eben alle vom höfischen Geschmack emancipirt, während Voltaire dessen Vol le nd e r war ! 102. E i n Wor t f ü r d ie Ph i lolog e n . – Dass es Bücher giebt, so werthvolle und königliche, dass ganze Gelehrten-Geschlechter gut verwendet sind, wenn durch ihre Mühe diese Bücher rein erhalten und verständlich erhalten werden, – diesen Glauben immer wieder zu befestigen ist die Philologie da. Sie setzt voraus, dass es an jenen seltenen Menschen nicht fehlt (wenn man sie gleich nicht sieht), die so werthvolle Bücher wirklich zu benutzen wissen : – es werden wohl die sein, wel-

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che selber solche Bücher machen oder machen könnten. Ich wollte sagen, die Philologie setzt einen vornehmen Glauben voraus, – dass zu Gunsten einiger Weniger, die immer „kommen werden“ und nicht da sind, eine sehr grosse Menge von peinlicher, selbst unsauberer Arbeit voraus abzuthun sei : es ist Alles Arbeit in usum Delphinorum. 103. Vo n d e r d eut s c he n Mu s i k . – Die deutsche Musik ist jetzt schon desshalb, mehr als jede andere, | die europäische Musik, weil in ihr allein die Veränderung, welche Europa durch die Revolution erfuhr, einen Ausdruck bekommen hat : nur die deutschen Musiker verstehen sich auf den Ausdruck bewegter Volksmassen, auf jenen ungeheuren künstlichen Lärm, der nicht einmal sehr laut zu sein braucht, – während zum Beispiel die italiänische Oper nur Chöre von Bedienten oder Soldaten kennt, aber kein „Volk“. Es kommt hinzu, dass aus aller deutschen Musik eine tiefe bürgerliche Eifersucht auf die noblesse herauszuhören ist, namentlich auf esprit und élégance, als den Ausdruck einer höfischen, ritterlichen, alten, ihrer selber sicheren Gesellschaft. Das ist keine Musik, wie die des Goethischen Sängers vor dem Thore, die auch „im Saale“, und zwar dem Könige wohlgefällt ; da heisst es nicht : „die Ritter schauten muthig drein und in den Schooss die Schönen“. Schon die Grazie tritt nicht ohne Anwandelung von Gewissensbissen in der deutschen Musik auf ; erst bei der Anmuth, der ländlichen Schwester der Grazie, fängt der Deutsche an, sich ganz moralisch zu fühlen – und von da an immer mehr bis hinauf zu seiner schwärmerischen, gelehrten, oft bärbeissigen „Erhabenheit“, der Beethoven’schen Erhabenheit. Will man sich den Menschen zu d ie s e r Musik denken, nun, so denke man sich eben Beethoven, wie er neben Goethe, etwa bei jener Begegnung in Teplitz, erscheint : als die Halbbarbarei neben der Cultur, als Volk neben Adel, als der gutartige

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Mensch neben dem guten und mehr noch als „guten“ Menschen, als der Phantast neben dem Künstler, als der Trostbedürftige neben dem Getrösteten, als der Uebertreiber und Verdächtiger neben dem Billigen, als der Grillenfänger und Selbstquäler, als der | Närrisch-Verzückte, der Selig-Unglückliche, der Treuherzig-Maasslose, als der Anmaassliche und Plumpe – und Alles in Allem als der „ungebändigte Mensch“ : so empfand und bezeichnete ihn Goethe selber, Goethe der Ausnahme-Deutsche, zu dem eine ebenbürtige Musik noch nicht gefunden ist ! – Zuletzt erwäge man noch, ob nicht jene jetzt immer mehr um sich greifende Verachtung der Melodie und Verkümmerung des melodischen Sinnes bei Deutschen als eine demokratische Unart und Nachwirkung der Revolution zu verstehen ist. Die Melodie hat nämlich eine solche offene Lust an der Gesetzlichkeit und einen solchen Widerwillen bei allem Werdenden, Ungeformten, Willkürlichen, dass sie wie ein Klang aus der a lt e n Ordnung der europäischen Dinge und wie eine Verführung und Rückführung zu dieser klingt. 104. Vom K l a n g e d e r d eut s c he n Spr ac he. – Man weiss, woher das Deutsch stammt, welches seit ein paar Jahrhunderten das allgemeine Schriftdeutsch ist. Die Deutschen, mit ihrer Ehrfurcht vor Allem, was vom Hof e kam, haben sich gefl issentlich die Kanzleien zum Muster genommen, in Allem, was sie zu s c h r e i b e n hatten, also namentlich in ihren Briefen, Urkunden, Testamenten und so weiter. Kanzleimässig schreiben, das war hof- und regierungsmässig schreiben, – das war etwas Vornehmes, gegen das Deutsch der Stadt gehalten, in der man gerade lebte. Allmählich zog man den Schluss und sprach auch so, wie man schrieb, – so wurde man noch vornehmer, in den Wortformen, in der Wahl der Worte und Wendungen und zuletzt | auch im Klange : man affectirte einen höfischen Klang, wenn man sprach, und die Affectation

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wurde zuletzt Natur. Vielleicht hat sich etwas ganz Gleiches nirgendswo ereignet : die Uebergewalt des Schreibestils über die Rede und die Ziererei und Vornehmthuerei eines ganzen Volkes als Grundlage einer gemeinsamen nicht mehr dialektischen Sprache. Ich glaube, der Klang der deutschen Sprache war im Mittelalter, und namentlich nach dem Mittelalter, tief bäuerisch und gemein : er hat sich in den letzten Jahrhunderten etwas veredelt, hauptsächlich dadurch, dass man sich genöthigt fand, so viel französische, italiänische und spanische Klänge nachzuahmen und zwar gerade von Seiten des deutschen (und österreichischen) Adels, der mit der Muttersprache sich durchaus nicht begnügen konnte. Aber für Montaigne oder gar Racine muss trotz dieser Uebung Deutsch unerträglich gemein geklungen haben : und selbst jetzt klingt es, im Munde der Reisenden, mitten unter italiänischem Pöbel, noch immer sehr roh, wälderhaft, heiser, wie aus räucherigen Stuben und unhöflichen Gegenden stammend. – Nun bemerke ich, dass jetzt wieder unter den ehemaligen Bewunderern der Kanzleien ein ähnlicher Drang nach Vornehmheit des Klanges um sich greift, und dass die Deutschen einem ganz absonderlichen „Klangzauber“ sich zu fügen anfangen, der auf die Dauer eine wirkliche Gefahr für die deutsche Sprache werden könnte, – denn abscheulichere Klänge sucht man in Europa vergebens. Etwas Höhnisches, Kaltes, Gleichgültiges, Nachlässiges in der Stimme : das klingt jetzt den Deutschen „vornehm“ – und ich höre den guten Willen zu dieser Vornehmheit in den Stimmen der jungen Beamten, Lehrer, Frauen, Kaufleute ; ja | die kleinen Mädchen machen schon dieses Offi zierdeutsch nach. Denn der Offi zier, und zwar der preussische, ist der Erfi nder dieser Klänge : dieser selbe Offi zier, der als Militär und Mann des Fachs jenen bewunderungswürdigen Tact der Bescheidenheit besitzt, an dem die Deutschen allesammt zu lernen hätten (die deutschen Professoren und Musicanten eingerechnet !). Aber sobald er spricht und sich bewegt,

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ist er die unbescheidenste und geschmackwidrigste Figur im alten Europa – sich selber unbewusst, ohne allen Zweifel ! Und auch den guten Deutschen unbewusst, die in ihm den Mann der ersten und vornehmsten Gesellschaft anstaunen und sich gerne „den Ton von ihm angeben“ lassen. Das thut er denn auch ! – und zunächst sind es die Feldwebel und Unteroffiziere, welche seinen Ton nachahmen und vergröbern. Man gebe Acht auf die Commandorufe, von denen die deutschen Städte förmlich umbrüllt werden, jetzt wo man vor allen Thoren exerciert : welche Anmassung, welches wüthende Autoritätsgefühl, welche höhnische Kälte klingt aus diesem Gebrüll heraus ! Sollten die Deutschen wirklich ein musicalisches Volk sein ? – Sicher ist, dass die Deutschen sich jetzt im Klange ihrer Sprache militarisiren : wahrscheinlich ist, dass sie, eingeübt militärisch zu sprechen, endlich auch militärisch schreiben werden. Denn die Gewohnheit an bestimmte Klänge greift tief in den Charakter : – man hat bald die Worte und Wendungen und schliesslich auch die Gedanken, welche eben zu diesem Klange passen ! Vielleicht schreibt man jetzt schon offi ziermässig ; vielleicht lese ich nur zu wenig von dem, was man jetzt in Deutschland schreibt. Aber Eines weiss ich um so sicherer : die öffentlichen deutschen Kund|gebungen, die auch in’s Ausland dringen, sind nicht von der deutschen Musik inspirirt, sondern von eben jenem neuen Klange einer geschmackwidrigen Anmaassung. Fast in jeder Rede des ersten deutschen Staatsmannes und selbst dann, wenn er sich durch sein kaiserliches Sprachrohr vernehmen lässt, ist ein Accent, den das Ohr eines Ausländers mit Widerwillen zurückweist : aber die Deutschen ertragen ihn, – sie ertragen sich selber. 105. D i e D e u t s c h e n a l s K ü n s t l e r. – Wenn der Deutsche ein mal wirklich in Leidenschaft geräth (und nicht nur, wie gewöhnlich, in den guten Willen zur Leidenschaft !), so be-

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nimmt er sich dann in derselben, wie er eben muss, und denkt nicht weiter an sein Benehmen. Die Wahrheit aber ist, dass er sich dann sehr ungeschickt und hässlich und wie ohne Tact und Melodie benimmt, sodass die Zuschauer ihre Pein oder ihre Rührung dabei haben und nicht mehr : – e s s e i d e n n , dass er sich in das Erhabene und Entzückte hinaufhebt, dessen manche Passionen fähig sind. Dann wird sogar der Deutsche s c hö n ! Die Ahnung davon, au f we lc her Höhe erst die Schönheit ihren Zauber selbst über Deutsche ausgiesst, treibt die deutschen Künstler in die Höhe und Ueberhöhe und in die Ausschweifungen der Leidenschaft : ein wirkliches tiefes Verlangen also, über die Hässlichkeit und Ungeschicktheit hinauszukommen, mindestens hinauszublicken – hin nach einer besseren, leichteren, südlicheren, sonnenhafteren Welt. Und so sind ihre Krämpfe oftmals nur Anzeichen dafür, dass sie t a n z e n möchten : diese armen | Bären, in denen versteckte Nymphen und Waldgötter ihr Wesen treiben – und mitunter noch höhere Gottheiten ! 106. Mu s i k a l s F ü r s p r e c h e r i n . – „Ich habe Durst nach einem Meister der Tonkunst, sagte ein Neuerer zu seinem Jünger, dass er mir meine Gedanken ablerne und sie fürderhin in seiner Sprache rede : so werde ich den Menschen besser zu Ohr und Herzen dringen. Mit Tönen kann man die Menschen zu jedem Irrthume und jeder Wahrheit verführen : wer vermöchte einen Ton zu w id e r le g e n ?“ – „Also möchtest du für unwiderlegbar gelten ?“ sagte sein Jünger. Der Neuerer er widerte : „Ich möchte, dass der Keim zum Baume werde. Damit eine Lehre zum Baume werde, muss sie eine gute Zeit geglaubt werden : damit sie geglaubt werde, muss sie für unwiderlegbar gelten. Dem Baume thun Stürme, Zweifel, Gewürm, Bosheit noth, damit er die Art und Kraft seines Keimes offenbar mache ; mag er brechen, wenn er nicht stark genug ist ! Aber ein Keim wird immer nur vernichtet, – nicht wider-

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legt !“ – Als er das gesagt hatte, rief sein Jünger mit Ungestüm : „Aber ich glaube an deine Sache und halte sie für so stark, dass ich Alles, Alles sagen werde, was ich noch gegen sie auf dem Herzen habe“. – Der Neuerer lachte bei sich und drohte ihm mit dem Finger. „Diese Art Jüngerschaft, sagte er dann, ist die beste, aber sie ist gefährlich und nicht jede Art Lehre verträgt sie“. 107. Un s e r e let z t e D a n k b a r k e it g e g e n d ie K u n s t . Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese | Art von Cultus des Unwahren erfunden : so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfi ndenden Daseins –, gar nicht auszuhalten. Die R e d l ic h k e it würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Consequenzen ausweichen hilft : die Kunst, als den g ut e n Willen zum Scheine. Wir verwehren es unserm Auge nicht immer, auszurunden, zu Ende zu dichten : und dann ist es nicht mehr die ewige Unvollkommenheit, die wir über den Fluss des Werdens tragen – dann meinen wir, eine G öt t i n zu tragen und sind stolz und kindlich in dieser Dienstleistung. Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch e r t r ä g l ic h , und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu k ö n ne n . Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, ü b e r uns lachen oder ü b e r uns weinen ; wir müssen den He ld e n und ebenso den Na r r e n entdecken, der in unsrer Leidenschaft der Erkenntniss steckt, wir müssen unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können ! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte

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Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut als die S c he l me n k a p p e : wir brauchen sie vor uns selber – wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um jener Fr e i h e it ü b e r d e n | D i n g e n nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert. Es wäre ein R üc k f a l l für uns, gerade mit unsrer reizbaren Redlichkeit ganz in die Moral zu gerathen und um der überstrengen Anforderungen willen, die wir hierin an uns stellen, gar noch selber zu tugendhaften Ungeheuern und Vogelscheuchen zu werden. Wir sollen auch ü b e r der Moral stehen k ö n ne n : und nicht nur stehen, mit der ängstlichen Steifigkeit eines Solchen, der jeden Augenblick auszugleiten und zu fallen fürchtet, sondern auch über ihr schweben und spielen ! Wie könnten wir dazu der Kunst, wie des Narren entbehren ? – Und so lange ihr euch noch irgendwie vor euch selber s c h ä mt , gehört ihr noch nicht zu uns ! |

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108. Neue K ä m pf e. – Nachdem Buddha todt war, zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in einer Höhle, – einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist todt : aber so wie die Art der Menschen ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen ! 109. Hüt e n w i r u n s ! – Hüten wir uns, zu denken, dass die Welt ein lebendiges Wesen sei. Wohin sollte sie sich ausdehnen ? Wovon sollte sie sich nähren ? Wie könnte sie wachsen und sich vermehren ? Wir wissen ja ungefähr, was das Organische ist : und wir sollten das unsäglich Abgeleitete, Späte, Seltene, Zufällige, das wir nur auf der Kruste der Erde wahrnehmen, zum Wesentlichen, Allgemeinen, Ewigen umdeuten, wie es Jene thun, die das All einen Organismus nennen ? Davor ekelt mir. Hüten wir uns schon davor, zu glauben, dass das All eine Maschine sei ; es ist gewiss nicht auf Ein Ziel construirt, wir thun ihm mit dem Wort „Maschine“ eine viel zu hohe Ehre an. Hüten wir uns, etwas so Formvolles, wie die kyklischen Bewegungen unserer Nachbar-Sterne überhaupt und überall vorauszusetzen ; schon ein Blick in die Milchstrasse lässt Zweifel auftauchen, ob es dort nicht viel rohere und widersprechendere Bewegungen giebt, ebenfalls Sterne mit | ewigen geradlinigen Fallbahnen und dergleichen. Die astrale Ordnung, in der wir leben, ist eine Ausnahme ; diese Ordnung und die ziemliche Dauer, welche durch sie bedingt ist, hat wieder die Ausnahme der Ausnahmen ermöglicht : die Bildung des Organischen. Der Gesammt-Charakter der Welt

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ist dagegen in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Nothwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heissen. Von unserer Vernunft aus geurtheilt, sind die verunglückten Würfe weitaus die Regel, die Ausnahmen sind nicht das geheime Ziel, und das ganze Spielwerk wiederholt ewig seine Weise, die nie eine Melodie heissen darf, – und zuletzt ist selbst das Wort „verunglückter Wurf“ schon eine Vermenschlichung, die einen Tadel in sich schliesst. Aber wie dürften wir das All tadeln oder loben ! Hüten wir uns, ihm Herzlosigkeit und Unvernunft oder deren Gegensätze nachzusagen : es ist weder vollkommen, noch schön, noch edel, und will Nichts von alledem werden, es strebt durchaus nicht darnach, den Menschen nachzuahmen ! Es wird durchaus durch keines unserer ästhetischen und moralischen Urtheile getroffen ! Es hat auch keinen Selbsterhaltungstrieb und überhaupt keine Triebe ; es kennt auch keine Gesetze. Hüten wir uns, zu sagen, dass es Gesetze in der Natur gebe. Es giebt nur Nothwendigkeiten : da ist Keiner, der befiehlt, Keiner, der gehorcht, Keiner, der übertritt. Wenn ihr wisst, dass es keine Zwecke giebt, so wisst ihr auch, dass es keinen Zufall giebt : denn nur neben einer Welt von Zwecken hat das Wort „Zufall“ einen Sinn. Hüten wir uns, zu sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei. Das | Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr seltene Art. – Hüten wir uns, zu denken, die Welt schaffe ewig Neues. Es giebt keine ewig dauerhaften Substanzen ; die Materie ist ein eben solcher Irrthum, wie der Gott der Eleaten. Aber wann werden wir am Ende mit unserer Vorsicht und Obhut sein ! Wann werden uns alle diese Schatten Gottes nicht mehr verdunkeln ? Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben ! Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu ve r n at ü r l ic he n !

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110. Ur s p r u n g d e r E r k e n n t n i s s . – Der Intellect hat ungeheure Zeitstrecken hindurch Nichts als Irrthümer erzeugt ; einige davon ergaben sich als nützlich und arterhaltend : wer auf sie stiess, oder sie vererbt bekam, kämpfte seinen Kampf für sich und seinen Nachwuchs mit grösserem Glücke. Solche irrthümliche Glaubenssätze, die immer weiter vererbt und endlich fast zum menschlichen Art- und Grundbestand wurden, sind zum Beispiel diese : dass es dauernde Dinge gebe, dass es gleiche Dinge gebe, dass es Dinge, Stoffe, Körper gebe, dass ein Ding Das sei, als was es erscheine, dass unser Wollen frei sei, dass was für mich gut ist, auch an und für sich gut sei. Sehr spät erst traten die Leugner und Anzweifler solcher Sätze auf, – sehr spät erst trat die Wahrheit auf, als die unkräftigste Form der Erkenntniss. Es schien, dass man mit ihr nicht zu leben vermöge, unser Organismus war auf ihren Gegensatz eingerichtet ; alle seine höheren Functionen, die Wahrnehmungen der Sinne und jede Art von Em|pfi ndung überhaupt, arbeiteten mit jenen uralt einverleibten Grundirrthümern. Mehr noch : jene Sätze wurden selbst innerhalb der Erkenntniss zu den Normen, nach denen man „wahr“ und „unwahr“ bemass – bis hinein in die entlegensten Gegenden der reinen Logik. Also : die K r a f t der Erkenntnisse liegt nicht in ihrem Grade von Wahrheit, sondern in ihrem Alter, ihrer Einverleibtheit, ihrem Charakter als Lebensbedingung. Wo Leben und Erkennen in Widerspruch zu kommen schienen, ist nie ernstlich gekämpft worden ; da galt Leugnung und Zweifel als Tollheit. Jene Ausnahme-Denker, wie die Eleaten, welche trotzdem die Gegensätze der natürlichen Irrthümer aufstellten und festhielten, glaubten daran, dass es möglich sei, dieses Gegentheil auch zu leb e n : sie erfanden den Weisen als den Menschen der Unveränderlichkeit, Unpersönlichkeit, Universalität der Anschauung, als Eins und Alles zugleich, mit einem eigenen Vermögen für jene umgekehrte Erkenntniss ;

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sie waren des Glaubens, dass ihre Erkenntniss zugleich das Princip des L eb e n s sei. Um diess Alles aber behaupten zu können, mussten sie sich über ihren eigenen Zustand t äus c he n : sie mussten sich Unpersönlichkeit und Dauer ohne Wechsel andichten, das Wesen des Erkennenden verkennen, die Gewalt der Triebe im Erkennen leugnen und überhaupt die Vernunft als völlig freie, sich selbst entsprungene Activität fassen ; sie hielten sich die Augen dafür zu, dass auch sie im Widersprechen gegen das Gültige, oder im Verlangen nach Ruhe oder Alleinbesitz oder Herrschaft zu ihren Sätzen gekommen waren. Die feinere Entwickelung der Redlichkeit und der Skepsis machte endlich auch diese Menschen unmöglich ; auch ihr Leben und Ur|theilen ergab sich als abhängig von den uralten Trieben und Grundirrthümern alles empfi ndenden Daseins. – Jene feinere Redlichkeit und Skepsis hatte überall dort ihre Entstehung, wo zwei entgegengesetzte Sätze auf das Leben a nwe nd b a r erschienen, weil sich beide mit den Grundirrthümern vertrugen, wo also über den höheren oder geringeren Grad des Nut z e n s für das Leben gestritten werden konnte ; ebenfalls dort, wo neue Sätze sich dem Leben zwar nicht nützlich, aber wenigstens auch nicht schädlich zeigten, als Aeusserungen eines intellectuellen Spieltriebes, und unschuldig und glücklich gleich allem Spiele. Allmählich füllte sich das menschliche Gehirn mit solchen Urtheilen und Ueberzeugungen, es entstand in diesem Knäuel Gährung, Kampf und Machtgelüst. Nützlichkeit und Lust nicht nur, sondern jede Art von Trieben nahm Partei in dem Kampfe um die „Wahrheiten“ ; der intellectuelle Kampf wurde Beschäftigung, Reiz, Beruf, Pfl icht, Würde – : das Erkennen und das Streben nach dem Wahren ordnete sich endlich als Bedürfniss in die anderen Bedürfnisse ein. Von da an war nicht nur der Glaube und die Ueberzeugung, sondern auch die Prüfung, die Leugnung, das Misstrauen, der Widerspruch eine M a c ht , alle „bösen“ Instincte waren der Erkenntniss untergeordnet

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und in ihren Dienst gestellt und bekamen den Glanz des Erlaubten, Geehrten, Nützlichen und zuletzt das Auge und die Unschuld des G ut e n . Die Erkenntniss wurde also zu einem Stück Leben selber und als Leben zu einer immerfort wachsenden Macht : bis endlich die Erkenntnisse und jene uralten Grundirrthümer auf einander stiessen, beide als Leben, beide als Macht, beide in dem selben Menschen. Der Denker : | das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrthümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht b ew ie s e n hat. Im Verhältniss zu der Wichtigkeit dieses Kampfes ist alles Andere gleichgültig : die letzte Frage um die Bedingung des Lebens ist hier gestellt, und der erste Versuch wird hier gemacht, mit dem Experiment auf diese Frage zu antworten. Inwieweit verträgt die Wahrheit die Einverleibung ? – das ist die Frage, das ist das Experiment. 111. H e r k u n f t d e s L o g i s c h e n . – Woher ist die Logik im menschlichen Kopfe entstanden ? Gewiss aus der Unlogik, deren Reich ursprünglich ungeheuer gewesen sein muss. Aber unzählig viele Wesen, welche anders schlossen, als wir jetzt schliessen, giengen zu Grunde : es könnte immer noch wahrer gewesen sein ! Wer zum Beispiel das „Gleiche“ nicht oft genug aufzufi nden wusste, in Betreff der Nahrung oder in Betreff der ihm feindlichen Thiere, wer also zu langsam subsumirte, zu vorsichtig in der Subsumption war, hatte nur geringere Wahrscheinlichkeit des Fortlebens als Der, welcher bei allem Aehnlichen sofort auf Gleichheit rieth. Der überwiegende Hang aber, das Aehnliche als gleich zu behandeln, ein unlogischer Hang – denn es giebt an sich nichts Gleiches –, hat erst alle Grundlage der Logik geschaffen. Ebenso musste, damit der Begriff der Substanz entstehe, der unentbehrlich für die Logik ist, ob ihm gleich im strengsten Sinne nichts Wirkliches ent-

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spricht, – lange Zeit das Wechselnde an den Dingen nicht gesehen, nicht empfunden worden | sein ; die nicht genau sehenden Wesen hatten einen Vorsprung vor denen, welche Alles „im Flusse“ sahen. An und für sich ist schon jeder hohe Grad von Vorsicht im Schliessen, jeder skeptische Hang eine grosse Gefahr für das Leben. Es würden keine lebenden Wesen erhalten sein, wenn nicht der entgegengesetzte Hang, lieber zu bejahen als das Urtheil auszusetzen, lieber zu irren und zu dichten als abzuwarten, lieber zuzustimmen als zu verneinen, lieber zu urtheilen als gerecht zu sein – ausserordentlich stark angezüchtet worden wäre. – Der Verlauf logischer Gedanken und Schlüsse in unserem jetzigen Gehirne entspricht einem Processe und Kampfe von Trieben, die an sich einzeln alle sehr unlogisch und ungerecht sind ; wir erfahren gewöhnlich nur das Resultat des Kampfes : so schnell und so versteckt spielt sich jetzt dieser uralte Mechanismus in uns ab. 112. Ur s ac he u nd W i r k u n g. – „Erklärung“ nennen wir’s : aber „Beschreibung“ ist es, was uns vor älteren Stufen der Erkenntniss und Wissenschaft auszeichnet. Wir beschreiben besser, – wir erklären ebenso wenig wie alle Früheren. Wir haben da ein vielfaches Nacheinander aufgedeckt, wo der naive Mensch und Forscher älterer Culturen nur Zweierlei sah, „Ursache“ und „Wirkung“, wie die Rede lautete ; wir haben das Bild des Werdens vervollkommnet, aber sind über das Bild, hinter das Bild nicht hinaus gekommen. Die Reihe der „Ursachen“ steht viel vollständiger in jedem Falle vor uns, wir schliessen : diess und das muss erst vorangehen, damit jenes folge, – aber b e g r i f f e n haben wir damit Nichts. Die Qualität, zum Beispiel bei jedem chemischen | Werden, erscheint nach wie vor als ein „Wunder“, ebenso jede Fortbewegung ; Niemand hat den Stoss „erklärt“. Wie könnten wir auch erklären ! Wir operiren mit lauter Dingen, die es nicht giebt, mit Linien,

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Flächen, Körpern, Atomen, theilbaren Zeiten, theilbaren Räumen –, wie soll Erklärung auch nur möglich sein, wenn wir Alles erst zum Bi ld e machen, zu unserem Bilde ! Es ist genug, die Wissenschaft als möglichst getreue Anmenschlichung der Dinge zu betrachten, wir lernen immer genauer uns selber beschreiben, indem wir die Dinge und ihr Nacheinander beschreiben. Ursache und Wirkung : eine solche Zweiheit giebt es wahrscheinlich nie, – in Wahrheit steht ein Continuum vor uns, von dem wir ein paar Stücke isoliren ; so wie wir eine Bewegung immer nur als isolirte Puncte wahrnehmen, also eigentlich nicht sehen, sondern erschliessen. Die Plötzlichkeit, mit der sich viele Wirkungen abheben, führt uns irre ; es ist aber nur eine Plötzlichkeit für uns. Es giebt eine unendliche Menge von Vorgängen in dieser Secunde der Plötzlichkeit, die uns entgehen. Ein Intellect, der Ursache und Wirkung als Continuum, nicht nach unserer Art als willkürliches Zertheilt- und Zerstücktsein, sähe, der den Fluss des Geschehens sähe, – würde den Begriff Ursache und Wirkung verwerfen und alle Bedingtheit leugnen. 113. Zu r L eh re von den Gi f ten. – Es gehört so viel zusammen, damit ein wissenschaftliches Denken entstehe : und alle diese nöthigen Kräfte haben einzeln erfunden, geübt, gepflegt werden müssen ! In ihrer Vereinzelung haben sie aber sehr häufig eine ganz | andere Wirkung gehabt als jetzt, wo sie innerhalb des wissenschaftlichen Denkens sich gegenseitig beschränken und in Zucht halten : – sie haben als Gifte gewirkt, zum Beispiel der anzweifelnde Trieb, der verneinende Trieb, der abwartende Trieb, der sammelnde Trieb, der auflösende Trieb. Viele Hekatomben von Menschen sind zum Opfer gebracht worden, ehe diese Triebe lernten, ihr Nebeneinander zu begreifen und sich mit einander als Functionen Einer organisirenden Gewalt in Einem Menschen zu fühlen ! Und wie ferne

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sind wir noch davon, dass zum wissenschaftlichen Denken sich auch noch die künstlerischen Kräfte und die practische Weisheit des Lebens hinzufi nden, dass ein höheres organisches System sich bildet, in Bezug auf welches der Gelehrte, der Arzt, der Künstler und der Gesetzgeber, so wie wir jetzt diese kennen, als dürftige Alterthümer erscheinen müssten ! 114. Um f a n g d e s Mor a l i s c he n . – Wir construiren ein neues Bild, das wir sehen, sofort mit Hülfe aller alten Erfahrungen, die wir gemacht haben, je n ac h d e m Gr a d e unserer Redlichkeit und Gerechtigkeit. Es giebt gar keine anderen als moralische Erlebnisse, selbst nicht im Bereiche der Sinneswahrnehmung. 115. D ie v ie r I r r t hü me r. – Der Mensch ist durch seine Irrthümer erzogen worden : er sah sich erstens immer nur unvollständig, zweitens legte er sich erdichtete Eigenschaften bei, drittens fühlte er sich in einer falschen Rangordnung zu Thier und Natur, viertens erfand er immer neue Gütertafeln und nahm sie | eine Zeit lang als ewig und unbedingt, sodass bald dieser, bald jener menschliche Trieb und Zustand an der ersten Stelle stand und in Folge dieser Schätzung veredelt wurde. Rechnet man die Wirkung dieser vier Irrthümer weg, so hat man auch Humanität, Menschlichkeit und „Menschenwürde“ hinweggerechnet. 116. He e r d e n - I n s t i nc t . – Wo wir eine Moral antreffen, da fi nden wir eine Abschätzung und Rangordnung der menschlichen Triebe und Handlungen. Diese Schätzungen und Rangordnungen sind immer der Ausdruck der Bedürfnisse einer Gemeinde und Heerde : Das, was i h r am ersten frommt – und am zweiten und dritten –, das ist auch der oberste Maassstab für den Werth aller Einzelnen. Mit der Moral wird der Ein-

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zelne angeleitet, Function der Heerde zu sein und nur als Function sich Werth zuzuschreiben. Da die Bedingungen der Erhaltung einer Gemeinde sehr verschieden von denen einer anderen Gemeinde gewesen sind, so gab es sehr verschiedene Moralen ; und in Hinsicht auf noch bevorstehende wesentliche Umgestaltungen der Heerden und Gemeinden, Staaten und Gesellschaften kann man prophezeien, dass es noch sehr abweichende Moralen geben wird. Moralität ist HeerdenInstinct im Einzelnen. 117. He e r d e n - G ew i s s e n s b i s s . – In den längsten und fernsten Zeiten der Menschheit gab es einen ganz anderen Gewissensbiss als heut zu Tage. Heute fühlt man sich nur verantwortlich für Das, was man will und thut, und hat in sich selber seinen Stolz : alle unsere Rechts|lehrer gehen von diesem Selbst- und Lustgefühle des Einzelnen aus, wie als ob hier von jeher die Quelle des Rechts entsprungen sei. Aber die längste Zeit der Menschheit hindurch gab es nichts Fürchterlicheres, als sich einzeln zu fühlen. Allein sein, einzeln empfi nden, weder gehorchen noch herrschen, ein Individuum bedeuten – das war damals keine Lust, sondern eine Strafe ; man wurde verurtheilt „zum Individuum“. Gedankenfreiheit galt als das Unbehagen selber. Während wir Gesetz und Einordnung als Zwang und Einbusse empfi nden, empfand man ehedem den Egoismus als eine peinliche Sache, als eine eigentliche Noth. Selbst sein, sich selber nach eigenem Maass und Gewicht schätzen – das gieng damals wider den Geschmack. Die Neigung dazu würde als Wahnsinn empfunden worden sein : denn mit dem Alleinsein war jedes Elend und jede Furcht verknüpft. Damals hatte der „freie Wille“ das böse Gewissen in seiner nächsten Nachbarschaft : und je unfreier man handelte, je mehr der Heerden-Instinct und nicht der persönliche Sinn aus der Handlung sprach, um so moralischer schätzte man sich. Alles, was der Heerde Schaden that, sei es, dass der

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Einzelne es gewollt oder nicht gewollt hatte, machte damals dem Einzelnen Gewissensbisse – und seinem Nachbar noch dazu, ja der ganzen Heerde ! – Darin haben wir am allermeisten umgelernt. 118. Woh lwol le n . – Ist es tugendhaft, wenn eine Zelle sich in die Function einer stärkeren Zelle verwandelt ? Sie muss es. Und ist es böse, wenn die stärkere jene sich assimilirt ? Sie muss es ebenfalls ; so ist | es für sie nothwendig, denn sie strebt nach überreichlichem Ersatz und will sich regeneriren. Demnach hat man im Wohlwollen zu unterscheiden : den Aneignungstrieb und den Unterwerfungstrieb, je nachdem der Stärkere oder der Schwächere Wohlwollen empfi ndet. Freude und Begehren sind bei dem Stärkeren, der Etwas zu seiner Function umbilden will, beisammen : Freude und Begehrtwerdenwollen bei dem Schwächeren, der Function werden möchte. – Mitleid ist wesentlich das Erstere, eine angenehme Regung des Aneignungstriebes, beim Anblick des Schwächeren : wobei noch zu bedenken ist, dass „stark“ und „schwach“ relative Begriffe sind. 119. K e i n A lt r u i s mu s ! – Ich sehe an vielen Menschen eine überschüssige Kraft und Lust, Function sein zu wollen ; sie drängen sich dorthin und haben die feinste Witterung für alle jene Stellen, wo gerade s i e Function sein können. Dahin gehören jene Frauen, die sich in die Function eines Mannes verwandeln, welche an ihm gerade schwach entwickelt ist, und dergestalt zu seinem Geldbeutel oder zu seiner Politik oder zu seiner Geselligkeit werden. Solche Wesen erhalten sich selber am besten, wenn sie sich in einen fremden Organismus einfügen ; gelingt es ihnen nicht, so werden sie ärgerlich, gereizt und fressen sich selber auf.

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120. G e s u nd heit d er S ee le. – Die beliebte medicinische Moralformel (deren Urheber Ariston von Chios ist) : „Tugend ist die Gesundheit der Seele“ – müsste wenigstens, um brauchbar zu sein, dahin abgeändert | werden : „deine Tugend ist die Gesundheit deiner Seele“. Denn eine Gesundheit an sich giebt es nicht, und alle Versuche, ein Ding derart zu defi niren, sind kläglich missrathen. Es kommt auf dein Ziel, deinen Horizont, deine Kräfte, deine Antriebe, deine Irrthümer und namentlich auf die Ideale und Phantasmen deiner Seele an, um zu bestimmen, w a s selbst für deinen L e i b Gesundheit zu bedeuten habe. Somit giebt es unzählige Gesundheiten des Leibes ; und je mehr man dem Einzelnen und Unvergleichlichen wieder erlaubt, sein Haupt zu erheben, je mehr man das Dogma von der „Gleichheit der Menschen“ verlernt, um so mehr muss auch der Begriff einer Normal-Gesundheit, nebst Normal-Diät, Normal-Verlauf der Erkrankung unsern Medicinern abhanden kommen. Und dann erst dürfte es an der Zeit sein, über Gesundheit und Krankheit der S e e le nachzudenken und die eigenthümliche Tugend eines Jeden in deren Gesundheit zu setzen : welche freilich bei dem Einen so aussehen könnte wie der Gegensatz der Gesundheit bei einem Anderen. Zuletzt bliebe noch die grosse Frage offen, ob wir der Erkrankung e nt b e h r e n könnten, selbst zur Entwickelung unserer Tugend, und ob nicht namentlich unser Durst nach Erkenntniss und Selbsterkenntniss der kranken Seele so gut bedürfe als der gesunden : kurz, ob nicht der alleinige Wille zur Gesundheit ein Vorurtheil, eine Feigheit und vielleicht ein Stück feinster Barbarei und Rückständigkeit sei. 121. D a s L eb e n k e i n A r g u me nt . – Wir haben uns eine Welt zurecht gemacht, in der wir leben können – mit der Annahme von Körpern, Linien, Flächen, | Ursachen und Wirkungen,

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Bewegung und Ruhe, Gestalt und Inhalt : ohne diese Glaubensartikel hielte es jetzt Keiner aus zu leben ! Aber damit sind sie noch nichts Bewiesenes. Das Leben ist kein Argument ; unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein. 122. D ie mor a l i sc he Sk eps i s i m C h r i stent hu m. – Auch das Christenthum hat einen grossen Beitrag zur Aufklärung gegeben : und lehrte die moralische Skepsis auf eine sehr eindringliche und wirksame Weise : anklagend, verbitternd, aber mit unermüdlicher Geduld und Feinheit : es vernichtete in jedem einzelnen Menschen den Glauben an seine „Tugenden“ : es liess für immer jene grossen Tugendhaften von der Erde verschwinden, an denen das Alterthum nicht arm war, jene populären Menschen, die im Glauben an ihre Vollendung mit der Würde eines Stiergefechtshelden umherzogen. Wenn wir jetzt, erzogen in dieser christlichen Schule der Skepsis, die moralischen Bücher der Alten, zum Beispiel Seneca’s und Epiktet’s, lesen, so fühlen wir eine kurzweilige Ueberlegenheit und sind voller geheimer Einblicke und Ueberblicke, es ist uns dabei zu Muthe, als ob ein Kind vor einem alten Manne oder eine junge schöne Begeisterte vor La Rochefoucauld redete : wir kennen Das, was Tugend ist, besser ! Zuletzt haben wir aber diese selbe Skepsis auch auf alle r e l i g iö s e n Zustände und Vorgänge, wie Sünde, Reue, Gnade, Heiligung, angewendet und den Wurm so gut graben lassen, dass wir nun auch beim Lesen aller christlichen Bücher das selbe Gefühl der feinen Ueberlegenheit und Einsicht haben : – wir kennen auch die religiösen Gefühle besser ! | Und es ist Zeit, sie gut zu kennen und gut zu beschreiben, denn auch die Frommen des alten Glaubens sterben aus : – retten wir ihr Abbild und ihren Typus wenigstens für die Erkenntniss !

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123. D ie Erk e n nt n i s s me h r, a l s e i n M it t e l . – Auch oh ne diese neue Leidenschaft – ich meine die Leidenschaft der Erkenntniss – würde die Wissenschaft gefördert werden : die Wissenschaft ist ohne sie bisher gewachsen und gross geworden. Der gute Glaube an die Wissenschaft, das ihr günstige Vorurtheil, von dem unsere Staaten jetzt beherrscht sind (ehedem war es sogar die Kirche), ruht im Grunde darauf, dass jener unbedingte Hang und Drang sich so selten in ihr offenbart hat, und dass Wissenschaft eben n ic ht als Leidenschaft, sondern als Zustand und „Ethos“ gilt. Ja, es genügt oft schon amour-plaisir der Erkenntniss (Neugierde), es genügt amourvanité, Gewöhnung an sie, mit der Hinterabsicht auf Ehre und Brod, es genügt selbst für Viele, dass sie mit einem Ueberschuss von Musse Nichts anzufangen wissen als lesen, sammeln, ordnen, beobachten, weiter erzählen : ihr „wissenschaftlicher Trieb“ ist ihre Langeweile. Der Papst Leo der Zehnte hat einmal (im Breve an Beroaldus) das Lob der Wissenschaft gesungen : er bezeichnet sie als den schönsten Schmuck und den grössten Stolz unseres Lebens, als eine edle Beschäftigung in Glück und Unglück ; „ohne sie, sagt er endlich, wäre alles menschliche Unternehmen ohne festen Halt, – auch mit ihr ist es ja noch veränderlich und unsicher genug !“ Aber dieser leidlich skeptische Papst verschweigt, wie alle anderen kirch|lichen Lobredner der Wissenschaft, sein letztes Urtheil über sie. Mag man nun aus seinen Worten heraushören, was für einen solchen Freund der Kunst merkwürdig genug ist, dass er die Wissenschaft über die Kunst stellt ; zuletzt ist es doch nur eine Artigkeit, wenn er hier nicht von dem redet, was auch er hoch über alle Wissenschaft stellt : von der „geoffenbarten Wahrheit“ und von dem „ewigen Heil der Seele“, – was sind ihm dagegen Schmuck, Stolz, Unterhaltung, Sicherung des Lebens ! „Die Wissenschaft ist Etwas von zweitem Range, nichts Letztes, Unbedingtes, kein Gegenstand der

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Passion“, – diess Urtheil blieb in der Seele Leo’s zurück : das eigentlich christliche Urtheil über die Wissenschaft ! Im Alterthum war ihre Würde und Anerkennung dadurch verringert, dass selbst unter ihren eifrigsten Jüngern das Streben nach der Tu g e nd voranstand, und dass man der Erkenntniss schon ihr höchstes Lob gegeben zu haben glaubte, wenn man sie als das beste Mittel der Tugend feierte. Es ist etwas Neues in der Geschichte, dass die Erkenntniss mehr sein will, als ein Mittel. 124. I m Hor i z o nt d e s Une nd l ic he n . – Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen ! Wir haben die Brücke hinter uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen ! Nun, Schifflein ! sieh’ dich vor ! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlich|keit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stösst ! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr Fr e i he it gewesen wäre, – und es giebt kein „Land“ mehr ! 125. D e r t ol le Me n s c h . – Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie : „Ich suche Gott ! Ich suche Gott !“ – Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter. Ist er denn verloren gegangen ? sagte der Eine. Hat er sich verlaufen wie ein Kind ? sagte der Andere. Oder hält er sich versteckt ? Fürchtet er sich vor uns ? Ist er zu Schiff gegangen ? ausgewandert ? – so schrieen und lachten sie durcheinander. Der tolle Mensch sprang mitten unter

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sie und durchbohrte sie mit seinen Blicken. „Wohin ist Gott ? rief er, ich will es euch sagen ! W i r h a b e n i h n g et ö d t et , – ihr und ich ! Wir Alle sind seine Mörder ! Aber wie haben wir diess gemacht ? Wie vermochten wir das Meer auszutrinken ? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen ? Was thaten wir, als wir diese Erde von ihrer Sonne losketteten ? Wohin bewegt sie sich nun ? Wohin bewegen wir uns ? Fort von allen Sonnen ? Stürzen wir nicht fortwährend ? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen Seiten ? Giebt es noch ein Oben und ein Unten ? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts ? Haucht uns nicht der leere Raum an ? Ist es nicht kälter geworden ? Kommt nicht immerfort die Nacht und mehr Nacht ? | Müssen nicht Laternen am Vormittage angezündet werden ? Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben ? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung ? – auch Götter ver wesen ! Gott ist todt ! Gott bleibt todt ! Und wir haben ihn getödtet ! Wie trösten wir uns, die Mörder aller Mörder ? Das Heiligste und Mächtigste, was die Welt bisher besass, es ist unter unseren Messern verblutet, – wer wischt diess Blut von uns ab ? Mit welchem Wasser könnten wir uns reinigen ? Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfi nden müssen ? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns ? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen ? Es gab nie eine grössere That, – und wer nur immer nach uns geboren wird, gehört um dieser That willen in eine höhere Geschichte, als alle Geschichte bisher war !“ – Hier schwieg der tolle Mensch und sah wieder seine Zuhörer an : auch sie schwiegen und blickten befremdet auf ihn. Endlich warf er seine Laterne auf den Boden, dass sie in Stücke sprang und erlosch. „Ich komme zu früh, sagte er dann, ich bin noch nicht an der Zeit. Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brau-

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chen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Thaten brauchen Zeit, auch nachdem sie gethan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese That ist ihnen immer noch ferner, als die fernsten Gestirne, – u nd d o c h h a b e n s ie d ie s e l b e g et h a n !“ – Man erzählt noch, dass der tolle Mensch des selbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo | angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur diess entgegnet : „Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind ?“ – 126. My s t i s c he E r k l ä r u n g e n . – Die mystischen Erklärungen gelten für tief ; die Wahrheit ist, dass sie noch nicht einmal oberflächlich sind. 127. Na c hw i r k u n g d e r ä lt e s t e n R e l i g io s it ät . – Jeder Gedankenlose meint, der Wille sei das allein Wirkende ; Wollen sei etwas Einfaches, schlechthin Gegebenes, Unableitbares, An-sich-Verständliches. Er ist überzeugt, wenn er Etwas thut, zum Beispiel einen Schlag ausführt, e r sei es, der da schlage, und er habe geschlagen, weil er schlagen wol lt e. Er merkt gar Nichts von einem Problem daran, sondern das Gefühl des W i l le n s genügt ihm, nicht nur zur Annahme von Ursache und Wirkung, sondern auch zum Glauben, ihr Verhältniss zu ve r s t e he n . Von dem Mechanismus des Geschehens und der hundertfältigen feinen Arbeit, die abgethan werden muss, damit es zu dem Schlage komme, ebenso von der Unfähigkeit des Willens an sich, auch nur den geringsten Theil dieser Arbeit zu thun, weiss er Nichts. Der Wille ist ihm eine magisch wirkende Kraft : der Glaube an den Willen, als an die Ursache von Wirkungen, ist der Glaube an magisch wirkende Kräfte. Nun hat ursprünglich der Mensch überall, wo er ein Geschehen sah, einen Willen als Ursache und persönlich wollende

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Wesen im Hintergrunde wirkend geglaubt, – der Be|griff der Mechanik lag ihm ganz ferne. Weil aber der Mensch ungeheure Zeiten lang nur an Personen geglaubt hat (und nicht an Stoffe, Kräfte, Sachen und so weiter), ist ihm der Glaube an Ursache und Wirkung zum Grundglauben geworden, den er überall, wo Etwas geschieht, verwendet, – auch jetzt noch instinctiv und als ein Stück Atavismus ältester Abkunft. Die Sätze „keine Wirkung ohne Ursache“, „jede Wirkung wieder Ursache“ erscheinen als Verallgemeinerungen viel engerer Sätze : „wo gewirkt wird, da ist gewollt worden“, „es kann nur auf wollende Wesen gewirkt werden“, „es giebt nie ein reines, folgenloses Erleiden einer Wirkung, sondern alles Erleiden ist eine Erregung des Willens“ (zur That, Abwehr, Rache, Vergeltung), – aber in den Urzeiten der Menschheit waren diese und jene Sätze identisch, die ersten nicht Verallgemeinerungen der zweiten, sondern die zweiten Erläuterungen der ersten. – Schopenhauer, mit seiner Annahme, dass Alles, was da sei, nur etwas Wollendes sei, hat eine uralte Mythologie auf den Thron gehoben ; er scheint nie eine Analyse des Willens versucht zu haben, weil er an die Einfachheit und Unmittelbarkeit alles Wollens g l au bt e, gleich Jedermann : – während Wollen nur ein so gut eingespielter Mechanismus ist, dass er dem beobachtenden Auge fast entläuft. Ihm gegenüber stelle ich diese Sätze auf : erstens, damit Wille entstehe, ist eine Vorstellung von Lust und Unlust nöthig. Zweitens : dass ein heftiger Reiz als Lust oder Unlust empfunden werde, das ist die Sache des i nt e r p r et i r e nd e n Intellects, der freilich zumeist dabei uns unbewusst arbeitet ; und ein und derselbe Reiz k a n n als Lust oder Unlust interpretirt werden. Drittens : nur bei den in|tellectuellen Wesen giebt es Lust, Unlust und Wille ; die ungeheure Mehrzahl der Organismen hat Nichts davon.

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128. D e r We r t h d e s G eb et e s . – Das Gebet ist für solche Menschen erfunden, welche eigentlich nie von sich aus Gedanken haben und denen eine Erhebung der Seele unbekannt ist oder unbemerkt verläuft : was sollen Diese an heiligen Stätten und in allen wichtigen Lagen des Lebens, welche Ruhe und eine Art Würde erfordern ? Damit sie wenigstens nicht s t ö r e n , hat die Weisheit aller Religionsstifter, der kleinen wie der grossen, ihnen die Formel des Gebetes anbefohlen, als eine lange mechanische Arbeit der Lippen, verbunden mit Anstrengung des Gedächtnisses und mit einer gleichen festgesetzten Haltung von Händen und Füssen und Augen ! Da mögen sie nun gleich den Tibetanern ihr „om mane padme hum“ unzählige Male wiederkäuen, oder, wie in Benares, den Namen des Gottes Ram-Ram-Ram (und so weiter mit oder ohne Grazie) an den Fingern abzählen : oder den Wischnu mit seinen tausend, den Allah mit seinen neunundneunzig Anrufnamen ehren : oder sie mögen sich der Gebetmühlen und der Rosenkränze bedienen, – die Hauptsache ist, dass sie mit dieser Arbeit für eine Zeit festgemacht sind und einen erträglichen Anblick gewähren : ihre Art Gebet ist zum Vortheil der Frommen erfunden, welche Gedanken und Erhebungen von sich aus kennen. Und selbst Diese haben ihre müden Stunden, wo ihnen eine Reihe ehrwürdiger Worte und Klänge und eine fromme Mechanik wohlthut. Aber angenommen, dass diese seltenen Menschen – in jeder Religion ist der religiöse Mensch | eine Ausnahme – sich zu helfen wissen : jene Armen im Geiste wissen sich nicht zu helfen, und ihnen das GebetsGeklapper verbieten heisst ihnen ihre Religion nehmen : wie es der Protestantismus mehr und mehr an den Tag bringt. Die Religion will von Solchen eben nicht mehr, als dass sie R u he h a lt e n , mit Augen, Händen, Beinen und Organen aller Art : dadurch werden sie zeitweilig verschönert und – menschenähnlicher !

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129. D ie B ed i n g u n g e n G ot t e s. – „Gott selber kann nicht ohne weise Menschen bestehen“ – hat Luther gesagt und mit gutem Rechte ; aber „Gott kann noch weniger ohne unweise Menschen bestehen“ – das hat der gute Luther nicht gesagt ! 130. E i n g e f ä h r l i c h e r E n t s c h l u s s . – Der christliche Entschluss, die Welt hässlich und schlecht zu fi nden, hat die Welt hässlich und schlecht gemacht. 131. C h r i s t e nt hu m u n d S e l b s t mo r d . – Das Christenthum hat das zur Zeit seiner Entstehung ungeheure Verlangen nach dem Selbstmorde zu einem Hebel seiner Macht gemacht : es liess nur zwei Formen des Selbstmordes übrig, umkleidete sie mit der höchsten Würde und den höchsten Hoff nungen und verbot alle anderen auf eine furchtbare Weise. Aber das Martyrium und die langsame Selbstentleibung des Asketen waren erlaubt. | 132. G e g e n d a s C h r i s t e nt hu m . – Jetzt entscheidet unser Geschmack gegen das Christenthum, nicht mehr unsere Gründe. 133. Gr u nd sat z. – Eine unvermeidliche Hypothese, auf welche die Menschheit immer wieder verfallen muss, ist auf die Dauer doch m ä c h t i g e r, als der bestgeglaubte Glaube an etwas Unwahres (gleich dem christlichen Glauben). Auf die Dauer : das heisst hier auf hunderttausend Jahre hin. 134. D ie Pe s s i m i s t e n a l s O pf e r. – Wo eine tiefe Unlust am Dasein überhand nimmt, kommen die Nachwirkungen eines

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grossen Diätfehlers, dessen sich ein Volk lange schuldig gemacht hat, an’s Licht. So ist die Verbreitung des Buddhismus (n ic ht seine Entstehung) zu einem guten Theile abhängig von der übermässigen und fast ausschliesslichen Reiskost der Inder und der dadurch bedingten allgemeinen Erschlaff ung. Vielleicht ist die europäische Unzufriedenheit der neuen Zeit daraufhin anzusehen, dass unsere Vorwelt, das ganze Mittelalter, Dank den Einwirkungen der germanischen Neigungen auf Europa, dem Trunk ergeben war : Mittelalter, das heisst die Alkoholvergiftung Europa’s. – Die deutsche Unlust am Leben ist wesentlich Wintersiechthum, eingerechnet die Wirkungen der Kellerluft und des Ofengiftes in deutschen Wohnräumen. 135. Herk u n f t der Sü nde. – Sünde, so wie sie jetzt überall empfunden wird, wo das Christenthum herrscht | oder einmal geherrscht hat : Sünde ist ein jüdisches Gefühl und eine jüdische Erfi ndung, und in Hinsicht auf diesen Hintergrund aller christlichen Moralität war in der That das Christenthum darauf aus, die ganze Welt zu „verjüdeln“. Bis zu welchem Grade ihm diess in Europa gelungen ist, das spürt man am feinsten an dem Grade von Fremdheit, den das griechische Alterthum – eine Welt ohne Sündengefühle – immer noch für unsere Empfi ndung hat, trotz allem guten Willen zur Annäherung und Einverleibung, an dem es ganze Geschlechter und viele ausgezeichnete Einzelne nicht haben fehlen lassen. „Nur wenn du b e r eue s t , ist Gott dir gnädig“ – das ist einem Griechen ein Gelächter und ein Aergerniss : er würde sagen „so mögen Sclaven empfi nden“. Hier ist ein Mächtiger, Uebermächtiger und doch Rachelustiger vorausgesetzt : seine Macht ist so gross, dass ihm ein Schaden überhaupt nicht zugefügt werden kann, ausser in dem Puncte der Ehre. Jede Sünde ist eine Respects-Verletzung, ein crimen laesae majestatis divinae – und Nichts weiter ! Zerknirschung, Entwürdigung, Sich-

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im-Staube-wälzen – das ist die erste und letzte Bedingung, an die seine Gnade sich knüpft : Wiederherstellung also seiner göttlichen Ehre ! Ob mit der Sünde sonst Schaden gestiftet wird, ob ein tiefes wachsendes Unheil mit ihr gepflanzt ist, das einen Menschen nach dem andern wie eine Krankheit fasst und würgt – das lässt diesen ehrsüchtigen Orientalen im Himmel unbekümmert : Sünde ist ein Vergehen an ihm, nicht an der Menschheit ! – wem er seine Gnade geschenkt hat, dem schenkt er auch diese Unbekümmertheit um die natürlichen Folgen der Sünde. Gott und Menschheit sind hier so getrennt, so entgegen|gesetzt gedacht, dass im Grunde an letzterer überhaupt nicht gesündigt werden kann, – jede That soll nu r au f i h r e üb er n at ü rl ic he n Fol g e n h i n angesehen werden : nicht auf ihre natürlichen : so will es das jüdische Gefühl, dem alles Natürliche das Unwürdige an sich ist. Den Griechen dagegen lag der Gedanke näher, dass auch der Frevel Würde haben könne – selbst der Diebstahl, wie bei Prometheus, selbst die Abschlachtung von Vieh als Aeusserung eines wahnsinnigen Neides, wie bei Ajax : sie haben in ihrem Bedürfniss, dem Frevel Würde anzudichten und einzuverleiben, die Tr a g ö d ie erfunden, – eine Kunst und eine Lust, die dem Juden, trotz aller seiner dichterischen Begabung und Neigung zum Erhabenen, im tiefsten Wesen fremd geblieben ist. 136. D a s au s e r w ä h lt e Vol k . – Die Juden, die sich als das auser wählte Volk unter den Völkern fühlen, und zwar weil sie das moralische Genie unter den Völkern sind (vermöge der Fähigkeit, dass sie den Menschen in sich t iefer ver ac htet h aben , als irgend ein Volk) – die Juden haben an ihrem göttlichen Monarchen und Heiligen einen ähnlichen Genuss wie der war, welchen der französische Adel an Ludwig dem Vierzehnten hatte. Dieser Adel hatte sich alle seine Macht und Selbstherrlichkeit nehmen lassen und war verächtlich

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geworden : um diess nicht zu fühlen, um diess vergessen zu können, bedurfte es eines königlichen Glanzes, einer königlichen Autorität und Machtfülle oh ne G le ic he n , zu der nur dem Adel der Zugang offen stand. Indem man gemäss diesem Vorrecht sich zur Höhe des Hofes erhob und von da aus blikkend Alles unter sich, Alles | verächtlich sah, kam man über alle Reizbarkeit des Gewissens hinaus. So thürmte man absichtlich den Thurm der königlichen Macht immer mehr in die Wolken hinein und setzte die letzten Bausteine der eigenen Macht daran. 137. I m G le ic h n i s s g e s p r o c he n . – Ein Jesus Christus war nur in einer jüdischen Landschaft möglich – ich meine in einer solchen, über der fortwährend die düstere und erhabene Gewitterwolke des zürnenden Jehovah hieng. Hier allein wurde das seltene plötzliche Hindurchleuchten eines einzelnen Sonnenstrahls durch die grauenhafte allgemeine und andauernde Tag-Nacht wie ein Wunder der „Liebe“ empfunden, als der Strahl der unverdientesten „Gnade“. Hier allein konnte Christus seinen Regenbogen und seine Himmelsleiter träumen, auf der Gott zu den Menschen hinabstieg ; überall sonst galt das helle Wetter und die Sonne zu sehr als Regel und Alltäglichkeit. 138. D e r I r r t hu m C h r i s t i . – Der Stifter des Christenthums meinte, an Nichts litten die Menschen so sehr, als an ihren Sünden : – es war sein Irrthum, der Irrthum Dessen, der sich ohne Sünde fühlte, dem es hierin an Erfahrung gebrach ! So füllte sich seine Seele mit jenem wundervollen phantastischen Erbarmen, das einer Noth galt, welche selbst bei seinem Volke, dem Erfi nder der Sünde, selten eine grosse Noth war ! – Aber die Christen haben es verstanden, ihrem Meister nachträglich Recht zu schaffen und seinen Irrthum zur „Wahrheit“ zu heiligen. |

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139. Fa r b e d e r L e i d e n s c h a f t e n . – Solche Naturen, wie die des Apostel Paulus, haben für die Leidenschaften einen bösen Blick ; sie lernen von ihnen nur das Schmutzige, Entstellende und Herzbrechende kennen, – ihr idealer Drang geht daher auf Vernichtung der Leidenschaften aus : im Göttlichen sehen sie die völlige Reinheit davon. Ganz anders, als Paulus und die Juden, haben die Griechen ihren idealen Drang gerade auf die Leidenschaften gewendet und diese geliebt, gehoben, vergoldet und vergöttlicht ; offenbar fühlten sie sich in der Leidenschaft nicht nur glücklicher, sondern auch reiner und göttlicher, als sonst. – Und nun die Christen ? Wollten sie hierin zu Juden werden ? Sind sie es vielleicht geworden ? 140. Zu j ü d i s c h . – Wenn Gott ein Gegenstand der Liebe werden wollte, so hätte er sich zuerst des Richtens und der Gerechtigkeit begeben müssen : – ein Richter, und selbst ein gnädiger Richter, ist kein Gegenstand der Liebe. Der Stifter des Christenthums empfand hierin nicht fein genug, – als Jude. 141. Zu or ie nt a l i s c h . – Wie ? Ein Gott, der die Menschen liebt, vorausgesetzt, dass sie an ihn glauben, und der fürchterliche Blicke und Drohungen gegen Den schleudert, der nicht an diese Liebe glaubt ! Wie ? eine verclausulirte Liebe als die Empfi ndung eines allmächtigen Gottes ! Eine Liebe, die nicht einmal über das Gefühl der Ehre und der gereizten Rachsucht Herr geworden ist ! Wie orientalisch ist das Alles ! „Wenn | ich dich liebe, was geht’s dich an ?“ ist schon eine ausreichende Kritik des ganzen Christenthums.

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142. R äuc he r we r k . – Buddha sagt : „schmeichle deinem Wohlthäter nicht !“ Man spreche diesen Spruch nach in einer christlichen Kirche : – er reinigt sofort die Luft von allem Christlichen. 143. G r ö s s t e r Nut z e n d e s Pol y t h e i s mu s . – Dass der Einzelne sich sein e i g e ne s Ideal aufstelle und aus ihm sein Gesetz, seine Freuden und seine Rechte ableite – das galt wohl bisher als die ungeheuerlichste aller menschlichen Verirrungen und als die Abgötterei an sich ; in der That haben die Wenigen, die diess wagten, immer vor sich selber eine Apologie nöthig gehabt, und diese lautete gewöhnlich : „nicht ich ! nicht ich ! sondern e i n G ot t durch mich !“ Die wundervolle Kunst und Kraft, Götter zu schaffen – der Polytheismus – war es, in der dieser Trieb sich entladen durfte, in der er sich reinigte, vervollkommnete, veredelte : denn ursprünglich war es ein gemeiner und unansehnlicher Trieb, verwandt dem Eigensinn, dem Ungehorsame und dem Neide. Diesem Triebe zum eigenen Ideale f e i nd sein : das war ehemals das Gesetz jeder Sittlichkeit. Da gab es nur Eine Norm : „d e r Mensch“ – und jedes Volk glaubte diese Eine und letzte Norm zu h a b e n . Aber über sich und ausser sich, in einer fernen Ueberwelt, durfte man eine Me h r z a h l vo n Nor me n sehen : der eine Gott war nicht die Leugnung oder Lästerung des anderen Gottes ! Hier erlaubte man sich | zuerst Individuen, hier ehrte man zuerst das Recht von Individuen. Die Erfi ndung von Göttern, Heroen und Uebermenschen aller Art, sowie von Nebenund Untermenschen, von Zwergen, Feen, Centauren, Satyrn, Dämonen und Teufeln, war die unschätzbare Vorübung zur Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des Einzelnen : die Freiheit, welche man dem Gotte gegen die anderen Götter gewährte, gab man zuletzt sich selber gegen Gesetze und Sitten und Nachbarn. Der Monotheismus dagegen,

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diese starre Consequenz der Lehre von Einem Normalmenschen – also der Glaube an einen Normalgott, neben dem es nur noch falsche Lügengötter giebt – war vielleicht die grösste Gefahr der bisherigen Menschheit : da drohte ihr jener vorzeitige Stillstand, welchen, soweit wir sehen können, die meisten anderen Thiergattungen schon längst erreicht haben ; als welche alle an Ein Normalthier und Ideal in ihrer Gattung glauben und die Sittlichkeit der Sitte sich endgültig in Fleisch und Blut übersetzt haben. Im Polytheismus lag die Freigeisterei und Vielgeisterei des Menschen vorgebildet : die Kraft, sich neue und eigene Augen zu schaffen und immer wieder neue und noch eigenere : sodass es für den Menschen allein unter allen Thieren keine ewigen Horizonte und Perspectiven giebt. 144. R e l i g io n s k r ie g e. – Der grösste Fortschritt der Massen war bis jetzt der Religionskrieg : denn er beweist, dass die Masse angefangen hat, Begriffe mit Ehrfurcht zu behandeln. Religionskriege entstehen erst, wenn durch die feineren Streitigkeiten der Secten die | allgemeine Vernunft verfeinert ist : sodass selbst der Pöbel spitzfi ndig wird und Kleinigkeiten wichtig nimmt, ja es für möglich hält, dass das „ewige Heil der Seele“ an den kleinen Unterschieden der Begriffe hängt. 145. G e f a h r d e r Ve g et a r i a ne r. – Der vorwiegende ungeheure Reisgenuss treibt zur Anwendung von Opium und narkotischen Dingen, in gleicher Weise wie der vorwiegende ungeheure Kartoffelgenuss zu Branntwein treibt – : er treibt aber, in feinerer Nachwirkung, auch zu Denk- und Gefühlsweisen, die narkotisch wirken. Damit stimmt zusammen, dass die Förderer narkotischer Denk- und Gefühlsweisen, wie jene indischen Lehrer, gerade eine Diät preisen und zum Gesetz der Masse machen möchten, welche rein vegetabilisch ist : sie

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wollen so das Bedürfniss hervorrufen und mehren, welches s i e zu befriedigen im Stande sind. 146. D eut s c he Hof f nu n g e n . – Vergessen wir doch nicht, dass die Völkernamen gewöhnlich Schimpfnamen sind. Die Tartaren sind zum Beispiel ihrem Namen nach „die Hunde“ : so wurden sie von den Chinesen getauft. Die „Deutschen“ : das bedeutet ursprünglich „die Heiden“ : so nannten die Gothen nach ihrer Bekehrung die grosse Masse ihrer ungetauften Stammverwandten, nach Anleitung ihrer Uebersetzung der Septuaginta, in der die Heiden mit dem Worte bezeichnet werden, welches im Griechischen „die Völker“ bedeutet : man sehe Ulfi las. – Es wäre immer noch möglich, dass die Deutschen aus ihrem alten Schimpfnamen sich nachträglich einen Ehren|namen machten, indem sie das erste u nc h r i s t l ic he Volk Europa’s würden : wozu in hohem Maasse angelegt zu sein Schopenhauer ihnen zur Ehre anrechnete. So käme das Werk L u t h e r ’s zur Vollendung, der sie gelehrt hat, unrömisch zu sein und zu sprechen : „hier stehe ic h ! Ic h kann nicht anders !“ – 147. Fr a g e u nd A nt wor t . – Was nehmen jetzt wilde Völkerschaften zuerst von den Europäern an ? Branntwein und Christenthum, die europäischen Narcotica. – Und woran gehen sie am schnellsten zu Grunde ? – An den europäischen Narcoticis. 148. Wo d ie R e f or m at io ne n e nt s t e he n . – Zur Zeit der grossen Kirchen-Verderbniss war in Deutschland die Kirche am wenigsten verdorben : desshalb entstand h ie r die Reformation, als das Zeichen, dass schon die Anfänge der Verderbniss unerträglich empfunden wurden. Verhältnissmässig war nämlich kein Volk jemals christlicher, als die Deutschen zur

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Zeit Luther’s : ihre christliche Cultur war eben bereit, zu einer hundertfältigen Pracht der Blüthe auszuschlagen, – es fehlte nur noch Eine Nacht ; aber diese brachte den Sturm, der Allem ein Ende machte. 149. M i s s l i n g e n d e r R e f o r m a t i o n e n . – Es spricht für die höhere Cultur der Griechen selbst in ziemlich frühen Zeiten, dass mehrere Male die Versuche, neue griechische Religionen zu gründen, gescheitert sind ; es | spricht dafür, dass es schon früh eine Menge verschiedenartiger Individuen in Griechenland gegeben haben muss, deren verschiedenartige Noth nicht mit einem einzigen Recepte des Glaubens und Hoffens abzuthun war. Pythagoras und Plato, vielleicht auch Empedokles, und bereits viel früher die orphischen Schwarmgeister, waren darauf aus, neue Religionen zu gründen ; und die beiden Erstgenannten hatten so ächte Religionsstifter-Seelen und -Talente, dass man sich über ihr Misslingen nicht genug verwundern kann : sie brachten es aber nur zu Secten. Jedes Mal, wo die Reformation eines ganzen Volkes misslingt und nur Secten ihr Haupt emporheben, darf man schliessen, dass das Volk schon sehr vielartig in sich ist und sich von den groben Heerdeninstincten und der Sittlichkeit der Sitte loszulösen beginnt : ein bedeutungsvoller Schwebezustand, den man als Sittenverfall und Corruption zu verunglimpfen gewohnt ist : während er das Reifwerden des Eies und das nahe Zerbrechen der Eierschaale ankündigt. Dass Luther’s Reformation im Norden gelang, ist ein Zeichen dafür, dass der Norden gegen den Süden Europa’s zurückgeblieben war und noch ziemlich einartige und einfarbige Bedürfnisse kannte ; und es hätte überhaupt keine Verchristlichung Europa’s gegeben, wenn nicht die Cultur der alten Welt des Südens allmählich durch eine übermässige Hinzumischung von germanischem Barbarenblut barbarisirt und ihres Cultur-Uebergewichtes verlustig gegangen wäre. Je allgemeiner und unbedingter ein

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Einzelner oder der Gedanke eines Einzelnen wirken kann, um so gleichartiger und um so niedriger muss die Masse sein, auf die da gewirkt wird ; während Gegenbestrebungen innere Gegen|bedürfnisse verrathen, welche auch sich befriedigen und durchsetzen wollen. Umgekehrt darf man immer auf eine wirkliche Höhe der Cultur schliessen, wenn mächtige und herrschsüchtige Naturen es nur zu einer geringen und sectirerischen Wirkung bringen : diess gilt auch für die einzelnen Künste und die Gebiete der Erkenntniss. Wo geherrscht wird, da giebt es Massen : wo Massen sind, da giebt es ein Bedürfniss nach Sclaverei. Wo es Sclaverei giebt, da sind der Individuen nur wenige, und diese haben die Heerdeninstincte und das Gewissen gegen sich. 150. Z u r K r it i k d e r H e i l i g e n . – Muss man denn, um eine Tugend zu haben, sie gerade in ihrer brutalsten Gestalt haben wollen ? – wie es die christlichen Heiligen wollten und nöthig hatten ; als welche das Leben nur mit dem Gedanken ertrugen, dass beim Anblick ihrer Tugend einen Jeden die Verachtung seiner selber anwandelte. Eine Tugend aber mit solcher Wirkung nenne ich brutal. 151. Vom Ur s p r u n g e d e r R e l i g io n . – Das metaphysische Bedürfniss ist nicht der Ursprung der Religionen, wie Schopenhauer will, sondern nur ein N a c h s c hö s s l i n g derselben. Man hat sich unter der Herrschaft religiöser Gedanken an die Vorstellung einer „anderen (hinteren, unteren, oberen) Welt“ gewöhnt und fühlt bei der Vernichtung der religiösen Gedanken eine unbehagliche Leere und Entbehrung, – und nun wächst aus diesem Gefühle wieder eine „andere Welt“ heraus, aber jetzt nur eine metaphysische und nicht | mehr religiöse. Das aber, was in Urzeiten zur Annahme einer „anderen Welt“ überhaupt führte, war n ic ht ein Trieb und Bedürf-

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niss, sondern ein I r r t hu m in der Auslegung bestimmter Naturvorgänge, eine Verlegenheit des Intellects. 152. D ie g r ö s s t e Ve r ä n d e r u n g. – Die Beleuchtung und die Farben aller Dinge haben sich verändert ! Wir verstehen nicht mehr ganz, wie die alten Menschen das Nächste und Häufigste empfanden, – zum Beispiel den Tag und das Wachen : dadurch, dass die Alten an Träume glaubten, hatte das wache Leben andere Lichter. Und ebenso das ganze Leben, mit der Zurückstrahlung des Todes und seiner Bedeutung : unser „Tod“ ist ein ganz anderer Tod. Alle Erlebnisse leuchteten anders, denn ein Gott glänzte aus ihnen ; alle Entschlüsse und Aussichten auf die ferne Zukunft ebenfalls : denn man hatte Orakel und geheime Winke und glaubte an die Vorhersagung. „Wahrheit“ wurde anders empfunden, denn der Wahnsinnige konnte ehemals als ihr Mundstück gelten, – was u n s schaudern oder lachen macht. Jedes Unrecht wirkte anders auf das Gefühl : denn man fürchtete eine göttliche Vergeltung und nicht nur eine bürgerliche Strafe und Entehrung. Was war die Freude in der Zeit, als man an die Teufel und die Versucher glaubte ! Was die Leidenschaft, wenn man die Dämonen in der Nähe lauern sah ! Was die Philosophie, wenn der Zweifel als Versündigung der gefährlichsten Art gefühlt wurde, und zwar als ein Frevel an der ewigen Liebe, als Misstrauen gegen Alles, was gut, hoch, rein und erbarmend war ! – Wir haben die Dinge | neu gefärbt, wir malen immerfort an ihnen, – aber was vermögen wir einstweilen gegen die Fa r b e n p r a c h t jener alten Meisterin ! – ich meine die alte Menschheit. 153. Homo p o et a . – „Ich selber, der ich höchst eigenhändig diese Tragödie der Tragödien gemacht habe, soweit sie fertig ist ; ich, der ich den Knoten der Moral erst in’s Dasein hinein-

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knüpfte und so fest zog, dass nur ein Gott ihn lösen kann, – so verlangt es ja Horaz ! – ich selber habe jetzt im vierten Act alle Götter umgebracht, – aus Moralität ! Was soll nun aus dem fünften werden ! Woher noch die tragische Lösung nehmen ! – Muss ich anfangen, über eine komische Lösung nachzudenken ?“ 154. Ve r s c h ie d e ne G e f ä h rl ic h k e it d e s L eb e n s . – Ihr wisst gar nicht, was ihr erlebt, ihr lauft wie betrunken durch’s Leben und fallt ab und zu eine Treppe hinab. Aber, Dank eurer Trunkenheit, brecht ihr doch nicht dabei die Glieder : eure Muskeln sind zu matt und euer Kopf zu dunkel, als dass ihr die Steine dieser Treppe so hart fändet, wie wir Anderen ! Für uns ist das Leben eine grössere Gefahr : wir sind von Glas – wehe, wenn wir uns s t o s s e n ! Und Alles ist verloren, wenn wir f a l le n ! 155. Wa s u n s f e h lt . – Wir lieben die g r o s s e Natur und haben sie entdeckt : das kommt daher, dass in unserem Kopfe die grossen Menschen fehlen. Umgekehrt die Griechen : ihr Naturgefühl ist ein anderes, als das unsrige. | 156. D e r E i n f lu s s r e ic h s t e. – Dass ein Mensch seiner ganzen Zeit Widerstand leistet, sie am Thore aufhält und zur Rechenschaft zieht, das mu s s Einfluss üben ! Ob er es will, ist gleichgültig ; dass er es k a n n , ist die Sache. 157. Me nt i r i . – Gieb Acht ! – er sinnt nach : sofort wird er eine Lüge bereit haben. Diess ist eine Stufe der Cultur, auf der ganze Völker gestanden haben. Man erwäge doch, was die Römer mit mentiri ausdrückten !

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158. Un b eq ueme E i g e n s c h a f t . – Alle Dinge tief fi nden – das ist eine unbequeme Eigenschaft : sie macht, dass man beständig seine Augen anstrengt und am Ende immer mehr fi ndet, als man gewünscht hat. 159. Je d e Tu g e nd h at i h r e Z e it . – Wer jetzt unbeugsam ist, dem macht seine Redlichkeit oft Gewissensbisse : denn die Unbeugsamkeit ist die Tugend eines anderen Zeitalters, als die Redlichkeit. 160. I m Ve r k e h r e m it Tu g e n d e n . – Man kann auch gegen eine Tugend würdelos und schmeichlerisch sein. 161. A n d ie L iebh ab e r d e r Z e it . – Der entlaufene Priester und der entlassene Sträfling machen fortwährend Gesichter : was sie wollen, ist ein Gesicht ohne | Vergangenheit. – Habt ihr aber schon Menschen gesehen, welche wissen, dass die Zukunft in ihrem Gesichte sich spiegelt, und welche so höflich gegen euch, ihr Liebhaber der „Zeit“, sind, dass sie ein Gesicht ohne Zukunft machen ? – 162. Egoi smu s. – Egoismus ist das per s pec t iv i sc he Gesetz der Empfi ndung, nach dem das Nächste gross und schwer erscheint : während nach der Ferne zu alle Dinge an Grösse und Gewicht abnehmen. 163. Nac h e i nem g r o s s e n Sie g e. – Das Beste an einem grossen Siege ist, dass er dem Sieger die Furcht vor einer Niederlage nimmt. „Warum nicht auch einmal unterliegen ? – sagt er sich : ich bin jetzt reich genug dazu“.

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164. D ie R u he s u c he nd e n . – Ich erkenne die Geister, welche Ruhe suchen, an den vielen d u n k le n Gegenständen, welche sie um sich aufstellen : wer schlafen will, macht sein Zimmer dunkel oder kriecht in eine Höhle. – Ein Wink für Die, welche nicht wissen, was sie eigentlich am meisten suchen, und es wissen möchten ! 165. Vom G lüc k e d e r E nt s a g e nd e n . – Wer sich Etwas gründlich und auf lange Zeit hin versagt, wird, bei einem zufälligen Wiederantreffen desselben, fast vermeinen, es entdeckt zu haben, – und welches Glück hat jeder Entdecker ! Seien wir klüger, als die Schlangen, welche zu lange in der selben Sonne liegen. | 166. I m me r i n u n s e r e r G e s e l l s c h a f t . – Alles, was meiner Art ist, in Natur und Geschichte, redet zu mir, lobt mich, treibt mich vorwärts, tröstet mich – : das Andere höre ich nicht oder vergesse es gleich. Wir sind stets nur in unserer Gesellschaft. 167. M i s a nt h r o p ie u nd L ieb e. – Man spricht nur dann davon, dass man der Menschen satt sei, wenn man sie nicht mehr verdauen kann und doch noch den Magen voll davon hat. Misanthropie ist die Folge einer allzubegehrlichen Menschenliebe und „Menschenfresserei“, – aber, wer hiess dich auch Menschen zu verschlucken wie Austern, mein Prinz Hamlet ? 168. Vo n e i n e m K r a n k e n . – „Es steht schlecht um ihn !“ – Woran fehlt es ? – „Er leidet an der Begierde, gelobt zu werden, und fi ndet keine Nahrung für sie.“ – Unbegreiflich ! Alle Welt feiert ihn, und man trägt ihn nicht nur auf den Händen, sondern auch auf den Lippen ! – „Ja, aber er hat ein schlech-

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tes Gehör für das Lob. Lobt ihn ein Freund, so klingt es ihm, als ob dieser sich selber lobe ; lobt ihn ein Feind, so klingt es ihm, als ob dieser dafür gelobt werden wolle ; lobt ihn endlich einer der Uebrigen – es sind gar nicht so Viele übrig, so berühmt ist er ! – so beleidigt es ihn, dass man ihn nicht zum Freund oder Feind haben wolle ; er pflegt zu sagen : „Was liegt mir an Einem, der gar noch gegen mich den Gerechten zu spielen vermag !“ | 169. O f f e n e Fe i n d e . – Die Tapferkeit vor dem Feinde ist ein Ding für sich : damit kann man immer noch ein Feigling und ein unentschlossener Wirrkopf sein. So urtheilte Napoleon in Hinsicht auf den „tapfersten Menschen“, der ihm bekannt sei, Murat : – woraus sich ergiebt, dass offene Feinde für manche Menschen unentbehrlich sind, falls sie sich zu i h r e r Tugend, ihrer Männlichkeit und Heiterkeit erheben sollen. 170. M it d e r Me n g e. – Er läuft bisher mit der Menge und ist ihr Lobredner : aber eines Tages wird er ihr Gegner sein ! Denn er folgt ihr im Glauben, dass seine Faulheit dabei ihre Rechnung fände : er hat noch nicht erfahren, dass die Menge nicht faul genug für ihn ist ! dass sie immer vorwärts drängt ! dass sie Niemandem erlaubt, stehen zu bleiben ! – Und er bleibt so gern stehen ! 171. R u h m . – Wenn die Dankbarkeit Vieler gegen Einen alle Scham wegwirft, so entsteht der Ruhm. 172. D e r G e s c h m a c k s -Ve r d e r b e r. – A. : „Du bist ein Geschmacks-Verderber, – so sagt man überall !“ B. : „Sicherlich ! Ich verderbe Jedermann den Geschmack an seiner Partei : – das verzeiht mir keine Partei.“

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173. Tie f s e i n u nd t ie f s c he i ne n . – Wer sich tief weiss, bemüht sich um Klarheit ; wer der Menge tief | scheinen möchte, bemüht sich um Dunkelheit. Denn die Menge hält Alles für tief, dessen Grund sie nicht sehen kann : sie ist so furchtsam und geht so ungern in’s Wasser. 174. A b s e it s . – Der Parlamentarismus, das heisst die öffentliche Erlaubniss, zwischen fünf politischen Grundmeinungen wählen zu dürfen, schmeichelt sich bei jenen Vielen ein, welche gerne selbständig und individuell s c h e i n e n und für ihre Meinungen kämpfen möchten. Zuletzt aber ist es gleichgültig, ob der Heerde Eine Meinung befohlen oder fünf Meinungen gestattet sind. – Wer von den fünf öffentlichen Meinungen abweicht und bei Seite tritt, hat immer die ganze Heerde gegen sich. 175. Vo n d e r B e r e d t s a m k e it . – Wer besass bis jetzt die überzeugendste Beredtsamkeit ? Der Trommelwirbel : und so lange die Könige diesen in der Gewalt haben, sind sie immer noch die besten Redner und Volksaufwiegler. 176. M i t l e i d e n . – Die armen regierenden Fürsten ! Alle ihre Rechte verwandeln sich jetzt unversehens in Ansprüche, und all diese Ansprüche klingen bald wie Anmaassungen ! Und wenn sie nur „Wir“ sagen oder „mein Volk“, so lächelt schon das alte boshafte Europa. Wahrhaftig, ein Oberceremonienmeister der modernen Welt würde wenig Ceremonien mit ihnen machen ; vielleicht würde er decretiren : „les souverains rangent aux parvenus“. |

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177. Zu m „Er z ie hu n g s we s e n“. – In Deutschland fehlt dem höheren Menschen ein grosses Erziehungsmittel : das Gelächter höherer Menschen : diese lachen nicht in Deutschland. 178. Zu r mor a l i s c he n Au f k l ä r u n g. – Man muss den Deutschen ihren Mephistopheles ausreden : und ihren Faust dazu. Es sind zwei moralische Vorurtheile gegen den Werth der Erkenntniss. 179. G e d a n k e n . – Gedanken sind die Schatten unserer Empfi ndungen, – immer dunkler, leerer, einfacher, als diese. 180. D ie g ut e Z e it d e r f r e ie n G e i s t e r. – Die freien Geister neh men sich auch vor der Wissenschaft noch ihre Freiheiten – und einstweilen giebt man sie ihnen auch, – so lange die Kirche noch steht ! – In so fern haben sie jetzt ihre gute Zeit. 181. Fol g e n u nd Vor a n g e he n . – A. : „Von den Beiden wird der Eine immer folgen, der Andere immer vorangehen, wohin sie auch das Schicksal führt. Un d d o c h steht der Erstere über dem Anderen, nach seiner Tugend und seinem Geiste !“ B. : „Und doch ? Und doch ? Das ist für die Anderen geredet ; nicht für mich, nicht für uns ! – Fit secundum regulam.“ | 182. I n der Ei n sa m keit. – Wenn man allein lebt, so spricht man nicht zu laut, man schreibt auch nicht zu laut : denn man fürchtet den hohlen Widerhall – die Kritik der Nymphe Echo. – Und alle Stimmen klingen anders in der Einsamkeit !

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183. D ie Mu s i k d e r b e s t e n Z u k u n f t . – Der erste Musiker würde mir der sein, welcher nur die Traurigkeit des tiefsten Glückes kennte, und sonst keine Traurigkeit : einen solchen gab es bisher nicht. 184. Ju s t i z . – Lieber sich bestehlen lassen, als Vogelscheuchen um sich haben – das ist mein Geschmack. Und es ist unter allen Umständen eine Sache des Geschmackes – und nicht mehr ! 185. A r m . – Er ist heute arm : aber nicht weil man ihm Alles genommen, sondern weil er Alles weggeworfen hat : – was macht es ihm ? Er ist daran gewöhnt, zu fi nden. – Die Armen sind es, welche seine freiwillige Armuth missverstehen. 186. S c h le c ht e s G ew i s s e n . – Alles, was er jetzt thut, ist brav und ordentlich – und doch hat er ein schlechtes Gewissen dabei. Denn das Ausserordentliche ist seine Aufgabe. 187. D a s B e le id i g e nd e i m Vor t r a g e. – Dieser Künstler beleidigt mich durch die Art, wie er seine | Einfälle, seine sehr guten Einfälle vorträgt : so breit und nachdrücklich, und mit so groben Kunstgriffen der Ueberredung, als ob er zum Pöbel spräche. Wir sind immer nach einiger Zeit, die wir seiner Kunst schenkten, wie „in schlechter Gesellschaft“. 188. A r b e it . – Wie nah steht jetzt auch dem Müssigsten von uns die Arbeit und der Arbeiter ! Die königliche Höflichkeit in dem Worte „wir Alle sind Arbeiter !“ wäre noch unter Ludwig dem Vierzehnten ein Cynismus und eine Indecenz gewesen.

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189. D e r D e n k e r. – Er ist ein Denker : das heisst, er versteht sich darauf, die Dinge einfacher zu nehmen, als sie sind. 190. G e g e n d ie L ob e nd e n . – A. : „Man wird nur von Seinesgleichen gelobt !“ B. : „Ja ! Und wer dich lobt, sagt zu dir : du bist Meinesgleichen !“ 191. G e g e n m a n c h e Ve r t h e i d i g u n g. – Die perfideste Art, einer Sache zu schaden, ist, sie absichtlich mit fehlerhaften Gründen vertheidigen. 192. D ie G ut müt h i g e n . – Was unterscheidet jene Gutmüthigen, denen Wohlwollen aus dem Gesichte strahlt, von den anderen Menschen ? Sie fühlen sich in Gegenwart einer neuen Person wohl und sind schnell | in sie verliebt ; sie wollen ihr dafür wohl, ihr erstes Urtheil ist „sie gefällt mir“. Bei ihnen folgt auf einander : Wunsch der Aneignung (sie machen sich wenig Scrupel über den Werth des Anderen), rasche Aneignung, Freude am Besitz und Handeln zu Gunsten des Besessenen. 193. K a nt ’s W it z . – Kant wollte auf eine „alle Welt“ vor den Kopf stossende Art beweisen, dass „alle Welt“ Recht habe : – das war der heimliche Witz dieser Seele. Er schrieb gegen die Gelehrten zu Gunsten des Volks-Vorurtheils, aber für Gelehrte und nicht für das Volk. 194. D e r „O f f e n he r z i g e“. – Jener Mensch handelt wahrscheinlich immer nach verschwiegenen Gründen : denn er trägt immer mittheilbare Gründe auf der Zunge und beinahe in der off nen Hand.

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195. Zu m L ac he n ! – Seht hin ! Seht hin ! Er läuft von den Menschen we g – : diese aber folgen ihm nach, weil er vor ihnen herläuft, – so sehr sind sie Heerde ! 196. Gr e n z e u n s e r e s Hör s i n n s . – Man hört nur die Fragen, auf welche man im Stande ist, eine Antwort zu fi nden. 197. D a r u m Vor s ic ht ! – Nichts theilen wir so gern an Andere mit, als das Siegel der Verschwiegenheit – sammt dem, was darunter ist. | 198. Ve r d r u s s d e s St ol z e n . – Der Stolze hat selbst an Denen, welche ihn vorwärts bringen, seinen Verdruss : er blickt böse auf die Pferde seines Wagens. 199. Fr e i g eb i g k e it . – Freigebigkeit ist bei Reichen oft nur eine Art Schüchternheit. 200. L ac he n . – Lachen heisst : schadenfroh sein, aber mit gutem Gewissen. 201. I m B e i f a l l . – Im Beifall ist immer eine Art Lärm : selbst in dem Beifall, den wir uns selber zollen. 202. E i n Ve r s c hwe nd e r. – Er hat noch nicht jene Armuth des Reichen, der seinen ganzen Schatz schon einmal überzählt hat, – er verschwendet seinen Geist mit der Unvernunft der Verschwenderin Natur.

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203. H ic n i g er e st. – Er hat für gewöhnlich keinen Gedanken, – aber für die Ausnahme kommen ihm schlechte Gedanken. 204. D ie B et t ler u nd d ie Höf l ic h k e it . – „Man ist nicht unhöflich, wenn man mit einem Steine an die Thüre klopft, welcher der Klingelzug fehlt“ – so denken Bettler und Nothleidende aller Art ; aber Niemand giebt ihnen Recht. | 205. B e d ü r f n i s s . – Das Bedürfniss gilt als die Ursache der Entstehung : in Wahrheit ist es oft nur eine Wirkung des Entstandenen. 206. B e i m R e g e n . – Es regnet, und ich gedenke der armen Leute, die sich jetzt zusammen drängen, mit ihrer vielen Sorge und ohne Uebung, diese zu verbergen, also Jeder bereit und guten Willens, dem Andern wehe zu thun und sich auch bei schlechtem Wetter eine erbärmliche Art von Wohlgefühl zu machen. – Das, nur das ist die Armuth der Armen ! 207. D e r Ne id b old . – Das ist ein Neidbold, – dem muss man keine Kinder wünschen ; er würde auf sie neidisch sein, weil er nicht mehr Kind sein kann. 208. Gr o s s e r M a n n ! – Daraus, dass einer „ein grosser Mann“ ist, darf man noch nicht schliessen, dass er ein Mann ist ; vielleicht ist es nur ein Knabe, oder ein Chamäleon aller Lebensalter, oder ein verhextes Weiblein.

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209. E i ne A r t , n ac h Gr ü nd e n z u f r a g e n . – Es giebt eine Art, uns nach unseren Gründen zu fragen, bei der wir nicht nur unsre besten Gründe vergessen, sondern auch einen Trotz und Widerwillen gegen Gründe überhaupt in uns erwachen fühlen : – eine sehr verdummende Art zu fragen und recht ein Kunstgriff tyrannischer Menschen ! | 210. M a a s s i m F le i s s e . – Man muss den Fleiss seines Vaters nicht überbieten wollen – das macht krank. 211. G e he i me Fe i nd e. – Einen geheimen Feind sich halten können – das ist ein Luxus, für den die Moralität selbst hochgesinnter Geister nicht reich genug zu sein pflegt. 212. Sic h n ic ht t äu s c he n l a s s e n . – Sein Geist hat schlechte Manieren, er ist hastig und stottert immer vor Ungeduld : so ahnt man kaum, in welcher langathmigen und breitbrüstigen Seele er zu Hause ist. 213. D e r We g z u m G lüc k e. – Ein Weiser fragte einen Narren, welches der Weg zum Glücke sei. Dieser antwortete ohne Verzug, wie Einer, der nach dem Wege zur nächsten Stadt gefragt wird : „Bewundere dich selbst und lebe auf der Gasse !“ „Halt, rief der Weise, du verlangst zu viel, es genügt schon sich selber zu bewundern !“ Der Narr entgegnete : „Aber wie kann man beständig bewundern, ohne beständig zu verachten ?“ 214. D e r G l au b e m ac ht s e l i g. – Die Tugend giebt nur Denen Glück und eine Art Seligkeit, welche den guten Glauben an

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ihre Tugend haben : – nicht aber jenen feineren Seelen, deren Tugend im tiefen Misstrauen gegen sich und alle Tugend besteht. Zuletzt macht also auch hier „der Glaube selig“ ! – und wohlgemerkt, n ic ht die Tugend ! | 215. Id e a l u nd St of f. – Du hast da ein vornehmes Ideal vor Augen : aber bist du auch ein so vornehmer Stein, dass aus dir solch ein Götterbild gebildet werden dürfte ? Und ohne diess – ist all deine Arbeit nicht eine barbarische Bildhauerei ? Eine Lästerung deines Ideals ? 216. G e f a h r i n d e r St i m me. – Mit einer sehr lauten Stimme im Halse, ist man fast ausser Stande, feine Sachen zu denken. 217. Ur s ac he u nd W i r k u n g. – Vor der Wirkung glaubt man an andere Ursachen, als nach der Wirkung. 218. Me i ne A nt i p at h ie. – Ich liebe die Menschen nicht, welche, um überhaupt Wirkung zu thun, zerplatzen müssen, gleich Bomben, und in deren Nähe man immer in Gefahr ist, plötzlich das Gehör – oder noch mehr zu verlieren. 219. Zwec k der St r a fe. – Die Strafe hat den Zweck, Den zu bessern, we lc he r s t r a f t , – das ist die letzte Zuflucht für die Ver theidiger der Strafe. 220. O pf e r. – Ueber Opfer und Aufopferung denken die Opferthiere anders, als die Zuschauer : aber man hat sie von jeher nicht zu Worte kommen lassen. |

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221. S c ho nu n g. – Väter und Söhne schonen sich viel mehr unter einander, als Mütter und Töchter. 222. D ic ht e r u nd Lü g ne r. – Der Dichter sieht in dem Lügner seinen Milchbruder, dem er die Milch weggetrunken hat ; so ist Jener elend geblieben und hat es nicht einmal bis zum guten Gewissen gebracht. 223. V ic a r i at d e r Si n ne. – „Man hat auch die Augen um zu hören – sagte ein alter Beichtvater, der taub wurde ; und unter den Blinden ist Der König, wer die längsten Ohren hat.“ 224. K r it i k d e r T h ie r e. – Ich fürchte, die Thiere betrachten den Menschen als ein Wesen Ihresgleichen, das in höchst gefährlicher Weise den gesunden Thierverstand verloren hat, – als das wahnwitzige Thier, als das lachende Thier, als das weinende Thier, als das unglückselige Thier. 225. D ie Nat ü rl ic he n . – „Das Böse hat immer den grossen Effect für sich gehabt ! Und die Natur ist böse ! Seien wir also natürlich !“ – so schliessen im Geheimen die grossen Effecthascher der Menschheit, welche man gar zu oft unter die grossen Menschen gerechnet hat. 226. D ie M i s s t r au i s c he n u nd d e r St i l . – Wir sagen die stärksten Dinge schlicht, vorausgesetzt, dass Men|schen um uns sind, die an unsere Stärke glauben : – eine solche Umgebung erzieht zur „Einfachheit des Stils“. Die Misstrauischen reden emphatisch ; die Misstrauischen machen emphatisch.

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227. Fe h l s c h lu s s , Fe h l s c hu s s. – Er kann sich nicht beherrschen : und daraus schliesst jene Frau, es werde leicht sein, ihn zu beherrschen und wirft ihre Fangseile nach ihm aus ; – die Arme, die in Kürze seine Sclavin sein wird. 228. G e g e n d i e Ve r m it t e l n d e n . – Wer zwischen zwei entschlossenen Denkern vermitteln will, ist gezeichnet als mittelmässig : er hat das Auge nicht dafür, das Einmalige zu sehen ; die Aehnlichseherei und Gleichmacherei ist das Merkmal schwacher Augen. 229. Tr ot z u nd Tr eue. – Er hält aus Trotz an einer Sache fest, die ihm durchsichtig geworden ist, – er nennt es aber „Treue“. 230. Ma n g e l a n S c hwe i g s a m k e it . – Sein ganzes Wesen üb e r r e d et nicht – das kommt daher, dass er nie eine gute Handlung, die er that, verschwiegen hat. 231. D i e „G r ü n d l i c h e n“. – Die Langsamen der Erkenntniss meinen, die Langsamkeit gehöre zur Erkenntniss. | 232. Tr äu me n . – Man träumt gar nicht, oder interessant. – Man muss lernen, ebenso zu wachen : – gar nicht, oder interessant. 233. G e f ä h rl ic h s t e r G e s ic ht s pu nc t . – Was ich jetzt thue oder lasse, ist f ü r a l le s K om me nd e so wichtig, als das grösste Ereigniss der Vergangenheit : in dieser ungeheuren Perspective der Wirkung sind alle Handlungen gleich gross und klein.

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234. Tr o s t r e d e e i ne s Mu s ic a nt e n . – „Dein Leben klingt den Menschen nicht in die Ohren : für sie lebst du ein stummes Leben, und alle Feinheit der Melodie, alle zarte Entschliessung im Folgen oder Vorangehen, bleibt ihnen verborgen. Es ist wahr : du kommst nicht auf breiter Strasse mit Regimentsmusik daher, – aber desshalb haben diese Guten doch kein Recht, zu sagen, es fehle deinem Lebenswandel an Musik. Wer Ohren hat, der höre.“ 235. G e i s t u nd C h a r a k t e r. – Mancher erreicht seinen Gipfel als Charakter, aber sein Geist ist gerade dieser Höhe nicht angemessen – und Mancher umgekehrt. 236. Um d ie Me n g e z u b ewe g e n . – Muss nicht Der, welcher die Menge bewegen will, der Schauspieler seiner selber sein ? Muss er nicht sich selber erst in’s Grotesk-|Deutliche übersetzen und seine ganze Person und Sache in dieser Vergröberung und Vereinfachung vor t r a g e n ? 237. D e r Höf l ic he. – „Er ist so höflich !“ – Ja, er hat immer einen Kuchen für den Cerberus bei sich und ist so furchtsam, dass er Jedermann für den Cerberus hält, auch dich und mich, – das ist seine „Höflichkeit“. 238. Ne id lo s . – Er ist ganz ohne Neid, aber es ist kein Verdienst dabei : denn er will ein Land erobern, das Niemand noch besessen und kaum Einer auch nur gesehen hat. 239. D e r Fr eu d lo s e. – Ein einziger freudloser Mensch genügt schon, um einem ganzen Hausstande dauernden Missmuth

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und trüben Himmel zu machen ; und nur durch ein Wunder geschieht es, dass dieser Eine fehlt ! – Das Glück ist lange nicht eine so ansteckende Krankheit, – woher kommt das ? 240. A m Me e r e. – Ich würde mir kein Haus bauen (und es gehört selbst zu meinem Glücke, kein Hausbesitzer zu sein !). Müsste ich aber, so würde ich, gleich manchem Römer, es bis in’s Meer hineinbauen, – ich möchte schon mit diesem schönen Ungeheuer einige Heimlichkeiten gemeinsam haben. 241. We r k u nd K ü n s t le r. – Dieser Künstler ist ehrgeizig und Nichts weiter : zuletzt ist sein Werk nur ein | Vergrösserungsglas, welches er Jedermann anbietet, der nach ihm hinblickt. 242. S uu m c u iq ue. – Wie gross auch die Habsucht meiner Erkenntniss ist : ich kann aus den Dingen nichts Anderes herausnehmen, als was mir schon gehört, – das Besitzthum Anderer bleibt in den Dingen zurück. Wie ist es möglich, dass ein Mensch Dieb oder Räuber sei ! 243. Ur s p r u n g vo n „G ut“ u nd „ S c h le c ht“. – Eine Verbesserung erfi ndet nur Der, welcher zu fühlen weiss : „Diess ist nicht gut“. 244. G e d a n k e n u nd Wor t e. – Man kann auch seine Gedanken nicht ganz in Worten wiedergeben. 245. L o b i n d e r Wa h l . – Der Künstler wählt seine Stoffe aus : das ist seine Art zu loben.

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246. M a t h e m a t i k . – Wir wollen die Feinheit und Strenge der Mathematik in alle Wissenschaften hineintreiben, so weit diess nur irgend möglich ist, nicht im Glauben, dass wir auf diesem Wege die Dinge erkennen werden, sondern um damit unsere menschliche Relation zu den Dingen f e s t z u s t e l le n . Die Mathematik ist nur das Mittel der allgemeinen und letzten Menschenkenntniss. | 247. G ewoh n he it . – Alle Gewohnheit macht unsere Hand witziger und unseren Witz unbehender. 248. Büc he r. – Was ist an einem Buche gelegen, das uns nicht einmal über alle Bücher hinweg trägt ? 249. D e r S eu f z e r d e s E r k e n ne nd e n . – „Oh über meine Habsucht ! In dieser Seele wohnt keine Selbstlosigkeit, – vielmehr ein Alles begehrendes Selbst, welches durch viele Individuen wie durch s e i ne Augen sehen und wie mit s e i ne n Händen greifen möchte, – ein auch die ganze Vergangenheit noch zurückholendes Selbst, welches Nichts verlieren will, was ihm überhaupt gehören könnte ! Oh über diese Flamme meiner Habsucht ! Oh, dass ich in hundert Wesen wiedergeboren würde !“ – Wer diesen Seufzer nicht aus Erfahrung kennt, kennt auch die Leidenschaft des Erkennenden nicht. 250. S c hu ld . – Obschon die scharfsinnigsten Richter der Hexen und sogar die Hexen selber von der Schuld der Hexerei überzeugt waren, war die Schuld trotzdem nicht vorhanden. So steht es mit aller Schuld.

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251. Ve r k a n nt e L e id e nd e. – Die grossartigen Naturen leiden anders, als ihre Verehrer sich einbilden : sie leiden am härtesten durch die unedlen, kleinlichen Wallungen mancher bösen Augenblicke, kurz, durch | ihren Zweifel an der eigenen Grossartigkeit, – nicht aber durch die Opfer und Martyrien, welche ihre Aufgabe von ihnen verlangt. So lange Prometheus Mitleid mit den Menschen hat und sich ihnen opfert, ist er glücklich und gross in sich ; aber wenn er neidisch auf Zeus und die Huldigungen wird, welche Jenem die Sterblichen bringen, – da leidet er ! 252. L ieb e r s c hu ld i g. – „Lieber schuldig bleiben, als mit einer Münze zahlen, die nicht unser Bild trägt !“ – so will es unsere Souveränität. 253. I m me r z u H au s e. – Eines Tages erreichen wir unser Ziel – und weisen nunmehr mit Stolz darauf hin, was für lange Reisen wir dazu gemacht haben. In Wahrheit merkten wir nicht, dass wir reisten. Wir kamen aber dadurch so weit, dass wir an jeder Stelle wähnten, z u H au s e zu sein. 254. G e g e n d ie Ve rle g e n he it . – Wer immer tief beschäftigt ist, ist über alle Verlegenheit hinaus. 255. N a c h a h m e r. – A. : „Wie ? Du willst keine Nachahmer ?“ B. : „Ich will nicht, dass man mir Etwas nachmache, ich will, dass Jeder sich Etwas vormache : das Selbe, was i c h thue.“ A. : „Also – ?“ |

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256. H aut l ic h k e it . – Alle Menschen der Tiefe haben ihre Glückseligkeit darin, einmal den fl iegenden Fischen zu gleichen und auf den äussersten Spitzen der Wellen zu spielen ; sie schätzen als das Beste an den Dingen, – dass sie eine Oberfläche haben : ihre Hautlichkeit – sit venia verbo. 257. Au s d e r E r f a h r u n g. – Mancher weiss nicht, wie reich er ist, bis er erfährt, was für reiche Menschen an ihm noch zu Dieben werden. 258. D ie L eu g n e r d e s Z u f a l l s . – Kein Sieger glaubt an den Zufall. 259. Au s d e m P a r a d ie s e. – „Gut und böse sind die Vorurtheile Gottes“ – sagte die Schlange. 260. E i n M a l e i n s . – Einer hat immer Unrecht : aber mit Zweien beginnt die Wahrheit. – Einer kann sich nicht beweisen : aber Zweie kann man bereits nicht widerlegen. 261. O r i g i n a l i t ä t . – Was ist Originalität ? Etwas s e h e n , das noch keinen Namen trägt, noch nicht genannt werden kann, ob es gleich vor Aller Augen liegt. Wie die Menschen gewöhnlich sind, macht ihnen erst der Name ein Ding überhaupt sichtbar. – Die Originalen sind zumeist auch die Namengeber gewesen. | 262. Sub s p ec ie aet e r n i . – A. : „Du entfernst dich immer schneller von den Lebenden : bald werden sie dich aus ihren Listen streichen !“ – B. : „Es ist das einzige Mittel, um an dem Vor-

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recht der Todten theilzuhaben.“ – A. : „An welchem Vorrecht ?“ – B. : „Nicht mehr zu sterben.“ 263. Oh ne E it e l k e it . – Wenn wir lieben, so wollen wir, dass unsere Mängel verborgen bleiben, – nicht aus Eitelkeit, sondern, weil das geliebte Wesen nicht leiden soll. Ja, der Liebende möchte ein Gott scheinen, – und auch diess nicht aus Eitelkeit. 264. Wa s w i r t hu n . – Was wir thun, wird nie verstanden, sondern immer nur gelobt und getadelt. 265. L et z t e S k e p s i s . – Was sind denn zuletzt die Wahrheiten des Menschen ? – Es sind die u nw id e rle g b a r e n Irrthümer des Menschen. 266. Wo Gr au s a m k e it not h t hut . – Wer Grösse hat, ist grausam gegen seine Tugenden und Erwägungen zweiten Ranges. 267. M it e i ne m g r o s s e n Z ie le. – Mit einem grossen Ziele ist man sogar der Gerechtigkeit überlegen, nicht nur seinen Thaten und seinen Richtern. | 268. Wa s m ac ht h e r oi s c h ? – Zugleich seinem höchsten Leide und seiner höchsten Hoff nung entgegengehn. 269. Wor a n g l au b s t du ? – Daran : dass die Gewichte aller Dinge neu bestimmt werden müssen.

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270. Wa s s a g t d e i n G ew i s s e n ? – „Du sollst der werden, der du bist.“ 271. Wo l ie g e n d e i ne g r ö s s t e n G e f a h r e n ? – Im Mitleiden. 272. Wa s l ieb s t du a n A nd e r e n ? – Meine Hoff nungen. 273. We n ne n n s t d u s c h le c ht ? – Den, der immer beschämen will. 274. Wa s i s t d i r d a s M e n s c h l i c h s t e ? – Jemandem Scham ersparen. 275. Wa s i st d a s Siegel der er reic hten Frei heit ? – Sich nicht mehr vor sich selber schämen. |

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Viertes Buch. Sanctus Januarius. Der du mit dem Flammenspeere Meiner Seele Eis zertheilt, Dass sie brausend nun zum Meere Ihrer höchsten Hoff nung eilt : Heller stets und stets gesunder, Frei im liebevollsten Muss : – Also preist sie deine Wunder, Schönster Januarius ! G e n u a im Januar 1882. |

276. Zu m neue n Ja h r e. – Noch lebe ich, noch denke ich : ich muss noch leben, denn ich muss noch denken. Sum, ergo cogito : cogito, ergo sum. Heute erlaubt sich Jedermann seinen Wunsch und liebsten Gedanken auszusprechen : nun, so will auch ich sagen, was ich mir heute von mir selber wünschte und welcher Gedanke mir dieses Jahr zuerst über das Herz lief, – welcher Gedanke mir Grund, Bürgschaft und Süssigkeit alles weiteren Lebens sein soll ! Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen : – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati : das sei von nun an meine Liebe ! Ich will keinen Krieg gegen das Hässliche führen. Ich will nicht anklagen, ich will nicht einmal die Ankläger anklagen. We gs e he n sei meine einzige Verneinung ! Und, Alles in Allem und Grossen : ich will irgendwann einmal nur noch ein Jasagender sein ! 277. Pe r s ö n l ic he P r ov id e n z . – Es giebt einen gewissen hohen Punct des Lebens : haben wir den erreicht, so sind wir mit all

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unserer Freiheit, und so sehr wir dem schönen Chaos des Daseins alle fürsorgende Vernunft und Güte abgestritten haben, noch einmal in der grössten Gefahr der geistigen Unfreiheit und haben unsere schwerste Probe abzulegen. Jetzt nämlich stellt sich erst der Gedanke an eine persönliche Providenz mit der | eindringlichsten Gewalt vor uns hin und hat den besten Fürsprecher, den Augenschein, für sich, jetzt wo wir mit Händen greifen, dass uns alle, alle Dinge, die uns treffen, fortwährend z u m B e s t e n g e r e ic he n . Das Leben jedes Tages und jeder Stunde scheint Nichts mehr zu wollen, als immer nur diesen Satz neu beweisen ; sei es was es sei, böses wie gutes Wetter, der Verlust eines Freundes, eine Krankheit, eine Verleumdung, das Ausbleiben eines Briefes, die Verstauchung eines Fusses, ein Blick in einen Verkaufsladen, ein Gegenargument, das Aufschlagen eines Buches, ein Traum, ein Betrug : es erweist sich sofort oder sehr bald nachher als ein Ding, das „nicht fehlen durfte“, – es ist voll tiefen Sinnes und Nutzens gerade f ü r u n s ! Giebt es eine gefährlichere Verführung, den Göttern Epikur’s, jenen sorglosen Unbekannten, den Glauben zu kündigen und an irgend eine sorgenvolle und kleinliche Gottheit zu glauben, welche selbst jedes Härchen auf unserem Kopfe persönlich kennt und keinen Ekel in der erbärmlichsten Dienstleistung fi ndet ? Nun – ich meine trotzalledem ! wir wollen die Götter in Ruhe lassen und die dienstfertigen Genien ebenfalls und uns mit der Annahme begnügen, dass unsere eigene practische und theoretische Geschicklichkeit im Auslegen und Zurechtlegen der Ereignisse jetzt auf ihren Höhepunct gelangt sei. Wir wollen auch nicht zu hoch von dieser Fingerfertigkeit unserer Weisheit denken, wenn uns mit unter die wunderbare Harmonie allzusehr überrascht, welche beim Spiel auf unserem Instrumente entsteht : eine Harmonie, welche zu gut klingt, als dass wir es wagten, sie uns selber zuzurechnen. In der That, hier und da spielt Einer m i t uns – der liebe Zufall : er führt uns gelegentlich | die Hand, und die

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aller weiseste Providenz könnte keine schönere Musik erdenken, als dann dieser unserer thörichten Hand gelingt. 278. Der G ed a n k e a n den Tod . – Es macht mir ein melancholisches Glück, mitten in diesem Gewirr der Gässchen, der Bedürfnisse, der Stimmen zu leben : wieviel Geniessen, Ungeduld, Begehren, wieviel durstiges Leben und Trunkenheit des Lebens kommt da jeden Augenblick an den Tag ! Und doch wird es für alle diese Lärmenden, Lebenden, Lebensdurstigen bald so stille sein ! Wie steht hinter Jedem sein Schatten, sein dunkler Weggefährte ! Es ist immer wie im letzten Augenblicke vor der Abfahrt eines Auswandererschiffes : man hat einander mehr zu sagen als je, die Stunde drängt, der Ozean und sein ödes Schweigen wartet ungeduldig hinter alle dem Lärme – so begierig, so sicher seiner Beute. Und Alle, Alle meinen, das Bisher sei Nichts oder Wenig, die nahe Zukunft sei Alles : und daher diese Hast, diess Geschrei, dieses SichUebertäuben und Sich-Uebervortheilen ! Jeder will der Erste in dieser Zukunft sein, – und doch ist Tod und Todtenstille das einzig Sichere und das Allen Gemeinsame dieser Zukunft ! Wie seltsam, dass diese einzige Sicherheit und Gemeinsamkeit fast gar Nichts über die Menschen vermag und dass sie a m We it e s t e n davon entfernt sind, sich als die Brüderschaft des Todes zu fühlen ! Es macht mich glücklich, zu sehen, dass die Menschen den Gedanken an den Tod durchaus nicht denken wollen ! Ich möchte gern Etwas dazu thun, ihnen den Gedanken an das Leben noch hundertmal d e n k e n s we r t he r zu machen. | 279. S t e r n e n - F r e u n d s c h a f t . – Wir waren Freunde und sind uns fremd geworden. Aber das ist recht so und wir wollen’s uns nicht verhehlen und verdunkeln, als ob wir uns dessen zu schämen hätten. Wir sind zwei Schiffe, deren jedes sein Ziel

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und seine Bahn hat ; wir können uns wohl kreuzen und ein Fest miteinander feiern, wie wir es gethan haben, – und dann lagen die braven Schiffe so ruhig in Einem Hafen und in Einer Sonne, dass es scheinen mochte, sie seien schon am Ziele und hätten Ein Ziel gehabt. Aber dann trieb uns die allmächtige Gewalt unserer Aufgabe wieder auseinander, in verschiedene Meere und Sonnenstriche und vielleicht sehen wir uns nie wieder, – vielleicht auch sehen wir uns wohl, aber erkennen uns nicht wieder : die verschiedenen Meere und Sonnen haben uns verändert ! Dass wir uns fremd werden müssen, ist das Gesetz üb e r uns : ebendadurch sollen wir uns auch ehrwürdiger werden ! Ebendadurch soll der Gedanke an unsere ehemalige Freundschaft heiliger werden ! Es giebt wahrscheinlich eine ungeheure unsichtbare Curve und Sternenbahn, in der unsere so verschiedenen Strassen und Ziele als kleine Wegstrecken e i n b e g r i f f e n sein mögen, – erheben wir uns zu diesem Gedanken ! Aber unser Leben ist zu kurz und unsere Sehkraft zu gering, als dass wir mehr als Freunde im Sinne jener erhabenen Möglichkeit sein könnten. – Und so wollen wir an unsere Sternen-Freundschaft g l au b e n , selbst wenn wir einander Erden-Feinde sein müssten. | 280. A r c h it e k t u r d e r E r k e n ne nd e n . – Es bedarf einmal und wahrscheinlich bald einmal der Einsicht, was vor Allem unseren grossen Städten fehlt : stille und weite, weitgedehnte Orte zum Nachdenken, Orte mit hochräumigen langen Hallengängen für schlechtes oder allzu sonniges Wetter, wohin kein Geräusch der Wagen und der Ausrufer dringt und wo ein feinerer Anstand selbst dem Priester das laute Beten untersagen würde : Bauwerke und Anlagen, welche als Ganzes die Erhabenheit des Sich-Besinnens und Bei-Seitegehens ausdrükken. Die Zeit ist vorbei, wo die Kirche das Monopol des Nachdenkens besass, wo die vita contemplativa immer zuerst vita

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religiosa sein musste : und Alles, was die Kirche gebaut hat, drückt diesen Gedanken aus. Ich wüsste nicht, wie wir uns mit ihren Bauwerken, selbst wenn sie ihrer kirchlichen Bestimmung entkleidet würden, genügen lassen könnten ; diese Bauwerke reden eine viel zu pathetische und befangene Sprache, als Häuser Gottes und Prunkstätten eines überweltlichen Verkehrs, als dass wir Gottlosen hier u n s e r e G e d a n k e n denken könnten. Wir wollen u n s in Stein und Pflanze übersetzt haben, wir wollen i n u n s spazieren gehen, wenn wir in diesen Hallen und Gärten wandeln. 281. D a s E nd e z u f i nd e n w i s s e n . – Die Meister des ersten Ranges geben sich dadurch zu erkennen, dass sie im Grossen wie im Kleinen auf eine vollkommene Weise das Ende zu fi nden wissen, sei es das Ende einer Melodie oder eines Gedankens, sei es der fünfte Act einer Tragödie oder StaatsAction. Die ersten der zweiten | Stufe werden immer gegen das Ende hin unruhig, und fallen nicht in so stolzem ruhigem Gleichmaasse in’s Meer ab, wie zum Beispiel das Gebirge bei Porto fi no – dort, wo die Bucht von Genua ihre Melodie zu Ende singt. 282. D e r G a n g. – Es giebt Manieren des Geistes, an denen auch grosse Geister verrathen, dass sie vom Pöbel oder Halbpöbel herkommen : – der Gang und Schritt ihrer Gedanken ist es namentlich, der den Verräther macht ; sie können nicht g e he n . So konnte auch Napoleon zu seinem tiefen Verdrusse nicht fürstenmässig und „legitim“ gehen, bei Gelegenheiten, wo man es eigentlich verstehen muss, wie bei grossen KrönungsProcessionen und Aehnlichem : auch da war er immer nur der Anführer einer Colonne – stolz und hastig zugleich und sich dessen sehr bewusst. – Man hat Etwas zum Lachen, diese Schriftsteller zu sehen, welche die faltigen Gewänder der

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Periode um sich rauschen machen : sie wollen so ihre F ü s s e verdecken. 283. Vor b e r e it e nd e Me n s c he n . – Ich begrüsse alle Anzeichen dafür, dass ein männlicheres, ein kriegerisches Zeitalter anhebt, das vor Allem die Tapferkeit wieder zu Ehren bringen wird ! Denn es soll einem noch höheren Zeitalter den Weg bahnen und die Kraft einsammeln, welche jenes einmal nöthig haben wird, – jenes Zeitalter, das den Heroismus in die Erkenntniss trägt und K r ie g e f ü h r t um der Gedanken und ihrer Folgen willen. Dazu bedarf es für jetzt vieler vorbereitender tapferer Menschen, welche doch nicht aus | dem Nichts entspringen können – und ebensowenig aus dem Sand und Schleim der jetzigen Civilisation und Grossstadt-Bildung : Menschen, welche es verstehen, schweigend, einsam, entschlossen, in unsichtbarer Thätigkeit zufrieden und beständig zu sein : Menschen, die mit innerlichem Hange an allen Dingen nach dem suchen, was an ihnen z u ü b e r w i nd e n ist : Menschen, denen Heiterkeit, Geduld, Schlichtheit und Verachtung der grossen Eitelkeiten ebenso zu eigen ist, als Grossmuth im Siege und Nachsicht gegen die kleinen Eitelkeiten aller Besiegten : Menschen mit einem scharfen und freien Urtheile über alle Sieger und über den Antheil des Zufalls an jedem Siege und Ruhme : Menschen mit eigenen Festen, eigenen Werktagen, eigenen Trauerzeiten, gewohnt und sicher im Befehlen und gleich bereit, wo es gilt, zu gehorchen, im Einen wie im Anderen gleich stolz, gleich ihrer eigenen Sache dienend : gefährdetere Menschen, fruchtbarere Menschen, glücklichere Menschen ! Denn, glaubt es mir ! – das Geheimniss, um die grösste Fruchtbarkeit und den grössten Genuss vom Dasein einzuernten, heisst : g e f ä h rl ic h leb e n ! Baut eure Städte an den Vesuv ! Schickt eure Schiffe in unerforschte Meere ! Lebt im Kriege mit Euresgleichen und mit euch selber ! Seid Räuber und Eroberer, so lange ihr nicht Herrscher und

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Besitzer sein könnt, ihr Erkennenden ! Die Zeit geht bald vorbei, wo es euch genug sein durfte, gleich scheuen Hirschen in Wäldern versteckt zu leben ! Endlich wird die Erkenntniss die Hand nach dem ausstrecken, was ihr gebührt : – sie wird he r r s c he n und b e s it z e n wollen, und ihr mit ihr ! | 284. D e r Gl aub e a n s ic h . – Wenige Menschen überhaupt haben den Glauben an sich : – und von diesen Wenigen bekommen ihn die Einen mit, als eine nützliche Blindheit oder theilweise Verfi nsterung ihres Geistes – (was würden sie erblicken, wenn sie sich selber au f d e n Gr u nd sehen könnten !), die Anderen müssen ihn sich erst erwerben : Alles, was sie Gutes, Tüchtiges, Grosses thun, ist zunächst ein Argument gegen den Skeptiker, der in ihnen haust : es gilt, d ie s e n zu überzeugen oder zu überreden, und dazu bedarf es beinahe des Genie’s. Es sind die grossen Selbst-Ungenügsamen. 285. E xc e l s ior ! – „Du wirst niemals mehr beten, niemals mehr anbeten, niemals mehr im endlosen Vertrauen ausruhen – du versagst es dir, vor einer letzten Weisheit, letzten Güte, letzten Macht stehen zu bleiben und deine Gedanken abzuschirren – du hast keinen fortwährenden Wächter und Freund für deine sieben Einsamkeiten – du lebst ohne den Ausblick auf ein Gebirge, das Schnee auf dem Haupte und Gluthen in seinem Herzen trägt – es giebt für dich keinen Vergelter, keinen Verbesserer letzter Hand mehr – es giebt keine Vernunft in dem mehr, was geschieht, keine Liebe in dem, was dir geschehen wird – deinem Herzen steht keine Ruhestatt mehr offen, wo es nur zu fi nden und nicht mehr zu suchen hat, du wehrst dich gegen irgend einen letzten Frieden, du willst die ewige Wiederkunft von Krieg und Frieden : – Mensch der Entsagung, in Alledem willst du entsagen ? Wer wird dir die Kraft dazu geben ? Noch

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hatte Nie|mand diese Kraft !“ – Es giebt einen See, der es sich eines Tages versagte, abzufl iessen, und einen Damm dort aufwarf, wo er bisher abfloss : seitdem steigt dieser See immer höher. Vielleicht wird gerade jene Entsagung uns auch die Kraft verleihen, mit der die Entsagung selber ertragen werden kann ; vielleicht wird der Mensch von da an immer höher steigen, wo er nicht mehr in einen Gott au s f l ie s s t . 286. Zw i s c h e n r e d e. – Hier sind Hoff nungen ; was werdet ihr aber von ihnen sehen und hören, wenn ihr nicht in euren eigenen Seelen Glanz und Gluth und Morgenröthen erlebt habt ? Ich kann nur erinnern – mehr kann ich nicht ! Steine bewegen, Thiere zu Menschen machen – wollt ihr das von mir ? Ach, wenn ihr noch Steine und Thiere seid, so sucht euch erst euren Orpheus. 287. Lust a n der Bl i nd heit. – „Meine Gedanken, sagte der Wanderer zu seinem Schatten, sollen mir anzeigen, wo ich stehe : aber sie sollen mir nicht verrathen, woh i n ic h g e he. Ich liebe die Unwissenheit um die Zukunft und will nicht an der Ungeduld und dem Vorwegkosten verheissener Dinge zu Grunde gehen.“ 288. H oh e S t i m mu n g e n . – Mir scheint es, dass die meisten Menschen an hohe Stimmungen überhaupt nicht glauben, es sei denn für Augenblicke, höchstens Viertelstunden, – jene Wenigen ausgenommen, welche eine längere Dauer des hohen Gefühls aus Erfahrung kennen. | Aber gar der Mensch Eines hohen Gefühls, die Verkörperung einer einzigen grossen Stimmung sein – das ist bisher nur ein Traum und eine entzückende Möglichkeit gewesen : die Geschichte giebt uns noch kein sicheres Beispiel davon. Trotzdem könnte sie einmal auch solche Menschen gebären – dann, wenn eine Menge

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günstige Vorbedingungen geschaffen und festgestellt worden sind, die jetzt auch der glücklichste Zufall nicht zusammenzuwürfeln vermag. Vielleicht wäre diesen zukünftigen Seelen eben Das der gewöhnliche Zustand, was bisher als die mit Schauder empfundene Ausnahme hier und da einmal in unseren Seelen eintrat : eine fortwährende Bewegung zwischen hoch und tief und das Gefühl von hoch und tief, ein beständiges Wie-auf-Treppen-steigen und zugleich Wie-auf-Wolkenruhen. 289. Au f d ie S c h i f f e ! – Erwägt man, wie auf jeden Einzelnen eine philosophische Gesammt-Rechtfertigung seiner Art, zu leben und zu denken, wirkt – nämlich gleich einer wärmenden, segnenden, befruchtenden, eigens ihm leuchtenden Sonne, wie sie unabhängig von Lob und Tadel, selbstgenugsam, reich, freigebig an Glück und Wohlwollen macht, wie sie unaufhörlich das Böse zum Guten umschaff t, alle Kräfte zum Blühen und Reifwerden bringt und das kleine und grosse Unkraut des Grams und der Verdriesslichkeit gar nicht aufkommen lässt : – so ruft man zuletzt verlangend aus : oh dass doch viele solche neue Sonnen noch geschaffen würden ! Auch der Böse, auch der Unglückliche, auch der Ausnahme-Mensch soll seine Philosophie, sein gutes Recht, seinen Sonnenschein haben ! Nicht Mitleiden | mit ihnen thut noth ! – diesen Einfall des Hochmuths müssen wir verlernen, so lange auch bisher die Menschheit gerade an ihm gelernt und geübt hat – keine Beichtiger, Seelenbeschwörer und Sündenvergeber haben wir für sie aufzustellen ! Sondern eine neue G e r e c ht i g k e it thut noth ! Und eine neue Losung ! Und neue Philosophen ! Auch die moralische Erde ist rund ! Auch die moralische Erde hat ihre Antipoden ! Auch die Antipoden haben ihr Recht des Daseins ! Es giebt noch eine andere Welt zu entdecken – und mehr als eine ! Auf die Schiffe, ihr Philosophen !

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290. Ei ns ist Not h. – Seinem Charakter „Stil geben“ – eine grosse und seltene Kunst ! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint und auch die Schwäche noch das Auge entzückt. Hier ist eine grosse Masse zweiter Natur hinzugetragen worden, dort ein Stück erster Natur abgetragen : – beidemal mit langer Uebung und täglicher Arbeit daran. Hier ist das Hässliche, welches sich nicht abtragen liess, versteckt, dort ist es in’s Erhabene umgedeutet. Vieles Vage, der Formung Widerstrebende ist für Fernsichten aufgespart und ausgenutzt worden : – es soll in das Weite und Unermessliche hinaus winken. Zuletzt, wenn das Werk vollendet ist, offenbart sich, wie es der Zwang des selben Geschmacks war, der im Grossen und Kleinen herrschte und bildete : ob der Geschmack ein guter oder ein schlechter war, bedeutet weniger, als man denkt, – genug, dass es Ein | Geschmack ist ! – Es werden die starken, herrschsüchtigen Naturen sein, welche in einem solchen Zwange, in einer solchen Gebundenheit und Vollendung unter dem eigenen Gesetz ihre feinste Freude geniessen ; die Leidenschaft ihres gewaltigen Wollens erleichtert sich beim Anblick aller stilisirten Natur, aller besiegten und dienenden Natur ; auch wenn sie Paläste zu bauen und Gärten anzulegen haben, widerstrebt es ihnen, die Natur frei zu geben. – Umgekehrt sind es die schwachen, ihrer selber nicht mächtigen Charaktere, welche die Gebundenheit des Stils h a s s e n : sie fühlen, dass, wenn ihnen dieser bitterböse Zwang auferlegt würde, sie unter ihm g e me i n werden müssten : – sie werden Sclaven, sobald sie dienen, sie hassen das Dienen. Solche Geister – es können Geister ersten Ranges sein – sind immer darauf aus, sich selber und ihre Umgebungen als f r e ie Natur – wild, willkürlich, phantastisch, unordentlich, über raschend – zu gestalten oder auszudeuten : und

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sie thun wohl daran, weil sie nur so sich selber wohlthun ! Denn Eins ist Noth : dass der Mensch seine Zufriedenheit mit sich e r r e ic he – sei es nun durch diese oder jene Dichtung und Kunst : nur dann erst ist der Mensch überhaupt erträglich anzusehen ! Wer mit sich unzufrieden ist, ist fortwährend bereit, sich dafür zu rächen : wir Anderen werden seine Opfer sein, und sei es auch nur darin, dass wir immer seinen hässlichen Anblick zu ertragen haben. Denn der Anblick des Hässlichen macht schlecht und düster. 291. G e nu a . – Ich habe mir diese Stadt, ihre Landhäuser und Lustgärten und den weiten Umkreis ihrer | bewohnten Höhen und Hänge eine gute Weile angesehen ; endlich muss ich sagen : ich sehe G e s ic ht e r aus vergangenen Geschlechtern, – diese Gegend ist mit den Abbildern kühner und selbstherrlicher Menschen übersäet. Sie haben g e lebt und haben fortleben wollen – das sagen sie mir mit ihren Häusern, gebaut und geschmückt für Jahrhunderte und nicht für die flüchtige Stunde : sie waren dem Leben gut, so böse sie oft gegen sich gewesen sein mögen. Ich sehe immer den Bauenden, wie er mit seinen Blicken auf allem fern und nah um ihn her Gebauten ruht und ebenso auf Stadt, Meer und Gebirgslinien, wie er mit diesem Blick Gewalt und Eroberung ausübt : Alles diess will er s e i ne m Plane einfügen und zuletzt zu seinem E i g e n t hu m machen, dadurch dass es ein Stück desselben wird. Diese ganze Gegend ist mit dieser prachtvollen unersättlichen Selbstsucht der Besitz- und Beutelust überwachsen ; und wie diese Menschen in der Ferne keine Grenze anerkannten und in ihrem Durste nach Neuem eine neue Welt neben die alte hinstellten, so empörte sich auch in der Heimat immer noch Jeder gegen Jeden und erfand eine Weise, seine Ueberlegenheit auszudrükken und zwischen sich und seinen Nachbar seine persönliche Unendlichkeit dazwischen zu legen. Jeder eroberte sich seine

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Heimat noch einmal für sich, indem er sie mit seinen architektonischen Gedanken überwältigte und gleichsam zur Augenweide seines Hauses umschuf. Im Norden imponirt das Gesetz und die allgemeine Lust an Gesetzlichkeit und Gehorsam, wenn man die Bauweise der Städte ansieht : man erräth dabei jenes innerliche Sich-Gleichsetzen, Sich-Einordnen, welches die Seele aller Bauenden beherrscht haben muss. Hier aber fi ndest | du, um jede Ecke biegend, einen Menschen für sich, der das Meer, das Abenteuer und den Orient kennt, einen Menschen, welcher dem Gesetze und dem Nachbar wie einer Art von Langerweile abhold ist und der alles schon Begründete, Alte mit neidischen Blicken misst : er möchte, mit einer wundervollen Verschmitztheit der Phantasie, diess Alles mindestens im Gedanken noch einmal neu gründen, seine Hand darauf-, seinen Sinn hineinlegen – sei es auch nur für den Augenblick eines sonnigen Nachmittags, wo seine unersättliche und melancholische Seele einmal Sattheit fühlt, und seinem Auge nur Eigenes und nichts Fremdes mehr sich zeigen darf. 292. A n d ie Mor a l- P r e d i g e r. – Ich will keine Moral machen, aber Denen, welche es thun, gebe ich diesen Rath : wollt ihr die besten Dinge und Zustände zuletzt um alle Ehre und Werth bringen, so fahrt fort, sie in den Mund zu nehmen, wie bisher ! Stellt sie an die Spitze eurer Moral und redet von früh bis Abend von dem Glück der Tugend, von der Ruhe der Seele, von der Gerechtigkeit und der immanenten Vergeltung : so wie ihr es treibt, bekommen alle diese guten Dinge dadurch endlich eine Popularität und ein Geschrei der Gasse für sich : aber dann wird auch alles Gold daran abgegriffen sein und mehr noch : alles Gold d a r i n wird sich in Blei verwandelt haben. Wahrlich, ihr versteht euch auf die umgekehrte Kunst der Alchymie, auf die Entwerthung des Werthvollsten ! Greift einmal zum Versuche nach einem andern Recepte, um nicht

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wie bisher das Gegentheil von dem, was ihr sucht, zu erreichen : | leu g net jene guten Dinge, entzieht ihnen den PöbelBeifall und den leichten Umlauf, macht sie wieder zu verborgenen Schamhaftigkeiten einsamer Seelen, sagt, Mor a l s e i et w a s Ve r b ot e ne s ! Vielleicht gewinnt ihr so die Art von Menschen für diese Dinge, auf welche einzig Etwas ankommt, ich meine die He r oi s c he n . Aber dann muss Etwas zum Fürchten daran sein und nicht, wie bisher, zum Ekeln ! Möchte man nicht heute in Hinsicht der Moral sagen, wie Meister Eckardt : „ich bitte Gott, dass er mich quitt mache Gottes !“ 293. Un s e r e Lu f t . – Wir wissen es wohl : wer nur wie im Spazierengehen einmal einen Blick nach der Wissenschaft hin thut, nach Art der Frauen und leider auch vieler Künstler : für den hat die Strenge ihres Dienstes, diese Unerbittlichkeit im Kleinen wie im Grossen, diese Schnelligkeit im Wägen, Urtheilen, Verurtheilen etwas Schwindel- und Furchteinflössendes. Namentlich erschreckt ihn, wie hier das Schwerste gefordert, das Beste gethan wird, ohne dass dafür Lob und Auszeichnungen da sind, vielmehr, wie unter Soldaten, fast nur Tadel und scharfe Verweise l aut we r d e n , – denn das Gutmachen gilt als die Regel, das Verfehlte als die Ausnahme ; die Regel aber hat hier wie überall einen schweigsamen Mund. Mit dieser „Strenge der Wissenschaft“ steht es nun wie mit der Form und Höflichkeit der allerbesten Gesellschaft : – sie erschreckt den Uneingeweihten. Wer aber an sie gewöhnt ist, mag gar nicht anderswo leben, als in dieser hellen, durchsichtigen, kräftigen, stark elektrischen Luft, in dieser m ä n n l ic h e n Luft. Ueberall sonst ist es ihm | nicht reinlich und luftig genug : er argwöhnt, dass dor t seine beste Kunst Niemandem recht von Nutzen und ihm selber nicht zur Freude sein werde, dass unter Missverständnissen ihm sein halbes Leben durch die Finger schlüpfe, dass fortwährend viel Vorsicht, viel Verbergen

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und Ansichhalten noth thue, – lauter grosse und unnütze Einbussen an Kraft ! In d ie s e m strengen und klaren Elemente aber hat er seine Kraft ganz : hier kann er fl iegen ! Wozu sollte er wieder hinab in jene trüben Gewässer, wo man schwimmen und waten muss und seine Flügel missfarbig macht ! – Nein ! Da ist es zu schwer für uns, zu leben : was können wir dafür, dass wir für die Luft, die reine Luft geboren sind, wir Nebenbuhler des Lichtstrahls, und dass wir am liebsten auf Aetherstäubchen, gleich ihm, reiten würden und nicht von der Sonne weg, sondern z u d e r S o n ne h i n ! Das aber können wir nicht : – so wollen wir denn thun, was wir einzig können : der Erde Licht bringen, „das Licht der Erde“ sein ! Und dazu haben wir unsere Flügel und unsere Schnelligkeit und Strenge, um dessenthalben sind wir männlich und selbst schrecklich, gleich dem Feuer. Mögen Die uns fürchten, welche sich nicht an uns zu wärmen und zu erhellen verstehen ! 294. G e g e n d i e Ve r l e u m d e r d e r N a t u r. – Das sind mir unangenehme Menschen, bei denen jeder natürliche Hang sofort zur Krankheit wird, zu etwas Entstellendem oder gar Schmählichem, – d ie s e haben uns zu der Meinung verführt, die Hänge und Triebe des Menschen seien böse ; s ie sind die Ursache unserer grossen Ungerechtigkeit gegen unsere Natur, gegen alle Natur ! | Es giebt genug Menschen, die sich ihren Trieben mit Anmuth und Sorglosigkeit überlassen d ü r f e n : aber sie thun es nicht, aus Angst vor jenem eingebildeten „bösen Wesen“ der Natur ! D a he r ist es gekommen, dass so wenig Vornehmheit unter den Menschen zu fi nden ist : deren Kennzeichen es immer sein wird, vor sich keine Furcht zu haben, von sich nichts Schmähliches zu erwarten, ohne Bedenken zu fl iegen, wohin es uns treibt – uns freigeborene Vögel ! Wohin wir auch nur kommen, immer wird es frei und sonnenlicht um uns sein.

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295. K u r z e G ewoh n he it e n . – Ich liebe die kurzen Gewohnheiten und halte sie für das unschätzbare Mittel, v ie le Sachen und Zustände kennen zu lernen und hinab bis auf den Grund ihrer Süssen und Bitterkeiten ; meine Natur ist ganz für kurze Gewohnheiten eingerichtet, selbst in den Bedürfnissen ihrer leiblichen Gesundheit und überhaupt s owe it ich nur sehen kann : vom Niedrigen bis zum Höchsten. Immer glaube ich, d ie s s werde mich nun dauernd befriedigen – auch die kurze Gewohnheit hat jenen Glauben der Leidenschaft, den Glauben an die Ewigkeit – und ich sei zu beneiden, es gefunden und erkannt zu haben : – und nun nährt es mich am Mittage und am Abende und verbreitet eine tiefe Genügsamkeit um sich und in mich hinein, sodass mich nach Anderem nicht verlangt, ohne dass ich zu vergleichen oder zu verachten oder zu hassen hätte. Und eines Tages hat es seine Zeit gehabt : die gute Sache scheidet von mir, nicht als Etwas, das mir nun Ekel einflösst – sondern friedlich und an mir gesättigt, wie ich an ihm, und wie als ob wir einander | dankbar sein müssten und uns so die Hände zum Abschied reichten. Und schon wartet das Neue an der Thüre und ebenso mein Glaube – der unverwüstliche Thor und Weise ! – diess Neue werde das Rechte, das letzte Rechte sein. So geht es mir mit Speisen, Gedanken, Menschen, Städten, Gedichten, Musiken, Lehren, Tagesordnungen, Lebensweisen. – Dagegen hasse ich die d aue r n d e n Gewohnheiten und meine, dass ein Tyrann in meine Nähe kommt und dass meine Lebensluft sich ve r d ic k t , wo die Ereignisse sich so gestalten, dass dauernde Gewohnheiten daraus mit Nothwendigkeit zu wachsen scheinen : zum Beispiel durch ein Amt, durch ein beständiges Zusammensein mit den selben Menschen, durch einen festen Wohnsitz, durch eine einmalige Art Gesundheit. Ja, ich bin allem meinem Elend und Kranksein, und was nur immer unvollkommen an mir ist, – im untersten Grunde meiner Seele erkennt-

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lich gesinnt, weil dergleichen mir hundert Hinterthüren lässt, durch die ich den dauernden Gewohnheiten entrinnen kann. – Das Unerträglichste freilich, das eigentlich Fürchterliche, wäre mir ein Leben ganz ohne Gewohnheiten, ein Leben, das fortwährend die Improvisation verlangt : – diess wäre meine Verbannung und mein Sibirien. 296. Der feste Ru f. – Der feste Ruf war ehedem eine Sache der äussersten Nützlichkeit ; und wo nur immer die Gesellschaft noch vom Heerden-Instinct beherrscht wird, ist es auch jetzt noch für jeden Einzelnen am zweckmässigsten, seinen Charakter und seine Beschäftigung als unveränderlich z u g eb e n , – selbst wenn sie es im Grunde nicht sind. „Man kann sich | auf ihn verlassen, er bleibt sich gleich“ : – das ist in allen gefährlichen Lagen der Gesellschaft das Lob, welches am meisten zu bedeuten hat. Die Gesellschaft fühlt mit Genugthuung, ein zuverlässiges, jederzeit bereites We r k z eu g in der Tugend Dieses, in dem Ehrgeize Jenes, in dem Nachdenken und der Leidenschaft des Dritten zu haben, – sie ehrt diese We r k z eu g- Nat u r, diess Sich-Treubleiben, diese Unwandelbarkeit in Ansichten, Bestrebungen, und selbst in Untugenden, mit ihren höchsten Ehren. Eine solche Schätzung, welche überall zugleich mit der Sittlichkeit der Sitte blüht und geblüht hat, erzieht „Charaktere“ und bringt alles Wechseln, Umlernen, Sich-Verwandeln i n Ve r r u f . Diess ist nun jedenfalls, mag sonst der Vortheil dieser Denkweise noch so gross sein, für d ie E r k e n nt n i s s die allerschädlichste Art des allgemeinen Urtheils : denn gerade der gute Wille des Erkennenden, unverzagt sich jederzeit g e g e n seine bisherige Meinung zu erklären und überhaupt in Bezug auf Alles, was in uns f e s t werden will, misstrauisch zu sein, – ist hier verurtheilt und in Verruf gebracht. Die Gesinnung des Erkennenden als im Widerspruch mit dem „festen Rufe“ gilt als u ne h r e n h a f t ,

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während die Versteinerung der Ansichten alle Ehre für sich hat :  – unter dem Banne solcher Geltung müssen wir heute noch leben ! Wie schwer lebt es sich, wenn man das Urtheil vieler Jahrtausende gegen sich und um sich fühlt. Es ist wahrscheinlich, dass viele Jahrtausende die Erkenntniss mit dem schlechten Gewissen behaftet war, und dass viel Selbstverachtung und geheimes Elend in der Geschichte der grössten Geister gewesen sein muss. | 297. W id e r s p r e c he n k ö n ne n . – Jeder weiss jetzt, dass Widerspruch-Vertragen-können ein hohes Zeichen von Cultur ist. Einige wissen sogar, dass der höhere Mensch den Widerspruch gegen sich wünscht und hervorruft, um einen Fingerzeig über seine ihm bisher unbekannte Ungerechtigkeit zu bekommen. Aber das Widersprechen - K ö n ne n , das erlangte g ut e Gewissen bei der Feindseligkeit gegen das Gewohnte, Ueberlieferte, Geheiligte, – das ist mehr als jenes Beides und das eigentlich Grosse, Neue, Erstaunliche unserer Cultur, der Schritt aller Schritte des befreiten Geistes : wer weiss das ? – 298. S eu f z e r. – Ich erhaschte diese Einsicht unterwegs und nahm rasch die nächsten schlechten Worte, sie festzumachen, damit sie mir nicht wieder davonfl iege. Und nun ist sie mir an diesen dürren Worten gestorben und hängt und schlottert in ihnen – und ich weiss kaum mehr, wenn ich sie ansehe, wie ich ein solches Glück haben konnte, als ich diesen Vogel fieng. 299. Wa s ma n den K ü n st ler n abler nen sol l. – Welche Mittel haben wir, uns die Dinge schön, anziehend, begehrenswerth zu machen, wenn sie es nicht sind ? – und ich meine, sie sind es an sich niemals ! Hier haben wir von den Aerzten Etwas zu lernen, wenn sie zum Beispiel das Bittere verdünnen oder Wein

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und Zucker in den Mischkrug thun ; aber noch mehr von den Künstlern, welche eigentlich fortwährend darauf aus sind, solche Erfi ndungen und Kunststücke zu | machen. Sich von den Dingen entfernen, bis man Vieles von ihnen nicht mehr sieht und Vieles hinzusehen muss, u m s ie no c h z u s e h e n – oder die Dinge um die Ecke und wie in einem Ausschnitte sehen – oder sie so stellen, dass sie sich theilweise verstellen und nur perspectivische Durchblicke gestatten – oder sie durch gefärbtes Glas oder im Lichte der Abendröthe anschauen – oder ihnen eine Oberfläche und Haut geben, welche keine volle Transparenz hat : das Alles sollen wir den Künstlern ablernen und im Uebrigen weiser sein, als sie. Denn bei ihnen hört gewöhnlich diese ihre feine Kraft auf, wo die Kunst aufhört und das Leben beginnt ; w i r aber wollen die Dichter unseres Lebens sein, und im Kleinsten und Alltäglichsten zuerst. 300. Vor s p ie le d e r W i s s e n s c h a f t . – Glaubt ihr denn, dass die Wissenschaften entstanden und gross geworden wären, wenn ihnen nicht die Zauberer, Alchymisten, Astrologen und Hexen vorangelaufen wären als Die, welche mit ihren Verheissungen und Vorspiegelungen erst Durst, Hunger und Wohlgeschmack an ve r b or g e ne n u nd ve r b ot e ne n Mächten schaffen mussten ? Ja, dass unendlich mehr hat ve r he i s s e n werden müssen, als je erfüllt werden kann, damit überhaupt Etwas im Reiche der Erkenntniss sich erfülle ? – Vielleicht erscheint in gleicher Weise, wie uns sich hier Vorspiele und Vorübungen der Wissenschaft darstellen, die durchaus nicht als solche geübt und empfunden wurden, auch irgend einem fernen Zeitalter die gesammte R e l i g io n als Uebung und Vorspiel : vielleicht könnte sie das seltsame Mittel dazu gewesen sein, dass einmal einzelne Menschen | die ganze Selbstgenügsamkeit eines Gottes und alle seine Kraft der Selbsterlösung geniessen können : Ja ! – darf man fragen – würde denn der

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Mensch überhaupt ohne jene religiöse Schule und Vorgeschichte es gelernt haben, nach s ic h Hunger und Durst zu spüren und aus s ic h Sattheit und Fülle zu nehmen ? Musste Prometheus erst w ä h ne n , das Licht g e s t oh le n zu haben und dafür büssen,  – um endlich zu entdecken, dass er das Licht geschaffen habe, i nd e m e r n ac h d e m L ic ht e b e g e h r t e, und dass nicht nur der Mensch, sondern auch der G ot t das Werk s e i ne r Hände und Thon in seinen Händen gewesen sei ? Alles nur Bilder des Bildners ? – ebenso wie der Wahn, der Diebstahl, der Kaukasus, der Geier und die ganze tragische Prometheia aller Erkennenden ? 301. Wa h n d e r Co nt e m pl at i ve n . – Die hohen Menschen unterscheiden sich von den niederen dadurch, dass sie unsäglich mehr sehen und hören und denkend sehen und hören – und eben diess unterscheidet den Menschen vom Thiere und die oberen Thiere von den unteren. Die Welt wird für Den immer voller, welcher in die Höhe der Menschlichkeit hinauf wächst ; es werden immer mehr Angelhaken des Interesses nach ihm ausgeworfen ; die Menge seiner Reize ist beständig im Wachsen und ebenso die Menge seiner Arten von Lust und Unlust, – der höhere Mensch wird immer zugleich glücklicher und unglücklicher. Dabei aber bleibt ein Wa h n sein beständiger Begleiter : er meint, als Zu s c h aue r und Zu hö r e r vor das grosse Schau- und Tonspiel gestellt zu sein, welches das Leben ist : er nennt | seine Natur eine co nt e m pl at i ve und übersieht dabei, dass er selber auch der eigentliche Dichter und Fortdichter des Lebens ist, – dass er sich freilich vom S c h au s p ie le r dieses Drama’s, dem sogenannten handelnden Menschen, sehr unterscheidet, aber noch mehr von einem blossen Betrachter und Festgaste vo r der Bühne. Ihm, als dem Dichter, ist gewiss vis contemplativa und der Rückblick auf sein Werk zu eigen, aber zugleich und vorerst die

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vis creativa, welche dem handelnden Menschen f e h lt , was auch der Augenschein und der Allerweltsglaube sagen mag. Wir, die Denkend-Empfi ndenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas m ac he n , das noch nicht da ist : die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. Diese von uns erfundene Dichtung wird fortwährend von den sogenannten practischen Menschen (unsern Schauspielern wie gesagt) eingelernt, eingeübt, in Fleisch und Wirklichkeit, ja Alltäglichkeit übersetzt. Was nur We r t h hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, – die Natur ist immer werthlos : – sondern dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt, und w i r waren diese Gebenden und Schenkenden ! Wir erst haben die Welt, d ie d e n M e n s c h e n E t w a s a n g e h t , geschaffen ! – Gerade dieses Wissen aber fehlt uns, und wenn wir es einen Augenblick einmal erhaschen, so haben wir es im nächsten wieder vergessen : wir verkennen unsere beste Kraft und schätzen uns, die Contemplativen, um einen Grad zu gering, – wir sind we d e r s o s t ol z , no c h s o g lüc k l ic h , als wir sein könnten. | 302. G e f a h r d e s G lüc k l ic h s t e n . – Feine Sinne und einen feinen Geschmack haben ; an das Ausgesuchte und Allerbeste des Geistes wie an die rechte und nächste Kost gewöhnt sein ; einer starken, kühnen, verwegenen Seele geniessen ; mit ruhigem Auge und festem Schritt durch das Leben gehen, immer zum Aeussersten bereit, wie zu einem Feste und voll des Verlangens nach unentdeckten Welten und Meeren, Menschen und Göttern ; auf jede heitere Musik hinhorchen, als ob dort wohl tapfere Männer, Soldaten, Seefahrer sich eine kurze Rast und Lust machen, und im tiefsten Genusse des Augenblicks überwältigt werden von Thränen und von der ganzen purpurnen Schwermuth des Glücklichen : wer möchte nicht, dass

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das Alles gerade s e i n Besitz, sein Zustand wäre ! Es war das G lü c k Hom e r ’s ! Der Zustand Dessen, der den Griechen ihre Götter, – nein, sich selber s e i ne Götter erfunden hat ! Aber man verberge es sich nicht : mit diesem Glücke Homer’s in der Seele ist man auch das leidensfähigste Geschöpf unter der Sonne ! Und nur um diesen Preis kauft man die kostbarste Muschel, welche die Wellen des Daseins bisher an’s Ufer gespült haben ! Man wird als ihr Besitzer immer feiner im Schmerz und zuletzt zu fein : ein kleiner Missmuth und Ekel genügte am Ende, um Homer das Leben zu verleiden. Er  hatte ein thörichtes Räthselchen, das ihm junge Fischer aufgaben, nicht zu rathen vermocht ! Ja, die kleinen Räthsel sind die Gefahr der Glücklichsten ! – | 303. Zwei Glüc k l ic he. – Wahrlich, dieser Mensch, trotz seiner Jugend, versteht sich auf die I m p r ov i s at io n d e s L eb e n s und setzt auch den feinsten Beobachter in Erstaunen : – es scheint nämlich, dass er keinen Fehlgriff thut, ob er schon fortwährend das gewagteste Spiel spielt. Man wird an jene improvisirenden Meister der Tonkunst erinnert, denen auch der Zuhörer eine göttliche Un f e h l b a r k e it der Hand zuschreiben möchte, trotzdem, dass sie sich hier und da vergreifen, wie jeder Sterbliche sich vergreift. Aber sie sind geübt und erfi nderisch, und im Augenblicke immer bereit, den zufälligsten Ton, wohin ein Wurf des Fingers, eine Laune sie treibt, sofort in das thematische Gefüge einzuordnen und dem Zufalle einen schönen Sinn und eine Seele einzuhauchen. – Hier ist ein ganz anderer Mensch : dem missräth im Grunde Alles, was er will und plant. Das, woran er gelegentlich sein Herz gehängt hat, brachte ihn schon einige Male an den Abgrund und in die nächste Nähe des Unterganges ; und wenn er dem noch entwischte, so doch gewiss nicht nur „mit einem blauen Auge“. Glaubt ihr, dass er darüber unglücklich ist ? Er hat längst bei

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sich beschlossen, eigene Wünsche und Pläne nicht so wichtig zu nehmen. „Gelingt mir Diess nicht, so redet er sich zu, dann gelingt mir vielleicht Jenes ; und im Ganzen weiss ich nicht, ob ich nicht meinem Misslingen mehr zu Danke verpfl ichtet bin, als irgend welchem Gelingen. Bin ich dazu gemacht, eigensinnig zu sein und die Hörner des Stieres zu tragen ? Das, was m i r Werth und Ergebniss des Lebens ausmacht, liegt wo anders ; mein Stolz und ebenso mein Elend liegt wo anders. Ich weiss mehr | vom Leben, weil ich so oft daran war, es zu verlieren : und eben darum h a b e ich mehr vom Leben, als ihr Alle !“ 304. I ndem w i r t hu n , la s sen w i r. – Im Grunde sind mir alle jene Moralen zuwider, welche sagen : „Thue diess nicht ! Entsage ! Ueberwinde dich !“ – ich bin dagegen jenen Moralen gut, welche mich antreiben, Etwas zu thun und wieder zu thun und von früh bis Abend, und Nachts davon zu träumen, und an gar Nichts zu denken als : diess g ut zu thun, so gut als es eben m i r allein möglich ist ! Wer so lebt, von dem fällt fortwährend Eins um das Andere ab, was nicht zu einem solchen Leben gehört : ohne Hass und Widerwillen sieht er heute Diess und morgen Jenes von sich Abschied nehmen, den vergilbten Blättern gleich, welche jedes bewegtere Lüftchen dem Baume entführt : oder er sieht gar nicht, dass es Abschied nimmt, so streng blickt sein Auge nach seinem Ziele und überhaupt vorwärts, nicht seitwärts, rückwärts, abwärts. Unser Thun soll bestimmen, was wir lassen : indem wir thun, lassen wir – so gefällt es mir, so lautet me i n placitum. Aber ich will nicht mit offenen Augen meine Verarmung anstreben, ich mag alle negativen Tugenden nicht, – Tugenden, deren Wesen das Verneinen und Sichversagen selber ist.

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305. S e l b s t b e h e r r s c hu n g. – Jene Morallehrer, welche zuerst und zuoberst dem Menschen anbefehlen, sich in seine Gewalt zu bekommen, bringen damit eine eigenthümliche Krankheit über ihn : nämlich eine beständige Reizbarkeit bei allen natürlichen Regungen und Nei|gungen und gleichsam eine Art Juckens. Was auch fürderhin ihn stossen, ziehen, anlokken, antreiben mag, von innen oder von aussen her – immer scheint es diesem Reizbaren, als ob jetzt seine Selbstbeherrschung in Gefahr gerathe : er darf sich keinem Instincte, keinem freien Flügelschlage mehr anvertrauen, sondern steht beständig mit abwehrender Gebärde da, bewaff net gegen sich selber, scharfen und misstrauischen Auges, der ewige Wächter seiner Burg, zu der er sich gemacht hat. Ja, er kann g r o s s damit sein ! Aber wie unausstehlich ist er nun für Andere geworden, wie schwer für sich selber, wie verarmt und abgeschnitten von den schönsten Zufälligkeiten der Seele ! Ja auch von aller weiteren B e le h r u n g ! Denn man muss sich auf Zeiten verlieren können, wenn man den Dingen, die wir nicht selber sind, Etwas ablernen will. 306. St oi k e r u nd E p i k u r e e r. – Der Epikureer sucht sich die Lage, die Personen und selbst die Ereignisse aus, welche zu seiner äusserst reizbaren intellectuellen Beschaffenheit passen, er verzichtet auf das Uebrige – das heisst das Allermeiste –, weil es eine zu starke und schwere Kost für ihn sein würde. Der Stoiker dagegen übt sich, Steine und Gewürm, Glassplitter und Skorpionen zu verschlucken und ohne Ekel zu sein ; sein Magen soll endlich gleichgültig gegen Alles werden, was der Zufall des Daseins in ihn schüttet : – er erinnert an jene arabische Secte der Assaua, die man in Algier kennen lernt ; und gleich diesen Unempfi ndlichen hat auch er gerne ein eingeladenes Publicum bei der Schaustellung seiner Unempfi nd-

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lichkeit, dessen ge|rade der Epikureer gerne enträth : – der hat ja seinen „Garten“ ! Für Menschen, mit denen das Schicksal improvisirt, für solche, die in gewaltsamen Zeiten und abhängig von plötzlichen und veränderlichen Menschen leben, mag der Stoicismus sehr rathsam sein. Wer aber einigermaassen a b s ie ht , dass das Schicksal ihm e i n e n l a n g e n Fa d e n zu spinnen erlaubt, thut wohl, sich epikureisch einzurichten ; alle Menschen der geistigen Arbeit haben es bisher gethan ! Ihnen wäre es nämlich der Verlust der Verluste, die feine Reizbarkeit einzubüssen und die stoische harte Haut mit Igelstacheln dagegen geschenkt zu bekommen. 307. Zu G u n s t e n d e r K r it i k . – Jetzt erscheint dir Etwas als Irrthum, das du ehedem als eine Wahrheit oder Wahrscheinlichkeit geliebt hast : du stösst es von dir ab und wähnst, dass deine Vernunft darin einen Sieg erfochten habe. Aber vielleicht war jener Irrthum damals, als du noch ein Anderer warst – du bist immer ein Anderer –, dir ebenso nothwendig wie alle deine jetzigen „Wahrheiten“, gleichsam als eine Haut, die dir Vieles verhehlte und verhüllte, was du noch nicht sehen durftest. Dein neues Leben hat jene Meinung für dich getödtet, nicht deine Vernunft : d u b r auc h s t s ie n ic ht me h r, und nun bricht sie in sich selbst zusammen, und die Unvernunft kriecht wie ein Gewürm aus ihr an’s Licht. Wenn wir Kritik üben, so ist es nichts Willkürliches und Unpersönliches, – es ist, wenigstens sehr oft, ein Beweis davon, dass lebendige treibende Kräfte in uns da sind, welche eine Rinde abstossen. Wir verneinen und müssen verneinen, weil Etwas in uns leben | und sich bejahen w i l l , Etwas, das wir vielleicht noch nicht kennen, noch nicht sehen ! – Diess zu Gunsten der Kritik.

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308. D ie G e s c h ic ht e je d e s Ta g e s . – Was macht bei dir die Geschichte jedes Tages ? Siehe deine Gewohnheiten an, aus denen sie besteht : sind sie das Erzeugniss zahlloser kleiner Feigheiten und Faulheiten oder das deiner Tapferkeit und erfi nderischen Vernunft ? So verschieden beide Fälle sind, es wäre möglich, dass die Menschen dir das gleiche Lob spendeten und dass du ihnen auch wirklich so wie so den gleichen Nutzen brächtest. Aber Lob und Nutzen und Respectabilität mögen genug für Den sein, der nur ein gutes Gewissen haben will, – nicht aber für dich Nierenprüfer, der du ein W i s s e n u m d a s G ew i s s e n hast ! 309. Au s d e r s ieb e nt e n E i n s a m k e it . – Eines Tages warf der Wanderer eine Thür hinter sich zu, blieb stehen und weinte. Dann sagte er : „Dieser Hang und Drang zum Wahren, Wirklichen, Un-Scheinbaren, Gewissen ! Wie bin ich ihm böse ! War um folgt m i r gerade dieser düstere und leidenschaftliche Treiber ! Ich möchte ausruhen, aber er lässt es nicht zu. Wie Vieles verführt mich nicht, zu verweilen ! Es giebt überall Gärten Armidens für mich : und daher immer neue Losreissungen und neue Bitternisse des Herzens ! Ich muss den Fuss weiter heben, diesen müden, verwundeten Fuss : und weil ich muss, so habe ich oft für das Schönste, das mich nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick, – we i l es mich nicht halten konnte !“ | 310. W i l le u nd We l le. – Wie gierig kommt diese Welle heran, als ob es Etwas zu erreichen gälte ! Wie kriecht sie mit furchterregender Hast in die innersten Winkel des felsigen Geklüftes hinein ! Es scheint, sie will Jemandem zuvorkommen ; es scheint, dass dort Etwas versteckt ist, das Werth, hohen Werth hat. – Und nun kommt sie zurück, etwas langsamer, immer noch ganz weiss vor Erregung, – ist sie enttäuscht ? Hat sie

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gefunden, was sie suchte ? Stellt sie sich enttäuscht ? – Aber schon naht eine andere Welle, gieriger und wilder noch als die erste, und auch ihre Seele scheint voll von Geheimnissen und dem Gelüste der Schatzgräberei zu sein. So leben die Wellen, – so leben wir, die Wollenden ! – mehr sage ich nicht. – So ? Ihr misstraut mir ? Ihr zürnt auf mich, ihr schönen Unthiere ? Fürchtet ihr, dass ich euer Geheimniss ganz verrathe ? Nun ! Zürnt mir nur, hebt eure grünen gefährlichen Leiber so hoch ihr könnt, macht eine Mauer zwischen mir und der Sonne – so wie jetzt ! Wahrlich, schon ist Nichts mehr von der Welt übrig, als grüne Dämmerung und grüne Blitze. Treibt es wie ihr wollt, ihr Ueber müthigen, brüllt vor Lust und Bosheit – oder taucht wieder hinunter, schüttet eure Smaragden hinab in die tiefste Tiefe, werft euer unendliches weisses Gezottel von Schaum und Gischt darüber weg – es ist mir Alles recht, denn Alles steht euch so gut, und ich bin euch für Alles so gut : wie werde ich euc h verrathen ! Denn – hört es wohl ! – ich kenne euch und euer Geheimniss, ich kenne euer Geschlecht ! Ihr und ich, wir sind ja aus Einem Geschlecht ! – Ihr und ich, wir haben ja Ein Geheimniss ! | 311. G e b r o c h e n e s L ic h t . – Man ist nicht immer tapfer, und wenn man müde wird, dann jammert unser Einer auch wohl einmal in dieser Weise. „Es ist so schwer, den Menschen wehe zu thun – oh, dass es nöthig ist ! Was nützt es uns, verborgen zu leben, wenn wir nicht Das für uns behalten wollen, was Aergerniss giebt ? Wäre es nicht räthlicher, im Gewühle zu leben und an den Einzelnen gutzumachen, was an Allen gesündigt werden soll und muss ? Thöricht mit dem Thoren, eitel mit dem Eitelen, schwärmerisch mit dem Schwärmer zu sein ? Wäre es nicht billig, bei einem solchen übermüthigen Grade der Abweichung im Ganzen ? Wenn ich von den Bosheiten Anderer gegen mich höre, – ist nicht mein erstes Gefühl das

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einer Genugthuung ? So ist es recht ! – scheine ich mir zu ihnen zu sagen – ich stimme so wenig zu euch und habe so viel Wahrheit auf meiner Seite : macht euch immerhin einen guten Tag auf meine Kosten, so oft ihr könnt ! Hier sind meine Mängel und Fehlgriffe, hier ist mein Wahn, mein Ungeschmack, meine Verwirrung, meine Thränen, meine Eitelkeit, meine Eulen-Verborgenheit, meine Widersprüche ! Hier habt ihr zu lachen ! So lacht denn auch und freut euch ! Ich bin nicht böse auf Gesetz und Natur der Dinge, welche wollen, dass Mängel und Fehlgriffe Freude machen ! – Freilich, es gab einmal „schönere“ Zeiten, wo man sich noch mit jedem einigermaassen neuen Gedanken so u ne nt b e h rl ic h fühlen konnte, um mit ihm auf die Strasse zu treten und Jedermann zuzurufen : ‚Siehe ! Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen !‘ – Ich würde mich nicht vermissen, wenn ich fehlte. Entbehrlich sind wir Alle ! – Aber, | wie gesagt, so denken wir nicht, wenn wir tapfer sind ; wir denken nicht d a r a n . 312. Me i n Hu nd . – Ich habe meinem Schmerze einen Namen gegeben und rufe ihn „Hund“, – er ist ebenso treu, ebenso zudringlich und schamlos, ebenso unterhaltend, ebenso klug, wie jeder andere Hund – und ich kann ihn anherrschen und meine bösen Launen an ihm auslassen : wie es Andere mit ihren Hunden, Dienern und Frauen machen. 313. K e i n M a r t e r b i l d . – Ich will es machen wie Raffael und kein Marterbild mehr malen. Es giebt der erhabenen Dinge genug, als dass man die Erhabenheit dort aufzusuchen hätte, wo sie mit der Grausamkeit in Schwesterschaft lebt ; und mein Ehrgeiz würde zudem kein Genügen daran fi nden, wenn ich mich zum sublimen Folterknecht machen wollte.

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314. Neue H au s t h ie r e. – Ich will meinen Löwen und meinen Adler um mich haben, damit ich allezeit Winke und Vorbedeutungen habe, zu wissen, wie gross oder wie gering meine Stärke ist. Muss ich heute zu ihnen hinabblicken und mich vor ihnen fürchten ? Und wird die Stunde wiederkommen, wo sie zu mir hinauf blicken und in Furcht ? – 315. Vo m le t z t e n S t ü n d le i n . – Stürme sind meine Gefahr : werde ich meinen Sturm haben, an dem ich zu | Grunde gehe, wie Oliver Cromwell an seinem Sturme zu Grunde gieng ? Oder werde ich verlöschen wie ein Licht, das nicht erst der Wind ausbläst, sondern das seiner selber müde und satt wurde, – ein ausgebranntes Licht ? Oder endlich : werde ich mich ausblasen, um nicht auszubrennen ? – 316. Prophetische Menschen. – Ihr habt kein Gefühl dafür, dass prophetische Menschen sehr leidende Menschen sind : ihr meint nur, es sei ihnen eine schöne „Gabe“ gegeben, und möchtet diese wohl gern selber haben, – doch ich will mich durch ein Gleichniss ausdrücken. Wie viel mögen die Thiere durch die Luft- und Wolken-Electricität leiden ! Wir sehen, dass einige Arten von ihnen ein prophetisches Vermögen hinsichtlich des Wetters haben, zum Beispiel die Affen (wie man selbst noch in Europa gut beobachten kann, und nicht nur in Menagerien, nämlich auf Gibraltar). Aber wir denken nicht daran, dass ihre Sc h mer z en – für sie die Propheten sind ! Wenn eine starke positive Electricität plötzlich unter dem Einflusse einer heranziehenden, noch lange nicht sichtbaren Wolke in negative Electricität umschlägt und eine Veränderung des Wetters sich vorbereitet, da benehmen sich diese Thiere so, als ob ein Feind herannahe, und richten sich zur Abwehr oder zur Flucht ein ;

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meistens verkriechen sie sich, – sie verstehen das schlechte Wetter nicht als Wetter, sondern als Feind, dessen Hand sie schon f ü h le n ! 317. R üc k bl ic k . – Wir werden uns des eigentlichen Pathos jeder Lebensperiode selten als eines solchen be|wusst, so lange wir in ihr stehen, sondern meinen immer, es sei der einzig uns nunmehr mögliche und vernünftige Zustand und durchaus Et ho s , nicht Pathos – mit den Griechen zu reden und zu trennen. Ein paar Töne von Musik riefen mir heute einen Winter und ein Haus und ein höchst einsiedlerisches Leben in’s Gedächtniss zurück und zugleich das Gefühl, in dem ich damals lebte : – ich meinte ewig so fortleben zu können. Aber jetzt begreife ich, dass es ganz und gar Pathos und Leidenschaft war, ein Ding, vergleichbar dieser schmerzhaft-muthigen und trostsichern Musik, – dergleichen darf man nicht auf Jahre oder gar auf Ewigkeiten haben : man würde für diesen Planeten damit zu „überirdisch“. 318. We i s he it i m S c h me r z . – Im Schmerz ist soviel Weisheit wie in der Lust : er gehört gleich dieser zu den arterhaltenden Kräften ersten Ranges. Wäre er diess nicht, so würde er längst zu Grunde gegangen sein ; dass er weh thut, ist kein Argument gegen ihn, es ist sein Wesen. Ich höre im Schmerze den Commandoruf des Schiffscapitains : „zieht die Segel ein !“ Auf tausend Arten die Segel zu stellen, muss der kühne Schiff fahrer „Mensch“ sich eingeübt haben, sonst wäre es gar zu schnell mit ihm vorbei, und der Ozean schlürfte ihn zu bald hinunter. Wir müssen auch mit verminderter Energie zu leben wissen : sobald der Schmerz sein Sicherheitssignal giebt, ist es an der Zeit, sie zu vermindern, – irgend eine grosse Gefahr, ein Sturm ist im Anzuge, und wir thun gut, uns so wenig als möglich „aufzubauschen“. – Es ist wahr, dass es Menschen giebt, welche beim Herannahen des grossen | Schmerzes gerade

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den entgegengesetzten Commandoruf hören, und welche nie stolzer, kriegerischer und glücklicher dreinschauen, als wenn der Sturm heraufzieht ; ja, der Schmerz selber giebt ihnen ihre grössten Augenblicke ! Das sind die heroischen Menschen, die grossen S c h me r z b r i n g e r der Menschheit : jene Wenigen oder Seltenen, die eben die selbe Apologie nöthig haben, wie der Schmerz überhaupt, – und wahrlich ! man soll sie ihnen nicht versagen ! Es sind arterhaltende, artfördernde Kräfte ersten Ranges : und wäre es auch nur dadurch, dass sie der Behaglichkeit widerstreben und vor dieser Art Glück ihren Ekel nicht verbergen. 319. A l s I nt e r p r e t e n u n s e r e r E r le b n i s s e. – Eine Art von Redlichkeit ist allen Religionsstiftern und Ihresgleichen fremd gewesen : – sie haben nie sich aus ihren Erlebnissen eine Gewissenssache der Erkenntniss gemacht. „Was habe ich eigentlich erlebt ? Was gieng damals in mir und um mich vor ? War meine Vernunft hell genug ? War mein Wille gegen alle Betrügereien der Sinne gewendet und tapfer in seiner Abwehr des Phantastischen ?“ – so hat Keiner von ihnen gefragt, so fragen alle die lieben Religiösen auch jetzt noch nicht : sie haben vielmehr einen Durst nach Dingen, welche w id e r d ie Ve r nu n f t sind, und wollen es sich nicht zu schwer machen, ihn zu befriedigen, – so erleben sie denn „Wunder“ und „Wiedergeburten“ und hören die Stimmen der Englein ! Aber wir, wir Anderen, Vernunft-Durstigen, wollen unseren Erlebnissen so streng in’s Auge sehen, wie einem wissenschaftlichen Versuche, Stunde für Stunde, Tag um Tag ! | Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchs-Thiere sein. 320. B e i m W ie d e r s e he n . – A. : Verstehe ich dich noch ganz ? Du suchst ? Wo ist inmitten der jetzt wirklichen Welt d e i n Winkel und Stern ? Wo kannst d u dich in die Sonne legen,

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sodass auch dir ein Ueberschuss von Wohl kommt und dein Dasein sich rechtfertigt ? Möge das Jeder für sich selber thun – scheinst du mir zu sagen – und das Reden in’s Allgemeine, das Sorgen für den Anderen und die Gesellschaft sich aus dem Sinne schlagen ! – B. : Ich will mehr, ich bin kein Suchender. Ich will für mich eine eigene Sonne schaffen. 321. Neue Vor s ic ht . – Lasst uns nicht mehr so viel an Strafen, Tadeln und Bessern denken ! Einen Einzelnen werden wir selten verändern ; und wenn es uns gelingen sollte, so ist vielleicht unbesehens auch Etwas mitgelungen : w i r sind durch ihn verändert worden ! Sehen wir vielmehr zu, dass unser eigener Einfluss au f a l le s K om me nd e seinen Einfluss aufwiegt und überwiegt ! Ringen wir nicht im directen Kampfe ! – und das ist auch alles Tadeln, Strafen und Bessernwollen. Sondern erheben wir uns selber um so höher ! Geben wir unserm Vorbilde immer leuchtendere Farben ! Verdunkeln wir den Andern durch unser Licht ! Nein ! Wir wollen nicht um seinetwillen selber d u n k le r werden, gleich allen Strafenden und Unzufriedenen ! Gehen wir lieber bei Seite ! Sehen wir weg ! | 322. G le ic h n i s s . – Jene Denker, in denen alle Sterne sich in kyklischen Bahnen bewegen, sind nicht die tiefsten ; wer in sich wie in einen ungeheuren Weltraum hineinsieht und Milchstrassen in sich trägt, der weiss auch, wie unregelmässig alle Milchstrassen sind ; sie führen bis in’s Chaos und Labyrinth des Daseins hinein. 323. G lüc k i m S c h ic k s a l . – Die grösste Auszeichnung erweist uns das Schicksal, wenn es uns eine Zeit lang auf der Seite unserer Gegner hat kämpfen lassen. Damit sind wir vor he r b e s t i m mt zu einem grossen Siege.

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324. I n med ia v it a. – Nein ! Das Leben hat mich nicht enttäuscht ! Von Jahr zu Jahr fi nde ich es vielmehr wahrer, begehrenswerther und geheimnissvoller, – von jenem Tage an, wo der grosse Befreier über mich kam, jener Gedanke, dass das Leben ein Experiment des Erkennenden sein dürfe – und nicht eine Pfl icht, nicht ein Verhängniss, nicht eine Betrügerei ! – Und die Erkenntniss selber : mag sie für Andere etwas Anderes sein, zum Beispiel ein Ruhebett oder der Weg zu einem Ruhebett, oder eine Unterhaltung, oder ein Müssiggang, – für mich ist sie eine Welt der Gefahren und Siege, in der auch die heroischen Gefühle ihre Tanz- und Tummelplätze haben. „ D a s L eb e n e i n M it t e l d e r Erk e n nt n i s s“ – mit diesem Grundsatze im Herzen kann man nicht nur tapfer, sondern sogar fröhlich leben und fröhlich lachen ! Und wer | verstünde überhaupt gut zu lachen und zu leben, der sich nicht vorerst auf Krieg und Sieg gut verstünde ? 325. Wa s z u r Gr ö s s e g e hör t . – Wer wird etwas Grosses erreichen, wenn er nicht die Kraft und den Willen in sich fühlt, grosse Schmerzen z u z u f ü g e n ? Das Leidenkönnen ist das Wenigste : darin bringen es schwache Frauen und selbst Sclaven oft zur Meisterschaft. Aber nicht an innerer Noth und Unsicherheit zu Grunde gehn, wenn man grosses Leid zufügt und den Schrei dieses Leides hört – das ist gross, das gehört zur Grösse. 326. D i e S e e le n -A e r z t e u n d d e r S c h m e r z . – Alle Moralprediger, wie auch alle Theologen, haben eine gemeinsame Unart : alle suchen den Menschen aufzureden, sie befänden sich sehr schlecht und es thue eine harte letzte radicale Cur noth. Und weil die Menschen insgesammt jenen Lehren ihr Ohr zu eifrig und ganze Jahrhunderte lang hingehalten ha-

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ben, ist zuletzt wirklich Etwas von jenem Aberglauben, dass es ihnen sehr schlecht gehe, auf sie übergegangen : sodass sie jetzt gar zu gerne einmal bereit sind, zu seufzen und Nichts mehr am Leben zu fi nden und miteinander betrübte Mienen zu machen, wie als ob es doch gar schwer au s z u h a lt e n sei. In Wahrheit sind sie unbändig ihres Lebens sicher und in dasselbe verliebt und voller unsäglicher Listen und Feinheiten, um das Unangenehme zu brechen und dem Schmerze und Unglücke seinen Dorn auszuziehen. Es will mir scheinen, dass vom Schmerze und Unglücke immer ü b e r t r ieb e n geredet | werde, wie als ob es eine Sache der guten Lebensart sei, hier zu übertreiben : man schweigt dagegen gefl issentlich davon, dass es gegen den Schmerz eine Unzahl Linderungsmittel giebt, wie Betäubungen, oder die fieberhafte Hast der Gedanken, oder eine ruhige Lage, oder gute und schlimme Erinnerungen, Absichten, Hoff nungen, und viele Arten von Stolz und Mitgefühl, die beinahe die Wirkung von Anästheticis haben : während bei den höchsten Graden des Schmerzes schon von selber Ohnmachten eintreten. Wir verstehen uns ganz gut darauf, Süssigkeiten auf unsere Bitternisse zu träufeln, namentlich auf die Bitternisse der Seele ; wir haben Hülfsmittel in unserer Tapferkeit und Erhabenheit, sowie in den edleren Delirien der Unterwerfung und der Resignation. Ein Verlust ist kaum eine Stunde ein Verlust : irgendwie ist uns damit auch ein Geschenk vom Himmel gefallen – eine neue Kraft zum Beispiel : und sei es auch nur eine neue Gelegenheit zur Kraft ! Was haben die Moralprediger vom inneren „Elend“ der bösen Menschen phantasirt ! Was haben sie gar vom Unglücke der leidenschaftlichen Menschen uns vor g e log e n ! – ja, lügen ist hier das rechte Wort : sie haben um das überreiche Glück dieser Art von Menschen recht wohl gewusst, aber es todtgeschwiegen, weil es eine Widerlegung ihrer Theorie war, nach der alles Glück erst mit der Vernichtung der Leidenschaft und dem Schweigen des Willens entsteht ! Und was

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zuletzt das Recept aller dieser Seelen-Aerzte betriff t und ihre Anpreisung einer harten radicalen Cur : so ist es erlaubt, zu fragen : ist dieses unser Leben wirklich schmerzhaft und lästig genug, um mit Vortheil eine stoische Lebensweise und Versteinerung dagegen einzutauschen ? Wir befi nden | uns n ic ht s c h le c ht g e nu g , um uns auf stoische Art schlecht befi nden zu müssen ! 327. E r n s t ne h me n . – Der Intellect ist bei den Allermeisten eine schwerfällige, fi nstere und knarrende Maschine, welche übel in Gang zu bringen ist : sie nennen es „die Sache e r n s t ne h me n“, wenn sie mit dieser Maschine arbeiten und gut denken wollen – oh wie lästig muss ihnen das Gut-Denken sein ! Die liebliche Bestie Mensch verliert jedesmal, wie es scheint, die gute Laune, wenn sie gut denkt ; sie wird „ernst“ ! Und „wo Lachen und Fröhlichkeit ist, da taugt das Denken Nichts“ : – so lautet das Vorurtheil dieser ernsten Bestie gegen alle „fröhliche Wissenschaft“. – Wohlan ! Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist ! 328. D e r D u m m he it S c h a d e n t hu n . – Gewiss hat der so hartnäckig und überzeugt gepredigte Glaube von der Verwerflichkeit des Egoismus im Ganzen dem Egoismus Schaden gethan (z u G u n s t e n , wie ich hundertmal wiederholen werde, d e r H e e r d e n - I n s t i n c t e !), namentlich dadurch, dass er ihm das gute Gewissen nahm und in ihm die eigentliche Quelle alles Unglücks suchen hiess. „Deine Selbstsucht ist das Unheil deines Lebens“ – so klang die Predigt Jahrtausende lang : es that, wie gesagt, der Selbstsucht Schaden und nahm ihr viel Geist, viel Heiterkeit, viel Erfi ndsamkeit, viel Schönheit, es verdummte und verhässlichte und vergiftete die Selbstsucht ! – Das philosophische Alterthum lehrte dagegen eine andere Hauptquelle des Unheils : von So|krates an wurden die Denker nicht müde, zu predigen : „eure Gedanken-

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losigkeit und Dummheit, euer Dahinleben nach der Regel, eure Unterordnung unter die Meinung des Nachbars ist der Grund, wesshalb ihr es so selten zum Glück bringt, – wir Denker sind als Denker die Glücklichsten.“ Entscheiden wir hier nicht, ob diese Predigt gegen die Dummheit bessere Gründe für sich hatte, als jene Predigt gegen die Selbstsucht ; gewiss aber ist das, dass sie der Dummheit das gute Gewissen nahm : – diese Philosophen haben der Dummheit S c h a d e n g et h a n . 329. Mu s s e u nd Mü s s i g g a n g. – Es ist eine indianerhafte, dem Indianer-Blute eigenthümliche Wildheit in der Art, wie die Amerikaner nach Gold trachten : und ihre athemlose Hast der Arbeit – das eigentliche Laster der neuen Welt – beginnt bereits durch Ansteckung das alte Europa wild zu machen und eine ganz wunderliche Geistlosigkeit darüber zu breiten. Man schämt sich jetzt schon der Ruhe ; das lange Nachsinnen macht beinahe Gewissensbisse. Man denkt mit der Uhr in der Hand, wie man zu Mittag isst, das Auge auf das Börsenblatt gerichtet, – man lebt, wie Einer, der fortwährend Etwas „versäumen könnte“. „Lieber irgend Etwas thun, als Nichts“ – auch dieser Grundsatz ist eine Schnur, um aller Bildung und allem höheren Geschmack den Garaus zu machen. Und so wie sichtlich alle Formen an dieser Hast der Arbeitenden zu Grunde gehen : so geht auch das Gefühl für die Form selber, das Ohr und Auge für die Melodie der Bewegungen zu Grunde. Der Beweis dafür liegt in der | jetzt überall geforderten plu m p e n D eut l ic h k e it , in allen den Lagen, wo der Mensch einmal redlich mit Menschen sein will, im Verkehre mit Freunden, Frauen, Verwandten, Kindern, Lehrern, Schülern, Führern und Fürsten, – man hat keine Zeit und keine Kraft mehr für die Ceremonien, für die Verbindlichkeit mit Umwegen, für allen Esprit der Unterhaltung und überhaupt für alles O t iu m . Denn das Leben auf der Jagd nach Gewinn

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zwingt fortwährend dazu, seinen Geist bis zur Erschöpfung auszugeben, im beständigen Sich-Verstellen oder Ueberlisten oder Zuvorkommen : die eigentliche Tugend ist jetzt, Etwas in weniger Zeit zu thun, als ein Anderer. Und so giebt es nur selten Stunden der e rl au bt e n Redlichkeit ; in diesen aber ist man müde und möchte sich nicht nur „gehen lassen“, sondern lang und breit und plump sich h i n s t r ec k e n . Gemäss diesem Hange schreibt man jetzt seine Br ie f e ; deren Stil und Geist immer das eigentliche „Zeichen der Zeit“ sein werden. Giebt es noch ein Vergnügen an Gesellschaft und an Künsten, so ist es ein Vergnügen, wie es müdegearbeitete Sclaven sich zurecht machen. Oh über diese Genügsamkeit der „Freude“ bei unsern Gebildeten und Ungebildeten ! Oh über diese zunehmende Verdächtigung aller Freude ! Die A r b e it bekommt immer mehr alles gute Gewissen auf ihre Seite : der Hang zur Freude nennt sich bereits „Bedürfniss der Erholung“ und fängt an, sich vor sich selber zu schämen. „Man ist es seiner Gesundheit schuldig“ – so redet man, wenn man auf einer Landpartie ertappt wird. Ja, es könnte bald so weit kommen, dass man einem Hange zur vita contemplativa (das heisst zum Spazierengehen mit Gedanken und Freunden) nicht ohne Selbstverachtung | und schlechtes Gewissen nachgäbe. – Nun ! Ehedem war es umgekehrt : die Arbeit hatte das schlechte Gewissen auf sich. Ein Mensch von guter Abkunft ve r b a r g seine Arbeit, wenn die Noth ihn zum Arbeiten zwang. Der Sclave arbeitete unter dem Druck des Gefühls, dass er etwas Verächtliches thue : – das „Thun“ selber war etwas Verächtliches. „Die Vornehmheit und die Ehre sind allein bei otium und bellum“ : so klang die Stimme des antiken Vorurtheils ! 330. B e i f a l l . – Der Denker bedarf des Beifalls und des Händeklatschens nicht, vorausgesetzt, dass er seines eigenen Händeklatschens sicher ist : diess aber kann er nicht entbehren. Giebt

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es Menschen, welche auch dessen und überhaupt jeder Gattung von Beifall entrathen könnten ? Ich zweifle : und selbst in Betreff der Weisesten sagt Tacitus, der kein Verleumder der Weisen ist, quando etiam sapientibus gloriae cupido novissima exuitur – das heisst bei ihm : niemals. 331. Lieber taub, a ls betäubt. – Ehemals wollte man sich einen Ruf machen : das genügt jetzt nicht mehr, da der Markt zu gross geworden ist, – es muss ein G e s c h r e i sein. Die Folge ist, dass auch gute Kehlen sich überschreien, und die besten Waaren von heiseren Stimmen ausgeboten werden ; ohne Marktschreierei und Heiserkeit giebt es jetzt kein Genie mehr. – Das ist nun freilich ein böses Zeitalter für den Denker : er muss lernen, zwischen zwei Lärmen noch seine Stille zu fi nden, und sich so lange taub stellen, bis er es ist. So | lange er diess noch nicht gelernt hat, ist er freilich in Gefahr, vor Ungeduld und Kopfschmerzen zu Grunde zu gehen. 332. D ie b ö s e St u nd e. – Es hat wohl für jeden Philosophen eine böse Stunde gegeben, wo er dachte : was liegt an mir, wenn man mir nicht auch meine schlechten Argumente glaubt ! – Und dann flog irgend ein schadenfrohes Vögelchen an ihm vorüber und zwitscherte : „Was liegt an dir ? Was liegt an dir ?“ 333. Wa s he i s s t e r k e n ne n . – Non ridere, non lugere, neque detestari, sed intelligere ! sagt Spinoza, so schlicht und erhaben, wie es seine Art ist. Indessen : was ist diess intelligere im letzten Grunde Anderes, als die Form, in der uns eben jene Drei auf Einmal fühlbar werden ? Ein Resultat aus den verschiedenen und sich widerstrebenden Trieben des Verlachen-, Beklagen, Verwünschen-wollens ? Bevor ein Erkennen möglich ist,

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muss jeder dieser Triebe erst seine einseitige Ansicht über das Ding oder Vorkommniss vorgebracht haben ; hinterher entstand der Kampf dieser Einseitigkeiten und aus ihm bisweilen eine Mitte, eine Beruhigung, ein Rechtgeben nach allen drei Seiten, eine Art Gerechtigkeit und Vertrag : denn, vermöge der Gerechtigkeit und des Vertrags können alle diese Triebe sich im Dasein behaupten und mit einander Recht behalten. Wir, denen nur die letzten Versöhnungsscenen und SchlussAbrechnungen dieses langen Processes zum Bewusstsein kommen, meinen demnach, intelligere sei etwas Versöhnliches, Gerechtes, Gutes, etwas wesentlich den | Trieben Entgegengesetztes ; während es nur ein g ew i s s e s Ve r h a lt e n der Tr iebe z u ei na nder i st. Die längsten Zeiten hindurch hat man bewusstes Denken als das Denken überhaupt betrachtet : jetzt erst dämmert uns die Wahrheit auf, dass der allergrösste Theil unseres geistigen Wirkens uns unbewusst, ungefühlt verläuft ; ich meine aber, diese Triebe, die hier mit einander kämpfen, werden recht wohl verstehen, sich e i n a n d e r dabei fühlbar zu machen und wehe zu thun – : jene gewaltige plötzliche Erschöpfung, von der alle Denker heimgesucht werden, mag da ihren Ursprung haben (es ist die Erschöpfung auf dem Schlachtfelde). Ja, vielleicht giebt es in unserm kämpfenden Innern manches verborgene He r o e nt hu m , aber gewiss nichts Göttliches, Ewig-in-sich-Ruhendes, wie Spinoza meinte. Das b ew u s s t e Denken, und namentlich das des Philosophen, ist die unkräftigste und desshalb auch die verhältnissmässig mildeste und ruhigste Art des Denkens : und so kann gerade der Philosoph am leichtesten über die Natur des Erkennens irre geführt werden. 334. M a n mu s s l ieb e n le r ne n . – So geht es uns in der Musik : erst muss man eine Figur und Weise überhaupt hör e n le r ne n , heraushören, unterscheiden, als ein Leben für sich isoli-

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ren und abgrenzen ; dann braucht es Mühe und guten Willen, sie zu e r t r a g e n , trotz ihrer Fremdheit, Geduld gegen ihren Blick und Ausdruck, Mildherzigkeit gegen das Wunderliche an ihr zu üben : – endlich kommt ein Augenblick, wo wir ihrer g ewoh nt sind, wo wir sie erwarten, wo wir ahnen, dass sie uns fehlen würde, wenn sie fehlte ; und nun wirkt sie ihren | Zwang und Zauber fort und fort und endet nicht eher, als bis wir ihre demüthigen und entzückten Liebhaber geworden sind, die nichts Besseres von der Welt mehr wollen, als sie und wieder sie. – So geht es uns aber nicht nur mit der Musik : gerade so haben wir alle Dinge, die wir jetzt lieben, l ieb e n g e le r nt . Wir werden schliesslich immer für unseren guten Willen, unsere Geduld, Billigkeit, Sanftmüthigkeit gegen das Fremde belohnt, indem das Fremde langsam seinen Schleier abwirft und sich als neue unsägliche Schönheit darstellt : – es ist sein D a n k für unsere Gastfreundschaft. Auch wer sich selber liebt, wird es auf diesem Wege gelernt haben : es giebt keinen anderen Weg. Auch die Liebe muss man lernen. 335. Ho c h d ie Phy s i k ! – Wie viel Menschen verstehen denn zu beobachten ! Und unter den wenigen, die es verstehen, – wie viele beobachten sich selber ! „Jeder ist sich selber der Fernste“ – das wissen alle Nierenprüfer, zu ihrem Unbehagen ; und der Spruch „erkenne dich selbst !“ ist, im Munde eines Gottes und zu Menschen geredet, beinahe eine Bosheit. D a s s es aber so verzweifelt mit der Selbstbeobachtung steht, dafür zeugt Nichts mehr, als die Art, wie über das Wesen einer moralischen Handlung f a s t vo n Je d e r m a n n gesprochen wird, diese schnelle, bereitwillige, überzeugte, redselige Art, mit ihrem Blick, ihrem Lächeln, ihrem gefälligen Eifer ! Man scheint dir sagen zu wollen : „Aber, mein Lieber, das gerade ist me i ne Sache ! Du wendest dich mit deiner Frage an Den, der antworten d a r f : ich bin zufällig in Nichts so weise, | wie

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hierin. Also : wenn der Mensch urtheilt „ s o i s t e s r e c ht“, wenn er darauf schliesst „d a r u m mu s s e s g e s c he he n ! “ und nun t hut , was er dergestalt als recht erkannt und als nothwendig bezeichnet hat, – so ist das Wesen seiner Handlung mor a l i s c h !“ Aber, mein Freund, du sprichst mir da von drei Handlungen statt von einer : auch dein Urtheilen zum Beispiel „so ist es recht“ ist eine Handlung, – könnte nicht schon auf eine moralische und auf eine unmoralische Weise geurtheilt werden ? Wa r u m hältst du diess und gerade diess für recht ? – „Weil mein Gewissen es mir sagt ; das Gewissen redet nie unmoralisch, es bestimmt ja erst, was moralisch sein soll !“ – Aber warum hör s t du auf die Sprache deines Gewissens ? Und inwiefern hast du ein Recht, ein solches Urtheil als wahr und untrüglich anzusehen ? Für diesen Gl aub e n – giebt es da kein Gewissen mehr ? Weisst du Nichts von einem intellectuellen Gewissen ? Einem Gewissen hinter deinem „Gewissen“ ? Dein Urtheil „so ist es recht“ hat eine Vorgeschichte in deinen Trieben, Neigungen, Abneigungen, Erfahrungen und Nicht-Erfahrungen ; „w i e ist es da entstanden ?“ musst du fragen, und hinterher noch : „w a s treibt mich eigentlich, ihm Gehör zu schenken ?“ Du kannst seinem Befehle Gehör schenken, wie ein braver Soldat, der den Befehl seines Offiziers vernimmt. Oder wie ein Weib, das Den liebt, der befiehlt. Oder wie ein Schmeichler und Feigling, der sich vor dem Befehlenden fürchtet. Oder wie ein Dummkopf, welcher folgt, weil er Nichts dagegen zu sagen hat. Kurz, auf hundert Arten kannst du deinem Gewissen Gehör geben. D a s s du aber diess und jenes Urtheil als Sprache des Gewissens hörst, also, d a s s du Etwas als recht empfi ndest, kann seine Ursache darin | haben, dass du nie über dich nachgedacht hast und blindlings annahmst, was dir als r ec ht von Kindheit an bezeichnet worden ist : oder darin, dass dir Brod und Ehren bisher mit dem zu Theil wurde, was du deine Pfl icht nennst, – es gilt dir als „recht“, weil es dir d e i ne „Existenz-Bedingung“ scheint (dass

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du aber ein R e c ht auf Existenz habest, dünkt dich unwiderleglich !). Die Fe s t i g k e it deines moralischen Urtheils könnte immer noch ein Beweis gerade von persönlicher Erbärmlichkeit, von Unpersönlichkeit sein, deine „moralische Kraft“ könnte ihre Quelle in deinem Eigensinn haben – oder in deiner Unfähigkeit, neue Ideale zu schauen ! Und, kurz gesagt : wenn du feiner gedacht, besser beobachtet und mehr gelernt hättest, würdest du diese deine „Pfl icht“ und diess dein „Gewissen“ unter allen Umständen nicht mehr Pfl icht und Gewissen benennen : die Einsicht darüber, w ie ü b e r h au p t je m a l s mor a l i s c he Ur t he i le e nt s t a nd e n s i nd , würde dir diese pathetischen Worte verleiden, – so wie dir schon andere pathetische Worte, zum Beispiel „Sünde“, „Seelenheil“, „Erlösung“ verleidet sind. – Und nun rede mir nicht vom kategorischen Imperativ, mein Freund ! – diess Wort kitzelt mein Ohr, und ich muss lachen, trotz deiner so ernsthaften Gegenwart : ich gedenke dabei des alten Kant, der, zur Strafe dafür, dass er „das Ding an sich“ – auch eine sehr lächerliche Sache ! – sich e r s c h l ic he n hatte, vom „kategorischen Imperativ“ beschlichen wurde und mit ihm im Herzen sich wieder zu „Gott“, „Seele“, „Freiheit“ und „Unsterblichkeit“ z u r üc k ve r i r r t e, einem Fuchse gleich, der sich in seinen Käfig zurückverirrt : – und s e i ne Kraft und Klugheit war es gewesen, welche diesen Käfig e r|br o c he n hatte ! – Wie ? Du bewunderst den kategorischen Imperativ in dir ? Diese „Festigkeit“ deines sogenannten moralischen Ur theils ? Diese „Unbedingtheit“ des Gefühls „so wie ich, müssen hierin Alle urtheilen“ ? Bewundere vielmehr deine S e l b s t s uc ht darin ! Und die Blindheit, Kleinlichkeit und Anspruchslosigkeit deiner Selbstsucht ! Selbstsucht nämlich ist es, s e i n Urtheil als Allgemeingesetz zu empfi nden ; und eine blinde, kleinliche und anspruchslose Selbstsucht hinwiederum, weil sie verräth, dass du dich selber noch nicht entdeckt, dir selber noch kein eigenes, eigenstes Ideal geschaffen hast : – diess nämlich könnte niemals das eines Anderen

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sein, geschweige denn Aller, Aller ! – – Wer noch ur theilt „so müsste in diesem Falle Jeder handeln“, ist noch nicht fünf Schritt weit in der Selbsterkenntniss gegangen : sonst würde er wissen, dass es weder gleiche Handlungen giebt, noch geben kann, – dass jede Handlung, die gethan worden ist, auf eine ganz einzige und unwiederbringliche Art gethan wurde, und dass es ebenso mit jeder zukünftigen Handlung stehen wird, – dass alle Vorschriften des Handelns sich nur auf die gröbliche Aussenseite beziehen (und selbst die innerlichsten und feinsten Vorschriften aller bisherigen Moralen), – dass mit ihnen wohl ein Schein der Gleichheit, a b e r eb e n nu r e i n S c he i n erreicht werden kann, – dass je d e Handlung, beim Hinblick oder Rückblick auf sie, eine undurchdringliche Sache ist und bleibt, – dass unsere Meinungen von „gut“, „edel“, „gross“ durch unsere Handlungen nie b e w i e s e n werden können, weil jede Handlung unerkennbar ist,  – dass sicherlich unsere Meinungen, Werthschätzungen und Gütertafeln zu den mächtigsten Hebeln im Räder|werk unserer Handlungen gehören, dass aber für jeden einzelnen Fall das Gesetz ihrer Mechanik unnachweisbar ist. B e s c h r ä n k e n wir uns also auf die Reinigung unserer Meinungen und Werthschätzungen und auf die Sc höpf u ng neuer eigener Güter t a fel n :  – über den „moralischen Werth unserer Handlungen“ aber wollen wir nicht mehr grübeln ! Ja, meine Freunde ! In Hinsicht auf das ganze moralische Geschwätz der Einen über die Andern ist der Ekel an der Zeit ! Moralisch zu Gericht sitzen soll uns wider den Geschmack gehen ! Ueberlassen wir diess Geschwätz und diesen üblen Geschmack Denen, welche nicht mehr zu thun haben, als die Vergangenheit um ein kleines Stück weiter durch die Zeit zu schleppen und welche selber niemals Gegenwart sind, – den Vielen also, den Allermeisten ! Wir aber wol le n D ie werden, d ie w i r si nd , – die Neuen, die Einmaligen, die Unvergleichbaren, die Sich-selber-Gesetzgebenden, die Sich-selber-Schaffenden ! Und dazu müssen

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wir die besten Lerner und Entdecker alles Gesetzlichen und Nothwendigen in der Welt werden : wir müssen Phy s i k e r sein, um, in jenem Sinne, S c hö pf e r sein zu können, – während bisher alle Werthschätzungen und Ideale auf Un k e n ntn i s s der Physik oder im W id e r s p r uc h mit ihr aufgebaut waren. Und darum : Hoch die Physik ! Und höher noch das, was uns zu ihr z w i n g t , – unsre Redlichkeit ! 336. G e i z d e r Nat u r. – Warum ist die Natur so kärglich gegen den Menschen gewesen, dass sie ihn nicht leuchten liess, Diesen mehr, Jenen weniger, je nach seiner innern Lichtfülle ? Warum haben grosse Menschen nicht eine | so schöne Sichtbarkeit in ihrem Aufgange und Niedergange, wie die Sonne ? Wie viel unzweideutiger wäre alles Leben unter Menschen ! 337. D ie z u k ü n f t i g e „ Me n s c h l ic h k e it“. – Wenn ich mit den Augen eines fernen Zeitalters nach diesem hinsehe, so weiss ich an dem gegenwärtigen Menschen nichts Merkwürdigeres zu fi nden, als seine eigenthümliche Tugend und Krankheit, genannt „der historische Sinn“. Es ist ein Ansatz zu etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte : gebe man diesem Keime einige Jahrhunderte und mehr, so könnte daraus am Ende ein wundervolles Gewächs mit einem eben so wundervollen Geruche werden, um dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre, als bisher. Wir Gegenwärtigen fangen eben an, die Kette eines zukünftigen sehr mächtigen Gefühls zu bilden, Glied um Glied, – wir wissen kaum, was wir thun. Fast scheint es uns, als ob es sich nicht um ein neues Gefühl, sondern um die Abnahme aller alten Gefühle handele : – der historische Sinn ist noch etwas so Armes und Kaltes, und Viele werden von ihm wie von einem Froste befallen und durch ihn noch ärmer und kälter gemacht. Ande-

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ren erscheint er als das Anzeichen des heranschleichenden Alters, und unser Planet gilt ihnen als ein schwermüthiger Kranker, der, um seine Gegenwart zu vergessen, sich seine Jugendgeschichte aufschreibt. In der That : diess ist Eine Farbe dieses neuen Gefühls : wer die Geschichte der Menschen insgesammt als e i g e ne G e s c h ic ht e zu fühlen weiss, der empfi ndet in einer ungeheuren Verallgemei|nerung allen jenen Gram des Kranken, der an die Gesundheit, des Greises, der an den Jugendtraum denkt, des Liebenden, der der Geliebten beraubt wird, des Märtyrers, dem sein Ideal zu Grunde geht, des Helden am Abend der Schlacht, welche Nichts entschieden hat und doch ihm Wunden und den Verlust des Freundes brachte – ; aber diese ungeheure Summe von Gram aller Art tragen, tragen können und nun doch noch der Held sein, der beim Anbruch eines zweiten Schlachttages die Morgenröthe und sein Glück begrüsst, als der Mensch eines Horizontes von Jahrtausenden vor sich und hinter sich, als der Erbe aller Vornehmheit alles vergangenen Geistes und der verpfl ichtete Erbe, als der Adeligste aller alten Edlen und zugleich der Erstling eines neuen Adels, dessen Gleichen noch keine Zeit sah und träumte : diess Alles auf seine Seele nehmen, Aeltestes, Neuestes, Verluste, Hoff nungen, Eroberungen, Siege der Menschheit : diess Alles endlich in Einer Seele haben und in Ein Gefühl zusammendrängen : – diess müsste doch ein Glück ergeben, das bisher der Mensch noch nicht kannte, – eines Gottes Glück voller Macht und Liebe, voller Thränen und voll Lachens, ein Glück, welches, wie die Sonne am Abend, fortwährend aus seinem unerschöpflichen Reichthume wegschenkt und in’s Meer schüttet und, wie sie, sich erst dann am reichsten fühlt, wenn auch der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert ! Dieses göttliche Gefühl hiesse dann – Menschlichkeit !

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338. D e r W i l le z u m L e id e n u nd d ie M it le id i g e n . – Ist es euch selber zuträglich, vor Allem mitleidige Men|schen zu sein ? Und ist es den Leidenden zuträglich, wenn ihr es seid ? Doch lassen wir die erste Frage für einen Augenblick ohne Antwort. – Das, woran wir am tiefsten und persönlichsten leiden, ist fast allen Anderen unverständlich und unzugänglich : darin sind wir dem Nächsten verborgen, und wenn er mit uns aus Einem Topfe isst. Ueberall aber, wo wir als Leidende b e me r k t werden, wird unser Leiden flach ausgelegt ; es gehört zum Wesen der mitleidigen Affection, dass sie das fremde Leid des eigentlich Persönlichen e nt k le id et : – unsre „Wohlthäter“ sind mehr als unsre Feinde die Verkleinerer unsres Werthes und Willens. Bei den meisten Wohlthaten, die Unglücklichen erwiesen werden, liegt etwas Empörendes in der intellectuellen Leichtfertigkeit, mit der da der Mitleidige das Schicksal spielt : er weiss Nichts von der ganzen inneren Folge und Verflechtung, welche Unglück für m ic h oder für d ic h heisst ! Die gesammte Oekonomie meiner Seele und deren Ausgleichung durch das „Unglück“, das Auf brechen neuer Quellen und Bedürfnisse, das Zuwachsen alter Wunden, das Abstossen ganzer Vergangenheiten – das Alles, was mit dem Unglück verbunden sein kann, kümmert den lieben Mitleidigen nicht : er will he l f e n und denkt nicht daran, dass es eine persönliche Nothwendigkeit des Unglücks giebt, dass mir und dir Schrecken, Entbehrungen, Verarmungen, Mitternächte, Abenteuer, Wagnisse, Fehlgriffe so nöthig sind, wie ihr Gegentheil, ja dass, um mich mystisch auszudrücken, der Pfad zum eigenen Himmel immer durch die Wollust der eigenen Hölle geht. Nein, davon weiss er Nichts : die „Religion des Mitleidens“ (oder „das Herz“) gebietet, zu helfen, und man glaubt am besten geholfen zu haben, | wenn man am schnellsten geholfen hat ! Wenn ihr Anhänger dieser Religion die selbe Gesinnung, die ihr gegen die Mitmenschen habt, auch wirklich

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gegen euch selber habt, wenn ihr euer eigenes Leiden nicht eine Stunde auf euch liegen lassen wollt und immerfort allem möglichen Unglücke von ferne her schon vorbeugt, wenn ihr Leid und Unlust überhaupt als böse, hassenswerth, vernichtungswürdig, als Makel am Dasein empfi ndet : nun, dann habt ihr, ausser eurer Religion des Mitleidens, auch noch eine andere Religion im Herzen, und diese ist vielleicht die Mutter von jener : – die R e l i g io n d e r B e h a g l ic h k e it . Ach, wie wenig wisst ihr vom G lüc k e des Menschen, ihr Behaglichen und Gutmüthigen ! – denn das Glück und das Unglück sind zwei Geschwister und Zwillinge, die mit einander gross wachsen oder, wie bei euch, mit einander – k le i n ble i b e n ! Aber nun zur ersten Frage zurück. – Wie ist es nur möglich, auf s e i ne m Wege zu bleiben ! Fortwährend ruft uns irgend ein Geschrei seitwärts ; unser Auge sieht da selten Etwas, wobei es nicht nöthig wird, augenblicklich unsre eigne Sache zu lassen und zuzuspringen. Ich weiss es : es giebt hundert anständige und rühmliche Arten, um mich vo n m e i n e m We g e zu verlieren, und wahrlich höchst „moralische“ Arten ! Ja, die Ansicht der jetzigen Mitleid-Moralprediger geht sogar dahin, dass eben Diess und nur Diess allein moralisch sei : – sich dergestalt von s e i n e m Wege zu verlieren und dem Nächsten beizuspringen. Ich weiss es ebenso gewiss : ich brauche mich nur dem Anblicke einer wirklichen Noth auszuliefern, so b i n ich auch verloren ! Und wenn ein leidender Freund zu mir sagte : „Siehe, ich werde bald sterben ; versprich mir doch, | mit mir zu sterben“ – ich verspräche es, ebenso wie mich der Anblick jenes für seine Freiheit kämpfenden Bergvölkchens dazu bringen würde, ihm meine Hand und mein Leben anzubieten : – um einmal aus guten Gründen schlechte Beispiele zu wählen. Ja, es giebt eine heim liche Verführung sogar in alle diesem Mitleid-Erweckenden und Hülfe-Rufenden : eben unser „eigener Weg“ ist eine zu harte und anspruchsvolle Sache und zu ferne von der Liebe und Dankbarkeit der Anderen, – wir

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entlaufen ihm gar nicht ungerne, ihm und unserm eigensten Gewissen, und flüchten uns unter das Gewissen der Anderen und hinein in den lieblichen Tempel der „Religion des Mitleidens“. Sobald jetzt irgend ein Krieg ausbricht, so bricht damit immer auch gerade in den Edelsten eines Volkes eine freilich geheim gehaltene Lust aus : sie werfen sich mit Entzücken der neuen Gefahr des To d e s entgegen, weil sie in der Aufopferung für das Vaterland endlich jene lange gesuchte Erlaubniss zu haben glauben – die Erlaubniss, i h r em Zie le au s z uwe ic he n : – der Krieg ist für sie ein Umweg zum Selbstmord, aber ein Umweg mit gutem Gewissen. Und, um hier Einiges zu verschweigen : so will ich doch meine Moral nicht verschweigen, welche zu mir sagt : Lebe im Verborgenen, damit du dir leben k a n n s t ! Lebe u nw i s s e nd über Das, was deinem Zeitalter das Wichtigste dünkt ! Lege zwischen dich und heute wenigstens die Haut von drei Jahrhunderten ! Und das Geschrei von heute, der Lärm der Kriege und Revolutionen, soll dir ein Gemurmel sein ! Du wirst auch helfen wollen : aber nur Denen, deren Noth du ganz ve r s t e h s t , weil sie mit dir Ein Leid und Eine Hoff nung haben – deinen Fr eu nd e n : und nur auf die | Weise, wie du dir selber hilfst : – ich will sie muthiger, aushaltender, einfacher, fröhlicher machen ! Ich will sie Das lehren, was jetzt so Wenige verstehen und jene Prediger des Mitleidens am wenigsten : – d ie M it f r eu d e ! 339. V it a f e m i n a . – Die letzten Schönheiten eines Werkes zu sehen – dazu reicht alles Wissen und aller guter Wille nicht aus ; es bedarf der seltensten glücklichen Zufälle, damit einmal der Wolkenschleier von diesen Gipfeln für uns weiche und die Sonne auf ihnen glühe. Nicht nur müssen wir gerade an der rechten Stelle stehen, diess zu sehen : es muss gerade unsere Seele selber den Schleier von ihren Höhen weggezogen haben und eines äusseren Ausdruckes und Gleichnisses bedürftig

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sein, wie um einen Halt zu haben und ihrer selber mächtig zu bleiben. Diess Alles aber kommt so selten gleichzeitig zusammen, dass ich glauben möchte, die höchsten Höhen alles Guten, sei es Werk, That, Mensch, Natur, seien bisher für die Meisten und selbst für die Besten etwas Verborgenes und Verhülltes gewesen : – was sich aber uns enthüllt, d a s e nt hü l lt s ic h u n s E i n Ma l ! – Die Griechen beteten wohl : „Zwei und drei Mal alles Schöne !“ Ach, sie hatten da einen guten Grund, Götter anzurufen, denn die ungöttliche Wirklichkeit giebt uns das Schöne gar nicht oder Ein Mal ! Ich will sagen, dass die Welt übervoll von schönen Dingen ist, aber trotzdem arm, sehr arm an schönen Augenblicken und Enthüllungen dieser Dinge. Aber vielleicht ist diess der stärkste Zauber des Lebens : es liegt ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm, verheissend, wider|strebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib ! 340. D e r s t e r b e nd e S ok r at e s . – Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in Allem, was er that, sagte – und nicht sagte. Dieser spöttische und verliebte Unhold und Rattenfänger Athens, der die übermüthigsten Jünglinge zittern und schluchzen machte, war nicht nur der weiseste Schwätzer, den es gegeben hat : er war ebenso gross im Schweigen. Ich wollte, er wäre auch im letzten Augenblicke des Lebens schweigsam gewesen, – vielleicht gehörte er dann in eine noch höhere Ordnung der Geister. War es nun der Tod oder das Gift oder die Frömmigkeit oder die Bosheit – irgend Etwas löste ihm in jenem Augenblick die Zunge und er sagte : „Oh Kriton, ich bin dem Asklepios einen Hahn schuldig“. Dieses lächerliche und furchtbare „letzte Wort“ heisst für Den, der Ohren hat : „Oh Kriton, das Leben i st ei ne K ra n k heit !“ Ist es möglich ! Ein Mann, wie er, der heiter und vor Aller Augen wie ein Soldat gelebt hat, – war Pessimist ! Er hatte eben nur eine

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gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urtheil, sein innerstes Gefühl versteckt ! Sokrates, Sokrates hat a m L eb e n g e l it t e n ! Und er hat noch seine Rache dafür genommen – mit jenem verhüllten, schauerlichen, frommen und blasphemischen Worte ! Musste ein Sokrates sich auch noch rächen ? War ein Gran Grossmuth zu wenig in seiner überreichen Tugend ? – Ach Freunde ! Wir müssen auch die Griechen überwinden ! | 341. D a s g r ös s t e S c hwer g ew ic ht . – Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte : „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen ; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube !“ – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete ? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest : „du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres !“ Wenn jener Gedanke über dich Gewalt bekäme, er würde dich, wie du bist, verwandeln und vielleicht zermalmen ; die Frage bei Allem und Jedem „willst du diess noch einmal und noch unzählige Male ?“ würde als das grösste Schwergewicht auf deinem Handeln liegen ! Oder wie müsstest du dir selber und dem Leben gut werden, um nach Nichts me h r z u ve rl a n g e n , als nach dieser letzten ewigen Bestätigung und Besiegelung ? –

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342. I nc i p it t r a g o e d i a . – Als Zarathustra dreissig Jahr alt war, verliess er seine Heimath und den See Urmi und gieng in das Gebirge. Hier genoss er seines | Geistes und seiner Einsamkeit und wurde dessen zehn Jahre nicht müde. Endlich aber verwandelte sich sein Herz, – und eines Morgens stand er mit der Morgenröthe auf, trat vor die Sonne hin und sprach zu ihr also : „Du grosses Gestirn ! Was wäre dein Glück, wenn du nicht Die hättest, welchen du leuchtest ! Zehn Jahre kamst du hier herauf zu meiner Höhle : du würdest deines Lichtes und dieses Weges satt geworden sein, ohne mich, meinen Adler und meine Schlange ; aber wir warteten deiner an jedem Morgen, nahmen dir deinen Ueberfluss ab und segneten dich dafür. Siehe ! Ich bin meiner Weisheit überdrüssig, wie die Biene, die des Honigs zu viel gesammelt hat, ich bedarf der Hände, die sich ausstrecken, ich möchte verschenken und austheilen, bis die Weisen unter den Menschen wieder einmal ihrer Thorheit und die Armen wieder einmal ihres Reichthums froh geworden sind. Dazu muss ich in die Tiefe steigen : wie du des Abends thust, wenn du hinter das Meer gehst und noch der Unterwelt Licht bringst, du überreiches Gestirn ! – ich muss, gleich dir, u nt e r g e he n , wie die Menschen es nennen, zu denen ich hinab will. So segne mich denn, du ruhiges Auge, das ohne Neid auch ein allzugrosses Glück sehen kann ! Segne den Becher, welcher überfl iessen will, dass das Wasser golden aus ihm fl iesse und überallhin den Abglanz deiner Wonne trage ! Siehe ! Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden.“ – Also begann Zarathustra’s Untergang. |

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Fünftes Buch. Wir Furchtlosen. Carcasse, tu trembles? Tu tremblerais bien davantage, si tu savais, où je te mène. Turenne. |

343. Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat. − Das grösste neuere Ereigniss, − dass „Gott todt ist“, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist − beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen. Für die Wenigen wenigstens, deren Augen, deren A r g woh n in den Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgend eine Sonne untergegangen, irgend ein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht : ihnen muss unsre alte Welt täglich abendlicher, misstrauischer, fremder, „älter“ scheinen. In der Hauptsache aber darf man sagen : das Ereigniss selbst ist viel zu gross, zu fern, zu abseits vom Fassungsvermögen Vieler, als dass auch nur seine Kunde schon a n g e l a n g t heissen dürfte; geschweige denn, dass Viele bereits wüssten, w a s eigentlich sich damit begeben hat − und was Alles, nachdem dieser Glaube untergraben ist, nunmehr einfallen muss, weil es auf ihm gebaut, an ihn gelehnt, in ihn hineingewachsen war : zum Beispiel unsre ganze europäische Moral. Diese lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz, die nun bevorsteht : wer erriethe heute schon genug davon, um den Lehrer und Vorausverkünder dieser ungeheuren Logik von Schrecken abgeben zu müssen, den Propheten einer Verdüsterung und Sonnenfi nsterniss, deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat ? … Selbst wir geborenen Räthsel|rather, die wir gleichsam auf

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den Bergen warten, zwischen Heute und Morgen hingestellt und in den Widerspruch zwischen Heute und Morgen hineingespannt, wir Erstlinge und Frühgeburten des kommenden Jahrhunderts, denen eigentlich die Schatten, welche Europa alsbald einwickeln müssen, jetzt schon zu Gesicht gekommen sein s ol lt e n : woran liegt es doch, dass selbst wir ohne rechte Theilnahme für diese Verdüsterung, vor Allem ohne Sorge und Furcht für u n s ihrem Heraufkommen entgegensehn ? Stehen wir vielleicht zu sehr noch unter den n äc h s t e n Folg e n dieses Ereignisses − und diese nächsten Folgen, seine Folgen für u n s sind, umgekehrt als man vielleicht erwarten könnte, durchaus nicht traurig und verdüsternd, vielmehr wie eine neue schwer zu beschreibende Art von Licht, Glück, Erleichterung, Erheiterung, Ermuthigung, Morgenröthe … In der That, wir Philosophen und „freien Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, dass der „alte Gott todt“ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung, − endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, u n s e r Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so „off nes Meer“. − 344. I nw iefer n auc h w i r noc h f rom m si nd. − In der Wissenschaft haben die Ueberzeugungen kein Bürgerrecht, so sagt man mit gutem Grunde : erst wenn sie sich entschliessen, zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorläufigen VersuchsStandpunktes, einer regula|tiven Fiktion herabzusteigen, darf ihnen der Zutritt und sogar ein gewisser Werth innerhalb des Reichs der Erkenntniss zugestanden werden, − immerhin mit der Beschränkung, unter polizeiliche Aufsicht gestellt zu bleiben, unter die Polizei des Misstrauens. − Heisst das aber nicht,

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genauer besehen : erst, wenn die Ueberzeugung au f hö r t , Ueberzeugung zu sein, darf sie Eintritt in die Wissenschaft erlangen ? Fienge nicht die Zucht des wissenschaft lichen Geistes damit an, sich keine Ueberzeugungen mehr zu gestatten ? … So steht es wahrscheinlich : nur bleibt übrig zu fragen, ob nicht, d a m it d ie s e Zuc ht a n f a n g e n k ö n ne, schon eine Ueberzeugung da sein müsse, und zwar eine so gebieterische und bedingungslose, dass sie alle andren Ueberzeugungen sich zum Opfer bringt. Man sieht, auch die Wissenschaft ruht auf einem Glauben, es giebt gar keine „voraussetzungslose“ Wissenschaft. Die Frage, ob Wa h rhe it noth thue, muss nicht nur schon vorher bejaht, sondern in dem Grade bejaht sein, dass der Satz, der Glaube, die Ueberzeugung darin zum Ausdruck kommt „es thut n ic ht s me h r noth als Wahrheit, und im Verhältniss zu ihr hat alles Uebrige nur einen Werth zweiten Rangs“. − Dieser unbedingte Wille zur Wahrheit : was ist er ? Ist es der Wille, s ic h n ic ht t äu s c he n z u l a s s e n ? Ist es der Wille, n ic ht z u t äu s c he n ? Nämlich auch auf diese letzte Weise könnte der Wille zur Wahrheit interpretirt werden : vorausgesetzt, dass man unter der Verallgemeinerung „ich will nicht täuschen“ auch den einzelnen Fall „ich will m ic h nicht täuschen“ einbegreift. Aber warum nicht täuschen ? Aber warum nicht sich täuschen lassen ? − Man bemerke, dass die Gründe für das Erstere auf einem ganz andern Bereiche liegen als die für das Zweite : | man will sich nicht täuschen lassen, unter der Annahme, dass es schädlich, gefährlich, verhängnissvoll ist, getäuscht zu werden, − in diesem Sinne wäre Wissenschaft eine lange Klugheit, eine Vorsicht, eine Nützlichkeit, gegen die man aber billigerweise einwenden dürfte : wie ? ist wirklich das Sich-nicht-täuschenlassen-wollen weniger schädlich, weniger gefährlich, weniger verhängnissvoll : Was wisst ihr von vornherein vom Charakter des Daseins, um entscheiden zu können, ob der grössere Vortheil auf Seiten des Unbedingt-Misstrauischen oder des

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Unbedingt-Zutraulichen ist ? Falls aber Beides nöthig sein sollte, viel Zutrauen u nd viel Misstrauen : woher dürfte dann die Wissenschaft ihren unbedingten Glauben, ihre Ueberzeugung nehmen, auf dem sie ruht, dass Wahrheit wichtiger sei als irgend ein andres Ding, auch als jede andre Ueberzeugung ? Eben diese Ueberzeugung könnte nicht entstanden sein, wenn Wahrheit u nd Unwahrheit sich beide fortwährend als nützlich bezeigten : wie es der Fall ist. Also − kann der Glaube an die Wissenschaft, der nun einmal unbestreitbar da ist, nicht aus einem solchen Nützlichkeits-Calcul seinen Ursprung genommen haben, sondern vielmehr t r ot z d e m , dass ihm die Unnützlichkeit und Gefährlichkeit des „Willens zur Wahrheit“, der „Wahrheit um jeden Preis“ fortwährend bewiesen wird. „Um jeden Preis“ : oh wir verstehen das gut genug, wenn wir erst einen Glauben nach dem andern auf diesem Altare dargebracht und abgeschlachtet haben ! − Folglich bedeutet „Wille zur Wahrheit“ n ic ht „ich will mich nicht täuschen lassen“, sondern − es bleibt keine Wahl − „ich will nicht täuschen, auch mich selbst nicht“ : − u nd h ier m it s i nd w i r au f d em B o d e n d e r Mo r a l . Denn man frage sich nur gründlich : „warum | willst du nicht täuschen ?“ namentlich wenn es den Anschein haben sollte, − und es hat den Anschein ! − als wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung angelegt wäre, und wenn andrerseits thatsächlich die grosse Form des Lebens sich immer auf der Seite der unbedenklichsten πολύτροποι gezeigt hat. Es könnte ein solcher Vorsatz vielleicht, mild ausgelegt, eine Don Quixoterie, ein kleiner schwärmerischer Aberwitz sein; er könnte aber auch noch etwas Schlimmeres sein, nämlich ein lebensfeindliches zerstörerisches Princip  … „Wille zur Wahrheit“ − das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein. − Dergestalt führt die Frage : warum Wissenschaft ? zurück auf das moralische Problem − wo z u ü b e r h au p t Mor a l , wenn Leben, Natur, Geschichte „unmoralisch“ sind ?

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Es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, b e ja ht d a m it e i ne a nd r e We lt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese „andre Welt“ bejaht, wie ? muss er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, u n s r e Welt − verneinen ?  … Doch man wird es begriffen haben, worauf ich hinaus will, nämlich dass es immer noch ein met a phy s i s c he r G l au b e ist, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht, − dass auch wir Erkennenden von heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch u n s e r Feuer noch von dem Brande nehmen, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener ChristenGlaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist … Aber wie, wenn dies gerade immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn | der Irrthum, die Blindheit, die Lüge, − wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist ? − 345. Mor a l a l s P r o ble m . − Der Mangel an Person rächt sich überall; eine geschwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlichkeit taugt zu keinem guten Dinge mehr, − sie taugt am wenigsten zur Philosophie. Die „Selbstlosigkeit“ hat keinen Werth im Himmel und auf Erden; die grossen Probleme verlangen alle die g r o s s e L ieb e, und dieser sind nur die starken, runden, sicheren Geister fähig, die fest auf sich selber sitzen. Es macht den erheblichsten Unterschied, ob ein Denker zu seinen Problemen persönlich steht, so dass er in ihnen sein Schicksal, seine Noth und auch sein bestes Glück hat, oder aber „unpersönlich“ : nämlich sie nur mit den Fühlhörnern des kalten neugierigen Gedankens anzutasten und zu fassen versteht. Im letzteren Falle kommt nichts dabei heraus, so viel lässt sich versprechen : denn die grossen Probleme, gesetzt selbst, dass sie sich fassen lassen,

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lassen sich von Fröschen und Schwächlingen nicht h a lt e n , das ist ihr Geschmack seit Ewigkeit, − ein Geschmack übrigens, den sie mit allen wackern Weiblein theilen.  − Wie kommt es nun, dass ich noch Niemandem begegnet bin, auch in Büchern nicht, der zur Moral in dieser Stellung als Person stünde, der die Moral als Problem und dies Problem als s e i ne persönliche Noth, Qual, Wollust, Leidenschaft kennte ? Ersichtlich war bisher die Moral gar kein Problem; vielmehr Das gerade, worin man, nach allem Misstrauen, Zwiespalt, Widerspruch, mit einander überein kam, der geheiligte Ort des Friedens, | wo die Denker auch von sich selbst ausruhten, aufathmeten, auflebten. Ich sehe Niemanden, der eine K r it i k der moralischen Werthurtheile gewagt hätte; ich vermisse hierfür selbst die Versuche der wissenschaftlichen Neugierde, der verwöhnten versucherischen Psychologen- und HistorikerEinbildungskraft, welche leicht ein Problem vorwegnimmt und im Fluge erhascht, ohne recht zu wissen, was da erhascht ist. Kaum dass ich einige spärliche Ansätze ausfi ndig gemacht habe, es zu einer E nt s t e hu n g s g e s c h ic ht e dieser Gefühle und Werthschätzungen zu bringen (was etwas Anderes ist als eine Kritik derselben und noch einmal etwas Anderes als die Geschichte der ethischen Systeme) : in einem einzelnen Falle habe ich Alles gethan, um eine Neigung und Begabung für diese Art Historie zu ermuthigen − umsonst, wie mir heute scheinen will. Mit diesen Moral-Historikern (namentlich Engländern) hat es wenig auf sich : sie stehen gewöhnlich selbst noch arglos unter dem Kommando einer bestimmten Moral und geben, ohne es zu wissen, deren Schildträger und Gefolge ab; etwa mit jenem noch immer so treuherzig nachgeredeten Volks-Aberglauben des christlichen Europa, dass das Charakteristicum der moralischen Handlung im Selbstlosen, Selbstverleugnenden, Sich-Selbst-Opfernden, oder im Mitgefühle, im Mitleiden belegen sei. Ihr gewöhnlicher Fehler in der Voraussetzung ist, dass sie irgend einen consensus der Völker,

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mindestens der zahmen Völker über gewisse Sätze der Moral behaupten und daraus deren unbedingte Verbindlichkeit, auch für dich und mich, schliessen; oder dass sie umgekehrt, nachdem ihnen die Wahrheit aufgegangen ist, dass bei verschiedenen Völkern die moralischen Schätzungen not hwe nd i g verschieden | sind, einen Schluss auf Unverbindlichkeit a l le r Moral machen : was Beides gleich grosse Kindereien sind. Der Fehler der Feineren unter ihnen ist, dass sie die vielleicht thörichten Meinungen eines Volkes über seine Moral oder der Menschen über alle menschliche Moral aufdecken und kritisiren, also über deren Herkunft, religiöse Sanktion, den Aberglauben des freien Willens und dergleichen, und ebendamit vermeinen, diese Moral selbst kritisirt zu haben. Aber der Werth einer Vorschrift „du sollst“ ist noch gründlich verschieden und unabhängig von solcherlei Meinungen über dieselbe und von dem Unkraut des Irrthums, mit dem sie vielleicht überwachsen ist : so gewiss der Werth eines Medikaments für den Kranken noch vollkommen unabhängig davon ist, ob der Kranke wissenschaftlich oder wie ein altes Weib über Medizin denkt. Eine Moral könnte selbst au s einem Irrthum gewachsen sein : auch mit dieser Einsicht wäre das Problem ihres Werthes noch nicht einmal berührt. − Niemand also hat bisher den We r t h jener berühmtesten aller Medizinen, genannt Moral, geprüft : wozu zuallererst gehört, dass man ihn einmal − i n Fr a g e s t e l lt . Wohlan ! Dies eben ist unser Werk. − 346. Un s e r Fr a g e z e ic he n . − Aber ihr versteht das nicht ? In der That, man wird Mühe haben, uns zu verstehn. Wir suchen nach Worten, wir suchen vielleicht auch nach Ohren. Wer sind wir doch ? Wollten wir uns einfach mit einem älteren Ausdruck Gottlose oder Ungläubige oder auch Immoralisten nennen, wir würden uns damit noch lange nicht bezeichnet glauben : wir sind alles Dreies in einem zu späten Stadium,

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als dass man | begriffe, als dass i h r begreifen könntet, meine Herren Neugierigen, wie es Einem dabei zu Muthe ist. Nein ! nicht mehr mit der Bitterkeit und Leidenschaft des Losgerissenen, der sich aus seinem Unglauben noch einen Glauben, einen Zweck, ein Martyrium selbst zurecht machen muss ! Wir sind abgesotten in der Einsicht und in ihr kalt und hart geworden, dass es in der Welt durchaus nicht göttlich zugeht, ja noch nicht einmal nach menschlichem Maasse vernünftig, barmherzig oder gerecht : wir wissen es, die Welt, in der wir leben, ist ungöttlich, unmoralisch, „unmenschlich“, − wir haben sie uns allzulange falsch und lügnerisch, aber nach Wunsch und Willen unsrer Verehrung, das heisst nach einem B e d ü r fn i s s e ausgelegt. Denn der Mensch ist ein verehrendes Thier ! Aber er ist auch ein misstrauisches : und dass die Welt n ic ht das werth ist, was wir geglaubt haben, das ist ungefähr das Sicherste, dessen unser Misstrauen endlich habhaft geworden ist. So viel Misstrauen, so viel Philosophie. Wir hüten uns wohl zu sagen, dass sie we n i g e r werth ist : es erscheint uns heute selbst zum Lachen, wenn der Mensch in Anspruch nehmen wollte, Werthe zu erfi nden, welche den Werth der wirklichen Welt üb e r r a g e n sollten, − gerade davon sind wir zurückgekommen als von einer ausschweifenden Verirrung der menschlichen Eitelkeit und Unvernunft, die lange nicht als solche erkannt worden ist. Sie hat ihren letzten Ausdruck im modernen Pessimismus gehabt, einen älteren, stärkeren in der Lehre des Buddha; aber auch das Christenthum enthält sie, zweifelhafter freilich und zweideutiger, aber darum nicht weniger verführerisch. Die ganze Attitüde „Mensch g e g e n Welt“, der Mensch als „Welt-verneinendes“ Princip, der | Mensch als Werthmaass der Dinge, als Welten-Richter, der zuletzt das Dasein selbst auf seine Wagschalen legt und zu leicht befi ndet − die ungeheuerliche Abgeschmacktheit dieser Attitüde ist uns als solche zum Bewusstsein gekommen und verleidet, − wir lachen schon, wenn wir „Mensch u nd

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Welt“ nebeneinander gestellt fi nden, getrennt durch die sublime Anmaassung des Wörtchens „und“ ! Wie aber ? Haben wir nicht eben damit, als Lachende, nur einen Schritt weiter in der Verachtung des Menschen gemacht ? Und also auch im Pessimismus, in der Verachtung des u n s erkennbaren Daseins ? Sind wir nicht eben damit dem Argwohne eines Gegensatzes verfallen, eines Gegensatzes der Welt, in der wir bisher mit unsren Verehrungen zu Hause waren – um deren willen wir vielleicht zu leben au s h ie lt e n –, und einer andren Welt, d ie w i r s e l b e r s i nd : einem unerbittlichen, gründlichen, untersten Argwohn über uns selbst, der uns Europäer immer mehr, immer schlimmer in Gewalt bekommt und leicht die kommenden Geschlechter vor das furchtbare Entweder-Oder stellen könnte : „entweder schaff t eure Verehrungen ab oder − euc h s e l b s t !“ Das Letztere wäre der Nihilismus; aber wäre nicht auch das Erstere − der Nihilismus ? − Dies ist u n s e r Fragezeichen. 347. Die Gläubigen u nd i h r Bedü r f n i ss nac h Glauben. − Wie viel einer G l au b e n nöthig hat, um zu gedeihen, wie viel „Festes“, an dem er nicht gerüttelt haben will, weil er sich daran h ä lt , − ist ein Gradmesser seiner Kraft (oder, deutlicher geredet, seiner Schwäche). Christenthum haben, wie mir scheint, im alten Europa auch heute | noch die Meisten nöthig : desshalb fi ndet es auch immer noch Glauben. Denn so ist der Mensch : ein Glaubenssatz könnte ihm tausendfach widerlegt sein, − gesetzt, er hätte ihn nöthig, so würde er ihn auch immer wieder für „wahr“ halten, − gemäss jenem berühmten „Beweise der Kraft“, von dem die Bibel redet. Metaphysik haben Einige noch nöthig; aber auch jenes ungestüme Ve rl a n g e n n ac h G ew i s s he it , welches sich heute in breiten Massen wissenschaftlich-positivistisch entladet, das Verlangen, durchaus etwas fest haben zu wol le n (während man es wegen der Hitze dieses Verlangens mit der Begründung

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der Sicherheit leichter und lässlicher nimmt) : auch das ist noch das Verlangen nach Halt, Stütze, kurz, jener I n s t i n k t d e r S c hw äc he, welcher Religionen, Metaphysiken, Ueberzeugungen aller Art zwar nicht schaff t, aber − conservirt. In der That dampft um alle diese positivistischen Systeme der Qualm einer gewissen pessimistischen Verdüsterung, Etwas von Müdigkeit, Fatalismus, Enttäuschung, Furcht vor neuer Enttäuschung − oder aber zur Schau getragener Ingrimm, schlechte Laune, Entrüstungs-Anarchismus und was es alles für Symptome oder Maskeraden des Schwächegefühls giebt. Selbst die Heftigkeit, mit der sich unsre gescheidtesten Zeitgenossen in ärmliche Ecken und Engen verlieren, zum Beispiel in die Vaterländerei (so heisse ich das, was man in Frankreich chauvinisme, in Deutschland „deutsch“ nennt) oder in ästhetische Winkel-Bekenntnisse nach Art des Pariser naturalisme (der von der Natur nur den Theil hervorzieht und entblösst, welcher Ekel zugleich und Erstaunen macht − man heisst diesen Theil heute gern la verité vraie −) oder in Nihilismus nach Petersburger Muster (das heisst in den G l au b e n a n d e n Un g l au b e n , bis | zum Martyrium dafür) zeigt immer vorerst das B e d ü r f n i s s nach Glauben, Halt, Rückgrat, Rückhalt … Der Glaube ist immer dort am meisten begehrt, am dringlichsten nöthig, wo es an Willen fehlt : denn der Wille ist, als Affekt des Befehls, das entscheidende Abzeichen der Selbstherrlichkeit und Kraft. Das heisst, je weniger Einer zu befehlen weiss, um so dringlicher begehrt er nach Einem, der befiehlt, streng befiehlt, nach einem Gott, Fürsten, Stand, Arzt, Beichtvater, Dogma, Partei-Gewissen. Woraus vielleicht abzunehmen wäre, dass die beiden Weltreligionen, der Buddhismus und das Christenthum ihren Entstehungsgrund, ihr plötzliches Um-sich-greifen zumal, in einer ungeheuren E r k r a n k u n g d e s W i l le n s gehabt haben möchten. Und so ist es in Wahrheit gewesen : beide Religionen fanden ein durch Willens-Erkrankung in’s Unsinnige aufgethürmtes, bis

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zur Verzweiflung gehendes Verlangen nach einem „du sollst“ vor, beide Religionen waren Lehrerinnen des Fanatismus in Zeiten der Willens-Erschlaff ung und boten damit Unzähligen einen Halt, eine neue Möglichkeit zu wollen, einen Genuss am Wollen. Der Fanatismus ist nämlich die einzige „Willensstärke“, zu der auch die Schwachen und Unsicheren gebracht werden können, als eine Art Hypnotisirung des ganzen sinnlich-intellektuellen Systems zu Gunsten der überreichlichen Ernährung (Hypertrophie) eines einzelnen Gesichts- und Gefühlspunktes, der nunmehr dominirt − der Christ heisst ihn seinen G l au b e n . Wo ein Mensch zu der Grundüberzeugung kommt, dass ihm befohlen werden mu s s , wird er „gläubig“; umgekehrt wäre eine Lust und Kraft der Selbstbestimmung, eine Fr e i he it des Willens denkbar, bei der ein Geist jedem Glauben, jedem Wunsch nach Gewissheit den Ab|schied giebt, geübt, wie er ist, auf leichten Seilen und Möglichkeiten sich halten zu können und selbst an Abgründen noch zu tanzen. Ein solcher Geist wäre der f r e ie G e i s t par excellence. 348. Von der Herk u n f t der Geleh r ten. − Der Gelehrte wächst in Europa aus aller Art Stand und gesellschaftlicher Bedingung heraus, als eine Pflanze, die keines spezifi schen Erdreichs bedarf : darum gehört er, wesentlich und unfreiwillig, zu den Trägern des demokratischen Gedankens. Aber diese Herkunft verräth sich. Hat man seinen Blick etwas dafür eingeschult, an einem gelehrten Buche, einer wissenschaftlichen Abhandlung die intellektuelle Id io s y n k r a s ie des Gelehrten − jeder Gelehrte hat eine solche − herauszuerkennen und auf der That zu ertappen, so wird man fast immer hinter ihr die „Vorgeschichte“ des Gelehrten, seine Familie, in Sonderheit deren Berufsarten und Handwerke zu Gesicht bekommen. Wo das Gefühl zum Ausdruck kommt „das ist nunmehr bewiesen, hiermit bin ich fertig“, da ist es gemeinhin der

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Vorfahr im Blute und Instinkte des Gelehrten, welcher von seinem Gesichtswinkel aus die „gemachte Arbeit“ gutheisst, − der Glaube an den Beweis ist nur ein Symptom davon, was in einem arbeitsamen Geschlechte von Alters her als „gute Arbeit“ angesehn worden ist. Ein Beispiel : die Söhne von Registratoren und Büreauschreibern jeder Art, deren Hauptaufgabe immer war, ein vielfältiges Material zu ordnen, in Schubfächer zu vertheilen, überhaupt zu schematisiren, zeigen, falls sie Gelehrte werden, eine Vorneigung dafür, ein Problem beinahe damit für gelöst zu halten, dass sie es | schematisirt haben. Es giebt Philosophen, welche im Grunde nur schematische Köpfe sind − ihnen ist das Formale des väterlichen Handwerks zum Inhalte geworden. Das Talent zu Classificationen, zu Kategorientafeln verräth Etwas; man ist nicht ungestraft das Kind seiner Eltern. Der Sohn eines Advokaten wird auch als Forscher ein Advokat sein müssen : er will mit seiner Sache in erster Rücksicht Recht behalten, in zweiter, vielleicht, Recht haben. Die Söhne von protestantischen Geistlichen und Schullehrern erkennt man an der naiven Sicherheit, mit der sie als Gelehrte ihre Sache schon als bewiesen nehmen, wenn sie von ihnen eben erst nur herzhaft und mit Wärme vorgebracht worden ist : sie sind eben gründlich daran gewöhnt, dass man ihnen g l au bt ,− das gehörte bei ihren Vätern zum „Handwerk“ ! Ein Jude umgekehrt ist, gemäss dem Geschäftskreis und der Vergangenheit seines Volks, gerade daran − dass man ihm glaubt − am wenigsten gewöhnt : man sehe sich darauf die jüdischen Gelehrten an, − sie Alle halten grosse Stücke auf die Logik, das heisst auf das E r z w i n g e n der Zustimmung durch Gründe; sie wissen, dass sie mit ihr siegen müssen, selbst wo Rassen- und Classen-Widerwille gegen sie vorhanden ist, wo man ihnen ungern glaubt. Nichts nämlich ist demokratischer als die Logik : sie kennt kein Ansehn der Person und nimmt auch die krummen Nasen für gerade. (Nebenbei bemerkt : Europa ist gerade in Hinsicht auf

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Logisirung, auf r e i n l ic he r e Kopf-Gewohnheiten den Juden nicht wenig Dank schuldig; voran die Deutschen, als eine beklagenswerth deraisonnable Rasse, der man auch heute immer noch zuerst „den Kopf zu waschen“ hat. Ueberall, wo Juden zu Einfluss gekommen sind, haben sie | feiner zu scheiden, schärfer zu folgern, heller und sauberer zu schreiben gelehrt : ihre Aufgabe war es immer, ein Volk „zur Raison“ zu bringen.) 349. Noc h ei n ma l d ie Herk u n f t der Geleh r ten. − Sich selbst erhalten wollen ist der Ausdruck einer Nothlage, einer Einschränkung des eigentlichen Lebens-Grundtriebes, der auf M ac ht e r we it e r u n g hinausgeht und in diesem Willen oft genug die Selbsterhaltung in Frage stellt und opfert. Man nehme es als symptomatisch, wenn einzelne Philosophen, wie zum Beispiel der schwindsüchtige Spinoza, gerade im sogenannten Selbsterhaltungs-Trieb das Entscheidende sahen, sehen mussten : − es waren eben Menschen in Nothlagen. Dass unsre modernen Naturwissenschaften sich dermaassen mit dem Spinozistischen Dogma verwickelt haben (zuletzt noch und am gröbsten im Darwinismus mit seiner unbegreiflich einseitigen Lehre vom „Kampf um’s Dasein“ −), das liegt wahrscheinlich an der Herkunft der meisten Naturforscher : sie gehören in dieser Hinsicht zum „Volk“, ihre Vorfahren waren arme und geringe Leute, welche die Schwierigkeit, sich durchzubringen, allzusehr aus der Nähe kannten. Um den ganzen englischen Darwinismus herum haucht Etwas wie englische Uebervölkerungs-Stickluft, wie Kleiner-LeuteGeruch von Noth und Enge. Aber man sollte, als Naturforscher, aus seinem menschlichen Winkel herauskommen : und in der Natur he r r s c ht nicht die Nothlage, sondern der Ueber fluss, die Verschwendung, sogar bis in’s Unsinnige. Der Kampf um’s Dasein ist nur eine Au s n a h me, eine zeitweilige Restriktion des Lebenswillens; der grosse und kleine Kampf

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dreht sich allenthalben um’s Ueber|gewicht, um Wachsthum und Ausbreitung, um Macht, gemäss dem Willen zur Macht, der eben der Wille des Lebens ist. 350. Zu E h r e n d e r hom i ne s r e l i g io s i . − Der Kampf gegen die Kirche ist ganz gewiss unter Anderem − denn er bedeutet Vielerlei − auch der Kampf der gemeineren vergnügteren vertraulicheren oberflächlicheren Naturen gegen die Herrschaft der schwereren tieferen beschaulicheren, das heisst böseren und argwöhnischeren Menschen, welche mit einem langen Verdachte über den Werth des Daseins, auch über den eignen Werth brüteten : − der gemeine Instinkt des Volkes, seine Sinnen-Lustigkeit, sein „gutes Herz“ empörte sich gegen sie. Die ganze römische Kirche ruht auf einem südländischen Argwohne über die Natur des Menschen, der vom Norden aus immer falsch verstanden wird : in welchem Argwohne der europäische Süden die Erbschaft des tiefen Orients, des uralten geheimnissreichen Asien und seiner Contemplation gemacht hat. Schon der Protestantismus ist ein Volksaufstand zu Gunsten der Biederen, Treuherzigen, Oberflächlichen (der Norden war immer gutmüthiger und flacher als der Süden); aber erst die französische Revolution hat dem „guten Menschen“ das Scepter vollends und feierlich in die Hand gegeben (dem Schaf, dem Esel, der Gans und Allem, was unheilbar flach und Schreihals und reif für das Narrenhaus der „modernen Ideen“ ist). 351. Zu Eh ren der pr iesterl ic hen Nat u ren. − Ich denke, von dem, was das Volk unter Weisheit versteht (und wer ist heute nicht „Volk“ ? −), von jener klugen kuhmässigen Gemüthsstille, Frömmigkeit und Landpfarrer-|Sanftmuth, welche auf der Wiese liegt und dem Leben ernst und wiederkäuend z us c h aut , − davon haben gerade die Philosophen sich immer

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am fernsten gefühlt, wahrscheinlich weil sie dazu nicht „Volk“ genug, nicht Landpfarrer genug waren. Auch werden wohl sie gerade am spätesten daran glauben lernen, dass das Volk Etwas von dem verstehn d ü r f t e, was ihm am fernsten liegt, von der grossen L e id e n s c h a f t des Erkennenden, der beständig in der Gewitterwolke der höchsten Probleme und der schwersten Verantwortlichkeiten lebt, leben muss (also ganz und gar nicht zuschauend, ausserhalb, gleichgültig, sicher, objektiv  …). Das Volk verehrt eine ganz andere Art Mensch, wenn es seinerseits sich ein Ideal des „Weisen“ macht, und hat tausendfach Recht dazu, gerade dieser Art Mensch mit den besten Worten und Ehren zu huldigen : das sind die milden, ernst-einfältigen und keuschen Priester-Naturen und was ihnen verwandt ist, − denen gilt das Lob in jener Volks-Ehrfurcht vor der Weisheit. Und wem hätte das Volk auch Grund, dankbarer sich zu erweisen als diesen Männern, die zu ihm gehören und aus ihm kommen, aber wie Geweihte, Ausgelesene, seinem Wohl G eopf e r t e − sie selber glauben sich Gott geopfert −, vor denen es ungestraft sein Herz ausschütten, an die es seine Heimlichkeiten, seine Sorgen und Schlimmeres lo s we r d e n kann (− denn der Mensch, der „sich mittheilt“, wird sich selber los; und wer „bekannt“ hat, vergisst). Hier gebietet eine grosse Nothdurft : es bedarf nämlich auch für den seelischen Unrath der Abzugsgräben und der reinlichen reinigenden Gewässer drin, es bedarf rascher Ströme der Liebe und starker demüthiger reiner Herzen, die zu einem solchen Dienste der nicht-öffentlichen Gesundheitspflege sich bereit machen und opfern | − denn es i s t eine Opferung, ein Priester ist und bleibt ein Menschenopfer … Das Volk empfi ndet solche geopferte stillgewordne ernste Menschen des „Glaubens“ als we i s e, das heisst als Wissend-Gewordene, als „Sichere“ im Verhältniss zur eigenen Unsicherheit : wer würde ihm das Wort und diese Ehrfurcht nehmen mögen ? − Aber, wie es umgekehrt billig ist, unter Philosophen gilt auch ein

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Priester immer noch als „Volk“ und n ic ht als Wissender, vor Allem, weil sie selbst nicht an „Wissende“ glauben und eben in diesem Glauben und Aberglauben schon „Volk“ riechen. Die B e s c he id e n he it war es, welche in Griechenland das Wort „Philosoph“ erfunden hat und den prachtvollen Uebermuth, sich weise zu nennen, den Schauspielern des Geistes überliess, − die Bescheidenheit solcher Ungethüme von Stolz und Selbstherrlichkeit, wie Pythagoras, wie Plato –. 352. I nw ie f e r n Mor a l k au m e nt b e h r l i c h i s t . − Der nackte Mensch ist im Allgemeinen ein schändlicher Anblick − ich rede von uns Europäern (und nicht einmal von den Europäerinnen !) Angenommen, die froheste Tischgesellschaft sähe sich plötzlich durch die Tücke eines Zauberers enthüllt und ausgekleidet, ich glaube, dass nicht nur der Frohsinn dahin und der stärkste Appetit entmuthigt wäre, − es scheint, wir Europäer können jener Maskerade durchaus nicht entbehren, die Kleidung heisst. Sollte aber die Verkleidung der „moralischen Menschen“, ihre Verhüllung unter moralische Formeln und Anstandsbegriffe, das ganze wohlwollende Verstecken unserer Handlungen unter die Begriffe Pfl icht, Tugend, Gemeinsinn, Ehrenhaftigkeit, Selbstverleugnung nicht seine eben | so guten Gründe haben ? Nicht dass ich vermeinte, hierbei sollte etwa die menschliche Bosheit und Niederträchtigkeit, kurz das schlimme wilde Thier in uns vermummt werden; mein Gedanke ist umgekehrt, dass wir gerade als z a h me T h ie r e ein schändlicher Anblick sind und die Moral-Verkleidung brauchen, − dass der „inwendige Mensch“ in Europa eben lange nicht schlimm genug ist, um sich damit „sehen lassen“ zu können (um damit s c hö n zu sein −). Der Europäer verkleidet sich i n d ie Mor a l , weil er ein krankes, kränkliches, krüppelhaftes Thier geworden ist, das gute Gründe hat, „zahm“ zu sein, weil er beinahe eine Missgeburt,

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etwas Halbes, Schwaches, Linkisches ist … Nicht die Furchtbarkeit des Raubthiers fi ndet eine moralische Verkleidung nöthig, sondern das Heerdenthier mit seiner tiefen Mittelmässigkeit, Angst und Langenweile an sich selbst. Mor a l put z t d e n Eu r o p äe r au f − gestehen wir es ein ! − in’s Vornehmere, Bedeutendere, Ansehnlichere, in’s „Göttliche“ − 353. Vom Urspr u ng der Rel ig ionen. − Die eigentliche Erfi ndung der Religionsstifter ist einmal : eine bestimmte Art Leben und Alltag der Sitte anzusetzen, welche als disciplina voluntatis wirkt und zugleich die Langeweile wegschaff t; sodann : gerade diesem Leben eine I nt e r p r et at io n zu geben, vermöge deren es vom höchsten Werthe umleuchtet scheint, so dass es nunmehr zu einem Gute wird, für das man kämpft und, unter Umständen, sein Leben lässt. In Wahrheit ist von diesen zwei Erfi ndungen die zweite die wesentlichere : die erste, die Lebensart, war gewöhnlich schon da, aber neben andren Lebensarten und ohne Bewusstsein davon, was für ein | Werth ihr innewohne. Die Bedeutung, die Originalität des Religionsstifters kommt gewöhnlich darin zu Tage, dass er sie s ie ht , dass er sie au s w ä h lt , dass er zum ersten Male e r r ät h , wozu sie gebraucht, wie sie interpretirt werden kann. Jesus (oder Paulus) zum Beispiel fand das Leben der kleinen Leute in der römischen Provinz vor, ein bescheidenes tugendhaftes gedrücktes Leben : er legte es aus, er legte den höchsten Sinn und Werth hinein − und damit den Muth, jede andre Art Leben zu verachten, den stillen Herrenhuter-Fanatismus, das heimliche unterirdische Selbstvertrauen, welches wächst und wächst und endlich bereit ist, „die Welt zu überwinden“ (das heisst Rom und die höheren Stände im ganzen Reiche). Buddha insgleichen fand jene Art Menschen vor, und zwar zerstreut unter alle Stände und gesellschaftliche Stufen seines Volks, welche aus Trägheit gut und gütig (vor Allem in-

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offensiv) sind, die, ebenfalls aus Trägheit, abstinent, beinahe bedürfnisslos leben : er verstand, wie eine solche Art Menschen mit Unvermeidlichkeit, mit der ganzen vis inertiae, in einen Glauben hineinrollen müsse, der die Wiederkehr der irdischen Mühsal (das heisst der Arbeit, des Handelns überhaupt) zu ve r hüt e n verspricht, − dies „Verstehen“ war sein Genie. Zum Religionsstifter gehört psychologische Unfehlbarkeit im Wissen um eine bestimmte Durchschnitts-Art von Seelen, die sich noch nicht als zusammengehörig e r k a n nt haben. Er ist es, der sie zusammenbringt; die Gründung einer Religion wird insofern immer zu einem langen ErkennungsFeste. − 354. Vo m „G e n i u s d e r G a t t u n g“. − Das Problem des Bewusstseins (richtiger : des Sich-Bewusst-Werdens) tritt | erst dann vor uns hin, wenn wir zu begreifen anfangen, inwiefern wir seiner entrathen könnten : und an diesen Anfang des Begreifens stellt uns jetzt Physiologie und Thiergeschichte (welche also zwei Jahrhunderte nöthig gehabt haben, um den vorausfl iegenden Argwohn L e i b n it z e n s einzuholen). Wir könnten nämlich denken, fühlen, wollen, uns erinnern, wir könnten ebenfalls „handeln“ in jedem Sinne des Wortes : und trotzdem brauchte das Alles nicht uns „in’s Bewusstsein zu treten“ (wie man im Bilde sagt). Das ganze Leben wäre möglich, ohne dass es sich gleichsam im Spiegel sähe : wie ja thatsächlich auch jetzt noch bei uns der bei weitem überwiegende Theil dieses Lebens sich ohne diese Spiegelung abspielt −, und zwar auch unsres denkenden, fühlenden, wollenden Lebens, so beleidigend dies einem älteren Philosophen klingen mag. Wo z u überhaupt Bewusstsein, wenn es in der Hauptsache ü b e r f l ü s s i g ist ? − Nun scheint mir, wenn man meiner Antwort auf diese Frage und ihrer vielleicht ausschweifenden Vermuthung Gehör geben will, die Feinheit und Stärke des Bewusstseins immer im Verhältniss zur M it t he i lu n g s -

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Fä h i g k e it eines Menschen (oder Thiers) zu stehn, die Mittheilungs-Fähigkeit wiederum im Verhältniss zur M it t he i lu n g s - B e d ü r f t i g k e it : letzteres nicht so verstanden, als ob gerade der einzelne Mensch selbst, welcher gerade Meister in der Mittheilung und Verständlichmachung seiner Bedürfnisse ist, zugleich auch mit seinen Bedürfnissen am meisten auf die Andern angewiesen sein müsste. Wohl aber scheint es mir so in Bezug auf ganze Rassen und Geschlechter-Ketten zu stehn : wo das Bedürfniss, die Noth die Menschen lange gezwungen hat, sich mitzutheilen, sich gegenseitig rasch und fein zu verstehen, da ist endlich ein Ueberschuss dieser Kraft und | Kunst der Mittheilung da, gleichsam ein Vermögen, das sich allmählich aufgehäuft hat und nun eines Erben wartet, der es verschwenderisch ausgiebt (− die sogenannten Künstler sind diese Erben, insgleichen die Redner, Prediger, Schriftsteller, Alles Menschen, welche immer am Ende einer langen Kette kommen, „Spätgeborne“ jedes Mal, im besten Verstande des Wortes, und, wie gesagt, ihrem Wesen nach Ve r s c hwe nd e r). Gesetzt, diese Beobachtung ist richtig, so darf ich zu der Vermuthung weitergehn, dass B e w u s s t s e i n üb erh aupt s ic h nu r u nt er d em D r uc k d e s M it t he i lu n g s - B e d ü r f n i s s e s e nt w ic k e lt h at , − dass es von vornherein nur zwischen Mensch und Mensch (zwischen Befehlenden und Gehorchenden in Sonderheit) nöthig war, nützlich war, und auch nur im Verhältniss zum Grade dieser Nützlichkeit sich entwickelt hat. Bewusstsein ist eigentlich nur ein Verbindungsnetz zwischen Mensch und Mensch, − nur als solches hat es sich entwickeln müssen : der einsiedlerische und raubthierhafte Mensch hätte seiner nicht bedurft. Dass uns unsre Handlungen, Gedanken, Gefühle, Bewegungen selbst in’s Bewusstsein kommen − wenigstens ein Theil derselben −, das ist die Folge eines furchtbaren langen über dem Menschen waltenden „Muss“ : er b r auc ht e, als das gefährdetste Thier, Hülfe, Schutz, er brauchte Seines-Gleichen,

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er musste seine Noth auszudrücken, sich verständlich zu machen wissen − und zu dem Allen hatte er zuerst „Bewusstsein“ nöthig, also selbst zu „wissen“, was ihm fehlt, zu „wissen“, wie es ihm zu Muthe ist, zu „wissen“, was er denkt. Denn nochmals gesagt : der Mensch, wie jedes lebende Geschöpf, denkt immerfort, aber weiss es nicht; das b e w u s s t werdende Denken ist nur der kleinste Theil davon, sagen wir : der oberfläch|lichste, der schlechteste Theil : − denn allein dieses bewusste Denken g e s c h ie ht i n Wor t e n , d a s he i s s t i n M it t he i lu n g s z e ic he n , womit sich die Herkunft des Bewusstseins selber aufdeckt. Kurz gesagt, die Entwicklung der Sprache und die Entwicklung des Bewusstseins (n ic ht der Vernunft, sondern allein des Sich-bewusst-werdens der Vernunft) gehen Hand in Hand. Man nehme hinzu, dass nicht nur die Sprache zur Brücke zwischen Mensch und Mensch dient, sondern auch der Blick, der Druck, die Gebärde; das Bewusstwerden unserer Sinneseindrücke bei uns selbst, die Kraft, sie fi xiren zu können und gleichsam ausser uns zu stellen, hat in dem Maasse zugenommen, als die Nöthigung wuchs, sie A n d e r n durch Zeichen zu übermitteln. Der Zeichen-erfi ndende Mensch ist zugleich der immer schärfer seiner selbst bewusste Mensch; erst als sociales Thier lernte der Mensch seiner selbst bewusst werden, − er thut es noch, er thut es immer mehr. − Mein Gedanke ist, wie man sieht : dass das Bewusstsein nicht eigentlich zur Individual-Existenz des Menschen gehört, vielmehr zu dem, was an ihm Gemeinschafts- und Heerden-Natur ist; dass es, wie daraus folgt, auch nur in Bezug auf Gemeinschafts- und Heerden-Nützlichkeit fein entwickelt ist, und dass folglich Jeder von uns, beim besten Willen, sich selbst so individuell wie möglich zu ve r s t e he n , „sich selbst zu kennen“, doch immer nur gerade das Nicht-Individuelle an sich zum Bewusstsein bringen wird, sein „Durchschnittliches“, − dass unser Gedanke selbst fortwährend durch den Charakter des Bewusstseins  − durch den in ihm gebietenden „Genius

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der Gattung“ − gleichsam m ajor i s i r t und in die HeerdenPerspektive zurück-übersetzt wird. Unsre Handlungen sind im Grunde allesammt auf eine | unvergleichliche Weise persönlich, einzig, unbegrenzt-individuell, es ist kein Zweifel; aber sobald wir sie in’s Bewusstsein übersetzen, s c he i ne n s ie e s n ic ht me h r  … Dies ist der eigentliche Phänomenalismus und Perspektivismus, wie ic h ihn verstehe : die Natur des t h ie r i s c he n B e w u s s t s e i n s bringt es mit sich, dass die Welt, deren wir bewusst werden können, nur eine Oberflächen- und Zeichenwelt ist, eine verallgemeinerte, eine vergemeinerte Welt, − dass Alles, was bewusst wird, ebendamit flach, dünn, relativ-dumm, generell, Zeichen, Heerden-Merkzeichen w i r d , dass mit allem Bewusstwerden eine grosse gründliche Verderbniss, Fälschung, Veroberflächlichung und Generalisation verbunden ist. Zuletzt ist das wachsende Bewusstsein eine Gefahr; und wer unter den bewusstesten Europäern lebt, weiss sogar, dass es eine Krankheit ist. Es ist, wie man erräth, nicht der Gegensatz von Subjekt und Objekt, der mich hier angeht : diese Unterscheidung überlasse ich den Erkenntnisstheoretikern, welche in den Schlingen der Grammatik (der Volks-Metaphysik) hängen geblieben sind. Es ist erst recht nicht der Gegensatz von „Ding an sich“ und Erscheinung : denn wir „erkennen“ bei weitem nicht genug, um auch nur so s c he id e n zu dürfen. Wir haben eben gar kein Organ für das E r k e n ne n , für die „Wahrheit“ : wir „wissen“ (oder glauben oder bilden uns ein) gerade so viel als es im Interesse der Menschen-Heerde, der Gattung, nüt z l ic h sein mag : und selbst, was hier „Nützlichkeit“ genannt wird, ist zuletzt auch nur ein Glaube, eine Einbildung und vielleicht gerade jene verhängnissvollste Dummheit, an der wir einst zu Grunde gehn. 355. D e r Ur s p r u n g u n s r e s B e g r i f f s „ E r k e n nt n i s s“. − Ich nehme diese Erklärung von der Gasse; ich hörte | Jemanden

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aus dem Volke sagen „er hat mich erkannt“ − : dabei fragte ich mich : was versteht eigentlich das Volk unter Erkenntniss ? was will es, wenn es „Erkenntniss“ will ? Nichts weiter als dies : etwas Fremdes soll auf etwas B e k a n nt e s zurückgeführt werden. Und wir Philosophen − haben wir unter Erkenntniss eigentlich me h r verstanden ? Das Bekannte, das heisst : das woran wir gewöhnt sind, so dass wir uns nicht mehr darüber wundern, unser Alltag, irgend eine Regel, in der wir stecken, Alles und Jedes, in dem wir uns zu Hause wissen : − wie ? ist unser Bedürfniss nach Erkennen nicht eben dies Bedürfniss nach Bekanntem, der Wille, unter allem Fremden, Ungewöhnlichen, Fragwürdigen Etwas aufzudecken, das uns nicht mehr beunruhigt ? Sollte es nicht der I n s t i n k t d e r F u r c ht sein, der uns erkennen heisst ? Sollte das Frohlocken des Erkennenden nicht eben das Frohlocken des wieder erlangten Sicherheitsgefühls sein ? … Dieser Philosoph wähnte die Welt „erkannt“, als er sie auf die „Idee“ zurückgeführt hatte : ach, war es nicht deshalb, weil ihm die „Idee“ so bekannt, so gewohnt war ? weil er sich so wenig mehr vor der „Idee“ fürchtete ? − Oh über diese Genügsamkeit der Erkennenden ! man sehe sich doch ihre Principien und Welträthsel-Lösungen darauf an ! Wenn sie Etwas an den Dingen, unter den Dingen, hinter den Dingen wiederfi nden, das uns leider sehr bekannt ist, zum Beispiel unser Einmaleins oder unsre Logik oder unser Wollen und Begehren, wie glücklich sind sie sofort ! Denn „was bekannt ist, ist erkannt“ : darin stimmen sie überein. Auch die Vorsichtigsten unter ihnen meinen, zum Mindesten sei das Bekannte le ic ht e r e rk e n n ba r als das Fremde; es sei zum Beispiel methodisch geboten, von der „inneren Welt“, von den „Thatsachen des Be|wusstseins“ auszugehen, weil sie die u n s b e k a n nt e r e Welt sei ! Irrthum der Irrthümer ! Das Bekannte ist das Gewohnte; und das Gewohnte ist am schwersten zu „erkennen“, das heisst als Problem zu sehen, das heisst als fremd, als fern, als „ausser uns“ zu sehn … Die

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grosse Sicherheit der natürlichen Wissenschaften im Verhältniss zur Psychologie und Kritik der Bewusstseins-Elemente − u n n a t ü r l ic h e n Wissenschaften, wie man beinahe sagen dürfte − ruht gerade darauf, dass sie das Fr e md e als Objekt nehmen : während es fast etwas Widerspruchsvolles und Widersinniges ist, das Nicht-Fremde überhaupt als Objekt nehmen zu wol le n … 356. I nw iefer n e s i n Eu r opa i m mer „k ü n st ler i sc her“ z u geh n w i rd. − Die Lebens-Fürsorge zwingt auch heute noch − in unsrer Uebergangszeit, wo so Vieles aufhört zu zwingen − fast allen männlichen Europäern eine bestimmte Rol le auf, ihren sogenannten Beruf; Einigen bleibt dabei die Freiheit, eine anscheinende Freiheit, diese Rolle selbst zu wählen, den Meisten wird sie gewählt. Das Ergebniss ist seltsam genug : fast alle Europäer verwechseln sich in einem vorgerückteren Alter mit ihrer Rolle, sie selbst sind die Opfer ihres „guten Spiels“, sie selbst haben vergessen, wie sehr Zufall, Laune, Willkür damals über sie verfügt haben, als sich ihr „Beruf“ entschied − und wie viele andre Rollen sie vielleicht hätten spielen k ö n ne n : denn es ist nunmehr zu spät ! Tiefer angesehn, ist aus der Rolle wirklich Charakter g ewor d e n , aus der Kunst Natur. Es gab Zeitalter, in denen man mit steifer Zuversichtlichkeit, ja mit Frömmigkeit an seine Vorherbestimmung für gerade dies Geschäft, gerade diesen | Broderwerb glaubte und den Zufall darin, die Rolle, das Willkürliche schlechterdings nicht anerkennen wollte : Stände, Zünfte, erbliche GewerbsVorrechte haben mit Hülfe dieses Glaubens es zu Stande gebracht, jene Ungeheuer von breiten Gesellschafts-Thürmen aufzurichten, welche das Mittelalter auszeichnen und denen jedenfalls Eins nachzurühmen bleibt : Dauerfähigkeit (− und Dauer ist auf Erden ein Werth ersten Ranges !). Aber es giebt umgekehrte Zeitalter, die eigentlich demokratischen, wo man diesen Glauben mehr und mehr verlernt und ein gewisser

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kecker Glaube und Gesichtspunkt des Gegentheils in den Vordergrund tritt, jener Athener-Glaube, der in der Epoche des Perikles zuerst bemerkt wird, jener Amerikaner-Glaube von heute, der immer mehr auch Europäer-Glaube werden will : wo der Einzelne überzeugt ist, ungefähr Alles zu können, ungefähr je d e r Rol le g ewac h s e n zu sein, wo jeder mit sich versucht, improvisirt, neu versucht, mit Lust versucht, wo alle Natur aufhört und Kunst wird … Die Griechen, erst in diesen Rol le n - G l au b e n − einen Artisten-Glauben, wenn man will − eingetreten, machten, wie bekannt, Schritt für Schritt eine wunderliche und nicht in jedem Betracht nachahmenswerthe Verwandlung durch : sie w u rden w i rk l ic h Sc haus pie ler; als solche bezauberten sie, überwanden sie alle Welt und zuletzt selbst die „Weltüberwinderin“ (denn der Graeculus histrio hat Rom besiegt, und n ic ht , wie die Unschuldigen zu sagen pflegen, die griechische Cultur …). Aber was ich fürchte, was man heute schon mit Händen greift, falls man Lust hätte, darnach zu greifen, wir modernen Menschen sind ganz schon auf dem gleichen Wege; und jedes Mal, wenn der Mensch anfängt zu entdecken, inwiefern er eine Rolle spielt und inwieweit er Schauspieler sein k a n n , | w i r d er Schauspieler … Damit kommt dann eine neue Flora und Fauna von Menschen herauf, die in festeren, beschränkteren Zeitaltern nicht wachsen können − oder „unten“ gelassen werden, unter dem Banne und Verdachte der Ehrlosigkeit −, es kommen damit jedes Mal die interessantesten und tollsten Zeitalter der Geschichte herauf, in denen die „Schauspieler“, a l le Arten Schauspieler, die eigentlichen Herren sind. Eben dadurch wird eine andre Gattung Mensch immer tiefer benachtheiligt, endlich unmöglich gemacht, vor Allem die grossen „Baumeister“; jetzt erlahmt die bauende Kraft; der Muth, auf lange Fernen hin Pläne zu machen, wird entmuthigt; die organisatorischen Genies fangen an zu fehlen : − wer wagt es nunmehr noch, Werke zu unternehmen, zu deren Vollendung man auf

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Jahrtausende r e c h ne n müsste ? Es stirbt eben jener Grundglaube aus, auf welchen hin Einer dergestalt rechnen, versprechen, die Zukunft im Plane vorwegnehmen, seinem Plane zum Opfer bringen kann, dass nämlich der Mensch nur insofern Werth hat, Sinn hat, als er e i n St e i n i n e i nem g r o s s e n B aue ist : wozu er zuallererst fe s t sein muss, „Stein“ sein muss … Vor Allem nicht − Schauspieler ! Kurz gesagt − ach, es wird lang genug noch verschwiegen werden !  − was von nun an nicht mehr gebaut wird, nicht mehr gebaut werden k a n n , das ist − eine Gesellschaft im alten Verstande des Wortes; um diesen Bau zu bauen, fehlt Alles, voran das Material. W i r A l le s i n d k e i n M at e r i a l m e h r f ü r e i n e G e s e l ls c h a f t : das ist eine Wahrheit, die an der Zeit ist ! Es dünkt mich gleichgültig, dass einstweilen noch die kurzsichtigste, vielleicht ehrlichste, jedenfalls lärmendste Art Mensch, die es heute giebt, unsre Herrn Socialisten, ungefähr das Gegentheil glaubt, hoff t, träumt, vor Allem | schreit und schreibt; man liest ja ihr Zukunftswort „freie Gesellschaft“ bereits auf allen Tischen und Wänden. Freie Gesellschaft ? Ja ! Ja ! Aber ihr wisst doch, ihr Herren, woraus man die baut ? Aus hölzernem Eisen ! Aus dem berühmten hölzernen Eisen ! Und noch nicht einmal aus hölzernem … 357. Zum a lten Probleme : „was ist deutsch ?“ − Man rechne bei sich die eigentlichen Errungenschaften des philosophischen Gedankens nach, welche deutschen Köpfen verdankt werden : sind sie in irgend einem erlaubten Sinne auch noch der ganzen Rasse zu Gute zu rechnen ? Dürfen wir sagen : sie sind zugleich das Werk der „deutschen Seele“, mindestens deren Symptom, in dem Sinne, in welchem wir etwa Plato’s Ideomanie, seinen fast religiösen Formen-Wahnsinn zugleich als ein Ereigniss und Zeugniss der „griechischen Seele“ zu nehmen gewohnt sind ? Oder wäre das Umgekehrte wahr ? wären

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sie gerade so individuell, so sehr Au s n a h me vom Geiste der Rasse, wie es zum Beispiel Goethe’s Heidenthum mit gutem Gewissen war ? Oder wie es Bismarck’s Macchiavellismus mit gutem Gewissen, seine sogenannte „Realpolitik“, unter Deutschen ist ? Widersprächen unsre Philosophen vielleicht sogar dem B e d ü r f n i s s e der „deutschen Seele“ ? Kurz, waren die deutschen Philosophen wirklich − philosophische D e u ts c he ? − Ich erinnere an drei Fälle. Zuerst an L e i b n it z e n s unvergleichliche Einsicht, mit der er nicht nur gegen Descartes, sondern gegen Alles, was bis zu ihm philosophirt hatte, Recht bekam, − dass die Bewusstheit nur ein Accidens der Vorstellung ist, n ic ht deren nothwendiges und wesentliches Attribut, | dass also das, was wir Bewusstsein nennen, nur einen Zustand unsrer geistigen und seelischen Welt ausmacht (vielleicht einen krankhaften Zustand) und b e i w e i t e m n ic ht s ie s e l b s t : − ist an diesem Gedanken, dessen Tiefe auch heute noch nicht ausgeschöpft ist, etwas Deutsches ? Giebt es einen Grund zu muthmaassen, dass nicht leicht ein Lateiner auf diese Umdrehung des Augenscheins verfallen sein würde ? − denn es ist eine Umdrehung. Erinnern wir uns zweitens an K a nt ’s ungeheures Fragezeichen, welches er an den Begriff „Causalität“ schrieb, − nicht dass er wie Hume dessen Recht überhaupt bezweifelt hätte : er begann vielmehr vorsichtig das Reich abzugrenzen, innerhalb dessen dieser Begriff überhaupt Sinn hat (man ist auch jetzt noch nicht mit dieser Grenzabsteckung fertig geworden). Nehmen wir drittens den erstaunlichen Griff He g e l ’s , der damit durch alle logischen Gewohnheiten und Verwöhnungen durchgriff, als er zu lehren wagte, dass die Artbegriffe sich au s e i n a nd e r entwickeln : mit welchem Satze die Geister in Europa zur letzten grossen wissenschaftlichen Bewegung präformirt wurden, zum Darwinismus − denn ohne Hegel kein Darwin. Ist an dieser Hegelschen Neuerung, die erst den entscheidenden Begriff „Entwicklung“ in die Wissenschaft gebracht hat, etwas

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Deutsches ? − Ja, ohne allen Zweifel : in allen drei Fällen fühlen wir Etwas von uns selbst „aufgedeckt“ und errathen und sind dankbar dafür und überrascht zugleich, jeder dieser drei Sätze ist ein nachdenkliches Stück deutscher Selbsterkenntniss, Selbsterfahrung, Selbsterfassung. „Unsre innre Welt ist viel reicher, umfänglicher, verborgener“, so empfi nden wir mit Leibnitz; als Deutsche zweifeln wir mit Kant an der Letztgültigkeit naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und | überhaupt an Allem, was sich causaliter erkennen l ä s s t : das Erkenn b a r e scheint uns als solches schon g e r i n g e r e n Werthes. Wir Deutsche sind Hegelianer, auch wenn es nie einen Hegel gegeben hätte, insofern wir (im Gegensatz zu allen Lateinern) dem Werden, der Entwicklung instinktiv einen tieferen Sinn und reicheren Werth zumessen als dem, was „ist“ − wir glauben kaum an die Berechtigung des Begriffs „Sein“ −; ebenfalls insofern wir unsrer menschlichen Logik nicht geneigt sind einzuräumen, dass sie die Logik an sich, die einzige Art Logik sei (wir möchten vielmehr uns überreden, dass sie nur ein Spezialfall sei, und vielleicht einer der wunderlichsten und dümmsten −). Eine vierte Frage wäre, ob auch S c ho p e n h aue r mit seinem Pessimismus, das heisst dem Problem vom We r t h d e s D a s e i n s , gerade ein Deutscher gewesen sein müsste. Ich glaube nicht. Das Ereigniss, n ac h welchem dies Problem mit Sicherheit zu erwarten stand, so dass ein Astronom der Seele Tag und Stunde dafür hätte ausrechnen können, der Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott, der Sieg des wissenschaftlichen Atheismus, ist ein gesammteuropäisches Ereigniss, an dem alle Rassen ihren Antheil von Verdienst und Ehre haben sollen. Umgekehrt wäre gerade den Deutschen zuzurechnen − jenen Deutschen, mit welchen Schopenhauer gleichzeitig lebte −, diesen Sieg des Atheismus am längsten und gefährlichsten ve r z ög e r t zu haben; Hegel namentlich war sein Verzögerer par excellence, gemäss dem grandiosen Versuche, den er machte, uns zur Göttlichkeit des

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Daseins zu allerletzt noch mit Hülfe unsres sechsten Sinnes, des „historischen Sinnes“ zu überreden. Schopenhauer war als Philosoph der e r s t e eingeständliche und unbeugsame Atheist, | den wir Deutschen gehabt haben : seine Feindschaft gegen Hegel hatte hier ihren Hintergrund. Die Ungöttlichkeit des Daseins galt ihm als etwas Gegebenes, Greifl iches, Undiskutirbares; er verlor jedes Mal seine Philosophen-Besonnenheit und gerieth in Entrüstung, wenn er Jemanden hier zögern und Umschweife machen sah. An dieser Stelle liegt seine ganze Rechtschaffenheit : der unbedingte redliche Atheismus ist eben die Vor au s s et z u n g seiner Problemstellung, als ein endlich und schwer errungener Sieg des europäischen Gewissens, als der folgenreichste Akt einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lü g e im Glauben an Gott verbietet … Man sieht, w a s eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat : die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei; die Geschichte interpretiren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugniss einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlussabsichten; die eigenen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob Alles Fügung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe ausgedacht und geschickt sei : das ist nunmehr vor b e i , das hat das Gewissen g e g e n sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Femininismus, Schwachheit, Feigheit, − mit dieser Strenge, wenn irgend womit, sind wir eben g ut e Europäer und Erben von Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung. Indem | wir die christliche Interpretation dergestalt von uns stossen und ihren „Sinn“ wie eine Falschmünzerei verurthei-

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len, kommt nun sofort auf eine furchtbare Weise die S c ho p e n h au e r i s c h e Frage zu uns : h a t d e n n d a s D a s e i n üb erh aupt e i ne n Si n n ? − jene Frage, die ein paar Jahrhunderte brauchen wird, um auch nur vollständig und in alle ihre Tiefe hinein gehört zu werden. Was Schopenhauer selbst auf diese Frage geantwortet hat, war − man vergebe es mir − etwas Voreiliges, Jugendliches, nur eine Abfi ndung, ein Stehen- und Steckenbleiben in eben den christlich-asketischen Moral-Perspektiven, welchen, mit dem Glauben an Gott, der Glaube gek ü nd ig t wa r … Aber er hat die Frage g e s t e l lt − als ein guter Europäer, wie gesagt, und n i c h t als Deutscher. − Oder hätten etwa die Deutschen, wenigstens mit der Art, in welcher sie sich der Schopenhauerischen Frage bemächtigten, ihre innere Zugehörigkeit und Verwandtschaft, ihre Vorbereitung, ihr B e d ü r f n i s s nach seinem Problem bewiesen ? Dass nach Schopenhauer auch in Deutschland − übrigens spät genug ! − über das von ihm aufgestellte Problem gedacht und gedruckt worden ist, reicht gewiss nicht aus, zu Gunsten dieser engeren Zugehörigkeit zu entscheiden; man könnte selbst die eigenthümliche Un g e s c h ic k t he it dieses Nach-Schopenhauerischen Pessimismus dagegen geltend machen, − die Deutschen benahmen sich ersichtlich nicht dabei wie in ihrem Elemente. Hiermit spiele ich ganz und gar nicht auf Eduard von Hartmann an; im Gegentheil, mein alter Verdacht ist auch heute noch nicht gehoben, dass er für uns z u g e s c h ic k t ist, ich will sagen, dass er als arger Schalk von Anbeginn sich vielleicht nicht nur über den deutschen Pessimismus | lustig gemacht hat, − dass er am Ende etwa gar es den Deutschen testamentarisch „vermachen“ könnte, wie weit man sie selbst, im Zeitalter der Gründungen, hat zum Narren haben können. Aber ich frage : soll man vielleicht den alten Brummkreisel Bahnsen den Deutschen zu Ehren rechnen, der sich mit Wollust sein Leben lang um sein realdialektisches Elend und „persönliches Pech“ gedreht hat, − wäre etwa das

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gerade deutsch ? (ich empfehle anbei seine Schriften, wozu ich sie selbst gebraucht habe, als antipessimistische Kost, namentlich um seiner elegantiae psychologicae willen, mit denen, wie mich dünkt, auch dem verstopftesten Leibe und Gemüthe beizukommen ist). Oder dürfte man solche Dilettanten und alte Jungfern, wie den süsslichen Virginitäts-Apostel Mainländer unter die rechten Deutschen zählen ? Zuletzt wird es ein Jude gewesen sein (− alle Juden werden süsslich, wenn sie moralisiren). Weder Bahnsen, noch Mainländer, noch gar Eduard von Hartmann geben eine sichere Handhabe für die Frage ab, ob der Pessimismus Schopen hauer’s, sein entsetzter Blick in eine entgöttlichte, dumm, blind, verrückt und fragwürdig gewordene Welt, sein e h r l ic h e s Entsetzen  … nicht nur ein Ausnahme-Fall unter Deutschen, sondern ein d eut s c he s Ereigniss gewesen ist : während Alles, was sonst im Vordergrunde steht, unsre tapfre Politik, unsre fröhliche Vaterländerei, welche entschlossen genug alle Dinge auf ein wenig philosophisches Princip hin („Deutschland, Deutschland über Alles“) betrachtet, also sub specie speciei, nämlich der deutschen species, mit grosser Deutlichkeit das Gegentheil bezeugt. Nein ! die Deutschen von heute sind k e i n e Pessimisten ! Und Schopenhauer war Pessimist, nochmals gesagt, als guter Europäer und n ic ht als Deutscher. − | 358. D e r B au e r n au f s t a n d d e s G e i s t e s . − Wir Europäer befi nden uns im Anblick einer ungeheuren Trümmerwelt, wo Einiges noch hoch ragt, wo Vieles morsch und unheimlich dasteht, das Meiste aber schon am Boden liegt, malerisch genug − wo gab es je schönere Ruinen ? − und überwachsen mit grossem und kleinem Unkraute. Die Kirche ist diese Stadt des Untergangs : wir sehen die religiöse Gesellschaft des Christenthums bis in die untersten Fundamente erschüttert, − der Glaube an Gott ist umgestürzt, der Glaube an das christlich-

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asketische Ideal kämpft eben noch seinen letzten Kampf. Ein solches lang und gründlich gebautes Werk wie das Christenthum − es war der letzte Römerbau ! − konnte freilich nicht mit Einem Male zerstört werden; alle Art Erdbeben hat da rütteln, alle Art Geist, die anbohrt, gräbt, nagt, feuchtet, hat da helfen müssen. Aber was das Wunderlichste ist : Die, welche sich am meisten darum bemüht haben, das Christenthum zu halten, zu erhalten, sind gerade seine besten Zerstörer geworden, − die Deutschen. Es scheint, die Deutschen verstehen das Wesen einer Kirche nicht. Sind sie dazu nicht geistig genug ? nicht misstrauisch genug ? Der Bau der Kirche ruht jedenfalls auf einer s ü d l ä n d i s c h e n Freiheit und Freisinnigkeit des Geistes und ebenso auf einem südländischen Verdachte gegen Natur, Mensch und Geist, − er ruht auf einer ganz andren Kenntniss des Menschen, Erfahrung vom Menschen, als der Norden gehabt hat. Die Lutherische Reformation war in ihrer ganzen Breite die Entrüstung der Einfalt gegen etwas „Vielfältiges“, um vorsichtig zu reden, ein grobes biederes Missverständniss, | an dem Viel zu verzeihen ist, − man begriff den Ausdruck einer s ie g r e ic he n Kirche nicht und sah nur Corruption, man missverstand die vornehme Skepsis, jenen Lu x u s von Skepsis und Toleranz, welchen sich jede siegreiche selbstgewisse Macht gestattet … Man übersieht heute gut genug, wie Luther in allen kardinalen Fragen der Macht verhängnissvoll kurz, oberflächlich, unvorsichtig angelegt war, vor Allem als Mann aus dem Volke, dem alle Erbschaft einer herrschenden Kaste, aller Instinkt für Macht abgieng : so dass sein Werk, sein Wille zur Wiederherstellung jenes RömerWerks, ohne dass er es wollte und wusste, nur der Anfang eines Zerstörungswerks wurde. Er dröselte auf, er riss zusammen, mit ehrlichem Ingrimme, wo die alte Spinne am sorgsamsten und längsten gewoben hatte. Er lieferte die heiligen Bücher an Jedermann aus, − damit geriethen sie endlich in die Hände der Philologen, das heisst der Vernichter jeden

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Glaubens, der auf Büchern ruht. Er zerstörte den Begriff „Kirche“, indem er den Glauben an die Inspiration der Concilien wegwarf : denn nur unter der Voraussetzung, dass der inspirirende Geist, der die Kirche gegründet hat, in ihr noch lebe, noch baue, noch fortfahre, sein Haus zu bauen, behält der Begriff „Kirche“ Kraft. Er gab dem Priester den Geschlechtsverkehr mit dem Weibe zurück : aber drei Viertel der Ehrfurcht, deren das Volk, vor Allem das Weib aus dem Volke fähig ist, ruht auf dem Glauben, dass ein Ausnahme-Mensch in diesem Punkte auch in andren Punkten eine Ausnahme sein wird, − hier gerade hat der Volksglaube an etwas Uebermenschliches im Menschen, an das Wunder, an den erlösenden Gott im Menschen, seinen feinsten und verfänglichsten Anwalt. Luther musste dem Priester, | nachdem er ihm das Weib gegeben hatte, die Ohrenbeichte ne h me n , das war psychologisch richtig : aber damit war im Grunde der christliche Priester selbst abgeschaff t, dessen tiefste Nützlichkeit immer die gewesen ist, ein heiliges Ohr, ein verschwiegener Brunnen, ein Grab für Geheimnisse zu sein. „Jedermann sein eigner Priester“ − hinter solchen Formeln und ihrer bäurischen Verschlagenheit versteckte sich bei Luther der abgründliche Hass auf den „höheren Menschen“ und die Herrschaft des „höheren Menschen“, wie ihn die Kirche concipirt hatte : − er zerschlug ein Ideal, das er nicht zu erreichen wusste, während er die Entartung dieses Ideals zu bekämpfen und zu verabscheuen schien. Thatsächlich stiess er, der unmögliche Mönch, die He r r s c h a f t der homines religiosi von sich; er machte also gerade Das selber innerhalb der kirchlichen GesellschaftsOrdnung, was er in Hinsicht auf die bürgerliche Ordnung so unduldsam bekämpfte, − einen „Bauernaufstand“. − Was hinterdrein Alles aus seiner Reformation gewachsen ist, Gutes und Schlimmes, und heute ungefähr überrechnet werden kann, − wer wäre wohl naiv genug, Luthern um dieser Folgen willen einfach zu loben oder zu tadeln ? Er ist an Allem

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unschuldig, er wusste nicht was er that. Die Verflachung des europäischen Geistes, namentlich im Norden, seine Ve r g ut müt h i g u n g , wenn man’s lieber mit einem moralischen Worte bezeichnet hört, that mit der Lutherischen Reformation einen tüchtigen Schritt vorwärts, es ist kein Zweifel; und ebenso wuchs durch sie die Beweglichkeit und Unruhe des Geistes, sein Durst nach Unabhängigkeit, sein Glaube an ein Recht auf Freiheit, seine „Natürlichkeit“. Will man ihr in letzterer Hinsicht den Werth zugestehn, Das vorbereitet und begünstigt | zu haben, was wir heute als „moderne Wissenschaft“ verehren, so muss man freilich hinzufügen, dass sie auch an der Entartung des modernen Gelehrten mitschuldig ist, an seinem Mangel an Ehrfurcht, Scham und Tiefe, an der ganzen naiven Treuherzigkeit und Biedermännerei in Dingen der Erkenntniss, kurz an jenem Pleb eji s mu s d e s G e i s t e s , der den letzten beiden Jahrhunderten eigenthümlich ist und von dem uns auch der bisherige Pessimismus noch keineswegs erlöst hat, − auch die „modernen Ideen“ gehören noch zu diesem Bauernaufstand des Nordens gegen den kälteren, zweideutigeren, misstrauischeren Geist des Südens, der sich in der christlichen Kirche sein grösstes Denkmal gebaut hat. Vergessen wir es zuletzt nicht, was eine Kirche ist, und zwar im Gegensatz zu jedem „Staate“ : eine Kirche ist vor Allem ein Herrschafts-Gebilde, das den g e i s t i g e r e n Menschen den obersten Rang sichert und an die Macht der Geistigkeit soweit g l au bt , um sich alle gröberen Gewaltmittel zu verbieten, − damit allein ist die Kirche unter allen Umständen eine vor ne h me r e Institution als der Staat. − 359. D ie R ac he a m G ei st u nd a nder e H i nterg r ü nde der Mor a l. − Die Moral − wo glaubt ihr wohl, dass sie ihre gefährlichsten und tückischsten Anwälte hat ?  … Da ist ein missrathener Mensch, der nicht genug Geist besitzt, um sich

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dessen freuen zu können, und gerade Bildung genug, um das zu wissen; gelangweilt, überdrüssig, ein Selbstverächter; durch etwas ererbtes Vermögen leider noch um den letzten Trost betrogen, den „Segen der Arbeit“, die Selbstvergessenheit im „Tagewerk“; ein Solcher, der sich seines Daseins im Grunde | schämt − vielleicht herbergt er dazu ein paar kleine Laster − und andrerseits nicht umhin kann, durch Bücher, auf die er kein Recht hat, oder geistigere Gesellschaft als er verdauen kann, sich immer schlimmer zu verwöhnen und eitelreizbar zu machen : ein solcher durch und durch vergifteter Mensch − denn Geist wird Gift, Bildung wird Gift, Besitz wird Gift, Einsamkeit wird Gift bei dergestalt Missrathenen − geräth schliesslich in einen habituellen Zustand der Rache, des Willens zur Rache … w a s glaubt ihr wohl, dass er nöthig, unbedingt nöthig hat, um sich bei sich selbst den Anschein von Ueberlegenheit über geistigere Menschen, um sich die Lust der vol l z og e ne n R ac he, wenigstens für seine Einbildung, zu schaffen ? Immer d ie Mor a l it ät , darauf darf man wetten, immer die grossen Moral-Worte, immer das Bumbum von Gerechtigkeit, Weisheit, Heiligkeit, Tugend, immer den Stoicismus der Gebärde (− wie gut versteckt der Stoicismus was Einer n ic ht hat !  …), immer den Mantel des klugen Schweigens, der Leutseligkeit, der Milde, und wie alle die Idealisten-Mäntel heissen, unter denen die unheilbaren Selbstverächter, auch die unheilbar Eiteln, herum gehn. Man verstehe mich nicht falsch : aus solchen geborenen Fe i nd e n d e s G e i s t e s entsteht mitunter jenes seltene Stück Menschthum, das vom Volke unter dem Namen des Heiligen, des Weisen verehrt wird; aus solchen Menschen kommen jene Unthiere der Moral her, welche Lärm machen, Geschichte machen, − der heilige Augustin gehört zu ihnen. Die Furcht vor dem Geist, die Rache am Geist − oh wie oft wurden diese triebkräftigen Laster schon zur Wurzel von Tugenden ! Ja z u r Tugend ! − Und, unter uns gefragt, selbst jener Philosophen-

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Anspruch auf We i s|he it , der hier und da einmal auf Erden gemacht worden ist, der tollste und unbescheidenste aller Ansprüche, − war er nicht immer bisher, in Indien, wie in Griechenland, vor A l lem e i n Ver s t ec k ? Mitunter vielleicht im Gesichtspunkte der Erziehung, der so viele Lügen heiligt, als zarte Rücksicht auf Werdende, Wachsende, auf Jünger, welche oft durch den Glauben an die Person (durch einen Irrthum) gegen sich selbst vertheidigt werden müssen … In den häufigeren Fällen aber ein Versteck des Philosophen, hinter welches er sich aus Ermüdung, Alter, Erkaltung, Verhärtung rettet, als Gefühl vom nahen Ende, als Klugheit jenes Instinkts, den die Thiere vor dem Tode haben, − sie gehen bei Seite, werden still, wählen die Einsamkeit, verkriechen sich in Höhlen, werden we i s e … Wie ? Weisheit ein Versteck des Philosophen vor − dem Geiste ? − 360. Zwe i A r t e n Ur s ac he, d ie m a n ve r wec h s e lt . − Das erscheint mir als einer meiner wesentlichsten Schritte und Fortschritte : ich lernte die Ursache des Handelns unterscheiden von der Ursache des So- und So-Handelns, des In-dieser-Richtung-, Auf-dieses-Ziel-hin-Handelns. Die erste Art Ursache ist ein Quantum von aufgestauter Kraft, welches darauf wartet, irgend wie, irgend wozu verbraucht zu werden; die zweite Art ist dagegen etwas an dieser Kraft gemessen ganz Unbedeutendes, ein kleiner Zufall zumeist, gemäss dem jenes Quantum sich nunmehr auf Eine und bestimmte Weise „auslöst“ : das Streichholz im Verhältniss zur Pulvertonne. Unter diese kleinen Zufälle und Streichhölzer rechne ich alle sogenannten „Zwecke“, ebenso die noch viel sogenannteren „Lebens-| berufe“ : sie sind relativ beliebig, willkürlich, fast gleichgültig im Verhältniss zu dem ungeheuren Quantum Kraft, welches darnach drängt, wie gesagt, irgendwie aufgebraucht zu werden. Man sieht es gemeinhin anders an : man ist gewohnt, gerade in dem Ziele (Zwecke, Berufe u. s. w.) die t r e i b e nd e

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Kraft zu sehn, gemäss einem uralten Irrthume, − aber er ist nur die d i r i g i r e nd e Kraft, man hat dabei den Steuermann und den Dampf verwechselt. Und noch nicht einmal immer den Steuermann, die dirigirende Kraft … Ist das „Ziel“, der „Zweck“ nicht oft genug nur ein beschönigender Vorwand, eine nachträgliche Selbstverblendung der Eitelkeit, die es nicht Wort haben will, dass das Schiff der Strömung f ol g t , in die es zufällig gerathen ist ? Dass es dorthin „will“, we i l es dorthin − mu s s ? Dass es wohl eine Richtung hat, aber ganz und gar − keinen Steuermann ? − Man bedarf noch einer Kritik des Begriffs „Zweck“. 361. Vom P r o ble me d e s S c h au s p ie le r s . − Das Problem des Schauspielers hat mich am längsten beunruhigt; ich war im Ungewissen darüber (und bin es mitunter jetzt noch), ob man nicht erst von da aus dem gefährlichen Begriff „Künstler“ − einem mit unverzeihlicher Gutmüthigkeit bisher behandelten Begriff − beikommen wird. Die Falschheit mit gutem Gewissen; die Lust an der Verstellung als Macht herausbrechend, den sogenannten „Charakter“ bei Seite schiebend, überfluthend, mitunter auslöschend; das innere Verlangen in eine Rolle und Maske, in einen S c he i n hinein; ein Ueberschuss von Anpassungs-Fähigkeiten aller Art, welche sich nicht mehr im Dienste des nächsten engsten Nutzens zu be|friedigen wissen : Alles das ist vielleicht nicht nu r der Schauspieler an sich ? … Ein solcher Instinkt wird sich am leichtesten bei Familien des niederen Volkes ausgebildet haben, die unter wechselndem Druck und Zwang, in tiefer Abhängigkeit ihr Leben durchsetzen mussten, welche sich geschmeidig nach ihrer Decke zu strecken, auf neue Umstände immer neu einzurichten, immer wieder anders zu geben und zu stellen hatten, befähigt allmählich, den Mantel nach je d e m Winde zu hängen und dadurch fast zum Mantel werdend, als Meister jener einverleibten und eingefleischten Kunst des ewigen Verstek-

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ken-Spielens, das man bei Thieren mimicry nennt : bis zum Schluss dieses ganze von Geschlecht zu Geschlecht aufgespeicherte Vermögen herrisch, unvernünftig, unbändig wird, als Instinkt andre Instinkte kommandiren lernt und den Schauspieler, den „Künstler“ erzeugt (den Possenreisser, Lügenerzähler, Hanswurst, Narren, Clown zunächst, auch den klassischen Bedienten, den Gil Blas : denn in solchen Typen hat man die Vorgeschichte des Künstlers und oft genug sogar des „Genies“). Auch in höheren gesellschaftlichen Bedingungen erwächst unter ähnlichem Drucke eine ähnliche Art Mensch : nur wird dann meistens der schauspielerische Instinkt durch einen andren Instinkt gerade noch im Zaume gehalten, zum Beispiel bei dem „Diplomaten“, − ich würde übrigens glauben, dass es einem guten Diplomaten jeder Zeit noch freistünde, auch einen guten Bühnen-Schauspieler abzugeben, gesetzt, dass es ihm eben „freistünde“. Was aber die Ju d e n betriff t, jenes Volk der Anpassungskunst par excellence, so möchte man in ihnen, diesem Gedankengange nach, von vornherein gleichsam eine welthistorische Veranstaltung zur Züchtung von Schauspielern sehn, eine eigentliche Schau|spieler-Brutstätte; und in der That ist die Frage reichlich an der Zeit : welcher gute Schauspieler ist heute n ic ht − Jude ? Auch der Jude als geborener Litterat, als der thatsächliche Beherrscher der europäischen Presse übt diese seine Macht auf Grund seiner schauspielerischen Fähigkeit aus : denn der Litterat ist wesentlich Schauspieler, − er spielt nämlich den „Sachkundigen“, den „Fachmann“. − Endlich die Fr aue n : man denke über die ganze Geschichte der Frauen nach, − mü s s e n sie nicht zu allererst und -oberst Schauspielerinnen sein ? Man höre die Aerzte, welche Frauenzimmer hypnotisirt haben; zuletzt, man liebe sie, − man lasse sich von ihnen „hypnotisiren“ ! Was kommt immer dabei heraus ? Dass sie „sich geben“, selbst noch, wenn sie − sich geben … Das Weib ist so artistisch …

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362. Un s e r Gl au b e a n e i ne Ve r m ä n n l ic hu n g Eu r op a’s. − Napoleon verdankt man’s (und ganz und gar nicht der französischen Revolution, welche auf „Brüderlichkeit“ von Volk zu Volk und allgemeinen blumichten Herzens-Austausch ausgewesen ist), dass sich jetzt ein paar kriegerische Jahrhunderte auf einander folgen dürfen, die in der Geschichte nicht ihres Gleichen haben, kurz dass wir in’s k l a s s i s c he Z e it a lt e r d e s K r ie g s getreten sind, des gelehrten und zugleich volksthümlichen Kriegs im grössten Maassstabe (der Mittel, der Begabungen, der Disciplin), auf den alle kommenden Jahrtausende als auf ein Stück Vollkommenheit mit Neid und Ehrfurcht zurückblicken werden : − denn die nationale Bewegung, aus der diese Kriegs-Glorie herauswächst, ist nur der Gegen-choc gegen Napoleon und wäre ohne | Napoleon nicht vorhanden. Ihm also wird man einmal es zurechnen dürfen, dass der M a n n in Europa wieder Herr über den Kaufmann und Philister geworden ist; vielleicht sogar über „das Weib“, das durch das Christenthum und den schwärmerischen Geist des achtzehnten Jahrhunderts, noch mehr durch die „modernen Ideen“, verhätschelt worden ist. Napoleon, der in den modernen Ideen und geradewegs in der Civilisation Etwas wie eine persönliche Feindin sah, hat mit dieser Feindschaft sich als einer der grössten Fortsetzer der Renaissance bewährt : er hat ein ganzes Stück antiken Wesens, das entscheidende vielleicht, das Stück Granit, wieder heraufgebracht. Und wer weiss, ob nicht dies Stück antiken Wesens auch endlich wieder über die nationale Bewegung Herr werden wird und sich im b eja he nd e n Sinne zum Erben und Fortsetzer Napoleon’s machen muss : − der das Eine Europa wollte, wie man weiss, und dies als He r r i n d e r E r d e.−

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363. Wie jedes Gesc h lec ht über d ie Liebe sei n Vor u r t hei l h a t . − Bei allem Zugeständnisse, welches ich dem monogamischen Vorurtheile zu machen Willens bin, werde ich doch niemals zulassen, dass man bei Mann und Weib von g le ic he n Rechten in der Liebe rede : diese giebt es nicht. Das macht, Mann und Weib verstehen unter Liebe Jeder etwas Anderes, − und es gehört mit unter die Bedingungen der Liebe bei beiden Geschlechtern, dass das eine Geschlecht beim andren Geschlechte n ic ht das gleiche Gefühl, den gleichen Begriff „Liebe“ voraussetzt. Was das Weib unter Liebe versteht, ist klar genug : vollkommene Hingabe (nicht nur Hingebung) mit Seele und Leib, ohne jede Rücksicht, | jeden Vorbehalt, mit Scham und Schrecken vielmehr vor dem Gedanken einer verklausulirten, an Bedingungen geknüpften Hingabe. In dieser Abwesenheit von Bedingungen ist eben seine Liebe ein G l au b e : das Weib hat keinen anderen. − Der Mann, wenn er ein Weib liebt, w i l l von ihm eben diese Liebe, ist folglich für seine Person selbst am entferntesten von der Voraussetzung der weiblichen Liebe; gesetzt aber, dass es auch Männer geben sollte, denen ihrerseits das Verlangen nach vollkommener Hingebung nicht fremd ist, nun, so sind das eben − keine Männer. Ein Mann, der liebt wie ein Weib, wird damit Sklave; ein Weib aber, das liebt wie ein Weib, wird damit ein vol l k om me ne r e s Weib … Die Leidenschaft des Weibes, in ihrem unbedingten Verzichtleisten auf eigne Rechte, hat gerade zur Voraussetzung, dass auf der andren Seite n ic ht ein gleiches Pathos, ein gleiches Verzichtleisten-Wollen besteht : denn wenn Beide aus Liebe auf sich selbst verzichteten, so entstünde daraus − nun, ich weiss nicht was, vielleicht ein leerer Raum ? − Das Weib will genommen, angenommen werden als Besitz, will aufgehn in den Begriff „Besitz“, „besessen“; folglich will es Einen, der n i m mt , der sich nicht selbst giebt und weggiebt, der umgekehrt vielmehr gerade reicher an „sich“

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gemacht werden soll − durch den Zuwachs an Kraft, Glück, Glaube, als welchen ihm das Weib sich selbst giebt. Das Weib giebt sich weg, der Mann nimmt hinzu − ich denke, über diesen Natur-Gegensatz wird man durch keine socialen Verträge, auch nicht durch den allerbesten Willen zur Gerechtigkeit hinwegkommen : so wünschenswerth es sein mag, dass man das Harte, Schreckliche, Räthselhafte, Unmoralische dieses Antagonismus sich nicht | beständig vor Augen stellt. Denn die Liebe, ganz, gross, voll gedacht, ist Natur und als Natur in alle Ewigkeit etwas „Unmoralisches“. − Die Tr eue ist demgemäss in die Liebe des Weibes eingeschlossen, sie folgt aus deren Defi nition; bei dem Manne k a n n sie leicht im Gefolge seiner Liebe entstehn, etwa als Dankbarkeit oder als Idiosynkrasie des Geschmacks und sogenannte Wahlverwandtschaft, aber sie gehört nicht in’s We s e n seiner Liebe, − und zwar so wenig, dass man beinahe mit einigem Recht von einem natürlichen Widerspiel zwischen Liebe und Treue beim Mann reden dürfte : welche Liebe eben ein Haben-Wollen ist und n ic ht ein Verzichtleisten und Weggeben; das Haben-Wollen geht aber jedes Mal mit dem H a b e n zu Ende … Thatsächlich ist es der feinere und argwöhnischere Besitzdurst des Mannes, der dies „Haben“ sich selten und spät eingesteht, was seine Liebe fortbestehn macht; insofern ist es selbst möglich, dass sie noch nach der Hingebung wächst, − er giebt nicht leicht zu, dass ein Weib für ihn Nichts mehr „hinzugeben“ hätte. − 364. Der Ei n sied ler redet. − Die Kunst, mit Menschen umzugehn, beruht wesentlich auf der Geschicklichkeit (die eine lange Uebung voraussetzt), eine Mahlzeit anzunehmen, einzunehmen, zu deren Küche man kein Vertrauen hat. Gesetzt, dass man mit einem Wolfshunger zu Tisch kommt, geht Alles leicht („die schlechteste Gesellschaft lässt dich f ü h le n   −“, wie Mephistopheles sagt); aber man hat ihn nicht, diesen

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Wolfshunger, wenn man ihn braucht ! Ah, wie schwer sind die Mitmenschen zu verdauen ! Erstes Princip : wie bei einem Unglücke seinen | Muth einsetzen, tapfer zugreifen, sich selbst dabei bewundern, seinen Widerwillen zwischen die Zähne nehmen, seinen Ekel hinunter stopfen. Zweites Princip : seinen Mitmenschen „verbessern“, zum Beispiel durch ein Lob, so dass er sein Glück über sich selbst auszuschwitzen beginnt; oder einen Zipfel von seinen guten oder „interessanten“ Eigenschaften fassen und daran ziehn, bis man die ganze Tugend heraus hat und den Mitmenschen in deren Falten unterstecken kann. Drittes Princip : Selbsthypnotisirung. Sein Verkehrs-Objekt wie einen gläsernen Knopf fi xiren, bis man aufhört, Lust und Unlust dabei zu empfi nden, und unbemerkt einschläft, starr wird, Haltung bekommt : ein Hausmittel aus der Ehe und Freundschaft, reichlich erprobt, als unentbehrlich gepriesen, aber wissenschaftlich noch nicht formulirt. Sein populärer Name ist − Geduld. − 365. D e r E i n s ie d le r s p r ic ht no c h e i n m a l . − Auch wir gehn mit „Menschen“ um, auch wir ziehn bescheiden das Kleid an, in dem (a l s das) man uns kennt, achtet, sucht, und begeben uns damit in Gesellschaft, das heisst unter Verkleidete, die es nicht heissen wollen; auch wir machen es wie alle klugen Masken und setzen jeder Neugierde, die nicht unser „Kleid“ betriff t, auf eine höfl iche Weise den Stuhl vor die Thüre. Es giebt aber auch andre Arten und Kunststücke, um unter Menschen, mit Menschen „umzugehn“ : zum Beispiel als Gespenst, − was sehr rathsam ist, wenn man sie bald los sein und fürchten machen will. Probe : man greift nach uns und bekommt uns nicht zu fassen. Das erschreckt. Oder : wir kommen durch eine geschlossne Thür. Oder : wenn alle Lichter | ausgelöscht sind. Oder : nachdem wir bereits gestorben sind. Letzteres ist das Kunststück der p o s t hu me n Menschen par excellence. („Was

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denkt ihr auch ?“ sagte ein Solcher einmal ungeduldig, „würden wir diese Fremde, Kälte, Grabesstille um uns auszuhalten Lust haben, diese ganze unterirdische verborgne stumme unentdeckte Einsamkeit, die bei uns Leben heisst und ebensogut Tod heissen könnte, wenn wir nicht wüssten, was aus uns w i r d , − und dass wir nach dem Tode erst zu u n s e r m Leben kommen und lebendig werden, ah ! sehr lebendig ! wir posthumen Menschen !“−) 366. A ngesichts ei nes gelehrten Buches. − Wir gehören nicht zu Denen, die erst zwischen Büchern, auf den Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen − unsre Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich werden. Unsre ersten Werthfragen, in Bezug auf Buch, Mensch und Musik, lauten : „kann er gehen ? mehr noch, kann er tanzen ?“ … Wir lesen selten, wir lesen darum nicht schlechter − oh wie rasch errathen wir’s, wie Einer auf seine Gedanken gekommen ist, ob sitzend, vor dem Tintenfass, mit zusammengedrücktem Bauche, den Kopf über das Papier gebeugt : oh wie rasch sind wir auch mit seinem Buche fertig ! Das geklemmte Eingeweide verräth sich, darauf darf man wetten, ebenso wie sich Stubenluft, Stubendecke, Stubenenge verräth. − Das waren meine Gefühle, als ich eben ein rechtschaff nes gelehrtes Buch zuschlug, dankbar, sehr dankbar, aber auch erleichtert … An dem Buche eines | Gelehrten ist fast immer auch etwas Drückendes, Gedrücktes : der „Specialist“ kommt irgendwo zum Vorschein, sein Eifer, sein Ernst, sein Ingrimm, seine Ueberschätzung des Winkels, in dem er sitzt und spinnt, sein Buckel, − jeder Specialist hat seinen Buckel. Ein Gelehrten-Buch spiegelt immer auch eine krummgezogene Seele : jedes Handwerk zieht krumm. Man sehe seine Freunde wieder, mit denen man

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jung war, nachdem sie Besitz von ihrer Wissenschaft ergriffen haben : ach, wie auch immer das Umgekehrte geschehn ist ! Ach, wie sie selbst auf immer nunmehr von ihr besetzt und besessen sind ! In ihre Ecke eingewachsen, verdrückt bis zur Unkenntlichkeit, unfrei, um ihr Gleichgewicht gebracht, abgemagert und eckig überall, nur an Einer Stelle ausbündig rund, − man ist bewegt und schweigt, wenn man sie so wiederfi ndet. Jedes Handwerk, gesetzt selbst, dass es einen goldenen Boden hat, hat über sich auch eine bleierne Decke, die auf die Seele drückt und drückt, bis sie wunderlich und krumm gedrückt ist. Daran ist Nichts zu ändern. Man glaube ja nicht, dass es möglich sei, um diese Verunstaltung durch irgend welche Künste der Erziehung herumzukommen. Jede Art Me i s t e r s c h a f t zahlt sich theuer auf Erden, wo vielleicht Alles sich zu theuer zahlt; man ist Mann seines Fachs um den Preis, auch das Opfer seines Fachs zu sein. Aber ihr wollt es anders haben − „billiger“, vor Allem bequemer − nicht wahr, meine Herren Zeitgenossen ? Nun wohlan ! Aber da bekommt ihr sofort auch etwas Anderes, nämlich statt des Handwerkers und Meisters den Litteraten, den gewandten „vielgewendeten“ Litteraten, dem freilich der Buckel fehlt − jenen abgerechnet, den er vor euch macht, als der Ladendiener | des Geistes und „Träger“ der Bildung −, den Litteraten, der eigentlich Nichts i s t , aber fast Alles „repräsentirt“, der den Sachkenner spielt und „vertritt“, der es auch in aller Bescheidenheit auf sich nimmt, sich an dessen Stelle bezahlt, geehrt, gefeiert zu m ac he n . − Nein, meine gelehrten Freunde ! Ich segne euch auch noch um eures Buckels willen ! Und dafür, dass ihr gleich mir die Litteraten und Bildungs-Schmarotzer verachtet ! Und dass ihr nicht mit dem Geiste Handel zu treiben wisst ! Und lauter Meinungen habt, die nicht in Geldeswerth auszudrücken sind ! Und dass ihr Nichts vertretet, was ihr nicht s e id ! Dass euer einziger Wille ist, Meister eures Handwerks zu werden, in Ehrfurcht vor jeder Art Meisterschaft und Tüchtigkeit und

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mit rücksichtslosester Ablehnung alles Scheinbaren, Halbächten, Aufgeputzten, Virtuosenhaften, Demagogischen, Schauspielerischen in litteris et artibus − alles dessen, was in Hinsicht auf unbedingte P r o b it ät von Zucht und Vorschulung sich nicht vor euch ausweisen kann ! (Selbst Genie hilft über einen solchen Mangel nicht hinweg, so sehr es auch über ihn hinwegzutäuschen versteht : das begreift man, wenn man einmal unsern begabtesten Malern und Musikern aus der Nähe zugesehn hat, − als welche Alle, fast ausnahmslos, sich durch eine listige Erfi ndsamkeit von Manieren, von Nothbehelfen, selbst von Principien künstlich und nachträglich den A n s c he i n jener Probität, jener Solidität von Schulung und Cultur anzueignen wissen, freilich ohne damit sich selbst zu betrügen, ohne damit ihr eignes schlechtes Gewissen dauernd mundtodt zu machen. Denn, ihr wisst es doch ? alle grossen modernen Künstler leiden am schlechten Gewissen …) | 367. Wie ma n z uerst bei Ku n st werken z u u ntersc heiden hat. − Alles, was gedacht, gedichtet, gemalt, componirt, selbst gebaut und gebildet wird, gehört entweder zur monologischen Kunst oder zur Kunst vor Zeugen. Unter letztere ist auch noch jene scheinbare Monolog-Kunst einzurechnen, welche den Glauben an Gott in sich schliesst, die ganze Lyrik des Gebets : denn für einen Frommen giebt es noch keine Einsamkeit, − diese Erfi ndung haben erst wir gemacht, wir Gottlosen. Ich kenne keinen tieferen Unterschied der gesammten Optik eines Künstlers als diesen : ob er vom Auge des Zeugen aus nach seinem werdenden Kunstwerke (nach „sich“ −) hinblickt oder aber „die Welt vergessen hat“ : wie es das Wesentliche jeder monologischen Kunst ist, − sie ruht au f d e m Ve r g e s s e n , sie ist die Musik des Vergessens.

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368. D e r C y n i k e r r e d et . − Meine Einwände gegen die Musik Wagner’s sind physiologische Einwände : wozu dieselben erst noch unter ästhetische Formeln verkleiden ? Meine „Thatsache“ ist, dass ich nicht mehr leicht athme, wenn diese Musik erst auf mich wirkt; dass alsbald mein F u s s gegen sie böse wird und revoltirt − er hat das Bedürfniss nach Takt, Tanz, Marsch, er verlangt von der Musik vorerst die Entzückungen, welche in g ut e m Gehen, Schreiten, Springen, Tanzen liegen. − Protestirt aber nicht auch mein Magen ? mein Herz ? mein Blutlauf ? mein Eingeweide ? Werde ich nicht unvermerkt heiser dabei ? − Und so frage ich mich : was w i l l eigentlich mein ganzer Leib von der Musik überhaupt ? Ich glaube, seine E rle ic ht e r u n g : wie als ob alle animalischen Funktionen | durch leichte kühne ausgelassne selbstgewisse Rhythmen beschleunigt werden sollten; wie als ob das eherne, das bleierne Leben durch goldene gute zärtliche Harmonien vergoldet werden sollte. Meine Schwermuth will in den Verstekken und Abgründen der Vol l k om me n he it ausruhn : dazu brauche ich Musik. Was geht mich das Drama an ! Was die Krämpfe seiner sittlichen Ekstasen, an denen das „Volk“ seine Genugthuung hat ! Was der ganze Gebärden-Hokuspokus des Schauspielers !  … Man erräth, ich bin wesentlich antitheatralisch geartet, − aber Wagner war umgekehrt wesentlich Theatermensch und Schauspieler, der begeistertste Mimomane, den es gegeben hat, auch noch als Musiker ! … Und, beiläufig gesagt : wenn es Wagner’s Theorie gewesen ist „das Drama ist der Zweck, die Musik ist immer nur dessen Mittel“, − seine P r a x i s dagegen war, von Anfang bis zu Ende, „die Attitüde ist der Zweck, das Drama, auch die Musik ist immer nur i h r Mittel“. Die Musik als Mittel zur Verdeutlichung, Verstärkung, Verinnerlichung der dramatischen Gebärde und Schauspieler-Sinnenfälligkeit; und das Wagnerische Drama nur eine Gelegenheit zu vielen dramatischen Attitüden ! Er

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hatte, neben allen anderen Instinkten, die commandirenden Instinkte eines grossen Schauspielers, in Allem und Jedem : und, wie gesagt, auch als Musiker. − Dies machte ich einstmals einem rechtschaffenen Wagnerianer klar, mit einiger Mühe; und ich hatte Gründe, noch hinzuzufügen „seien Sie doch ein wenig ehrlicher gegen sich selbst : wir sind ja nicht im Theater ! Im Theater ist man nur als Masse ehrlich; als Einzelner lügt man, belügt man sich. Man lässt sich selbst zu Hause, wenn man in’s Theater geht, man verzichtet auf das Recht der eignen Zunge und Wahl, auf | seinen Geschmack, selbst auf seine Tapferkeit, wie man sie zwischen den eignen vier Wänden gegen Gott und Mensch hat und übt. In das Theater bringt Niemand die feinsten Sinne seiner Kunst mit, auch der Künstler nicht, der für das Theater arbeitet : da ist man Volk, Publikum, Heerde, Weib, Pharisäer, Stimmvieh, Demokrat, Nächster, Mitmensch, da unterliegt noch das persönlichste Gewissen dem nivellirenden Zauber der „grössten Zahl“, da wirkt die Dummheit als Lüsternheit und Contagion, da regiert der „Nachbar“, da w i r d man Nachbar …“ (Ich vergass zu erzählen, was mir mein aufgeklärter Wagnerianer auf die physiologischen Einwände entgegnete : „Sie sind also eigentlich nur nicht gesund genug für unsere Musik ?“−) 369. Un ser Nebenei n a nder. − Müssen wir es uns nicht eingestehn, wir Künstler, dass es eine unheimliche Verschiedenheit in uns giebt, dass unser Geschmack und andrerseits unsre schöpferische Kraft auf eine wunderliche Weise für sich stehn, für sich stehn bleiben und ein Wachsthum für sich haben, − ich will sagen ganz verschiedne Grade und tempi von Alt, Jung, Reif, Mürbe, Faul ? So dass zum Beispiel ein Musiker zeitlebens Dinge schaffen könnte, die dem, was sein verwöhntes Zuhörer-Ohr, Zuhörer-Herz schätzt, schmeckt, vorzieht, w id e r s p r e c he n : − er brauchte noch nicht einmal

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um diesen Widerspruch zu wissen ! Man kann, wie eine fast peinlich-regelmässige Erfahrung zeigt, leicht mit seinem Geschmack über den Geschmack seiner Kraft hinauswachsen, selbst ohne dass letztere dadurch gelähmt und am Hervorbringen gehindert würde; es kann aber auch etwas Umgekehrtes geschehn, | − und dies gerade ist es, worauf ich die Aufmerksamkeit der Künstler lenken möchte. Ein BeständigSchaffender, eine „Mutter“ von Mensch, im grossen Sinne des Wortes, ein Solcher, der von Nichts als von Schwangerschaften und Kindsbetten seines Geistes mehr weiss und hört, der gar keine Zeit hat, sich und sein Werk zu bedenken, zu vergleichen, der auch nicht mehr Willens ist, seinen Geschmack noch zu üben, und ihn einfach vergisst, nämlich stehn, liegen oder fallen lässt, − vielleicht bringt ein Solcher endlich Werke hervor, d e n e n e r m it s e i ne m Ur t he i le l ä n g s t n ic ht me h r g ew ac h s e n i s t : so dass er über sie und sich Dummheiten sagt, − sagt und denkt. Dies scheint mir bei fruchtbaren Künstlern beinahe das normale Verhältniss, − Niemand kennt ein Kind schlechter als seine Eltern − und es gilt sogar, um ein ungeheueres Beispiel zu nehmen, in Bezug auf die ganze griechische Dichter- und Künstler-Welt : sie hat niemals „gewusst“, was sie gethan hat … 370. Wa s i s t Rom a nt i k ? − Man erinnert sich vielleicht, zum Mindesten unter meinen Freunden, dass ich Anfangs mit einigen dicken Irrthümern und Ueberschätzungen und jedenfalls als Hof f e nd e r auf diese moderne Welt losgegangen bin. Ich verstand − wer weiss, auf welche persönlichen Erfahrungen hin ? − den philosophischen Pessimismus des neunzehnten Jahrhunderts, wie als ob er das Symptom von höherer Kraft des Gedankens, von verwegenerer Tapferkeit, von siegreicherer F ü l le des Lebens sei, als diese dem achtzehnten Jahrhundert, dem Zeitalter Hume’s, Kant’s, Condillac’s und der

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Sensualisten, zu eigen gewesen sind : so dass mir die | tragische Erkenntniss wie der eigentliche Lu x u s unsrer Cultur erschien, als deren kostbarste, vornehmste, gefährlichste Art Verschwendung, aber immerhin, auf Grund ihres Ueberreichthums, als ihr e rl au bt e r Luxus. Insgleichen deutete ich mir die deutsche Musik zurecht zum Ausdruck einer dionysischen Mächtigkeit der deutschen Seele : in ihr glaubte ich das Erdbeben zu hören, mit dem eine von Alters her aufgestaute Urkraft sich endlich Luft macht − gleichgültig dagegen, ob Alles, was sonst Cultur heisst, dabei in’s Zittern geräth. Man sieht, ich verkannte damals, sowohl am philosophischen Pessimismus, wie an der deutschen Musik, das was ihren eigent lichen Charakter ausmacht − ihre R o m a nt i k . Was ist Romantik ? Jede Kunst, jede Philosophie darf als Heil- und Hülfsmittel im Dienste des wachsenden, kämpfenden Lebens angesehn werden : sie setzen immer Leiden und Leidende voraus. − Aber es giebt zweierlei Leidende, einmal die an der Ue b e r f ü l le d e s L e b e n s Leidenden, welche eine dionysische Kunst wollen und ebenso eine tragische Ansicht und Einsicht in das Leben, − und sodann die an der Ve r a r mu n g d e s L eb e n s Leidenden, die Ruhe, Stille, glattes Meer, Erlösung von sich durch die Kunst und Erkenntniss suchen, oder aber den Rausch, den Krampf, die Betäubung, den Wahnsinn. Dem Doppel-Bedürfnisse der L et z t e r e n entspricht alle Romantik in Künsten und Erkenntnissen, ihnen entsprach (und entspricht) ebenso Schopenhauer als Richard Wagner, um jene berühmtesten und ausdrücklichsten Romantiker zu nennen, welche damals von mir m i s s ve r s t a nd e n wurden − übrigens n ic ht zu ihrem Nachtheile, wie man mir in aller Billigkeit zugestehn darf. Der Reichste an Lebensfülle, der dionysische Gott und Mensch, kann sich | nicht nur den Anblick des Fürchterlichen und Fragwürdigen gönnen, sondern selbst die fürchterliche That und jeden Luxus von Zerstörung, Zersetzung, Verneinung; bei ihm erscheint das Böse, Unsinnige

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und Hässliche gleichsam erlaubt, in Folge eines Ueberschusses von zeugenden, befruchtenden Kräften, welcher aus jeder Wüste noch ein üppiges Fruchtland zu schaffen im Stande ist. Umgekehrt würde der Leidendste, Lebensärmste am meisten die Milde, Friedlichkeit, Güte nöthig haben, im Denken und im Handeln, womöglich einen Gott, der ganz eigentlich ein Gott für Kranke, ein „Heiland“ wäre; ebenso auch die Logik, die begriffl iche Verständlichkeit des Daseins − denn die Logik beruhigt, giebt Vertrauen −, kurz eine gewisse warme furchtabwehrende Enge und Einschliessung in optimistische Horizonte. Dergestalt lernte ich allmählich Epikur begreifen, den Gegensatz eines dionysischen Pessimisten, ebenfalls den „Christen“, der in der That nur eine Art Epikureer und, gleich jenem, wesentlich Romantiker ist, − und mein Blick schärfte sich immer mehr für jene schwierigste und verfänglichste Form des R üc k s c h lu s s e s , in der die meisten Fehler gemacht werden − des Rückschlusses vom Werk auf den Urheber, von der That auf den Thäter, vom Ideal auf Den, der es nöt h i g h at , von jeder Denk- und Werthungsweise auf das dahinter kommandirende B edü r f n i s s. − In Hinsicht auf alle ästhetischen Werthe bediene ich mich jetzt dieser Hauptunterscheidung : ich frage, in jedem einzelnen Falle, „ist hier der Hunger oder der Ueberfluss schöpferisch geworden ?“ Von vornherein möchte sich eine andre Unterscheidung mehr zu empfehlen scheinen − sie ist bei weitem augenscheinlicher − nämlich das Augenmerk darauf, ob das Verlangen | nach Starrmachen, Verewigen, nach S e i n die Ursache des Schaffens ist, oder aber das Verlangen nach Zerstörung, nach Wechsel, nach Neuem, nach Zukunft, nach We r d e n . Aber beide Arten des Verlangens erweisen sich, tiefer angesehn, noch als zweideutig, und zwar deutbar eben nach jenem vorangestellten und mit Recht, wie mich dünkt, vorgezogenen Schema. Das Verlangen nach Z e r s t ör u n g , Wechsel, Werden kann der Ausdruck der übervollen, zukunftsschwangeren

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Kraft sein (mein terminus ist dafür, wie man weiss, das Wort „dionysisch“), aber es kann auch der Hass des Missrathenen, Entbehrenden, Schlechtweggekommenen sein, der zerstört, zerstören mu s s , weil ihn das Bestehende, ja alles Bestehn, alles Sein selbst empört und aufreizt − man sehe sich, um diesen Affekt zu verstehn, unsre Anarchisten aus der Nähe an. Der Wille zum Ve r ew i g e n bedarf gleichfalls einer zwiefachen Interpretation. Er kann einmal aus Dankbarkeit und Liebe kommen : − eine Kunst dieses Ursprungs wird immer eine Apotheosenkunst sein, dithyrambisch vielleicht mit Rubens, selig-spöttisch mit Hafis, hell und gütig mit Goethe, und einen homerischen Licht- und Glorienschein über alle Dinge breitend. Er kann aber auch jener tyrannische Wille eines Schwerleidenden, Kämpfenden, Torturirten sein, welcher das Persönlichste, Einzelnste, Engste, die eigentliche Idiosynkrasie seines Leidens noch zum verbindlichen Gesetz und Zwang stempeln möchte und der an allen Dingen gleichsam Rache nimmt, dadurch, dass er ihnen s e i n Bild, das Bild s e i n e r Tortur, aufdrückt, einzwängt, einbrennt. Letzteres ist der r om a nt i s c he Pe s s i m i s mu s in seiner ausdrucksvollsten Form, sei es als Schopenhauer’sche Willens-Philosophie, sei es als Wagner’sche Musik : − der | romantische Pessimismus, das letzte g r o s s e Ereigniss im Schicksal unsrer Cultur. (Dass es noch einen ganz anderen Pessimismus geben k ö n ne, einen klassischen − diese Ahnung und Vision gehört zu mir, als unablöslich von mir, als mein proprium und ipsissimum : nur dass meinen Ohren das Wort „klassisch“ widersteht, es ist bei weitem zu abgebraucht, zu rund und unkenntlich geworden. Ich nenne jenen Pessimismus der Zukunft – denn er kommt ! ich sehe ihn kommen ! − den d io ny s i s c he n Pessimismus.)

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371. W i r Unve r s t ä nd l ic he n . − Haben wir uns je darüber beklagt, missverstanden, verkannt, verwechselt, verleumdet, verhört und überhört zu werden ? Eben das ist unser Loos − oh für lange noch ! sagen wir, um bescheiden zu sein, bis 1901 −, es ist auch unsre Auszeichnung; wir würden uns selbst nicht genug in Ehren halten, wenn wir’s anders wünschten. Man verwechselt uns − das macht, wir selbst wachsen, wir wechseln fortwährend, wir stossen alte Rinden ab, wir häuten uns mit jedem Frühjahre noch, wir werden immer jünger, zukünftiger, höher, stärker, wir treiben unsre Wurzeln immer mächtiger in die Tiefe − in’s Böse −, während wir zugleich den Himmel immer liebevoller, immer breiter umarmen und sein Licht immer durstiger mit allen unsren Zweigen und Blättern in uns hineinsaugen. Wir wachsen wie Bäume − das ist schwer zu verstehn, wie alles Leben ! − nicht an Einer Stelle, sondern überall, nicht in Einer Richtung, sondern ebenso hinauf, hinaus wie hinein und hinunter, − unsre Kraft treibt zugleich in Stamm, Aesten und Wurzeln, es steht uns gar nicht | mehr frei, irgend Etwas einzeln zu thun, irgend etwas Einzelnes noch zu s e i n … So ist es unser Loos, wie gesagt : wir wachsen in die Höhe; und gesetzt, es wäre selbst unser Verhängniss − denn wir wohnen den Blitzen immer näher ! − wohlan, wir halten es darum nicht weniger in Ehren, es bleibt Das, was wir nicht theilen, nicht mittheilen wollen, das Verhängniss der Höhe, u n s e r Verhängniss … 372. Wa r u m w i r k e i ne Id e a l i s t e n s i nd . − Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen : haben wir − diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt ? Wir sind heute allesammt Sensualisten, wir Gegenwärtigen und Zukünftigen in der Philosophie, n ic ht der Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik  … Jene hingegen meinten, durch die Sinne aus

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i h r e r Welt, dem kalten Reiche der „Ideen“, auf ein gefährliches südlicheres Eiland weggelockt zu werden : woselbst, wie sie fürchteten, ihre Philosophen-Tugenden wie Schnee in der Sonne wegschmelzen würden. „Wachs in den Ohren“ war damals beinahe Bedingung des Philosophirens; ein ächter Philosoph hörte das Leben nicht mehr, insofern Leben Musik ist, er leu g net e die Musik des Lebens, − es ist ein alter Philosophen-Aberglaube, dass alle Musik Sirenen-Musik ist. − Nun möchten wir heute geneigt sein, gerade umgekehrt zu urtheilen (was an sich noch eben so falsch sein könnte) : nämlich dass die Id e e n schlimmere Verführerinnen seien als die Sinne, mit allem ihrem kalten anämischen Anscheine und nicht einmal trotz diesem Anscheine, − sie lebten immer vom „Blute“ des Philosophen, sie zehrten immer seine Sinne aus, ja, wenn man uns glauben will, auch sein „Herz“. Diese alten Philosophen waren herz|los : Philosophiren war immer eine Art Vampyrismus. Fühlt ihr nicht an solchen Gestalten, wie noch der Spinoza’s, etwas tief Änigmatisches und Unheimliches ? Seht ihr das Schauspiel nicht, das sich hier abspielt, das beständige Bl ä s s e r -we r d e n −, die immer idealischer ausgelegte Entsinnlichung ? Ahnt ihr nicht im Hintergrunde irgend eine lange verborgene Blutaussaugerin, welche mit den Sinnen ihren Anfang macht und zuletzt Knochen und Geklapper übrig behält, übrig lässt ? − ich meine Kategorien, Formeln, Wor t e (denn, man vergebe mir, das was von Spinoza ü b r i g bl ieb, amor intellectualis dei, ist ein Geklapper, nichts mehr ! was ist amor, was deus, wenn ihnen jeder Tropfen Blut fehlt ? …) In summa : aller philosophische Idealismus war bisher Etwas wie Krankheit, wo er nicht, wie im Falle Plato’s, die Vorsicht einer überreichen und gefährlichen Gesundheit, die Furcht vor ü b e r m äc ht i g e n Sinnen, die Klugheit eines klugen Sokratikers war. − Vielleicht sind wir Modernen nur nicht gesund genug, um Plato’s Idealismus nöt h i g z u h a b e n ? Und wir fürchten die Sinne nicht, weil − −

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373. „W i s s e n s c h a f t“ a l s Vo r u r t h e i l . − Es folgt aus den Gesetzen der Rangordnung, dass Gelehrte, insofern sie dem geistigen Mittelstande zugehören, die eigentlichen g r o s s e n Probleme und Fragezeichen gar nicht in Sicht bekommen dürfen : zudem reicht ihr Muth und ebenso ihr Blick nicht bis dahin, − vor Allem, ihr Bedürfniss, das sie zu Forschern macht, ihr inneres Vorausnehmen und Wünschen, es möchte s o u nd s o beschaffen sein, ihr Fürchten und Hoffen kommt zu bald schon zur Ruhe, zur Befriedigung. Was zum Beispiel den pedantischen | Engländer Herbert Spencer auf seine Weise schwärmen macht und einen Hoff nungs-Strich, eine Horizont-Linie der Wünschbarkeit ziehen heisst, jene endliche Versöhnung von „Egoismus und Altruismus“, von der er fabelt, das macht Unsereinem beinahe Ekel : − eine Menschheit mit solchen Spencer’schen Perspektiven als letzten Perspektiven schiene uns der Verachtung, der Vernichtung werth ! Aber schon d a s s Etwas als höchste Hoff nung von ihm empfunden werden muss, was Anderen bloss als widerliche Möglichkeit gilt und gelten darf, ist ein Fragezeichen, welches Spencer nicht vorauszusehn vermocht hätte  … Ebenso steht es mit jenem Glauben, mit dem sich jetzt so viele materialistische Naturforscher zufrieden geben, dem Glauben an eine Welt, welche im menschlichen Denken, in menschlichen Werthbegriffen ihr Äquivalent und Maass haben soll, an eine „Welt der Wahrheit“, der man mit Hülfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen vermöchte  − wie ? wollen wir uns wirklich dergestalt das Dasein zu einer Rechenknechts-Uebung und Stubenhockerei für Mathematiker herabwürdigen lassen ? Man soll es vor Allem nicht seines v ie ld eut i g e n Charakters entkleiden wollen : das fordert der g ut e Geschmack, meine Herren, der Geschmack der Ehrfurcht vor Allem, was über euren Horizont geht ! Dass allein eine Welt-Interpretation im Rechte sei, bei der i h r zu Rechte

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besteht, bei der wissenschaftlich in eu r e m Sinne (− ihr meint eigentlich m e c h a n i s t i s c h ?) geforscht und fortgearbeitet werden kann, eine solche, die Zählen, Rechnen, Wägen, Sehn und Greifen und nichts weiter zulässt, das ist eine Plumpheit und Naivetät, gesetzt, dass es keine Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist. Wäre es umgekehrt nicht recht | wahrscheinlich, dass sich gerade das Oberflächlichste und Aeusserlichste vom Dasein − sein Scheinbarstes, seine Haut und Versinnlichung − am Ersten fassen liesse ? vielleicht sogar allein fassen liesse ? Eine „wissenschaftliche“ Welt-Interpretation, wie ihr sie versteht, könnte folglich immer noch eine der d ü m m s t e n , das heisst sinnärmsten aller möglichen Welt-Interpretationen sein : dies den Herrn Mechanikern in’s Ohr und Gewissen gesagt, die heute gern unter die Philosophen laufen und durchaus vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den ersten und letzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Grundstocke alles Dasein aufgebaut sein müsse. Aber eine essentiell mechanische Welt wäre eine essentiell s i n n lo s e Welt ! Gesetzt, man schätzte den We r t h einer Musik darnach ab, wie viel von ihr gezählt, berechnet, in Formeln gebracht werden könne − wie absurd wäre eine solche „wissenschaftliche“ Abschätzung der Musik ! Was hätte man von ihr begriffen, verstanden, erkannt ! Nichts, geradezu Nichts von dem, was eigentlich an ihr „Musik“ ist ! … 374. Un ser neue s „Unend l ic he s“. − Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne „Sinn“ eben zum „Unsinn“ wird, ob, andrerseits, nicht alles Dasein essentiell ein au s le g e nd e s Dasein ist − das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlichgewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden : da der menschliche Intellekt bei

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dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und nu r in ihnen zu sehn. Wir können | nicht um unsre Ecke sehn : es ist eine hoff nungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben k ö n nt e : zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und rückwärts empfi nden können (womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre). Aber ich denke, wir sind heute zum Mindesten ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer Ecke aus zu dekretiren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben d ü r f e. Die Welt ist uns vielmehr noch einmal „unendlich“ geworden : insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie u ne nd l ic he I nt e r p r et at ione n i n s ic h s c h l ie s s t . Noch einmal fasst uns der grosse Schauder − aber wer hätte wohl Lust, d ie s e s Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen ? Und etwa d a s Unbekannte fürderhin als „d e n Unbekannten“ anzubeten ? Ach, es sind zu viele u n g öt t l i c h e Möglichkeiten der Interpretation mit in dieses Unbekannte eingerechnet, zu viel Teufelei, Dummheit, Narrheit der Interpretation, − unsre eigne menschliche, allzumenschliche selbst, die wir kennen … 375. Wa r u m w i r Epi k u reer sc hei nen. − Wir sind vorsichtig, wir modernen Menschen, gegen letzte Ueberzeugungen; unser Misstrauen liegt auf der Lauer gegen die Bezauberungen und Gewissens-Ueberlistungen, welche in jedem starken Glauben, jedem unbedingten Ja und Nein liegen : wie erklärt sich das ? Vielleicht, dass man darin zu einem guten Theil die Behutsamkeit des „gebrannten Kindes“, des enttäuschten Idealisten sehn darf, | zu einem andern und bessern Theile aber auch die frohlockende Neugierde eines ehemaligen Ecken-

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stehers, der durch seine Ecke in Verzweiflung gebracht worden ist und nunmehr im Gegensatz der Ecke schwelgt und schwärmt, im Unbegrenzten, im „Freien an sich“. Damit bildet sich ein nahezu epikurischer Erkenntniss-Hang aus, welcher den Fragezeichen-Charakter der Dinge nicht leichten Kaufs fahren lassen will; insgleichen ein Widerwille gegen die grossen Moral-Worte und -Gebärden, ein Geschmack, der alle plumpen vierschrötigen Gegensätze ablehnt und sich seiner Uebung in Vorbehalten mit Stolz bewusst ist. Denn D a s macht unsern Stolz aus, dieses leichte Zügel-Straff ziehn bei unsrem vorwärts stürmenden Drange nach Gewissheit, diese Selbstbeherrschung des Reiters auf seinen wildesten Ritten : nach wie vor nämlich haben wir tolle feurige Thiere unter uns, und wenn wir zögern, so ist es am wenigsten wohl die Gefahr, die uns zögern macht … 376. Un s r e l a n g s a me n Z e it e n . − So empfi nden alle Künstler und Menschen der „Werke“, die mütterliche Art Mensch : immer glauben sie, bei jedem Abschnitte ihres Lebens − den ein Werk jedes Mal abschneidet −, schon am Ziele selbst zu sein, immer würden sie den Tod geduldig entgegen nehmen, mit dem Gefühl : „dazu sind wir reif“. Dies ist nicht der Ausdruck der Ermüdung, − vielmehr der einer gewissen herbstlichen Sonnigkeit und Milde, welche jedes Mal das Werk selbst, das Reifgewordensein eines Werks, bei seinem Urheber hinterlässt. Da verlangsamt sich das tempo des Lebens und wird dick und honigflüssig − bis zu langen Fermaten, bis zum Glauben an d ie lange Fermate … | 377. W i r H e i m a t lo s e n . − Es fehlt unter den Europäern von Heute nicht an solchen, die ein Recht haben, sich in einem abhebenden und ehrenden Sinne Heimatlose zu nennen, ihnen gerade sei meine geheime Weisheit und gaya scienza

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ausdrücklich an’s Herz gelegt ! Denn ihr Loos ist hart, ihre Hoff nung ungewiss, es ist ein Kunststück, ihnen einen Trost zu erfi nden − aber was hilft es ! Wir Kinder der Zukunft, wie ve r mö c ht e n wir in diesem Heute zu Hause zu sein ! Wir sind allen Idealen abgünstig, auf welche hin Einer sich sogar in dieser zerbrechlichen zerbrochnen Uebergangszeit noch heimisch fühlen könnte; was aber deren „Realitäten“ betriff t, so glauben wir nicht daran, dass sie D aue r haben. Das Eis, das heute noch trägt, ist schon sehr dünn geworden : der Thauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen, sind Etwas, das Eis und andre allzudünne „Realitäten“ auf bricht … Wir „conserviren“ Nichts, wir wollen auch in keine Vergangenheit zurück, wir sind durchaus nicht „liberal“, wir arbeiten nicht für den „Fortschritt“, wir brauchen unser Ohr nicht erst gegen die Zukunfts-Sirenen des Marktes zu verstopfen − das, was sie singen, „gleiche Rechte“, „freie Gesellschaft“, „keine Herrn mehr und keine Knechte“, das lockt uns nicht ! − wir halten es schlechterdings nicht für wünschenswerth, dass das Reich der Gerechtigkeit und Eintracht auf Erden gegründet werde (weil es unter allen Umständen das Reich der tiefsten Vermittelmässigung und Chineserei sein würde), wir freuen uns an Allen, die gleich uns die Gefahr, den Krieg, das Abenteuer lieben, die sich nicht abfi nden, einfangen, versöhnen und verschneiden lassen, wir rechnen uns selbst unter die Eroberer, wir denken über die Nothwendigkeit | neuer Ordnungen nach, auch einer neuen Sklaverei − denn zu jeder Verstärkung und Erhöhung des Typus „Mensch“ gehört auch eine neue Art Versklavung hinzu − nicht wahr ? mit Alle dem müssen wir schlecht in einem Zeitalter zu Hause sein, welches die Ehre in Anspruch zu nehmen liebt, das menschlichste, mildeste, rechtlichste Zeitalter zu heissen, das die Sonne bisher gesehen hat ? Schlimm genug, dass wir gerade bei diesen schönen Worten um so hässlichere Hintergedanken haben ! Dass wir darin nur den Ausdruck −  auch die Maskerade  −

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der tiefen Schwächung, der Ermüdung, des Alters, der absinkenden Kraft sehen ! Was kann uns daran gelegen sein, mit was für Flittern ein Kranker seine Schwäche aufputzt ! Mag er sie als seine Tu g e n d zur Schau tragen − es unterliegt ja keinem Zweifel, dass die Schwäche mild, ach so mild, so rechtlich, so unoffensiv, so „menschlich“ macht ! − Die „Religion des Mitleidens“, zu der man uns überreden möchte − oh wir kennen die hysterischen Männlein und Weiblein genug, welche heute gerade diese Religion zum Schleier und Aufputz nöthig haben ! Wir sind keine Humanitarier; wir würden uns nie zu erlauben wagen, von unsrer „Liebe zur Menschheit“ zu reden − dazu ist Unsereins nicht Schauspieler genug ! Oder nicht Saint-Simonist genug, nicht Franzose genug. Man muss schon mit einem g a l l i s c he n Uebermaass erotischer Reizbarkeit und verliebter Ungeduld behaftet sein, um sich in ehrlicher Weise sogar noch der Menschheit mit seiner Brunst zu nähern … Der Menschheit ! Gab es je noch ein scheusslicheres altes Weib unter allen alten Weibern ? (− es müsste denn etwa die „Wahrheit“ sein : eine Frage für Philosophen). Nein, wir lieben die Menschheit nicht; andererseits sind wir aber auch lange nicht | „deutsch“ genug, wie heute das Wort „deutsch“ gang und gäbe ist, um dem Nationalismus und dem Rassenhass das Wort zu reden, um an der nationalen Herzenskrätze und Blutvergiftung Freude haben zu können, derenthalben sich jetzt in Europa Volk gegen Volk wie mit Quarantänen abgrenzt, absperrt. Dazu sind wir zu unbefangen, zu boshaft, zu verwöhnt, auch zu gut unterrichtet, zu „gereist“ : wir ziehen es bei Weitem vor, auf Bergen zu leben, abseits, „unzeitgemäss“, in vergangnen oder kommenden Jahrhunderten, nur damit wir uns die stille Wuth ersparen, zu der wir uns verurtheilt wüssten als Augenzeugen einer Politik, die den deutschen Geist öde macht, indem sie ihn eitel Macht, und k le i ne Politik ausserdem ist : − hat sie nicht nöthig, damit ihre eigne Schöpfung nicht sofort wieder auseinanderfällt, sie

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zwischen zwei Todhasse zu pflanzen ? mu s s sie nicht die Verewigung der Kleinstaaterei Europa’s wollen ? … Wir Heimatlosen, wir sind der Rasse und Abkunft nach zu vielfach und gemischt, als „moderne Menschen“, und folglich wenig versucht, an jener verlognen Rassen-Selbstbewunderung und Unzucht theil zunehmen, welche sich heute in Deutschland als Zeichen deutscher Gesinnung zur Schau trägt und die bei dem Volke des historischen „Sinns“ zwiefach falsch und unanständig anmuthet. Wir sind, mit Einem Worte − und es soll unser Ehrenwort sein ! − g ut e Eu r o p äe r, die Erben Europa’s, die reichen, überhäuften, aber auch überreich verpfl ichteten Erben von Jahrtausenden des europäischen Geistes : als solche auch dem Christenthum entwachsen und abhold, und gerade, weil wir au s ihm gewachsen sind, weil unsre Vorfahren Christen von rücksichtsloser Rechtschaffenheit des Christenthums waren, die ihrem Glauben willig Gut und Blut, Stand und Vater|land zum Opfer gebracht haben. Wir − thun desgleichen. Wofür doch ? Für unsern Unglauben ? Für jede Art Unglauben ? Nein, das wisst ihr besser, meine Freunde ! Das verborgne Ja in euch ist stärker als alle Neins und Vielleichts, an denen ihr mit eurer Zeit krank seid; und wenn ihr auf ’s Meer müsst, ihr Auswanderer, so zwingt dazu auch euch − ein G l au b e ! … 378. „Und werden w ieder hel l “. − Wir Freigebigen und Reichen des Geistes, die wir gleich off nen Brunnen an der Strasse stehn und es Niemandem wehren mögen, dass er aus uns schöpft : wir wissen uns leider nicht zu wehren, wo wir es möchten, wir können durch Nichts verhindern, dass man uns t r ü bt , fi nster macht, − dass die Zeit, in der wir leben, ihr „Zeitlichstes“, dass deren schmutzige Vögel ihren Unrath, die Knaben ihren Krimskrams und erschöpfte, an uns ausruhende Wandrer ihr kleines und grosses Elend i n uns werfen. Aber wir werden es machen, wie wir es immer gemacht ha-

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ben : wir nehmen, was man auch in uns wirft, hinab in unsre Tiefe − denn wir sind tief, wir vergessen nicht − u nd we r d e n w ie d e r h e l l … 379. Zw i s c he n r e d e d e s Na r r e n . − Das ist kein Misanthrop, der dies Buch geschrieben hat : der Menschenhass bezahlt sich heute zu theuer. Um zu hassen, wie man ehemals d e n Menschen gehasst hat, timonisch, im Ganzen, ohne Abzug, aus vollem Herzen, aus der ganzen L ie b e des Hasses − dazu müsste man auf ’s Verachten Verzicht leisten : − und wie viel feine Freude, wie viel | Geduld, wie viel Gütigkeit selbst verdanken wir gerade unsrem Verachten ! Zudem sind wir damit die „Auserwählten Gottes“ : das feine Verachten ist unser Geschmack und Vorrecht, unsre Kunst, unsre Tugend vielleicht, wir Modernsten unter den Modernen ! … Der Hass dagegen stellt gleich, stellt gegenüber, im Hass ist Ehre, endlich : im Hass ist F u r c ht , ein grosser guter Theil Furcht. Wir Furchtlosen aber, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters, wir kennen unsern Vortheil gut genug, um gerade als die Geistigeren in Hinsicht auf diese Zeit ohne Furcht zu leben. Man wird uns schwerlich köpfen, einsperren, verbannen; man wird nicht einmal unsre Bücher verbieten und verbrennen. Das Zeitalter liebt den Geist, es liebt uns und hat uns nöthig, selbst wenn wir es ihm zu verstehn geben müssten, dass wir in der Verachtung Künstler sind; dass uns jeder Umgang mit Menschen einen leichten Schauder macht; dass wir mit aller unsrer Milde, Geduld, Menschenfreundlichkeit, Höfl ichkeit unsre Nase nicht überreden können, von ihrem Vorurtheile abzustehn, welches sie gegen die Nähe eines Menschen hat; dass wir die Natur lieben, je weniger menschlich es in ihr zugeht, und die Kunst, we n n sie die Flucht des Künstlers vor dem Menschen oder der Spott des Künstlers über den Menschen oder der Spott des Künstlers über sich selber ist …

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380. „Der Wa nderer“ redet. − Um unsrer europäischen Moralität einmal aus der Ferne ansichtig zu werden, um sie an anderen, früheren oder kommenden, Moralitäten zu messen, dazu muss man es machen, wie es ein Wanderer macht, der wissen will, wie hoch die | Thürme einer Stadt sind : dazu ve rl ä s s t er die Stadt. „Gedanken über moralische Vorurtheile“, falls sie nicht Vorurtheile über Vorurtheile sein sollen, setzen eine Stellung au s s e r h a l b der Moral voraus, irgend ein Jenseits von Gut und Böse, zu dem man steigen, klettern, fl iegen muss, − und, im gegebenen Falle, jedenfalls ein Jenseits von u n s r e m Gut und Böse, eine Freiheit von allem „Europa“, letzteres als eine Summe von kommandirenden Werthurtheilen verstanden, welche uns in Fleisch und Blut übergegangen sind. Dass man gerade dorthinaus, dorthinauf w i l l , ist vielleicht eine kleine Tollheit, ein absonderliches unvernünftiges „du musst“ − denn auch wir Erkennenden haben unsre Idiosynkrasien des „unfreien Willens“ − : die Frage ist, ob man wirklich dorthinauf k a n n . Dies mag an vielfachen Bedingungen hängen, in der Hauptsache ist es die Frage darnach, wie leicht oder wie schwer wir sind, das Problem unsrer „spezifischen Schwere“. Man muss s e h r le ic ht sein, um seinen Willen zur Erkenntniss bis in eine solche Ferne und gleichsam über seine Zeit hinaus zu treiben, um sich zum Ueberblick über Jahrtausende Augen zu schaffen und noch dazu reinen Himmel in diesen Augen ! Man muss sich von Vielem losgebunden haben, was gerade uns Europäer von Heute drückt, hemmt, niederhält, schwer macht. Der Mensch eines solchen Jenseits, der die obersten Werthmaasse seiner Zeit selbst in Sicht bekommen will, hat dazu vorerst nöthig, diese Zeit in sich selbst zu „überwinden“ − es ist die Probe seiner Kraft − und folglich nicht nur seine Zeit, sondern auch seinen bisherigen Widerwillen und Widerspruch g e g e n diese Zeit, sein Leiden an dieser Zeit, seine Zeit-Ungemässheit, seine Rom a nt i k … |

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381. Zu r Fr a g e d e r Ve r s t ä nd l ic h k e it . − Man will nicht nur verstanden werden, wenn man schreibt, sondern ebenso gewiss auch n ic ht verstanden werden. Es ist noch ganz und gar kein Einwand gegen ein Buch, wenn irgend Jemand es unverständlich fi ndet : vielleicht gehörte eben dies zur Absicht seines Schreibers, − er wol lt e nicht von „irgend Jemand“ verstanden werden. Jeder vornehmere Geist und Geschmack wählt sich, wenn er sich mittheilen will, auch seine Zuhörer; indem er sie wählt, zieht er zugleich gegen „die Anderen“ seine Schranken. Alle feineren Gesetze eines Stils haben da ihren Ursprung : sie halten zugleich ferne, sie schaffen Distanz, sie verbieten „den Eingang“, das Verständniss, wie gesagt, − während sie Denen die Ohren aufmachen, die uns mit den Ohren verwandt sind. Und dass ich es unter uns sage und in meinem Falle, − ich will mich weder durch meine Unwissenheit, noch durch die Munterkeit meines Temperaments verhindern lassen, euc h verständlich zu sein, meine Freunde : durch die Munterkeit nicht, wie sehr sie auch mich zwingt, einer Sache geschwind beizukommen, um ihr überhaupt beizukommen. Denn ich halte es mit tiefen Problemen, wie mit einem kalten Bade − schnell hinein, schnell hinaus. Dass man damit nicht in die Tiefe, nicht tief genug h i nu nt e r komme, ist der Aberglaube der Wasserscheuen, der Feinde des kalten Wassers; sie reden ohne Erfahrung. Oh ! die grosse Kälte macht geschwind ! − Und nebenbei gefragt : bleibt wirklich eine Sache dadurch allein schon unverstanden und unerkannt, dass sie nur im Fluge berührt, angeblickt, angeblitzt wird ? Muss man durchaus erst auf ihr fest sitzen ? auf ihr wie auf einem Ei gebrütet haben ? Diu noctuque incubando, wie Newton von | sich selbst sagte ? Zum Mindesten giebt es Wahrheiten von einer besonderen Scheu und Kitzlichkeit, deren man nicht anders habhaft wird, als plötzlich, − die man ü b e r r a s c he n oder lassen muss … Endlich

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hat meine Kürze noch einen andern Werth : innerhalb solcher Fragen, wie sie mich beschäftigen, muss ich Vieles kurz sagen, damit es noch kürzer gehört wird. Man hat nämlich als Immoralist zu verhüten, dass man die Unschuld verdirbt, ich meine die Esel und die alten Jungfern beiderlei Geschlechts, die Nichts vom Leben haben als ihre Unschuld; mehr noch, meine Schriften sollen sie begeistern, erheben, zur Tugend ermuthigen. Ich wüsste Nichts auf Erden, was lustiger wäre als begeisterte alte Esel zu sehn und Jungfern, welche durch die süssen Gefühle der Tugend erregt werden : und „das habe ich gesehn“ − also sprach Zarathustra. So viel in Absicht der Kürze; schlimmer steht es mit meiner Unwissenheit, deren ich selbst vor mir selber kein Hehl habe. Es giebt Stunden, wo ich mich ihrer schäme; freilich ebenfalls Stunden, wo ich mich dieser Scham schäme. Vielleicht sind wir Philosophen allesammt heute zum Wissen schlimm gestellt : die Wissenschaft wächst, die Gelehrtesten von uns sind nahe daran zu entdecken, dass sie zu wenig wissen. Aber schlimmer wäre es immer noch, wenn es anders stünde, − wenn wir z u v ie l wüssten; unsre Aufgabe ist und bleibt zuerst, uns nicht selber zu verwechseln. Wir s i nd etwas Anderes als Gelehrte : obwohl es nicht zu umgehn ist, dass wir auch, unter Anderem, gelehrt sind. Wir haben andre Bedürfnisse, ein andres Wachsthum, eine andre Verdauung : wir brauchen mehr, wir brauchen auch weniger. Wie viel ein Geist zu seiner Ernährung nöthig hat, dafür giebt es keine Formel; ist aber sein Geschmack auf | Unabhängigkeit gerichtet, auf schnelles Kommen und Gehn, auf Wanderung, auf Abenteuer vielleicht, denen nur die Geschwindesten gewachsen sind, so lebt er lieber frei mit schmaler Kost, als unfrei und gestopft. Nicht Fett, sondern die grösste Geschmeidigkeit und Kraft ist das, was ein guter Tänzer von seiner Nahrung will, − und ich wüsste nicht, was der Geist eines Philosophen mehr zu sein wünschte, als ein guter Tänzer. Der Tanz nämlich ist sein Ideal, auch

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seine Kunst, zuletzt auch seine einzige Frömmigkeit, sein „Gottesdienst“ … 382. D i e g r o s s e G e s u n d h e i t . − Wir Neuen, Namenlosen, Schlechtverständlichen, wir Frühgeburten einer noch unbewiesenen Zukunft − wir bedürfen zu einem neuen Zwecke auch eines neuen Mittels, nämlich einer neuen Gesundheit, einer stärkeren gewitzteren zäheren verwegneren lustigeren, als alle Gesundheiten bisher waren. Wessen Seele darnach dürstet, den ganzen Umfang der bisherigen Werthe und Wünschbarkeiten erlebt und alle Küsten dieses idealischen „Mittelmeers“ umschiff t zu haben, wer aus den Abenteuern der eigensten Erfahrung wissen will, wie es einem Eroberer und Entdecker des Ideals zu Muthe ist, insgleichen einem Künstler, einem Heiligen, einem Gesetzgeber, einem Weisen, einem Gelehrten, einem Frommen, einem Wahrsager, einem Göttlich-Abseitigen alten Stils : der hat dazu zuallererst Eins nöthig, d ie g r o s s e G e s u nd he it − eine solche, welche man nicht nur hat, sondern auch beständig noch erwirbt und erwerben muss, weil man sie immer wieder preisgiebt, preisgeben muss ! … Und nun, nachdem wir lange dergestalt unterwegs waren, wir Argonauten des Ideals, | muthiger vielleicht, als klug ist, und oft genug schiff brüchig und zu Schaden gekommen, aber, wie gesagt, gesünder als man es uns erlauben möchte, gefährlich-gesund, immer wieder gesund, − will es uns scheinen, als ob wir, zum Lohn dafür, ein noch unentdecktes Land vor uns haben, dessen Grenzen noch Niemand abgesehn hat, ein Jenseits aller bisherigen Länder und Winkel des Ideals, eine Welt so überreich an Schönem, Fremdem, Fragwürdigem, Furchtbarem und Göttlichem, dass unsre Neugierde ebensowohl wie unser Besitzdurst ausser sich gerathen sind − ach, dass wir nunmehr durch Nichts mehr zu ersättigen sind ! Wie könnten wir uns, nach solchen Ausblicken und mit einem solchen Heisshunger in Gewissen und Wis-

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sen, noch a m g e g e nw ä r t i g e n Me n s c he n genügen lassen ? Schlimm genug : aber es ist unvermeidlich, dass wir seinen würdigsten Zielen und Hoff nungen nur mit einem übel aufrecht erhaltenen Ernste zusehn und vielleicht nicht einmal mehr zusehn. Ein andres Ideal läuft vor uns her, ein wunderliches, versucherisches, gefahrenreiches Ideal, zu dem wir Niemanden überreden möchten, weil wir Niemandem so leicht das R e c ht d a r au f zugestehn : das Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit Allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, göttlich hiess; für den das Höchste, woran das Volk billigerweise sein Werthmaass hat, bereits so viel wie Gefahr, Verfall, Erniedrigung oder, mindestens, wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbstvergessen bedeuten würde; das Ideal eines menschlich-übermenschlichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug u n m e n s c h l ic h erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erden-Ernst, neben alle Art Feier|lichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie hinstellt − und mit dem, trotzalledem, vielleicht d e r g r o s s e E r n s t erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie b e g i n nt … 383. E p i log. − Aber indem ich zum Schluss dieses düstere Fragezeichen langsam, langsam hinmale und eben noch Willens bin, meinen Lesern die Tugenden des rechten Lesens − oh was für vergessene und unbekannte Tugenden ! − in’s Gedächtniss zu rufen, begegnet mir’s, dass um mich das boshafteste, munterste, koboldigste Lachen laut wird : die Geister meines Buches selber fallen über mich her, ziehn mich an den Ohren und rufen mich zur Ordnung. „Wir halten es nicht mehr aus − rufen sie mir zu −; fort, fort mit dieser ra-

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benschwarzen Musik. Ist es nicht rings heller Vormittag um uns ? Und grüner weicher Grund und Rasen, das Königreich des Tanzes ? Gab es je eine bessere Stunde, um fröhlich zu sein ? Wer singt uns ein Lied, ein Vormittagslied, so sonnig, so leicht, so flügge, dass es die Grillen n ic ht verscheucht, − dass es die Grillen vielmehr einlädt, mit zu singen, mit zu tanzen ? Und lieber noch einen einfältigen bäurischen Dudelsack als solche geheimnissvolle Laute, solche Unkenrufe, Grabesstimmen und Murmelthierpfi ffe, mit denen Sie uns in Ihrer Wildniss bisher regalirt haben, mein Herr Einsiedler und Zukunftsmusikant ! Nein ! Nicht solche Töne ! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere !“ − Gefällt es euch s o, meine ungeduldigen Freunde ? Wohlan ! Wer wäre euch nicht gern zu Willen ? | Mein Dudelsack wartet schon, meine Kehle auch − sie mag ein wenig rauh klingen, nehmt fürlieb ! dafür sind wir im Gebirge. Aber was ihr zu hören bekommt, ist wenigstens neu; und wenn ihr’s nicht versteht, wenn ihr den S ä n g e r missversteht, was liegt daran ! Das ist nun einmal „des Sängers Fluch“. Um so deutlicher könnt ihr seine Musik und Weise hören, um so besser auch nach seiner Pfeife − tanzen. Wol lt ihr das ? … |

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Anhang : Lieder des Prinzen Vogelfrei.

A n G o et he. Das Unvergängliche Ist nur dein Gleichniss ! Gott der Verfängliche Ist Dichter-Erschleichniss … Welt-Rad, das rollende, Streift Ziel auf Ziel : Noth − nennt’s der Grollende, Der Narr nennt’s − Spiel … Welt-Spiel, das herrische, Mischt Sein und Schein : − Das Ewig-Närrische Mischt u n s − hinein ! …

D ic ht e r s B e r u f u n g. Als ich jüngst, mich zu erquicken, Unter dunklen Bäumen sass, Hört’ ich ticken, leise ticken, Zierlich, wie nach Takt und Maass. Böse wurd’ ich, zog Gesichter, – Endlich aber gab ich nach, Bis ich gar, gleich einem Dichter, Selber mit im Tiktak sprach. |

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Anhang :

Wie mir so im Verse-Machen Silb’ um Silb’ ihr Hopsa sprang, Musst’ ich plötzlich lachen, lachen Eine Viertelstunde lang. Du ein Dichter ? Du ein Dichter ? Steht’s mit deinem Kopf so schlecht ? – „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter“ Achselzuckt der Vogel Specht. Wessen harr’ ich hier im Busche ? Wem doch laur’ ich Räuber auf ? Ist’s ein Spruch ? Ein Bild ? Im Husche Sitzt mein Reim ihm hintendrauf. Was nur schlüpft und hüpft, gleich sticht der Dichter sich’s zum Vers zurecht. − „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter“ Achselzuckt der Vogel Specht. Reime, mein’ ich, sind wie Pfeile ? Wie das zappelt, zittert, springt, Wenn der Pfeil in edle Theile Des Lacerten-Leibchens dringt ! Ach, ihr sterbt dran, arme Wichter, Oder taumelt wie bezecht ! − „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter“ Achselzuckt der Vogel Specht. Schiefe Sprüchlein voller Eile, Trunkne Wörtlein, wie sich’s drängt ! Bis ihr Alle, Zeil’ an Zeile, An der Tiktak-Kette hängt. Und es giebt grausam Gelichter, Das dies − freut ? Sind Dichter − schlecht ? | − „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter“ Achselzuckt der Vogel Specht.

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Lieder des Prinzen Vogelfrei

Höhnst du, Vogel ? Willst du scherzen ? Steht’s mit meinem Kopf schon schlimm, Schlimmer stünd’s mit meinem Herzen ? Fürchte, fürchte meinen Grimm ! − Doch der Dichter − Reime fl icht er Selbst im Grimm noch schlecht und recht. − „Ja, mein Herr, Sie sind ein Dichter“ Achselzuckt der Vogel Specht.

Im Süden. So häng’ ich denn auf krummem Aste Und schaukle meine Müdigkeit. Ein Vogel lud mich her zu Gaste, Ein Vogelnest ist’s, drin ich raste. Wo bin ich doch ? Ach, weit ! Ach, weit ! Das weisse Meer liegt eingeschlafen, Und purpurn steht ein Segel drauf. Fels, Feigenbäume, Thurm und Hafen, Idylle rings, Geblök von Schafen, − Unschuld des Südens, nimm mich auf ! Nur Schritt für Schritt − das ist ein Leben, Stets Bein vor Bein macht deutsch und schwer. Ich hiess den Wind mich aufwärts heben, Ich lernte mit den Vögeln schweben, − Nach Süden flog ich über’s Meer. Vernunft ! Verdriessliches Geschäfte ! Das bringt uns allzubald an’s Ziel ! | Im Fliegen lernt’ ich, was mich äff te, − Schon fühl’ ich Muth und Blut und Säfte Zu neuem Leben, neuem Spiel …

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Anhang :

Einsam zu denken nenn’ ich weise, Doch einsam singen − wäre dumm ! So hört ein Lied zu eurem Preise Und setzt euch still um mich im Kreise, Ihr schlimmen Vögelchen, herum ! So jung, so falsch, so umgetrieben Scheint ganz ihr mir gemacht zum Lieben Und jedem schönen Zeitvertreib ? Im Norden − ich gesteh’s mit Zaudern − Liebt’ ich ein Weibchen, alt zum Schaudern : „Die Wahrheit“ hiess dies alte Weib …

D ie f r o m m e B e p p a . So lang noch hübsch mein Leibchen, Lohnt’s sich schon, fromm zu sein. Man weiss, Gott liebt die Weibchen, Die hübschen obendrein. Er wird’s dem armen Mönchlein Gewisslich gern verzeih’n, Dass er, gleich manchem Mönchlein, So gern will bei mir sein. Kein grauer Kirchenvater ! Nein, jung noch und oft roth, Oft trotz dem grausten Kater Voll Eifersucht und Noth. | Ich liebe nicht die Greise, Er liebt die Alten nicht : Wie wunderlich und weise Hat Gott dies eingericht !

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Lieder des Prinzen Vogelfrei

Die Kirche weiss zu leben, Sie prüft Herz und Gesicht. Stets will sie mir vergeben, − Ja, wer vergiebt mir nicht ! Man lispelt mit dem Mündchen, Man knixt und geht hinaus, Und mit dem neuen Sündchen Löscht man das alte aus. Gelobt sei Gott auf Erden, Der hübsche Mädchen liebt Und derlei Herzbeschwerden Sich selber gern vergiebt. So lang noch hübsch mein Leibchen, Lohnt sich’s schon, fromm zu sein : Als altes Wackelweibchen Mag mich der Teufel frein !

D e r g e he i m n i s s vol le Nac he n . Gestern Nachts, als Alles schlief, Kaum der Wind mit ungewissen Seufzern durch die Gassen lief, Gab mir Ruhe nicht das Kissen, Noch der Mohn, noch, was sonst tief Schlafen macht, − ein gut Gewissen. | Endlich schlug ich mir den Schlaf Aus dem Sinn und lief zum Strande. Mondhell war’s und mild, − ich traf Mann und Kahn auf warmem Sande, Schläfrig beide, Hirt und Schaf : − Schläfrig stiess der Kahn vom Lande.

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Eine Stunde, leicht auch zwei, Oder war’s ein Jahr ? − da sanken Plötzlich mir Sinn und Gedanken In ein ew’ges Einerlei, Und ein Abgrund ohne Schranken That sich auf : − da war’s vorbei ! – Morgen kam : auf schwarzen Tiefen Steht ein Kahn und ruht und ruht … Was geschah ? so rief ’s, so riefen Hundert bald : was gab es ? Blut ? − − Nichts geschah ! Wir schliefen, schliefen A l le − ach, so gut ! so gut !

L ieb e s e r k l ä r u n g (bei der aber der Dichter in eine Grube fiel –).

Oh Wunder ! Fliegt er noch ? Er steigt empor, und seine Flügel ruhn ? Was hebt und trägt ihn doch ? Was ist ihm Ziel und Zug und Zügel nun ? Gleich Stern und Ewigkeit Lebt er in Höhn jetzt, die das Leben fl ieht, Mitleidig selbst dem Neid − : Und hoch flog, wer ihn auch nur schweben sieht ! | Oh Vogel Albatross ! Zur Höhe treibt’s mit ew’gem Triebe mich. Ich dachte dein : da floss Mir Thrän’ um Thräne, − ja, ich liebe dich !

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Lieder des Prinzen Vogelfrei

L ie d e i n e s t heok r it i s c he n Z ie g e n h i r t e n . Da lieg’ ich, krank im Gedärm, − Mich fressen die Wanzen. Und drüben noch Licht und Lärm ! Ich hör’s, sie tanzen … Sie wollte um diese Stund’ Zu mir sich schleichen. Ich warte wie ein Hund, − Es kommt kein Zeichen. Das Kreuz, als sie’s versprach ? Wie konnte sie lügen ? – Oder läuft sie Jedem nach, Wie meine Ziegen ? Woher ihr seid’ner Rock ? − Ah, meine Stolze ? Es wohnt noch mancher Bock An diesem Holze ? – Wie kraus und giftig macht Verliebtes Warten ! So wächst bei schwüler Nacht Giftpilz im Garten. | Die Liebe zehrt an mir Gleich sieben Uebeln, − Nichts mag ich essen schier. Lebt wohl, ihr Zwiebeln ! Der Mond gieng schon in’s Meer, Müd sind alle Sterne, Grau kommt der Tag daher, − Ich stürbe gerne.

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„D ie s e n u n g e w i s s e n S e e le n“. Diesen ungewissen Seelen Bin ich grimmig gram. All ihr Ehren ist ein Quälen, All ihr Lob ist Selbstverdruss und Scham. Dass ich nicht an i h r e m Stricke Ziehe durch die Zeit, Dafür grüsst mich ihrer Blicke Giftig-süsser hoff nungsloser Neid. Möchten sie mir herzhaft fluchen Und die Nase drehn ! Dieser Augen hülflos Suchen Soll bei mir auf ewig irre gehn.

Na r r i n Ve r z we i f lu n g. Ach ! Was ich schrieb auf Tisch und Wand Mit Narrenherz und Narrenhand, Das sollte Tisch und Wand mir zieren ? … | Doch i h r sagt : „Narrenhände schmieren, − Und Tisch und Wand soll man purgieren, Bis auch die letzte Spur verschwand !“ Erlaubt ! Ich lege Hand mit an −, Ich lernte Schwamm und Besen führen, Als Kritiker, als Wassermann. Doch, wenn die Arbeit abgethan, Säh’ gern ich euch, ihr Ueberweisen, Mit Weisheit Tisch und Wand besch ......

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Lieder des Prinzen Vogelfrei

R i mu s r e me d iu m . Oder : Wie kranke Dichter sich trösten.

Aus deinem Munde, Du speichelflüssige Hexe Zeit, Tropft langsam Stund’ auf Stunde. Umsonst, dass all mein Ekel schreit : „Fluch, Fluch dem Schlunde Der Ewigkeit !“ Welt − ist von Erz : Ein glühender Stier, − der hört kein Schrein. Mit fl iegenden Dolchen schreibt der Schmerz Mir in’s Gebein : „Welt hat kein Herz, Und Dummheit wär’s, ihr gram drum sein !“ Giess alle Mohne, Giess, Fieber ! Gift mir in’s Gehirn ! Zu lang schon prüfst du mir Hand und Stirn. Was frägst du ? Was ? „Zu welchem − Lohne ?“ − Ha ! Fluch der Dirn’ Und ihrem Hohne ! | Nein ! Komm zurück ! Draussen ist’s kalt, ich höre regnen − Ich sollte dir zärtlicher begegnen ? − Nimm ! Hier ist Gold : wie glänzt das Stück ! − Dich heissen „Glück“ ? Dich, Fieber, segnen ? − Die Thür springt auf ! Der Regen sprüht nach meinem Bette ! Wind löscht das Licht, − Unheil in Hauf ’ ! – Wer jetzt nicht hundert R e i me hätte, Ich wette, wette, Der gienge drauf !

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„Me i n G l ü c k ! “ Die Tauben von San Marco seh ich wieder : Still ist der Platz, Vormittag ruht darauf. In sanfter Kühle schick’ ich müssig Lieder Gleich Taubenschwärmen in das Blau hinauf − Und locke sie zurück, Noch einen Reim zu hängen in’s Gefieder − mein Glück ! Mein Glück ! Du stilles Himmels-Dach, blau-licht, von Seide, Wie schwebst du schirmend ob des bunten Bau’s, Den ich − was sag ich ? − liebe, fürchte, n e id e … Die Seele wahrlich tränk’ ich gern ihm aus ! Gäb’ ich sie je zurück ? − Nein, still davon, du Augen-Wunderweide ! − mein Glück ! Mein Glück ! | Du strenger Thurm, mit welchem Löwendrange Stiegst du empor hier, siegreich, sonder Müh ! Du überklingst den Platz mit tiefem Klange – : Französisch, wärst du sein accent aigu ? Blieb ich gleich dir zurück, Ich wüsste, aus welch seidenweichem Zwange … − mein Glück ! Mein Glück ! Fort, fort, Musik ! Lass erst die Schatten dunkeln Und wachsen bis zur braunen lauen Nacht ! Zum Tone ist’s zu früh am Tag, noch funkeln Die Gold-Zieraten nicht in Rosen-Pracht, Noch blieb viel Tag zurück, Viel Tag für Dichten, Schleichen, Einsam-Munkeln − mein Glück ! Mein Glück !

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Lieder des Prinzen Vogelfrei

Nac h neue n Mee r e n . Dorthin − w i l l ich; und ich traue Mir fortan und meinem Griff. Offen liegt das Meer, in’s Blaue Treibt mein Genueser Schiff. Alles glänzt mir neu und neuer, Mittag schläft auf Raum und Zeit – : Nur d e i n Auge − ungeheuer Blickt mich’s an, Unendlichkeit !

Si ls-Maria. Hier sass ich, wartend, wartend, − doch auf Nichts, Jenseits von Gut und Böse, bald des Lichts | Geniessend, bald des Schattens, ganz nur Spiel, Ganz See, ganz Mittag, ganz Zeit ohne Ziel. Da, plötzlich, Freundin ! wurde Eins zu Zwei − – Und Zarathustra gieng an mir vorbei …

A n den Mistral. Ein Tanzlied.

Mistral-Wind, du Wolken-Jäger, Trübsal-Mörder, Himmels-Feger, Brausender, wie lieb’ ich dich ! Sind wir Zwei nicht Eines Schoosses Erstlingsgabe, Eines Looses Vorbestimmte ewiglich ?

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Hier auf glatten Felsenwegen Lauf ’ ich tanzend dir entgegen, Tanzend, wie du pfeifst und singst : Der du ohne Schiff und Ruder Als der Freiheit freister Bruder Ueber wilde Meere springst. Kaum erwacht, hört’ ich dein Rufen, Stürmte zu den Felsenstufen, Hin zur gelben Wand am Meer. Heil ! da kamst du schon gleich hellen Diamantnen Stromesschnellen Sieghaft von den Bergen her. Auf den ebnen Himmels-Tennen Sah ich deine Rosse rennen, Sah den Wagen, der dich trägt, | Sah die Hand dir selber zücken, Wenn sie auf der Rosse Rücken Blitzesgleich die Geissel schlägt, − Sah dich aus dem Wagen springen, Schneller dich hinabzuschwingen, Sah dich wie zum Pfeil verkürzt Senkrecht in die Tiefe stossen, − Wie ein Goldstrahl durch die Rosen Erster Morgenröthen stürzt. Tanze nun auf tausend Rücken, Wellen-Rücken, Wellen-Tücken − Heil, wer n eue Tänze schaff t ! Tanzen wir in tausend Weisen, Frei − sei u n s r e Kunst geheissen, Fröhlich − u n s r e Wissenschaft !

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Lieder des Prinzen Vogelfrei

Raffen wir von jeder Blume Eine Blüthe uns zum Ruhme Und zwei Blätter noch zum Kranz ! Tanzen wir gleich Troubadouren Zwischen Heiligen und Huren, Zwischen Gott und Welt den Tanz ! Wer nicht tanzen kann mit Winden, Wer sich wickeln muss mit Binden, Angebunden, Krüppel-Greis, Wer da gleicht den Heuchel-Hänsen, Ehren-Tölpeln, Tugend-Gänsen, Fort aus unsrem Paradeis ! Wirbeln wir den Staub der Strassen Allen Kranken in die Nasen, | Scheuchen wir die Kranken-Brut ! Lösen wir die ganze Küste Von dem Odem dürrer Brüste, Von den Augen ohne Muth ! Jagen wir die Himmels-Trüber, Welten-Schwärzer, Wolken-Schieber, Hellen wir das Himmelreich ! Brausen wir … oh aller freien Geister Geist, mit dir zu Zweien Br au s t mein Glück dem Sturme gleich. − – Und dass ewig das Gedächtniss Solchen Glücks, nimm sein Vermächtniss, Nimm den K r a n z hier mit hinauf ! Wirf ihn höher, ferner, weiter, Stürm’ empor die Himmelsleiter, Häng ihn − an den Sternen auf !

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Nachworte von Claus-Artur Scheier

Die fröhliche Wissenschaft

„Fast möchte ich rathen“, schrieb Nietzsche 1888 an Karl Knortz in die USA, „mit den letzten Werken anzufangen, die die weitgreifendsten und wichtigsten sind (‚Jenseits von Gut und Böse‘ und ‚Genealogie der Moral‘). Mir selbst sind am sympathischsten meine mittleren Bücher, ‚Morgenröthe‘ und ‚Die fröhliche Wissenschaft‘ (es sind die persönlichsten).“1 Das vier Monate später konzipierte Ecce homo ausgenommen sind sie „die persönlichsten“, weil erst in ihnen das philosophische Ich sich für sich selbst synthetisiert zur Person.2 „Aus sich eine ganze Person machen und in Allem, was man thut, deren höchstes Wohl in’s Auge fassen“, wollte schon Menschliches, Allzumenschliches,3 denn mehr noch als vom Künstler sei vom Philosophen zu fordern, „als Person schöner und besser zu werden, also sich selber zu schaffen“ (MA 2.1.102): Der Mangel an Person rächt sich überall; eine geschwächte, dünne, ausgelöschte, sich selbst leugnende und verleugnende Persönlich1

An Karl Knortz, 21. Juni 1888. Vgl. JGB 19. Schopenhauer nennt die Person „das vernünftige Thier mit individuellem Charakter“ (Die Welt als Wille und Vorstellung [WWV] I, § 55, Werke [W], hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1991 [11988], Bd. 1, S. 378) – „Von der Erkenntniß ausgehend kann man sagen ‚Ich erkenne‘ sei ein analytischer Satz, dagegen ‚Ich will‘ ein synthetischer und zwar a posteriori, nämlich durch Erfahrung, hier durch innere (d. h. allein in der Zeit) gegeben. […] Die Identität nun aber des Subjekts des Wollens mit dem erkennenden Subjekt, vermöge welcher (und zwar nothwendig) das Wort ‚Ich‘ beide einschließt und bezeichnet, ist der Weltknoten und daher unerklärlich.“ (Ueber die vierfache Wurzel, § 42, W III, S. 152) 3 MA 1, 95 : „Moral des reifen Individuums.“ Vgl. HL 5 : „Sieht man einmal auf ’s Aeusserliche, so bemerkt man, wie die Austreibung der Instincte durch Historie die Menschen fast zu lauter abstractis und Schatten umgeschaffen hat : keiner wagt mehr seine Person daran“. 2

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Nachworte

keit taugt zu keinem guten Dinge mehr, – sie taugt am wenigsten zur Philosophie. […] Wie kommt es nun, dass ich noch Niemandem begegnet bin, auch in Büchern nicht, der zur Moral in dieser Stellung als Person stünde, der die Moral als Problem und dies Problem als seine persönliche Noth, Qual, Wollust, Leidenschaft kennte ? […]. Wohlan ! Dies eben ist unser Werk. (FW 5.345)

Man hat, „vorausgesetzt, dass man eine Person ist, nothwendig auch die Philosophie seiner Person“ (FW, Vorrede 2), und gerade in dieser Hinsicht gehören Morgenröthe und Fröhliche Wissenschaft4 zusammen als ‚jasagende‘ Bücher. Galt dies von der Morgenröthe, dann „noch einmal und im höchsten Grade von der gaya scienza“ (EH, GT 2). Was könnte aber eine Steigerung möglich – und nötig – machen, wenn nicht das Wozu des Ja ? Im dritten Teil von Menschliches, Allzumenschliches war der Wanderer seinem leibhaftigen Schatten begegnet5 und darüber zum „Unterirdischen“ geworden (M, Vorrede 1). Damit begann der „Feldzug gegen die Moral“ (EH, M 1). Daß sie noch nicht frontal angegriffen wird, macht die Schwebe fühlbar, die dem Buch im Finale zum Problem wird. Vor seinem insistierend-offenen „Oder ? –“ reflektiert es sich „rund, glücklich“ (ebd.) ins Entweder, als das es den alten Traum vom „Indien“ austräumt,6 4

Mit dem Untertitel von 1887 : „(‚la gaya scienza‘)“. MA 2.2, Anfang : „Er redet – wo ? und wer ? Fast ist es mir, als hörte ich mich selber reden, nur mit noch schwächerer Stimme als die meine ist.“ Vgl. IV-3.32[15] (1887) „Emerson meint, ‚der Werth des Lebens läge in den unergründlichen Fähigkeiten desselben : in der Thatsache, daß ich niemals weiß, wenn ich mich zu einem neuen Individuum wende, was mir widerfahren mag.‘ Das ist die Stimmung des Wanderers.“ 6 Den „berauschenden dunklen Duft des Indischen“ evoziert Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (PhtZ 11, KGW III-2, S. 339). Vgl. GT 20 : „Ja, meine Freunde, glaubt mit mir an das dionysische Leben und an die Wiedergeburt der Tragödie. Die Zeit des sokratischen Menschen ist vorüber : kränzt euch mit Epheu, nehmt den Thyrsusstab zur Hand und wundert euch nicht, wenn Tiger und Panther sich schmeichelnd zu euren Knien niederlegen. Jetzt wagt es nur, tragische Menschen zu 5

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das dionysische Phantasma von Schopenhauers ästhetisch suspendiertem Willen.7 Auf der Tür zur Fröhlichen Wissenschaft steht keine indische Inschrift mehr,8 sondern eine amerikanische.9 „Seit ich des Suchens müde ward, / erlernte ich das Finden“,10 und die gefundene Person unterscheidet sich von der gesuchten durch ihre Leibhaftigkeit. „Wenn man eine eigene leibhafte Persönlichkeit haben will, so muss man sich nicht sträuben, auch einen Schatten zu haben“,11 notierte Nietzsche im Sommer 1878. Die Fröhliche Wissenschaft kehrt diese Einsicht um. Denn was den Schatten (ent)wirft, ist der Leib, den die Morgenröthe im sonnigen Felsen-Wirrwarr nahe bei Genua aufzustören zögerte – mochte der „scheinbare Trophonios und Unterirdische“ (M, Vorrede 1) auch glücklich sein, fröhlich war er nicht : Die liebliche Bestie Mensch verliert jedesmal, wie es scheint, die gute Laune, wenn sie gut denkt; sie wird ‚ernst‘ ! Und ‚wo Lachen und Fröhlichkeit ist, da taugt das Denken Nichts‘ : – so lautet das Vorurtheil dieser ernsten Bestie gegen alle ‚fröhliche Wissenschaft‘. – Wohlan ! Zeigen wir, dass es ein Vorurtheil ist ! (FW 327)

sein : denn ihr sollt erlöst werden. Ihr sollt den dionysischen Festzug von Indien nach Griechenland geleiten !“ Aus „diesen exhortativen Tönen“ gleitet die Rede sogleich „in die Stimmung“ zurück, „die dem Beschaulichen geziemt“ (GT 21). 7 Schopenhauer : WWV I, § 52, W I, S. 352 f. Vgl. V-1.4[130] (1880) : „In Indien ist das Höchste Contemplation“. 8 Vgl. EH, M 1, M 575. 9 „Dem Dichter und Weisen sind alle Dinge befreundet und geweiht, alle Erlebnisse nützlich, alle Tage heilig, alle Menschen göttlich.“ Das Emerson-Zitat auf dem Titelblatt von 1882 ist in der zweiten Ausgabe ersetzt durch den eignen Vierzeiler Ueber meiner Hausthür. Beigegeben sind dann auch die Lieder des Prinzen Vogelfrei. Zu Emerson vgl. SE 8. 10 Scherz, List und Rache 2 : Mein Glück. 11 IV-3.28[53] (1878).

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Worüber freilich sollte einer philosophisch lachen, wenn nicht über sich ? Ueber sich selber lachen, wie man lachen müsste, um aus der ganzen Wahrheit heraus zu lachen, – dazu hatten bisher die Besten nicht genug Wahrheitssinn und die Begabtesten viel zu wenig Genie ! Es giebt vielleicht auch für das Lachen noch eine Zukunft ! Dann, wenn der Satz ‚die Art ist Alles, Einer ist immer Keiner‘ – sich der Menschheit einverleibt hat und Jedem jederzeit der Zugang zu dieser letzten Befreiung und Unverantwortlichkeit offen steht. Vielleicht wird sich dann das Lachen mit der Weisheit verbündet haben, vielleicht giebt es dann nur noch ‚fröhliche Wissenschaft‘.12

Lachen „aus der ganzen Wahrheit heraus“ – das Ich, das in der Morgenröthe, in dieser Vereinigung von Licht und Schatten, aufgestiegen war „gleich der Flamme“,13 hat entdeckt, daß es selbst erst die halbe Wahrheit ist,14 daß es noch einen Gegensatz zu fassen gilt,15 denn „Licht wird Alles, was ich fasse, / Kohle Alles, was ich lasse“ : daß ich erst durch die Einverleibung nicht nur der Flamme gleiche, sondern ‚Flamme bin‘.16 12

FW 1. Gewiß hat auch „der Irrsinn ein so fröhliches Tempo“, und

„es bedarf der tugendhaften Dummheit, es bedarf unerschütterlicher Tactschläger des langsamen Geistes, damit die Gläubigen des grossen Gesammtglaubens bei einander bleiben und ihren Tanz weitertanzen : es ist eine Nothdurft ersten Ranges, welche hier gebietet und fordert. Wir Andern sind die Ausnahme und die Gefahr“ (FW 76). 13 Scherz, List und Rache 62 : Ecce homo. Vgl. MA 1.570 : „Schatten in der Flamme. – Die Flamme ist sich selber nicht so hell, als den anderen, denen sie leuchtet : so auch der Weise.“ 14 VIII-1.1[72] (1885/86) : „Daß die Katze Mensch immer wieder auf ihre vier Beine, ich wollte sagen auf ihr Eines Bein ‚Ich‘ zurückfällt, ist nur ein Symptom seiner psychologischen ‚Einheit‘, richtiger ‚Vereinigung‘ : kein Grund, an eine ‚seelische Einheit‘ zu glauben.“ 15 VII-1.20[10] (1883) : „Alle Wesen nur Vorübungen in der Vereinigung Einverleibung von Gegensätzen“. 16 „… daß ein Bild nicht nur Bild bleibe“ (Za 2.15 : Von der unbefleckten Erkenntniss).

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Ein Philosoph, der den Gang durch viele Gesundheiten gemacht hat und immer wieder macht, ist auch durch ebensoviele Philosophien hindurchgegangen : er kann eben nicht anders als seinen Zustand jedes Mal in die geistigste Form und Ferne umzusetzen, – diese Kunst der Transfiguration ist eben Philosophie. […] – das heisst für uns Alles, was wir sind, beständig in Licht und Flamme verwandeln (FW, Vorrede 3).

Der Feldzug gegen die Moral hatte begonnen „wie ein Schluss, nicht wie ein Kanonenschuss“,17 als die stillschweigende Einverleibung des Schattens ins Ich. Aber man „verlernt gründlich das Schweigen, wenn man so lange […] Maulwurf war, allein war – –“ (M, Vorrede 1), und die zweite Einverleibung, die Einverleibung des Ich, provoziert mit der „Schamröthe Plato's“ auch den „Teufelslärm aller freien Geister“,18 ihr Lachen, die fröhliche Wissenschaft, die ein „Frühstück“ am hellen Tag ist.19 Ostinato der Notizen von 1881,20 wird der Begriff 17

EH, M 1. „Dieser fremde Gott setzt sich bescheiden auf den Altar,

an die Seite des Landesgötzen. Nach und nach gewinnt er Platz, und an einem hübschen Morgen gibt er mit dem Ellbogen seinem Kameraden einen Schub und Bautz ! Baradautz ! der Götze liegt am Boden.“ (Rameaus Neffe. Ein Dialog von Diderot aus dem Manuskript übersetzt und mit Anmerkungen begleitet von Goethe, Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe, Band 7, hg. von Norbert Miller und John Neubauer, München/Wien 1991, S. 632) Hegel zitiert die Passage im Kapitel über den „Kampf der Aufklärung mit dem Aberglauben“ in der Phänomenologie des Geistes (Gesammelte Werke 9, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Düsseldorf 1980, S. 295 f.). 18 GD, Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde. 19 Nietzsche erst zieht die moralischen, zuletzt die utopischen Konsequenzen aus Feuerbachs noch durchaus bodenständig-positivistischem Aperçu : „Der Mensch ist, was er ißt.“ (Die Naturwissenschaft und die Revolution [Rez. zu : Lehre der Nahrungsmittel. Für das Volk. Von J. Moleschott], Gesammelte Werke [GW ], hg. von W. Schuffenhauer, Berlin 1967 ff., Bd. 10, S. 358) 20 Vgl. V-2.11[141, 143, 144, 162, 164, 193, 197, 261 f., 268, 273, 289, 302, 314, 316, 320, 335], V-2.12[40, 90].

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Nachworte

der Einverleibung zum Ariadnefaden, der aus der TrophoniusHöhle herausleitet in die Fröhliche Wissenschaft, und wie diese noch vor „Zarathustra’s Vorrede“ im ganzen die Vorrede zum Zarasthustra ist, weiß sie bereits, daß der „Erwachte, der Wissende sagt : Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. / Der Leib ist eine grosse Vernunft […] / die sagt nicht Ich, aber thut Ich“.21

Seit der Reflexion über die „Erkenntniss des Leidenden“ in der Morgenröthe22 nimmt sich das philosophische Ich nicht länger für ein tuendes, sondern für ein getanes, und das genau meint die Rede von der Genesung in Also sprach Zarathustra, den Vorreden von 1886, den Vorworten zum Fall Wagner23 und zur Götzen-Dämmerung und schließlich in Ecce homo. „– Aber lassen wir Herrn Nietzsche : was geht es uns an, dass Herr Nietzsche wieder gesund wurde ? … Ein Psychologe kennt wenig so anziehende Fragen, wie die nach dem Verhältniss von Gesundheit und Philosophie, und für den Fall, dass er selber krank wird, bringt er seine ganze wissenschaftliche Neugierde mit in seine Krankheit.“ (FW, Vorrede 2) „Wir sind Knospen an Einem Baume“, und das getane Ich buchstabiert an sich selber die „große Vernunft“ : – das Individuum selber ist ein Irrthum. Alles was in uns vorgeht, ist an sich etwas Anderes, was wir nicht wissen : wir legen die Absicht und die Hintergehung und die Moral erst in die Natur hinein. Ich unterscheide aber : die eingebildeten Individuen und die wahren 21

Za 1.4 : Von der Verächtern des Leibes. M 114. Die Kulturgeschichte wird in der Folge zu einer kollektiven Krankheitsgeschichte, vgl. z. B. FW 7 und 134. Nietzsches weitgestreute Bemerkungen über Ernährung, Diätetik usf. sind gesammelt in : Friedrich Nietzsche : Die Kunst der Gesundheit, hg. von Mirella Carbone und Joachim Jung, Freiburg / München 2012. 23 Vgl. auch JGB 255. 22

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‚Lebens-systeme‘, deren jeder von uns eins ist – man wirft beides in eins, während ‚das Individuum‘ nur eine Summe von bewußten Empfi ndungen und Urtheilen und Irrthümern ist, ein Glaube, ein Stückchen vom wahren Lebenssystem oder viele Stückchen zusammengedacht und zusammengefabelt, eine ‚Einheit‘, die nicht Stand hält. Wir sind Knospen an Einem Baume – was wissen wir von dem, was im Interesse des Baumes aus uns werden kann ! […] Über ‚mich‘ und ‚dich‘ hinaus ! Kosmisch empfi nden !24

Jenseits von Gut und Böse wird für den Begriff der „‚Seele als Gesellschaftsbau der Triebe und Affekte‘“ in der Wissenschaft Bürgerrecht verlangen ( JGB 12) und damit auch für den Begriff des „commandirenden“ Gedankens. Denn „jeder Trieb ist herrschsüchtig : und als solcher versucht er zu philosophiren“,25 sich als Ich zu tun. In „jedem Willensakte giebt es einen commandirenden Gedanken; – und man soll ja nicht glauben, diesen Gedanken von dem ‚Wollen‘ abscheiden zu können, wie als ob dann noch Wille übrig bliebe !“ ( JGB 19) Das ist die „große Vernunft“, daß jeder Trieb an sich Willensakt und jeder Willensakt an sich Gedanke ist. Deshalb auch ist auf das Leben kein Verlaß, „unter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein“ :26 „Der Denker : das ist jetzt das Wesen, in dem der Trieb zur Wahrheit und jene lebenerhaltenden Irrthümer ihren ersten Kampf kämpfen, nachdem auch der Trieb zur Wahrheit sich als eine lebenerhaltende Macht bewiesen hat.“ (FW 110) Daß im „Verhältniss zu der Wichtigkeit dieses Kampfes […] alles Andere gleichgültig“ ist, folgt aus der zweideutigen Stellung der Kontrahenten zueinander : 24

V-2.11[7] (1881), vgl. V-1.6[70] (1880). JGB 6. Vgl. MA 2, Vorrede 1 : „ego ipsissimus, ja sogar, wenn ein stolzerer Ausdruck erlaubt wird, ego ipsissimum“. 26 FW 121. Vgl. FW 5.345 : „Eine Moral könnte selbst aus einem Irrthum gewachsen sein : auch mit dieser Einsicht wäre das Problem ihres Werthes noch nicht einmal berührt.“ 25

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Nachworte

Einerseits geht der Trieb zur Wahrheit den lebenerhaltenden Irrthümern ans Mark,27 und das geschichtliche Resultat heißt Pessimismus, Nihilismus und décadence; anderseits ist er selber eine lebenerhaltende Macht und reproduziert diese abgründige Trias in einem endlosen Ende der Geschichte. Und darin reproduziert er sich selber als Trieb zur Simulation von Wahrheit – deshalb „blinzeln“ die „letzten Menschen“, wenn sie sagen, sie hätten „das Glück erfunden“.28 Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein décadent : nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte. Der Philosoph in mir wehrte sich dagegen. / Was mich am tiefsten beschäftigt hat, das ist in der That das Problem der décadence, – ich habe Gründe dazu gehabt. ‚Gut und Böse‘ ist nur eine Spielart jenes Problems. Hat man sich für die Abzeichen des Niedergangs ein Auge gemacht, so versteht man auch die Moral, – man versteht, was sich unter ihren heiligsten Namen und Werthformeln versteckt : das verarmte Leben, der Wille zum Ende, die grosse Müdigkeit. Moral verneint das Leben …29

Dagegen die Formel des Denkers, in dem Wahrheit und Selbsterhaltung „ihren ersten Kampf kämpfen“ : eine aus der Fülle, der Überfülle geborene Formel der höchsten Bejahung, ein Jasagen ohne Vorbehalt, zum Leiden selbst, zur Schuld selbst, zu allem Fragwürdigen und Fremden des Daseins selbst … Dieses letzte, freudigste, überschwänglich-übermüthigste Ja zum Leben ist nicht nur die höchste Einsicht, es ist auch die tiefste, die von Wahrheit und Wissenschaft am strengsten bestätigte und auf27

Vgl. FW 5.344 : „‚Wille zur Wahrheit‘ – das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein.“ 28 Vgl. die Rede über „den letzten Menschen“ in Za, Zarathustra’s Vorrede 5. 29 WA, Vorwort. Vgl. T. S. Eliots Gedicht The Hollow Men (1925) : „This is the way the world ends / Not with a bang but a whimper.“

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recht erhaltene. Es ist Nichts, was ist, abzurechnen, es ist Nichts entbehrlich (EH, GT 2).

Bis zuletzt hält Nietzsche an der Wissenschaft fest, in deren Boden Menschliches, Allzumenschliches Wurzeln geschlagen hatte. Er fand „ein tiefes und gründliches Glück darin, dass dieWissenschaft Dinge ermittelt, die Stand halten“ (FW 46), war Positivist mit Haut und Haaren, wiewohl nicht mit Kopf und Herz. Denn gesetzt, alles „was bis jetzt die Menschen als ihre ‚Existenz-Bedingungen‘ betrachtet haben“ sei „schon zu Ende erforscht“, bliebe doch „die heikeligste aller Fragen“ offen, „ob die Wissenschaft im Stande sei, Ziele des Handelns zu geben, nachdem sie bewiesen hat, dass sie solche nehmen und vernichten kann – und dann würde ein Experimentiren am Platze sein“ :30 Es ist am Platz, die Antwort hat Nietzsche schon im Herbst 1880 gefunden : „es giebt weder einen Trieb der Selbsterhaltung, noch einen Trieb der Gattungs-Erhaltung. Das Nichtsein könnte uns werthvoller scheinen als das Sein : dann hat die physiologische Ethik nichts zu sagen“.31 Jenseits von Gut und Böse wird das anmahnen : Die Physiologen sollten sich besinnen, den Selbsterhaltungstrieb als kardinalen Trieb eines organischen Wesens anzusetzen.Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht - : die Selbsterhaltung ist nur eine der indirekten und häufigsten Folgen davon. – Kurz, hier wie überall, Vorsicht vor überflüssigen teleologischen Principien ! ( JGB 13) 30

F 7. „Ich lobe mir eine jede Skepsis, auf welche mir erlaubt ist zu antworten : ‚Versuchen wir’s !‘ Aber ich mag von allen Dingen und allen Fragen, welche das Experiment nicht zulassen, Nichts mehr hören.“ (FW 51) Vgl. FW 324, 319, M 501 und 453 : „Wir sind Experimente : wollen wir es auch sein !“ 31 V-1.6[123] (1880). Vgl. FW 349 und FW 5.349 : „in der Natur herrscht nicht die Nothlage, sondern der Ueberfluss, die Verschwendung, sogar bis in's Unsinnige. Der Kampf um's Dasein ist nur eine Ausnahme“.

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Nachworte

Das Leben ist die fürsichseiende Differenz und so „das, was sich immer selber überwinden muss“.32 Darum muß sich auch im Denker der Trieb zur Wahrheit immer überwinden als der Trieb zur Wissenschaft. Denn wie das Ich ist auch die Wissenschaft nur die halbe Wahrheit : Sie steht und fällt mit dem Begriff der Reproduktion, Reproduzierbarkeit ist das Wesen ihrer Experimente, teleologische Annahmen verbietet sie sich wie den Widerspruch selbst. Nietzsches Vorsicht gilt dementsprechend den überflüssigen teleologischen Prinzipien.33 Teleologische Prinzipien erweisen sich hingegen als notwendig, wo es zu tun ist um Produktion, um ein ursprüngliches Produzieren, das als creatio die Prärogative Gottes war und das Nietzsche Schaffen nennt. Im Winter 1883/84 notiert er unter dem Titel Meine Neuerungen : „Theorie des Zufalls, die Seele ein auslesendes und sich nährendes Wesen äusserst klug und schöpferisch fortwährend (diese schaffende Kraft gewöhnlich übersehn ! nur als ‚passiv‘ begriffen) / ich erkannte die active Kraft das Schaffende inmitten des Zufälligen“ (VII-1.24[28]). „Leben selbst ist Wille zur Macht“ – das ist die von Nietzsche in der Inkubationsphase der Fröhlichen Wissenschaft ge32

Za 2.12 : Von der Selbst-Ueberwindung. Dieses Fürsichseins wegen ist das Leben immer identifizierend (‚Werte setzend‘), nur „die letzte Wahrheit vom Fluß der Dinge verträgt die Einverleibung nicht, unsere Organe (zum Leben) sind auf den Irrthum eingerichtet.“ (V-2.11[162], 1881) – „Euren Willen und eure Werthe setztet ihr auf den Fluss des Werdens; einen alten Willen zur Macht verräth mir, was vom Volke als gut und böse geglaubt wird.“ (Za, ebd.) – „Werthe legte erst der Mensch in die Dinge, sich zu erhalten, – er schuf erst den Dingen Sinn, einen Menschen-Sinn ! Darum nennt er sich ‚Mensch‘, das ist : der Schätzende.“ (Za 1.15 : Von tausend und Einem Ziele) 33 Vgl. III-3.3[23] (1869/70) : „Die eine Seite der Welt ist rein mathematisch, die andre ist nur Wille, Lust und Unlust. Erkenntniß von absolutem Werthe rein in Zahl und Raum, die andre ist ein Anerkennen von Trieben und deren Abschätzen. Hier nur Ursache und Folge, absolute Logik, dort nur Zweckursachen.“

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fundene und bis heute gern naiv, wo nicht neoliberal34 mißverstandene Formel 35 für die mit der industriellen Revolution und dem Übergang vom klassischen Denken zum funktionalen Denken der Moderne dem Menschen übereignete Produktivität als Kreativität. Nur in seiner Dekadenz ist der Wille zur Macht Habsucht,36 ursprünglich allein „der unerschöpfte zeugende Lebens-Wille“ :37 Es ist ein Ansatz zu etwas ganz Neuem und Fremdem in der Geschichte : gebe man diesem Keime einige Jahrhunderte und mehr, so könnte daraus am Ende ein wundervolles Gewächs mit einem eben so wundervollen Geruche werden, um dessentwillen unsere alte Erde angenehmer zu bewohnen wäre, als bisher. Wir Gegenwärtigen fangen eben an, die Kette eines zukünftigen sehr mächtigen Gefühls zu bilden, Glied um Glied, – wir wissen kaum, was wir thun. Fast scheint es uns, als ob es sich nicht um ein neues Gefühl, sondern um die Abnahme aller alten Gefühle handele […] In der That : diess ist Eine Farbe dieses neuen Gefühls : wer die Geschichte der Menschen insgesammt als eigene Geschichte zu fühlen weiss, […] diess Alles endlich in Einer Seele haben und in Ein Gefühl zusammendrängen : – diess müsste doch ein Glück ergeben, das bisher der Mensch noch nicht kannte, – eines Gottes Glück voller Macht und 34

Za 1.11 : Vom neuen Götzen : „Seht mir doch diese Überflüssigen ! Reichthümer erwerben sie und werden ärmer damit. Macht wollen sie und zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld, – diese Unvermögenden !“ Vgl. die Klammer in FW 21 : „(Das fleissigste aller Zeitalter – unser Zeitalter – weiss aus seinem vielen Fleisse und Gelde Nichts zu machen, als immer wieder mehr Geld und immer wieder mehr Fleiss : es gehört eben mehr Genie dazu, auszugeben, als zu erwerben ! – Nun, wir werden unsere ‚Enkel‘ haben !)“ 35 Seit Sommer 1880 (V-1.4) zunächst als „Gefühl der Macht“ : „Die erste Wirkung des Glückes ist das Gefühl der Macht : diese will sich äussern“ (M 356). Die Formel selbst erstmals V-1.7[206], vgl. V-1.9[14] (1880/81). 36 Die „Habsucht meiner Erkenntniss“ ausgenommen, vgl. FW 242, 249, 283 und 291. 37 Za 2.12 : Von der Selbst-Ueberwindung.

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Nachworte

Liebe, voller Thränen und voll Lachens, ein Glück, welches, wie die Sonne am Abend, fortwährend aus seinem unerschöpf lichen Reichthume wegschenkt und in’s Meer schüttet und, wie sie, sich erst dann am reichsten fühlt, wenn auch der ärmste Fischer noch mit goldenem Ruder rudert ! Dieses göttliche Gefühl hiesse dann – Menschlichkeit !38

Hatte die Morgenröthe die Dichter noch gefeiert und erhoff t als die „Seher, die uns Etwas von dem Möglichen erzählen“ (M 551), dann wird sich in den Liedern des Prinzen Vogelfrei „ein Dichter auf eine schwer verzeihliche Weise über alle Dichter lustig“ machen (FW, Vorrede 1). Die Lieder sind der Fröhlichen Wissenschaft erst 1887 beigegeben,39 aber sie notiert bereits den „Wahn der Contemplativen“ (FW 301) – Hoff nungsträger ist nicht länger der Dichter, sondern „der höhere Mensch“ :40 [E]r meint, als Zuschauer und Zuhörer vor das grosse Schau- und Tonspiel gestellt zu sein, welches das Leben ist : er nennt seine Natur eine contemplative und übersieht dabei, dass er selber auch der eigentliche Dichter und Fortdichter des Lebens ist […]. Ihm, als dem Dichter, ist gewiss vis contemplativa und der Rückblick auf sein Werk zu eigen, aber zugleich und vorerst die vis creativa, welche dem handelnden Menschen fehlt, was auch der Augenschein und der Allerweltsglaube sagen mag. Wir, die Denkend-Empfi ndenden, sind es, die wirklich und immerfort Etwas machen, das noch nicht da ist : die ganze ewig wachsende Welt von Schätzungen, Farben, Gewichten, Perspectiven, Stufenleitern, Bejahungen und Verneinungen. (FW 301, vgl. 299)

38 39

FW 337, vgl. 349.

Überarbeitete Fassung der im Mai 1882 separat publizierten Idyllen aus Messina. 40 Vgl. Za, Zarathustra’s Vorrede 4 (zwischen den Reden vom Übermenschen und vom letzten Menschen) und Za 4.13 : Vom höheren Menschen.

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Die Morgenröthe und Die fröhliche Wissenschaft sind „Einleitungen und Commentare zu meinem Zarathustra“,41 aber erst die Fröhliche Wissenschaft ist der ausgesprochene Prätext als die „Formel meines Glücks“ und „gerade Linie“42 auf das Buch zu, dem Nietzsche seine heimlichsten und unheimlichsten Erfahrungen anvertraut hat. „Fröhlich“ ist die Fortsetzung der Morgenröthe, weil das entschiedene ‚Oder‘ des Sanctus Januarius „[m]einer Seele Eis zertheilt“43 und damit den Knoten der Reflexion zerschnitten hatte, der als das „indische“ ‚Entweder‘ in der Sonne liegengeblieben zu sein schien (EH, M 1) : „Das Eis, das heute noch trägt, ist schon sehr dünn geworden : der Thauwind weht, wir selbst, wir Heimatlosen, sind Etwas, das Eis und andre allzudünne ‚Realitäten‘ auf bricht …“44 Unüberhörbar wird der Tauwind von 1882 dann und wann in der neuen hymnischen Tonlage, die sich, markiert vom ursprünglich als Abschluß und Transfiguration gedachten Incipit tragoedia (FW 343), mit dem „Zarathustra-Evangelium“45 ihr angemessenes Organ schaff t. Die Verkündigung erst ist das Extrem zur Reflexion der früheren Bücher, zu ihrem „Wiederkäuen“.46 41

An Resa von Schirnhofer, Anfang Mai 1884. Gegenüber Franz Overbeck scherzt Nietzsche im Brief vom 28. März 1884, daß „diese Litteratur unter den Begriff ‚Liebigscher Fleischextract‘“ gehöre. Am 7.  April schreibt er ihm : „Beim Durchlesen von ‚Morgenröthe‘ und ‚fröhlicher Wissenschaft‘ fand ich übrigens, daß darin fast keine Zeile steht, die nicht als Einleitung, Vorbereitung und Commentar [zum] Zarathustra dienen kann. Es ist eine Thatsache, daß ich den Commentar vor dem Text gemacht habe – –“. 42 Vgl. GD, Sprüche und Pfeile 44 : „Formel meines Glücks : ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel …“ 43 FW, Motto des vierten Buchs. 44 FW 5.377. Vgl. Za 3.12 : Von alten und neuen Tafeln 8 : „‚Im Grund steht Alles still‘ – : dagegen aber predigt der Thauwind !“ 45 VIII-1.6[4] (1886/87). 46 III-3.5[80] (1870/71) : „Wie die Spiele des Sehorgans bei geschlossenen Augen, die auch die erlebte Wirklichkeit im bunten Wechsel durcheinander reproduziren, so verhält sich das Denken zur erlebten Wirk-

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Nachworte

Und auch der Verkünder ist ein Ich, das getan wird.47 Nietzsche nennt Zarathustra gern seinen Sohn,48 aber „das Mütterliche verehrt mir. Der Vater ist immer nur ein Zufall“ :49 „So empfi nden alle Künstler und Menschen der ‚Werke‘, die mütterliche Art Mensch : immer glauben sie, bei jedem Abschnitte ihres Lebens – den ein Werk jedes Mal abschneidet –, schon am Ziele selbst zu sein“.50 Am Ziele selbst zu sein – das ist im „muthmaaßlichen absoluten Fluß des Geschehens“´51 ein Irrtum, jede Identifi kation 52 erzeugt eine neue Differenz, jede Einverleibung ist Prozeß. Gelingt sie insofern auch immer „nicht, so zerfällt wohl das Gebilde; und die Zweiheit erscheint als Folge lichkeit : es ist ein stückweises Wiederkäuen.“ Der „freiwillige Bettler“ sagt zu Zarathustra : „So wir nicht umkehren und werden wie die Kühe, so kommen wir nicht in das Himmelreich.Wir sollten ihnen nämlich Eins ablernen : das Wiederkäuen. / Und wahrlich, wenn der Mensch auch die ganze Welt gewönne und lernte das Eine nicht, das Wiederkäuen : was hülfe es ! Er würde nicht seine Trübsal los […]. / Am weitesten freilich brachten es diese Kühe : die erfanden sich das Wiederkäuen und In-der-Sonne-Liegen.“ (Za 4.8 : Der freiwillige Bettler) Vgl. dazu den Schluß der Vorrede zur Genealogie der Moral. 47 Za 1.4 : Von der Verächtern des Leibes. Woher der Name Zarathustra ? „Man hat mich nicht gefragt, man hätte mich fragen sollen, was gerade in meinem Munde, im Munde des ersten Immoralisten, der Name Zarathustra bedeutet : denn was die ungeheure Einzigkeit jenes Persers in der Geschichte ausmacht, ist gerade dazu das Gegentheil. Zarathustra hat zuerst im Kampf des Guten und des Bösen das eigentliche Rad im Getriebe der Dinge gesehn, – die Übersetzung der Moral in’s Metaphysische, als Kraft, Ursache, Zweck an sich, ist sein Werk. Aber diese Frage wäre im Grunde bereits die Antwort. Zarathustra schuf diesen verhängnissvollsten Irrthum, die Moral : folglich muss er auch der Erste sein, der ihn erkennt.“ (EH, Warum ich ein Schicksal bin 3) 48 VII-2.26[394] (1884), VII-3.34[204] (1885), VIII-1.6[4] (1886/87). 49 VII-3.31[38] (1884/85), vgl. VII-1.17[13] (1883), 22[3] (1883). 50 FW 5.376, M 473 : „Ubi pater sum, ibi patria.“ 51 V-2.11[292] (1881). 52 Wir sind „Wesen mit dem Glauben an Beharrendes“ (V-2.11[162], 1881).

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des Willens zur Macht : um nicht fahren zu lassen, was erobert ist, tritt der Wille zur Macht in zwei Willen auseinander (unter Umständen ohne seine Verbindung unter einander völlig aufzugeben)“.53 Nietzsche wäre kein Psychologe, und kein Psychologe auf dem Höhepunkt des Psychologismus, müßte er hier nicht erneut personalisieren, wie er schon den Schatten personalisiert hatte : „Da, plötzlich, Freundin ! wurde Eins zu Zwei – / – Und Zarathustra gieng an mir vorbei …“54 Diese erste Desintegration zieht sogleich eine zweite nach sich. Denn wie vordem der Schatten ist nun auch der von der Reflexion befreite Gedanke einzuverleiben :55 „‚Dieser Becher will wieder leer werden, und Zarathustra will wieder Mensch werden.‘ – Also begann Zarathustra’s Untergang.“ (FW 342) Solange der Untergang aber wie der Feldzug gegen die Moral (EH, M 1) erst nur beginnt,56 bleibt nicht allein das reflektierende Denken (die „vita contemplativa“, M 440) unterschieden vom Leben, sondern auch der verkündende Gedanke, dem jetzt das Leben gegenübertritt als seine schaffende Seele : „es liegt ein golddurchwirkter Schleier von schönen Möglichkeiten über ihm, verheissend, widerstrebend, schamhaft, spöttisch, mitleidig, verführerisch. Ja, das Leben ist ein Weib !“57 Der Hym53

VIII-2.9[151], 104 (1887). „Sogar die Selbstliebe enthält die unver-

mischbare Zweiheit (oder Vielheit) in Einer Person als Voraussetzung.“ (MA 2.1.75) 54 FW, Lieder des Prinzen Vogelfrei : Sils-Maria. Nietzsche entdeckt Sils-Maria am 4. Juli 1881. 55 Vgl. schon MA 2.2.258 : „Eine lichte Art von Schatten. – Dicht neben den ganz nächtigen Menschen befi ndet sich fast regelmässig, wie an sie angebunden, eine Lichtseele. Sie ist gleichsam der negative Schatten, den jene werfen.“ 56 Von der Qual dieses Prozesses zeugen die Dionysos-Dithyramben (KGW, VI-3) – zuhöchst ist die „Einverleibung“ des Gedankens nämlich Apotheose : die Transfiguration von Zarathustra in Dionysos. 57 FW 339 : Vita femina. Die mit der industriellen Revolution nicht länger Gott, sondern dem Menschenwesen angesehene unendliche Pro-

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Nachworte

nus auf das Schaffen 58 präludiert der Parusie des Lebens in Nachtlied, Tanzlied und Grablied, und in der folgenden Rede Von der Selbst-Ueberwindung stellt „das Leben selber“ sich Zarathustra vor : „Und diess Geheimniss redete das Leben selber zu mir. ‚Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss. / […] ‚Und auch du, Erkennender, bist nur ein Pfad und Fusstapfen meines Willens : wahrlich, mein Wille zur Macht wandelt auch auf den Füssen deines Willens zur Wahrheit !“ Mit seinem zweiten Teil weitet Also sprach Zarathustra sich aus zu einem philosophischen Epos59 in der modernen Gestalt eines den Rousseauschen Émile 60 parodierenden philosophischen Erziehungsromans. Zarathustra verleibt sich darin jenes „Geheimniss“61 ein als die Macht der Erziehung62 des duktivität denkt Nietzsche (mit Wagner) als weiblich : „Alles am Weibe ist ein Räthsel, und Alles am Weibe hat Eine Lösung : sie heisst Schwangerschaft.“ (Za 1.18 : Von alten und jungen Weiblein) 58 Za 2.2 : Auf den glückseligen Inseln. 59 In der Tradition des Lukrez, vgl. M 72 : Epikurs „Triumph, der am schönsten im Munde des düsteren und doch hell gewordenen Jüngers seiner Lehre, des Römers Lucretius, ausklingt, kam zu früh“. AC 58 : „Man lese Lucrez, um zu begreifen, was Epicur bekämpft hat, nicht das Heidenthum, sondern ‚das Christenthum‘, will sagen die Verderbniss der Seelen durch den Schuld –, durch den Straf- und Unsterblichkeits-Begriff.“ 60 Zur Kritik des Émile vgl. schon GT 3. 61 Vgl. Za 2.7 : Von den Taranteln : „Hier, wo der Tarantel Höhle ist, heben sich eines alten Tempels Trümmer aufwärts, – seht mir doch mit erleuchteten Augen hin ! / Wahrlich, wer hier einst seine Gedanken in Stein nach Oben thürmte, um das Geheimniss alles Lebens wusste er gleich dem Weisesten !“ In den Vorreden von 1886 nennt Nietzsche Rousseau die „Moral-Tarantel“ (M, Vorrede 3). 62 Nietzsche spricht in diesem Zusammenhang zeitgemäß gern von „Zucht“ und „Züchtung“, auch von Züchtigung : „‚Gieb mir, Weib, deine kleine Wahrheit !‘ sagte ich. Und also sprach das alte Weiblein : ‚Du gehst zu Frauen ? Vergiss die Peitsche nicht !‘“ (Za 1.18 : Von alten und jungen Weiblein) „‚Nach dem Takt meiner Peitsche sollst du mir

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Lebens zum Leben „aus überströmender Gesundheit, aus Fülle des Daseins“ (GT, Vorrede 1), die „das goldne Gleichgewicht aller Dinge“ ist : 63 Ariadne und Dionysos Lyaîos, „dein grosser Löser, oh meine Seele, der Namenlose“ :64 , – du denkst daran, oh Zarathustra, ich weiss es, dass du mich bald verlassen willst !‘ – / ‚Ja, antwortete ich zögernd, aber du weisst es auch –‚ Und ich sagte ihr Etwas in's Ohr, mitten hinein zwischen ihre verwirrten gelben thörichten Haar-Zotteln. / Du weisst Das, oh Zarathustra ? Das weiss Niemand. – – 65 / Und wir sahen uns an und blickten auf die grüne Wiese, über welche eben der kühle Abend lief, und weinten mit einander. – Damals aber war mir das Leben lieber, als je alle meine Weisheit. – 66 tanzen und schrein ! Ich vergass doch die Peitsche nicht ? – Nein !‘ – / Da antwortete mir das Leben also und hielt sich dabei die zierlichen Ohren zu : ‚Oh Zarathustra ! Klatsche doch nicht so fürchterlich mit deiner Peitsche ! Du weisst es ja : Lärm mordet Gedanken, – und eben kommen mir so zärtliche Gedanken.‘“ (Za 3.15 : Das andereTanzlied 1 f.) 63 An Jacob Burckhardt, 4. Januar 1889. 64 Za 3.14 : Von der grossen Sehnsucht. Vgl. VII-1.13[1] (1883) : „Ariadne träumend : ‚vom Helden verlassen träume ich den Über-Helden‘. Dionysos ganz zu verschweigen !“ Nietzsche spielt an auf Zarathustras Rede Von den Erhabenen (Wagner = Theseus) (2.13), die der Rede Von der SelbstUeberwindung unmittelbar folgt. 65 Vgl. EH, Za 8, „Wer weiss ausser mir, was Ariadne ist ! …“ – zu achten ist auf das „was“. 66 Za 3.15 : Das andere Tanzlied 2. Es folgen noch als Das andere Tanzlied 3 das Gedicht Oh Mensch ! Gieb Acht ! (das Gustav Mahler dem vierten Satz seiner dritten Sinfonie zugrundelegen wird) und als das insgesamt 60. Stück Die sieben Siegel. (Oder : das Ja- und Amen-Lied.). Den vierten Teil von Also sprach Zarathustra verstand Nietzsche als selbständige Dichtung (EH, Warum ich so weise bin 4), die er 1885 als Privatdruck veröffentlichte und nicht in die Ausgabe von 1887 aufnahm. „Um den Helden herum wird Alles zur Tragödie, um den Halbgott herum Alles zum Satyrspiel“ ( JGB 150) : Nach der Tragödie von Zarathustras „Untergang“ präludiert dies Satyrspiel um Zarathustras Mitleiden mit den „höheren Menschen“ der Thematik des nachzarathustrischen Werks überhaupt.

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Nachworte

1887 wird Nietzsche sich, zurückhörend in Zarathustras Rede Von der grossen Sehnsucht, auf die „Wollust einer triumphirenden Dankbarkeit“ berufen, „welche sich zuletzt noch in kosmischen Majuskeln an den Himmel der Begriffe schreiben muss“ (FW, Vorrede 2), nämlich als die Corona borealis, Ariadnes Diadem.67

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Ovid : Metamorphosen 8.177–182. Vgl. An den Mistral, St. 11, in den Liedern des Prinzen Vogelfrei. Nietzsche hatte das Gedicht am 22. November 1884 aus Mentone an Heinrich Köselitz geschickt.

Wir Furchtlosen (Die fröhliche Wissenschaft. Fünftes Buch)

Mit dem fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, im Oktober 1886 noch „so geschwind wie möglich […] hinzu gekritzelt“1 und „seinem Tone und Inhalte nach“ mehr zu Jenseits von Gut und Böse gehörig,2 ist Nietzsche mit Allem fertig, was ich zum Besten meiner früheren Litteratur zu thun mir vorgesetzt hatte. […] Wenn die Vorreden […], insgleichen jener fünfte Abschnitt der fröhlichen Wissenschaft sammt den ‚Liedern des Prinzen Vogelfrei‘ gedruckt sind, dann ist in der That etwas Wesentliches gethan, um das Verständniß meiner ganzen Litteratur (und Person) zu erleichtern. Und namentlich wird man begreifen, daß wer erst mit mir ‚angebunden‘ hat, auch Schritt für Schritt mit mir weiter muß. – 3

Mit „mir ‚angebunden‘“ :4 Die „äußerst inhaltsreich[en]“5 einundvierzig Aphorismen sind das Vorspiel der Streitschrift des kommenden Jahrs.6 Im Schlußteil der Genealogie der Moral wird Nietzsche ein „Muster“ von dem geben, „was ich […] ‚Auslegung‘ nenne : – dieser Abhandlung ist ein Aphorismus 1

An Heinrich Köselitz, 13. Februar 1887. An Heinrich Köselitz, 7. März 1887. Daher nachträglich „noch mit etlichen Zusätzen und Einschiebungen […]. Meine Absicht dabei war, ihm noch mehr den Charakter einer Vorbereitung ‚für Also sprach Zarathustra‘ zu geben“ (an den Verleger Fritzsch, 29. April 1887). 3 An den Verleger Fritzsch, Ende September 1886. 4 Vgl. M 220 : „Die Furchtlosen, das heisst ursprünglich : die jederzeit und unzweifelhaft Fürchterlichen“. 5 An den Verleger Fritzsch, 18. Februar 1887. 6 Im ersten Entwurf Jenseits von Gut und Schlecht ? / Eine Philosophische Streitschrift. / (Zur Ergänzung und Verdeutlichung des letztveröffentlichten Buches ‚Jenseits v. Gut und Böse‘)“ ( VIII-1.6[2], 1886/87). 2

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Nachworte

vorangestellt, sie selbst ist dessen Commentar“ (GM, Vorrede 8). So schon hier. Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat (FW 5.343) exponiert das Thema aller folgenden Variationen bis zum Epilog (FW 5.383) und ist eine prägnante Selbstumschreibung von Nietzsches geschichtlichem Ort im Denken der Moderne :7 „Das grösste neuere Ereigniss, – dass ‚Gott todt ist‘, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist – beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen.“ Und doch : „wir Philosophen und ‚freien Geister‘ fühlen uns bei der Nachricht, dass der ‚alte Gott todt‘ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; […] vielleicht gab es noch niemals ein so ‚off nes Meer‘. –“ Die erste Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hat Nietzsches Ahnung „einer Verdüsterung und Sonnenfi nsterniss, deren Gleichen es wahrscheinlich noch nicht auf Erden gegeben hat“ – einer „ungeheuren Logik von Schrecken“ (FW 5.343) –, aufs Unheimlichste bestätigt. Gleichwohl ist nach dem 7

Vgl. die Ortsbestimmung 1885/86 ( VIII-1.2[106]) : „Die Bedeutung der deutschen Philosophie (Hegel) : einen Pantheismus auszudenken, bei dem das Böse, der Irrthum und das Leid nicht als Argumente gegen Göttlichkeit empfunden werden. Diese grandiose Initiative ist mißbraucht worden von den vorhandenen Mächten (Staat usw.), als sei damit die Vernünftigkeit des gerade Herrschenden sanktionirt. / Schopenhauer erscheint dagegen als hartnäckiger Moral-Mensch, welcher endlich, um mit seiner moralischen Schätzung Recht zu behalten, zum Welt-Verneiner wird. Endlich zum ‚Mystiker‘. / Ich selbst habe eine ästhetische Rechtfertigung versucht : wie ist die Häßlichkeit der Welt möglich ? – Ich nahm den Willen zur Schönheit, zum Verharren in gleichen Formen, als ein zeitweiliges Erhaltungs- und Heilmittel : fundamental aber schien mir das Ewig-Schaffende als das ewig-Zerstören-Müssende gebunden an den Schmerz. Das Häßliche ist die Betrachtungsform der Dinge, unter dem Willen, einen Sinn, einen neuen Sinn in das sinnlos Gewordene zu legen : die angehäufte Kraft, welche den Schaffenden zwingt, das Bisherige als unhaltbar, mißrathen, verneinungswürdig, als häßlich zu fühlen ? – / […] Die Vergänglichkeit könnte ausgelegt werden als Genuß der zeugenden und zerstörenden Kraft, als beständige Schöpfung.“

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Zusammenhang zwischen dieser Katastrophe und der heraufgekommenen Unglaubwürdigkeit des christlichen Gottes zu fragen, mit der „das Christenthum in einen sanften Moralismus übergetreten ist : nicht sowohl ‚Gott, Freiheit und Unsterblichkeit‘8 sind übriggeblieben, als Wohlwollen und anständige Gesinnung und der Glaube, dass auch im ganzen All Wohlwollen und anständige Gesinnung herrschen werden“ (M 92). In der Parabel vom ‚tollen Menschen‘ (FW 125) hatte die Fröhliche Wissenschaft aber auch zu bedenken gegeben, daß die kommende Verdüsterung selber schon Folge einer voraufgegangenen Verdüsterung sei, die ihrerseits einen Vatermord provoziert habe : „Und wir haben ihn getödtet !“9 Am Anfang steht nach Nietzsches bereits in der Geburt der Tragödie ausgesprochener und nie revidierter Überzeugung weder der christliche noch überhaupt ein Gott, sondern der sokratische „Optimismus“, die in sich reflektierte Wissenschaftlichkeit als die neue Tugend der Wahrhaftigkeit.10 In deren Licht hatten dann grosse allgemein angelegte Naturen, mit einer unglaublichen Besonnenheit, das Rüstzeug der Wissenschaft selbst zu benützen gewusst, um die Grenzen und die Bedingtheit des Erkennens überhaupt darzulegen und damit den Anspruch der Wissenschaft 8

Kants „Postulate der reinen praktischen Vernunft überhaupt“ (Kritik der praktischen Vernunft, Von der Dialektik der reinen Vernunft in Bestimmung des Begriff s vom höchsten Gut VI, A 238-241). 9 „Der Vatermörder und der im Incest lebende Oedipus ist zugleich der Räthsellöser der Sphinx, der Natur. Der persische Magus wurde aus Incest geboren : das ist dieselbe Vorstellung. D. h. so lange man in der Regel der Natur lebt, beherrscht sie uns und verbirgt ihr Geheimniß. Der Pessimist stürzt sie in den Abgrund, indem er ihre Räthsel erräth. / Oedipus Symbol der Wissenschaft.“ (III-3.7[22] (1869/70) Vgl. JGB 1. 10 Vgl. IV-1.5[148] (1875) : „Die ungeheuerste Frevelthat der Menschheit, dass das Christenthum möglich werden konnte, so wie es möglich wurde, ist die Schuld des Alterthums.“

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Nachworte

auf universale Geltung und universale Zwecke entscheidend zu leugnen : […] Der ungeheuren Tapferkeit und Weisheit Kant’s und Schopenhauer’s ist der schwerste Sieg gelungen, der Sieg über den im Wesen der Logik verborgen liegenden Optimismus, der wiederum der Untergrund unserer Cultur ist. (GT 18)

So erweist die Geschichte des Optimismus sich vielmehr als die Heraufkunft seines Schatten, des Pessimismus. Denn es ist kein Zweifel, der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ‚andre Welt‘ bejaht, wie ? muss er nicht ebendamit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt – verneinen ? … (FW 5.344)

Das war die Formel, mit der ein halbes Jahrtausend nach Sokrates das Christentum siegte (vgl. AC 51). Und nachdem „die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren stärksten Schluss, ihren Schluss gegen sich selbst; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt ‚was bedeutet aller Wille zur Wahrheit ?‘ […] An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral zu Grunde“ (GM 3.27) : Man sieht, was eigentlich über den christlichen Gott gesiegt hat : die christliche Moralität selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. (FW 5.357)

Und damit kommt „sofort auf eine furchtbare Weise die Schopenhauerische Frage zu uns : Hat denn das Dasein überhaupt einen Sinn ?“11 Das moderne Christentum befi ndet sich im 11

FW 5.357. Vgl. GM 3.1 und 3.23.

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Stadium der Euthanasie12 – nämlich als „Platonismus fürs ‚Volk‘“,13 noch nicht als Platonismus,14 der jetzt erst, im geschichtlichen Augenblick des offenbar gewordnen Pessimismus, seinen eschatologischen Triumph feiert. Der Gegner in nackter Gestalt ist „das asketische Ideal“,15 und unter dem (für seine Psychologie des Neuen Testaments fruchtbar werdenden) Eindruck der Lektüre von Ludwig Feuerbach, David Friedrich Strauß, Ernest Renan usw. beunruhigte Nietzsche am Christentum etwas „Menschliches, Allzumenschliches“ :

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M 92 : „ein zurechtgemachtes, nämlich ein wunderlich vereinfach-

tes Christenthum […], als Wohlwollen und anständige Gesinnung und der Glaube, dass auch im ganzen All Wohlwollen und anständige Gesinnung herrschen werden“. 13 JGB, Vorrede. Vgl. M 70 : „Nicht das Christliche an ihr, sondern das Universal-Heidnische ihrer Gebräuche ist der Grund für die Ausbreitung dieser Weltreligion“. 14 „Meine Philosophie umgedrehter Platonismus : je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“ (III-3.7[156], 1870/71) Heidegger suchte Nietzsches Denken daraus den Strick der „Metaphysik“ zu drehen. „Durch die ganze Geschichte der Philosophie hindurch bleibt Platons Denken in abgewandelten Gestalten maßgebend. Die Metaphysik ist Platonismus. Nietzsche kennzeichnet seine Philosophie als umgekehrten Platonismus. Mit der Umkehrung der Metaphysik, die bereits durch Karl Marx vollzogen wird, ist die äußerste Möglichkeit der Philosophie erreicht. Sie ist in ihr Ende eingegangen.“ (Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, in : Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 61 – 80, hier S. 61; vgl. Nietzsches Wort ‚Gott ist tot‘, in : Holzwege, Frankfurt a. M. 41963 [11950], S. 193 – 247 : Wer ist Nietzsches Zarathustra ?, in : Vorträge und Aufsätze, Pfullingen 1954, S. 101 – 126; Nietzsche I/II, Pfullingen 1961) Aber die Umkehrung ist selber kein metaphysisches, sondern ein modernes Verfahren und überhaupt nur auf dem Boden der modernen Logik der Funktion möglich – wie auch das, was umgekehrt wird, schon funktional transformiert sein muß. 15 Vgl. V-1.4[125] (1880), M 192 und GM 3.

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Nachworte

Der feinste Kunstgriff, welchen das Christenthum vor den übrigen Religionen voraus hat, ist ein Wort : es redete von Liebe. So wurde es die lyrische Religion […]; und jene Zahllosen, welche Liebe vermissen, von Seiten der Eltern, Kinder oder Geliebten, namentlich aber die Menschen der sublimirten Geschlechtlichkeit, haben im Christenthum ihren Fund gemacht.16

Nicht nur Marx und Engels, auch der junge Nietzsche hatte das Fazit von Feuerbachs Wesen des Christentums verinnerlicht : „Daß Gott, der an sich nichts andres als das Wesen des Menschen ist, auch als solches verwirklicht werde, als Mensch dem Bewußtsein Gegenstand sei, das ist das Ziel der Religion.“17 Die spekulativen Theologien von Augustinus’ De trinitate über die scholastischen Summen und Cusanus’ De docta ignorantia bis hin zu Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion gingen den Feuerbach-Leser nichts an :18 „Unsinn ist das höchste Wesen der Theologie – der gemeinen wie der spekulativen.“19 Nicht der trinitarische Gott war das moderne Problem, sondern dessen zweite Person :20 Nietzsches früh begonne16

MA 2.1.95. Vgl. Freud : Die Zukunft einer Illusion (1927), GW XIV,

Frankfurt a. M. 1999, S. 323 – 380. 17 Feuerbach : Das Wesen des Christentums (1841, 1843, 1849), GW 5, S. 256. 18 „Er kannte die antiken Philosophen, aber auch diese mit auffallenden Lücken. Von Aristoteles zum Beispiel las er nicht die grundlegenden Schriften zur Metaphysik oder zur Ethik, sondern die Rhetorik. Dann überspringt er die ganze Patristik, Scholastik, den Rationalismus und wendet sich unmittelbar seiner und der jüngstvergangenen Zeit zu : allen voran Schopenhauer, dazu Friedrich Albert Lange, Eduard von Hartmann, Ludwig Feuerbach“. (Curt Paul Janz : Friedrich Nietzsche. Biographie, 3 Bände, München 1981 [11978/79], Band 1, S. 404) 19 Feuerbach : Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 23, GW 9, S. 301. 20 GT 9 : „Und so stellt gleich das erste philosophische Problem einen peinlichen unlösbaren Widerspruch zwischen Mensch und Gott hin und rückt ihn wie einen Felsblock an die Pforte jeder Cultur.“

Claus-Artur Scheier

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ner21 Religionskrieg ist der „Vernichtungsschlag“22 gegen den vorgestellten Gott-Menschen, als der das Wesen des Menschen zur moralischen „Hinterwelt“ (vgl. MA 2.1.17) verkehrt war. Schon für Feuerbach und Marx ist der „Mensch sich selbst entfremdet“, so „daß sein Leben als Aufopfrung seines Lebens, daß die Verwirklichung seines Wesens als Entwirk lichung seines Lebens, daß seine Produktion als Produktion seines Nichts, daß seine Macht über den Gegenstand als die Macht des Gegenstandes über ihn, daß er, der Herr seiner Schöpfung, als der Knecht dieser Schöpfung erscheint“.23 Der Mensch ist schon Gott-Mensch, aber, sei es unter der Herrschaft der Religion, des Kapitals oder des asketischen Ideals, auch immer schon seines Wesens enteignet und darum der Gott-Mensch in Knechtsgestalt.24 Der vormalige Feuerbachianer Wagner hatte ihn evoziert als den ‚ertaubten Bahnbrecher‘ „unsrer Musik“ :25 „Wer Beethoven damals mit dem Blicke des [erblindeten Sehers] Teiresias gesehen hätte, welches Wunder müßte sich dem erschlossen haben : eine unter Menschen wandelnde Welt, – das An-sich der Welt als wandelnder Mensch !“26 Das innerste Pro21

Vgl. den Aufsatz Fatum und Geschichte (1862) in : Friedrich Nietzsche. Jugenschriften, Band 2 (1861-1864), hg. von Hans Joachim Mette, München 1994 (11933 – 1940). 22 Briefentwurf an Georg Brandes, Anfang Dezember 1888. 23 Karl Marx : Auszüge aus James Mills Buch ‚Elémens d’économie politique‘, MEW, Erg.-Bd. I, Berlin 1973, S. 451. 24 Phil. 2,6 f. : „Welcher / ob er wohl in göttlicher gestalt war / hielt ers nicht für einen Raub / Gotte gleich sein / Sondern eussert sich selbs / vnd nam Knechts gestalt an / ward gleich wie ein ander Mensch / vnd an geberden als ein Mensch erfunden“ (Übers. Luther). 25 Richard Wagner : Beethoven, Sämtliche Schriften und Dichtungen. Volks-Ausgabe. Leipzig 61912/14, Bd. 9, S. 92, 126, 123. 26 Ebd., S. 92. Vgl. Feuerbach (Das Wesen des Christentums, GW 5, S. 455) : „Nichts hat also der Mensch über sich – nichts außer das Wesen der Menschheit, welches aber dem bestimmten Menschen selbst wie-

328

Nachworte

blem des ‚Falls Wagner‘ aber entdeckt Nietzsche nicht beim Schriftsteller, sondern beim Künstler darin, daß jenes „An-sich der Welt“ abermals repräsentiert, die lebendige Gebärde theotheatrokratisch simuliert wird durch die „Attitüde“.27 Das „asketische Ideal“ ist das absolute Wesen der Repräsentation, der Metaphysik, alles Bisherigen,28 die Anti-Moderne schlechthin inmitten in der Moderne. Nur „können wir in’s Alte nicht zurück, wir haben die Schiffe verbrannt; es bleibt nur übrig, tapfer zu sein,29 mag nun dabei diess oder jenes herauskommen“30 – und „wir“ sind diesmal nicht nur die „freien Geister“, sondern der moderne Mensch überhaupt. Die mit Jenseits von Gut und Böse begonnene Wiedereinverleibung ‚meines Sohnes‘ Zarathustra 31 ist zugleich der Beginn der Einverleibung des andren ‚Sohns‘, der nicht nur wie Zarathustra ein neuer Begriff der Menschheit, sondern das Wesen der in der Gestalt eines bestimmten Menschen gegenübertritt. So hat z. B. das Kind das Wesen des Menschen in der Gestalt seiner Eltern, der Schüler in der Gestalt seines Lehrers über sich. Alle Gefühle aber, die der Mensch vor einem höhern Menschen, ja überhaupt alle sittlichen Gefühle, die der Mensch dem Menschen gegenüber empfi ndet, sind religiöser Natur.“ 27 FW 5.368. Vgl. WA, Nachschrift, und WA 12 : „Aber wer zweifelt noch daran, was ich will, – was die drei Forderungen sind, zu denen mir diesmal mein Ingrimm, meine Sorge, meine Liebe zur Kunst den Mund geöff net hat ? / Dass das Theater nicht Herr über die Künste wird. / Dass der Schauspieler nicht zum Verführer der Echten wird. / Dass die Musik nicht zu einer Kunst zu lügen wird.“ 28 Vgl. JGB 45, GM 2.24. 29 Vgl. das Motto im Titel : „Du zitterst, Gerippe ? Du würdest noch viel mehr zittern, wenn du wüßtest, wohin ich dich führe“, soll der Generalfeldmarschall Turenne (1611-1675) angesichts gefährlicher Situationen vor sich hin germurmelt haben. 30 MA 1.248. Vgl. MA 2.1.382, FW 5.377, JGB 10. 31 VII-2.26[394] (1884) und öfter; vgl. den Brief an die Schwester, 7. Mai 1885 : „Glaube ja nicht, daß mein Sohn Zarathustra meine Meinungen ausspricht. Er ist eine meiner Vorbereitungen und Zwischen-Akte.“

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329

der Menschheit ist. „Der Philosoph der tragischen Erkenntniß […] empfi ndet den weggezogenen Boden der Metaphysik tragisch und kann sich doch an dem bunten Wirbelspiele der Wissenschaften nie befriedigen. Er baut an einem neuen Leben“.32 Anders als dem Philologen ist dem Philosophen darum auch nicht an der poetologisch-historischen Bestimmung der Tragödie gelegen, sondern einzig an der „Psychologie der Tragödie“ (EH, GT 3). Wenn Dionysos und Apoll erneut „ihren sichtbaren Bund schließen […] zur Verherrlichung ihres Doppelwesens in dem tragischen Menschen“,33 dann kann es diesmal nur eine „Triple alliance“ sein 34 mit der Knechtsgestalt, in der das Leiden am asketischen Ideal ‚Fleisch ward‘.35 Darin liegt die geschichtliche Differenz zwischen der antiken Tragödie und dem tragischen Menschen der Moderne. Dieser stirbt zwar nicht notwendig „durch Selbstmord“, aber doch „in Folge 32 33 34

III-4-19[35] (1872/73). III-3.7[123] (1869 – 1872). NW, Vorwort. In den Briefen und Karten vom Dezember 1888 und

Januar 1889 fi nden sich Unterschriften wie „Der Antichrist“ (Entwurf an Otto von Bismarck, Anfang Dezember 1888, an Ferdinand Avenarius, 22. Dezember 1888, Entwurf an Cosima Wagner etwa 25. Dezember 1888), „Nietzsche Dionysos“ (Entwurf an Catulle Mendès, 1. Januar 1889), „Dionysos“ (an Catulle Mendès, 1. Januar 1889, an Hans von Bülow, Jacob Burckhardt, Carl Deussen, Franz Overbeck, Erwin Rohde, Carl Spitteler und Heinrich Wiener, 4. Januar 1989) und „Der Gekreuzigte“ (an August Strindberg, Anfang 1889, an Meta von Salis, 3. Januar 1889, an Georg Brandes, Heinrich Köselitz, Malwida von Meysenbug, „Den erlauchten Polen“, Kardinal Mariani und Umberto I König von Italien, 4.  Januar 1889). Im letzten Brief (an Jacob Burckhardt, 6. Januar 1889) steht aber „In herzlicher Liebe Ihr / Nietzsche“. 35 Erst der „Übermensch“, der Fluchtpunkt von Nietzsches geschichtlicher Perspektive, wäre die auch über die Knechtsgestalt triumphierende Apotheose, vgl. VII-3.35[73] (1885) : „Die Rangordnung durchgeführt in einem System der Erdregierung : die Herrn der Erde zuletzt, eine neue herrschende Kaste. Aus ihnen hier und da entspringend, ganz epicurischer Gott, der Übermensch, der Verklärer des Daseins.“

330

Nachworte

eines unlösbaren Confl ictes“ (GT 11) und muß „an dem zu Grunde […] gehn, womit er siegen soll“.36 In solcher Zuspitzung ist weder Feuerbachs noch Marx’ utopisches Denken tragisch, die Apotheose des Arbeiters in der kommunistischen Gesellschaft ist ebenso gewiß wie die des Du in der „Konversation des Menschen mit dem Menschen“.37 In beiden Entwürfen verhält die künftige Gesellschaft sich zur Gegenwart, dramatisch betrachtet, wie die Katharsis zur Peripetie („Revolution“). Aber „[l]eider weiss man aus historischen Erfahrungen, dass jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die längst begrabenen Furchtbarkeiten und Maasslosigkeiten fernster Zeitalter von Neuem zur Auferstehung bringt : dass also ein Umsturz wohl eine Kraftquelle in einer mattgewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr aber ein Ordner, Baumeister, Künstler, Vollender der menschlichen Natur.“ (MA 1.463) Überhaupt sind historische Fakten „Facta ficta“ (M 307), und der „schaffende Instinkt der Seele zeigt sich in dem Nutzen, den wir aus der Geschichte zu ziehn wissen : es giebt nur Biographie“.38 Schon Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen handelte nicht von den philosophischen Systemen und ihrem geschichtlichen Verhältnis zueinander, sondern von den „älteren griechischen Philosophen“, denn „an Systemen, die widerlegt sind, kann uns eben nur noch das Persönliche interessiren“.39 Einzig die „‚Lebens-systeme‘, deren jeder von uns eins 36 37

III-3.7[128] (1870/71).

Feuerbach : Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 42, GW 9, S. 324 – wie für Feuerbach ohnehin schon jedes Du „der Deputierte der Menschheit“ ist (Das Wesen des Christentums, GW 5, S. 276). 38 V-2.17.[5] (1882). Nietzsche paraphrasiert Emersons Essay History in : Ralph Waldo Emerson. Versuche. (Essays.) Aus dem Englischen von G. Fabricius. Hannover. Carl Meyer. 1858, S. 6 („All history becomes subjective; in other words, there is properly no history; only biography.“). 39 PhtZ (III-2, KGW S. 297).

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ist“, sind „die wahren“ Systeme.40 Der seit Augustinus immer neu fruchtbar gemachte Gedanke einer eignen Struktur der Geschichte bleibt Nietzsche fremd, die tragische Wendung nimmt der Gedanke vielmehr als letzte Konsequenz des Anthropologismus und Psychologismus, kraft deren die noch junge Moderne sich diesseits der Kritik der politischen Ökonomie des immensen restaurativen Drucks der metaphysischen Tradition zu erwehren suchte.41 „Wir sind stets nur in unserer Gesellschaft“ (FW 166), und auch die von der aristotelischen Poetik analysierte Struktur der klassischen Tragödie interessiert Nietzsche so wenig, daß er kein Ohr hat für Goethes triftigen Einwand gegen die namentlich in Lessings Hamburgischer Dramaturgie und Schillers Über die tragische Kunst formulierte Auffassung, die Katharsis sei eine Wirkung auf den Zuschauer : Aristoteles spreche einzig „von der Konstruktion der Tragödie“, deren „aussöhnende Abrundung“ die somit ins dramatische Werk gesetzte Katharsis sei.42 40

V-2.11[7] (1881). Vgl. V-1.6[419] (1880/81) : „Wir erkennen immer nur uns selber, in einer bestimmten Möglichkeit der Veränderung […]. Und zuletzt erkennen wir die Möglichkeiten unserer Strukturverschiebung, nichts mehr.“ 41 Die Geburt der Tragödie „riecht anstössig Hegelisch“ für Ecce homo (EH, GT 1), nämlich Hegelianisch, wie mehr als einmal bei dem dürftigen Hegelkenner Nietzsche – er hatte Schopenhauers Preisschrift über die Grundlage der Moral im Ohr : „Herr Feuerbach, ein Hegelianer (c’est tout dire)“ (§ 11, Anm. 2, W III, S. 540). 42 Goethe : Nachlese zu Aristoteles’ Poetik in : Über Kunst und Altertum 1827. Näher geschehe die Katharsis in der Tragödie „durch eine Art Menschenopfer, es mag nun wirklich vollbracht oder, unter Einwirkung einer günstigen Gottheit, durch ein Surrogat gelöst werden, […] genug, eine Söhnung, eine Lösung ist zum Abschluß unerläßlich, wenn die Tragödie ein vollkommenes Dichtwerk sein soll.“ Die (bei Aristoteles weiter nicht erläuterte) dramatisch-kultische Katharsis gehört zur Defi nition der Tragödie (Poetik 1449b28). Dafür, daß „sie unter die medicinischen oder die moralischen Phänomene zu rechnen“ sei (GT 22) und Aristoteles in ihr ein Mittel gesehen habe, „um sich von einem

332

Nachworte

Offenbar hat die der aristotelischen Schule nahestehende hellenistische Geschichtsschreibung diese tragische Struktur von Handlung (mythos, fabula) übernommen und damit deren christliche Übertragung auf das Weltgeschehen überhaupt vorbereitet : Es ist die Geschichte von der Erschaff ung der Welt (prohaíresis, Entschluß), vom Sündenfall (hamartía, Verfehlung), von Leben, Sterben (peripéteia, Wendung) und Auferstehung (anagnôrisis, Erkennen) des Gottessohnes und vom jüngsten Tag (kátharsis, Sühnung, Reinigung). „Nicht das Christliche an ihr, sondern das Universal-Heidnische ihrer Gebräuche ist der Grund für die Ausbreitung dieser Weltreligion“ (M 70), und mit dem Ritus ist diese tragische Theologie auch „fürs ‚Volk‘“43 präsent. Mochte Nietzsche also aus eigner Erfahrung wie zufolge seiner frühen Feuerbach-Lektüre das moderne Christentum richtig als „die lyrische Religion“ verstehen44 – seiner metaphysischen Verfassung nach ist das Christentum vielmehr die tragische Religion. gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen“ (GD, Was ich den Alten verdanke 5), gibt die Poetik keinen Anhalt (Nietzsche orientiert sich vor allem an Jacob Bernays : Grundzüge der verlorenen Abhandlung des Aristoteles über Wirkung der Tragödie [1857]). „Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des tragischen Gefühls […] Nicht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen […] : sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens selbst zu sein, – jene Lust, die auch noch die Lust am Vernichten in sich schliesst …“ (GD, Was ich den Alten verdanke 5, vgl. EH, GT 3). Freud wird diese ‚Entladung‘ „Abfuhr“ nennen : „Die[-] also im Zustande des Unbewußten zurückgehaltenen Gedankenbildungen streben nach einem ihrem Affektwert gemäßen Ausdruck, einer Abfuhr“ (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie [1905], GW V, Frankfurt a. M. 1999, S. 63, vgl. schon GW, Nachtragsband, S. 410). 43 JGB, Vorrede. 44 MA 2.1.95. Vgl. Freud : Die Zukunft einer Illusion (1927), GW XIV, Frankfurt a. M. 1999, S. 323 – 380.

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Als unlösbar erscheint der Konfl ikt (GT 11) danach nicht nur für den tragischen Menschen der Moderne, sondern für ihren „tragischen Philosophen“ selbst (EH, GT 3). Indem die Katharsis keine rituelle Sühnung mehr ist, sei es der antiken Polis, sei es der christlichen Welt, sondern „die ewige Lust des Werdens“, identifi ziert Nietzsche sie mit dem modernen Wesen des Menschen als mit dessen unendlicher Produktivität. Die durch Feuerbach vermittelte Synthese des apollinisch-dionysischen Lebens-Systems mit dem Gott-Menschen in Knechtsgestalt gerät dadurch zwangsläufig zur Synthese mit einem anderen System, das Nietzsche weder anzuerkennen noch überhaupt zu erkennen vermochte (das blieb dem zwanzigsten Jahrhundert vorbehalten). Der „Vernichtungsschlag gegen das Christenthum“45 kann mithin nur den ‚lyrischen‘, den äußeren, den vorgestellten Gott-Menschen treffen, nicht den gefühlten, innern, ‚tragischen‘ – es sei denn „im Opfer seiner höchsten Typen“ – im Selbst-Opfer – „der eignen Unerschöpfl ichkeit frohwerdend […] – ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft …“.46 Weltlicherweise bleibt, wo kein Sieg möglich ist, nur der Fluch auf das Christenthum :47 – ‚Nein ! Nicht solche Töne ! Sondern lasst uns angenehmere anstimmen und freudenvollere !‘ – Gefällt es euch so, meine ungeduldigen Freunde ? Wohlan ! […] Aber was ihr zu hören bekommt, ist wenigstens neu; und wenn ihr's nicht versteht, wenn ihr den Sänger missversteht, was liegt daran ! Das ist nun einmal ‚des Sängers Fluch‘.48

45

Briefentwurf an Georg Brandes, Anfang Dezember 1888. GD, Was ich den Alten verdanke 5. 47 Der Untertitel von AC ersetzt den zunächst geplanten Untertitel „Umwerthung aller Werthe“. 48 FW 5.383. Hinweis auf die der Augabe von 1887 ebenfalls angehängten Lieder des Prinzen Vogelfrei. 46

Editorische Notiz

Die Wiedergabe des Textes von Die fröhliche Wissenschaft erfolgt nach der Neuen Ausgabe von 1887 der 1882 in erster Auflage erschienenen Schrift, der Nietzsche jetzt die 1886 verfaßte „Vorrede zur zweiten Ausgabe“ (= Neue Ausgabe), das fünfte Buch „Wir Furchtlosen“ und den neuen Anhang „Lieder des Prinzen Vogelfrei“ hinzufügte. Die Eigentümlichkeiten der Orthographie der Zeit und der Interpunktion Nietzsches bleiben unverändert erhalten; offen kundige Fehler wurden stillschweigend korrigiert, die Edition der Texte in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Colli und Montinari (Berlin 1967 ff.) wurde durchgängig vergleichend herangezogen. Der Seitenumbruch der Originalausgabe wird in den Texten fortlaufend durch einen senkrechten Strich | markiert und im Kolumnentitel innen mit Angabe der Seitenzahlen angezeigt.

Siglenverzeichnis

AC

Der Antichrist (1888)

EH

Ecce homo (1888/89)

FW

Die fröhliche Wissenschaft (1882)

GD

Götzen-Dämmerung (1889)

GM

Zur Genealogie der Moral (1887)

GT

Die Geburt der Tragödie (1872)

HL

Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874)

JGB

Jenseits von Gut und Böse (1886)

KGB

Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1975 ff.

KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1967 ff. M

Morgenröthe (1881)

MA

Menschliches, Allzumenschliches

NW

Nietzsche contra Wagner (1894)

PhtZ

Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873)

SE

Schopenhauer als Erzieher (1874)

UB

Unzeitgemässe Betrachtungen

WA

Der Fall Wagner (1888)

WB

Richard Wagner in Bayreuth (1878)

Za

Also sprach Zarathustra

Umfassender Überblick gistern zu e R n e t r ie l Mit detail aphern t e M d n u n che Namen, Sa

Konersmann (Hrsg.) Handbuch Kulturphilosophie 2012. 475 S. Geb. € 59,95 ISBN 978-3-476-02369-8

Der Sage nach begann alle Kultur mit dem Feuerraub des Prometheus – und heute ist der Begriff in Politik, Gesellschaft, Wissenschaft und Kunst relevanter denn je. Das Handbuch vertieft alle Bereiche der Kulturphilosophie und ihrer verwandten Disziplinen und Strömungen. Wer sind die maßgeblichen Vertreter? Wo positioniert sich der Kulturbegriff gegenüber Architektur, Natur und Technik oder Wirtschaft, Politik und Gesellschaft? Das Werk gibt grundlegende und ausführliche Antworten. X Zu Blumenberg, Cassirer, Herder, Levi-Strauss, Rousseau, Schiller, Simmel, Vico und anderen X Zu Begriffen wie Fest, Fremdheit, Gastlichkeit, Medium, Mythos, Tradition etc. Bequem bestellen: www.metzlerverlag.de [email protected]

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Philosophische Werke in sechs Bänden H e r au s g e g e b e n von c l au s -a r t u r s c h e i e r

BAND 6

F E L I X M E I N ER V ER L AG H A M BU RG

F R I E DR IC H N I ET Z S C H E

Zur Genealogie der Moral (1887)

Götzen-Dämmerung (1889)

M i t N ac h wor t e n von c l au s -A r t u r S c h e i e r

F E L I X M E I N E R V E R L AG H A M BU RG

PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 656

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie ; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http ://portal.dnb.de› abruf bar. ISBN 978-3-7873-2426-2 ISBN eBook: 978-3-7873-2433-0

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Inhalt

Zur Genealogie der Moral Eine Streitschrift

Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Erste Abhandlung: „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Zweite Abhandlung: „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes . . . . .

47

Dritte Abhandlung: was bedeuten asketische Ideale ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 Sprüche und Pfeile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Das Problem des Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Die „Vernunft“ in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Moral als Widernatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Die vier grossen Irrthümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Die „Verbesserer“ der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Was den Deutschen abgeht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

vi

Inhalt

Streifzüge eines Unzeitgemässen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Was ich den Alten verdanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Der Hammer redet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Nachworte des Herausgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Editorische Notiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 313

Friedrich Nietzsche

Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift.

Dem letztveröffentlichten „Jen seit s von Gut u nd Böse“ zur Ergänzung und Verdeutlichung beigegeben.

iii | iv

3

Vorrede.

1. Wir sind uns unbekannt, wir Erkennenden, wir selbst uns selbst : das hat seinen guten Grund. Wir haben nie nach uns gesucht, – wie sollte es geschehn, dass wir eines Tags uns f ä nd e n ? Mit Recht hat man gesagt : „wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz“ ; u n s e r Schatz ist, wo die Bienenkörbe unsrer Erkenntniss stehn. Wir sind immer dazu unterwegs, als geborne Flügelthiere und Honigsammler des Geistes, wir kümmern uns von Herzen eigentlich nur um Eins  – Etwas „heimzubringen“. Was das Leben sonst, die sogenannten „Erlebnisse“ angeht, – wer von uns hat dafür auch nur Ernst genug ? Oder Zeit genug ? Bei solchen Sachen waren wir, fürchte ich, nie recht „bei der Sache“ : wir haben eben unser Herz nicht dort – und nicht einmal unser Ohr ! Vielmehr wie ein Göttlich-Zerstreuter und In-sich-Versenkter, dem die Glocke eben mit aller Macht ihre zwölf Schläge des Mittags in’s Ohr gedröhnt hat, mit einem Male aufwacht und sich fragt „was hat es da eigentlich geschlagen ?“ so reiben auch wir uns mitunter h i nt e r d r e i n die Ohren und fragen, ganz erstaunt, ganz betreten „was haben wir da eigentlich erlebt ? mehr noch : wer s i nd wir eigentlich ?“ und zählen nach, hinterdrein, wie gesagt, alle | die zitternden zwölf Glockenschläge unsres Erlebnisses, unsres Lebens, unsres S e i n s – ach ! und verzählen uns dabei … Wir bleiben uns eben nothwendig fremd, wir verstehn uns nicht, wir mü s s e n uns verwechseln, für uns heisst der Satz in alle Ewigkeit „Jeder ist sich selbst der Fernste“, – für uns sind wir keine „Erkennenden“ …

4

Vorrede

IV | V

2. – Meine Gedanken über die He r k u n f t unserer moralischen Vorurtheile  – denn um sie handelt es sich in dieser Streitschrift – haben ihren ersten, sparsamen und vorläufigen Ausdruck in jener Aphorismen-Sammlung erhalten, die den Titel trägt „Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister“, und deren Niederschrift in Sorrent begonnen wurde, während eines Winters, welcher es mir erlaubte, Halt zu machen wie ein Wandrer Halt macht und das weite und gefährliche Land zu überschauen, durch das mein Geist bis dahin gewandert war. Dies geschah im Winter 1876–77 ; die Gedanken selbst sind älter. Es waren in der Hauptsache schon die gleichen Gedanken, die ich in den vorliegenden Abhandlungen wieder aufnehme : – hoffen wir, dass die lange Zwischenzeit ihnen gut gethan hat, dass sie reifer, heller, stärker, vollkommner geworden sind ! D a s s ich aber heute noch an ihnen festhalte, dass sie sich selber inzwischen immer fester an einander gehalten haben, ja in einander gewachsen und verwachsen sind, das stärkt in mir die frohe Zuversichtlichkeit, sie möchten von Anfang an in mir nicht einzeln, | nicht beliebig, nicht sporadisch entstanden sein, sondern aus einer gemeinsamen Wurzel heraus, aus einem in der Tiefe gebietenden, immer bestimmter redenden, immer Bestimmteres verlangenden Gr u nd w i l le n der Erkenntniss. So allein nämlich geziemt es sich bei einem Philosophen. Wir haben kein Recht darauf, irgend worin e i n z e l n zu sein : wir dürfen weder einzeln irren, noch einzeln die Wahrheit treffen. Vielmehr mit der Nothwendigkeit, mit der ein Baum seine Früchte trägt, wachsen aus uns unsre Gedanken, unsre Werthe, unsre Ja’s und Nein’s und Wenn’s und Ob’s – verwandt und bezüglich allesammt unter einander und Zeugnisse Eines Willens, Einer Gesundheit, Eines Erdreichs, Einer Sonne. – Ob sie euc h schmecken, diese unsre Früchte ?  – Aber was geht das die Bäume an ! Was geht das u n s an, uns Philosophen ! …

v | VI

Vorrede

5

3. Bei einer mir eignen Bedenklichkeit, die ich ungern eingestehe – sie bezieht sich nämlich auf die Mor a l , auf Alles, was bisher auf Erden als Moral gefeiert worden ist  –, einer Bedenklichkeit, welche in meinem Leben so früh, so unaufgefordert, so unaufhaltsam, so in Widerspruch gegen Umgebung, Alter, Beispiel, Herkunft auftrat, dass ich beinahe das Recht hätte, sie mein „A priori“ zu nennen, – musste meine Neugierde ebenso wie mein Verdacht bei Zeiten an der Frage Halt machen, we lc he n Ur s pr u n g eigentlich unser Gut und Böse habe. In der That gieng mir be|reits als dreizehnjährigem Knaben das Problem vom Ursprung des Bösen nach : ihm widmete ich, in einem Alter, wo man „halb Kinderspiele, halb Gott im Herzen“ hat, mein erstes litterarisches Kinderspiel, meine erste philosophische Schreibübung – und was meine damalige „Lösung“ des Problems anbetriff t, nun, so gab ich, wie es billig ist, Gott die Ehre und machte ihn zum Vat e r des Bösen. Wollte es gerade s o mein „A priori“ von mir ? jenes neue, unmoralische, mindestens immoralistische „A priori“ und der aus ihm redende ach ! so anti-Kantische, so räthselhafte „kategorische Imperativ“, dem ich inzwischen immer mehr Gehör und nicht nur Gehör geschenkt habe ? … Glücklicher Weise lernte ich bei Zeiten das theologische Vorurtheil von dem moralischen abscheiden und suchte nicht mehr den Ursprung des Bösen h i nt e r der Welt. Etwas historische und philologische Schulung, eingerechnet ein angeborner wählerischer Sinn in Hinsicht auf psychologische Fragen überhaupt, verwandelte in Kürze mein Problem in das andre : unter welchen Bedingungen erfand sich der Mensch jene Werthurtheile gut und böse ? u nd we lc he n We r t h h a b e n s ie s e l b s t ? Hemmten oder förderten sie bisher das menschliche Gedeihen ? Sind sie ein Zeichen von Nothstand, von Verarmung, von Entartung des Lebens ? Oder umgekehrt, verräth sich in ihnen die Fülle, die Kraft, der Wille des Lebens, sein Muth,

6

Vorrede

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seine Zuversicht, seine Zukunft ? – Darauf fand und wagte ich bei mir mancherlei Antworten, ich unterschied Zeiten, Völker, Ranggrade der Individuen, ich | spezialisirte mein Problem, aus den Antworten wurden neue Fragen, Forschungen, Vermuthungen, Wahrscheinlichkeiten : bis ich endlich ein eignes Land, einen eignen Boden hatte, eine ganze verschwiegene wachsende blühende Welt, heimliche Gärten gleichsam, von denen Niemand Etwas ahnen durfte … Oh wie wir g lüc k l ic h sind, wir Erkennenden, vorausgesetzt, dass wir nur lange genug zu schweigen wissen ! … 4. Den ersten Anstoss, von meinen Hypothesen über den Ursprung der Moral Etwas zu verlautbaren, gab mir ein klares, sauberes und kluges, auch altkluges Büchlein, in welchem mir eine umgekehrte und perverse Art von genealogischen Hypothesen, ihre eigentlich e n g l i s c h e Art, zum ersten Male deutlich entgegentrat, und das mich anzog – mit jener Anziehungskraft, die alles Entgegengesetzte, alles Antipodische hat. Der Titel des Büchleins war „der Ursprung der moralischen Empfi ndungen“ ; sein Verfasser Dr. Paul Rée ; das Jahr seines Erscheinens 1877. Vielleicht habe ich niemals Etwas gelesen, zu dem ich dermaassen, Satz für Satz, Schluss für Schluss, bei mir Nein gesagt hätte wie zu diesem Buche : doch ganz ohne Verdruss und Ungeduld. In dem vorher bezeichneten Werke, an dem ich damals arbeitete, nahm ich gelegentlich und ungelegentlich auf die Sätze jenes Buchs Bezug, nicht indem ich sie widerlegte  – was habe ich mit Widerlegungen zu schaffen ! – sondern, wie es | einem positiven Geiste zukommt, an Stelle des Unwahrscheinlichen das Wahrscheinlichere setzend, unter Umständen an Stelle eines Irrthums einen andern. Damals brachte ich, wie gesagt, zum ersten Male jene Herkunfts-Hypothesen an’s Tageslicht, denen diese Abhandlungen gewidmet sind, mit Ungeschick,

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wie ich mir selbst am letzten verbergen möchte, noch unfrei, noch ohne eine eigne Sprache für diese eignen Dinge und mit mancherlei Rückfälligkeit und Schwankung. Im Einzelnen vergleiche man, was ich Menschl. Allzumenschl. S. 51 über die doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse sage (nämlich aus der Sphäre der Vornehmen und der der Sklaven) ; insgleichen S. 119 ff. über Werth und Herkunft der asketischen Moral ; insgleichen S. 78. 82. II, 35 über die „Sittlichkeit der Sitte“, jene viel ältere und ursprünglichere Art Moral, welche toto coelo von der altruistischen Werthungsweise abliegt (in der Dr. Rée, gleich allen englischen Moralgenealogen, die moralische Werthungsweise a n s ic h sieht) ; insgleichen S. 74. Wanderer S. 29. Morgenr. S. 99 über die Herkunft der Gerechtigkeit als eines Ausgleichs zwischen ungefähr Gleich-Mächtigen (Gleichgewicht als Voraussetzung aller Verträge, folglich alles Rechts) ; insgleichen über die Herkunft der Strafe Wand. S. 25. 34., für die der terroristische Zweck weder essentiell, noch ursprünglich ist (wie Dr. Rée meint : – er ist ihr vielmehr erst eingelegt, unter bestimmten Umständen, und immer als ein Nebenbei, als etwas Hinzukommendes). | 5. Im Grunde lag mir gerade damals etwas viel Wichtigeres am Herzen als eignes oder fremdes Hypothesenwesen über den Ursprung der Moral (oder, genauer : letzteres allein um eines Zweckes willen, zu dem es eins unter vielen Mitteln ist). Es handelte sich für mich um den We r t h der Moral, – und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem grossen Lehrer Schopenhauer auseinanderzusetzen, an den wie an einen Gegenwärtigen jenes Buch, die Leidenschaft und der geheime Widerspruch jenes Buchs sich wendet (– denn auch jenes Buch war eine „Streitschrift“). Es handelte sich in Sonderheit um den Werth des „Unegoistischen“, der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbstopferungs-Instinkte, welche gerade Schopen-

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hauer so lange vergoldet, vergöttlicht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schliesslich als die „Werthe an sich“ übrig blieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, N e i n s a g t e. Aber gerade gegen d ie s e Instinkte redete aus mir ein immer grundsätzlicherer Argwohn, eine immer tiefer grabende Skepsis ! Gerade hier sah ich die g r o s s e Gefahr der Menschheit, ihre sublimste Lockung und Verführung – wohin doch ? in’s Nichts ? – gerade hier sah ich den Anfang vom Ende, das Stehenbleiben, die zurückblickende Müdigkeit, den Willen g e g e n das Leben sich wendend, die letzte Krankheit sich zärtlich und schwermüthig ankündigend : ich verstand die immer mehr um sich greifende Mitleids-Moral, welche selbst die Philosophen ergriff und krank machte, | als das unheimlichste Symptom unsrer unheimlich gewordnen europäischen Cultur, als ihren Umweg zu einem neuen Buddhismus ? zu einem Europäer-Buddhismus ? zum  – N i h i l i s mu s ?  … Diese moderne Philosophen-Bevorzugung und Überschätzung des Mitleidens ist nämlich etwas Neues : gerade über den Unwe r t h des Mitleidens waren bisher die Philosophen übereingekommen. Ich nenne nur Plato, Spinoza, La Rochefoucauld und Kant, vier Geister so verschieden von einander als möglich, aber in Einem Eins : in der Geringschätzung des Mitleidens. – 6. Dies Problem vom We r t he des Mitleids und der MitleidsMoral (– ich bin ein Gegner der schändlichen modernen Gefühlsverweichlichung –) scheint zunächst nur etwas Vereinzeltes, ein Fragezeichen für sich ; wer aber einmal hier hängen bleibt, hier fragen le r nt , dem wird es gehn, wie es mir ergangen ist :  – eine ungeheure neue Aussicht thut sich ihm auf, eine Möglichkeit fasst ihn wie ein Schwindel, jede Art Misstrauen, Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die Moral, an alle Moral wankt, – endlich wird eine neue Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese neue For d e r u n g :

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wir haben eine K r it i k der moralischen Werthe nöthig, der Wer t h d ieser Wer t he i st selbst erst ei n ma l i n Frage z u stel len – und dazu thut eine Kenntniss der Bedingungen und Umstände noth, aus denen sie gewachsen, unter denen sie sich ent|wickelt und verschoben haben (Moral als Folge, als Symptom, als Maske, als Tartüfferie, als Krankheit, als Missverständniss ; aber auch Moral als Ursache, als Heilmittel, als Stimulanz, als Hemmung, als Gift), wie eine solche Kenntniss weder bis jetzt da war, noch auch nur begehrt worden ist. Man nahm den We r t h dieser „Werthe“ als gegeben, als thatsächlich, als jenseits aller In-Frage-Stellung ; man hat bisher auch nicht im Entferntesten daran gezweifelt und geschwankt, „den Guten“ für höherwerthig als „den Bösen“ anzusetzen, höherwerthig im Sinne der Förderung, Nützlichkeit, Gedeihlichkeit in Hinsicht auf d e n Menschen überhaupt (die Zukunft des Menschen eingerechnet). Wie ? wenn das Umgekehrte die Wahrheit wäre ? Wie ? wenn im „Guten“ auch ein Rückgangssymptom läge, insgleichen eine Gefahr, eine Verführung, ein Gift, ein Narcoticum, durch das etwa die Gegenwart au f K o s t e n d e r Zu k u n f t lebte ? Vielleicht behaglicher, ungefährlicher, aber auch in kleinerem Stile, niedriger ? … So dass gerade die Moral daran Schuld wäre, wenn eine an sich mögliche hö c h s t e M ä c h t i g k e it u n d P r a c h t des Typus Mensch niemals erreicht würde ? So dass gerade die Moral die Gefahr der Gefahren wäre ? … 7. Genug, dass ich selbst, seitdem mir dieser Ausblick sich öffnete, Gründe hatte, mich nach gelehrten, kühnen und arbeitsamen Genossen umzusehn (ich thue es heute noch). Es gilt, das ungeheure, ferne | und so versteckte Land der Moral – der wirklich dagewesenen, wirklich gelebten Moral – mit lauter neuen Fragen und gleichsam mit neuen Augen zu bereisen : und heisst dies nicht beinahe so viel als dieses Land erst e ntd e c k e n ?  … Wenn ich dabei, unter Anderen, auch  an den

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genannten Dr. Rée dachte, so geschah es, weil ich gar nicht zweifelte, dass er von der Natur seiner Fragen selbst auf eine richtigere Methodik, um zu Antworten zu gelangen, gedrängt werden würde. Habe ich mich darin betrogen ? Mein Wunsch war es jedenfalls , einem so scharfen und unbetheiligten Auge eine bessere Richtung, die Richtung zur wirklichen H i s t o r ie d e r Mor a l zu geben und ihn vor solchem englischen Hypothesenwesen i n’s Bl aue noch zur rechten Zeit zu warnen. Es liegt ja auf der Hand, welche Farbe für einen MoralGenealogen hundert Mal wichtiger sein muss als gerade das Blaue : nämlich d a s G r au e , will sagen, das Urkundliche, das Wirklich-Feststellbare, das Wirklich-Dagewesene, kurz die ganze lange, schwer zu entziffernde Hieroglyphenschrift der menschlichen Moral-Vergangenheit !  – D ie s e war dem Dr. Rée unbekannt ; aber er hatte Darwin gelesen : – und so reichen sich in seinen Hypothesen auf eine Weise, die zum Mindesten unterhaltend ist, die Darwin’sche Bestie und der allermodernste bescheidene Moral-Zärtling, der „nicht mehr beisst“, artig die Hand, letzterer mit dem Ausdruck einer gewissen gutmüthigen und feinen Indolenz im Gesicht, in die selbst ein Gran von Pessimismus, von Ermüdung eingemischt ist : als ob es sich eigent|lich gar nicht lohne, alle diese Dinge – die Probleme der Moral – so ernst zu nehmen. Mir nun scheint es umgekehrt gar keine Dinge zu geben, die es mehr loh n t e n , dass man sie ernst nimmt ; zu welchem Lohne es zum Beispiel gehört, dass man eines Tags vielleicht die Erlaubniss erhält, sie he it e r zu nehmen. Die Heiterkeit nämlich oder, um es in meiner Sprache zu sagen, d ie f r öh l ic he W i s s e n s c h a f t – ist ein Lohn : ein Lohn für einen langen, tapferen, arbeitsamen und unterirdischen Ernst, der freilich nicht Jedermanns Sache ist. An dem Tage aber, wo wir aus vollem Herzen sagen : „vorwärts ! auch unsre alte Moral gehört i n d ie K omö d ie !“ haben wir für das dionysische Drama vom „Schicksal der Seele“ eine neue Verwicklung und Möglichkeit

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entdeckt – : und er wird sie sich schon zu Nutze machen, darauf darf man wetten, er, der grosse alte ewige Komödiendichter unsres Daseins ! … 8. – Wenn diese Schrift irgend Jemandem unverständlich ist und schlecht zu Ohren geht, so liegt die Schuld, wie mich dünkt, nicht nothwendig an mir. Sie ist deutlich genug, vorausgesetzt, was ich voraussetze, dass man zuerst meine früheren Schriften gelesen und einige Mühe dabei nicht gespart hat : diese sind in der That nicht leicht zugänglich. Was zum Beispiel meinen „Zarathustra“ anbetriff t, so lasse ich Niemanden als dessen Kenner gelten, den nicht jedes seiner Worte irgendwann einmal tief verwundet und irgendwann | einmal tief entzückt hat : erst dann nämlich darf er des Vorrechts geniessen, an dem halkyonischen Element, aus dem jenes Werk geboren ist, an seiner sonnigen Helle, Ferne, Weite und Gewissheit ehrfürchtig Antheil zu haben. In andern Fällen macht die aphoristische Form Schwierigkeit : sie liegt darin, dass man diese Form heute n ic ht s c hwe r g e nu g nimmt. Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht „entziffert“ ; vielmehr hat nun erst dessen Au s le g u n g zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. Ich habe in der dritten Abhandlung dieses Buchs ein Muster von dem dargeboten, was ich in einem solchen Falle „Auslegung“ nenne : – dieser Abhandlung ist ein Aphorismus vorangestellt, sie selbst ist dessen Commentar. Freilich thut, um dergestalt das Lesen als K u n s t zu üben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist – und darum hat es noch Zeit bis zur „Lesbarkeit“ meiner Schriften –, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls n ic ht „moderner Mensch“ sein muss : d a s W ie d e r k äue n… S i l s - M a r i a , Oberengadin, im Juli 1887. |

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Erste Abhandlung : „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“. |

1. – Diese englischen Psychologen, denen man bisher auch die einzigen Versuche zu danken hat, es zu einer Entstehungsgeschichte der Moral zu bringen,  – sie geben uns mit sich selbst kein kleines Räthsel auf ; sie haben sogar, dass ich es gestehe, eben damit, als leibhaftige Räthsel, etwas Wesentliches vor ihren Büchern voraus – s ie se lbst s i nd i nter e s sa nt ! Diese englischen Psychologen – was wollen sie eigentlich ? Man fi ndet sie, sei es nun freiwillig oder unfreiwillig, immer am gleichen Werke, nämlich die partie honteuse unsrer inneren Welt in den Vordergrund zu drängen und gerade dort das eigentlich Wirksame, Leitende, für die Entwicklung Entscheidende zu suchen, wo der intellektuelle Stolz des Menschen es am letzten zu fi nden w ü n s c ht e (zum Beispiel in der vis inertiae der Gewohnheit oder in der Vergesslichkeit oder in einer blinden und zufälligen Ideen-Verhäkelung und -Mechanik oder in irgend etwas Rein-Passivem, Automatischem, Reflexmässigem, Molekularem und Gründlich-Stupidem) – was treibt diese Psychologen eigentlich immer gerade in d ie s e Richtung ? Ist es ein heimlicher, hämischer, gemeiner, seiner selbst vielleicht uneingeständlicher Instinkt der Verkleinerung des Menschen ? Oder etwa ein pessimistischer Argwohn, das Misstrauen von enttäuschten, verdüsterten, giftig und grün gewordenen Idealisten ? Oder eine kleine unterirdische Feindschaft und Rancune gegen das Christenthum (und Plato), die | vielleicht nicht einmal über die Schwelle des Bewusstseins gelangt ist ? Oder gar ein lüsterner Geschmack am Befremdlichen, am Schmerzhaft-Paradoxen, am Fragwürdigen und Unsinnigen des Daseins ? Oder endlich – von Allem

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Erste Abhandlung

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Etwas, ein wenig Gemeinheit, ein wenig Verdüsterung, ein wenig Antichristlichkeit, ein wenig Kitzel und Bedürfniss nach Pfeffer ? … Aber man sagt mir, dass es einfach alte, kalte, langweilige Frösche seien, die am Menschen herum, in den Menschen hinein kriechen und hüpfen, wie als ob sie da so recht in ihrem Elemente wären, nämlich in einem S u m pf e. Ich höre das mit Widerstand, mehr noch, ich glaube nicht daran ; und wenn man wünschen darf, wo man nicht wissen kann, so wünsche ich von Herzen, dass es umgekehrt mit ihnen stehen möge, – dass diese Forscher und Mikroskopiker der Seele im Grunde tapfere, grossmüthige und stolze Thiere seien, welche ihr Herz wie ihren Schmerz im Zaum zu halten wissen und sich dazu erzogen haben, der Wahrheit alle Wünschbarkeit zu opfern, je d e r Wahrheit, sogar der schlichten, herben, hässlichen, widrigen, unchristlichen, unmoralischen Wahrheit … Denn es giebt solche Wahrheiten. – 2. Alle Achtung also vor den guten Geistern, die in diesen Historikern der Moral walten mögen ! Aber gewiss ist leider, dass ihnen der h i s t or i s c he G e i s t selber abgeht, dass sie gerade von allen guten Geistern der Historie selbst in Stich gelassen worden sind ! Sie denken allesammt, wie es nun einmal alter Philosophen-Brauch ist, we s e nt l ic h unhistorisch ; daran ist kein Zweifel. Die Stümperei ihrer Moral-Genealogie kommt gleich am Anfang zu Tage, da, wo es sich darum han|delt, die Herkunft des Begriffs und Urtheils „gut“ zu ermitteln. „Man hat ursprünglich – so dekretieren sie – unegoistische Handlungen von Seiten Derer gelobt und gut genannt, denen sie erwiesen wurden, also denen sie nüt z l ic h waren ; später hat man diesen Ursprung des Lobes ve r g e s s e n und die unegoistischen Handlungen einfach, weil sie g ewoh n he it s m ä s s i g immer als gut gelobt wurden, auch als gut empfunden – wie als ob sie an sich etwas Gutes wären.“ Man sieht sofort :

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„Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“

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diese erste Ableitung enthält bereits alle typischen Züge der englischen Psychologen-Idiosynkrasie, – wir haben „die Nützlichkeit“, „das Vergessen“, „die Gewohnheit“ und am Schluss „den Irrthum“, Alles als Unterlage einer Werthschätzung, auf welche der höhere Mensch bisher wie auf eine Art Vorrecht des Menschen überhaupt stolz gewesen ist. Dieser Stolz s ol l gedemüthigt, diese Werthschätzung entwerthet werden : ist das erreicht ? … Nun liegt für mich erstens auf der Hand, dass von dieser Theorie der eigentliche Entstehungsheerd des Begriffs „gut“ an falscher Stelle gesucht und angesetzt wird : das Urtheil „gut“ rührt n ic ht von Denen her, welchen „Güte“ erwiesen wird ! Vielmehr sind es „die Guten“ selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften. Aus diesem P a t ho s d e r D i s t a n z heraus haben sie sich das Recht, Werthe zu schaffen, Namen der Werthe auszuprägen, erst genommen : was gieng sie die Nützlichkeit an ! Der Gesichtspunkt der Nützlichkeit ist gerade in Bezug auf ein solches heisses Herausquellen oberster rang-ord|nender, rang-abhebender Werthurtheile so fremd und unangemessen wie möglich : hier ist eben das Gefühl bei einem Gegensatze jenes niedrigen Wärmegrades angelangt, den jede berechnende Klugheit, jeder Nützlichkeits-Calcul voraussetzt, – und nicht für einmal, nicht für eine Stunde der Ausnahme, sondern für die Dauer. Das Pathos der Vornehmheit und Distanz, wie gesagt, das dauernde und dominirende Gesammt- und Grundgefühl einer höheren herrschenden Art im Verhältniss zu einer niederen Art, zu einem „Unten“ – d a s ist der Ursprung des Gegensatzes „gut“ und „schlecht“. (Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen : sie sagen „das i s t das

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und das“, sie siegeln jegliches Ding und Geschehen mit einem Laute ab und nehmen es dadurch gleichsam in Besitz.) Es liegt an diesem Ursprunge, dass das Wort „gut“ sich von vornherein durchaus n ic ht nothwendig an „unegoistische“ Handlungen anknüpft : wie es der Aberglaube jener Moralgenealogen ist. Vielmehr geschieht es erst bei einem N ie d e r g a n g e aristokratischer Werthurtheile, dass sich dieser ganze Gegensatz „egoistisch“ „unegoistisch“ dem menschlichen Gewissen mehr und mehr aufdrängt, – es ist, um mich meiner Sprache zu bedienen, d e r He e r d e n i n s t i n k t , der mit ihm endlich zu Worte (auch zu Wor t e n) kommt. Und auch dann dauert es noch lange, bis dieser Instinkt in dem Maasse Herr wird, dass die moralische Werthschätzung bei jenem Gegensatze geradezu hängen und stecken bleibt (wie dies zum Beispiel im gegenwärtigen Europa der Fall ist : heute herrscht das Vorurtheil, welches „moralisch“, „unegoistisch“, „désinteressé“ als gleichwerthige | Begriffe nimmt, bereits mit der Gewalt einer „fi xen Idee“ und Kopfkrankheit). 3. Zweitens aber : ganz abgesehen von der historischen Unhaltbarkeit jener Hypothese über die Herkunft des Werthur theils „gut“, krankt sie an einem psychologischen Widersinn in sich selbst. Die Nützlichkeit der unegoistischen Handlung soll der Ursprung ihres Lobes sein, und dieser Ursprung soll ve r g e s s e n worden sein :  – wie ist dies Vergessen auch nur mög l i c h ? Hat vielleicht die Nützlichkeit solcher Handlungen irgend wann einmal aufgehört ? Das Gegentheil ist der Fall : diese Nützlichkeit ist vielmehr die Alltagserfahrung zu allen Zeiten gewesen, Etwas also, das fortwährend immer neu unterstrichen wurde ; folglich, statt aus dem Bewusstsein zu verschwinden, statt vergessbar zu werden, sich dem Bewusstsein mit immer grösserer Deutlichkeit eindrücken musste. Um wie viel vernünftiger ist jene entgegengesetzte Theorie (sie

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ist deshalb nicht wahrer –), welche zum Beispiel von Herbert Spencer vertreten wird : der den Begriff „gut“ als wesensgleich mit dem Begriff „nützlich“, „zweckmässig“ ansetzt, so dass in den Urtheilen „gut“ und „schlecht“ die Menschheit gerade ihre u nve r g e s s n e n und u nve r g e s s b a r e n Erfahrungen über nützlich-zweckmässig, über schädlich-unzweckmässig aufsummirt und sanktionirt habe. Gut ist, nach dieser Theorie, was sich von jeher als nützlich bewiesen hat : damit darf es als „werthvoll im höchsten Grade“, als „werthvoll an sich“ Geltung behaupten. Auch dieser Weg der Erklärung ist, wie gesagt, falsch, aber wenigstens ist die Erklärung selbst in sich vernünftig und psychologisch haltbar. | 4. – Den Fingerzeig zum r e c ht e n Wege gab mir die Frage, was eigentlich die von den verschiedenen Sprachen ausgeprägten Bezeichnungen des „Guten“ in etymologischer Hinsicht zu bedeuten haben : da fand ich, dass sie allesammt auf die g le ic he B e g r i f f s -Ve r w a nd lu n g zurückleiten, – dass überall „vornehm“, „edel“ im ständischen Sinne der Grundbegriff ist, aus dem sich „gut“ im Sinne von „seelisch-vornehm“, „edel“, von „seelisch-hochgeartet“, „seelisch-privilegirt“ mit Nothwendigkeit heraus entwickelt : eine Entwicklung, die immer parallel mit jener anderen läuft, welche „gemein“, „pöbelhaft“, „niedrig“ schliesslich in den Begriff „schlecht“ übergehen macht. Das beredteste Beispiel für das Letztere ist das deutsche Wort „schlecht“ selber : als welches mit „schlicht“ identisch ist – vergleiche „schlechtweg“, „schlechterdings“ – und ursprünglich den schlichten, den gemeinen Mann noch ohne einen verdächtigenden Seitenblick, einfach im Gegensatz zum Vornehmen bezeichnete. Um die Zeit des dreissigjährigen Kriegs ungefähr, also spät genug, verschiebt sich dieser Sinn in den jetzt gebräuchlichen. – Dies scheint mir in Betreff der MoralGenealogie eine we s e nt l ic he Einsicht ; dass sie so spät erst

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gefunden wird, liegt an dem hemmenden Einfluss, den das demokratische Vorurtheil innerhalb der modernen Welt in Hinsicht auf alle Fragen der Herkunft ausübt. Und dies bis in das anscheinend objektivste Gebiet der Naturwissenschaft und Physiologie hinein, wie hier nur angedeutet werden soll. Welchen Unfug aber dieses Vorurtheil, einmal bis zum Hass entzügelt, in Sonderheit für Moral und Historie anrichten kann, zeigt der berüchtigte Fall Buckle’s ; der Pleb e ji s mu s des mo|dernen Geistes, der englischer Abkunft ist, brach da einmal wieder auf seinem heimischen Boden heraus, heftig wie ein schlammichter Vulkan und mit jener versalzten, überlauten, gemeinen Beredtsamkeit, mit der bisher alle Vulkane geredet haben. – 5. In Hinsicht auf u n s e r Problem, das aus guten Gründen ein s t i l le s Problem genannt werden kann und sich wählerisch nur an wenige Ohren wendet, ist es von keinem kleinen Interesse, festzustellen, dass vielfach noch in jenen Worten und Wurzeln, die „gut“ bezeichnen, die Hauptnuance durchschimmert, auf welche hin die Vornehmen sich eben als Menschen höheren Ranges fühlten. Zwar benennen sie sich vielleicht in den häufigsten Fällen einfach nach ihrer Überlegenheit an Macht (als „die Mächtigen“, „die Herren“, „die Gebietenden“) oder nach dem sichtbarsten Abzeichen dieser Überlegenheit, zum Beispiel als „die Reichen“, „die Besitzenden“ (das ist der Sinn von arya ; und entsprechend im Eranischen und Slavischen). Aber auch nach einem t y p i s c he n C h a r a k t e r z u g e : und dies ist der Fall, der uns hier angeht. Sie heissen sich zum Beispiel „die Wahrhaftigen“ : voran der griechische Adel, dessen Mundstück der Megarische Dichter Theognis ist. Das dafür ausgeprägte Wort σλς bedeutet der Wurzel nach Einen, der i s t , der Realität hat, der wirklich ist, der wahr ist ; dann, mit einer subjektiven Wendung, den Wahren als den Wahrhaftigen : in dieser Phase der Begriffs-

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Verwandlung wird es zum Schlag- und Stichwort des Adels und geht ganz und gar in den Sinn „adelig“ über, zur Abgrenzung vom lü g e n h a f t e n gemeinen Mann, so wie Theognis ihn nimmt | und schildert, – bis endlich das Wort, nach dem Niedergange des Adels, zur Bezeichnung der seelischen noblesse übrig bleibt und gleichsam reif und süss wird. Im Worte κακς wie in δειλς (der Plebejer im Gegensatz zum γας) ist die Feigheit unterstrichen : dies giebt vielleicht einen Wink, in welcher Richtung man die etymologische Herkunft des mehrfach deutbaren γας zu suchen hat. Im lateinischen malus (dem ich μλας zur Seite stelle) könnte der gemeine Mann als der Dunkelfarbige, vor allem als der Schwarzhaarige („hic niger est –“) gekennzeichnet sein, als der vorarische Insasse des italischen Bodens, der sich von der herrschend gewordenen blonden, nämlich arischen Eroberer-Rasse durch die Farbe am deutlichsten abhob ; wenigstens bot mir das Gälische den genau entsprechenden Fall, – fi n (zum Beispiel im Namen Fin-Gal), das abzeichnende Wort des Adels, zuletzt der Gute, Edle, Reine, ursprünglich der Blondkopf, im Gegensatz zu den dunklen, schwarzhaarigen Ureinwohnern. Die Kelten, beiläufig gesagt, waren durchaus eine blonde Rasse ; man thut Unrecht, wenn man jene Streifen einer wesentlich dunkelhaarigen Bevölkerung, die sich auf sorgfältigeren ethnographischen Karten Deutschlands bemerkbar machen, mit irgend welcher keltischen Herkunft und Blutmischung in Zusammenhang bringt, wie dies noch Virchow thut : vielmehr schlägt an diesen Stellen die vor a r i s c he Bevölkerung Deutschlands vor. (Das Gleiche gilt beinahe für ganz Europa : im Wesentlichen hat die unterworfene Rasse schliesslich daselbst wieder die Oberhand bekommen, in Farbe, Kürze des Schädels, vielleicht sogar in den intellektuellen und socialen Instinkten : wer steht uns dafür, ob nicht die moderne Demokratie, der noch modernere | Anarchismus und namentlich jener Hang zur „Commune“, zur primitivsten Gesellschafts-

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Form, der allen Socialisten Europa’s jetzt gemeinsam ist, in der Hauptsache einen ungeheuren Nac h s c h l a g zu bedeuten hat  – und dass die Eroberer- und H e r r e n - R a s s e , die der Arier, auch physiologisch im Unterliegen ist ? …) Das lateinische bonus glaube ich als „den Krieger“ auslegen zu dürfen : vorausgesetzt, dass ich mit Recht bonus auf ein älteres duonus zurückführe (vergleiche bellum = duellum = duenlum, worin mir jenes duonus erhalten scheint). Bonus somit als Mann des Zwistes, der Entzweiung (duo), als Kriegsmann : man sieht, was im alten Rom an einem Manne seine „Güte“ ausmachte. Unser deutsches „Gut“ selbst : sollte es nicht „den Göttlichen“, den Mann „göttlichen Geschlechts“ bedeuten ? Und mit dem Volks- (ursprünglich Adels-)Namen der Gothen identisch sein ? Die Gründe zu dieser Vermuthung gehören nicht hierher. – 6. Von dieser Regel, dass der politische Vorrangs-Begriff sich immer in einen seelischen Vorrangs-Begriff auslöst, macht es zunächst noch keine Ausnahme (obgleich es Anlass zu Ausnahmen giebt), wenn die höchste Kaste zugleich die p r ie s t e rl ic he Kaste ist und folglich zu ihrer Gesammt-Bezeichnung ein Prädikat bevorzugt, das an ihre priesterliche Funktion erinnert. Da tritt zum Beispiel „rein“ und „unrein“ sich zum ersten Male als Ständeabzeichen gegenüber ; und auch hier kommt später ein „gut“ und ein „schlecht“ in einem nicht mehr ständischen Sinne zur Entwicklung. Im Übrigen sei man davor gewarnt, diese Begriffe „rein“ und „unrein“ nicht von vornherein zu schwer, zu weit oder gar symbolisch zu nehmen : alle Begriffe | der älteren Menschheit sind vielmehr anfänglich in einem uns kaum ausdenkbaren Maasse grob, plump, äusserlich, eng, geradezu und insbesondere u n s y m b ol i s c h verstanden worden. Der „Reine“ ist von Anfang an bloss ein Mensch, der sich wäscht, der sich gewisse Speisen verbietet, die Hautkrankheiten nach sich ziehen, der nicht mit

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den schmutzigen Weibern des niederen Volkes schläft, der einen Abscheu vor Blut hat, – nicht mehr, nicht viel mehr ! Andrerseits erhellt es freilich aus der ganzen Art einer wesentlich priesterlichen Aristokratie, warum hier gerade frühzeitig sich die Werthungs-Gegensätze auf eine gefährliche Weise verinnerlichen und verschärfen konnten ; und in der That sind durch sie schliesslich Klüfte zwischen Mensch und Mensch aufgerissen worden, über die selbst ein Achill der Freigeisterei nicht ohne Schauder hinwegsetzen wird. Es ist von Anfang an etwas Un g e s u nd e s in solchen priesterlichen Aristokratien und in den daselbst herrschenden, dem Handeln abgewendeten, theils brütenden, theils gefühls-explosiven Gewohnheiten, als deren Folge jene den Priestern aller Zeiten fast unvermeidlich anhaftende intestinale Krankhaftigkeit und Neurasthenie erscheint ; was aber von ihnen selbst gegen diese ihre Krankhaftigkeit als Heilmittel erfunden worden ist, – muss man nicht sagen, dass es sich zuletzt in seinen Nachwirkungen noch hundert Mal gefährlicher erwiesen hat, als die Krankheit, von der es erlösen sollte ? Die Menschheit selbst krankt noch an den Nachwirkungen dieser priesterlichen Kur-Naivetäten ! Denken wir zum Beispiel an gewisse Diätformen (Vermeidung des Fleisches), an das Fasten, an die geschlechtliche Enthaltsamkeit, an die Flucht „in die Wüste“ (Weir Mitchell’sche Isolirung, freilich ohne die | darauf folgende Mastkur und Überernährung, in der das wirksamste Gegenmittel gegen alle Hysterie des asketischen Ideals besteht) : hinzugerechnet die ganze sinnenfeindliche, faul- und raffi nirtmachende Metaphysik der Priester, ihre Selbst-Hypnotisirung nach Art des Fakirs und Brahmanen  – Brahman als gläserner Knopf und fi xe Idee benutzt – und das schliessliche, nur zu begreifl iche allgemeine Satthaben mit seiner Radikalkur, dem Nic ht s (oder Gott : – das Verlangen nach einer unio mystica mit Gott ist das Verlangen des Buddhisten in’s Nichts, Nirvâna  – und nicht mehr !) Bei den Priestern wird

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eben A l le s gefährlicher, nicht nur Kurmittel und Heilkünste, sondern auch Hochmuth, Rache, Scharfsinn, Ausschweifung, Liebe, Herrschsucht, Tugend, Krankheit ; – mit einiger Billigkeit liesse sich allerdings auch hinzufügen, dass erst auf dem Boden dieser we s e nt l ic h g e f ä h rl ic he n Daseinsform des Menschen, der priesterlichen, der Mensch überhaupt e i n i n t e r e s s a nt e s T h ie r geworden ist, dass erst hier die menschliche Seele in einem höheren Sinne Tie f e bekommen hat und b ö s e geworden ist – und das sind ja die beiden Grundformen der bisherigen Überlegenheit des Menschen über sonstiges Gethier ! … 7. – Man wird bereits errathen haben, wie leicht sich die priesterliche Werthungs-Weise von der ritterlich-aristokratischen abzweigen und dann zu deren Gegensatze fortentwickeln kann ; wozu es in Sonderheit jedes Mal einen Anstoss giebt, wenn die Priesterkaste und die Kriegerkaste einander eifersüchtig entgegentreten und über den Preis mit einander nicht einig werden wollen. Die ritterlich-aristokratischen Werthur theile | haben zu ihrer Voraussetzung eine mächtige Leiblichkeit, eine blühende, reiche, selbst überschäumende Gesundheit, sammt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer, Jagd, Tanz, Kampfspiele und Alles überhaupt, was starkes, freies, frohgemuthes Handeln in sich schliesst. Die priesterlich-vornehme Werthungs-Weise hat – wir sahen es – andere Voraussetzungen : schlimm genug für sie, wenn es sich um Krieg handelt ! Die Priester sind, wie bekannt, die b ö s e s t e n Fe i nd e – weshalb doch ? Weil sie die ohnmächtigsten sind. Aus der Ohnmacht wächst bei ihnen der Hass in’s Ungeheure und Unheimliche, in’s Geistigste und Giftigste. Die ganz grossen Hasser in der Weltgeschichte sind immer Priester gewesen, auch die geistreichsten Hasser :  – gegen den Geist der priesterlichen Rache kommt überhaupt aller übrige Geist kaum in Betracht. Die menschliche Geschichte wäre eine gar

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zu dumme Sache ohne den Geist, der von den Ohnmächtigen her in sie gekommen ist : – nehmen wir sofort das grösste Beispiel. Alles, was auf Erden gegen „die Vornehmen“, „die Gewaltigen“, „die Herren“, „die Machthaber“ gethan worden ist, ist nicht der Rede werth im Vergleich mit dem, was d ie Juden gegen sie gethan haben : die Juden, jenes priesterliche Volk, das sich an seinen Feinden und Überwältigern zuletzt nur durch eine radikale Umwerthung von deren Werthen, also durch einen Akt der g ei st i g sten R ac he Genugthuung zu schaffen wusste. So allein war es eben einem priesterlichen Volke gemäss, dem Volke der zurückgetretensten priesterlichen Rachsucht. Die Juden sind es gewesen, die gegen die aristokratische Werthgleichung (gut = vornehm = mächtig = schön = glücklich = gottgeliebt) mit einer furchteinflössenden | Folgerichtigkeit die Umkehrung gewagt und mit den Zähnen des abgründlichsten Hasses (des Hasses der Ohnmacht) festgehalten haben, nämlich „die Elenden sind allein die Guten, die Armen, Ohnmächtigen, Niedrigen sind allein die Guten, die Leidenden, Entbehrenden, Kranken, Hässlichen sind auch die einzig Frommen, die einzig Gottseligen, für sie allein giebt es Seligkeit, – dagegen ihr, ihr Vornehmen und Gewaltigen, ihr seid in alle Ewigkeit die Bösen, die Grausamen, die Lüsternen, die Unersättlichen, die Gottlosen, ihr werdet auch ewig die Unseligen, Verfluchten und Verdammten sein !“ … Man weiss, we r die Erbschaft dieser jüdischen Umwerthung gemacht hat … Ich erinnere in Betreff der ungeheuren und über alle Maassen verhängnissvollen Initiative, welche die Juden mit dieser grundsätzlichsten aller Kriegserklärungen gegeben haben, an den Satz, auf den ich bei einer anderen Gelegenheit gekommen bin („Jenseits von Gut und Böse“ p. 118) – dass nämlich mit den Juden der Sk laven au f st a nd i n der Mo r a l beginnt : jener Aufstand, welcher eine zweitausendjährige Geschichte hinter sich hat und der uns heute nur deshalb aus den Augen gerückt ist, weil er – siegreich gewesen ist …

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8. – Aber ihr versteht das nicht ? Ihr habt keine Augen für Etwas, das zwei Jahrtausende gebraucht hat, um zum Siege zu kommen ? … Daran ist Nichts zum Verwundern : alle l a n g e n Dinge sind schwer zu sehn, zu übersehn. D a s aber ist das Ereigniss : aus dem Stamme jenes Baums der Rache und des Hasses, des jüdischen Hasses – des tiefsten und sublimsten, nämlich Ideale schaffenden, Werthe umschaffenden Hasses, | dessen Gleichen nie auf Erden dagewesen ist  – wuchs etwas ebenso Unvergleichliches heraus, eine neue L ieb e , die tiefste und sublimste aller Arten Liebe : – und aus welchem andern Stamme hätte sie auch wachsen können ? … Dass man aber ja nicht vermeine, sie sei etwa als die eigentliche Verneinung jenes Durstes nach Rache, als der Gegensatz des jüdischen Hasses emporgewachsen ! Nein, das Umgekehrte ist die Wahrheit ! Diese Liebe wuchs aus ihm heraus, als seine Krone, als die triumphirende, in der reinsten Helle und Sonnenfülle sich breit und breiter entfaltende Krone, welche mit demselben Drange gleichsam im Reiche des Lichts und der Höhe auf die Ziele jenes Hasses, auf Sieg, auf Beute, auf Verführung aus war, mit dem die Wurzeln jenes Hasses sich immer gründlicher und begehrlicher in Alles, was Tiefe hatte und böse war, hinunter senkten. Dieser Jesus von Nazareth, als das leibhafte Evangelium der Liebe, dieser den Armen, den Kranken, den Sündern die Seligkeit und den Sieg bringende „Erlöser“ – war er nicht gerade die Verführung in ihrer unheimlichsten und unwiderstehlichsten Form, die Verführung und der Umweg zu eben jenen j ü d i s c he n Werthen und Neuerungen des Ideals ? Hat Israel nicht gerade auf dem Umwege dieses „Erlösers“, dieses scheinbaren Widersachers und Auflösers Israel’s, das letzte Ziel seiner sublimen Rachsucht erreicht ? Gehört es nicht in die geheime schwarze Kunst einer wahrhaft g r o s s e n Politik der Rache, einer weitsichtigen, unterirdischen, langsam-greifenden und vorausrechnenden Rache, dass Israel

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selber das eigentliche Werkzeug seiner Rache vor aller Welt wie etwas Todfeindliches verleugnen und an’s Kreuz schlagen musste, damit „alle Welt“, nämlich alle Gegner Israel’s unbedenklich ge|rade an diesem Köder anbeissen konnten ? Und wüsste man sich andrerseits, aus allem Raffi nement des Geistes heraus, überhaupt noch einen g e f ä h rl ic he r e n Köder auszudenken ? Etwas, das an verlockender, berauschender, betäubender, verderbender Kraft jenem Symbol des „heiligen Kreuzes“ gleichkäme, jener schauerlichen Paradoxie eines „Gottes am Kreuze“, jenem Mysterium einer unausdenkbaren letzten äussersten Grausamkeit und Selbstkreuzigung Gottes z u m He i le d e s Me n s c he n ? … Gewiss ist wenigstens, dass sub hoc signo Israel mit seiner Rache und Umwerthung aller Werthe bisher über alle anderen Ideale, über alle vor ne h mer e n Ideale immer wieder triumphirt hat. – – 9. – „Aber was reden Sie noch von vor ne h me r e n Idealen ! Fügen wir uns in die Thatsachen : das Volk hat gesiegt – oder „die Sklaven“, oder „der Pöbel“, oder „die Heerde“, oder wie Sie es zu nennen belieben – wenn dies durch die Juden geschehen ist, wohlan ! so hatte nie ein Volk eine welthistorischere Mission. „Die Herren“ sind abgethan ; die Moral des gemeinen Mannes hat gesiegt. Man mag diesen Sieg zugleich als eine Blutvergiftung nehmen (er hat die Rassen durch einander gemengt) – ich widerspreche nicht ; unzweifelhaft ist aber diese Intoxikation g e lu n g e n . Die „Erlösung“ des Menschengeschlechtes (nämlich von „den Herren“) ist auf dem besten Wege ; Alles verjüdelt oder verchristlicht oder verpöbelt sich zusehends (was liegt an Worten !). Der Gang dieser Vergiftung, durch den ganzen Leib der Menschheit hindurch, scheint unaufhaltsam, ihr tempo und Schritt darf sogar von nun an immer langsamer, feiner, unhörbarer, besonnener | sein  – man hat ja Zeit  … Kommt der Kirche in dieser Absicht heute noch

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eine not hwe nd i g e Aufgabe, überhaupt noch ein Recht auf Dasein zu ? Oder könnte man ihrer entrathen ? Quaeritur. Es scheint, dass sie jenen Gang eher hemmt und zurückhält, statt ihn zu beschleunigen ? Nun, eben das könnte ihre Nützlichkeit sein … Sicherlich ist sie nachgerade etwas Gröbliches und Bäurisches, das einer zarteren Intelligenz, einem eigentlich modernen Geschmacke widersteht. Sollte sie sich zum Mindesten nicht etwas raffi nieren ? … Sie entfremdet heute mehr, als dass sie verführte … Wer von uns würde wohl Freigeist sein, wenn es nicht die Kirche gäbe ? Die Kirche widersteht uns, n ic ht ihr Gift … Von der Kirche abgesehn lieben auch wir das Gift …“ – Dies der Epilog eines „Freigeistes“ zu meiner Rede, eines ehrlichen Thiers, wie er reichlich verrathen hat, überdies eines Demokraten ; er hatte mir bis dahin zugehört und hielt es nicht aus, mich schweigen zu hören. Für mich nämlich giebt es an dieser Stelle viel zu schweigen. – 10. Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Re s s e nt i me nt selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert : das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. Während alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem „Ausserhalb“, zu einem „Anders“, zu einem „Nicht-selbst“ : und d ie s Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks – diese not hwe nd i g e Richtung nach Aussen statt zurück auf sich | selber – gehört eben zum Ressentiment : die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion. Das Umgekehrte ist bei der vornehmen Werthungsweise der Fall : sie agirt und wächst

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spontan, sie sucht ihren Gegensatz nur auf, um zu sich selber noch dankbarer, noch frohlockender Ja zu sagen, – ihr negativer Begriff „niedrig“ „gemein“ „schlecht“ ist nur ein nachgebornes blasses Contrastbild im Verhältniss zu ihrem positiven, durch und durch mit Leben und Leidenschaft durchtränkten Grundbegriff „wir Vornehmen, wir Guten, wir Schönen, wir Glück lichen !“ Wenn die vornehme Werthungsweise sich vergreift und an der Realität versündigt, so geschieht dies in Bezug auf die Sphäre, welche ihr n ic ht genügend bekannt ist, ja gegen deren wirkliches Kennen sie sich spröde zur Wehre setzt : sie verkennt unter Umständen die von ihr verachtete Sphäre, die des gemeinen Mannes, des niedren Volks ; andrerseits erwäge man, dass jedenfalls der Affekt der Verachtung, des Herabblickens, des Überlegen-Blickens, gesetzt, dass er das Bild des Verachteten f ä l s c ht , bei weitem hinter der Fälschung zurückbleiben wird, mit der der zurückgetretene Hass, die Rache des Ohnmächtigen sich an seinem Gegner – in effigie natürlich  – vergreifen wird. In der That ist in der Verachtung zu viel Nachlässigkeit, zu viel Leicht-Nehmen, zu viel Wegblicken und Ungeduld mit eingemischt, selbst zu viel eignes Frohgefühl, als dass sie im Stande wäre, ihr Objekt zum eigentlichen Zerrbild und Scheusal umzuwandeln. Man überhöre doch die beinahe wohlwollenden nuances nicht, welche zum Beispiel der griechische Adel | in alle Worte legt, mit denen er das niedere Volk von sich abhebt ; wie sich fortwährend eine Art Bedauern, Rücksicht, Nachsicht einmischt und anzuckert, bis zu dem Ende, dass fast alle Worte, die dem gemeinen Manne zukommen, schliesslich als Ausdrücke für „unglücklich“ „bedauernswürdig“ übrig geblieben sind (vergleiche δειλς, δελαιος, ποvηρς, μοχηρς, letztere zwei eigentlich den gemeinen Mann als Arbeitssklaven und Lastthier kennzeichnend)  – und wie andrerseits „schlecht“ „niedrig“ „unglücklich“ nie wieder aufgehört haben, für das griechische Ohr in Einen Ton auszuklingen, mit einer Klangfarbe, in der

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„unglücklich“ überwiegt : dies als Erbstück der alten edleren aristokratischen Werthungsweise, die sich auch im Verachten nicht verleugnet (– Philologen seien daran erinnert, in welchem Sinne οϊζυρς, νολβος, τλμων, δυςτυχεν, ξυμφορ" gebraucht werden). Die „Wohlgeborenen“ f ü h lt e n sich eben als die „Glücklichen“ ; sie hatten ihr Glück nicht erst durch einen Blick auf ihre Feinde künstlich zu construiren, unter Umständen einzureden, e i n z u lü g e n (wie es alle Menschen des Ressentiment zu thun pflegen) ; und ebenfalls wussten sie, als volle, mit Kraft überladene, folglich not hwe nd i g aktive Menschen, von dem Glück das Handeln nicht abzutrennen, – das Thätigsein wird bei ihnen mit Nothwendigkeit in’s Glück hineingerechnet (woher ε$ πρ"ττειν seine Herkunft nimmt) – Alles sehr im Gegensatz zu dem „Glück“ auf der Stufe der Ohnmächtigen, Gedrückten, an giftigen und feindseligen Gefühlen Schwärenden, bei denen es wesentlich als Narcose, Betäubung, Ruhe, Frieden, „Sabbat“, Gemüths-Ausspannung und Gliederstrecken, kurz p a s s iv i s c h auftritt. Während der vornehme Mensch vor sich selbst mit Vertrauen und Offenheit lebt (γενναος „edelbürtig“ | unterstreicht die nuance „aufrichtig“ und auch wohl „naiv“), so ist der Mensch des Ressentiment weder aufrichtig, noch naiv, noch mit sich selber ehrlich und geradezu. Seine Seele s c h ie lt ; sein Geist liebt Schlupfwinkel, Schleichwege und Hinterthüren, alles Versteckte muthet ihn an als s e i ne Welt, s e i ne Sicherheit, s e i n Labsal ; er versteht sich auf das Schweigen, das Nicht-Vergessen, das Warten, das vorläufige Sich-verkleinern, Sich-demüthigen. Eine Rasse solcher Menschen des Ressentiment wird nothwendig endlich k lü g e r sein als irgend eine vornehme Rasse, sie wird die Klugheit auch in ganz andrem Maasse ehren : nämlich als eine Existenzbedingung ersten Ranges, während die Klugheit bei vornehmen Menschen leicht einen feinen Beigeschmack von Luxus und Raffi nement an sich hat : – sie ist eben hier lange nicht so wesentlich, als die vollkommne Funktions-

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Sicherheit der regulirenden u n b e w u s s t e n Instinkte oder selbst eine gewisse Unklugheit, etwa das tapfre Drauflosgehn, sei es auf die Gefahr, sei es auf den Feind, oder jene schwärmerische Plötzlichkeit von Zorn, Liebe, Ehrfurcht, Dankbarkeit und Rache, an der sich zu allen Zeiten die vornehmen Seelen wiedererkannt haben. Das Ressentiment des vornehmen Menschen selbst, wenn es an ihm auftritt, vollzieht und erschöpft sich nämlich in einer sofortigen Reaktion, es ve r g i ft et darum nicht : andrerseits tritt es in unzähligen Fällen gar nicht auf, wo es bei allen Schwachen und Ohnmächtigen unvermeidlich ist. Seine Feinde, seine Unfälle, seine Unt h at e n selbst nicht lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen starker voller Naturen, in denen ein Überschuss plastischer, nachbildender, ausheilender, auch vergessen machender Kraft ist (ein gutes Beispiel dafür aus der | modernen Welt ist Mirabeau, welcher kein Gedächtniss für Insulte und Niederträchtigkeiten hatte, die man an ihm begieng, und der nur deshalb nicht vergeben konnte, weil er – vergass). Ein solcher Mensch schüttelt eben viel Gewürm mit Einem Ruck von sich, das sich bei Anderen eingräbt ; hier allein ist auch das möglich, gesetzt, dass es überhaupt auf Erden möglich ist – die eigentliche „ L ieb e zu seinen Feinden“. Wie viel Ehrfurcht vor seinen Feinden hat schon ein vornehmer Mensch ! – und eine solche Ehrfurcht ist schon eine Brücke zur Liebe … Er verlangt ja seinen Feind für sich, als seine Auszeichnung, er hält ja keinen andren Feind aus, als einen solchen, an dem Nichts zu verachten und s e h r V ie l zu ehren ist ! Dagegen stelle man sich „den Feind“ vor, wie ihn der Mensch des Ressentiment concipirt – und hier gerade ist seine That, seine Schöpfung : er hat „den bösen Feind“ concipirt, „d e n B ö s e n“, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen „Guten“ ausdenkt – sich selbst ! …

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11. Gerade umgekehrt also wie bei dem Vornehmen, der den Grundbegriff „gut“ voraus und spontan, nämlich von sich aus concipirt und von da aus erst eine Vorstellung von „schlecht“ sich schaff t ! Dies „schlecht“ vornehmen Ursprungs und jenes „böse“ aus dem Braukessel des ungesättigten Hasses – das erste eine Nachschöpfung, ein Nebenher, eine Complementärfarbe, das zweite dagegen das Original, der Anfang, die eigentliche T h at in der Conception einer Sklaven-Moral  – wie verschieden stehen die beiden scheinbar demselben Begriff „gut“ entgegengestellten Worte „schlecht“ und | „böse“ da ! Aber es ist n ic ht derselbe Begriff „gut“ : vielmehr frage man sich doch, we r eigentlich „böse“ ist, im Sinne der Moral des Ressentiment. In aller Strenge geantwortet : e b e n der „Gute“ der andren Moral, eben der Vornehme, der Mächtige, der Herrschende, nur umgefärbt, nur umgedeutet, nur umgesehn durch das Giftauge des Ressentiment. Hier wollen wir Eins am wenigsten leugnen : wer jene „Guten“ nur als Feinde kennen lernte, lernte auch nichts als b ö s e Fe i nd e kennen, und dieselben Menschen, welche so streng durch Sitte, Verehrung, Brauch, Dankbarkeit, noch mehr durch gegenseitige Bewachung, durch Eifersucht inter pares in Schranken gehalten sind, die andrerseits im Verhalten zu einander so erfi nderisch in Rücksicht, Selbstbeherrschung, Zartsinn, Treue, Stolz und Freundschaft sich beweisen, – sie sind nach Aussen hin, dort wo das Fremde, d ie Fremde beginnt, nicht viel besser als losgelassne Raubthiere. Sie geniessen da die Freiheit von allem socialen Zwang, sie halten sich in der Wildniss schadlos für die Spannung, welche eine lange Einschliessung und Einfriedigung in den Frieden der Gemeinschaft giebt, sie treten in die Unschuld des Raubthier-Gewissens z u r ü c k , als frohlockende Ungeheuer, welche vielleicht von einer scheusslichen Abfolge von Mord, Niederbrennung, Schändung, Folterung mit einem Übermuthe und seelischen Gleichgewichte

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davongehen, wie als ob nur ein Studentenstreich vollbracht sei, überzeugt davon, dass die Dichter für lange nun wieder Etwas zu singen und zu rühmen haben. Auf dem Grunde aller dieser vornehmen Rassen ist das Raubthier, die prachtvolle nach Beute und Sieg lüstern schweifende blo n d e B e s t i e nicht zu verkennen ; es bedarf für diesen verborgenen Grund von | Zeit zu Zeit der Entladung, das Thier muss wieder heraus, muss wieder in die Wildniss zurück : – römischer, arabischer, germanischer, japanesischer Adel, homerische Helden, skandinavische Wikinger – in diesem Bedürfniss sind sie sich alle gleich. Die vornehmen Rassen sind es, welche den Begriff „Barbar“ auf all den Spuren hinterlassen haben, wo sie gegangen sind ; noch aus ihrer höchsten Cultur heraus verräth sich ein Bewusstsein davon und ein Stolz selbst darauf (zum Beispiel wenn Perikles seinen Athenern sagt, in jener berühmten Leichenrede, „zu allem Land und Meer hat unsre Kühnheit sich den Weg gebrochen, unvergängliche Denkmale sich überall im Guten u nd S c h l i m me n aufrichtend“). Diese „Kühnheit“ vornehmer Rassen, toll, absurd, plötzlich, wie sie sich äussert, das Unberechenbare, das Unwahrscheinliche selbst ihrer Unternehmungen – Perikles hebt die %αυμα der Athener mit Auszeichnung hervor – ihre Gleichgültigkeit und Verachtung gegen Sicherheit, Leib, Leben, Behagen, ihre entsetzliche Heiterkeit und Tiefe der Lust in allem Zerstören, in allen Wollüsten des Siegs und der Grausamkeit – Alles fasste sich für Die, welche daran litten, in das Bild des „Barbaren“, des „bösen Feindes“, etwa des „Gothen“, des „Vandalen“ zusammen. Das tiefe, eisige Misstrauen, das der Deutsche erregt, sobald er zur Macht kommt, auch jetzt wieder  – ist immer noch ein Nachschlag jenes unauslöschlichen Entsetzens, mit dem Jahrhunderte lang Europa dem Wüthen der blonden germanischen Bestie zugesehn hat (obwohl zwischen alten Germanen und uns Deutschen kaum eine Begriffs-, geschweige eine Blutverwandtschaft besteht). Ich habe einmal

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auf die Verlegenheit Hesiod’s aufmerksam gemacht, als er die Abfolge der Cultur-Zeitalter | aussann und sie in Gold, Silber, Erz auszudrücken suchte : er wusste mit dem Widerspruch, den ihm die herrliche, aber ebenfalls so schauerliche, so gewaltthätige Welt Homer’s bot, nicht anders fertig zu werden, als indem er aus Einem Zeitalter zwei machte, die er nunmehr hinter einander stellte – einmal das Zeitalter der Helden und Halbgötter von Troja und Theben, so wie jene Welt im Gedächtniss der vornehmen Geschlechter zurückgeblieben war, die in ihr die eignen Ahnherrn hatten ; sodann das eherne Zeitalter, so wie jene gleiche Welt den Nachkommen der Niedergetretenen, Beraubten, Misshandelten, Weggeschleppten, Verkauften erschien : als ein Zeitalter von Erz, wie gesagt, hart, kalt, grausam, gefühl- und gewissenlos, Alles zermalmend und mit Blut übertünchend. Gesetzt, dass es wahr wäre, was jetzt jedenfalls als „Wahrheit“ geglaubt wird, dass es eben der S i n n a l le r C u lt u r sei, aus dem Raubthiere „Mensch“ ein zahmes und civilisirtes Thier, ein H au s t h ie r herauszuzüchten, so müsste man unzweifelhaft alle jene Reaktionsund Ressentiments-Instinkte, mit deren Hülfe die vornehmen Geschlechter sammt ihren Idealen schliesslich zu Schanden gemacht und überwältigt worden sind, als die eigentlichen We r k z e u g e d e r C u l t u r betrachten ; womit allerdings noch nicht gesagt wäre, dass deren Tr ä g e r zugleich auch selber die Cultur darstellten. Vielmehr wäre das Gegentheil nicht nur wahrscheinlich – nein ! es ist heute au g e n s c he i n l ic h ! Diese Träger der niederdrückenden und vergeltungslüsternen Instinkte, die Nachkommen alles europäischen und nicht europäischen Sklaventhums, aller vorarischen Bevölkerung in Sonderheit – sie stellen den R üc k g a n g der Menschheit dar ! Diese „Werkzeuge der | Cultur“ sind eine Schande des Menschen, und eher ein Verdacht, ein Gegenargument gegen „Cultur“ überhaupt ! Man mag im besten Rechte sein, wenn man vor der blonden Bestie auf dem Grunde aller vor-

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nehmen Rassen die Furcht nicht los wird und auf der Hut ist : aber wer möchte nicht hundertmal lieber sich fürchten, wenn er zugleich bewundern darf, als sich n ic ht fürchten, aber dabei den ekelhaften Anblick des Missrathenen, Verkleinerten, Verkümmerten, Vergifteten nicht mehr los werden können ? Und ist das nicht u n s e r Verhängniss ? Was macht heute u n s e r n Widerwillen gegen „den Menschen“ ? – denn wir le id e n am Menschen, es ist kein Zweifel. – N ic ht die Furcht ; eher, dass wir Nichts mehr am Menschen zu fürchten haben ; dass das Gewürm „Mensch“ im Vordergrunde ist und wimmelt ; dass der „zahme Mensch“, der Heillos-Mittelmässige und Unerquickliche bereits sich als Ziel und Spitze, als Sinn der Geschichte, als „höheren Menschen“ zu fühlen gelernt hat ; – ja dass er ein gewisses Recht darauf hat, sich so zu fühlen, insofern er sich im Abstande von der Überfülle des Missrathenen, Kränklichen, Müden, Verlebten fühlt, nach dem heute Europa zu stinken beginnt, somit als etwas wenigstens relativ Gerathenes, wenigstens noch Lebensfähiges, wenigstens zum Leben Ja-sagendes … 12. – Ich unterdrücke an dieser Stelle einen Seufzer und eine letzte Zuversicht nicht. Was ist das gerade mir ganz Unerträgliche ? Das, womit ich allein nicht fertig werde, was mich ersticken und verschmachten macht ? Schlechte Luft ! Schlechte Luft ! Dass etwas Missrathenes in meine Nähe kommt ; dass ich die Eingeweide einer missrathenen Seele riechen muss ! … | Was hält man sonst nicht aus von Noth, Entbehrung, bösem Wetter, Siechthum, Mühsal, Vereinsamung ? Im Grunde wird man mit allem Übrigen fertig, geboren wie man ist zu einem unterirdischen und kämpfenden Dasein ; man kommt immer wieder einmal an’s Licht, man erlebt immer wieder seine goldene Stunde des Siegs, – und dann steht man da, wie man geboren ist, unzerbrechbar, gespannt, zu Neuem, zu noch Schwererem, Fernerem bereit, wie ein Bogen, den alle Noth immer

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nur noch straffer anzieht. – Aber von Zeit zu Zeit gönnt mir – gesetzt, dass es himmlische Gönnerinnen giebt, jenseits von Gut und Böse – einen Blick, gönnt mir Einen Blick nur auf etwas Vollkommenes, zu-Ende-Gerathenes, Glückliches, Mächtiges, Triumphirendes, an dem es noch Etwas zu fürchten giebt ! Auf einen Menschen, der d e n Menschen rechtfertigt, auf einen complementären und erlösenden Glücksfall des Menschen, um desswillen man d e n G l au b e n a n d e n Me n s c he n festhalten darf ! … Denn so steht es : die Verkleinerung und Ausgleichung des europäischen Menschen birgt u n s r e grösste Gefahr, denn dieser Anblick macht müde … Wir sehen heute Nichts, das grösser werden will, wir ahnen, dass es immer noch abwärts, abwärts geht, in’s Dünnere, Gutmüthigere, Klügere, Behaglichere, Mittelmässigere, Gleichgültigere, Chinesischere, Christlichere  – der Mensch, es ist kein Zweifel, wird immer „besser“ … Hier eben liegt das Verhängniss Europa’s – mit der Furcht vor dem Menschen haben wir auch die Liebe zu ihm, die Ehrfurcht vor ihm, die Hoffnung auf ihn, ja den Willen zu ihm eingebüsst. Der Anblick des Menschen macht nunmehr müde  – was ist heute Nihilismus, wenn er nicht d a s ist ? … Wir sind d e s Me n s c he n müde … | 13. – Doch kommen wir zurück : das Problem vom a nd r e n Ursprung des „Guten“, vom Guten, wie ihn der Mensch des Ressentiment sich ausgedacht hat, verlangt nach seinem Abschluss.  – Dass die Lämmer den grossen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht : nur liegt darin kein Grund, es den grossen Raubvögeln zu verargen, dass sie sich kleine Lämmer holen. Und wenn die Lämmer unter sich sagen „diese Raubvögel sind böse ; und wer so wenig als möglich ein Raubvogel ist, vielmehr deren Gegenstück, ein Lamm, – sollte der nicht gut sein ?“ so ist an dieser Aufrichtung eines Ideals Nichts auszusetzen, sei es auch, dass die Raubvögel dazu ein wenig spöt-

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tisch blicken werden und vielleicht sich sagen : „w i r sind ihnen gar nicht gram, diesen guten Lämmern, wir lieben sie sogar : nichts ist schmackhafter als ein zartes Lamm.“ – Von der Stärke verlangen, dass sie sich n ic ht als Stärke äussere, dass sie n ic ht ein Überwältigen-Wollen, ein NiederwerfenWollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so widersinnig als von der Schwäche verlangen, dass sie sich als Stärke äussere. Ein Quantum Kraft ist ein eben solches Quantum Trieb, Wille, Wirken – vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken selbst, und nur unter der Verführung der Sprache (und der in ihr versteinerten Grundirrthümer der Vernunft), welche alles Wirken als bedingt durch ein Wirkendes, durch ein „Subjekt“ versteht und missversteht, kann es anders erscheinen. Ebenso nämlich, wie das Volk den Blitz von seinem Leuchten trennt und letzteres als T hu n , als Wirkung eines Subjekts nimmt, das Blitz heisst, so trennt die | Volks-Moral auch die Stärke von den Äusserungen der Stärke ab, wie als ob es hinter dem Starken ein indifferentes Substrat gäbe, dem es f r e i s t ü nd e, Stärke zu äussern oder auch nicht. Aber es giebt kein solches Substrat ; es giebt kein „Sein“ hinter dem Thun, Wirken, Werden ; „der Thäter“ ist zum Thun bloss hinzugedichtet,  – das Thun ist Alles. Das Volk verdoppelt im Grunde das Thun, wenn es den Blitz leuchten lässt, das ist ein Thun-Thun : es setzt dasselbe Geschehen einmal als Ursache und dann noch einmal als deren Wirkung. Die Naturforscher machen es nicht besser, wenn sie sagen „die Kraft bewegt, die Kraft verursacht“ und dergleichen, – unsre ganze Wissenschaft steht noch, trotz aller ihrer Kühle, ihrer Freiheit vom Affekt, unter der Verführung der Sprache und ist die untergeschobenen Wechselbälge, die „Subjekte“ nicht losgeworden (das Atom ist zum Beispiel ein solcher Wechselbalg, insgleichen das Kantische „Ding an sich“) : was Wunder, wenn die zurückgetretenen, versteckt

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glimmenden Affekte Rache und Hass diesen Glauben für sich ausnützen und im Grunde sogar keinen Glauben inbrünstiger aufrecht erhalten als den, e s s t e he d e m St a r k e n f r e i , schwach, und dem Raubvogel, Lamm zu sein :  – damit gewinnen sie ja bei sich das Recht, dem Raubvogel es z u z ur e c h n e n , Raubvogel zu sein  … Wenn die Unterdrückten, Niedergetretenen, Vergewaltigten aus der rachsüchtigen List der Ohnmacht heraus sich zureden : „lasst uns anders sein als die Bösen, nämlich gut ! Und gut ist Jeder, der nicht vergewaltigt, der Niemanden verletzt, der nicht angreift, der nicht vergilt, der die Rache Gott übergiebt, der sich wie wir im Verborgenen hält, der allem Bösen aus dem Wege geht und wenig über|haupt vom Leben verlangt, gleich uns den Geduldigen, Demüthigen, Gerechten“ – so heisst das, kalt und ohne Voreingenommenheit angehört, eigentlich nichts weiter als : „wir Schwachen sind nun einmal schwach ; es ist gut, wenn wir nichts thun, wo z u w i r n ic ht s t a r k g e nu g s i nd “ – aber dieser herbe Thatbestand, diese Klugheit niedrigsten Ranges, welche selbst Insekten haben (die sich wohl todt stellen, um nicht „zu viel“ zu thun, bei grosser Gefahr), hat sich Dank jener Falschmünzerei und Selbstverlogenheit der Ohnmacht in den Prunk der entsagenden stillen abwartenden Tugend gekleidet, gleich als ob die Schwäche des Schwachen selbst – das heisst doch sein We s e n , sein Wirken, seine ganze einzige unvermeidliche, unablösbare Wirklichkeit  – eine freiwillige Leistung, etwas Gewolltes, Gewähltes, eine T h at , ein Ve r d ie n s t sei. Diese Art Mensch hat den Glauben an das indifferente wahlfreie „Subjekt“ nöt h i g aus einem Instinkte der Selbsterhaltung, Selbstbejahung heraus, in dem jede Lüge sich zu heiligen pflegt. Das Subjekt (oder, dass wir populärer reden, die S e e le) ist vielleicht deshalb bis jetzt auf Erden der beste Glaubenssatz gewesen, weil er der Überzahl der Sterblichen, den Schwachen und Niedergedrückten jeder Art, jene sublime Selbstbetrügerei ermöglichte, die Schwäche

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selbst als Freiheit, ihr So- und So-sein als Ve r d ie n s t auszulegen. 14. Will Jemand ein wenig in das Geheimniss hinab und hinunter sehn, wie man auf Erden Id e a le f a b r i z i r t ? Wer hat den Muth dazu ? … Wohlan ! Hier ist der Blick offen in diese dunkle Werkstätte. Warten Sie noch einen Augenblick, mein Herr Vorwitz und | Wagehals : Ihr Auge muss sich erst an dieses falsche schillernde Licht gewöhnen … So ! Genug ! Reden Sie jetzt ! Was geht da unten vor ? Sprechen Sie aus, was Sie sehen, Mann der gefährlichsten Neugierde – jetzt bin ic h der, welcher zuhört. – – „Ich sehe Nichts, ich höre um so mehr. Es ist ein vorsichtiges tückisches leises Munkeln und Zusammenflüstern aus allen Ecken und Winkeln. Es scheint mir, dass man lügt ; eine zuckrige Milde klebt an jedem Klange. Die Schwäche soll zum Ve r d ie n s t e umgelogen werden, es ist kein Zweifel – es steht damit so, wie Sie es sagten.“ – – Weiter ! – „und die Ohnmacht, die nicht vergilt, zur „Güte“ ; die ängstliche Niedrigkeit zur „Demuth“ ; die Unterwerfung vor Denen, die man hasst, zum „Gehorsam“ (nämlich gegen Einen, von dem sie sagen, er befehle diese Unterwerfung, – sie heissen ihn Gott). Das Unoffensive des Schwachen, die Feigheit selbst, an der er reich ist, sein An-der-Thür-stehn, sein unvermeidliches Warten-müssen kommt hier zu guten Namen, als „Geduld“, es heisst auch wohl d ie Tugend ; das Sich-nichträchen-Können heisst Sich-nicht-rächen-Wollen, vielleicht selbst Verzeihung („denn s ie wissen nicht, was sie thun – wir allein wissen es, was s ie thun !“). Auch redet man von der „Liebe zu seinen Feinden“ – und schwitzt dabei.“ – Weiter ! – „Sie sind elend, es ist kein Zweifel, alle diese Munkler und Winkel-Falschmünzer, ob sie schon warm bei einander hok-

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ken – aber sie sagen mir, ihr Elend sei eine Auswahl und Auszeichnung Gottes, man prügele die Hunde, die man am liebsten habe ; vielleicht sei dies | Elend auch eine Vorbereitung, eine Prüfung, eine Schulung, vielleicht sei es noch mehr  – Etwas, das einst ausgeglichen und mit ungeheuren Zinsen in Gold, nein ! in Glück ausgezahlt werde. Das heissen sie „die Seligkeit.“ – Weiter ! – „Jetzt geben sie mir zu verstehen, dass sie nicht nur besser seien als die Mächtigen, die Herrn der Erde, deren Speichel sie lecken müssen (n ic ht aus Furcht, ganz und gar nicht aus Furcht ! sondern weil es Gott gebietet, alle Obrigkeit zu ehren) – dass sie nicht nur besser seien, sondern es auch „besser hätten“, jedenfalls einmal besser haben würden. Aber genug ! genug ! Ich halte es nicht mehr aus. Schlechte Luft ! Schlechte Luft ! Diese Werkstätte, wo man Id e a le f a b r i z i r t   – mich dünkt, sie stinkt vor lauter Lügen.“ – Nein ! Noch einen Augenblick ! Sie sagten noch nichts von dem Meisterstücke dieser Schwarzkünstler, welche Weiss, Milch und Unschuld aus jedem Schwarz herstellen : – haben Sie nicht bemerkt, was ihre Vollendung im Raffi nement ist, ihr kühnster, feinster, geistreichster, lügenreichster ArtistenGriff ? Geben Sie Acht ! Diese Kellerthiere voll Rache und Hass – was machen sie doch gerade aus Rache und Hass ? Hörten Sie je diese Worte ? Würden Sie ahnen, wenn Sie nur ihren Worten trauten, dass Sie unter lauter Menschen des Ressentiment sind ? … – „Ich verstehe, ich mache nochmals die Ohren auf (ach ! ach ! ach ! und die Nase z u). Jetzt höre ich erst, was sie so oft schon sagten : „Wir Guten – w i r si nd d ie Gerec hten“ – was sie verlangen, das heissen sie nicht Vergeltung, sondern „den Triumph der G e r e c ht i g k e it“ ; was sie hassen, das ist nicht ihr Feind, | nein ! sie hassen das „Un r e c ht“, die „Gott losigkeit“ ; was sie glauben und hoffen, ist nicht die Hoff nung auf Rache,

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die Trunkenheit der süssen Rache (– „süsser als Honig“ nannte sie schon Homer), sondern der Sieg Gottes, des g e r e c ht e n Gottes über die Gottlosen ; was ihnen zu lieben auf Erden übrig bleibt, sind nicht ihre Brüder im Hasse, sondern ihre „Brüder in der Liebe“, wie sie sagen, alle Guten und Gerechten auf der Erde.“ – Und wie nennen sie das, was ihnen als Trost wider alle Leiden des Lebens dient  – ihre Phantasmagorie der vorweggenommenen zukünftigen Seligkeit ? – „Wie ? Höre ich recht ? Sie heissen das „das jüngste Gericht“, das Kommen i h r e s Reichs, des „Reichs Gottes“ – e i n s t we ile n aber leben sie „im Glauben“, „in der Liebe“, „in der Hoffnung“.“ – Genug ! Genug ! 15. Im Glauben woran ? In der Liebe wozu ? In der Hoff nung worauf ? – Diese Schwachen – irgendwann einmal nämlich wollen auch s ie die Starken sein, es ist kein Zweifel, irgendwann soll auch i h r „Reich“ kommen  – „das Reich Gottes“ heisst es schlechtweg bei ihnen, wie gesagt : man ist ja in Allem so demüthig ! Schon um d a s zu erleben, hat man nöthig, lange zu leben, über den Tod hinaus,  – ja man hat das ewige Leben nöthig, damit man sich auch ewig im „Reiche Gottes“ schadlos halten kann für jenes Erden-Leben „im Glauben, in der Liebe, in der Hoff nung“. Schadlos wofür ? Schadlos wodurch ? … Dante hat sich, wie mich dünkt, gröblich vergriffen, als er, mit einer schreckeneinflössenden Ingenuität, jene Inschrift über | das Thor zu seiner Hölle setzte „auch mich schuf die ewige Liebe“ :  – über dem Thore des christlichen Paradieses und seiner „ewigen Seligkeit“ würde jedenfalls mit besserem Rechte die Inschrift stehen dürfen „auch mich schuf der ewige H a s s“ – gesetzt, dass eine Wahrheit über dem Thor zu einer Lüge stehen dürfte ! Denn w a s ist die Seligkeit jenes Paradieses ? … Wir würden es vielleicht schon errathen ; aber

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besser ist es, dass es uns eine in solchen Dingen nicht zu unterschätzende Autorität ausdrücklich bezeugt, Thomas von Aquino, der grosse Lehrer und Heilige. „Beati in regno coelesti,“ sagt er sanft wie ein Lamm, „videbunt poenas damnatorum, u t b e a t it u d o i l l i s m a g i s c o m p l a c e a t .“ Oder will man es in einer stärkeren Tonart hören, etwa aus dem Munde eines triumphirenden Kirchenvaters, der seinen Christen die grausamen Wollüste der öffentlichen Schauspiele widerrieth  – warum doch ? „Der Glaube bietet uns ja viel mehr, – sagt er, de spectac. c. 29 ss. – v ie l St ä r k e r e s ; Dank der Erlösung stehen uns ja ganz andre Freuden zu Gebote ; an Stelle der Athleten haben wir unsre Märtyrer ; wollen wir Blut, nun, so haben wir das Blut Christi … Aber was erwartet uns erst am Tage seiner Wiederkunft, seines Triumphes !“ – und nun fährt er fort, der entzückte Visionär : „At enim supersunt alia spectacula, ille ultimus et perpetuus judicii dies, ille nationibus insperatus, ille derisus, cum tanta saeculi vetustas et tot ejus nativitates uno igne haurientur. Quae tunc spectaculi latitudo ! Qu id ad m i rer ! Qu id r idea m ! U bi g audea m ! U bi ex u ltem, spectans tot et tantos r e g e s , qui in coelum recepti nuntiabantur, cum ipso Jove et ipsis suis testibus in imis tenebris congemescentes ! Item praesides (die Provinzialstatthalter) perse|cutores dominici nominis saevioribus quam ipsi flammis saevierunt insultantibus contra Christianos liquescentes ! Quos praeterea sapientes illos philosophos coram discipulis suis una conflagrantibus erubescentes, quibus nihil ad deum pertinere suadebant, quibus animas aut nullas aut non in pristina corpora redituras affi rmabant ! Etiam poëtas non ad Rhadamanti nec ad Minois, sed ad inopinati Christi tribunal palpitantes ! Tunc magis tragoedi audiendi, magis scilicet vocales (besser bei Stimme, noch ärgere Schreier) in sua propria calamitate ; tunc histriones cog noscendi, solutiores multo per ignem ; tunc spectandus auriga in flammea rota totus rubens, tunc xystici contemplandi non in gymnasiis, sed

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in igne jaculati, nisi quod ne tunc quidem illos velim vivos, ut qui malim ad eos potius conspectum i n s at i a b i le m conferre, qui in dominum desaevierunt. „Hic est ille, dicam, fabri aut quaestuariae fi lius (wie alles Folgende und insbesondere auch diese aus dem Talmud bekannte Bezeichnung der Mutter Jesu zeigt, meint Tertullian von hier ab die Juden), sabbati destructor, Samarites et daemonium habens. Hic est, quem a Juda redemistis, hic est ille arundine et colaphis diverberatus, sputamentis dedecoratus, felle et aceto potatus. Hic est, quem clam discentes subripuerunt, ut resurrexisse dicatur vel hortu lanus detraxit, ne lactucae suae frequentia commeantium laederentur.“ Ut talia spectes, ut t a l i bu s e x u lt e s , quis tibi praetor aut consul aut quaestor aut sacerdos de sua liberalitate praestabit ? Et tamen haec jam habemus quodammodo p e r f id e m spiritu imaginante repraesentata. Ceterum qualia illa sunt, quae nec oculus vidit nec auris audivit nec in cor hominis ascenderunt ? (I. Cor. 2, 9.) Credo circo et utraque cavea (erster und vierter Rang oder, nach | Anderen, komische und tragische Bühne) et omni stadio gratiora.“ – Pe r f id e m : so steht’s geschrieben. 16. Kommen wir zum Schluss. Die beiden e nt g e g e n g e s e t z t e n Werthe „gut und schlecht“, „gut und böse“ haben einen furchtbaren, Jahrtausende langen Kampf auf Erden gekämpft ; und so gewiss auch der zweite Werth seit langem im Übergewichte ist, so fehlt es doch auch jetzt noch nicht an Stellen, wo der Kampf unentschieden fortgekämpft wird. Man könnte selbst sagen, dass er inzwischen immer höher hinauf getragen und eben damit immer tiefer, immer geistiger geworden sei : so dass es heute vielleicht kein entscheidenderes Abzeichen der „ höh e r e n Na t u r“, der geistigeren Natur giebt, als zwiespältig in jenem Sinne und wirklich noch ein Kampfplatz für jene Gegensätze zu sein. Das Symbol dieses Kampfes, in einer Schrift geschrieben, die über alle

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Menschengeschichte hinweg bisher lesbar blieb, heisst „Rom gegen Judäa, Judäa gegen Rom“ : – es gab bisher kein grösseres Ereigniss als d ie s e n Kampf, d ie s e Fragestellung, d ie s e n todfeindlichen Widerspruch. Rom empfand im Juden Etwas wie die Wider natur selbst, gleichsam sein antipodisches Monstrum ; in Rom galt der Jude „des Hasses gegen das ganze Menschengeschlecht ü b e r f ü h r t“ : mit Recht, sofern man ein Recht hat, das Heil und die Zukunft des Menschengeschlechts an die unbedingte Herrschaft der aristokratischen Werthe, der römischen Werthe anzuknüpfen. Was dagegen die Juden gegen Rom empfunden haben ? Man erräth es aus tausend Anzeichen ; aber es genügt, sich einmal wieder die Johanneische Apokalypse zu Gemüthe zu führen, jenen | wüstesten aller geschriebenen Ausbrüche, welche die Rache auf dem Gewissen hat. (Unterschätze man übrigens die tiefe Folgerichtigkeit des christlichen Instinktes nicht, als er gerade dieses Buch des Hasses mit dem Namen des Jüngers der Liebe überschrieb, desselben, dem er jenes verliebt-schwärmerische Evangelium zu eigen gab – : darin steckt ein Stück Wahrheit, wie viel litterarische Falschmünzerei auch zu diesem Zwecke nöthig gewesen sein mag.) Die Römer waren ja die Starken und Vornehmen, wie sie stärker und vornehmer bisher auf Erden nie dagewesen, selbst niemals geträumt worden sind ; jeder Überrest von ihnen, jede Inschrift entzückt, gesetzt, dass man erräth, w a s da schreibt. Die Juden umgekehrt waren jenes priesterliche Volk des Ressentiment par excellence, dem eine volksthümlich-moralische Genialität sonder Gleichen innewohnte : man vergleiche nur die verwandt-begabten Völker, etwa die Chinesen oder die Deutschen, mit den Juden, um nachzufühlen, was ersten und was fünften Ranges ist. Wer von ihnen einstweilen g e s ie g t hat, Rom oder Judäa ? Aber es ist ja gar kein Zweifel : man erwäge doch, vor wem man sich heute in Rom selber als vor dem Inbegriff aller höchsten Werthe beugt – und nicht nur in Rom, sondern fast auf der hal-

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ben Erde, überall wo nur der Mensch zahm geworden ist oder zahm werden will, – vor d r e i Jud e n , wie man weiss, und E ine r Jü d i n (vor Jesus von Nazareth, dem Fischer Petrus, dem Teppichwirker Paulus und der Mutter des anfangs genannten Jesus, genannt Maria). Dies ist sehr merkwürdig : Rom ist ohne allen Zweifel unterlegen. Allerdings gab es in der Renaissance ein glanzvoll-unheimliches Wiederauf wachen des klassischen Ideals, der vornehmen Werthungsweise aller | Dinge : Rom selber bewegte sich wie ein aufgeweckter Scheintodter unter dem Druck des neuen, darüber gebauten judaisirten Rom, das den Aspekt einer ökumenischen Synagoge darbot und „Kirche“ hiess : aber sofort triumphirte wieder Judäa, Dank jener gründlich pöbelhaften (deutschen und englischen) Ressentiments-Bewegung, welche man die Reformation nennt, hinzugerechnet, was aus ihr folgen musste, die Wiederherstellung der Kirche,  – die Wiederherstellung auch der alten Grabesruhe des klassischen Rom. In einem sogar entscheidenderen und tieferen Sinne als damals kam Judäa noch einmal mit der französischen Revolution zum Siege über das klassische Ideal : die letzte politische Vornehmheit, die es in Europa gab, die des siebzehnten und achtzehnten f r a n z ö s i s c he n Jahrhunderts brach unter den volksthümlichen Ressentiments-Instinkten zusammen,  – es wurde niemals auf Erden ein grösserer Jubel, eine lärmendere Begeisterung gehört ! Zwar geschah mitten darin das Ungeheuerste, das Unerwartetste : das antike Ideal selbst trat le i bh a f t und mit unerhörter Pracht vor Auge und Gewissen der Menschheit,  – und noch einmal, stärker, einfacher, eindringlicher als je, erscholl, gegenüber der alten Lügen-Losung des Ressentiment vom Vor r e c ht d e r Me i s t e n , gegenüber dem Willen zur Niederung, zur Erniedrigung, zur Ausgleichung, zum Abwärts und Abendwärts des Menschen die furchtbare und entzückende Gegenlosung vom Vor r e c ht d e r We n i g s t e n ! Wie ein letzter Fingerzeig zum a nd r e n Wege erschien Napoleon, jener einzelnste und spä-

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testgeborne Mensch, den es jemals gab, und in ihm das fleischgewordne Problem des vor ne h me n Id e a l s a n s ic h – man überlege wohl, w a s es für ein Problem ist : | Napoleon, diese Synthesis von Un me n s c h und Ü b e r me n s c h  … 17. – War es damit vorbei ? Wurde jener grösste aller Ideal-Gegensätze damit für alle Zeiten ad acta gelegt ? Oder nur vertagt, auf lange vertagt ? … Sollte es nicht irgendwann einmal ein noch viel furchtbareres, viel länger vorbereitetes Auflodern des alten Brandes geben müssen ? Mehr noch : wäre nicht gerade d a s aus allen Kräften zu wünschen ? selbst zu wollen ? selbst zu fördern ?  … Wer an dieser Stelle anfängt, gleich meinen Lesern, nachzudenken, weiter zu denken, der wird schwerlich bald damit zu Ende kommen, – Grund genug für mich, selbst zu Ende zu kommen, vorausgesetzt, dass es längst zur Genüge klar geworden ist, was ich w i l l , was ich gerade mit jener gefährlichen Losung will, welche meinem letzten Buche auf den Leib geschrieben ist : „Je n s e it s vo n G ut u nd B ö s e“ … Dies heisst zum Mindesten n ic ht „Jenseits von Gut und Schlecht.“ – – | A n merk u n g. Ich nehme die Gelegenheit wahr, welche diese Abhandlung mir giebt, um einen Wunsch öffentlich und förmlich auszudrücken, der von mir bisher nur in gelegentlichem Gespräche mit Gelehrten geäussert worden ist : dass nämlich irgend eine philosophische Fakultät sich durch eine Reihe akademischer Preisausschreiben um die Förderung mor a l h i s to r i s c her Studien verdient machen möge : – vielleicht dient dies Buch dazu, einen kräftigen Anstoss gerade in solcher Richtung | zu geben. In Hinsicht auf eine Möglichkeit dieser Art sei die nachstehende Frage in Vorschlag gebracht : sie verdient ebenso sehr die Aufmerksamkeit der Philologen und Historiker als die der eigentlichen Philosophie-Gelehrten von Beruf.

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„Welche Fi ngerzeige g iebt d ie Sprachw issenschaf t, insbesondere die et ymologische Forschung, f ür die Entw ick lu ngsgesch ichte der mora l ischen Beg r i f fe ab ?“  – Andrerseits ist es freilich ebenso nöthig, die Theilnahme der Physiologen und Mediciner für diese Probleme (vom Wer t he der bisherigen Werthschätzungen) zu gewinnen : wobei es den Fach-Philosophen überlassen sein mag, auch in diesem einzelnen Falle die Fürsprecher und Vermittler zu machen, nachdem es ihnen im Ganzen gelungen ist, das ursprünglich so spröde, so misstrauische Verhältniss zwischen Philosophie, Physiologie und Medicin in den freundschaftlichsten und fruchtbringendsten Austausch umzugestalten. In der That bedürfen alle Gütertafeln, alle „du sollst“, von denen die Geschichte oder die ethnologische Forschung weiss, zunächst der phy s iolog i s c he n Beleuchtung und Ausdeutung, eher jedenfalls noch als der psychologischen ; alle insgleichen warten auf eine Kritik von seiten der medicinischen Wissenschaft. Die Frage : was ist diese oder jene Gütertafel und „Moral“ wer t h ? will unter die verschiedensten Perspektiven gestellt sein ; man kann namentlich das „werth wo z u ?“ nicht fein genug aus einander legen. Etwas zum Beispiel, das ersichtlich Werth hätte in Hinsicht auf möglichste Dauerfähigkeit einer Rasse (oder auf Steigerung ihrer Anpassungskräfte an ein bestimmtes Klima oder auf Erhaltung der grössten Zahl) hätte durchaus nicht den gleichen Werth, wenn es sich etwa darum handelte, einen stärkeren Typus herauszubilden. Das Wohl der Meisten und das Wohl der Wenigsten sind entgegengesetzte Werth-Gesichtspunkte : a n s ic h schon den ersteren für den höherwerthigen zu halten wollen wir der Naivetät englischer Biologen überlassen  … A l le Wissenschaften haben nunmehr der ZukunftsAufgabe des Philosophen vorzuarbeiten : diese Aufgabe dahin verstanden, dass der Philosoph das P r oblem vom Wer t he zu lösen hat, dass er die R a n g or d nu n g der Wer t he zu bestimmen hat. – |

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Zweite Abhandlung : „Schuld“, „schlechtes Gewissen“ und Verwandtes. |

1. Ein Thier heranzüchten, das ve r s p r e c he n d a r f  – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat ? ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen ? … Dass dies Problem bis zu einem hohen Grad gelöst ist, muss Dem um so erstaunlicher erscheinen, der die entgegen wirkende Kraft, die der Ve r g e s s l ic h k e it , vollauf zu würdigen weiss. Vergesslichkeit ist keine blosse vis inertiae, wie die Oberflächlichen glauben, sie ist vielmehr ein aktives, im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben ist, dass was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung (man dürfte ihn „Einverseelung“ nennen) ebenso wenig in’s Bewusstsein tritt, als der ganze tausendfältige Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die sogenannte „Einverleibung“ abspielt. Die Thüren und Fenster des Bewusstseins zeitweilig schliessen ; von dem Lärm und Kampf, mit dem unsre Unterwelt von dienstbaren Organen für und gegen einander arbeitet, unbehelligt bleiben ; ein wenig Stille, ein wenig tabula rasa des Bewusstseins, damit wieder Platz wird für Neues, vor Allem für die vornehmeren Funktionen und Funktionäre, für Regieren, Voraussehn, Vorausbestimmen (denn unser Organismus ist oligarchisch eingerichtet) – das ist der Nutzen der, wie gesagt, aktiven Vergesslichkeit, einer Thürwärterin gleichsam, | einer Aufrechterhalterin der seelischen Ordnung, der Ruhe, der Etiquette : womit sofort abzusehn ist, inwiefern es kein Glück, keine Heiterkeit, keine Hoff nung, keinen Stolz, keine G e g e nw a r t geben könnte ohne Vergesslichkeit. Der

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Mensch, in dem dieser Hemmungsapparat beschädigt wird und aussetzt, ist einem Dyspeptiker zu vergleichen (und nicht nur zu vergleichen –) er wird mit Nichts „fertig“ … Eben dieses nothwendig vergessliche Thier, an dem das Vergessen eine Kraft, eine Form der s t a r k e n Gesundheit darstellt, hat sich nun ein Gegenvermögen angezüchtet, ein Gedächtniss, mit Hülfe dessen für gewisse Fälle die Vergesslichkeit ausgehängt wird, – für die Fälle nämlich, dass versprochen werden soll : somit keineswegs bloss ein passivisches Nicht-wiederlos-werden-können des einmal eingeritzten Eindrucks, nicht bloss die Indigestion an einem ein Mal verpfändeten Wort, mit dem man nicht wieder fertig wird, sondern ein aktives Nicht-wieder-los-werden-wol le n , ein Fort- und Fortwollen des ein Mal Gewollten, ein eigentliches G ed äc ht n i s s de s Wi l len s : so dass zwischen das ursprüngliche „ich will“ „ich werde thun“ und die eigentliche Entladung des Willens, seinen A k t , unbedenklich eine Welt von neuen fremden Dingen, Umständen, selbst Willensakten dazwischengelegt werden darf, ohne dass diese lange Kette des Willens springt. Was setzt das aber Alles voraus ! Wie muss der Mensch, um dermaassen über die Zukunft voraus zu verfügen, erst gelernt haben das nothwendige vom zufälligen Geschehen scheiden, causal denken, das Ferne wie gegenwärtig sehn und vorwegnehmen, was Zweck ist, was Mittel dazu ist, mit Sicherheit ansetzen, überhaupt rechnen, berechnen können, – wie muss dazu der Mensch selbst vorerst | berec henba r, regel mässig, not hwend ig geworden sein, auch sich selbst für seine eigne Vorstellung, um endlich dergestalt, wie es ein Versprechender thut, für sich a l s Zu k u n f t gut sagen zu können ! 2. Eben das ist die lange Geschichte von der Herkunft der Ve r a nt wo r t l ic h k e it . Jene Aufgabe, ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf, schliesst, wie wir bereits begriffen

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haben, als Bedingung und Vorbereitung die nähere Aufgabe in sich, den Menschen zuerst bis zu einem gewissen Grade nothwendig, einförmig, gleich unter Gleichen, regelmässig und folglich berechenbar zu m a c h e n . Die ungeheure Arbeit dessen, was von mir „Sittlichkeit der Sitte“ genannt worden ist (vergl. Morgenröthe S. 7. 13. 16) – die eigentliche Arbeit des Menschen an sich selber in der längsten Zeitdauer des Menschengeschlechts, seine ganze vor h i s t or i s c he Arbeit hat hierin ihren Sinn, ihre grosse Rechtfertigung, wie viel ihr auch von Härte, Tyrannei, Stumpfsinn und Idiotismus innewohnt : der Mensch wurde mit Hülfe der Sittlichkeit der Sitte und der socialen Zwangsjacke wirklich berechenbar g e m ac ht . Stellen wir uns dagegen an’s Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zu Tage bringt, wo z u sie nur das Mittel war : so fi nden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das s ouve r a i ne I nd i v i d uu m , das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn „autonom“ und „sittlich“ schliesst sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der ve r|s p r e c he n darf – und in ihm ein stolzes, in allen Muskeln zuckendes Bewusstsein davon, w a s da endlich errungen und in ihm leibhaft geworden ist, ein eigentliches Macht- und Freiheits-Bewusstsein, ein Vollendungs-Gefühl des Menschen überhaupt. Dieser Freigewordne, der wirklich versprechen d a r f , dieser Herr des f r e ie n Willens, dieser Souverain – wie sollte er es nicht wissen, welche Überlegenheit er damit vor Allem voraus hat, was nicht versprechen und für sich selbst gut sagen darf, wie viel Vertrauen, wie viel Furcht, wie viel Ehrfurcht er erweckt – er „ve r d ie nt“ alles Dreies – und wie ihm, mit dieser Herrschaft über sich, auch die Herrschaft über die Umstände, über die Natur und alle willenskürzeren und unzuverlässigeren Creaturen nothwen-

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dig in die Hand gegeben ist ? Der „freie“ Mensch, der Inhaber eines langen unzerbrechlichen Willens, hat in diesem Besitz auch sein We r t h m a a s s : von sich aus nach den Andern hinblickend, ehrt er oder verachtet er ; und eben so nothwendig als er die ihm Gleichen, die Starken und Zuverlässigen (die welche versprechen d ü r f e n) ehrt, – also Jedermann, der wie ein Souverain verspricht, schwer, selten, langsam, der mit seinem Vertrauen geizt, der au s z e ic h net , wenn er vertraut, der sein Wort giebt als Etwas, auf das Verlass ist, weil er sich stark genug weiss, es selbst gegen Unfälle, selbst „gegen das Schicksal“ aufrecht zu halten – : eben so nothwendig wird er seinen Fusstritt für die schmächtigen Windhunde bereit halten, welche versprechen, ohne es zu dürfen, und seine Zuchtruthe für den Lügner, der sein Wort bricht, im Augenblick schon, wo er es im Munde hat. Das stolze Wissen um das ausserordentliche Privilegium der Ve r a nt wor t l ic h k e it , das Bewusstsein | dieser seltenen Freiheit, dieser Macht über sich und das Geschick hat sich bei ihm bis in seine unterste Tiefe hinabgesenkt und ist zum Instinkt geworden, zum dominirenden Instinkt : – wie wird er ihn heissen, diesen dominirenden Instinkt, gesetzt, dass er ein Wort dafür bei sich nöthig hat ? Aber es ist kein Zweifel : dieser souveraine Mensch heisst ihn sein G ew i s s e n … 3. Sein Gewissen ?  … Es lässt sich voraus errathen, dass der Begriff „Gewissen“, dem wir hier in seiner höchsten, fast befremdlichen Ausgestaltung begegnen, bereits eine lange Geschichte und Form-Verwandlung hinter sich hat. Für sich gut sagen dürfen und mit Stolz, also auch zu sich Ja s a g e n d ü r f e n – das ist, wie gesagt, eine reife Frucht, aber auch eine s p ät e Frucht : – wie lange musste diese Frucht herb und sauer am Baume hängen ! Und eine noch viel längere Zeit war von einer solchen Frucht gar nichts zu sehn, – Niemand hätte sie versprechen dürfen, so gewiss auch Alles am Baume vorbe-

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reitet und gerade auf sie hin im Wachsen war ! – „Wie macht man dem Menschen-Thiere ein Gedächtniss ? Wie prägt man diesem theils stumpfen, theils faseligen Augenblicks-Verstande, dieser leibhaften Vergesslichkeit Etwas so ein, dass es gegenwärtig bleibt ?“ … Dies uralte Problem ist, wie man denken kann, nicht gerade mit zarten Antworten und Mitteln gelöst worden ; vielleicht ist sogar nichts furchtbarer und unheimlicher an der ganzen Vorgeschichte des Menschen, als seine M ne mot e c h n i k . „Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtniss bleibt : nur was nicht aufhört, we h z u t hu n , bleibt im Gedächtniss“ – das ist ein Hauptsatz aus der allerältesten (leider | auch allerlängsten) Psychologie auf Erden. Man möchte selbst sagen, dass es überall, wo es jetzt noch auf Erden Feierlichkeit, Ernst, Geheimniss, düstere Farben im Leben von Mensch und Volk giebt, Etwas von der Schrecklichkeit n ac hw i r k t , mit der ehemals überall auf Erden versprochen, verpfändet, gelobt worden ist : die Vergangenheit, die längste tiefste härteste Vergangenheit, haucht uns an und quillt in uns herauf, wenn wir „ernst“ werden. Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen ; die schauerlichsten Opfer und Pfänder (wohin die Erstlingsopfer gehören), die widerlichsten Verstümmelungen (zum Beispiel die Castrationen), die grausamsten Ritualformen aller religiösen Culte (und alle Religionen sind auf dem untersten Grunde Systeme von Grausamkeiten) – alles Das hat in jenem Instinkte seinen Ursprung, welcher im Schmerz das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik errieth. In einem gewissen Sinne gehört die ganze Asketik hierher : ein paar Ideen sollen unauslöschlich, allgegenwärtig, unvergessbar, „fi x“ gemacht werden, zum Zweck der Hypnotisirung des ganzen nervösen und intellektuellen Systems durch diese „fi xen Ideen“ – und die asketischen Prozeduren und Lebensformen sind Mittel dazu, um jene Ideen aus der Concurrenz mit allen übrigen Ideen zu lösen, um sie

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„unvergesslich“ zu machen. Je schlechter die Menschheit „bei Gedächtniss“ war, um so furchtbarer ist immer der Aspekt ihrer Bräuche ; die Härte der Strafgesetze giebt in Sonderheit einen Maassstab dafür ab, wie viel Mühe sie hatte, gegen die Vergesslichkeit zum Sieg zu kommen und ein paar primitive Erfordernisse des socialen Zusammenlebens diesen Augenblicks-Sklaven des Affekts und der Be|gierde g e g e nw ä r t i g zu erhalten. Wir Deutschen betrachten uns gewiss nicht als ein besonders grausames und hartherziges Volk, noch weniger als besonders leichtfertig und in-den-Tag-hineinleberisch ; aber man sehe nur unsre alten Strafordnungen an, um dahinter zu kommen, was es auf Erden für Mühe hat, ein „Volk von Denkern“ heranzuzüchten (will sagen : d a s Volk Europa’s, unter dem auch heute noch das Maximum von Zutrauen, Ernst, Geschmacklosigkeit und Sachlichkeit zu fi nden ist und das mit diesen Eigenschaften ein Anrecht darauf hat, alle Art von Mandarinen Europa’s heran zu züchten). Diese Deutschen haben sich mit furchtbaren Mitteln ein Gedächtniss gemacht, um über ihre pöbelhaften Grund-Instinkte und deren brutale Plumpheit Herr zu werden : man denke an die alten deutschen Strafen, zum Beispiel an das Steinigen (– schon die Sage lässt den Mühlstein auf das Haupt des Schuldigen fallen), das Rädern (die eigenste Erfi ndung und Spezialität des deutschen Genius im Reich der Strafe !), das Werfen mit dem Pfahle, das Zerreissen- oder Zertretenlassen durch Pferde (das „Viertheilen“), das Sieden des Verbrechers in Öl oder Wein (noch im vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert), das beliebte Schinden („Riemenschneiden“), das Herausschneiden des Fleisches aus der Brust ; auch wohl dass man den Übelthäter mit Honig bestrich und bei brennender Sonne den Fliegen überliess. Mit Hülfe solcher Bilder und Vorgänge behält man endlich fünf, sechs „ich will nicht“ im Gedächtnisse, in Bezug auf welche man sein Ve r s p r e c he n gegeben hat, um unter den Vortheilen der Societät zu leben, – und wirklich ! mit

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Hülfe dieser Art von Gedächtniss kam man endlich „zur Vernunft“ ! – Ah, die Vernunft, der Ernst, die Herrschaft | über die Affekte, diese ganze düstere Sache, welche Nachdenken heisst, alle diese Vorrechte und Prunkstücke des Menschen : wie theuer haben sie sich bezahlt gemacht ! wie viel Blut und Grausen ist auf dem Grunde aller „guten Dinge“ ! … 4. Aber wie ist denn jene andre „düstre Sache“, das Bewusstsein der Schuld, das ganze „schlechte Gewissen“ auf die Welt gekommen ? – Und hiermit kehren wir zu unsern Genealogen der Moral zurück. Nochmals gesagt – oder habe ich’s noch gar nicht gesagt ? – sie taugen nichts. Eine fünf Spannen lange eigne, bloss „moderne“ Erfahrung ; kein Wissen, kein Wille zum Wissen des Vergangnen ; noch weniger ein historischer Instinkt, ein hier gerade nöthiges „zweites Gesicht“  – und dennoch Geschichte der Moral treiben : das muss billigerweise mit Ergebnissen enden, die zur Wahrheit in einem nicht bloss spröden Verhältnisse stehn. Haben sich diese bisherigen Genealogen der Moral auch nur von Ferne Etwas davon träumen lassen, dass zum Beispiel jener moralische Hauptbegriff „Schuld“ seine Herkunft aus dem sehr materiellen Begriff „Schulden“ genommen hat ? Oder dass die Strafe als eine Ve r g e lt u n g sich vollkommen abseits von jeder Voraussetzung über Freiheit oder Unfreiheit des Willens entwickelt hat ?  – und dies bis zu dem Grade, dass es vielmehr immer erst einer hohe n Stufe der Vermenschlichung bedarf, damit das Thier „Mensch“ anfängt, jene viel primitiveren Unterscheidungen „absichtlich“ „fahrlässig“ „zufällig“ „zurechnungsfähig“ und deren Gegensätze zu machen und bei der Zumessung der Strafe in Anschlag zu bringen. Jener jetzt so wohlfeile und | scheinbar so natürliche, so unvermeidliche Gedanke, der wohl gar zur Erklärung, wie überhaupt das Gerechtigkeitsgefühl auf Erden zu Stande gekommen ist, hat herhalten

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müssen, „der Verbrecher verdient Strafe, we i l er hätte anders handeln können“ ist thatsächlich eine überaus spät erreichte, ja raffi nirte Form des menschlichen Urtheilens und Schliessens ; wer sie in die Anfänge verlegt, vergreift sich mit groben Fingern an der Psychologie der älteren Menschheit. Es ist die längste Zeit der menschlichen Geschichte hindurch durchaus n ic ht gestraft worden, we i l man den Übelanstifter für seine That verantwortlich machte, also n ic ht unter der Voraussetzung, dass nur der Schuldige zu strafen sei : – vielmehr, so wie jetzt noch Eltern ihre Kinder strafen, aus Zorn über einen erlittenen Schaden, der sich am Schädiger auslässt,  – dieser Zorn aber in Schranken gehalten und modifi zirt durch die Idee, dass jeder Schaden irgend worin sein Ä q u i va le nt habe und wirklich abgezahlt werden könne, sei es selbst durch einen S c h me r z des Schädigers. Woher diese uralte, tiefgewurzelte, vielleicht jetzt nicht mehr ausrottbare Idee ihre Macht genommen hat, die Idee einer Äquivalenz von Schaden und Schmerz ? Ich habe es bereits verrathen : in dem Vertragsverhältniss zwischen G l äu b i g e r und S c hu ld ne r, das so alt ist als es überhaupt „Rechtssubjekte“ giebt und seinerseits wieder auf die Grundformen von Kauf, Verkauf, Tausch, Handel und Wandel zurückweist. 5. Die Vergegenwärtigung dieser Vertragsverhältnisse weckt allerdings, wie es nach dem Voraus-Bemerkten von vornherein zu erwarten steht, gegen die ältere | Menschheit, die sie schuf oder gestattete, mancherlei Verdacht und Widerstand. Hier gerade wird ve r s p r o c he n ; hier gerade handelt es sich darum, Dem, der verspricht, ein Gedächtniss zu m ac he n ; hier gerade, so darf man argwöhnen, wird eine Fundstätte für Hartes, Grausames, Peinliches sein. Der Schuldner, um Vertrauen für sein Versprechen der Zurückbezahlung einzuflössen, um eine Bürgschaft für den Ernst und die Heiligkeit seines Versprechens zu geben, um bei sich selbst die Zurück-

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bezahlung als Pfl icht, Verpfl ichtung seinem Gewissen einzuschärfen, verpfändet Kraft eines Vertrags dem Gläubiger für den Fall, dass er nicht zahlt, Etwas, das er sonst noch „besitzt“, über das er sonst noch Gewalt hat, zum Beispiel seinen Leib oder sein Weib oder seine Freiheit oder auch sein Leben (oder, unter bestimmten religiösen Voraussetzungen, selbst seine Seligkeit, sein Seelen-Heil, zuletzt gar den Frieden im Grabe : so in Ägypten, wo der Leichnam des Schuldners auch im Grabe vor dem Gläubiger keine Ruhe fand, – es hatte allerdings gerade bei den Ägyptern auch etwas auf sich mit dieser Ruhe). Namentlich aber konnte der Gläubiger dem Leibe des Schuldners alle Arten Schmach und Folter anthun, zum Beispiel so viel davon herunterschneiden als der Grösse der Schuld angemessen schien : – und es gab frühzeitig und überall von diesem Gesichtspunkte aus genaue, zum Theil entsetzlich in’s Kleine und Kleinste gehende Abschätzungen, z u R ec ht bestehende Abschätzungen der einzelnen Glieder und Körperstellen. Ich nehme es bereits als Fortschritt, als Beweis freierer, grösser rechnender, r ö m i s c h e r e r Rechtsauffassung, wenn die Zwölftafel-Gesetzgebung Rom’s dekretierte, es sei gleichgültig, wie viel oder wie wenig die Gläubiger | in einem solchen Falle herunterschnitten „si plus minusve secuerunt, se fraude esto“. Machen wir uns die Logik dieser ganzen Ausgleichungsform klar : sie ist fremdartig genug. Die Äquivalenz ist damit gegeben, dass an Stelle eines gegen den Schaden direkt aufkommenden Vortheils (also an Stelle eines Ausgleichs in Geld, Land, Besitz irgend welcher Art) dem Gläubiger eine Art Woh l g e f ü h l als Rückzahlung und Ausgleich zugestanden wird, – das Wohlgefühl, seine Macht an einem Machtlosen unbedenklich auslassen zu dürfen, die Wollust „de faire le mal pour le plaisir de le faire“, der Genuss in der Vergewaltigung : als welcher Genuss um so höher geschätzt wird, je tiefer und niedriger der Gläubiger in der Ordnung der Gesellschaft steht und leicht ihm als köstlichster

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Bissen, ja als Vorgeschmack eines höheren Rangs erscheinen kann. Vermittelst der „Strafe“ am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem He r r e n -R e c ht e theil : endlich kommt auch er ein Mal zu dem erhebenden Gefühle, ein Wesen als ein „Unter-sich“ verachten und misshandeln zu dürfen – oder wenigstens, im Falle die eigentliche Strafgewalt, der Strafvollzug schon an die „Obrigkeit“ übergegangen ist, es verachtet und misshandelt zu s e he n . Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit. – 6. In d ie s e r Sphäre, im Obligationen-Rechte also, hat die moralische Begriffswelt „Schuld“, „Gewissen“, „Pfl icht“, „Heiligkeit der Pfl icht“ ihren Entstehungsheerd,  – ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Grossen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden. Und dürfte man nicht hinzufügen, dass jene Welt im Grunde einen gewissen Geruch von Blut und | Folter niemals wieder ganz eingebüsst habe ? (selbst beim alten Kant nicht : der kategorische Imperativ riecht nach Grausamkeit …) Hier ebenfalls ist jene unheimliche und vielleicht unlösbar gewordne Ideen-Verhäkelung „Schuld und Leid“ zuerst eingehäkelt worden. Nochmals gefragt : in wiefern kann Leiden eine Ausgleichung von „Schulden“ sein ? Insofern Leiden -m ac he n im höchsten Grade wohl that, insofern der Geschädigte für den Nachtheil, hinzugerechnet die Unlust über den Nachtheil, einen ausserordentlichen GegenGenuss eintauschte : das Leiden -m ac he n , – ein eigentliches Fe s t , Etwas, das, wie gesagt, um so höher im Preise stand, je mehr es dem Range und der gesellschaftlichen Stellung des Gläubigers widersprach. Dies vermuthungsweise gesprochen : denn solchen unterirdischen Dingen ist schwer auf den Grund zu sehn, abgesehn davon, dass es peinlich ist ; und wer hier den Begriff der „Rache“ plump dazwischen wirft, hat sich den Einblick eher noch verdeckt und verdunkelt, als leichter

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gemacht (– Rache selbst führt ja eben auf das gleiche Problem zurück : „wie kann Leiden-machen eine Genugthuung sein ?“) Es widersteht, wie mir scheint, der Delikatesse, noch mehr der Tartüfferie zahmer Hausthiere (will sagen moderner Menschen, will sagen uns), es sich in aller Kraft vorstellig zu machen, bis zu welchem Grade die Gr au s a m k e it die grosse Festfreude der älteren Menschheit ausmacht, ja als Ingredienz fast jeder ihrer Freuden zugemischt ist ; wie naiv andrerseits, wie unschuldig ihr Bedürfniss nach Grausamkeit auftritt, wie grundsätzlich gerade die „uninteressirte Bosheit“ (oder, mit Spinoza zu reden, die sympathia malevolens) von ihr als nor m a le Eigenschaft des Menschen angesetzt wird – : | somit als Etwas, zu dem das Gewissen herzhaft Ja sagt ! Für ein tieferes Auge wäre vielleicht auch jetzt noch genug von dieser ältesten und gründlichsten Festfreude des Menschen wahrzunehmen ; in „Jenseits von Gut und Böse“ S. 117 ff. (früher schon in der „Morgenröthe“ S. 17. 68. 102) habe ich mit vorsichtigem Finger auf die immer wachsende Vergeistigung und „Vergöttlichung“ der Grausamkeit hingezeigt, welche sich durch die ganze Geschichte der höheren Cultur hindurchzieht (und, in einem bedeutenden Sinne genommen, sie sogar ausmacht). Jedenfalls ist es noch nicht zu lange her, dass man sich fürstliche Hochzeiten und Volksfeste grössten Stils ohne Hinrichtungen, Folterungen oder etwa ein Autodafé nicht zu denken wusste, insgleichen keinen vornehmen Haushalt ohne Wesen, an denen man unbedenklich seine Bosheit und grausame Neckerei auslassen konnte (– man erinnere sich etwa Don Quixote’s am Hofe der Herzogin : wir lesen heute den ganzen Don Quixote mit einem bittren Geschmack auf der Zunge, fast mit einer Tortur und würden damit seinem Urheber und dessen Zeitgenossen sehr fremd, sehr dunkel sein, – sie lasen ihn mit allerbestem Gewissen als das heiterste der Bücher, sie lachten sich an ihm fast zu Tod). Leiden-sehn thut wohl, Leiden-machen noch wohler – das ist ein harter Satz, aber ein alter mächtiger

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menschlich-allzumenschlicher Hauptsatz, den übrigens vielleicht auch schon die Affen unterschreiben würden : denn man erzählt, dass sie im Ausdenken von bizarren Grausamkeiten den Menschen bereits reichlich ankündigen und gleichsam „vorspielen“. Ohne Grausamkeit kein Fest : so lehrt es die älteste, längste Geschichte des Menschen – und auch an der Strafe ist so viel Fe s t l ic he s ! – | 7. – Mit diesen Gedanken, nebenbei gesagt, bin ich durchaus nicht Willens, unsren Pessimisten zu neuem Wasser auf ihre misstönigen und knarrenden Mühlen des Lebensüberdrusses zu verhelfen ; im Gegentheil soll ausdrücklich bezeugt sein, dass damals, als die Menschheit sich ihrer Grausamkeit noch nicht schämte, das Leben heiterer auf Erden war als jetzt, wo es Pessimisten giebt. Die Verdüsterung des Himmels über dem Menschen hat immer im Verhältniss dazu überhand genommen, als die Scham des Menschen vor d e m Me n s c he n gewachsen ist. Der müde pessimistische Blick, das Misstrauen zum Räthsel des Lebens, das eisige Nein des Ekels am Leben – das sind nicht die Abzeichen der b ö s e s t e n Zeitalter des Menschengeschlechts : sie treten vielmehr erst an das Tageslicht, als die Sumpfpflanzen, die sie sind, wenn der Sumpf da ist, zu dem sie gehören, – ich meine die krankhafte Verzärtlichung und Vermoralisirung, vermöge deren das Gethier „Mensch“ sich schliesslich aller seiner Instinkte schämen lernt. Auf dem Wege zum „Engel“ (um hier nicht ein härteres Wort zu gebrauchen) hat sich der Mensch jenen verdorbenen Magen und jene belegte Zunge angezüchtet, durch die ihm nicht nur die Freude und Unschuld des Thiers widerlich, sondern das Leben selbst unschmackhaft geworden ist : – so dass er mitunter vor sich selbst mit zugehaltener Nase dasteht und mit Papst Innocenz dem Dritten missbilligend den Katalog seiner Widerwärtigkeiten macht („unreine Erzeugung, ekelhafte Ernäh rung im Mutterleibe, Schlechtigkeit des Stoffs, aus dem der Mensch

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sich entwickelt, scheusslicher Gestank, Absonderung | von Speichel, Urin und Koth“). Jetzt, wo das Leiden immer als erstes unter den Argumenten g e g e n das Dasein aufmarschieren muss, als dessen schlimmstes Fragezeichen, thut man gut, sich der Zeiten zu erinnern, wo man umgekehrt urtheilte, weil man das Leiden -m ac he n nicht entbehren mochte und in ihm einen Zauber ersten Rangs, einen eigentlichen Verführungs-Köder z u m Leben sah. Vielleicht that damals – den Zärtlingen zum Trost gesagt  – der Schmerz noch nicht so weh wie heute ; wenigstens wird ein Arzt so schliessen dürfen, der Neger (diese als Repräsentanten des vorgeschichtlichen Menschen genommen –) bei schweren inneren Entzündungsfällen behandelt hat, welche auch den bestorganisirten Europäer fast zur Verzweiflung bringen ; – bei Negern thun sie dies n ic ht . (Die Curve der menschlichen Schmerzfähigkeit scheint in der That ausserordentlich und fast plötzlich zu sinken, sobald man erst die oberen Zehn-Tausend oder ZehnMillionen der Übercultur hinter sich hat ; und ich für meine Person zweifle nicht, dass, gegen Eine schmerzhafte Nacht eines einzigen hysterischen Bildungs-Weibchens gehalten, die Leiden aller Thiere insgesammt, welche bis jetzt zum Zweck wissenschaftlicher Antworten mit dem Messer befragt worden sind, einfach nicht in Betracht kommen.) Vielleicht ist es sogar erlaubt, die Möglichkeit zuzulassen, dass auch jene Lust an der Grausamkeit eigentlich nicht ausgestorben zu sein brauchte : nur bedürfte sie, im Verhältniss dazu, wie heute der Schmerz mehr weh thut, einer gewissen Sublimirung und Subtilisirung, sie müsste namentlich in’s Imaginative und Seelische übersetzt auftreten und geschmückt mit lauter so unbedenklichen Namen, dass von ihnen her auch dem zartesten hypokritischen Ge|wissen kein Verdacht kommt (das „tragische Mitleiden“ ist ein solcher Name ; ein andrer ist „les nostalgies de la croix“). Was eigentlich gegen das Leiden empört, ist nicht das Leiden an sich, sondern das Sinnlose des Leidens :

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aber weder für den Christen, der in das Leiden eine ganze geheime Heils-Maschinerie hineininterpretirt hat, noch für den naiven Menschen älterer Zeiten, der alles Leiden sich in Hinsicht auf Zuschauer oder auf Leiden-Macher auszulegen verstand, gab es überhaupt ein solches s i n n lo s e s Leiden. Damit das verborgne, unentdeckte, zeugenlose Leiden aus der Welt geschaff t und ehrlich negirt werden konnte, war man damals beinahe dazu genöthigt, Götter zu erfi nden und Zwischenwesen aller Höhe und Tiefe, kurz Etwas, das auch im Verborgnen schweift, das auch im Dunklen sieht und das sich nicht leicht ein interessantes schmerzhaftes Schauspiel entgehen lässt. Mit Hülfe solcher Erfi ndungen nämlich verstand sich damals das Leben auf das Kunststück, auf das es sich immer verstanden hat, sich selbst zu rechtfertigen, sein „Übel“ zu rechtfertigen ; jetzt bedürfte es vielleicht dazu andrer HülfsErfi ndungen (zum Beispiel Leben als Räthsel, Leben als Erkenntnissproblem). „Jedes Übel ist gerechtfertigt, an dessen Anblick ein Gott sich erbaut“ : so klang die vorzeitliche Logik des Gefühls – und wirklich, war es nur die vorzeitliche ? Die Götter als Freunde g r au s a me r Schauspiele gedacht – oh wie weit ragt diese uralte Vorstellung selbst noch in unsre europäische Vermenschlichung hinein ! man mag hierüber etwa mit Calvin und Luther zu Rathe gehn. Gewiss ist jedenfalls, dass noch die Gr ie c he n ihren Göttern keine angenehmere Zukost zu ihrem Glücke zu bieten wussten, als die Freuden der Grausamkeit. Mit welchen Augen | glaubt ihr denn, dass Homer seine Götter auf die Schicksale der Menschen niederblicken liess ? Welchen letzten Sinn hatten im Grunde trojanische Kriege und ähnliche tragische Furchtbarkeiten ? Man kann gar nicht daran zweifeln : sie waren als Fe s t s p ie le für die Götter gemeint : und, insofern der Dichter darin mehr als die übrigen Menschen „göttlich“ geartet ist, wohl auch als Festspiele für die Dichter … Nicht anders dachten sich später die Moral-Philosophen Griechenlands die Augen Gottes

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noch auf das moralische Ringen, auf den Heroismus und die Selbstquälerei des Tugendhaften herabblicken : der „Herakles der Pfl icht“ war auf einer Bühne, er wusste sich auch darauf ; die Tugend ohne Zeugen war für dies Schauspieler-Volk etwas ganz Undenk bares. Sollte nicht jene so verwegene, so verhängnissvolle Philosophen-Erfi ndung, welche damals zuerst für Europa gemacht wurde, die vom „freien Willen“, von der absoluten Spontaneität des Menschen im Guten und im Bösen, nicht vor Allem gemacht sein, um sich ein Recht zu der Vorstellung zu schaffen, dass das Interesse der Götter am Menschen, an der menschlichen Tugend s ic h n ie e r s c hö pf e n k ön ne ? Auf dieser Erden-Bühne sollte es niemals an wirklich Neuem, an wirklich unerhörten Spannungen, Verwicklungen, Katastrophen gebrechen : eine vollkommen deterministisch gedachte Welt würde für Götter errathbar und folglich in Kürze auch ermüdend gewesen sein,  – Grund genug für diese Fr eu nd e d e r G öt t e r, die Philosophen, ihren Göttern eine solche deterministische Welt nicht zuzumuthen ! Die ganze antike Menschheit ist voll von zarten Rücksichten auf „den Zuschauer“, als eine wesentlich öffentliche, wesentlich augenfällige Welt, die sich das Glück nicht ohne Schauspiele und Feste zu | denken wusste. – Und, wie schon gesagt, auch an der grossen St r a f e ist so viel Festliches ! … 8. Das Gefühl der Schuld, der persönlichen Verpfl ichtung, um den Gang unsrer Untersuchung wieder aufzunehmen, hat, wie wir sahen, seinen Ursprung in dem ältesten und ursprünglichsten Personen-Verhältniss, das es giebt, gehabt, in dem Verhältniss zwischen Käufer und Verkäufer, Gläubiger und Schuldner : hier trat zuerst Person gegen Person, hier m a s s s ic h zuerst Person an Person. Man hat keinen noch so niedren Grad von Civilisation aufgefunden, in dem nicht schon Etwas von diesem Verhältnisse bemerkbar würde.

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Preise machen, Werthe abmessen, Äquivalente ausdenken, tauschen  – das hat in einem solchen Maasse das allererste Denken des Menschen präoccupirt, dass es in einem gewissen Sinne d a s Denken ist : hier ist die älteste Art Scharfsinn herangezüchtet worden, hier möchte ebenfalls der erste Ansatz des menschlichen Stolzes, seines Vorrangs-Gefühls in Hinsicht auf anderes Gethier zu vermuthen sein. Vielleicht drückt noch unser Wort „Mensch“ (manas) gerade etwas von d ie s e m Selbstgefühl aus : der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werthe misst, werthet und misst, als das „abschätzende Thier an sich“. Kauf und Verkauf, sammt ihrem psychologischen Zubehör, sind älter als selbst die Anfänge irgend welcher gesellschaftlichen Organisationsformen und Verbände : aus der rudimentärsten Form des PersonenRechts hat sich vielmehr das keimende Gefühl von Tausch, Vertrag, Schuld, Recht, Verpfl ichtung, Ausgleich erst auf die gröbsten und anfänglichsten Gemeinschafts-Complexe (in deren Ver|hält niss zu ähnlichen Complexen) ü b e r t r a g e n , zugleich mit der Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen. Das Auge war nun einmal für diese Perspektive eingestellt : und mit jener plumpen Consequenz, die dem schwerbeweglichen, aber dann unerbittlich in gleicher Richtung weitergehenden Denken der älteren Menschheit eigenthümlich ist, langte man alsbald bei der grossen Verallgemeinerung an „jedes Ding hat seinen Preis ; A l le s kann abgezahlt werden“ – dem ältesten und naivsten Moral-Kanon der G e r e c h t i g k e it , dem Anfange aller „Gutmüthigkeit“, aller „Billigkeit“, alles „guten Willens“, aller „Objektivität“ auf Erden. Gerechtigkeit auf dieser ersten Stufe ist der gute Wille unter ungefähr Gleichmächtigen, sich mit einander abzufi nden, sich durch einen Ausgleich wieder zu „verständigen“ – und, in Bezug auf weniger Mächtige, diese unter sich zu einem Ausgleich zu z w i n g e n . –

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9. Immer mit dem Maasse der Vorzeit gemessen (welche Vorzeit übrigens zu allen Zeiten da ist oder wieder möglich ist) : so steht auch das Gemeinwesen zu seinen Gliedern in jenem wichtigen Grundverhältnisse, dem des Gläubigers zu seinen Schuldnern. Man lebt in einem Gemeinwesen, man geniesst die Vortheile eines Gemeinwesens (oh was für Vortheile ! wir unterschätzen es heute mitunter), man wohnt geschützt, geschont, im Frieden und Vertrauen, sorglos in Hinsicht auf gewisse Schädigungen und Feindseligkeiten, denen der Mensch au s s e r h a l b, der „Friedlose“, ausgesetzt ist – ein Deutscher versteht, was „Elend“, êlend ursprünglich besagen will –, wie man sich gerade in Hinsicht | auf diese Schädigungen und Feindseligkeiten der Gemeinde verpfändet und verpfl ichtet hat. Was wird i m a nd r e n Fa l l geschehn ? Die Gemeinschaft, der getäuschte Gläubiger, wird sich bezahlt machen, so gut er kann, darauf darf man rechnen. Es handelt sich hier am wenigsten um den unmittelbaren Schaden, den der Schädiger angestiftet hat : von ihm noch abgesehn, ist der Verbrecher vor allem ein „Brecher“, ein Vertrags- und Wortbrüchiger g e g e n d a s G a n z e , in Bezug auf alle Güter und Annehmlichkeiten des Gemeinlebens, an denen er bis dahin Antheil gehabt hat. Der Verbrecher ist ein Schuldner, der die ihm erwiesenen Vortheile und Vorschüsse nicht nur nicht zurückzahlt, sondern sich sogar an seinem Gläubiger vergreift : daher geht er von nun an, wie billig, nicht nur aller dieser Güter und Vor theile verlustig, – er wird vielmehr jetzt daran erinnert, wa s e s m it d ie sen Güter n au f s ic h h at. Der Zorn des geschädigten Gläubigers, des Gemeinwesens giebt ihn dem wilden und vogelfreien Zustande wieder zurück, vor dem er bisher behütet war : es stösst ihn von sich, – und nun darf sich jede Art Feindseligkeit an ihm auslassen. Die „Strafe“ ist auf dieser Stufe der Gesittung einfach das Abbild, der M i mu s des normalen Verhaltens gegen den gehassten, wehrlos

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gemachten, niedergeworfnen Feind, der nicht nur jedes Rechtes und Schutzes, sondern auch jeder Gnade verlustig gegangen ist ; also das Kriegsrecht und Siegesfest des vae victis ! in aller Schonungslosigkeit und Grausamkeit : – woraus es sich erklärt, dass der Krieg selbst (eingerechnet der kriegerische Opferkult) alle die For me n hergegeben hat, unter denen die Strafe in der Geschichte auftritt. | 10. Mit erstarkender Macht nimmt ein Gemeinwesen die Vergehungen des Einzelnen nicht mehr so wichtig, weil sie ihm nicht mehr in gleichem Maasse wie früher für das Bestehn des Ganzen als gefährlich und umstürzend gelten dürfen : der Übelthäter wird nicht mehr „friedlos gelegt“ und ausgestossen, der allgemeine Zorn darf sich nicht mehr wie früher dermaassen zügellos an ihm auslassen, – vielmehr wird von nun an der Übelthäter gegen diesen Zorn, sonderlich den der unmittelbar Geschädigten, vorsichtig von Seiten des Ganzen vertheidigt und in Schutz genommen. Der Compromiss mit dem Zorn der zunächst durch die Übelthat Betroffenen ; ein Bemühen darum, den Fall zu lokalisiren und einer weiteren oder gar allgemeinen Betheiligung und Beunruhigung vorzubeugen ; Versuche, Äquivalente zu fi nden und den ganzen Handel beizulegen (die compositio) ; vor allem der immer bestimmter auftretende Wille, jedes Vergehn als in irgend einem Sinne a b z a h l b a r zu nehmen, also, wenigstens bis zu einem gewissen Maasse, den Verbrecher und seine That von einander zu i s ol i r e n – das sind die Züge, die der ferneren Entwicklung des Strafrechts immer deutlicher aufgeprägt sind. Wächst die Macht und das Selbstbewusstsein eines Gemeinwesens, so mildert sich immer auch das Strafrecht ; jede Schwächung und tiefere Gefährdung von jenem bringt dessen härtere Formen wieder an’s Licht. Der „Gläubiger“ ist immer in dem Grade menschlicher geworden, als er reicher geworden

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ist ; zuletzt ist es selbst das Ma a s s seines Reichthums, wie viel Beeinträchtigung er aushalten kann, ohne daran zu leiden. Es wäre ein M ac ht b ew u s s t s e i n der Gesellschaft nicht undenkbar, bei dem sie sich den vor|nehmsten Luxus gönnen dürfte, den es für sie giebt,  – ihren Schädiger s t r a f lo s zu lassen. „Was gehen mich eigentlich meine Schmarotzer an ? dürfte sie dann sprechen. Mögen sie leben und gedeihen : dazu bin ich noch stark genug !“ … Die Gerechtigkeit, welche damit anhob „Alles ist abzahlbar, Alles muss abgezahlt werden“, endet damit, durch die Finger zu sehn und den Zahlungsunfähigen laufen zu lassen, – sie endet wie jedes gute Ding auf Erden, s ic h s e l b s t au f heb e nd . Diese Selbstaufhebung der Gerechtigkeit : man weiss, mit welch schönem Namen sie sich nennt – G n a d e ; sie bleibt, wie sich von selbst versteht, das Vorrecht des Mächtigsten, besser noch, sein Jenseits des Rechts. 11. – Hier ein ablehnendes Wort gegen neuerdings hervorgetretene Versuche, den Ursprung der Gerechtigkeit auf einem ganz andren Boden zu suchen, – nämlich auf dem des Ressentiment. Den Psychologen voran in’s Ohr gesagt, gesetzt dass sie Lust haben sollten, das Ressentiment selbst einmal aus der Nähe zu studieren : diese Pflanze blüht jetzt am schönsten unter Anarchisten und Antisemiten, übrigens so wie sie immer geblüht hat, im Verborgnen, dem Veilchen gleich, wenn schon mit andrem Duft. Und wie aus Gleichem nothwendig immer Gleiches hervorgehn muss, so wird es nicht überraschen, gerade wieder aus solchen Kreisen Versuche hervorgehen zu sehn, wie sie schon öfter dagewesen sind – vergleiche oben Seite 30 –, die R ac he unter dem Namen der G e r e c ht i g k e it zu heiligen  – wie als ob Gerechtigkeit im Grunde nur eine Fortentwicklung vom Gefühle des Verletzt-seins wäre – und mit der Rache die r e a k t i ve n Affekte überhaupt | und allesammt nachträglich zu Ehren zu bringen. An Letzterem selbst

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würde ich am wenigsten Anstoss nehmen : es schiene mir sogar in Hinsicht auf das ganze biologische Problem (in Bezug auf welches der Werth jener Affekte bisher unterschätzt worden ist) ein Ve r d ie n s t . Worauf ich allein aufmerksam mache, ist der Umstand, dass es der Geist des Ressentiment selbst ist, aus dem diese neue Nuance von wissenschaftlicher Billigkeit (zu Gunsten von Hass, Neid, Missgunst, Argwohn, Rancune, Rache) herauswächst. Diese „wissenschaftliche Billigkeit“ nämlich pausirt sofort und macht Accenten tödtlicher Feindschaft und Voreingenommenheit Platz, sobald es sich um eine andre Gruppe von Affekten handelt, die, wie mich dünkt, von einem noch viel höheren biologischen Werthe sind, als jene reaktiven, und folglich erst recht verdienten, w i s s e n s c h a f t l ic h abgeschätzt und hochgeschätzt zu werden : nämlich die eigentlich a k t i ve n Affekte, wie Herrschsucht, Habsucht und dergleichen. (E. Dühring, Werth des Lebens ; Cursus der Philosophie ; im Grunde überall.) So viel gegen diese Tendenz im Allgemeinen : was aber gar den einzelnen Satz Dühring’s angeht, dass die Heimat der Gerechtigkeit auf dem Boden des reaktiven Gefühls zu suchen sei, so muss man ihm, der Wahrheit zu Liebe, mit schroffer Umkehrung diesen andren Satz entgegenstellen : der let z t e Boden, der vom Geiste der Gerechtigkeit erobert wird, ist der Boden des reaktiven Gefühls ! Wenn es wirklich vorkommt, dass der gerechte Mensch gerecht sogar gegen seine Schädiger bleibt (und nicht nur kalt, massvoll, fremd, gleichgültig : Gerecht-sein ist immer ein p o s it i ve s Verhalten), wenn sich selbst unter dem Ansturz persönlicher Verletzung, Verhöhnung, Verdächtigung die hohe, klare, | ebenso tief als mildblickende Objektivität des gerechten, des r ic ht e nd e n Auges nicht trübt, nun, so ist das ein Stück Vollendung und höchster Meisterschaft auf Erden, – sogar Etwas, das man hier kluger Weise nicht erwarten, woran man jedenfalls nicht gar zu leicht g l au b e n soll. Gewiss ist durchschnittlich, dass selbst

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bei den rechtschaffensten Personen schon eine kleine Dosis von Angriff, Bosheit, Insinuation genügt, um ihnen das Blut in die Augen und die Billigkeit au s den Augen zu jagen. Der aktive, der angreifende, übergreifende Mensch ist immer noch der Gerechtigkeit hundert Schritte näher gestellt als der reaktive ; es ist eben für ihn durchaus nicht nöthig, in der Art, wie es der reaktive Mensch thut, thun muss, sein Objekt falsch und voreingenommen abzuschätzen. Thatsächlich hat deshalb zu allen Zeiten der aggressive Mensch, als der Stärkere, Muthigere, Vornehmere, auch das f r e ie r e Auge, das b e s s e r e Gewissen auf seiner Seite gehabt : umgekehrt erräth man schon, wer überhaupt die Erfi ndung des „schlechten Gewissens“ auf dem Gewissen hat, – der Mensch des Ressentiment ! Zuletzt sehe man sich doch in der Geschichte um : in welcher Sphäre ist denn bisher überhaupt die ganze Handhabung des Rechts, auch das eigentliche Bedürfniss nach Recht auf Erden heimisch gewesen ? Etwa in der Sphäre der reaktiven Menschen ? Ganz und gar nicht : vielmehr in der der Aktiven, Starken, Spontanen, Aggressiven. Historisch betrachtet, stellt das Recht auf Erden – zum Verdruss des genannten Agitator’s sei es gesagt (der selber einmal über sich das Bekenntniss ablegt : „die Rachelehre hat sich als der rothe Gerechtigkeitsfaden durch alle meine Arbeiten und Anstrengungen hindurchgezogen“) – den Kampf gerade w id e r die reaktiven | Gefühle vor, den Krieg mit denselben seitens aktiver und aggressiver Mächte, welche ihre Stärke zum Theil dazu verwendeten, der Ausschweifung des reaktiven Pathos Halt und Maass zu gebieten und einen Vergleich zu erzwingen. Überall, wo Gerechtigkeit geübt, Gerechtigkeit aufrecht erhalten wird, sieht man eine stärkere Macht in Bezug auf ihr unterstehende Schwächere (seien es Gruppen, seien es Einzelne) nach Mitteln suchen, unter diesen dem unsinnigen Wüthen des Ressentiment ein Ende zu machen, indem sie theils das Objekt des Ressentiment aus den Händen der Rache herauszieht, theils an Stelle

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der Rache ihrerseits den Kampf gegen die Feinde des Friedens und der Ordnung setzt, theils Ausgleiche erfi ndet, vorschlägt, unter Umständen aufnöthigt, theils gewisse Äquivalente von Schädigungen zur Norm erhebt, an welche von nun an das Ressentiment ein für alle Mal gewiesen ist. Das Entscheidendste aber, was die oberste Gewalt gegen die Übermacht der Gegen- und Nachgefühle thut und durchsetzt – sie thut es immer, sobald sie irgendwie stark genug dazu ist  – ist die Aufrichtung des G e s et z e s , die imperativische Erklärung darüber, was überhaupt unter ihren Augen als erlaubt, als recht, was als verboten, als unrecht zu gelten habe : indem sie nach Aufrichtung des Gesetzes Übergriffe und Willkür-Akte Einzelner oder ganzer Gruppen als Frevel am Gesetz, als Auflehnung gegen die oberste Gewalt selbst behandelt, lenkt sie das Gefühl ihrer Untergebenen von dem nächsten durch solche Frevel angerichteten Schaden ab und erreicht damit auf die Dauer das Umgekehrte von dem, was alle Rache will, welche den Gesichtspunkt des Geschädigten allein sieht, allein gelten lässt – : von nun an wird das Auge für | eine immer u n p e r s ö n l i c he r e Abschätzung der That eingeübt, sogar das Auge des Geschädigten selbst (obschon dies am allerletzten, wie voran bemerkt wurde). – Demgemäss giebt es erst von der Aufrichtung des Gesetzes an „Recht“ und „Unrecht“ (und n ic ht , wie Dühring will, von dem Akte der Verletzung an). A n s ic h von Recht und Unrecht reden entbehrt alles Sinn’s, a n s ic h kann natürlich ein Verletzen, Vergewaltigen, Ausbeuten, Vernichten nichts „Unrechtes“ sein, insofern das Leben e s s e n t ie l l , nämlich in seinen Grundfunktionen verletzend, vergewaltigend, ausbeutend, vernichtend fungirt und gar nicht gedacht werden kann ohne diesen Charakter. Man muss sich sogar noch etwas Bedenklicheres eingestehn : dass, vom höchsten biologischen Standpunkte aus, Rechtszustände immer nur Au s n a h me -Zu s t ä nd e sein dürfen, als theilweise Restriktionen des eigentlichen Lebenswillens, der auf Macht aus

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ist, und sich dessen Gesammtzwecke als Einzelmittel unterordnend : nämlich als Mittel, g r ö s s e r e Macht-Einheiten zu schaffen. Eine Rechtsordnung souverain und allgemein gedacht, nicht als Mittel im Kampf von Macht-Complexen, sondern als Mittel g e g e n allen Kampf überhaupt, etwa gemäss der Communisten-Schablone Dühring’s, dass jeder Wille jeden Willen als gleich zu nehmen habe, wäre ein leb e n s f e i n d l ic h e s Princip, eine Zerstörerin und Auflöserin des Menschen, ein Attentat auf die Zukunft des Menschen, ein Zeichen von Ermüdung, ein Schleichweg zum Nichts. – 12. Hier noch ein Wort über Ursprung und Zweck der Strafe – zwei Probleme, die auseinander fallen oder fallen sollten : leider wirft man sie gewöhnlich in Eins. | Wie treiben es doch die bisherigen Moral-Genealogen in diesem Falle ? Naiv, wie sie es immer getrieben haben – : sie machen irgend einen „Zweck“ in der Strafe ausfi ndig, zum Beispiel Rache oder Abschreckung, setzen dann arglos diesen Zweck an den Anfang, als causa fiendi der Strafe, und – sind fertig. Der „Zweck im Rechte“ ist aber zu allerletzt für die Entstehungsgeschichte des Rechts zu verwenden : vielmehr giebt es für alle Art Historie gar keinen wichtigeren Satz als jenen, der mit solcher Mühe errungen ist, aber auch wirklich errungen s e i n s ol lt e, – dass nämlich die Ursache der Entstehung eines Dings und dessen schliessliche Nützlichkeit, dessen thatsächliche Verwendung und Einordnung in ein System von Zwecken toto coelo auseinander liegen ; dass etwas Vorhandenes, irgendwie Zu-Stande-Gekommenes immer wieder von einer ihm überlegenen Macht auf neue Ansichten ausgelegt, neu in Beschlag genommen, zu einem neuen Nutzen umgebildet und umgerichtet wird ; dass alles Geschehen in der organischen Welt ein Ü b e r w ä lt i g e n , He r r we r d e n und dass wiederum alles Überwältigen und Herrwerden ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen ist,

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bei dem der bisherige „Sinn“ und „Zweck“ nothwendig verdunkelt oder ganz ausgelöscht werden muss. Wenn man die Nüt z l ic h k e it von irgend welchem physiologischen Organ (oder auch einer Rechts-Institution, einer gesellschaftlichen Sitte, eines politischen Brauchs, einer Form in den Künsten oder im religiösen Cultus) noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch nichts in Betreff seiner Entstehung begriffen : so unbequem und unangenehm dies älteren Ohren klingen mag,  – denn von Alters her hatte man in dem nachweisbaren Zwecke, in der Nützlichkeit eines Dings, | einer Form, einer Einrichtung auch deren Entstehungsgrund zu begreifen geglaubt, das Auge als gemacht zum Sehen, die Hand als gemacht zum Greifen. So hat man sich auch die Strafe vorgestellt als erfunden zum Strafen. Aber alle Zwecke, alle Nützlichkeiten sind nur A n z e ic he n davon, dass ein Wille zur Macht über etwas weniger Mächtiges Herr geworden ist und ihm von sich aus den Sinn einer Funktion aufgeprägt hat ; und die ganze Geschichte eines „Dings“, eines Organs, eines Brauchs kann dergestalt eine fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtmachungen sein, deren Ursachen selbst unter sich nicht im Zusammenhange zu sein brauchen, vielmehr unter Umständen sich bloss zufällig hinter einander folgen und ablösen. „Entwicklung“ eines Dings, eines Brauchs, eines Organs ist demgemäss nichts weniger als sein progressus auf ein Ziel hin, noch weniger ein logischer und kürzester, mit dem kleinsten Aufwand von Kraft und Kosten erreichter progressus, – sondern die Aufeinanderfolge von mehr oder minder tiefgehenden, mehr oder minder von einander unabhängigen, an ihm sich abspielenden Überwältigungsprozessen, hinzugerechnet die dagegen jedes Mal aufgewendeten Widerstände, die versuchten Form-Verwandlungen zum Zweck der Vertheidigung und Reaktion, auch die Resultate gelungener Gegenaktionen. Die Form ist flüssig, der „Sinn“ ist es aber noch mehr … Selbst innerhalb

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jedes einzelnen Organismus steht es nicht anders : mit jedem wesentlichen Wachsthum des Ganzen verschiebt sich auch der „Sinn“ der einzelnen Organe,  – unter Umständen kann deren theilweises Zu-Grunde-Gehn, deren Zahl-Verminderung (zum Beispiel durch Vernichtung der Mittelglieder) ein Zeichen wachsender Kraft und | Vollkommenheit sein. Ich wollte sagen : auch das theilweise Un nüt z l ic hwe r d e n , das Verkümmern und Entarten, das Verlustiggehn von Sinn und Zweckmässigkeit, kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus : als welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu g r ö s s e r e r M ac ht erscheint und immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte durchgesetzt wird. Die Grösse eines „Fortschritts“ b e m i s s t sich sogar nach der Masse dessen, was ihm Alles geopfert werden musste ; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen s t ä r k e r e n Species Mensch geopfert – das w ä r e ein Fortschritt … – Ich hebe diesen Haupt-Gesichtspunkt der historischen Methodik hervor, um so mehr als er im Grunde dem gerade herrschenden Instinkte und Zeitgeschmack entgegen geht, welcher lieber sich noch mit der absoluten Zufälligkeit, ja mechanistischen Unsinnigkeit alles Geschehens vertragen würde, als mit der Theorie eines in allem Geschehn sich abspielenden M ac ht-W i l le n s . Die demokratische Idiosynkrasie gegen Alles, was herrscht und herrschen will, der moderne M i s a r c h i s mu s (um ein schlechtes Wort für eine schlechte Sache zu bilden) hat sich allmählich dermaassen in’s Geistige, Geistigste umgesetzt und verkleidet, dass er heute Schritt für Schritt bereits in die strengsten, anscheinend objektivsten Wissenschaften eindringt, eindringen d a r f ; ja er scheint mir schon über die ganze Physiologie und Lehre vom Leben Herr geworden zu sein, zu ihrem Schaden, wie sich von selbst versteht, indem er ihr einen Grundbegriff, den der eigentlichen A k t i v it ät , eskamotirt hat. Man stellt dagegen unter dem Druck jener Idiosynkrasie die „Anpassung“ in den

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Vordergrund, das heisst eine Aktivität zweiten Ranges, | eine blosse Reaktivität, ja man hat das Leben selbst als eine immer zweckmässigere innere Anpassung an äussere Umstände defi nirt (Herbert Spencer). Damit ist aber das Wesen des Lebens verkannt, sein W i l le z u r M ac ht ; damit ist der principielle Vorrang übersehn, den die spontanen, angreifenden, übergreifenden, neu-auslegenden, neu-richtenden und gestaltenden Kräfte haben, auf deren Wirkung erst die „Anpassung“ folgt ; damit ist im Organismus selbst die herrschaftliche Rolle der höchsten Funktionäre abgeleugnet, in denen der Lebenswille aktiv und formgebend erscheint. Man erinnert sich, was Huxley Spencern zum Vorwurf gemacht hat, – seinen „administrativen Nihilismus“ : aber es handelt sich noch um me h r als um’s „Administriren“ … 13. – Man hat also, um zur Sache, nämlich zur St r a f e zurückzukehren, zweierlei an ihr zu unterscheiden : einmal das relativ D aue r h a f t e an ihr, den Brauch, den Akt, das „Drama“, eine gewisse strenge Abfolge von Prozeduren, andrerseits das F lü s s i g e an ihr, den Sinn, den Zweck, die Erwartung, welche sich an die Ausführung solcher Prozeduren knüpft. Hierbei wird ohne Weiteres vorausgesetzt, per analogiam, gemäss dem eben entwickelten Hauptgesichtspunkte der historischen Methodik, dass die Prozedur selbst etwas Älteres, Früheres als ihre Benützung zur Strafe sein wird, dass letztere erst in die (längst vorhandene, aber in einem anderen Sinne übliche) Prozedur h i ne i n g e le g t , hineingedeutet worden ist, kurz, dass es n ic ht so steht, wie unsre naiven Moral- und Rechtsgenealogen bisher annahmen, welche sich allesammt die Prozedur e r f u nd e n dachten zum Zweck der Strafe, so wie man sich ehe|mals die Hand erfunden dachte zum Zweck des Greifens. Was nun jenes andre Element an der Strafe betriff t, das flüssige, ihren „Sinn“, so stellt in einem sehr späten Zustande der

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Cultur (zum Beispiel im heutigen Europa) der Begriff „Strafe“ in der That gar nicht mehr Einen Sinn vor, sondern eine ganze Synthesis von „Sinnen“ : die bisherige Geschichte der Strafe überhaupt, die Geschichte ihrer Ausnützung zu den verschiedensten Zwecken, krystallisirt sich zuletzt in eine Art von Einheit, welche schwer löslich, schwer zu analysiren und, was man hervorheben muss, ganz und gar u n d e f i n i r b a r ist. (Es ist heute unmöglich, bestimmt zu sagen, w a r u m eigentlich gestraft wird : alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozess semiotisch zusammenfasst, entziehen sich der Definition ; defi nirbar ist nur Das, was keine Geschichte hat.) In einem früheren Stadium erscheint dagegen jene Synthesis von „Sinnen“ noch löslicher, auch noch verschiebbarer ; man kann noch wahrnehmen, wie für jeden einzelnen Fall die Elemente der Synthesis ihre Werthigkeit verändern und sich demgemäss umordnen, so dass bald dies, bald jenes Element auf Kosten der übrigen hervortritt und dominirt, ja unter Umständen Ein Element (etwa der Zweck der Abschreckung) den ganzen Rest von Elementen aufzuheben scheint. Um wenigstens eine Vorstellung davon zu geben, wie unsicher, wie nachträglich, wie accidentiell „der Sinn“ der Strafe ist und wie ein und dieselbe Prozedur auf grundverschiedne Absichten hin benützt, gedeutet, zurechtgemacht werden kann : so stehe hier das Schema, das sich mir selbst auf Grund eines verhältnissmässig kleinen und zufälligen Materials ergeben hat. Strafe als Unschädlichmachen, als Verhinderung weiteren Schädigens. Strafe | als Abzahlung des Schadens an den Geschädigten, in irgend einer Form (auch in der einer Affekt-Compensation). Strafe als Isolirung einer Gleichgewichts-Störung, um ein Weitergreifen der Störung zu verhüten. Strafe als Furchteinflössen vor Denen, welche die Strafe bestimmen und exekutiren. Strafe als eine Art Ausgleich für die Vortheile, welche der Verbrecher bis dahin genossen hat (zum Beispiel wenn er als Bergwerkssklave nutzbar gemacht wird). Strafe als Ausscheidung eines ent-

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artenden Elementes (unter Umständen eines ganzen Zweigs, wie nach chinesischem Rechte : somit als Mittel zur Reinerhaltung der Rasse oder zur Festhaltung eines socialen Typus). Strafe als Fest, nämlich als Vergewaltigung und Verhöhnung eines endlich niedergeworfnen Feindes. Strafe als ein Gedächtnissmachen, sei es für Den, der die Strafe erleidet – die sogenannte „Besserung“, sei es für die Zeugen der Exekution. Strafe als Zahlung eines Honorars, ausbedungen Seitens der Macht, welche den Übelthäter vor den Ausschweifungen der Rache schützt. Strafe als Compromiss mit dem Naturzustand der Rache, sofern letzterer durch mächtige Geschlechter noch aufrecht erhalten und als Privilegium in Anspruch genommen wird. Strafe als Kriegserklärung und Kriegsmaassregel gegen einen Feind des Friedens, des Gesetzes, der Ordnung, der Obrigkeit, den man als gefährlich für das Gemeinwesen, als vertragsbrüchig in Hinsicht auf dessen Voraussetzungen, als einen Empörer, Verräther und Friedensbrecher bekämpft, mit Mitteln, wie sie eben der Krieg an die Hand giebt. – 14. Diese Liste ist gewiss nicht vollständig ; ersichtlich ist die Strafe mit Nützlichkeiten aller Art überladen. | Um so eher darf man von ihr eine ve r me i nt l ic he Nützlichkeit in Abzug bringen, die allerdings im populären Bewusstsein als ihre wesentlichste gilt, – der Glaube an die Strafe, der heute aus mehreren Gründen wackelt, fi ndet gerade an ihr immer noch seine kräftigste Stütze. Die Strafe soll den Werth haben, das G ef ü h l der Sc hu ld im Schuldigen aufzuwecken, man sucht in ihr das eigentliche instrumentum jener seelischen Reaktion, welche „schlechtes Gewissen“, „Gewissensbiss“ genannt wird. Aber damit vergreift man sich selbst für heute noch an der Wirklichkeit und der Psychologie : und wie viel mehr für die längste Geschichte des Menschen, seine Vorgeschichte ! Der ächte Gewissensbiss ist gerade unter Verbrechern und Sträf-

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lingen etwas äusserst Seltenes, die Gefängnisse, die Zuchthäuser sind n ic ht die Brutstätten, an denen diese Species von Nagewurm mit Vorliebe gedeiht : – darin kommen alle gewissenhaften Beobachter überein, die in vielen Fällen ein derartiges Urtheil ungern genug und wider die eigensten Wünsche abgeben. In’s Grosse gerechnet, härtet und kältet die Strafe ab ; sie concentrirt ; sie verschärft das Gefühl der Entfremdung ; sie stärkt die Widerstandskraft. Wenn es vorkommt, dass sie die Energie zerbricht und eine erbärmliche Prostration und Selbsterniedrigung zu Wege bringt, so ist ein solches Ergebniss sicherlich noch weniger erquicklich als die durchschnittliche Wirkung der Strafe : als welche sich durch einen trocknen düsteren Ernst charakterisirt. Denken wir aber gar an jene Jahrtausende vor der Geschichte des Menschen, so darf man unbedenklich urtheilen, dass gerade durch die Strafe die Entwicklung des Schuldgefühls am kräftigsten au f g e h a lt e n worden ist, – wenigstens in Hinsicht auf die Opfer, an | denen sich die strafende Gewalt ausliess. Unterschätzen wir nämlich nicht, inwiefern der Verbrecher gerade durch den Anblick der gerichtlichen und vollziehenden Prozeduren selbst verhindert wird, seine That, die Art seiner Handlung, a n s ic h als verwerfl ich zu empfi nden : denn er sieht genau die gleiche Art von Handlungen im Dienst der Gerechtigkeit verübt und dann gut geheissen, mit gutem Gewissen verübt : also Spionage, Überlistung, Bestechung, Fallenstellen, die ganze kniffl iche und durchtriebne Polizisten- und Anklägerkunst, sodann das grundsätzliche, selbst nicht durch den Affekt entschuldigte Berauben, Überwältigen, Beschimpfen, Gefangennehmen, Foltern, Morden, wie es in den verschiednen Arten der Strafe sich ausprägt,  – Alles somit von seinen Richtern keineswegs a n s ic h verworfene und verurtheilte Handlungen, sondern nur in einer gewissen Hinsicht und Nutzanwendung. Das „schlechte Gewissen“, diese unheimlichste und interessanteste Pflanze unsrer irdischen Vegetation, ist n ic ht

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auf diesem Boden gewachsen, – in der That drückte sich im Bewusstsein der Richtenden, der Strafenden selbst die längste Zeit hindurch Nic ht s davon aus, dass man mit einem „Schuldigen“ zu thun habe. Sondern mit einem Schaden-Anstifter, mit einem unverantwortlichen Stück Verhängniss. Und Der selber, über den nachher die Strafe, wiederum wie ein Stück Verhängniss, herfiel, hatte dabei keine andre „innere Pein“, als wie beim plötzlichen Eintreten von etwas Unberechnetem, eines schrecklichen Naturereignisses, eines herabstürzenden, zermalmenden Felsblockes, gegen den es keinen Kampf mehr giebt. 15. Dies kam einmal auf eine verfängliche Weise Spinoza zum Bewusstsein (zum Verdruss seiner Ausleger, | welche sich ordentlich darum b e mü he n , ihn an dieser Stelle misszuverstehn, zum Beispiel Kuno Fischer), als er eines Nachmittags, wer weiss, an was für einer Erinnerung sich reibend, der Frage nachhieng, was eigentlich für ihn selbst von dem berühmten mor s u s co n s c ie nt i ae übrig geblieben sei – er, der Gut und Böse unter die menschlichen Einbildungen verwiesen und mit Ingrimm die Ehre seines „freien“ Gottes gegen jene Lästerer vertheidigt hatte, deren Behauptung dahin gieng, Gott wirke Alles sub ratione boni („das aber hiesse Gott dem Schicksale unterwerfen und wäre fürwahr die grösste aller Ungereimtheiten“ –). Die Welt war für Spinoza wieder in jene Unschuld zurückgetreten, in der sie vor der Erfi ndung des schlechten Gewissens dalag : was war damit aus dem morsus conscientiae geworden ? „Der Gegensatz des gaudium, sagte er sich endlich, – eine Traurigkeit, begleitet von der Vorstellung einer vergangnen Sache, die gegen alles Erwarten ausgefallen ist.“ Eth. III propos. XVII schol. I. II. N i c ht a nd e r s a l s S p i no z a haben die von der Strafe ereilten Übel-Anstifter Jahrtausende lang in Betreff ihres „Vergehens“ empfunden : „hier ist Etwas unvermuthet schief gegangen“, n ic ht : „das hätte ich nicht

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thun sollen“ –, sie unterwarfen sich der Strafe, wie man sich einer Krankheit oder einem Unglücke oder dem Tode unterwirft, mit jenem beherzten Fatalismus ohne Revolte, durch den zum Beispiel heute noch die Russen in der Handhabung des Lebens gegen uns Westländer im Vortheil sind. Wenn es damals eine Kritik der That gab, so war es die Klugheit, die an der That Kritik übte : ohne Frage müssen wir die eigentliche W i r k u n g der Strafe vor Allem in einer Verschärfung der Klugheit suchen, in einer Verlängerung des | Gedächtnisses, in einem Willen, fürderhin vorsichtiger, misstrauischer, heimlicher zu Werke zu gehn, in der Einsicht, dass man für Vieles ein-für-alle-Mal zu schwach sei, in einer Art Verbesserung der Selbstbeurtheilung. Das, was durch die Strafe im Grossen erreicht werden kann, bei Mensch und Thier, ist die Vermehrung der Furcht, die Verschärfung der Klugheit, die Bemeisterung der Begierden : damit z ä h mt die Strafe den Menschen, aber sie macht ihn nicht „besser“,  – man dürfte mit mehr Recht noch das Gegentheil behaupten. („Schaden macht klug“, sagt das Volk : soweit er klug macht, macht er auch schlecht. Glücklicher Weise macht er oft genug dumm.) 16. An dieser Stelle ist es nun nicht mehr zu umgehn, meiner eignen Hypothese über den Ursprung des „schlechten Gewissens“ zu einem ersten vorläufigen Ausdrucke zu verhelfen : sie ist nicht leicht zu Gehör zu bringen und will lange bedacht, bewacht und beschlafen sein. Ich nehme das schlechte Gewissen als die tiefe Erkrankung, welcher der Mensch unter dem Druck jener gründlichsten aller Veränderungen verfallen musste, die er überhaupt erlebt hat, – jener Veränderung, als er sich endgültig in den Bann der Gesellschaft und des Friedens eingeschlossen fand. Nicht anders als es den Wasser thieren ergangen sein muss, als sie gezwungen wurden, entweder Landthiere zu werden oder zu Grunde zu gehn, so gieng es

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diesen der Wildniss, dem Kriege, dem Herumschweifen, dem Abenteuer glücklich angepassten Halbthieren,  – mit Einem Male waren alle ihre Instinkte entwerthet und „ausgehängt“. Sie sollten nunmehr auf den Füssen gehn und „sich selber tragen“, wo sie bisher vom | Wasser getragen wurden : eine entsetzliche Schwere lag auf ihnen. Zu den einfachsten Verrichtungen fühlten sie sich ungelenk, sie hatten für diese neue unbekannte Welt ihre alten Führer nicht mehr, die regulirenden unbewusst-sicherführenden Triebe, – sie waren auf Denken, Schliessen, Berechnen, Combiniren von Ursachen und Wirkungen reduzirt, diese Unglücklichen, auf ihr „Bewusstsein“, auf ihr ärmlichstes und fehlgreifendstes Organ ! Ich glaube, dass niemals auf Erden ein solches Elends-Gefühl, ein solches bleiernes Missbehagen dagewesen ist, – und dabei hatten jene alten Instinkte nicht mit Einem Male aufgehört, ihre Forderungen zu stellen ! Nur war es schwer und selten möglich, ihnen zu Willen zu sein : in der Hauptsache mussten sie sich neue und gleichsam unterirdische Befriedigungen suchen. Alle Instinkte, welche sich nicht nach Aussen entladen, we nd e n s ic h n ac h I n ne n  – dies ist das , was ich die Ve r i n ne rl ic hu n g des Menschen nenne : damit wächst erst das an den Menschen heran, was man später seine „Seele“ nennt. Die ganze innere Welt, ursprünglich dünn wie zwischen zwei Häute eingespannt, ist in dem Maasse aus einander- und aufgegangen, hat Tiefe, Breite, Höhe bekommen, als die Entladung des Menschen nach Aussen g e h e m mt worden ist. Jene furchtbaren Bollwerke, mit denen sich die staatliche Organisation gegen die alten Instinkte der Freiheit schützte – die Strafen gehören vor Allem zu diesen Bollwerken – brachten zu Wege, dass alle jene Instinkte des wilden freien schweifenden Menschen sich rückwärts, sich g eg en den Men sc hen se lbst wandten. Die Feindschaft, die Grausamkeit, die Lust an der Verfolgung, am Überfall, am Wechsel, an der Zerstörung – Alles das gegen die Inhaber solcher In|stinkte sich wen-

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dend : d a s ist der Ursprung des „schlechten Gewissens“. Der Mensch, der sich, aus Mangel an äusseren Feinden und Widerständen, eingezwängt in eine drückende Enge und Regelmässigkeit der Sitte, ungeduldig selbst zerriss, verfolgte, annagte, aufstörte, misshandelte, dies an den Gitterstangen seines Käfigs sich wund stossende Thier, das man „zähmen“ will, dieser Entbehrende und vom Heimweh der Wüste Verzehrte, der aus sich selbst ein Abenteuer, eine Folterstätte, eine unsichere und gefährliche Wildniss schaffen musste  – dieser Narr, dieser sehnsüchtige und verzweifelte Gefangne wurde der Erfi nder des „schlechten Gewissens“. Mit ihm aber war die grösste und unheimlichste Erkrankung eingeleitet, von welcher die Menschheit bis heute nicht genesen ist, das Leiden des Menschen a m Men sc hen , an s ic h : als die Folge einer gewaltsamen Abtrennung von der thierischen Vergangenheit, eines Sprunges und Sturzes gleichsam in neue Lagen und Daseins-Bedingungen, einer Kriegserklärung gegen die alten Instinkte, auf denen bis dahin seine Kraft, Lust und Furchtbarkeit beruhte. Fügen wir sofort hinzu, dass andrerseits mit der Thatsache einer gegen sich selbst gekehrten, gegen sich selbst Partei nehmenden Thierseele auf Erden etwas so Neues, Tiefes, Unerhörtes, Räthselhaftes, Widerspruchsvolles u nd Z u k u n f t s vol le s gegeben war, dass der Aspekt der Erde sich damit wesentlich veränderte. In der That, es brauchte göttlicher Zuschauer, um das Schauspiel zu würdigen, das damit anfieng und dessen Ende durchaus noch nicht abzusehen ist, – ein Schauspiel zu fein, zu wundervoll, zu paradox, als dass es sich sinnlos-unvermerkt auf irgend einem lächerlichen Gestirn abspielen dürfte ! Der Mensch zählt seitdem m it unter | den unerwartetsten und aufregendsten Glückswürfen, die das „grosse Kind“ des Heraklit, heisse es Zeus oder Zufall, spielt, – er erweckt für sich ein Interesse, eine Spannung, eine Hoff nung, beinahe eine Gewissheit, als ob mit ihm sich Etwas ankündige, Etwas vorbereite, als ob der Mensch kein

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Ziel, sondern nur ein Weg, ein Zwischenfall, eine Brücke, ein grosses Versprechen sei … 17. Zur Voraussetzung dieser Hypothese über den Ursprung des schlechten Gewissens gehört erstens, dass jene Veränderung keine allmähliche, keine freiwillige war und sich nicht als ein organisches Hineinwachsen in neue Bedingungen darstellte, sondern als ein Bruch, ein Sprung, ein Zwang, ein unabweisbares Verhängniss‚ gegen das es keinen Kampf und nicht einmal ein Ressentiment gab. Zweitens aber, dass die Einfügung einer bisher ungehemmten und ungestalteten Bevölkerung in eine feste Form, wie sie mit einem Gewaltakt ihren Anfang nahm, nur mit lauter Gewaltakten zu Ende geführt wurde, – dass der älteste „Staat“ demgemäss als eine furchtbare Tyrannei, als eine zerdrückende und rücksichtslose Maschinerie auftrat und fortarbeitete‚ bis ein solcher Rohstoff von Volk und Halbthier endlich nicht nur durchgeknetet und gefügig, sondern auch g e for mt war. Ich gebrauchte das Wort „Staat“ : es versteht sich von selbst, wer damit gemeint ist – irgend ein Rudel blonder Raubthiere, eine Eroberer- und Herren-Rasse, welche, kriegerisch organisirt und mit der Kraft, zu organisiren, unbedenklich ihre furchtbaren Tatzen auf eine der Zahl nach vielleicht ungeheuer überlegene, aber noch gestaltlose, noch schweifende Bevölkerung legt. Dergestalt beginnt | ja der „Staat“ auf Erden : ich denke, jene Schwärmerei ist abgethan, welche ihn mit einem „Vertrage“ beginnen liess. Wer befehlen kann, wer von Natur „Herr“ ist, wer gewaltthätig in Werk und Gebärde auftritt – was hat der mit Verträgen zu schaffen ! Mit solchen Wesen rechnet man nicht, sie kommen wie das Schicksal, ohne Grund, Vernunft, Rücksicht, Vorwand, sie sind da wie der Blitz da ist, zu furchtbar, zu plötzlich, zu überzeugend, zu „anders“, um selbst auch nur gehasst zu werden. Ihr Werk ist ein instinktives Formen-schaffen, Formen-aufdrücken, es sind die unfreiwilligsten, unbewuss-

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testen Künstler, die es giebt :  – in Kürze steht etwas Neues da, wo sie erscheinen, ein Herrschafts-Gebilde, das lebt , in dem Theile und Funktionen abgegrenzt und bezüglich gemacht sind, in dem Nichts überhaupt Platz fi ndet, dem nicht erst ein „Sinn“ in Hinsicht auf das Ganze eingelegt ist. Sie wissen nicht, was Schuld, was Verantwortlichkeit, was Rücksicht ist, diese geborenen Organisatoren ; in ihnen waltet jener furchtbare Künstler-Egoismus, der wie Erz blickt und sich im „Werke“, wie die Mutter in ihrem Kinde, in alle Ewigkeit voraus gerechtfertigt weiss. S ie sind es nicht, bei denen das „schlechte Gewissen“ gewachsen ist, das versteht sich von vornherein, – aber es würde nicht oh ne s ie gewachsen sein, dieses hässliche Gewächs, es würde fehlen, wenn nicht unter dem Druck ihrer Hammerschläge, ihrer Künstler-Gewaltsamkeit ein ungeheures Quantum Freiheit aus der Welt, mindestens aus der Sichtbarkeit geschaff t und gleichsam l at e nt gemacht worden wäre. Dieser gewaltsam latent gemachte I n s t i n k t d e r F r e i h e it   – wir begriffen es schon  – dieser zurückgedrängte, zurückgetretene, in’s Innere eingekerkerte und zuletzt nur an sich selbst | noch sich entladende und auslassende Instinkt der Freiheit : das, nur das ist in seinem Anbeginn das s c h le c ht e G ew i s s e n . 18. Man hüte sich, von diesem ganzen Phänomen deshalb schon gering zu denken, weil es von vornherein hässlich und schmerzhaft ist. Im Grunde ist es ja dieselbe aktive Kraft, die in jenen Gewalt-Künstlern und Organisatoren grossartiger am Werke ist und Staaten baut, welche hier, innerlich, kleiner, kleinlicher, in der Richtung nach rückwärts, im „Labyrinth der Brust“, um mit Goethe zu reden, sich das schlechte Gewissen schaff t und negative Ideale baut, eben jener I n s t i n k t d e r Fr e i he it (in meiner Sprache geredet : der Wille zur Macht) : nur dass der Stoff, an dem sich die formbildende

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und vergewaltigende Natur dieser Kraft auslässt, hier eben der Mensch selbst, sein ganzes thierisches altes Selbst ist  – und n ic ht , wie in jenem grösseren und augenfälligeren Phänomen, der a nd r e Mensch, die a nd r e n Menschen. Diese heimliche Selbst-Vergewaltigung, diese Künstler-Grausamkeit, diese Lust, sich selbst als einem schweren widerstrebenden leidenden Stoffe eine Form zu geben, einen Willen, eine Kritik, einen Widerspruch, eine Verachtung, ein Nein einzubrennen, diese unheimliche und entsetzlich-lustvolle Arbeit einer mit sich selbst willig-zwiespältigen Seele, welche sich leiden macht, aus Lust am Leidenmachen, dieses ganze a kt iv i sc he „schlechte Gewissen“ hat zuletzt – man erräth es schon – als der eigentliche Mutterschooss idealer und imaginativer Ereignisse auch eine Fülle von neuer befremdlicher Schönheit und Bejahung an’s Licht gebracht und vielleicht überhaupt | erst d ie Schönheit  … Was wäre denn „schön“, wenn nicht erst der Widerspruch sich selbst zum Bewusstsein gekommen wäre, wenn nicht erst das Hässliche zu sich selbst gesagt hätte : „ich bin hässlich“ ?  … Zum Mindesten wird nach diesem Winke das Räthsel weniger räthselhaft sein, in wiefern in widersprüchlichen Begriffen, wie Selbst losigkeit, Selbst verleug nu ng, Selbstopfer u ng ein Ideal, eine Schönheit angedeutet sein kann ; und Eins weiss man hinfort, ich zweifle nicht daran –, welcher Art nämlich von Anfang an die Lu s t ist, die der Selbstlose‚ der Sich-selbst-Verleugnende, Sich-selber-Opfernde empfi ndet : diese Lust gehört zur Grausamkeit. – Soviel vorläufig zur Herkunft des „Unegoistischen“ als eines mor a l i s c he n Werthes und zur Absteckung des Bodens, aus dem dieser Werth gewachsen ist : erst das schlechte Gewissen, erst der Wille zur Selbstmisshandlung giebt die Voraussetzung ab für den We r t h des Unegoistischen. –

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19. Es ist eine Krankheit, das schlechte Gewissen, das unterliegt keinem Zweifel, aber eine Krankheit, wie die Schwangerschaft eine Krankheit ist. Suchen wir die Bedingungen auf, unter denen diese Krankheit auf ihren furchtbarsten und sublimsten Gipfel gekommen ist : – wir werden sehn, was damit eigentlich erst seinen Eintritt in die Welt gemacht hat. Dazu aber bedarf es eines langen Athems,  – und zunächst müssen wir noch einmal zu einem früheren Gesichtspunkte zurück. Das privatrechtliche Verhältniss des Schuldners zu seinem Gläubiger, von dem des längeren schon die Rede war, ist noch einmal, und zwar in einer historisch überaus merkwürdigen und bedenklichen Weise in ein | Verhältniss hineininterpretirt worden, worin es uns modernen Menschen vielleicht am unverständlichsten ist : nämlich in das Verhältniss der G e g e nw ä r t i g e n zu ihren Vor f a h r e n . Innerhalb der ursprünglichen Geschlechtsgenossenschaft – wir reden von Urzeiten – erkennt jedes Mal die lebende Generation gegen die frühere und in Sonderheit gegen die früheste, geschlechtbegründende eine juristische Verpfl ichtung an (und keineswegs eine blosse Gefühls-Verbindlichkeit : man dürfte diese letztere sogar nicht ohne Grund für die längste Dauer des mensch lichen Geschlechts überhaupt in Abrede stellen). Hier herrscht die Überzeugung, dass das Geschlecht durchaus nur durch die Opfer und Leistungen der Vorfahren b e s t e ht , – und dass man ihnen diese durch Opfer und Leistungen z ur üc k z u z a h le n hat : man erkennt somit eine S c hu ld an, die dadurch noch beständig anwächst, dass diese Ahnen in ihrer Fortexistenz als mächtige Geister nicht aufhören, dem Geschlechte neue Vortheile und Vorschüsse seitens ihrer Kraft zu gewähren. Umsonst etwa ? Aber es giebt kein „Umsonst“ für jene rohen und „seelenarmen“ Zeitalter. Was kann man ihnen zurückgeben ? Opfer (anfänglich zur Nahrung, im gröblichsten Verstande)‚ Feste, Kapellen, Ehrenbezeigungen, vor

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Allem Gehorsam – denn alle Bräuche sind, als Werke der Vorfahren, auch deren Satzungen und Befehle – : giebt man ihnen je genug ? Dieser Verdacht bleibt übrig und wächst : von Zeit zu Zeit erzwingt er eine grosse Ablösung in Bausch und Bogen, irgend etwas Ungeheures von Gegenzahlung an den „Gläubiger“ (das berüchtigte Erstlingsopfer zum Beispiel, Blut, Menschenblut in jedem Falle). Die F u r c h t vor dem Ahnherrn und seiner Macht, das Bewusstsein von Schulden gegen ihn nimmt nach die|ser Art von Logik nothwendig genau in dem Maasse zu, in dem die Macht des Geschlechts selbst zunimmt, in dem das Geschlecht selbst immer siegreicher, unabhängiger, geehrter, gefürchteter dasteht. Nicht etwa umgekehrt ! Jeder Schritt zur Verkümmerung des Geschlechts, alle elenden Zufälle, alle Anzeichen von Entartung, von heraufkommender Auflösung ve r m i nd e r n vielmehr immer auch die Furcht vor dem Geiste seines Begründers und geben eine immer geringere Vorstellung von seiner Klugheit, Vorsorglichkeit und Macht-Gegenwart. Denkt man sich diese rohe Art Logik bis an ihr Ende gelangt : so müssen schliesslich die Ahnherrn der m äc ht i g s t e n Geschlechter durch die Phantasie der wachsenden Furcht selbst in’s Ungeheure gewachsen und in das Dunkel einer göttlichen Unheimlichkeit und Unvorstellbarkeit zurückgeschoben worden sein : – der Ahnherr wird zuletzt nothwendig in einen G ot t transfigurirt. Vielleicht ist hier selbst der Ursprung der Götter, ein Ursprung also aus der F u r c ht ! … Und wem es nöthig scheinen sollte hinzuzufügen : „aber auch aus der Pietät !“ dürfte schwerlich damit für jene längste Zeit des Menschengeschlechts Recht behalten, für seine Urzeit. Um so mehr freilich für die m it tle r e Zeit, in der die vornehmen Geschlechter sich herausbilden : – als welche in der That ihren Urhebern, den Ahnherren (Heroen‚ Göttern) alle die Eigenschaften mit Zins zurückgegeben haben, die inzwischen in ihnen selbst offenbar geworden sind, die vor ne h me n Eigenschaften. Wir werden

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auf die Veradligung und Veredelung der Götter (die freilich durchaus nicht deren „Heiligung“ ist) später noch einen Blick werfen : führen wir jetzt nur den Gang dieser ganzen Schuldbewusstseins-Entwicklung vorläufig zu Ende. | 20. Das Bewusstsein, Schulden gegen die Gottheit zu haben, ist, wie die Geschichte lehrt, auch nach dem Niedergang der blutverwandtschaftlichen Organisationsform der „Gemeinschaft“ keineswegs zum Abschluss gekommen ; die Menschheit hat, in gleicher Weise, wie sie die Begriffe „gut und schlecht“ von dem Geschlechts-Adel (sammt dessen psychologischem Grundhange, Rangordnungen anzusetzen) geerbt hat, mit der Erbschaft der Geschlechts- und Stammgottheiten auch die des Drucks von noch unbezahlten Schulden und des Verlangens nach Ablösung derselben hinzubekommen. (Den Übergang machen jene breiten Sklaven- und Hörigen-Bevölkerungen, welche sich an den Götter-Cultus ihrer Herren, sei es durch Zwang, sei es durch Unterwürfigkeit und mimicry, angepasst haben : von ihnen aus fl iesst dann diese Erbschaft nach allen Seiten über.) Das Schuldgefühl gegen die Gottheit hat mehrere Jahrtausende nicht aufgehört zu wachsen, und zwar immer fort im gleichen Verhältnisse, wie der Gottesbegriff und das Gottesgefühl auf Erden gewachsen und in die Höhe getragen worden ist. (Die ganze Geschichte des ethnischen Kämpfens, Siegens, Sich-versöhnens, Sich-verschmelzens, Alles was der endgültigen Rangordnung aller Volks-Elemente in jeder grossen Rassen-Synthesis vorangeht, spiegelt sich in dem Genealogien-Wirrwarr ihrer Götter, in den Sagen von deren Kämpfen, Siegen und Versöhnungen ab ; der Fortgang zu Universal-Reichen ist immer auch der Fortgang zu Universal-Gottheiten, der Despotismus mit seiner Überwältigung des unabhängigen Adels bahnt immer auch irgend welchem Monotheismus den Weg.) Die Heraufkunft des christlichen

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Gottes, als des Maximal-|Gottes, der bisher erreicht worden ist, hat deshalb auch das Maximum des Schuldgefühls auf Erden zur Erscheinung gebracht. Angenommen, dass wir nachgerade in die u m g e k e h r t e Bewegung eingetreten sind, so dürfte man mit keiner kleinen Wahrscheinlichkeit aus dem unauf haltsamen Niedergang des Glaubens an den christlichen Gott ableiten, dass es jetzt bereits auch schon einen erheblichen Niedergang des menschlichen Schuldbewusstseins gäbe ; ja die Aussicht ist nicht abzuweisen, dass der vollkommne und endgültige Sieg des Atheismus die Menschheit von diesem ganzen Gefühl, Schulden gegen ihren Anfang, ihre causa prima zu haben, lösen dürfte. Atheismus und eine Art z we it e r Un s c hu ld gehören zu einander. – 21. Dies vorläufig im Kurzen und Groben über den Zusammenhang der Begriffe „Schuld“, „Pfl icht“ mit religiösen Voraussetzungen : ich habe absichtlich die eigentliche Moralisirung dieser Begriffe (die Zurückschiebung derselben in’s Gewissen, noch bestimmter, die Verwicklung des s c h le c ht e n Gewissens mit dem Gottesbegriffe) bisher bei Seite gelassen und am Schluss des vorigen Abschnittes sogar geredet, wie als ob es diese Moralisirung gar nicht gäbe, folglich, wie als ob es mit jenen Begriffen nunmehr nothwendig zu Ende gienge, nachdem deren Voraussetzung gefallen ist, der Glaube an unsern „Gläubiger“, an Gott. Der Thatbestand weicht davon in einer furchtbaren Weise ab. Mit der Moralisirung der Begriffe Schuld und Pfl icht, mit ihrer Zurückschiebung in’s s c h le c ht e Gewissen ist ganz eigentlich der Versuch gegeben, die Richtung der eben beschriebenen Entwicklung u m z u k e h r e n , mindestens ihre Bewegung stillzustellen : jetzt s ol l gerade die Aussicht auf eine | endgültige Ablösung ein-für-alle-Mal sich pessimistisch zuschliessen, jetzt s ol l der Blick trostlos vor einer ehernen Unmöglichkeit abprallen, zurückprallen, jetzt

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s ol le n jene Begriffe „Schuld“ und „Pfl icht“ sich rückwärts wenden  – gegen we n denn ? Man kann nicht zweifeln : zunächst gegen den „Schuldner“, in dem nunmehr das schlechte Gewissen sich dermaassen festsetzt, einfrisst, ausbreitet und polypenhaft in jede Breite und Tiefe wächst, bis endlich mit der Unlösbarkeit der Schuld auch die Unlösbarkeit der Busse, der Gedanke ihrer Unabzahlbarkeit (der „e w i g e n Strafe“) concipirt ist – ; endlich aber sogar gegen den „Gläubiger“, an die causa prima des Menschen, denke man dabei nun an den Anfang des menschlichen Geschlechts, an seinen Ahnherrn‚ der nunmehr mit einem Fluche behaftet wird („Adam“, „Erbsünde“, „Unfreiheit des Willens“) oder an die Natur, aus deren Schooss der Mensch entsteht und in die nunmehr das böse Princip hineingelegt wird („Verteufelung der Natur“) oder an das Dasein überhaupt, das als u nwe r t h a n s ic h übrig bleibt (nihilistische Abkehr von ihm, Verlangen in’s Nichts oder Verlangen in seinen „Gegensatz“, in ein Anders-sein, Buddhismus und Verwandtes) – bis wir mit Einem Male vor dem paradoxen und entsetzlichen Auskunftsmittel stehn, an dem die gemarterte Menschheit eine zeitweilige Erleichterung gefunden hat, jenem Geniestreich des Ch r isten t hu ms : Gott selbst sich für die Schuld des Menschen opfernd, Gott selbst sich an sich selbst bezahlt machend, Gott als der Einzige, der vom Menschen ablösen kann, was für den Menschen selbst unablösbar geworden ist – der Gläubiger sich für seinen Schuldner opfernd, aus L ieb e (sollte man’s glauben ?  –), aus Liebe zu seinem Schuldner ! … | 22. Man wird bereits errathen haben, w a s eigentlich mit dem Allen und u nt e r dem Allen geschehen ist : jener Wille zur Selbstpeinigung‚ jene zurückgetretene Grausamkeit des innerlich gemachten, in sich selbst zurückgescheuchten Thiermenschen, des zum Zweck der Zähmung in den „Staat“ Eingesperrten, der das schlechte Gewissen erfunden hat, um sich

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wehe zu thun, nachdem der n at ü rl ic he r e Ausweg dieses Wehe-thun-wollens verstopft war, – dieser Mensch des schlechten Gewissens hat sich der religiösen Voraussetzung bemächtigt, um seine Selbstmarterung bis zu ihrer schauerlichsten Härte und Schärfe zu treiben. Eine Schuld gegen G ot t : dieser Gedanke wird ihm zum Folterwerkzeug. Er ergreift in „Gott“ die letzten Gegensätze, die er zu seinen eigentlichen und unablöslichen Thier-Instinkten zu fi nden vermag, er deutet diese Thier-Instinkte selbst um als Schuld gegen Gott (als Feindschaft, Auflehnung, Aufruhr gegen den „Herrn“, den „Vater“, den Urahn und Anfang der Welt, er spannt sich in den Widerspruch „Gott“ und „Teufel“, er wirft alles Nein, das er zu sich selbst, zur Natur, Natürlichkeit, Thatsächlichkeit seines Wesens sagt, aus sich heraus als ein Ja, als seiend, leibhaft, wirklich, als Gott, als Heiligkeit Gottes, als Richterthum Gottes, als Henkerthum Gottes, als Jenseits, als Ewigkeit, als Marter ohne Ende, als Hölle, als Unausmessbarkeit von Strafe und von Schuld. Dies ist eine Art Willens-Wahnsinn in der seelischen Grausamkeit, der schlechterdings nicht seines Gleichen hat : der W i l le des Menschen, sich schuldig und verwerfl ich zu fi nden bis zur Unsühnbarkeit, sein W i l le , sich bestraft zu denken, ohne dass die Strafe je der Schuld äquivalent werden könne, sein W i l le, den unter|sten Grund der Dinge mit dem Problem von Strafe und Schuld zu inficiren und giftig zu machen, um sich aus diesem Labyrinth von „fi xen Ideen“ ein für alle Mal den Ausweg abzuschneiden, sein W i l le, ein Ideal aufzurichten  – das des „heiligen Gottes“  –, um Angesichts desselben seiner absoluten Unwürdigkeit handgreifl ich gewiss zu sein. Oh über diese wahnsinnige traurige Bestie Mensch ! Welche Einfälle kommen ihr, welche Widernatur‚ welche Paroxysmen des Unsinns‚ welche B e s t i a l it ät d er Idee bricht sofort heraus, wenn sie nur ein wenig verhindert wird, B e st ie der T h at zu sein ! … Dies Alles ist interessant bis zum Übermaass, aber auch von einer schwarzen düsteren

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entnervenden Traurigkeit, dass man es sich gewaltsam verbieten muss, zu lange in diese Abgründe zu blicken. Hier ist K r a n k he it , es ist kein Zweifel, die furchtbarste Krankheit, die bis jetzt im Menschen gewüthet hat : – und wer es noch zu hören vermag (aber man hat heute nicht mehr die Ohren dafür ! –), wie in dieser Nacht von Marter und Widersinn der Schrei L ie b e , der Schrei des sehnsüchtigsten Entzückens, der Erlösung in der L ieb e geklungen hat, der wendet sich ab, von einem unbesieglichen Grausen erfasst … Im Menschen ist so viel Entsetzliches ! … Die Erde war zu lange schon ein Irrenhaus ! … 23. Dies genüge ein für alle Mal über die Herkunft des „heiligen Gottes“. – Dass a n s ic h die Conception von Göttern nicht nothwendig zu dieser Verschlechterung der Phantasie führen muss, deren Vergegenwärtigung wir uns für einen Augenblick nicht erlassen durften, dass es vor neh mer e Arten giebt, sich der | Erdichtung von Göttern zu bedienen, als zu dieser Selbstkreuzigung und Selbstschändung des Menschen, in der die letzten Jahrtausende Europa’s ihre Meisterschaft gehabt haben, – das lässt sich zum Glück aus jedem Blick noch abnehmen, den man auf die g r ie c h i s c he n G öt t e r wirft, diese Wiederspiegelungen vornehmer und selbstherrlicher Menschen, in denen das T h ie r im Menschen sich vergöttlicht fühlte und n ic ht sich selbst zerriss‚ n ic ht gegen sich selber wüthete ! Diese Griechen haben sich die längste Zeit ihrer Götter bedient, gerade um sich das „schlechte Gewissen“ vom Leibe zu halten, um ihrer Freiheit der Seele froh bleiben zu dürfen : also in einem umgekehrten Verstande als das Christenthum Gebrauch von seinem Gotte gemacht hat. Sie giengen darin s e h r we it , diese prachtvollen und löwenmüthigen Kindsköpfe ; und keine geringere Autorität als die des homerischen Zeus selbst giebt es ihnen hier und da zu verstehn, dass sie es sich zu leicht machen. „Wunder ! sagt er

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einmal – es handelt sich um den Fall des Ägisthos, um einen s e h r schlimmen Fall – „Wunder, wie sehr doch klagen die Sterblichen wider die Götter ! Nu r von u n s sei Böses, vermeinen sie ; aber sie selber Schaffen durch Unverstand, auch gegen Geschick, sich das Elend.“

Doch hört und sieht man hier zugleich, auch dieser olympische Zuschauer und Richter ist ferne davon, ihnen deshalb gram zu sein und böse von ihnen zu denken : „was sie t hö r ic ht sind !“ so denkt er bei den Unthaten der Sterblichen, – und „Thorheit“, „Unverstand“, ein wenig „Störung im Kopfe“, so viel haben auch die | Griechen der stärksten, tapfersten Zeit selbst bei sich z u g e l a s s e n als Grund von vielem Schlimmen und Verhängnissvollen : – Thorheit, n ic ht Sünde ! versteht ihr das ? … Selbst aber diese Störung im Kopfe war ein Problem – „ja, wie ist sie auch nur möglich ? woher mag sie eigentlich gekommen sein, bei Köpfen, wie w i r sie haben, wir Menschen der edlen Abkunft, des Glücks, der Wohlgerathenheit, der besten Gesellschaft, der Vornehmheit, der Tugend ?“  – so fragte sich Jahrhunderte lang der vornehme Grieche Angesichts jedes ihm unverständlichen Greuels und Frevels‚ mit dem sich Einer von seines Gleichen befleckt hatte. „Es muss ihn wohl ein Got t bethört haben“, sagte er sich endlich, den Kopf schüttelnd … Dieser Ausweg ist t y p i s c h für Griechen … Dergestalt dienten damals die Götter dazu, den Menschen bis zu einem gewissen Grade auch im Schlimmen zu rechtfertigen, sie dienten als Ursachen des Bösen – damals nahmen sie nicht die Strafe auf sich, sondern, wie es vor ne h me r ist, die Schuld … 24. – Ich schliesse mit drei Fragezeichen, man sieht es wohl. „Wird hier eigentlich ein Ideal aufgerichtet oder eines abgebrochen ?“

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so fragt man mich vielleicht … Aber habt ihr euch selber je genug gefragt, wie theuer sich auf Erden die Aufrichtung je d e s Ideals bezahlt gemacht hat ? Wie viel Wirklichkeit immer dazu verleumdet und verkannt, wie viel Lüge geheiligt, wie viel Gewissen verstört, wie viel „Gott“ jedes Mal geopfert werden musste ? Damit ein Heiligthum aufgerichtet werden kann, mu ss ei n Hei l ig t hu m z erbroc hen werden : das ist das Gesetz  – man zeige mir den Fall, wo es nicht erfüllt ist !  … Wir modernen Men|schen, wir sind die Erben der GewissensVivisektion und Selbst-Thierquälerei von Jahrtausenden : darin haben wir unsre längste Übung, unsre Künstlerschaft vielleicht, in jedem Fall unser Raffi nement, unsre GeschmacksVerwöhnung. Der Mensch hat allzulange seine natürlichen Hänge mit „bösem Blick“ betrachtet, so dass sie sich in ihm schliesslich mit dem „schlechten Gewissen“ verschwistert haben. Ein umgekehrter Versuch wäre a n s ic h möglich  – aber wer ist stark genug dazu ? – nämlich die u n n at ü rl ic hen Hänge, alle jene Aspirationen zum Jenseitigen, Sinnenwidrigen, Instinktwidrigen, Naturwidrigen, Thierwidrigen, kurz die bisherigen Ideale, die allesammt lebensfeindliche Ideale, Weltverleumder-Ideale sind, mit dem schlechten Gewissen zu verschwistern. An wen sich heute mit s olc he n Hoff nungen und Ansprüchen wenden ?  … Gerade die g ut e n Menschen hätte man damit gegen sich ; dazu, wie billig, die bequemen, die versöhnten, die eitlen, die schwärmerischen, die müden … Was beleidigt tiefer, was trennt so gründlich ab, als etwas von der Strenge und Höhe merken zu lassen, mit der man sich selbst behandelt ? Und wiederum  – wie entgegenkommend, wie liebreich zeigt sich alle Welt gegen uns, so bald wir es machen wie alle Welt und uns „gehen lassen“ wie alle Welt ! … Es bedürfte zu jenem Ziele einer a nd r e n Art Geister, als gerade in diesem Zeitalter wahrscheinlich sind : Geister, durch Kriege und Siege gekräftigt, denen die Eroberung, das Abenteuer, die Gefahr, der Schmerz sogar zum Bedürfniss geworden ist ; es

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bedürfte dazu der Gewöhnung an scharfe hohe Luft, an winterliche Wanderungen, an Eis und Gebirge in jedem Sinne, es bedürfte dazu einer Art sublimer Bosheit selbst, eines letzten selbstgewissesten Muth|willens der Erkenntniss, welcher zur grossen Gesundheit gehört, es bedürfte, kurz und schlimm genug, eben dieser g r o s s e n G e s u nd he it ! … Ist diese gerade heute auch nur möglich ? … Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der e rlö s e nd e Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist, den seine drängende Kraft aus allem Abseits und Jenseits immer wieder wegtreibt, dessen Einsamkeit vom Volke missverstanden wird, wie als ob sie eine Flucht vor der Wirklichkeit sei – : während sie nur seine Versenkung, Vergrabung‚ Vertiefung i n die Wirklichkeit ist, damit er einst aus ihr, wenn er wieder an’s Licht kommt, die E rlö s u n g dieser Wirklichkeit heimbringe : ihre Erlösung von dem Fluche, den das bisherige Ideal auf sie gelegt hat. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, w a s au s i h m wac h s e n mu s s t e, vom grossen Ekel, vom Willen zum Nichts, vom Nihilismus‚ dieser Glockenschlag des Mittags und der grossen Entscheidung, der den Willen wieder frei macht, der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoffnung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muss ei nst kom men … 25.  – Aber was rede ich da ? Genug ! Genug ! An dieser Stelle geziemt mir nur Eins, zu schweigen : ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein freisteht, einem „Zukünftigeren“, einem Stärkeren, als ich bin, – was allein Z a r at hu s t r a freisteht, Z a r at hu s t r a d e m G ot t lo s e n  … |

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Dritte Abhandlung : was bedeuten asketische Ideale ?

Unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig – so will u n s die Weisheit : sie ist ein Weib, sie liebt immer nur einen Kriegsmann. A l so s pr ac h Z a r at hu st r a. |

1. Was bedeuten asketische Ideale ? – Bei Künstlern Nichts oder zu Vielerlei ; bei Philosophen und Gelehrten Etwas wie Witterung und Instinkt für die günstigsten Vorbedingungen hoher Geistigkeit ; bei Frauen, besten Falls, eine Liebenswürdigkeit der Verführung m e h r, ein wenig morbidezza auf schönem Fleische, die Engelhaftigkeit eines hübschen fetten Thiers ; bei physiologisch Verunglückten und Verstimmten (bei der Me h r z a h l der Sterblichen) einen Versuch, sich „zu gut“ für diese Welt vorzukommen, eine heilige Form der Ausschweifung‚ ihr Hauptmittel im Kampf mit dem langsamen Schmerz und der Langenweile ; bei Priestern den eigentlichen Priesterglauben, ihr bestes Werkzeug der Macht, auch die „allerhöchste“ Erlaubniss zur Macht ; bei Heiligen endlich einen Vorwand zum Winterschlaf, ihre novissima gloriae cupido, ihre Ruhe im Nichts („Gott“), ihre Form des Irrsinns. D a s s aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui : er br auc ht ei n Zie l, – und eher will er noch d a s N ic ht s wollen, als n ic ht wollen. – Versteht man mich ? … Hat man mich verstanden ?  … „ S c h le c ht e r d i n g s n ic ht ! m e i n H e r r ! “ – Fangen wir also von vorne an.

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2. Was bedeuten asketische Ideale ? – Oder, dass ich einen einzelnen Fall nehme, in Betreff dessen ich oft | genug um Rath gefragt worden bin, was bedeutet es zum Beispiel, wenn ein Künstler wie Richard Wagner in seinen alten Tagen der Keuschheit eine Huldigung darbringt ? In einem gewissen Sinne freilich hat er dies immer gethan ; aber erst zu allerletzt in einem asketischen Sinne. Was bedeutet diese „Sinnes“Änderung, dieser radikale Sinnes-Umschlag ? – denn ein solcher war es, Wagner sprang damit geradewegs in seinen Gegensatz um. Was bedeutet es, wenn ein Künstler in seinen Gegensatz umspringt ? … Hier kommt uns, gesetzt, dass wir bei dieser Frage ein wenig Halt machen wollen, alsbald die Erinnerung an die beste, stärkste, frohmüthigste, mut h i gs t e Zeit, welche es vielleicht im Leben Wagner’s gegeben hat : das war damals, als ihn innerlich und tief der Gedanke der Hochzeit Luther’s beschäftigte. Wer weiss, an welchen Zufällen es eigentlich gehangen hat, dass wir heute an Stelle dieser Hochzeits-Musik die Meistersinger besitzen ? Und wie viel in diesen vielleicht noch von jener fortklingt ? Aber keinem Zweifel unterliegt es, dass es sich auch bei dieser „Hochzeit Luther’s“ um ein Lob der Keuschheit gehandelt haben würde. Allerdings auch um ein Lob der Sinnlichkeit : – und gerade so schiene es mir in Ordnung, gerade so wäre es auch „Wagnerisch“ gewesen. Denn zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit giebt es keinen nothwendigen Gegensatz ; jede gute Ehe, jede eigentliche Herzensliebschaft ist über diesen Gegensatz hinaus. Wagner hätte, wie mir scheint, wohlgethan, diese a n g e ne h me Thatsächlichkeit seinen Deutschen mit Hülfe einer holden und tapferen Luther-Komödie wieder einmal zu Gemüthe zu führen, denn es giebt und gab unter den Deutschen immer viele Verleumder der Sinnlichkeit ; und Luther’s Verdienst ist vielleicht | in Nichts grösser als gerade darin, den Muth zu seiner Si n n l ic h k e it gehabt zu haben (– man hiess

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sie damals, zart genug, die „evangelische Freiheit“ …). Selbst aber in jenem Falle, wo es wirklich jenen Gegensatz zwischen Keuschheit und Sinnlichkeit giebt, braucht es glück licher Weise noch lange kein tragischer Gegensatz zu sein. Dies dürfte wenigstens für alle wohlgeratheneren, wohlgemutheren Sterblichen gelten, welche ferne davon sind, ihr labiles Gleichgewicht zwischen „Thier und Engel“ ohne Weiteres zu den Gegengründen des Daseins zu rechnen,  – die Feinsten und Hellsten, gleich Goethen, gleich Hafis, haben darin sogar einen Lebensreiz me h r gesehn. Solche „Widersprüche“ gerade verführen zum Dasein … Andrerseits versteht es sich nur zu gut, dass wenn einmal die verunglückten Schweine dazu gebracht werden, die Keuschheit anzubeten  – und es giebt solche Schweine ! – sie in ihr nur ihren Gegensatz, den Gegensatz zum verunglückten Schweine sehn und anbeten werden – oh mit was für einem tragischen Gegrunz und Eifer ! man kann es sich denken – jenen peinlichen und überflüssigen Gegensatz, den Richard Wagner unbestreitbar am Ende seines Lebens noch hat in Musik setzen und auf die Bühne stellen wollen. Wo z u d o c h ? wie man billig fragen darf. Denn was giengen ihn, was gehen uns die Schweine an ? – 3. Dabei ist freilich jene andre Frage nicht zu umgehn, was ihn eigentlich jene männliche (ach, so unmännliche) „Einfalt vom Lande“ angieng, jener arme Teufel und Naturbursch Parsifal, der von ihm mit so verfänglichen Mitteln schliesslich katholisch gemacht wird – wie ? war dieser Parsifal überhaupt er n st ge|meint ? Man könnte nämlich versucht sein, das Umgekehrte zu muthmaassen‚ selbst zu wünschen, – dass der Wagner’sche Parsifal heiter gemeint sei, gleichsam als Schlussstück und Satyrdrama‚ mit dem der Tragiker Wagner auf eine gerade ihm gebührende und würdige Weise von uns, auch von sich, vor Allem von der Tragöd ie habe Abschied nehmen wollen,

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nämlich mit einem Excess höchster und muthwilligster Parodie auf das Tragische selbst, auf den ganzen schauerlichen Erden-Ernst und Erden-Jammer von Ehedem, auf die endlich überwundene g r ö b s t e For m in der Widernatur des asketischen Ideals. So wäre es, wie gesagt, eines grossen Tragikers gerade würdig gewesen : als welcher, wie jeder Künstler, erst dann auf den letzten Gipfel seiner Grösse kommt, wenn er sich und seine Kunst u nt e r sich zu sehen weiss, – wenn er über sich zu l ac he n weiss. Ist der „Parsifal“ Wagner’s sein heimliches Überlegenheits-Lachen über sich selbst, der Triumph seiner errungenen letzten höchsten Künstler-Freiheit, Künstler-Jenseitigkeit ? Man möchte es, wie gesagt, wünschen : denn was würde der e r n s t g e me i nt e Parsifal sein ? Hat man wirklich nöthig, in ihm (wie man sich gegen mich ausgedrückt hat) „die Ausgeburt eines tollgewordenen Hasses auf Erkenntniss, Geist und Sinnlichkeit“ zu sehn ? Einen Fluch auf Sinne und Geist in Einem Hass und Athem ? Eine Apostasie und Umkehr zu christlich-krankhaften und obskurantistischen Idealen ? Und zuletzt gar ein Sich-selbst-Verneinen, Sich-selbst-Durchstreichen von Seiten eines Künstlers, der bis dahin mit aller Macht seines Willens auf das Umgekehrte, nämlich auf höc hs t e Ver g e i s t i g u n g u nd Ver s i n n l ic hu n g seiner Kunst aus gewesen war ? Und nicht nur seiner Kunst : auch seines Lebens. Man | erinnere sich, wie begeistert seiner Zeit Wagner in den Fusstapfen des Philosophen Feuerbach gegangen ist : Feuerbach’s Wort von der „gesunden Sinnlichkeit“ – das klang in den dreissiger und vierziger Jahren Wagner’n gleich vielen Deutschen (– sie nannten sich die „j u n g e n Deutschen“) wie das Wort der Erlösung. Hat er schliesslich darüber u m g e le r nt ? Da es zum Mindesten scheint, dass er zuletzt den Willen hatte, darüber u m z u le h r e n   … Und nicht nur mit den Parsifal-Posaunen von der Bühne herab : – in der trüben, ebenso unfreien als rathlosen Schriftstellerei seiner letzten Jahre giebt es hundert Stellen, in denen sich ein heimlicher

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Wunsch und Wille, ein verzagter, unsicherer, uneingeständlicher Wille verräth, ganz eigentlich Umkehr, Bekehrung, Verneinung, Christenthum, Mittelalter zu predigen und seinen Jüngern zu sagen „es ist Nichts ! Sucht das Heil wo anders !“ Sogar das „Blut des Erlösers“ wird einmal angerufen … 4. Dass ich in einem solchen Falle, der vieles Peinliche hat, meine Meinung sage – und es ist ein t y p i s c he r Fall – : man thut gewiss am besten, einen Künstler in so weit von seinem Werke zu trennen, dass man ihn selbst nicht gleich ernst nimmt wie sein Werk. Er ist zuletzt nur die Vorausbedingung seines Werks, der Mutterschooss, der Boden, unter Umständen der Dünger und Mist, auf dem, aus dem es wächst, – und somit, in den meisten Fällen, Etwas, das man vergessen muss, wenn man sich des Werks selbst erfreuen will. Die Einsicht in die H e r k u n f t eines Werks geht die Physiologen und Vivisektoren des Geistes an : nie und nimmermehr die ästhetischen Menschen, die Artisten ! | Dem Dichter und Ausgestalter des Parsifal blieb ein tiefes, gründliches, selbst schreckliches Hineinleben und Hinabsteigen in mittelalterliche Seelen-Contraste, ein feindseliges Abseits von aller Höhe, Strenge und Zucht des Geistes, eine Art intellektueller Pe r ve r s it ät (wenn man mir das Wort nachsehen will) ebensowenig erspart als einem schwangeren Weibe die Widerlichkeiten und Wunderlichkeiten der Schwangerschaft : als welche man, wie gesagt, ve r g e s s e n muss, um sich des Kindes zu erfreuen. Man soll sich vor der Verwechselung hüten, in welche ein Künstler nur zu leicht selbst geräth, aus psychologischer contiguity, mit den Engländern zu reden : wie als ob er selber das w ä r e, was er darstellen, ausdenken, ausdrücken kann. Thatsächlich steht es so, dass, we n n er eben das wäre, er es schlechterdings nicht darstellen, ausdenken, ausdrücken würde ; ein Homer hätte keinen Achill, ein Goethe keinen Faust gedichtet, wenn

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Homer ein Achill und wenn Goethe ein Faust gewesen wäre. Ein vollkommner und ganzer Künstler ist in alle Ewigkeit von dem „Realen“, dem Wirklichen abgetrennt ; andrerseits versteht man es, wie er an dieser ewigen „Unrealität“ und Falschheit seines innersten Daseins mitunter bis zur Verzweiflung müde werden kann,  – und dass er dann wohl den Versuch macht, einmal in das gerade ihm Verbotenste, in’s Wirkliche überzugreifen, wirklich zu s e i n . Mit welchem Erfolge ? Man wird es errathen … Es ist das d ie t y pi sc he Ve l leit ät des Künstlers : dieselbe Velleität, welcher auch der altgewordne Wagner verfiel und die er so theuer, so verhängnissvoll hat büssen müssen (– er verlor durch sie den werthvollen Theil seiner Freunde). Zuletzt aber, noch ganz abgesehn von dieser Velleität, wer möchte nicht überhaupt | wünschen, um Wagner’s selber willen, dass er a nd e r s von uns und seiner Kunst Abschied genommen hätte, nicht mit einem Parsifal, sondern siegreicher, selbstgewisser, Wagnerischer, – weniger irreführend, weniger zweideutig in Bezug auf sein ganzes Wollen, weniger Schopenhauerisch, weniger nihilistisch ? … 5. – Was bedeuten also asketische Ideale ? Im Falle eines Künstlers, wir begreifen es nachgerade : g a r N ic ht s ! … Oder so Vielerlei, dass es so gut ist wie gar Nichts ! … Eliminiren wir zunächst die Künstler : dieselben stehen lange nicht unabhängig genug in der Welt und g e g e n die Welt, als dass ihre Werthschätzungen und deren Wandel a n s ic h Theilnahme verdiente ! Sie waren zu allen Zeiten Kammerdiener einer Moral oder Philosophie oder Religion ; ganz abgesehn noch davon, dass sie leider oft genug die allzugeschmeidigen Höfl inge ihrer Anhänger- und Gönnerschaft und spürnasige Schmeichler vor alten oder eben neu heraufkommenden Gewalten gewesen sind. Zum Mindesten brauchen sie immer eine Schutzwehr, einen Rückhalt, eine bereits begründete Autorität : die

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Künstler stehen nie für sich, das Alleinstehn geht wider ihre tiefsten Instinkte. So nahm zum Beispiel Richard Wagner den Philosophen Schopenhauer, als „die Zeit gekommen war“, zu seinem Vordermann, zu seiner Schutzwehr :  – wer möchte es auch nur für denkbar halten, dass er den Mut h zu einem asketischen Ideal gehabt hätte, ohne den Rückhalt, den ihm die Philosophie Schopenhauer’s bot, ohne die in den siebziger Jahren in Europa z u m Ü b e r g ew ic ht gelangende Autorität Schopenhauer’s ? (dabei noch nicht in An|schlag gebracht, ob im neue n Deutschland ein Künstler ohne die Milch frommer, reichsfrommer Denkungsart überhaupt möglich gewesen wäre). – Und damit sind wir bei der ernsthafteren Frage angelangt : was bedeutet es, wenn ein wirklicher Ph i lo s o ph dem asketischen Ideale huldigt, ein wirklich auf sich gestellter Geist wie Schopenhauer, ein Mann und Ritter mit erzenem Blick, der den Muth zu sich selber hat, der allein zu stehn weiss und nicht erst auf Vordermänner und höhere Winke wartet ? – Erwägen wir hier sofort die merkwürdige und für manche Art Mensch selbst fascinirende Stellung Schopenhauer’s zur K u n s t : denn sie ist es ersichtlich gewesen, um derentwillen z u n äc h s t Richard Wagner zu Schopenhauern übertrat (überredet dazu durch einen Dichter, wie man weiss, durch Herwegh), und dies bis zu dem Maasse, dass sich damit ein vollkommner theoretischer Widerspruch zwischen seinem früheren und seinem späteren ästhetischen Glauben aufriss, – ersterer zum Beispiel in „Oper und Drama“ ausgedrückt, letzterer in den Schriften, die er von 1870 an herausgab. In Sonderheit änderte Wagner, was vielleicht am meisten befremdet, von da an rücksichtslos sein Urtheil über Werth und Stellung der Mu s i k selbst : was lag ihm daran, dass er bisher aus ihr ein Mittel, ein Medium, ein „Weib“ gemacht hatte, das schlechterdings eines Zweckes, eines Manns bedürfe um zu gedeihn – nämlich des Drama’s ! Er begriff mit Einem Male, dass mit der Schopenhauer’schen Theorie und Neuerung m e h r zu

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machen sei in majorem musicae gloriam, – nämlich mit der S ouve r a i net ät der Musik, so wie sie Schopenhauer begriff : die Musik abseits gestellt gegen alle übrigen Künste, die unabhängige Kunst an sich, n ic ht , wie diese, Abbilder der Phänomenalität | bietend, vielmehr die Sprache d e s Willens selbst redend, unmittelbar aus dem „Abgrunde“ heraus, als dessen eigenste‚ ursprünglichste, unabgeleitetste Offenbarung. Mit dieser ausserordentlichen Werthsteigerung der Musik, wie sie aus der Schopenhauer’schen Philosophie zu erwachsen schien, stieg mit Einem Male auch d e r Mu s i k e r selbst unerhört im Preise : er wurde nunmehr ein Orakel, ein Priester, ja mehr als ein Priester, eine Art Mundstück des „An-sich“ der Dinge, ein Telephon des Jenseits,  – er redete fürderhin nicht nur Musik, dieser Bauchredner Gottes, – er redete Metaphysik : was Wunder, dass er endlich eines Tags a s k et i s c he Id e a le redete ? … 6. Schopenhauer hat sich die Kantische Fassung des ästhetischen Problems zu Nutze gemacht,  – obwohl er es ganz gewiss nicht mit Kantischen Augen angeschaut hat. Kant gedachte der Kunst eine Ehre zu erweisen, als er unter den Prädikaten des Schönen diejenigen bevorzugte und in den Vordergrund stellte, welche die Ehre der Erkenntniss ausmachen : Unpersönlichkeit und Allgemeingültigkeit. Ob dies nicht in der Hauptsache ein Fehlgriff war, ist hier nicht am Orte zu verhandeln ; was ich allein unterstreichen will, ist, dass Kant, gleich allen Philosophen, statt von den Erfahrungen des Künstlers (des Schaffenden) aus das ästhetische Problem zu visiren, allein vom „Zuschauer“ aus über die Kunst und das Schöne nachgedacht und dabei unvermerkt den „Zuschauer“ selber in den Begriff „schön“ hinein bekommen hat. Wäre aber wenigstens nur dieser „Zuschauer“ den Philosophen des Schönen ausreichend bekannt gewesen !  – nämlich als eine grosse p e r s ön l ic he Thatsache und Erfahrung, als eine Fülle

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eigen|ster  starker Erlebnisse, Begierden, Überraschungen, Entzückungen auf dem Gebiete des Schönen ! Aber das Gegentheil war, wie ich fürchte, immer der Fall : und so bekommen wir denn von ihnen gleich von Anfang an Defi nitionen, in denen, wie in jener berühmten Defi nition, die Kant vom Schönen giebt, der Mangel an feinerer Selbst-Erfahrung in Gestalt eines dicken Wurms von Grundirrthum sitzt. „Schön ist, hat Kant gesagt, was oh ne I nt e r e s s e gefällt.“ Ohne Interesse ! Man vergleiche mit dieser Defi nition jene andre, die ein wirklicher „Zuschauer“ und Artist gemacht hat  – Stendhal‚ der das Schöne einmal une promesse de bonheur nennt. Hier ist jedenfalls gerade Das a bg e le h nt und ausgestrichen, was Kant allein am ästhetischen Zustande hervorhebt : le désinteressement. Wer hat Recht, Kant oder Stendhal ? – Wenn freilich unsre Aesthetiker nicht müde werden, zu Gunsten Kant’s in die Wagschale zu werfen, dass man unter dem Zauber der Schönheit s og a r gewandlose weibliche Statuen „ohne Interesse“ anschauen könne, so darf man wohl ein wenig auf ihre Unkosten lachen : – die Erfahrungen der K ü n s t le r sind in Bezug auf diesen heiklen Punkt „interessanter“, und Pygmalion war jedenfalls n ic ht nothwendig ein „unästhetischer Mensch“. Denken wir um so besser von der Unschuld unsrer Aesthetiker, welche sich in solchen Argumenten spiegelt, rechnen wir es zum Beispiel Kanten zu Ehren an, was er über das Eigenthümliche des Tastsinns mit landpfarrermässiger Naivetät zu lehren weiss ! – Und hier kommen wir auf Schopenhauer zurück, der in ganz andrem Maasse als Kant den Künsten nahestand und doch nicht aus dem Bann der Kantischen Defi nition herausgekommen ist : wie kam das ? Der Umstand ist wunderlich genug : | das Wort „ohne Interesse“ interpretirte er sich in der allerpersönlichsten Weise, aus einer Erfahrung heraus, die bei ihm zu den regelmässigsten gehört haben muss. Über wenig Dinge redet Schopenhauer so sicher wie über die Wirkung der ästhetischen Contemplation : er

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sagt ihr nach, dass sie gerade der g e s c h le c ht l ic he n „Interessirtheit“ entgegenwirke, ähnlich also wie Lupulin und Kampher, er ist nie müde geworden, d ie s e s Loskommen vom „Willen“ als den grossen Vorzug und Nutzen des ästhetischen Zustandes zu verherrlichen. Ja man möchte versucht sein zu fragen, ob nicht seine Grundconception von „Willen und Vorstellung“, der Gedanke, dass es eine Erlösung vom „Willen“ einzig durch die „Vorstellung“ geben könne, aus einer Verallgemeinerung jener Sexual-Erfahrung ihren Ursprung genommen habe. (Bei allen Fragen in Betreff der Schopenhauer’schen Philosophie ist, anbei bemerkt, niemals ausser Acht zu lassen, dass sie die Conception eines sechsundzwanzigjährigen Jünglings ist ; so dass sie nicht nur an dem Spezifischen Schopenhauer’s, sondern auch an dem Spezifischen jener Jahreszeit des Lebens Antheil hat.) Hören wir zum Beispiel eine der ausdrücklichsten Stellen unter den zahllosen, die er zu Ehren des ästhetischen Zustandes geschrieben hat (Welt als Wille und Vorstellung I 231), hören wir den Ton heraus, das Leiden, das Glück, die Dankbarkeit, mit der solche Worte gesprochen worden sind. „Das ist der schmerzenslose Zustand, den Epikuros als das höchste Gut und als den Zustand der Götter pries ; wir sind, für jenen Augenblick, des schnöden Willensdranges entledigt, wir feiern den Sabbat der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still“ … Welche Vehemenz der Worte ! Welche Bilder der Qual und | des langen Überdrusses ! Welche fast pathologische Zeit-Gegenüberstellung „jenes Augenblicks“ und des sonstigen „Rads des Ixion“, der „Zuchthausarbeit des Wollens“, des „schnöden Willensdrangs“ !  – Aber gesetzt, dass Schopenhauer hundert Mal für seine Person Recht hätte, was wäre damit für die Einsicht in’s Wesen des Schönen gethan ? Schopenhauer hat Eine Wirkung des Schönen beschrieben, die willen-calmirende, – ist sie auch nur eine regelmässige ? Stendhal, wie gesagt, eine nicht weniger sinnliche, aber glücklicher gerathene Natur als

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Schopenhauer, hebt eine andre Wirkung des Schönen hervor : „das Schöne ve r s p r ic ht Glück“, ihm scheint gerade die E r r e g u n g d e s W i l le n s („des Interesses“) durch das Schöne der Thatbestand. Und könnte man nicht zuletzt Schopenhauern selber einwenden, dass er sehr mit Unrecht sich hierin Kantianer dünke, dass er ganz und gar nicht die Kantische Defi nition des Schönen Kantisch verstanden habe, – dass auch ihm das Schöne aus einem „Interesse“ gefalle, sogar aus dem allerstärksten, allerpersönlichsten Interesse : dem des Torturirten, der von seiner Tortur loskommt ? … Und, um auf unsre erste Frage zurückzukommen „was b e d eut et es, wenn ein Philosoph dem asketischen Ideale huldigt ?“, so bekommen wir hier wenigstens einen ersten Wink : er will vo n e i ne r Tor t u r lo s k om me n . – 7. Hüten wir uns, bei dem Wort „Tortur“ gleich düstere Gesichter zu machen : es bleibt gerade in diesem Falle genug dagegen zu rechnen, genug abzuziehn, – es bleibt selbst etwas zu lachen. Unterschätzen wir es namentlich nicht, dass Schopenhauer, der die Ge|schlechtlichkeit in der That als persönlichen Feind behandelt hat (einbegriffen deren Werkzeug, das Weib, dieses „instrumentum diaboli“), Feinde nöt h i g hatte, um guter Dinge zu bleiben ; dass er die grimmigen galligen schwarzgrünen Worte liebte ; dass er zürnte, um zu zürnen‚ aus Passion ; dass er krank geworden wäre, Pe s s i m i s t geworden wäre (– denn er war es nicht, so sehr er es auch wünschte) ohne seine Feinde, ohne Hegel, das Weib, die Sinnlichkeit und den ganzen Willen zum Dasein, Dableiben. Schopenhauer wäre sonst n ic ht dageblieben, darauf darf man wetten, er wäre davongelaufen : seine Feinde aber hielten ihn fest, seine Feinde verführten ihn immer wieder zum Dasein, sein Zorn war, ganz wie bei den antiken Cynikern, sein Labsal, seine Erholung, sein Entgelt, sein remedium gegen den Ekel, sein G l ü c k . So viel in Hinsicht auf das Persönlichste am

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Fall Schopenhauer’s ; andrerseits ist an ihm noch etwas Typisches, – und hier erst kommen wir wieder auf unser Problem. Es besteht unbestreitbar, so lange es Philosophen auf Erden giebt und überall, wo es Philosophen gegeben hat (von Indien bis England, um die entgegengesetzten Pole der Begabung für Philosophie zu nehmen) eine eigentliche Philosophen-Gereiztheit und -Rancune gegen die Sinnlichkeit – Schopenhauer ist nur deren beredtester und, wenn man das Ohr dafür hat, auch hinreissendster und entzückendster Ausbruch – ; es besteht insgleichen eine eigent liche Philosophen-Voreingenommenheit und -Herzlichkeit in Bezug auf das ganze asketische Ideal, darüber und dagegen soll man sich nichts vor machen. Beides gehört, wie gesagt, zum Typus ; fehlt Beides an einem Philosophen, so ist er – dessen sei man sicher – immer nur ein „sogenannter“. Was b e d eut et das ? | Denn man muss diesen Thatbestand erst interpretiren : a n s ic h steht er da dumm in alle Ewigkeit, wie jedes „Ding an sich“. Jedes Thier, somit auch la bête philosophe, strebt instinktiv nach einem Optimum von günstigen Bedingungen, unter denen es seine Kraft ganz herauslassen kann und sein Maximum im Machtgefühl erreicht ; jedes Thier perhorreszirt ebenso instinktiv und mit einer Feinheit der Witterung, die „höher ist als alle Vernunft“, alle Art Störenfriede und Hindernisse, die sich ihm über diesen Weg zum Optimum legen oder legen könnten (– es ist n ic ht sein Weg zum „Glück“, von dem ich rede, sondern sein Weg zur Macht, zur That, zum mächtigsten Thun, und in den meisten Fällen thatsächlich sein Weg zum Unglück). Dergestalt perhorreszirt der Philosoph die E he sammt dem, was zu ihr über reden möchte, – die Ehe als Hinderniss und Verhängniss auf seinem Wege zum Optimum. Welcher grosse Philosoph war bisher verheirathet ? Heraklit, Plato, Descartes, Spinoza, Leibniz, Kant, Schopenhauer – sie waren es nicht ; mehr noch, man kann sie sich nicht einmal d e n k e n als verheirathet. Ein verheiratheter Philosoph gehört i n d ie K omö d ie,

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das ist mein Satz : und jene Ausnahme Sokrates, der boshafte Sokrates hat sich, scheint es, ironice verheirathet‚ eigens um gerade d ie s e n Satz zu demonstriren. Jeder Philosoph würde sprechen, wie einst Buddha sprach, als ihm die Geburt eines Sohnes gemeldet wurde : „Râhula ist mir geboren, eine Fessel ist mir geschmiedet“ (Râhula bedeutet hier „ein kleiner Dämon“) ; jedem „freien Geiste“ müsste eine nachdenkliche Stunde kommen, gesetzt, dass er vorher eine gedankenlose gehabt hat, wie sie einst demselben Buddha kam – „eng bedrängt, dachte er bei sich, ist das Le|ben im Hause, eine Stätte der Unreinheit ; Freiheit ist ein Verlassen des Hauses“ : „dieweil er also dachte, verliess er das Haus“. Es sind im asketischen Ideale so viele Brücken zur Un a bh ä n g i g k e it angezeigt, dass ein Philosoph nicht ohne ein innerliches Frohlocken und Händeklatschen die Geschichte aller jener Entschlossnen zu hören vermag, welche eines Tages Nein sagten zu aller Unfreiheit und in irgend eine Wü s t e giengen : gesetzt selbst, dass es bloss starke Esel waren und ganz und gar das Gegenstück eines starken Geistes. Was bedeutet demnach das asketische Ideal bei einem Philosophen ? Meine Antwort ist – man wird es längst errathen haben : der Philosoph lächelt bei seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit zu, – er verneint n ic ht damit „das Dasein“, er bejaht darin vielmehr s e i n Dasein und nu r sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, dass ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt : pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosophus, f i a m ! … 8. Man sieht, das sind keine unbestochnen Zeugen und Richter über den We r t h des asketischen Ideals, diese Philosophen ! Sie denken an s ic h , – was geht sie „der Heilige“ an ! Sie denken an Das dabei, was i h ne n gerade das Unentbehrlichste ist : Freiheit von Zwang, Störung, Lärm, von Geschäften, Pfl ichten, Sorgen ; Helligkeit im Kopf ; Tanz, Sprung und Flug der

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Gedanken ; eine gute Luft, dünn, klar, frei, trocken, wie die Luft auf Höhen ist, bei der alles animalische Sein geistiger wird und Flügel bekommt ; Ruhe in allen Souterrains ; alle Hunde hübsch an die Kette gelegt ; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Ran|cune ; keine Nagewürmer verletzten Ehrgeizes ; bescheidene und unterthänige Eingeweide, fleissig wie Mühlwerke, aber fern ; das Herz fremd, jenseits, zukünftig, posthum, – sie denken, Alles in Allem, bei dem asketischen Ideal an den heiteren Ascetismus eines vergöttlichten und flügge gewordnen Thiers, das über dem Leben mehr schweift als ruht. Man weiss‚ was die drei grossen Prunkworte des asketischen Ideals sind : Armuth, Demuth, Keuschheit : und nun sehe man sich einmal das Leben aller grossen fruchtbaren erfi nderischen Geister aus der Nähe an,  – man wird darin alle drei bis zu einem gewissen Grade immer wiederfi nden. Durchaus n ic ht , wie sich von selbst versteht, als ob es etwa deren „Tugenden“ wären  – was hat diese Art Mensch mit Tugenden zu schaffen ! – sondern als die eigentlichsten und natürlichsten Bedingungen ihres b e s t e n Daseins, ihrer s c hön s t e n Fruchtbarkeit. Dabei ist es ganz wohl möglich, dass ihre dominirende Geistigkeit vorerst einem unbändigen und reizbaren Stolze oder einer muthwilligen Sinnlichkeit Zügel anzulegen hatte oder dass sie ihren Willen zur „Wüste“ vielleicht gegen einen Hang zum Luxus und zum Ausgesuchtesten, insgleichen gegen eine verschwenderische Liberalität mit Herz und Hand schwer genug aufrecht erhielt. Aber sie that es, eben als der d o m i n i r e n d e Instinkt, der seine Forderungen bei allen andren Instinkten durchsetzte – sie thut es noch ; thäte sie’s nicht, so dominirte sie eben nicht. Daran ist also nichts von „Tugend“. Die Wü s t e übrigens, von welcher ich eben sprach, in die sich die starken, unabhängig gearteten Geister zurückziehn und vereinsamen  – oh wie anders sieht sie aus, als die Gebildeten sich eine Wüste träumen !  – unter Umständen sind sie es nämlich selbst, | diese

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Gebildeten. Und gewiss ist es, dass alle Schauspieler des Geistes es schlechterdings nicht in ihr aushielten, – für sie ist sie lange nicht romantisch und syrisch genug, lange nicht Theater-Wüste genug ! Es fehlt allerdings auch in ihr nicht an Kameelen : darauf aber beschränkt sich die ganze Ähnlichkeit. Eine willkürliche Obskurität vielleicht ; ein Aus-dem-WegeGehn vor sich selber ; eine Scheu vor Lärm, Verehrung, Zeitung, Einfluss ; ein kleines Amt, ein Alltag, Etwas, das mehr verbirgt als an’s Licht stellt ; ein Umgang gelegentlich mit harmlosem heitren Gethier und Geflügel, dessen Anblick erholt ; ein Gebirge zur Gesellschaft, aber kein todtes, eins mit A u g e n (das heisst mit Seen) ; unter Umständen selbst ein Zimmer in einem vollen Allerwelts-Gasthof, wo man sicher ist, verwechselt zu werden, und ungestraft mit Jedermann reden kann, – das ist hier „Wüste“ : oh sie ist einsam genug, glaubt es mir ! Wenn Heraklit sich in die Freihöfe und Säulengänge des ungeheuren Artemis-Tempels zurückzog, so war diese „Wüste“ würdiger, ich gebe es zu : weshalb f e h le n uns solche Tempel ? (– sie fehlen uns vielleicht n ic ht : eben gedenke ich meines schönsten Studirzimmers, der Piazza di San Marco, Frühling vorausgesetzt, insgleichen Vormittag, die Zeit zwischen 10 und 12.) Das aber, dem Heraklit auswich, ist das Gleiche noch, dem w i r jetzt aus dem Wege gehn : der Lärm und das Demokraten-Geschwätz der Ephesier, ihre Politik, ihre Neuigkeiten vom „Reich“ (Persien, man versteht mich), ihr Markt-Kram von „Heute“, – denn wir Philosophen brauchen zu allererst vor Einem Ruhe : vor allem „Heute“. Wir verehren das Stille, das Kalte, das Vornehme, das Ferne, das Vergangne, Jegliches überhaupt, bei dessen Aspekt die Seele sich | nicht zu vertheidigen und zuzuschnüren hat,  – Etwas, mit dem man reden kann, ohne l aut zu reden. Man höre doch nur auf den Klang, den ein Geist hat, wenn er redet : jeder Geist hat seinen Klang, liebt seinen Klang. Das dort zum Beispiel muss wohl ein Agitator sein, will sagen ein Hohlkopf,

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Hohltopf : was auch nur in ihn hineingeht, jeglich Ding kommt dumpf und dick aus ihm zurück, beschwert mit dem Echo der grossen Leere. Jener dort spricht selten anders als heiser : hat er sich vielleicht heiser g e d ac ht ? Das wäre möglich  – man frage die Physiologen  –‚ aber wer in Wo r t e n denkt, denkt als Redner und nicht als Denker (es verräth, dass er im Grunde nicht Sachen, nicht sachlich denkt, sondern nur in Hinsicht auf Sachen, dass er eigentlich s ic h und seine Zuhörer denkt). Dieser Dritte da redet aufdringlich, er tritt zu nahe uns an den Leib, sein Athem haucht uns an, – unwillkürlich schliessen wir den Mund, obwohl es ein Buch ist, durch das er zu uns spricht : der Klang seines Stils sagt den Grund davon, – dass er keine Zeit hat, dass er schlecht an sich selber glaubt, dass er heute oder niemals mehr zu Worte kommt. Ein Geist aber, der seiner selbst gewiss ist, redet leise ; er sucht die Verborgenheit‚ er lässt auf sich warten. Man erkennt einen Philosophen daran, dass er drei glänzenden und lauten Dingen aus dem Wege geht, dem Ruhme, den Fürsten und den Frauen : womit nicht gesagt ist, dass sie nicht zu ihm kämen. Er scheut allzuhelles Licht : deshalb scheut er seine Zeit und deren „Tag“. Darin ist er wie ein Schatten : je mehr ihm die Sonne sinkt, um so grösser wird er. Was seine „Demuth“ angeht, so verträgt er, wie er das Dunkel verträgt, auch eine gewisse Abhängigkeit und Verdunkelung : mehr noch, er | fürchtet sich vor der Störung durch Blitze, er schreckt vor der Ungeschütztheit eines allzu isolirten und preisgegebenen Baums zurück, an dem jedes schlechte Wetter seine Laune, jede Laune ihr schlechtes Wetter auslässt. Sein „mütterlicher“ Instinkt, die geheime Liebe zu dem, was in ihm wächst, weist ihn auf Lagen hin, wo man es ihm abnimmt, a n s ic h zu denken ; in gleichem Sinne, wie der Instinkt der Mu t t e r im Weibe die abhängige Lage des Weibes überhaupt bisher festgehalten hat. Sie verlangen zuletzt wenig genug, diese Philosophen, ihr Wahlspruch ist „wer besitzt, wird besessen“  – :

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n ic ht , wie ich wieder und wieder sagen muss, aus einer Tugend, aus einem verdienstlichen Willen zur Genügsamkeit und Einfalt, sondern weil es ihr oberster Herr s o von ihnen verlangt, klug und unerbittlich verlangt : als welcher nur für Eins Sinn hat und Alles, Zeit, Kraft, Liebe, Interesse nur dafür sammlet, nur dafür aufspart. Diese Art Mensch liebt es nicht, durch Feindschaften gestört zu werden, auch durch Freundschaften nicht : sie vergisst oder verachtet leicht. Es dünkt ihr ein schlechter Geschmack, den Märtyrer zu machen ; „für die Wahrheit zu le id e n“ – das überlässt sie den Ehrgeizigen und Bühnenhelden des Geistes und wer sonst Zeit genug dazu hat (– sie selbst, die Philosophen, haben Etwas für die Wahrheit zu t hu n). Sie machen einen sparsamen Verbrauch von grossen Worten ; man sagt, dass ihnen selbst das Wort „Wahrheit“ widerstehe : es klinge grossthuerisch  … Was endlich die „Keuschheit“ der Philosophen anbelangt, so hat diese Art Geist ihre Fruchtbarkeit ersichtlich wo anders als in Kindern ; vielleicht wo anders auch das Fortleben ihres Namens, ihre kleine Unsterblichkeit (noch unbescheidener drückte man sich im alten | Indien unter Philosophen aus „wozu Nachkommenschaft Dem, dessen Seele die Welt ist ?“). Darin ist Nichts von Keuschheit aus irgend einem asketischen Skrupel und Sinnenhass, so wenig es Keuschheit ist, wenn ein Athlet oder Jockey sich der Weiber enthält : so will es vielmehr, zum Mindesten für die Zeiten der grossen Schwangerschaft, ihr domi nirender Instinkt. Jeder Artist weiss, wie schädlich in Zuständen grosser geistiger Spannung und Vorbereitung der Beischlaf wirkt ; für die mächtigsten und instinktsichersten unter ihnen gehört dazu nicht erst die Erfahrung, die schlimme Erfahrung, – sondern eben ihr „mütterlicher“ Instinkt ist es, der hier zum Vortheil des werdenden Werkes rücksichtslos über alle sonstigen Vorräthe und Zuschüsse von Kraft, von vigor des animalen Lebens verfügt : die grössere Kraft ve r b r au c h t dann die kleinere.  – Man lege sich übrigens den

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oben besprochenen Fall Schopenhauer’s nach dieser Interpretation zurecht : der Anblick des Schönen wirkte offenbar bei ihm als auslösender Reiz auf die H au pt k r a f t seiner Natur (die Kraft der Besinnung und des vertieften Blicks) ; so dass diese dann explodirte und mit Einem Male Herr des Bewusstseins wurde. Damit soll durchaus die Möglichkeit nicht ausgeschlossen sein, dass jene eigenthümliche Süssigkeit und Fülle, die dem ästhetischen Zustande eigen ist, gerade von der Ingredienz „Sinnlichkeit“ ihre Herkunft nehmen könnte, (wie aus derselben Quelle jener „Idealismus“ stammt, der mannbaren Mädchen eignet) – dass somit die Sinnlichkeit beim Eintritt des ästhetischen Zustandes nicht aufgehoben ist, wie Schopenhauer glaubte, sondern sich nur transfigurirt und nicht als Geschlechtsreiz mehr in’s Bewusstsein tritt. (Auf diesen Gesichtspunkt werde ich ein | andres Mal zurückkommen, im Zusammenhang mit noch delikateren Problemen der bisher so unberührten, so unaufgeschlossenen Phy s iolog ie d e r Ä s t het i k .) 9. Ein gewisser Ascetismus‚ wir sahen es, eine harte und heitere Entsagsamkeit besten Willens gehört zu den günstigen Bedingungen höchster Geistigkeit, insgleichen auch zu deren natürlichsten Folgen : so wird es von vornherein nicht Wunder nehmen, wenn das asketische Ideal gerade von den Philosophen nie ohne einige Voreingenommenheit behandelt worden ist. Bei einer ernsthaften historischen Nachrechnung erweist sich sogar das Band zwischen asketischem Ideal und Philosophie als noch viel enger und strenger. Man könnte sagen, dass erst am G ä n g e l b a nd e dieses Ideals die Philosophie überhaupt gelernt habe, ihre ersten Schritte und Schrittchen auf Erden zu machen – ach, noch so ungeschickt, ach, mit noch so verdrossnen Mienen, ach, so bereit, umzufallen und auf dem Bauch zu liegen, dieser kleine schüchterne Tapps und Zärtling mit krummen Beinen ! Es ist der Philosophie

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anfangs ergangen wie allen guten Dingen, – sie hatten lange keinen Muth zu sich selber, sie sahen sich immer um, ob ihnen Niemand zu Hülfe kommen wolle, mehr noch, sie fürchteten sich vor Allen, die ihnen zusahn. Man rechne sich die einzelnen Triebe und Tugenden des Philosophen der Reihe nach vor – seinen anzweifelnden Trieb, seinen verneinenden Trieb, seinen abwartenden („ephektischen“) Trieb, seinen analytischen Trieb, seinen forschenden, suchenden, wagenden Trieb, seinen vergleichenden, ausgleichenden Trieb, seinen Willen zu Neutralität und Objektivität, seinen Willen | zu jedem „ s i ne ira et studio“  – : hat man wohl schon begriffen, dass sie allesammt die längste Zeit den ersten Forderungen der Moral und des Gewissens entgegen giengen ? (gar nicht zu reden von der Ve r nu n f t überhaupt, welche noch Luther Fraw Klüglin die kluge Hur zu nennen liebte.) Dass ein Philosoph, falls er sich zum Bewusstsein gekommen w ä r e, sich geradezu als das leibhafte „nitimur in vet it u m“ hätte fühlen müssen – und sich folglich hüt et e, „sich zu fühlen“, sich zum Bewusstsein zu kommen ? … Es steht, wie gesagt, nicht anders mit allen guten Dingen, auf die wir heute stolz sind ; selbst noch mit dem Maasse der alten Griechen gemessen, nimmt sich unser ganzes modernes Sein, soweit es nicht Schwäche, sondern Macht und Machtbewusstsein ist, wie lauter Hybris und Gottlosigkeit aus : denn gerade die umgekehrten Dinge, als die sind, welche wir heute verehren, haben die längste Zeit das Gewissen auf ihrer Seite und Gott zu ihrem Wächter gehabt. Hybris ist heute unsre ganze Stellung zur Natur, unsre Natur-Vergewaltigung mit Hülfe der Maschinen und der so unbedenklichen Techniker- und Ingenieur-Erfi ndsamkeit ; Hybris ist unsre Stellung zu Gott, will sagen zu irgend einer angeblichen Zweck- und Sittlichkeits-Spinne hinter dem grossen Fangnetz-Gewebe der Ursächlichkeit – wir dürften wie Karl der Kühne im Kampfe mit Ludwig dem Elften sagen „je combats l’universelle araignée“ – ; Hybris ist unsre Stellung zu

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u n s , – denn wir experimentiren mit uns, wie wir es uns mit keinem Thiere erlauben würden und schlitzen uns vergnügt und neugierig die Seele bei lebendigem Leibe auf : was liegt uns noch am „Heil“ der Seele ! Hinterdrein heilen wir uns selber : Kranksein ist lehrreich, | wir zweifeln nicht daran, lehrreicher noch als Gesundsein, – die K r a n k m ac he r scheinen uns heute nöthiger selbst als irgend welche Medizinmänner und „Heilande“. Wir vergewaltigen uns jetzt selbst, es ist kein Zweifel, wir Nussknacker der Seele, wir Fragenden und Fragwürdigen, wie als ob Leben nichts Anderes sei, als Nüsseknacken ; ebendamit müssen wir nothwendig täglich immer noch fragwürdiger, w ü r d i g e r zu fragen werden, ebendamit vielleicht auch würdiger – zu leben ? … Alle guten Dinge waren ehemals schlimme Dinge ; aus jeder Erbsünde ist eine Erbtugend geworden. Die Ehe zum Beispiel schien lange eine Versündigung am Rechte der Gemeinde ; man hat einst Busse dafür gezahlt, so unbescheiden zu sein und sich ein Weib für sich anzumaassen (dahin gehört zum Beispiel das jus primae noctis, heute noch in Cambodja das Vorrecht der Priester, dieser Bewahrer „alter guter Sitten“). Die sanften, wohlwollenden, nachgiebigen‚ mitleidigen Gefühle – nachgerade so hoch im Werthe, dass sie fast „die Werthe an sich“ sind – hatten die längste Zeit gerade die Selbstverachtung gegen sich : man schämte sich der Milde, wie man sich heute der Härte schämt (vergl. „Jenseits von Gut und Böse“ S. 232). Die Unterwerfung unter das R e c ht : – oh mit was für Gewissens-Widerstande haben die vornehmen Geschlechter überall auf Erden ihrerseits Verzicht auf Vendetta geleistet und dem Recht über sich Gewalt eingeräumt ! Das „Recht“ war lange ein vetitum, ein Frevel, eine Neuerung, es trat mit Gewalt auf, a l s Gewalt, der man sich nur mit Scham vor sich selber fügte. Jeder kleinste Schritt auf der Erde ist ehedem mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden : dieser ganze Gesichtspunkt, „dass nicht nur das Vorwärtsschreiten, nein ! | das Schreiten, die

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Bewegung, die Veränderung ihre unzähligen Märtyrer nöthig gehabt hat“, klingt gerade heute uns so fremd, – ich habe ihn in der „Morgenröthe“ S. 17 ff. an’s Licht gestellt. „Nichts ist theurer erkauft, heisst es daselbst S. 19, als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, was jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der „Sittlichkeit der Sitte“ zu empfi nden, welche der „Weltgeschichte“ vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte‚ welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat : wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefi nden als Gefahr, die Wissbegierde als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Ve r ä nd e r u n g als das Unsittliche und Verderbenschwangere an sich überall in Geltung war !“ – 10. In demselben Buche S. 39 ist auseinandergesetzt, in welcher Schätzung, unter welchem D r uc k von Schätzung das älteste Geschlecht contemplativer Menschen zu leben hatte,  – genau so weit verachtet als es nicht gefürchtet wurde ! Die Contemplation ist in vermummter Gestalt, in einem zweideutigen Ansehn, mit einem bösen Herzen und oft mit einem geängstigten Kopfe zuerst auf der Erde erschienen : daran ist kein Zweifel. Das Inaktive, Brütende, Unkriegerische in den Instinkten contemplativer Menschen legte lange | ein tiefes Misstrauen um sie herum : dagegen gab es kein anderes Mittel als entschieden F u r c ht vor sich erwecken. Und darauf haben sich zum Beispiel die alten Brahmanen verstanden ! Die ältesten Philosophen wussten ihrem Dasein und Erscheinen einen Sinn, einen Halt und Hintergrund zu geben, auf den

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hin man sie f ü r c ht e n lernte : genauer erwogen, aus einem noch fundamentaleren Bedürfnisse heraus, nämlich um vor sich selbst Furcht und Ehrfurcht zu gewinnen. Denn sie fanden in sich alle Werthurtheile g e g e n sich gekehrt, sie hatten gegen „den Philosophen in sich“ jede Art Verdacht und Widerstand niederzukämpfen. Dies thaten sie, als Menschen furchtbarer Zeitalter, mit furchtbaren Mitteln : die Grausamkeit gegen sich, die erfi nderische Selbstkasteiung  – das war das Hauptmittel dieser machtdurstigen Einsiedler und GedankenNeuerer, welche es nöthig hatten, in sich selbst erst die Götter und das Herkömmliche zu vergewaltigen, um selbst an ihre Neuerung g l aub e n zu können. Ich erinnere an die berühmte Geschichte des Königs Viçvamitra, der aus tausendjährigen Selbstmarterungen ein solches Machtgefühl und Zutrauen zu sich gewann, dass er es unternahm, einen neue n H i m me l zu bauen : das unheimliche Symbol der ältesten und jüngsten Philosophen-Geschichte auf Erden, – Jeder, der irgendwann einmal einen „neuen Himmel“ gebaut hat, fand die Macht dazu erst in der e i g n e n Höl le   … Drücken wir den ganzen Thatbestand in kurze Formeln zusammen : der philosophische Geist hat sich zunächst immer in die f r ü he r f e s tg e s t e l lt e n Typen des contemplativen Menschen verkleiden und verpuppen müssen, als Priester, Zauberer, Wahrsager, überhaupt als religiöser Mensch, um in irgend einem Maasse auch nur | mög l ic h z u s e i n : d a s a s k et i s c he Id e a l hat lange Zeit dem Philosophen als Erscheinungsform, als Existenz-Voraussetzung gedient,  – er musste es d a r s t e l l e n , um Philosoph sein zu können, er musste an dasselbe g l aub e n , um es darstellen zu können. Die eigenthümlich weltverneinende, lebensfeindliche, sinnenungläubige‚ entsinnlichte Abseits-Haltung der Philosophen, welche bis auf die neueste Zeit festgehalten worden ist und damit beinahe als Ph i lo s o phe n-At t it üd e a n s ic h Geltung gewonnen hat, – sie ist vor Allem eine Folge des Nothstandes von Bedingungen, unter

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denen Philosophie überhaupt entstand und bestand : insofern nämlich die längste Zeit Philosophie auf Erden g a r n ic ht mög l ic h gewesen wäre ohne eine asketische Hülle und Einkleidung, ohne ein asketisches Selbst-Missverständniss. Anschaulich und augenscheinlich ausgedrückt : der a s k et i s c he P r ie s t e r hat bis auf die neueste Zeit die widrige und düstere Raupenform abgegeben, unter der allein die Philosophie leben durfte und herumschlich … Hat sich das wirklich ve r ä n d e r t ? Ist das bunte und gefährliche Flügelthier, jener „Geist“, den diese Raupe in sich barg‚ wirklich, Dank einer sonnigeren, wärmeren, aufgehellteren Welt, zuletzt doch noch entkuttet und in’s Licht hinausgelassen worden ? Ist heute schon genug Stolz, Wagniss, Tapferkeit, Selbstgewissheit, Wille des Geistes, Wille zur Verantwortlichkeit, Fr e i he it d e s W i lle n s vorhanden, dass wirklich nunmehr auf Erden „der Philosoph“ – mög l ic h ist ? … 11. Jetzt erst, nachdem wir den a s k et i s c he n P r ie s t e r in Sicht bekommen haben, rücken wir unsrem | Probleme : was bedeutet das asketische Ideal ? ernsthaft auf den Leib, – jetzt erst wird es „Ernst“ : wir haben nunmehr den eigentlichen Re pr äs e nt a nt e n d e s E r n s t e s überhaupt uns gegenüber. „Was bedeutet aller Ernst ?“ – diese noch grundsätzlichere Frage legt sich vielleicht hier schon auf unsre Lippen : eine Frage für Physiologen, wie billig, an der wir aber einstweilen noch vorüberschlüpfen. Der asketische Priester hat in jenem Ideale nicht nur seinen Glauben, sondern auch seinen Willen, seine Macht, sein Interesse. Sein R e c ht zum Dasein steht und fällt mit jenem Ideale : was Wunder, dass wir hier auf einen furchtbaren Gegner stossen, gesetzt nämlich, dass wir die Gegner jenes Ideales wären ? eines solchen, der um seine Existenz gegen die Leugner jenes Ideales kämpft ? … Andrerseits ist es von vornherein nicht wahrscheinlich, dass eine dergestalt interessirte Stellung zu unsrem Probleme diesem sonderlich zu Nutze

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kommen wird ; der asketische Priester wird schwerlich selbst nur den glücklichsten Vertheidiger seines Ideals abgeben, aus dem gleichen Grunde, aus dem es einem Weibe zu misslingen pflegt, wenn es „das Weib an sich“ vertheidigen will,  – geschweige denn den objektivsten Beurtheiler und Richter der hier aufgeregten Controverse. Eher also werden wir ihm noch zu helfen haben – so viel liegt jetzt schon auf der Hand – sich gut gegen uns zu vertheidigen als dass wir zu fürchten hätten, zu gut von ihm widerlegt zu werden … Der Gedanke, um den hier gekämpft wird, ist die We r t hu n g unsres Lebens seitens der asketischen Priester : dasselbe wird (sammt dem, wozu es gehört, „Natur“, „Welt“, die gesammte Sphäre des Werdens und der Vergänglichkeit) von ihnen in Beziehung gesetzt zu einem ganz andersartigen Dasein, | zu dem es sich gegensätzlich und ausschliessend verhält, e s s e i d e n n , dass es sich etwa gegen sich selber wende, s ic h s e l b s t ver ne i ne : in diesem Falle, dem Falle eines asketischen Lebens, gilt das Leben als eine Brücke für jenes andre Dasein. Der Asket behandelt das Leben wie einen Irrweg, den man endlich rückwärts gehn müsse, bis dorthin, wo er anfängt ; oder wie einen lrrthum, den man durch die That widerlege – widerlegen s ol le : denn er f or d e r t , dass man mit ihm gehe, er erzwingt, wo er kann, s e i ne Werthung des Daseins. Was bedeutet das ? Eine solche ungeheuerliche Werthungsweise steht nicht als Ausnahmefall und Curiosum in die Geschichte des Menschen eingeschrieben : sie ist eine der breitesten und längsten Thatsachen, die es giebt. Von einem fernen Gestirn aus gelesen, würde vielleicht die Majuskel-Schrift unsres Erden-Daseins zu dem Schluss verführen, die Erde sei der eigentlich a s k e t i s c he St e r n , ein Winkel missvergnügter, hochmüthiger und widriger Geschöpfe, die einen tiefen Verdruss an sich, an der Erde, an allem Leben gar nicht loswürden und sich selber so viel Wehe thäten als möglich, aus Vergnügen am Wehethun :  – wahrscheinlich ihrem einzigen Vergnügen. Erwägen wir doch,

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wie regelmässig, wie allgemein, wie fast zu allen Zeiten der asketische Priester in die Erscheinung tritt ; er gehört keiner einzelnen Rasse an ; er gedeiht überall ; er wächst aus allen Ständen heraus. Nicht dass er etwa seine Werthungsweise durch Vererbung züchtete und weiterpflanzte : das Gegentheil ist der Fall, – ein tiefer Instinkt verbietet ihm vielmehr, in’s Grosse gerechnet, die Fortpflanzung. Es muss eine Necessität ersten Rangs sein, welche diese leb e n s f e i nd l ic he Species immer wieder wachsen und | gedeihen macht,  – es muss wohl ein I nt e r e s s e d e s L eb e n s s e l b s t sein, dass ein solcher Typus des Selbstwiderspruchs nicht ausstirbt. Denn ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch : hier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen ; hier wird ein Versuch gemacht, die Kraft zu gebrauchen, um die Quellen der Kraft zu verstopfen ; hier richtet sich der Blick grün und hämisch gegen das physiologische Gedeihen selbst, in Sonderheit gegen deren Ausdruck, die Schönheit, die Freude ; während am Missrathen, Verkümmern, am Schmerz, am Unfall, am Hässlichen, an der willkürlichen Einbusse, an der Entselbstung, Selbstgeisselung, Selbstopferung ein Wohlgefallen empfunden und g e s uc ht wird. Dies ist Alles im höchsten Grade paradox : wir stehen hier vor einer Zwiespältigkeit, die sich selbst zwiespältig w i l l , welche sich selbst in diesem Leiden g e n ie s s t und in dem Maasse sogar immer selbstgewisser und triumphirender wird, als ihre eigne Voraussetzung, die physiologische Lebensfähigkeit, a b n i m mt . „Der Triumph gerade in der letzten Agonie“ : unter diesem superlativischen Zeichen kämpfte von jeher das asketische Ideal ; in diesem Räthsel von Verführung, in diesem Bilde von Entzücken und Qual erkannte es sein hellstes Licht, sein Heil, seinen endlichen Sieg. Crux, nux, lux – das gehört bei ihm in Eins. –

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12. Gesetzt, dass ein solcher leibhafter Wille zur Contradiction und Widernatur dazu gebracht wird, zu ph i|lo s o ph i r e n : woran wird er seine innerlichste Willkür auslassen ? An dem, was am allersichersten als wahr, als real empfunden wird : er wird den I r r t hu m gerade dort suchen, wo der eigent liche Lebens-Instinkt die Wahrheit am unbedingtesten ansetzt. Er wird zum Beispiel, wie es die Asketen der Vedânta-Philosophie thaten, die Leiblichkeit zur Illusion herabsetzen, den Schmerz insgleichen, die Vielheit, den ganzen Begriffs-Gegensatz „Subjekt“ und „Objekt“ – Irrthümer, Nichts als Irr thümer ! Seinem Ich den Glauben versagen, sich selber seine „Realität“ verneinen  – welcher Triumph !  – schon nicht mehr bloss über die Sinne, über den Augenschein, eine viel höhere Art Triumph, eine Vergewaltigung und Grausamkeit an der Ve r nu n f t : als welche Wollust damit auf den Gipfel kommt, dass die asketische Selbstverachtung‚ Selbstverhöhnung der Vernunft dekretirt : „es g iebt ein Reich der Wahrheit und des Seins, aber gerade die Vernunft ist davon au s g e s c h lo s s e n !“ … (Anbei gesagt : selbst noch in dem Kantischen Begriff „intelligibler Charakter der Dinge“ ist Etwas von dieser lüsternen AsketenZwiespältigkeit rückständig, welche Vernunft gegen Vernunft zu kehren liebt : „intelligibler Charakter“ bedeutet nämlich bei Kant eine Art Beschaffenheit der Dinge, von der der Intellekt gerade soviel begreift, dass sie für den Intellekt – g a n z u nd g a r u n b e g r e i f l ic h i s t .) – Seien wir zuletzt, gerade als Erkennende, nicht undankbar gegen solche resolute Umkehrungen der gewohnten Perspektiven und Werthungen, mit denen der Geist allzulange scheinbar freventlich und nutzlos gegen sich selbst gewüthet hat : dergestalt einmal anders sehn, anders-sehn -wol le n ist keine kleine Zucht und Vorbereitung des Intellekts zu seiner einstmaligen „Ob|jektivität“, – letztere nicht als „interesselose Anschauung“ verstanden (als welche ein Unbegriff und Widersinn ist), sondern als das Vermögen,

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sein Für und Wider i n der Gewa lt z u haben und aus- und einzuhängen : so dass man sich gerade die Ve r s c h ied e n he it der Perspektiven und der Affekt-Interpretationen für die Erkenntniss nutzbar zu machen weiss. Hüten wir uns nämlich, meine Herrn Philosophen, von nun an besser vor der gefährlichen alten Begriffs-Fabelei, welche ein „reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniss“ angesetzt hat, hüten wir uns vor den Fangarmen solcher contradiktorischen Begriffe wie „reine Vernunft“, „absolute Geistigkeit“, „Erkenntniss an sich“ : – hier wird immer ein Auge zu denken verlangt, das gar nicht gedacht werden kann, ein Auge, das durchaus keine Richtung haben soll, bei dem die aktiven und interpretirenden Kräfte unterbunden sein sollen, fehlen sollen, durch die doch Sehen erst ein Etwas-Sehen wird, hier wird also immer ein Widersinn und Unbegriff von Auge verlangt. Es giebt nu r ein perspektivisches Sehen, nu r ein perspektivisches „Erkennen“ ; und j e m e h r Affekte wir über eine Sache zu Worte kommen lassen, je me h r Augen, verschiedne Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser „Begriff “ dieser Sache, unsre „Objektivität“ sein. Den Willen aber überhaupt eliminiren, die Affekte sammt und sonders aushängen, gesetzt, dass wir dies vermöchten : wie ? hiesse das nicht den Intellekt c a s t r i r e n ? … 13. Aber kehren wir zurück. Ein solcher Selbstwiderspruch, wie er sich im Asketen darzustellen scheint, | „Leben g e g e n Leben“ ist – so viel liegt zunächst auf der Hand – physiologisch und nicht mehr psychologisch nachgerechnet‚ einfach Unsinn. Er kann nur s c he i n b a r sein ; er muss eine Art vorläufigen Ausdrucks, eine Auslegung, Formel, Zurechtmachung, ein psychologisches Missverständniss von Etwas sein, dessen eigentliche Natur lange nicht verstanden, lange nicht a n s ic h bezeichnet werden konnte, – ein blosses Wort, eingeklemmt

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in eine alte Lüc k e der menschlichen Erkenntniss. Und dass ich kurz den Thatbestand dagegen stelle : d a s a ske t i sc he Idea l ent spr i ng t dem Sc hut z- u nd Hei l-I n st i n k te eines degener i renden Leben s, welches sich mit allen Mitteln zu halten sucht und um sein Dasein kämpft ; es deutet auf eine partielle physiologische Hemmung und Ermüdung hin, gegen welche die tiefsten, intakt gebliebenen Instinkte des Lebens unausgesetzt mit neuen Mitteln und Erfi ndungen ankämpfen. Das asketische Ideal ist ein solches Mittel : es steht also gerade umgekehrt als es die Verehrer dieses Ideals meinen, – das Leben ringt in ihm und durch dasselbe mit dem Tode und g e g e n den Tod, das asketische Ideal ist ein Kunstgriff in der E r h a lt u n g des Lebens. Dass dasselbe in dem Maasse, wie die Geschichte es lehrt, über den Menschen walten und mächtig werden konnte, in Sonderheit überall dort, wo die Civilisation und Zähmung des Menschen durchgesetzt wurde, darin drückt sich eine grosse Thatsache aus, die K r a n k h a f t i g k e it im bisherigen Typus des Menschen, zum Mindesten des zahm gemachten Menschen, das physiologische Ringen des Menschen mit dem Tode (genauer : mit dem Überdrusse am Leben, mit der Ermüdung, mit dem Wunsche nach dem „Ende“). Der asketische Priester ist der fleisch|gewordne Wunsch nach einem Anders-sein, Anderswo-sein, und zwar der höchste Grad dieses Wunsches, dessen eigentliche Inbrunst und Leidenschaft : aber eben die M ac ht seines Wünschens ist die Fessel, die ihn hier anbindet, eben damit wird er zum Werkzeug, das daran arbeiten muss, günstigere Bedingungen für das Hier-sein und Mensch-sein zu schaffen, – eben mit dieser M ac ht hält er die ganze Heerde der Missrathnen, Verstimmten, Schlechtweggekommnen, Verunglückten, An-sich-Leidenden jeder Art am Dasein fest, indem er ihnen instinktiv als Hirt vorangeht. Man versteht mich bereits : dieser asketische Priester, dieser anscheinende Feind des Lebens, dieser Ve r ne i ne nd e, – er gerade gehört zu den ganz

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grossen con ser v i renden und Ja-sc ha f fenden Gewalten des Lebens … Woran sie hängt, jene Krankhaftigkeit ? Denn der Mensch ist kränker, unsicherer, wechselnder, unfestgestellter als irgend ein Thier sonst, daran ist kein Zweifel, – er ist d a s kranke Thier : woher kommt das ? Sicherlich hat er auch mehr gewagt, geneuert‚ getrotzt, das Schicksal herausgefordert als alle übrigen Thiere zusammen genommen : er‚ der grosse Experimentator mit sich, der Unbefriedigte‚ Ungesättigte, der um die letzte Herrschaft mit Thier, Natur und Göttern ringt, – er, der immer noch Unbezwungne, der ewigZukünftige, der vor seiner eignen drängenden Kraft keine Ruhe mehr fi ndet, so dass ihm seine Zukunft unerbittlich wie ein Sporn im Fleische jeder Gegenwart wühlt :  – wie sollte ein solches muthiges und reiches Thier nicht auch das am meisten gefährdete, das am Längsten und Tiefsten kranke unter allen kranken Thieren sein ? … Der Mensch hat es satt, oft genug, es giebt ganze Epidemien dieses Satthabens (– so um 1348 herum, | zur Zeit des Todtentanzes) : aber selbst noch dieser Ekel, diese Müdigkeit, dieser Verdruss an sich selbst – Alles tritt an ihm so mächtig heraus, dass es sofort wieder zu einer neuen Fessel wird. Sein Nein, das er zum Leben spricht, bringt wie durch einen Zauber eine Fülle zarterer Ja’s an’s Licht ; ja wenn er sich ve r w u nd et‚ dieser Meister der Zerstörung, Selbstzerstörung, – hinterdrein ist es die Wunde selbst, die ihn zwingt, z u leb e n … 14. Je normaler die Krankhaftigkeit am Menschen ist – und wir können diese Normalität nicht in Abrede stellen –, um so höher sollte man die seltnen Fälle der seelisch-leiblichen Mächtigkeit, die G lüc k s f ä l le des Menschen in Ehren halten, um so strenger die Wohlgerathenen vor der schlechtesten Luft, der Kranken-Luft behüten. Thut man das ?  … Die Kranken sind die grösste Gefahr für die Gesunden ; n ic h t von den

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Stärksten kommt das Unheil für die Starken, sondern von den Schwächsten. Weiss man das ? … In’s Grosse gerechnet, ist es durchaus nicht die Furcht vor dem Menschen, deren Verminderung man wünschen dürfte : denn diese Furcht zwingt die Starken dazu, stark, unter Umständen furchtbar zu sein, – sie hält den wohlgerathenen Typus Mensch au f r e c ht . Was zu fürchten ist, was verhängnissvoll wirkt wie kein andres Verhängniss, das wäre nicht die grosse Furcht, sondern der grosse E k e l vor dem Menschen ; insgleichen das grosse M it le id mit dem Menschen. Gesetzt, dass diese beiden eines Tages sich begatteten, so würde unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der „letzte Wille“ des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus. Und in der That : hierzu ist Viel vorbereitet. | Wer nicht nur seine Nase zum Riechen hat, sondern auch seine Augen und Ohren, der spürt fast überall, wohin er heute auch nur tritt, etwas wie Irrenhaus-‚ wie Krankenhaus-Luft, – ich rede, wie billig, von den Culturgebieten des Menschen, von jeder Art „Europa“, das es nachgerade auf Erden giebt. Die K r a n k h a f t e n sind des Menschen grosse Gefahr : n ic ht die Bösen, n ic ht die „Raubthiere“. Die von vornherein Verunglückten, Niedergeworfnen, Zerbrochnen – sie sind es, die S c hw äc h s t e n sind es, welche am Meisten das Leben unter Menschen unterminiren, welche unser Vertrauen zum Leben, zum Menschen, zu uns am gefährlichsten vergiften und in Frage stellen. Wo entgienge man ihm, jenem verhängten Blick, von dem man eine tiefe Traurigkeit mit fortträgt, jenem zurückgewendeten Blick des Missgebornen von Anbeginn, der es verräth, wie ein solcher Mensch zu sich selber spricht, – jenem Blick, der ein Seufzer ist. „Möchte ich irgend Jemand Anderes sein ! so seufzt dieser Blick : aber da ist keine Hoff nung. Ich bin, der ich bin : wie käme ich von mir selber los ? Und doch – h a b e ic h m ic h s at t !“  … Auf solchem Boden der Selbstverachtung, einem eigentlichen Sumpf boden, wächst jedes Unkraut, jedes Gift-

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gewächs, und alles so klein, so versteckt, so unehrlich, so süsslich. Hier wimmeln die Würmer der Rach- und Nachgefühle ; hier stinkt die Luft nach Heimlichkeiten und Uneingeständlichkeiten ; hier spinnt sich beständig das Netz der bösartigsten Verschwörung, – der Verschwörung der Leidenden gegen die Wohlgerathenen und Siegreichen, hier wird der Aspekt des Siegreichen g e h a s s t . Und welche Verlogenheit, um diesen Hass nicht als Hass einzugestehn ! Welcher Aufwand an grossen Worten und Attitüden, welche Kunst der „rechtschaff nen“ | Verleumdung ! Diese Missrathenen : welche edle Beredsamkeit entströmt ihren Lippen ! Wie viel zuckrige, schleimige, demüthige Ergebung schwimmt in ihren Augen ! Was wollen sie eigentlich ? Die Gerechtigkeit, die Liebe, die Weisheit, die Überlegenheit wenigstens d a r s t e l le n  – das ist der Ehrgeiz dieser „Untersten“, dieser Kranken ! Und wie geschickt macht ein solcher Ehrgeiz ! Man bewundere namentlich die Falschmünzer-Geschicklichkeit, mit der hier das Gepräge der Tugend, selbst der Klingklang, der Goldklang der Tugend nachgemacht wird. Sie haben die Tugend jetzt ganz und gar für sich in Pacht genommen, diese Schwachen und Heillos-Krankhaften, daran ist kein Zweifel : „wir allein sind die Guten, die Gerechten, so sprechen sie, wir allein sind die homines bonae voluntatis.“ Sie wandeln unter uns herum als leibhafte Vorwürfe, als Warnungen an uns, – wie als ob Gesundheit, Wohlgerathenheit, Stärke, Stolz, Machtgefühl an sich schon lasterhafte Dinge seien, für die man einst büssen, bitter büssen müsse : oh wie sie im Grunde dazu selbst bereit sind, büssen zu m ac he n , wie sie darnach dürsten, He n k e r zu sein ! Unter ihnen giebt es in Fülle die zu Richtern verkleideten Rachsüchtigen, welche beständig das Wort „Gerechtigkeit“ wie einen giftigen Speichel im Munde tragen, immer gespitzten Mundes, immer bereit, Alles anzuspeien, was nicht unzufrieden blickt und guten Muths seine Strasse zieht. Unter ihnen fehlt auch jene ekelhafteste Species der Eitlen nicht, die

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verlognen Missgeburten‚ die darauf aus sind, „schöne Seelen“ darzustellen und etwa ihre verhunzte Sinnlichkeit, in Verse und andere Windeln gewickelt, als „Reinheit des Herzens“ auf den Markt bringen : die Species der moralischen Onanisten und „Selbstbefriediger“. Der | Wille der Kranken, i r g e n d eine Form der Überlegenheit darzustellen, ihr Instinkt für Schleichwege‚ die zu einer Tyrannei über die Gesunden führen, – wo fände er sich nicht, dieser Wille gerade der Schwächsten zur Macht ! Das kranke Weib in Sonderheit : Niemand übertriff t es in Raffi nements, zu herrschen, zu drücken, zu tyrannisiren. Das kranke Weib schont dazu nichts Lebendiges, nichts Todtes, es gräbt die begrabensten Dinge wieder auf (die Bogos sagen : „das Weib ist eine Hyäne“). Man blicke in die Hintergründe jeder Familie, jeder Körperschaft, jedes Gemeinwesens : überall der Kampf der Kranken gegen die Gesunden, – ein stiller Kampf zumeist mit kleinen Giftpulvern, mit Nadelstichen, mit tückischem Dulder-Mienenspiele, mitunter aber auch mit jenem Kranken-Pharisäismus der l aut e n Gebärde‚ der am liebsten „die edle Entrüstung“ spielt. Bis in die geweihten Räume der Wissenschaft hinein möchte es sich hörbar machen, das heisere Entrüstungsgebell der krankhaften Hunde, die bissige Verlogenheit und Wuth solcher „edlen“ Pharisäer (– ich erinnere Leser, die Ohren haben, nochmals an jenen Berliner Rache-Apostel Eugen Dühring, der im heutigen Deutschland den unanständigsten und widerlichsten Gebrauch vom moralischen Bumbum macht : Dühring, das erste Moral-Grossmaul, das es jetzt giebt, selbst noch unter seines Gleichen, den Antisemiten). Das sind alles Menschen des Ressentiment, diese physiologisch Verunglückten und Wurmstichigen, ein ganzes zitterndes Erdreich unterirdischer Rache, unerschöpfl ich, unersättlich in Ausbrüchen gegen die Glücklichen und ebenso in Maskeraden der Rache, in Vorwänden zur Rache : wann würden sie eigentlich zu ihrem letzten, feinsten, sublimsten Triumph der Rache kommen ?

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Dann unzweifel|haft, wenn es ihnen gelänge, ihr eignes Elend, alles Elend überhaupt den Glücklichen i n’s G ew i s sen z u sc h ieben : so dass diese sich eines Tags ihres Glücks zu schämen begönnen und vielleicht unter einander sich sagten : „es ist eine Schande, glücklich zu sein ! e s g iebt z u v ie l Elend !“ … Aber es könnte gar kein grösseres und verhängnissvolleres Missverständniss geben, als wenn dergestalt die Glücklichen, die Wohlgerathenen, die Mächtigen an Leib und Seele anfiengen, an ihrem R e c ht au f G l ü c k zu zweifeln. Fort mit dieser „verkehrten Welt“ ! Fort mit dieser schändlichen Verweichlichung des Gefühls ! Dass die Kranken n ic ht die Gesunden krank machen – und dies wäre eine solche Verweichlichung – das sollte doch der oberste Gesichtspunkt auf Erden sein : – dazu aber gehört vor allen Dingen, dass die Gesunden von den Kranken a bg et r e n nt bleiben, behütet selbst vor dem Anblick der Kranken, dass sie sich nicht mit den Kranken verwechseln. Oder wäre es etwa ihre Aufgabe, Krankenwärter oder Ärzte zu sein ? … Aber sie könnten i h r e Aufgabe gar nicht schlimmer verkennen und verleugnen, – das Höhere s ol l sich nicht zum Werkzeug des Niedrigeren herabwürdigen, das Pathos der Distanz s ol l in alle Ewigkeit auch die Aufgaben aus einander halten ! Ihr Recht, dazusein, das Vorrecht der Glocke mit vollem Klange vor der misstönigen, zersprungenen, ist ja ein tausendfach grösseres : sie allein sind die Bü r g e n der Zukunft, sie allein sind ve r pf l ic ht et für die Menschen-Zukunft. Was s ie können, was s ie sollen, das dürften niemals Kranke können und sollen : aber d a m it sie können, was nur s ie sollen, wie stünde es ihnen noch frei, den Arzt, den Trostbringer, den „Heiland“ der Kranken zu machen ? … Und darum | gute Luft ! gute Luft ! Und weg jedenfalls aus der Nähe von allen Irren- und Krankenhäusern der Cultur ! Und darum gute Gesellschaft, u n s r e Gesellschaft ! Oder Einsamkeit, wenn es sein muss ! Aber weg jedenfalls von den üblen Dünsten der innewendigen Verderbniss

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und des heimlichen Kranken-Wurmfrasses ! … Damit wir uns selbst nämlich, meine Freunde, wenigstens eine Weile noch gegen die zwei schlimmsten Seuchen vertheidigen, die gerade für uns aufgespart sein mögen, – gegen den g r o s s e n E k e l a m M e n s c h e n ! gegen das g r o s s e M i t l e i d m i t d e m Me n s c he n ! … 15. Hat man in aller Tiefe begriffen – und ich verlange, dass man hier gerade t ie f g r e i f t , tief begreift – inwiefern es schlechterdings n ic ht die Aufgabe der Gesunden sein kann, Kranke zu warten, Kranke gesund zu machen, so ist damit auch eine Nothwendigkeit mehr begriffen,  – die Nothwendigkeit von Ärzten und Krankenwärtern, d ie s e l b e r k r a n k s i nd : und nunmehr haben und halten wir den Sinn des asketischen Priesters mit beiden Händen. Der asketische Priester muss uns als der vorherbestimmte Heiland, Hirt und Anwalt der kranken Heerde gelten : damit erst verstehen wir seine ungeheure historische Mission. Die He r r s c h a f t ü b e r L e id e nd e ist sein Reich, auf sie weist ihn sein Instinkt an, in ihr hat er seine eigenste Kunst, seine Meisterschaft, seine Art von Glück. Er muss selber krank sein, er muss den Kranken und Schlechtweggekommenen von Grund aus verwandt sein, um sie zu verstehen,  – um sich mit ihnen zu verstehen ; aber er muss auch stark sein‚ mehr Herr noch über sich als über Andere, unversehrt namentlich | in seinem Willen zur Macht, damit er das Vertrauen und die Furcht der Kranken hat, damit er ihnen Halt, Widerstand, Stütze, Zwang, Zuchtmeister, Tyrann, Gott sein kann. Er hat sie zu vertheidigen, seine Heerde – gegen wen ? Gegen die Gesunden, es ist kein Zweifel‚ auch gegen den Neid auf die Gesunden ; er muss der natürliche Widersacher u nd Ve r äc ht e r aller rohen, stürmischen, zügellosen, harten, gewaltthätig-raubthierhaften Gesundheit und Mächtigkeit sein. Der Priester ist die erste Form des d e l i k a t e r e n Thiers, das leichter noch verachtet als hasst. Es wird ihm

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nicht erspart bleiben, Krieg zu führen mit den Raubthieren, einen Krieg der List (des „Geistes“) mehr als der Gewalt, wie sich von selbst versteht, – er wird es dazu unter Umständen nöthig haben, beinahe einen neuen Raubthier-Typus an sich herauszubilden, mindestens zu b ed eut e n , – eine neue ThierFurchtbarkeit, in welcher der Eisbär, die geschmeidige kalte abwartende Tigerkatze und nicht am wenigsten der Fuchs zu einer ebenso anziehenden als furchteinflössenden Einheit gebunden scheinen. Gesetzt, dass die Noth ihn zwingt, so tritt er dann wohl bärenhaft-ernst, ehrwürdig, klug, kalt, trügerisch-überlegen, als Herold und Mundstück geheimnissvollerer Gewalten, mitten unter die andere Art Raubthiere selbst, entschlossen, auf diesem Boden Leid, Zwiespalt, Selbstwiderspruch, wo er kann, auszusäen und, seiner Kunst nur zu gewiss, über L e i d e n d e jederzeit Herr zu werden. Er bringt Salben und Balsam mit, es ist kein Zweifel ; aber erst hat er nöthig, zu verwunden, um Arzt zu sein ; indem er dann den Schmerz stillt, den die Wunde macht, verg i f tet er z ug leic h d ie Wu nde – darauf vor Allem nämlich versteht er sich, dieser Zauberer und Raubthier-Bändiger‚ in dessen | Umkreis alles Gesunde nothwendig krank und alles Kranke nothwendig zahm wird. Er vertheidigt in der That gut genug seine kranke Heerde, dieser seltsame Hirt, – er vertheidigt sie auch gegen sich, gegen die in der Heerde selbst glimmende Schlechtigkeit, Tücke, Böswilligkeit und was sonst allen Süchtigen und Kranken unter einander zu eigen ist, er kämpft klug, hart und heimlich mit der Anarchie und der jederzeit beginnenden Selbstauflösung innerhalb der Heerde, in welcher jener gefährlichste Spreng- und Explosivstoff, das R e s s e nt i me nt , sich beständig häuft und häuft. Diesen Sprengstoff so zu ent laden, dass er nicht die Heerde und nicht den Hirten zersprengt, das ist sein eigentliches Kunststück, auch seine oberste Nützlichkeit : wollte man den Werth der priesterlichen Existenz in die kürzeste Formel fassen, so wäre geradewegs zu sagen : der

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Priester ist der R ic ht u n g s -Ve r ä nd e r e r des Ressentiment. Jeder Leidende nämlich sucht instinktiv zu seinem Leid eine Ursache ; genauer noch, einen Thäter, noch bestimmter, einen für Leid empfänglichen s c hu ld i g e n Thäter, – kurz, irgend etwas Lebendiges, an dem er seine Affekte thätlich oder in effigie auf irgend einen Vorwand hin ent laden kann : denn die Affekt-Entladung ist der grösste Erleichterungs- nämlich B et äu bu n g s -Versuch des Leidenden, sein unwillkürlich begehrtes Narcoticum gegen Qual irgend welcher Art. Hierin allein ist, meiner Vermuthung nach, die wirkliche physiologische Ursächlichkeit des Ressentiment, der Rache und ihrer Verwandten, zu fi nden, in einem Verlangen also nach B e t äu bu n g vo n S c h me r z d u r c h A f f e k t : – man sucht dieselbe gemeinhin, sehr irrthümlich, wie mich dünkt, in dem Defensiv-Gegenschlag, einer blossen Schutzmaassregel | der Reaktion, einer „Reflexbewegung“ im Falle irgend einer plötzlichen Schädigung und Gefährdung, von der Art, wie sie ein Frosch ohne Kopf noch vollzieht, um eine ätzende Säure loszuwerden. Aber die Verschiedenheit ist fundamental : im Einen Falle will man weiteres Beschädigtwerden hindern, im anderen Falle will man einen quälenden, heimlichen, unerträglichwerdenden Schmerz durch eine heftigere Emotion irgend welcher Art b et äu b e n und für den Augenblick wenigstens aus dem Bewusstsein schaffen, – dazu braucht man einen Affekt, einen möglichst wilden Affekt und, zu dessen Erregung, den ersten besten Vorwand. „Irgend Jemand muss schuld daran sein, dass ich mich schlecht befi nde“ – diese Art zu schliessen ist allen Krankhaften eigen, und zwar je mehr ihnen die wahre Ursache ihres Sich-Schlecht-Befi ndens, die physiologische, verborgen bleibt (– sie kann etwa in einer Erkrankung des nervus sympathicus liegen oder in einer übermässigen Gallen-Absonderung, oder an einer Armuth des Blutes an schwefel- und phosphorsaurem Kali oder in Druckzuständen des Unterleibes, welche den Blutumlauf stauen‚ oder in Ent-

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artung der Eierstöcke und dergleichen). Die Leidenden sind allesammt von einer entsetzlichen Bereitwilligkeit und Erfi ndsamkeit in Vorwänden zu schmerzhaften Affekten ; sie geniessen ihren Argwohn schon, das Grübeln über Schlechtigkeiten und scheinbare Beeinträchtigungen, sie durchwühlen die Eingeweide ihrer Vergangenheit und Gegenwart nach dunklen fragwürdigen Geschichten, wo es ihnen freisteht‚ in einem quälerischen Verdachte zu schwelgen und am eignen Gifte der Bosheit sich zu berauschen – sie reissen die ältesten Wunden auf, sie verbluten sich an längst ausgeheilten Narben, sie machen Übelthäter | aus Freund, Weib, Kind und was sonst ihnen am nächsten steht. „Ich leide : daran muss irgend Jemand schuld sein“ – also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm : „Recht so, mein Schaf ! irgend wer muss daran schuld sein : aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld, – d u s e l b s t b i s t a n d i r a l le i n s c hu ld !“ … Das ist kühn genug, falsch genug : aber Eins ist damit wenigstens erreicht, damit ist, wie gesagt, die Richtung des Ressentiment – ve r ä nd e r t . 16. Man erräth nunmehr, was nach meiner Vorstellung der Heilkünstler-Instinkt des Lebens durch den asketischen Priester zum Mindesten ve r s uc ht hat und wozu ihm eine zeitweilige Tyrannei solcher paradoxer und paralogischer Begriffe wie „Schuld“, „Sünde“, „Sündhaftigkeit“, „Verderbniss“, „Verdammniss“ hat dienen müssen : die Kranken bis zu einem gewissen Grade u n s c h ä d l i c h zu machen, die Unheilbaren durch sich selbst zu zerstören, den Milder-Erkrankten streng die Richtung auf sich selbst, eine Rückwärtsrichtung ihres Ressentiments zu geben („Eins ist noth“ –) und die schlechten Instinkte aller Leidenden dergestalt zum Zweck der Selbstdisciplinirung, Selbstüberwachung, Selbstüberwindung ausz unüt zen. Es kann sich, wie sich von selbst versteht, mit einer

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„Medikation“ dieser Art, einer blossen Affekt-Medikation, schlechterdings nicht um eine wirkliche Kranken - He i lu n g im physiologischen Verstande handeln ; man dürfte selbst nicht einmal behaupten, dass der Instinkt des Lebens hierbei irgendwie die Heilung in Aussicht und Absicht genommen habe. Eine Art Zusammendrängung und | Organisation der Kranken auf der einen Seite (– das Wort „Kirche“ ist dafür der populärste Name), eine Art vorläufiger Sicherstellung der Gesünder-Gerathenen, der Voller-Ausgegossenen auf der andern, die Aufreissung einer K lu f t somit zwischen Gesund und Krank – das war für lange Alles ! Und es war Viel ! es war s e h r V ie l ! … [Ich gehe in dieser Abhandlung, wie man sieht, von einer Voraussetzung aus, die ich in Hinsicht auf Leser, wie ich sie brauche, nicht erst zu begründen habe : dass „Sündhaftigkeit“ am Menschen kein Thatbestand ist, vielmehr nur die Interpretation eines Thatbestandes‚ nämlich einer physiologischen Verstimmung, – letztere unter einer moralischreligiösen Perspektive gesehn, welche für uns nichts Verbindliches mehr hat.  – Damit, dass Jemand sich „schuldig“, „sündig“ f ü h lt , ist schlechterdings noch nicht bewiesen, dass er sich mit Recht so fühlt ; so wenig Jemand gesund ist, bloss deshalb, weil er sich gesund fühlt. Man erinnere sich doch der berühmten Hexen-Prozesse : damals zweifelten die scharfsichtigsten und menschenfreundlichsten Richter nicht daran, dass hier eine Schuld vorliege ; die „Hexen“ s e l b s t z we i f e lt e n n ic ht d a r a n , – und dennoch fehlte die Schuld. – Um jene Voraussetzung in erweiterter Form auszudrücken : der „seelische Schmerz“ selbst gilt mir überhaupt nicht als Thatbestand, sondern nur als eine Auslegung (Causal-Auslegung) von bisher nicht exakt zu formulirenden Thatbeständen : somit als Etwas, das vollkommen noch in der Luft schwebt und wissenschaftlich unverbindlich ist, – ein fettes Wort eigentlich nur an Stelle eines sogar spindeldürren Fragezeichens. Wenn Jemand mit einem „seelischen Schmerz“ nicht fertig

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wird, so liegt das, grob geredet, n ic ht an seiner „Seele“ ; wahrschein|licher noch an seinem Bauche (grob geredet, wie gesagt : womit noch keineswegs der Wunsch ausgedrückt ist, auch grob gehört, grob verstanden zu werden …). Ein starker und wohlgerathener Mensch verdaut seine Erlebnisse (Thaten, Unthaten eingerechnet) wie er seine Mahlzeiten verdaut, selbst wenn er harte Bissen zu verschlucken hat. Wird er mit einem Erlebnisse „nicht fertig“, so ist diese Art Indigestion so gut physiologisch wie jene andere – und vielfach in der That nur eine der Folgen jener anderen. – Mit einer solchen Auffassung kann man, unter uns gesagt, immer noch der strengste Gegner alles Materialismus sein …] 17. Ist er aber eigentlich ein A r z t , dieser asketische Priester ? – Wir begriffen schon, inwiefern es kaum erlaubt ist, ihn einen Arzt zu nennen, so gern er auch selbst sich als „Heiland“ fühlt, als „Heiland“ verehren lässt. Nur das Leiden selbst, die Unlust des Leidenden wird von ihm bekämpft, n ic ht deren Ursache, n ic ht das eigentliche Kranksein, – das muss unsren grundsätzlichsten Einwand gegen die priesterliche Medikation abgeben. Stellt man sich aber erst einmal in die Perspektive, wie der Priester sie allein kennt und hat, so kommt man nicht leicht zu Ende in der Bewunderung, was er unter ihr Alles gesehn, gesucht und gefunden hat. Die M i ld e r u n g des Leidens, das „Trösten“ jeder Art, – das erweist sich als sein Genie selbst : wie erfi nderisch hat er seine Tröster-Aufgabe verstanden, wie unbedenklich und kühn hat er zu ihr die Mittel gewählt ! Das Christenthum in Sonderheit dürfte man eine grosse Schatzkammer geistreichster Trostmittel nennen, so viel Erquickliches, Milderndes, | Narkotisirendes ist in ihm gehäuft, so viel Gefährlichstes und Verwegenstes zu diesem Zweck gewagt, so fein, so raffi nirt, so südländisch-raffi nirt ist von ihm insbesondere errathen worden, mit was für Stimu-

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lanz-Affekten die tiefe Depression, die bleierne Ermüdung, die schwarze Traurigkeit der Physiologisch-Gehemmten wenigstens für Zeiten besiegt werden kann. Denn allgemein gesprochen : bei allen grossen Religionen handelte es sich in der Hauptsache um die Bekämpfung einer gewissen, zur Epidemie gewordnen Müdigkeit und Schwere. Man kann es von vornherein als wahrscheinlich ansetzen, dass von Zeit zu Zeit an bestimmten Stellen der Erde fast nothwendig ein phy s io log i s c h e s H e m mu n g s g e f ü h l über breite Massen Herr werden muss, welches aber, aus Mangel an physiologischem Wissen‚ nicht als solches in’s Bewusstsein tritt, so dass dessen „Ursache“, dessen Remedur auch nur psychologisch-moralisch gesucht und versucht werden kann (– dies nämlich ist meine allgemeinste Formel für Das, was gemeinhin eine „R e l i g i o n“ genannt wird). Ein solches Hemmungsgefühl kann verschiedenster Abkunft sein : etwa als Folge der Kreuzung von zu fremdartigen Rassen (oder von Ständen – Stände drükken immer auch Abkunfts- und Rassen-Differenzen aus : der europäische „Weltschmerz“, der „Pessimismus“ des neunzehnten Jahrhunderts ist wesentlich die Folge einer unsinnig plötzlichen Stände-Mischung) ; oder bedingt durch eine fehlerhafte Emigration – eine Rasse in ein Klima gerathen, für das ihre Anpassungskraft nicht ausreicht (der Fall der Inder in Indien) ; oder die Nachwirkung von Alter und Ermüdung der Rasse (Pariser Pessimismus von 1850 an) ; oder einer falschen Diät (Alkoholismus des Mittelalters ; der Unsinn der Vege-| tarians, welche freilich die Autorität des Junker Christoph bei Shakespeare für sich haben) ; oder von Blutverderbniss, Malaria, Syphilis und dergleichen (deutsche Depression nach dem dreissigjährigen Kriege, welcher halb Deutschland mit schlechten Krankheiten durchseuchte und damit den Boden für deutsche Servilität, deutschen Kleinmuth vorbereitete). In einem solchen Falle wird jedes Mal im grössten Stil ein K a mpf mit dem Un lustgef üh l versucht ; unterrichten wir uns kurz

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über dessen wichtigste Praktiken und Formen. (Ich lasse hier, wie billig, den eigentlichen Ph i lo s o phe n - Kampf gegen das Unlustgefühl‚ der immer gleichzeitig zu sein pflegt, ganz bei Seite – er ist interessant genug, aber zu absurd, zu praktischgleichgültig, zu spinneweberisch und eckensteherhaft, etwa wenn der Schmerz als ein Irrthum bewiesen werden soll, unter der naiven Voraussetzung, dass der Schmerz schwinden mü s s e, wenn erst der Irrthum in ihm erkannt ist – aber siehe da ! er hütete sich, zu schwinden …) Man bekämpft e r s t e n s jene dominirende Unlust durch Mittel, welche das Lebensgefühl überhaupt auf den niedrigsten Punkt herabsetzen. Womöglich überhaupt kein Wollen, kein Wunsch mehr ; Allem, was Affekt macht, was „Blut“ macht, ausweichen (kein Salz essen : Hygiene des Fakirs) ; nicht lieben ; nicht hassen ; Gleichmuth ; nicht sich rächen ; nicht sich bereichern ; nicht arbeiten ; betteln; womöglich kein Weib, oder so wenig Weib als möglich : in geistiger Hinsicht das Princip Pascal’s „il faut s’abêtir“. Resultat, psychologisch-moralisch ausgedrückt : „Entselbstung“, „Heiligung“ ; physiologisch ausgedrückt : Hypnotisirung, – der Versuch Etwas für den Menschen annähernd zu erreichen, was der W i nt e r s c h l a f für einige Thierarten, der S om me r s c h l a f für viele Pflan|zen der heissen Klimaten ist, ein Minimum von Stoff verbrauch und Stoffwechsel, bei dem das Leben gerade noch besteht, ohne eigentlich noch in’s Bewusstsein zu treten. Auf dieses Ziel ist eine erstaunliche Menge menschlicher Energie verwandt worden – umsonst etwa ? … Dass solche sportsmen der „Heiligkeit“, an denen alle Zeiten, fast alle Völker reich sind, in der That eine wirkliche Erlösung von dem gefunden haben, was sie mit einem so rigorösen training bekämpften, daran darf man durchaus nicht zweifeln, – sie kamen von jener tiefen physiologischen Depression mit Hülfe ihres Systems von Hypnotisirungs-Mitteln in unzähligen Fällen wirklich lo s : weshalb ihre Methodik zu den allgemeinsten ethnologischen That-

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sachen zählt. Insgleichen fehlt jede Erlaubniss dazu, um schon an sich eine solche Absicht auf Aushungerung der Leiblichkeit und der Begierde unter die Irrsinns-Symptome zu rechnen (wie es eine täppische Art von Roastbeef-fressenden „Freigeistern“ und Junker Christophen zu thun beliebt). Um so sicherer ist es, dass sie den Weg zu allerhand geistigen Störungen abgiebt, abgeben kann, zu „inneren Lichtern“ zum Beispiel, wie bei den Hesychasten vom Berge Athos, zu Klang- und Gestalt-Hallucinationen, zu wollüstigen Überströmungen und Ekstasen der Sinnlichkeit (Geschichte der heiligen Therese). Die Auslegung, welche derartigen Zuständen von den mit ihnen Behafteten gegeben wird, ist immer so schwärmerischfalsch wie möglich gewesen, dies versteht sich von selbst : nur überhöre man den Ton überzeugtester Dankbarkeit nicht, der eben schon im W i l le n zu einer solchen Interpretations-Art zum Erklingen kommt. Der höchste Zustand, die E rlö s u n g selbst, jene endlich erreichte Gesammt-Hypnotisirung und Stille, gilt ihnen | immer als das Geheimniss an sich, zu dessen Ausdruck auch die höchsten Symbole nicht ausreichen, als Ein- und Heimkehr in den Grund der Dinge, als Freiwerden von allem Wahne, als „Wissen“, als „Wahrheit“, als „Sein“, als Loskommen von jedem Ziele, jedem Wunsche, jedem Thun, als ein Jenseits auch von Gut und Böse. „Gutes und Böses, sagt der Buddhist,  – Beides sind Fesseln : über Beides wurde der Vollendete Herr“ ; „Gethanes und Ungethanes, sagt der Gläubige des Vedânta, schaff t ihm keinen Schmerz ; das Gute und das Böse schüttelt er als ein Weiser von sich ; sein Reich leidet durch keine That mehr ; über Gutes und Böses, über Beides gieng er hinaus“ : – eine gesammt-indische Auffassung also, ebenso brahmanistisch als buddhistisch. (Weder in der indischen, noch in der christlichen Denkweise gilt jene „Erlösung“ als e r r e ic h b a r durch Tugend, durch moralische Besserung, so hoch der Hypnotisirungs-Werth der Tugend auch von ihnen angesetzt wird : dies halte man fest, – es entspricht

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dies übrigens einfach dem Thatbestande. Hierin wa h r geblieben zu sein, darf vielleicht als das beste Stück Realismus in den drei grössten, sonst so gründlich vermoralisirten Religionen betrachtet werden. „Für den Wissenden giebt es keine Pfl icht“ … „Durch Zu le g u n g von Tugenden kommt Erlösung nicht zu Stande : denn sie besteht im Einssein mit dem keiner Zulegung von Vollkommenheit fähigen Brahman ; und ebenso wenig in der A ble g u n g von Fehlern : denn das Brahman, mit dem Eins zu sein Das ist, was Erlösung ausmacht, ist ewig rein“ – diese Stellen aus dem Commentare des Çankara, citirt von dem ersten wirklichen K e n ne r der indischen Philosophie in Europa, meinem Freunde Paul Deussen.) Die „Erlösung“ in den grossen Religionen wollen wir also | in Ehren halten ; dagegen wird es uns ein wenig schwer, bei der Schätzung, welche schon der t ie f e S c h l a f durch diese selbst für das Träumen zu müd gewordnen Lebensmüden erfährt, ernsthaft zu bleiben, – der tiefe Schlaf nämlich bereits als Eingehen in das Brahman, als e r r e ic ht e unio mystica mit Gott. „Wenn er dann eingeschlafen ist ganz und gar  – heisst es darüber in der ältesten ehrwürdigsten „Schrift“ – und völlig zur Ruhe gekommen, dass er kein Traumbild mehr schaut, alsdann ist er, oh Theurer, vereinigt mit dem Seienden, in sich selbst ist er eingegangen, – von dem erkenntnissartigen Selbste umschlungen hat er kein Bewusstsein mehr von dem, was aussen oder innen ist. Diese Brücke überschreiten nicht Tag und Nacht, nicht das Alter, nicht der Tod, nicht das Leiden, nicht gutes Werk, noch böses Werk.“ „Im tiefen Schlafe, sagen insgleichen die Gläubigen dieser tiefsten der drei grossen Religionen, hebt sich die Seele heraus aus diesem Leibe, geht ein in das höchste Licht und tritt dadurch hervor in eigener Gestalt : da ist sie der höchste Geist selbst, der herumwandelt, indem er scherzt und spielt und sich ergötzt, sei es mit Weibern oder mit Wagen oder mit Freunden, da denkt sie nicht mehr zurück an dieses Anhängsel von Leib, an welches

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der prâna (der Lebensodem) angespannt ist wie ein Zugthier an den Karren.“ Trotzdem wollen wir auch hier, wie im Falle der „Erlösung“, uns gegenwärtig halten, dass damit im Grunde, wie sehr auch immer in der Pracht orientalischer Übertreibung, nur die gleiche Schätzung ausgedrückt ist, welche die des klaren, kühlen, griechisch-kühlen, aber leidenden Epikur war : das hypnotische Nichts-Gefühl, die Ruhe des tiefsten Schlafes, L e id lo s i g k e it kurzum – das darf Leidenden | und Gründlich-Verstimmten schon als höchstes Gut, als Werth der Werthe gelten, das mu s s von ihnen als positiv abgeschätzt, als d a s Positive selbst empfunden werden. (Nach derselben Logik des Gefühls heisst in allen pessimistischen Religionen das Nichts G ot t .) 18. Viel häufiger als eine solche hypnotistische Gesammtdämpfung der Sensibilität, der Schmerzfähigkeit, welche schon seltnere Kräfte, vor Allem Muth, Verachtung der Meinung, „intellektuellen Stoicismus“ voraussetzt, wird gegen Depressions-Zustände ein anderes training versucht, welches jedenfalls leichter ist : d ie m ac h i n a le T h ät i g k e it . Dass mit ihr ein leidendes Dasein in einem nicht unbeträchtlichen Grade erleichtert wird, steht ausser allem Zweifel : man nennt heute diese Thatsache, etwas unehrlich‚ „den Segen der Arbeit“. Die Erleichterung besteht darin, dass das Interesse des Leidenden grundsätzlich vom Leiden abgelenkt wird, – dass beständig ein Thun und wieder nur ein Thun in’s Bewusstsein tritt und folglich wenig Platz darin für Leiden bleibt : denn sie ist e n g , diese Kammer des menschlichen Bewusstseins ! Die machinale Thätigkeit und was zu ihr gehört – wie die absolute Regularität, der pünktliche besinnungslose Gehorsam, das Ein-für-alle-Mal der Lebensweise, die Ausfüllung der Zeit, eine gewisse Erlaubniss, ja eine Zucht zur „Unpersönlichkeit“, zum Sich-selbst-Vergessen, zur „incuria sui“ – : wie gründlich,

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wie fein hat der asketische Priester sie im Kampf mit dem Schmerz zu benutzen gewusst ! Gerade wenn er mit Leidenden der niederen Stände, mit Arbeitssklaven oder Gefangenen zu thun hatte (oder mit Frauen : die ja meistens Beides | zugleich sind, Arbeitssklaven und Gefangene), so bedurfte es wenig mehr als einer kleinen Kunst des Namenwechselns und der Umtaufung, um sie in verhassten Dingen fürderhin eine Wohlthat, ein relatives Glück sehn zu machen : – die Unzufriedenheit des Sklaven mit seinem Loos ist jedenfalls n ic ht von den Priestern erfunden worden. – Ein noch geschätzteres Mittel im Kampf mit der Depression ist die Ordinirung einer k le i n e n F r e u d e , die leicht zugänglich ist und zur Regel gemacht werden kann ; man bedient sich dieser Medikation häufig in Verbindung mit der eben besprochnen. Die häufigste Form, in der die Freude dergestalt als Kurmittel ordinirt wird, ist die Freude des Freude - M ac he n s (als Wohlthun, Beschenken, Erleichtern‚ Helfen, Zureden, Trösten, Loben, Auszeichnen) ; der asketische Priester verordnet damit, dass er „Nächstenliebe“ verordnet, im Grunde eine Erregung des stärksten, lebenbejahendsten Triebes, wenn auch in der vorsichtigsten Dosirung, – des W i l le n s z u r M ac ht . Das Glück der „kleinsten Überlegenheit“, wie es alles Wohlthun, Nützen, Helfen, Auszeichnen mit sich bringt, ist das reichlichste Trostmittel, dessen sich die Physiologisch-Gehemmten zu bedienen pflegen, gesetzt dass sie gut berathen sind : im andern Falle thun sie einander weh, natürlich im Gehorsam gegen den gleichen Grundinstinkt. Wenn man nach den Anfängen des Christenthums in der römischen Welt sucht, so fi ndet man Vereine zu gegenseitiger Unterstützung, Armen-, Kranken-, BegräbnissVereine‚ aufgewachsen auf dem untersten Boden der damaligen Gesellschaft, in denen mit Bewusstsein jenes Hauptmittel gegen die Depression, die kleine Freude, die des gegenseitigen Wohlthuns gepflegt wurde, – vielleicht war dies damals etwas | Neues, eine eigentliche Entdeckung ? In einem derge-

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stalt hervorgerufnen „Willen zur Gegenseitigkeit“, zur Heerdenbildung, zur „Gemeinde“, zum „Cönakel“ muss nun wiederum jener damit, wenn auch im Kleinsten, erregte Wille zur Macht, zu einem neuen und viel volleren Ausbruch kommen : die He e r d e n b i ld u n g ist im Kampf mit der Depression ein wesentlicher Schritt und Sieg. Im Wachsen der Gemeinde erstarkt auch für den Einzelnen ein neues Interesse, das ihn oft genug über das Persönlichste seines Missmuths, seine Abneigung gegen s ic h (die „despectio sui“ des Geulinx) hinweghebt. Alle Kranken, Krankhaften streben instinktiv, aus einem Verlangen nach Abschüttelung der dumpfen Unlust und des Schwächegefühls, nach einer Heerden-Organisation : der asketische Priester erräth diesen Instinkt und fördert ihn ; wo es Heerden giebt, ist es der Schwäche-Instinkt, der die Heerde gewollt hat, und die Priester-Klugheit, die sie organisirt hat. Denn man übersehe dies nicht : die Starken streben ebenso naturnothwendig au s einander, als die Schwachen z u einander ; wenn erstere sich verbinden, so geschieht es nur in der Aussicht auf eine aggressive Gesammt-Aktion und Gesammt-Befriedigung ihres Willens zur Macht, mit vielem Widerstande des Einzel-Gewissens ; letztere dagegen ordnen sich zusammen, mit Lu s t gerade an dieser Zusammenordnung, – ihr Instinkt ist dabei ebenso befriedigt, wie der Instinkt der geborenen „Herren“ (das heisst der solitären Raubthier-Species Mensch) im Grunde durch Organisation gereizt und beunruhigt wird. Unter jeder Oligarchie liegt – die ganze Geschichte lehrt es – immer das t y r a n n i s c he Gelüst versteckt ; jede Oligarchie zittert beständig von der Spannung her, welche jeder Einzelne | in ihr nöthig hat, Herr über dies Gelüst zu bleiben. (So war es zum Beispiel g r ie c h i s c h : Plato bezeugt es an hundert Stellen, Plato, der seines Gleichen kannte – u nd sich selbst …)

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19. Die Mittel des asketischen Priesters‚ welche wir bisher kennen lernten  – die Gesammt-Dämpfung des Lebensgefühls, die machinale Thätigkeit, die kleine Freude, vor Allem die der „Nächstenliebe“, die Heerden-Organisation, die Erwekkung des Gemeinde-Machtgefühls‚ demzufolge der Verdruss des Einzelnen an sich durch seine Lust am Gedeihen der Gemeinde übertäubt wird – das sind, nach modernem Maasse gemessen, seine u n s c hu ld i g e n Mittel im Kampfe mit der Unlust : wenden wir uns jetzt zu den interessanteren, den „schuldigen“. Bei ihnen allen handelt es sich um Eins : um irgend eine Au s s c hwe i f u n g d e s G e f ü h l s ,  – diese gegen die dumpfe lähmende lange Schmerzhaftigkeit als wirksamstes Mittel der Betäubung benutzt ; weshalb die priesterliche Erfi ndsamkeit im Ausdenken dieser Einen Frage geradezu unerschöpfl ich gewesen ist : „wo d u r c h erzielt man eine Ausschweifung des Gefühls ?“ … Das klingt hart : es liegt auf der Hand, dass es lieblicher klänge und besser vielleicht zu Ohren gienge, wenn ich etwa sagte „der asketische Priester hat sich jederzeit die B e g e i s t e r u n g zu Nutze gemacht, die in allen starken Affekten liegt“. Aber wozu die verweichlichten Ohren unsrer modernen Zärtlinge noch streicheln ? Wozu u n s r e r s e it s ihrer Tartüfferie der Worte auch nur einen Schritt breit nachgeben ? Für uns Psychologen läge darin bereits eine Tartüfferie d e r T h at ; abgesehen davon, dass es uns Ekel machen würde. Ein Psychologe nämlich hat heute | darin, wenn irgend worin, seinen g ut e n G e s c h m ac k (– Andre mögen sagen : seine Rechtschaffenheit), dass er der schändlich ve r mor a l i s i r t e n Sprechweise widerstrebt, mit der nachgerade alles moderne Urtheilen über Mensch und Ding angeschleimt ist. Denn man täusche sich hierüber nicht : was das eigentlichste Merkmal moderner Seelen, moderner Bücher ausmacht, das ist nicht die Lüge, sondern die eingefleischte Un s c hu ld in der moralistischen Verlogenheit. Diese „Unschuld“ überall

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wieder entdecken müssen  – das macht vielleicht unser widerlichstes Stück Arbeit aus, an all der an sich nicht unbedenklichen Arbeit, deren sich heute ein Psychologe zu unterziehn hat ; es ist ein Stück u n s r e r grossen Gefahr, – es ist ein Weg, der vielleicht gerade u n s zum grossen Ekel führt … Ich zweifle nicht daran‚ wo z u allein moderne Bücher (gesetzt, dass sie Dauer haben, was freilich nicht zu fürchten ist, und ebenfalls gesetzt, dass es einmal eine Nachwelt mit strengerem härteren g e s ü nd e r e n Geschmack giebt) – wozu a l le s Moderne überhaupt dieser Nachwelt dienen würde, dienen könnte : zu Brechmitteln,  – und das vermöge seiner moralischen Versüsslichung und Falschheit, seines innerlichsten Femininismus, der sich gern „Idealismus“ nennt und jedenfalls Idealismus glaubt. Unsre Gebildeten von Heute, unsre „Guten“ lügen nicht  – das ist wahr ; aber es gereicht ihnen n ic ht zur Ehre ! Die eigentliche Lüge, die ächte resolute „ehrliche“ Lüge (über deren Werth man Plato hören möge) wäre für sie etwas bei weitem zu Strenges, zu Starkes ; es würde verlangen, was man von ihnen nicht verlangen d a r f , dass sie die Augen gegen sich selbst aufmachten, dass sie zwischen „wahr“ und „falsch“ bei sich selber zu unterscheiden wüssten. Ihnen geziemt | allein die u ne h rl ic he Lü g e ; Alles, was sich heute als „guter Mensch“ fühlt, ist vollkommen unfähig, zu irgend einer Sache anders zu stehn als u ne h rl ic h -ve rlo g e n , abgründlich-verlogen‚ aber unschuldig-verlogen, treuherzig-verlogen, blauäugig-verlogen, tugendhaft-verlogen. Diese „guten Menschen“, – sie sind allesammt jetzt in Grund und Boden vermoralisirt und in Hinsicht auf Ehrlichkeit zu Schanden gemacht und verhunzt für alle Ewigkeit : wer von ihnen hielte noch eine Wa h r h e i t „über den Menschen“ aus ! … Oder, greifl icher gefragt : wer von ihnen ertrüge eine w a h r e Biographie ! … Ein paar Anzeichen : Lord Byron hat einiges Persönlichste über sich aufgezeichnet, aber Thomas Moore war „zu gut“ dafür : er verbrannte die Papiere seines

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Freundes. Dasselbe soll Dr. Gwinner gethan haben, der Testaments-Vollstrecker Schopenhauer’s : denn auch Schopenhauer hatte Einiges über sich und vielleicht auch gegen sich („ε&ς 'αυτν“) aufgezeichnet. Der tüchtige Amerikaner Thayer, der Biograph Beethoven’s, hat mit Einem Male in seiner Arbeit Halt gemacht : an irgend einem Punkte dieses ehrwürdigen und naiven Lebens angelangt, hielt er dasselbe nicht mehr aus … Moral : welcher kluge Mann schriebe heute noch ein ehrliches Wort über sich ? – er müsste denn schon zum Orden der heiligen Tollkühnheit gehören. Man verspricht uns eine Selbstbiographie Richard Wagner’s : wer zweifelt daran, dass es eine k lu g e Selbstbiographie sein wird ? … Gedenken wir noch des komischen Entsetzens, welches der katholische Priester Janssen mit seinem über alle Begriffe viereckig und harmlos gerathenen Bilde der deutschen Reformations-Bewegung in Deutschland erregt hat ; was würde man erst beginnen, wenn uns Jemand diese | Bewegung einmal a nd e r s erzählte, wenn uns einmal ein wirklicher Psycholog einen wirklichen Luther erzählte, nicht mehr mit der moralistischen Einfalt eines Landgeistlichen, nicht mehr mit der süsslichen und rücksichtsvollen Schamhaftigkeit protestantischer Historiker, sondern etwa mit einer Ta i ne’schen Unerschrockenheit, aus einer St ä r k e d e r S e e le heraus und nicht aus einer klugen Indulgenz gegen die Stärke ? … (Die Deutschen, anbei gesagt, haben den klassischen Typus der letzteren zuletzt noch schön genug herausgebracht, – sie dürfen ihn sich schon zurechnen, zu Gute rechnen : nämlich in ihrem Leopold Ranke, diesem gebornen klassischen advocatus jeder causa fortior, diesem klügsten aller klugen „Thatsächlichen“.) 20. Aber man wird mich schon verstanden haben : – Grund genug, nicht wahr, Alles in Allem, dass wir Psychologen heutzutage einiges Misstrauen g e g e n u n s s e l b s t nicht los werden ? …

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Wahrscheinlich sind auch wir noch „zu gut“ für unser Handwerk, wahrscheinlich sind auch wir noch die Opfer, die Beute, die Kranken dieses vermoralisirten Zeitgeschmacks, so sehr wir uns auch als dessen Verächter fühlen, – wahrscheinlich inficirt er auch noch u n s . Wovor warnte doch jener Diplomat, als er zu seines Gleichen redete ? „Misstrauen wir vor Allem, meine Herrn, unsren ersten Regungen ! sagte er, s ie s i n d f a s t i m me r g ut“ … So sollte auch jeder Psycholog heute zu seines Gleichen reden … Und damit kommen wir zu unserm Problem zurück, das in der That von uns einige Strenge verlangt, einiges Misstrauen in Sonderheit gegen die „ersten Regungen“. D a s a s k et i s c he Id e a l i m | D ie n s t e e i ner A b s ic ht au f G e f ü h l s -Au s s c hwe i f u n g :  – wer sich der vorigen Abhandlung erinnert, wird den in diese neun Worte gedrängten Inhalt des nunmehr Darzustellenden im Wesentlichen schon vorwegnehmen. Die menschliche Seele einmal aus allen ihren Fugen zu lösen, sie in Schrecken, Fröste‚ Gluthen und Entzückungen derartig unterzutauchen, dass sie von allem Kleinen und Kleinlichen der Unlust, der Dumpfheit, der Verstimmung wie durch einen Blitzschlag loskommt : welche Wege führen zu d ie s e m Ziele ? Und welche von ihnen am sichersten ? … Im Grunde haben alle grossen Affekte ein Vermögen dazu, vorausgesetzt, dass sie sich plötzlich entladen, Zorn, Furcht, Wollust‚ Rache, Hoff nung, Triumph, Verzweiflung, Grausamkeit ; und wirklich hat der asketische Priester unbedenklich die g a n z e Meute wilder Hunde im Menschen in seinen Dienst genommen und bald diesen, bald jenen losgelassen, immer zu dem gleichen Zwecke, den Menschen aus der langsamen Traurigkeit aufzuwecken, seinen dumpfen Schmerz, sein zögerndes Elend für Zeiten wenigstens in die Flucht zu jagen, immer auch unter einer religiösen Interpretation und „Rechtfertigung“. Jede derartige Ausschweifung des Gefühls macht sich hinterdrein b e z a h lt , das versteht sich von selbst – sie macht den Kranken kränker – : und des-

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halb ist diese Art von Remeduren des Schmerzes, nach modernem Maasse gemessen, eine „schuldige“ Art. Man muss jedoch, weil es die Billigkeit verlangt, um so mehr darauf bestehen, dass sie m it g ut e m G ew i s s e n angewendet worden ist, dass der asketische Priester sie im tiefsten Glauben an ihre Nützlichkeit, ja Unentbehrlichkeit verordnet hat,  – und oft genug selbst vor dem Jammer, den er schuf, fast zerbrechend ; | insgleichen, dass die vehementen physiologischen Revanchen solcher Excesse, vielleicht sogar geistige Störungen, im Grunde dem ganzen Sinne dieser Art Medikation nicht eigentlich widersprechen : als welche, wie vorher gezeigt worden ist, n ic ht auf Heilung von Krankheiten, sondern auf Bekämpfung der Depressions-Unlust, auf deren Linderung, deren Betäubung aus war. Dies Ziel wurde auch s o erreicht. Der Hauptgriff, den sich der asketische Priester erlaubte, um auf der menschlichen Seele jede Art von zerreissender und verzückter Musik zum Erklingen zu bringen, war damit gethan – Jedermann weiss das –‚ dass er sich das S c hu ld g e f ü h l zu Nutze machte. Dessen Herkunft hat die vorige Abhandlung kurz angedeutet  – als ein Stück Thierpsychologie, als nicht mehr : das Schuldgefühl trat uns dort gleichsam in seinem Rohzustande entgegen. Erst unter den Händen des Priesters, dieses eigentlichen Künstlers in Schuldgefühlen, hat es Gestalt gewonnen – oh was für eine Gestalt ! Die „Sünde“ – denn so lautet die priesterliche Umdeutung des thierischen „schlechten Gewissens“ (der rückwärts gewendeten Grausamkeit) – ist bisher das grösste Ereigniss in der Geschichte der kranken Seele gewesen : in ihr haben wir das gefährlichste und verhängnissvollste Kunststück der religiösen Interpretation. Der Mensch, an sich selbst leidend, irgendwie, jedenfalls physiologisch, etwa wie ein Thier, das in den Käfig gesperrt ist, unklar, warum, wozu ? begehrlich nach Gründen – Gründe erleichtern –‚ begehrlich auch nach Mitteln und Narkosen‚ beräth sich endlich mit Einem, der auch das Ver-

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borgene weiss – und siehe da ! er bekommt einen Wink, er bekommt von seinem Zauberer, dem asketischen Priester, den e r s t e n Wink über die „Ursache“ seines Leidens : | er soll sie in s ic h suchen, in einer S c hu ld , in einem Stück Vergangenheit, er soll sein Leiden selbst als einen St r a f z u s t a nd verstehn … Er hat gehört, er hat verstanden, der Unglückliche : jetzt geht es ihm wie der Henne, um die ein Strich gezogen ist. Er kommt aus diesem Kreis von Strichen nicht wieder heraus : aus dem Kranken ist „der Sünder“ gemacht … Und nun wird man den Aspekt dieses neuen Kranken, „des Sünders“, für ein paar Jahrtausende nicht los, – wird man ihn je wieder los ? – wohin man nur sieht, überall der hypnotische Blick des Sünders, der sich immer in der Einen Richtung bewegt (in der Richtung auf „Schuld“, als der e i n z i g e n Leidens-Causalität) ; überall das böse Gewissen, dies „grewliche thier“, mit Luther zu reden ; überall die Vergangenheit zurückgekäut, die That verdreht, das „grüne Auge“ für alles Thun ; überall das zum Lebensinhalt gemachte Missverstehen -Wol le n des Leidens, dessen Umdeutung in Schuld-, Furcht- und Strafgefühle ; überall die Geissel, das härene Hemd, der verhungernde Leib, die Zerknirschung ; überall das Sich-selbst-Rädern des Sünders in dem grausamen Räderwerk eines unruhigen, krankhaftlüsternen Gewissens ; überall die stumme Qual, die äusserste Furcht, die Agonie des gemarterten Herzens, die Krämpfe eines unbekannten Glücks, der Schrei nach „Erlösung“. In der That, mit diesem System von Prozeduren war die alte Depression, Schwere und Müdigkeit gründlich ü b e r w u nd e n , das Leben wurde wieder s e h r interessant : wach, ewig wach, übernächtig, glühend‚ verkohlt, erschöpft und doch nicht müde  – so nahm sich der Mensch aus, „der Sünder“, der in d ie s e Mysterien eingeweiht war. Dieser alte grosse Zauberer im Kampf mit der Unlust, der asketische Priester – | er hatte ersichtlich gesiegt, s e i n Reich war gekommen : schon klagte man nicht mehr g e g e n den Schmerz, man le c h z t e nach

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dem Schmerz ; „me h r Schmerz ! me h r Schmerz !“ so schrie das Verlangen seiner Jünger und Eingeweihten Jahrhunderte lang. Jede Ausschweifung des Gefühls, die wehe that, Alles was zerbrach, umwarf, zermalmte‚ entrückte, verzückte, das Geheimniss der Folterstätten, die Erfi ndsamkeit der Hölle selbst  – Alles war nunmehr entdeckt, errathen, ausgenützt, Alles stand dem Zauberer zu Diensten, Alles diente fürderhin dem Siege seines Ideals, des asketischen Ideals … „Mein Reich ist nicht von d ie s e r Welt“ – redete er nach wie vor : hatte er wirklich das Recht noch, so zu reden ? … Goethe hat behauptet, es gäbe nur sechs und dreissig tragische Situationen : man erräth daraus, wenn man’s sonst nicht wüsste, dass Goethe kein asketischer Priester war. Der – kennt mehr … 21. In Hinsicht auf d ie s e ganze Art der priesterlichen Medikation, die „schuldige“ Art, ist jedes Wort Kritik zu viel. Dass eine solche Ausschweifung des Gefühls, wie sie in diesem Falle der asketische Priester seinen Kranken zu verordnen pflegt (unter den heiligsten Namen, wie sich von selbst versteht, insgleichen durchdrungen von der Heiligkeit seines Zwecks), irgend einem Kranken wirklich g e nüt z t habe, wer hätte wohl Lust, eine Behauptung der Art aufrecht zu halten ? Zum Mindesten sollte man sich über das Wort „nützen“ verstehn. Will man damit ausdrücken, ein solches System von Behandlung habe den Menschen ve r b e s s e r t , so widerspreche ich nicht : nur dass ich hinzufüge, was bei mir „verbessert“ heisst – ebenso viel wie „ge|zähmt“, „geschwächt“, „entmuthigt“, „raffi nirt“, „verzärtlicht“, „entmannt“ (also beinahe so viel als gesc häd ig t …). Wenn es sich aber in der Hauptsache um Kranke, Verstimmte, Deprimirte handelt, so macht ein solches System den Kranken, gesetzt selbst, dass es ihn „besser“ machte, unter allen Umständen k r ä n k e r ; man frage nur die Irrenärzte, was eine methodische Anwendung von Buss-Quälereien,

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Zerknirschungen und Erlösungskrämpfen immer mit sich führt. Insgleichen befrage man die Geschichte : überall, wo der asketische Priester diese Krankenbehandlung durchgesetzt hat, ist jedes Mal die Krankhaftigkeit unheimlich schnell in die Tiefe und Breite gewachsen. Was war immer der „Erfolg“ ? Ein zerrüttetes Nervensystem, hinzu zu dem, was sonst schon krank war ; und das im Grössten wie im Kleinsten, bei Einzelnen wie bei Massen. Wir fi nden im Gefolge des Buss- und Erlösungs-training ungeheure epileptische Epidemien, die grössten, von denen die Geschichte weiss, wie die der St. Veit- und St. Johann-Tänzer des Mittelalters ; wir fi nden als andre Form seines Nachspiels furchtbare Lähmungen und Dauer-Depressionen‚ mit denen unter Umständen das Temperament eines Volkes oder einer Stadt (Genf, Basel) ein für alle Mal in sein Gegentheil umschlägt ; – hierher gehört auch die Hexen-Hysterie, etwas dem Somnambulismus Verwandtes (acht grosse epidemische Ausbrüche derselben allein zwischen 1564 und 1605)  – ; wir fi nden in seinem Gefolge insgleichen jene todsüchtigen Massen-Delirien, deren entsetzlicher Schrei „evviva la morte“ über ganz Europa weg gehört wurde, unterbrochen bald von wollüstigen, bald von zerstörungswüthigen Idiosynkrasien : wie der gleiche Affektwechsel, mit den gleichen Intermittenzen | und Umsprüngen auch heute noch überall beobachtet wird, in jedem Falle, wo die asketische Sündenlehre es wieder einmal zu einem grossen Erfolge bringt (die religiöse Neurose e r s c he i nt als eine Form des „bösen Wesens“ : daran ist kein Zweifel. Was sie ist ? Quaeritur.) In’s Grosse gerechnet, so hat sich das asketische Ideal und sein sublim-moralischer Cultus, diese geistreichste, unbedenklichste und gefährlichste Systematisirung aller Mittel der Gefühls-Ausschweifung unter dem Schutz heiliger Absichten auf eine furchtbare und unvergessliche Weise in die ganze Geschichte des Menschen eingeschrieben ; und leider n ic ht nu r in seine Geschichte … Ich wüsste kaum noch

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etwas Anderes geltend zu machen, was dermaassen zerstörerisch der G e s u nd he it und Rassen-Kräftigkeit, namentlich der Europäer, zugesetzt hat als dies Ideal ; man darf es ohne alle Übertreibung d a s e i g e nt l ic he Ve rh ä n g n i s s in der Gesundheitsgeschichte des europäischen Menschen nennen. Höchstens, dass seinem Einflusse noch der spezifisch-germanische Einfluss gleichzusetzen wäre : ich meine die AlkoholVergiftung Europa’s‚ welche streng mit dem politischen und Rassen-Übergewicht der Germanen bisher Schritt gehalten hat (– wo sie ihr Blut einimpften, impften sie auch ihr Laster ein).  – Zudritt in der Reihe wäre die Syphilis zu nennen,  – magno sed proxima intervallo. 22. Der asketische Priester hat die seelische Gesundheit verdorben, wo er auch nur zur Herrschaft gekommen ist, er hat folglich auch den G e s c h m ac k verdorben in artibus et litteris, – er verdirbt ihn immer noch. „Folglich“ ? – Ich hoffe, man giebt mir | dies Folglich einfach zu ; zum Mindesten will ich es nicht erst beweisen. Ein einziger Fingerzeig : er gilt dem Grundbuche der christlichen Litteratur, ihrem eigentlichen Modell, ihrem „Buche an sich“. Noch inmitten der griechisch-römischen Herrlichkeit, welche auch eine Bücher-Herrlichkeit war, Angesichts einer noch nicht verkümmerten und zertrümmerten antiken Schriften-Welt, zu einer Zeit, da man noch einige Bücher lesen konnte, um deren Besitz man jetzt halbe Litteraturen eintauschen würde, wagte es bereits die Einfalt und Eitelkeit christlicher Agitatoren – man heisst sie Kirchenväter – zu dekretiren : „auch w i r haben unsre klassische Litteratur, w i r br auc hen d ie der Gr iec hen n ic ht“, – und dabei wies man stolz auf Legendenbücher, Apostelbriefe und apologetische Traktätlein hin, ungefähr so, wie heute die englische „Heilsarmee“ mit einer verwandten Litteratur ihren Kampf gegen Shakespeare und andre „Heiden“ kämpft. Ich liebe das

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„neue Testament“ nicht, man erräth es bereits ; es beunruhigt mich beinahe, mit meinem Geschmack in Betreff dieses geschätztesten, überschätztesten Schriftwerks dermaassen allein zu stehn (der Geschmack zweier Jahrtausende ist g e g e n mich) : aber was hilft es ! „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“, – ich habe den Muth zu meinem schlechten Geschmack. Das a lt e Testament – ja das ist ganz etwas Anderes : alle Achtung vor dem alten Testament ! In ihm fi nde ich grosse Menschen, eine heroische Landschaft und Etwas vom Allerseltensten auf Erden, die unvergleichliche Naivetät des s t a r k e n He r z e n s ; mehr noch, ich fi nde ein Volk. Im neuen dagegen lauter kleine Sekten-Wirthschaft, lauter Rokoko der Seele, lauter Verschnörkeltes, Winkliges‚ Wunderliches, lauter Conventikel-Luft, nicht zu | vergessen einen gelegentlichen Hauch bukolischer Süsslichkeit, welcher der Epoche (u nd der römischen Provinz) angehört und nicht sowohl jüdisch als hellenistisch ist. Demuth und Wichtigthuerei dicht nebeneinander ; eine Geschwätzigkeit des Gefühls, die fast betäubt ; Leidenschaftlichkeit, keine Leidenschaft ; pein liches Gebärdenspiel ; hier hat ersichtlich jede gute Erziehung gefehlt. Wie darf man von seinen kleinen Untugenden so viel Wesens machen, wie es diese frommen Männlein thun ! Kein Hahn kräht darnach ; geschweige denn Gott. Zuletzt wollen sie gar noch „die Krone des ewigen Lebens“ haben, alle diese kleinen Leute der Provinz : wozu doch ? wofür doch ? man kann die Unbescheidenheit nicht weiter treiben. Ein „unsterblicher“ Petrus : wer hielte d e n aus ! Sie haben einen Ehrgeiz, der lachen macht : d a s käut sein Persönlichstes, seine Dummheiten, Traurigkeiten und Eckensteher-Sorgen vor, als ob das An-sich-der-Dinge verpfl ichtet sei, sich darum zu kümmern, d a s wird nicht müde, Gott selber in den kleinsten Jammer hinein zu wickeln, in dem sie drin stecken. Und dieses beständige Auf-du-unddu mit Gott des schlechtesten Geschmacks ! Diese jüdische, nicht bloss jüdische Zudringlichkeit gegen Gott mit Maul und

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Tatze ! … Es giebt kleine verachtete „Heidenvölker“ im Osten Asien’s‚ von denen diese ersten Christen etwas Wesentliches hätten lernen können, etwas Ta k t der Ehrfurcht ; jene erlauben sich nicht, wie christ liche Missionare bezeugen, den Namen ihres Gottes überhaupt in den Mund zu nehmen. Dies dünkt mich delikat genug ; gewiss ist, dass es nicht nur für „erste“ Christen zu delikat ist : man erinnere sich doch etwa, um den Gegensatz zu spüren, an Luther, diesen „beredtesten“ und unbescheidensten Bauer, den Deutsch|land gehabt hat, und an die Lutherische Tonart, die gerade ihm in seinen Zwiegesprächen mit Gott am besten gefiel. Luther’s Widerstand gegen die Mittler-Heiligen der Kirche (insbesondere gegen „des Teuffels Saw den Bapst“) war, daran ist kein Zweifel, im letzten Grunde der Widerstand eines Rüpels, den die g ut e E t i q u e t t e der Kirche verdross, jene Ehrfurchts-Etiquette des hieratischen Geschmacks, welche nur die Geweihteren und Schweigsameren in das Allerheiligste einlässt und es gegen die Rüpel zuschliesst. Diese sollen ein für alle Mal gerade hier nicht das Wort haben, – aber Luther, der Bauer, wollte es schlechterdings anders, so war es ihm nicht d eut s c h genug : er wollte vor Allem direkt reden, selber reden, „ungenirt“ mit seinem Gotte reden … Nun, er hat’s gethan. – Das asketische Ideal, man erräth es wohl, war niemals und nirgendswo eine Schule des guten Geschmacks, noch weniger der guten Manieren, – es war im besten Fall eine Schule der hieratischen Manieren – : das macht, es hat selber Etwas im Leibe, das allen guten Manieren todtfeind ist, – Mangel an Maass, Widerwillen gegen Maass, es ist selbst ein „non plus ultra“. 23. Das asketische Ideal hat nicht nur die Gesundheit und den Geschmack verdorben, es hat noch etwas Drittes, Viertes, Fünftes, Sechstes verdorben  – ich werde mich hüten zu sagen w a s Alles (wann käme ich zu Ende !). Nicht was dies

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Ideal g ew i r k t hat, soll hier von mir an’s Licht gestellt werden ; vielmehr ganz allein nur, was es b e d eut et , worauf es rathen lässt, was hinter ihm, unter ihm, in ihm versteckt liegt, wofür es der vorläufige, undeutliche, mit Fragezeichen und Miss|verständnissen überladne Ausdruck ist. Und nur in Hinsicht auf d ie s e n Zweck durfte ich meinen Lesern einen Blick auf das Ungeheure seiner Wirkungen, auch seiner verhängnissvollen Wirkungen nicht ersparen : um sie nämlich zum letzten und furchtbarsten Aspekt vorzubereiten, den die Frage nach der Bedeutung jenes Ideals für mich hat. Was bedeutet eben die M ac ht jenes Ideals, das Un g e heu r e seiner Macht ? Weshalb ist ihm in diesem Maasse Raum gegeben worden ? weshalb nicht besser Widerstand geleistet worden ? Das asketische Ideal drückt einen Willen aus : wo ist der gegnerische Wille, in dem sich ein g e g ne r i s c he s Id e a l ausdrückte ? Das asketische Ideal hat ein Z ie l , – dasselbe ist allgemein genug, dass alle Interessen des menschlichen Daseins sonst, an ihm gemessen, kleinlich und eng erscheinen ; es legt sich Zeiten, Völker, Menschen unerbittlich auf dieses Eine Ziel hin aus, es lässt keine andere Auslegung, kein andres Ziel gelten, es verwirft, verneint, bejaht, bestätigt allein im Sinne s e i n e r Interpretation (– und gab es je ein zu Ende gedachteres System von Interpretation ?) ; es unterwirft sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein Vorrecht vor jeder Macht, an seine unbedingte R a n g- D i s t a n z in Hinsicht auf jede Macht, – es glaubt daran, dass Nichts auf Erden von Macht da ist, das nicht von ihm aus erst einen Sinn, ein Daseins-Recht, einen Werth zu empfangen habe, als Werkzeug zu s e i nem Werke, als Weg und Mittel zu s e i ne m Ziele, zu Einem Ziele … Wo ist das G e g e n s t ü c k zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation ? Warum f e h lt das Gegenstück ?  … Wo ist das a nd r e „Eine Ziel“ ? … Aber man sagt mir, es fehle n ic ht , es habe nicht nur einen langen glück|lichen Kampf mit jenem Ideale gekämpft, es sei vielmehr in allen Hauptsachen

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bereits über jenes Ideal Herr geworden : unsre ganze moderne W i s s e n s c h a f t sei das Zeugniss dafür, – diese moderne Wissenschaft, welche, als eine eigentliche Wirklichkeits-Philosophie, ersichtlich allein an sich selber glaube, ersichtlich den Muth zu sich, den Willen zu sich besitze und gut genug bisher ohne Gott, Jenseits und verneinende Tugenden ausgekommen sei. Indessen mit solchem Lärm und Agitatoren-Geschwätz richtet man Nichts bei mir aus : diese Wirklichkeits-Trompeter sind schlechte Musikanten, ihre Stimmen kommen hörbar genug n ic ht aus der Tiefe, aus ihnen redet n ic ht der Abgrund des wissenschaftlichen Gewissens – denn heute ist das wissenschaftliche Gewissen ein Abgrund –, das Wort „Wissenschaft“ ist in solchen Trompeter-Mäulern einfach eine Unzucht, ein Missbrauch, eine Schamlosigkeit. Gerade das Gegentheil von dem, was hier behauptet wird, ist die Wahrheit : die Wissenschaft hat heute schlechterdings k e i ne n Glauben an sich, geschweige ein Ideal ü b e r sich, – und wo sie überhaupt noch Leidenschaft, Liebe, Gluth, L e id e n ist, da ist sie nicht der Gegensatz jenes asketischen Ideals, vielmehr d e s s e n j ü n g s t e u nd vor ne h m s t e For m selber. Klingt auch das fremd ? … Es giebt ja genug braves und bescheidenes Arbeiter-Volk auch unter den Gelehrten von Heute, dem sein kleiner Winkel gefällt, und das darum, weil es ihm darin gefällt, bisweilen ein wenig unbescheiden mit der Forderung laut wird, man s ol le überhaupt heute zufrieden sein, zumal in der Wissenschaft,  – es gäbe da gerade so viel Nützliches zu thun. Ich widerspreche nicht ; am wenigsten möchte ich diesen ehrlichen Arbeitern ihre Lust am Handwerk verderben : | denn ich freue mich ihrer Arbeit. Aber damit, dass jetzt in der Wissenschaft streng gearbeitet wird und dass es zufriedne Arbeiter giebt, ist schlechterdings n ic ht bewiesen, dass die Wissenschaft als Ganzes heute ein Ziel, einen Willen, ein Ideal, eine Leidenschaft des grossen Glaubens habe. Das Gegentheil‚ wie gesagt, ist der Fall : wo sie nicht die jüngste

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Erschei nungsform des asketischen Ideals ist, – es handelt sich da um zu seltne, vornehme, ausgesuchte Fälle, als dass damit das Gesammturtheil umgebogen werden könnte – ist die Wissenschaft heute ein Ve r s t e c k für alle Art Missmuth, Unglauben, Nagewurm, despectio sui, schlechtes Gewissen, – sie ist die Un r u he der Ideallosigkeit selbst, das Leiden am Ma n g e l der grossen Liebe, das Ungenügen an einer u n f r e i w i l l i g e n Genügsamkeit. Oh was verbirgt heute nicht Alles Wissenschaft ! wie viel s ol l sie mindestens verbergen ! Die Tüchtigkeit unsrer besten Gelehrten, ihr besinnungsloser Fleiss, ihr Tag und Nacht rauchender Kopf, ihre Handwerks-Meisterschaft selbst – wie oft hat das Alles seinen eigentlichen Sinn darin, sich selbst irgend Etwas nicht mehr sichtbar werden zu lassen ! Die Wissenschaft als Mittel der Selbst-Betäubung : k e n nt i h r d a s ? … Man verwundet sie – Jeder erfährt es, der mit Gelehrten umgeht – mitunter durch ein harmloses Wort bis auf den Knochen, man erbittert seine gelehrten Freunde gegen sich, im Augenblick, wo man sie zu ehren meint, man bringt sie ausser Rand und Band, bloss weil man zu grob war, um zu errathen, mit wem man es eigentlich zu thun hat, mit L e id e nd e n , die es sich selbst nicht eingestehn wollen, was sie sind, mit Betäubten und Besinnungslosen, die nur Eins fürchten : z u m B ew u s s t s e i n z u k om me n  … | 24. – Und nun sehe man sich dagegen jene seltneren Fälle an, von denen ich sprach, die letzten Idealisten, die es heute unter Philosophen und Gelehrten giebt : hat man in ihnen vielleicht die gesuchten G e g n e r des asketischen Ideals, dessen G e g e n - Id e a l i s t e n ? In der That, sie g l au b e n sich als solche, diese „Ungläubigen“ (denn das sind sie allesammt) ; es scheint gerade Das ihr letztes Stück Glaube, Gegner dieses Ideals zu sein, so ernsthaft sind sie an dieser Stelle, so leidenschaftlich wird da gerade ihr Wort, ihre Gebärde : – brauchte es deshalb

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schon w a h r zu sein, was sie glauben ?  … Wir „Erkennenden“ sind nachgerade misstrauisch gegen alle Art Gläubige ; unser Misstrauen hat uns allmählich darauf eingeübt, umgekehrt zu schliessen, als man ehedem schloss : nämlich überall, wo die Stärke eines Glaubens sehr in den Vordergrund tritt, auf eine gewisse Schwäche der Beweisbarkeit, auf Un w a h r s c he i n l ic h k e it selbst des Geglaubten zu schliessen. Auch wir leugnen nicht, dass der Glaube „selig macht“ : eb e n d e s h a l b leugnen wir, dass der Glaube Etwas b e we i s t ,  – ein starker Glaube, der selig macht, ist ein Verdacht gegen Das, woran er glaubt, er begründet nicht „Wahrheit“, er begründet eine gewisse Wahrscheinlichkeit – der Täu s c hu n g. Wie steht es nun in diesem Falle ? – Diese Verneinenden und Abseitigen von Heute, diese Unbedingten in Einem, im Anspruch auf intellektuelle Sauberkeit, diese harten, strengen, enthaltsamen, heroischen Geister, welche die Ehre unsrer Zeit ausmachen, alle diese blassen Atheisten, Antichristen, Immoralisten, Nihilisten, diese Skeptiker, Ephektiker, He kt i k e r des Geistes (letzteres sind sie sammt und sonders, in irgend einem | Sinne), diese letzten Idealisten der Erkenntniss, in denen allein heute das intellektuelle Gewissen wohnt und leibhaft ward, – sie glauben sich in der That so losgelöst als möglich vom asketischen Ideale, diese „freien, s e h r freien Geister“ : und doch, dass ich ihnen verrathe‚ was sie selbst nicht sehen können – denn sie stehen sich zu nahe – dies Ideal ist gerade auch i h r Ideal, sie selbst stellen es heute dar, und Niemand sonst vielleicht, sie selbst sind seine vergeistigtste Ausgeburt, seine vorgeschobenste Krieger- und Kundschafter-Schaar, seine verfänglichste, zarteste, unfasslichste Verführungsform : – wenn ich irgend worin Räthselrather bin, so will ich es mit d ie s e m Satze sein ! Das sind noch lange keine f r e ie n Geister : den n sie g lauben noc h a n d ie Wa h rheit … Als die christlichen Kreuzfahrer im Orient auf jenen unbesiegbaren Assassinen-Orden stiessen‚ jenen Freigeister-

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Orden par excellence, dessen unterste Grade in einem Gehorsame lebten, wie einen gleichen kein Mönchsorden erreicht hat, da bekamen sie auf irgend welchem Wege auch einen Wink über jenes Symbol und Kerbholz-Wort, das nur den obersten Graden, als deren Secretum‚ vorbehalten war : „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt“ … Wohlan, d a s war Fr e i he it des Geistes, d a m it war der Wahrheit selbst der Glaube g e k ü nd i g t … Hat wohl je schon ein europäischer, ein christlicher Freigeist sich in diesen Satz und seine labyrinthischen Fol g e r u n g e n verirrt ? kennt er den Minotauros dieser Höhle au s E r f a h r u n g ? … Ich zweifle daran, mehr noch, ich weiss es anders : – Nichts ist diesen Unbedingten in Einem, diesen s og e n a n nt e n „freien Geistern“ gerade fremder als Freiheit und Entfesselung in jenem Sinne, in keiner Hinsicht sind | sie gerade fester gebunden, im Glauben gerade an die Wahrheit sind sie, wie Niemand anders sonst, fest und unbedingt. Ich kenne dies Alles vielleicht zu sehr aus der Nähe : jene verehrenswürdige Philosophen-Enthaltsamkeit, zu der ein solcher Glaube verpfl ichtet, jener Stoicismus des Intellekts, der sich das Nein zuletzt eben so streng verbietet wie das Ja, jenes Stehenbleiben -Wol le n vor dem Thatsächlichen, dem factum br ut u m , jener Fatalismus der „petits faits“ (ce petit faitalisme, wie ich ihn nenne), worin die französische Wissenschaft jetzt eine Art moralischen Vorrangs vor der deutschen sucht, jenes Verzichtleisten auf Interpretation überhaupt (auf das Vergewaltigen, Zurechtschieben, Abkürzen, Weglassen, Ausstopfen, Ausdichten, Umfälschen und was sonst zum We s e n alles Interpretirens gehört) – das drückt, in’s Grosse gerechnet, ebensogut Ascetismus der Tugend aus, wie irgend eine Verneinung der Sinnlichkeit (es ist im Grunde nur ein modus dieser Verneinung). Was aber zu ihm z w i n g t , jener unbedingte Wille zur Wahrheit, das ist der Glaube a n d a s a sk et i sc he Id e a l s e l b s t , wenn auch als sein unbewusster Imperativ, man täusche sich hierüber nicht, – das ist der Glaube an einen

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met aphy s i s c he n Werth, einen Werth a n s ic h d er Wa h r he it , wie er allein in jenem Ideal verbürgt und verbrieft ist (er steht und fällt mit jenem Ideal). Es giebt, streng geurtheilt, gar keine „voraussetzungslose“ Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, para logisch : eine Philosophie, ein „Glaube“ muss immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein R e c ht auf Dasein gewinnt. (Wer es umgekehrt versteht, wer zum Beispiel sich anschickt, die Philoso|phie „auf streng wissenschaftliche Grundlage“ zu stellen, der hat dazu erst nöthig, nicht nur die Philosophie, sondern auch die Wahrheit selber au f d e n K o pf z u s t e l le n : die ärgste Anstands-Verletzung, die es in Hinsicht auf zwei so ehrwürdige Frauenzimmer geben kann !) Ja, es ist kein Zweifel  – und hiermit lasse ich meine „fröhliche Wissenschaft“ zu Worte kommen, vergl. deren fünftes Buch S. 263 – „der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne, wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, b eja ht d a m it e i ne a nd r e We lt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte ; und insofern er diese „andre Welt“ bejaht, wie ? muss er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, u n s r e Welt – verneinen ? … Es ist immer noch ein met a phy s i s c he r G l au b e, auf dem unser Glaube an die Wissenschaft ruht,  – auch wir Erkennenden von Heute, wir Gottlosen und Antimetaphysiker, auch wir nehmen u n s e r Feuer noch von jenem Brande, den ein Jahrtausende alter Glaube entzündet hat, jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit g öt t l ic h ist … Aber wie, wenn gerade dies immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lüge,  – wenn Gott selbst sich als unsre l ä n g s t e Lü g e erweist ?“ – – An dieser Stelle thut es Noth, Halt zu machen und sich lange zu besinnen. Die Wissenschaft selber b e d a r f nunmehr einer Rechtfertigung (womit noch nicht einmal gesagt

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sein soll, dass es eine solche für sie giebt). Man sehe sich auf diese Frage die ältesten und die jüngsten Philosophien an : in ihnen allen fehlt ein Bewusstsein darüber, inwiefern der Wille zur Wahrheit selbst erst einer | Rechtfertigung bedarf, hier ist eine Lücke in jeder Philosophie – woher kommt das ? Weil das asketische Ideal über alle Philosophie bisher He r r war, weil Wahrheit als Sein, als Gott, als oberste Instanz selbst gesetzt wurde, weil Wahrheit gar nicht Problem sein d u r f t e. Versteht man dies „durfte“ ?  – Von dem Augenblick an, wo der Glaube an den Gott des asketischen Ideals verneint ist, g iebt es auc h ei n neues P roblem : das vom We r t he der Wahrheit. – Der Wille zur Wahrheit bedarf einer Kritik – bestimmen wir hiermit unsre eigene Aufgabe –‚ der Werth der Wahrheit ist versuchsweise einmal i n Fr a g e z u s t e l le n  … (Wem dies zu kurz gesagt scheint, dem sei empfohlen, jenen Abschnitt der „fröhlichen Wissenschaft“ nachzulesen, welcher den Titel trägt : „Inwiefern auch wir noch fromm sind“ S. 260 ff, am besten das ganze fünfte Buch des genannten Werks, insgleichen die Vorrede zur „Morgenröthe“.) 25. Nein ! Man komme mir nicht mit der Wissenschaft, wenn ich nach dem natürlichen Antagonisten des asketischen Ideals suche, wenn ich frage : „wo ist der gegnerische Wille, in dem sich sein g e g ne r i s c he s Id e a l ausdrückt ?“ Dazu steht die Wissenschaft lange nicht genug auf sich selber, sie bedarf in jedem Betrachte erst eines Werth-Ideals, einer wertheschaffenden Macht, in deren D ie n s t e sie an sich selber g l au b e n d a r f ,  – sie selbst ist niemals wertheschaffend. Ihr Verhältniss zum asketischen Ideal ist an sich durchaus noch nicht antagonistisch ; sie stellt in der Hauptsache sogar eher noch die vorwärtstreibende Kraft in dessen innerer Ausgestaltung dar. Ihr Widerspruch und | Kampf bezieht sich, feiner geprüft, gar nicht auf das Ideal selbst, sondern nur auf dessen Aussen-

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werke, Einkleidung, Maskenspiel, auf dessen zeitweilige Verhärtung, Verholzung, Verdogmatisirung – sie macht das Leben in ihm wieder frei, indem sie das Exoterische an ihm verneint. Diese Beiden, Wissenschaft und asketisches Ideal, sie stehen ja auf Einem Boden – ich gab dies schon zu verstehn – : nämlich auf der gleichen Überschätzung der Wahrheit (richtiger : auf dem gleichen Glauben an die Un abschätzbarkeit, U n kritisirbarkeit der Wahrheit), eben damit sind sie sich n ot hwe n d i g Bundesgenossen,  – so dass sie, gesetzt, dass sie bekämpft werden, auch immer nur gemeinsam bekämpft und in Frage gestellt werden können. Eine Werthabschätzung des asketischen Ideals zieht unvermeidlich auch eine Werthabschätzung der Wissenschaft nach sich : dafür mache man sich bei Zeiten die Augen hell, die Ohren spitz ! (Die K u n s t , vorweg gesagt, denn ich komme irgendwann des Längeren darauf zurück, – die Kunst, in der gerade die Lü g e sich heiligt, der W i l le z u r T äu s c hu n g das gute Gewissen zur Seite hat, ist dem asketischen Ideale viel grundsätzlicher entgegengestellt als die Wissenschaft : so empfand es der Instinkt Plato’s, dieses grössten Kunstfeindes, den Europa bisher hervorgebracht hat. Plato g e g e n Homer : das ist der ganze, der ächte Antagonismus  – dort der „Jenseitige“ besten Willens, der grosse Verleumder des Lebens, hier dessen unfreiwilliger Vergöttlicher, die g old e ne Natur. Eine Künstler-Dienstbarkeit im Dienste des asketischen Ideals ist deshalb die eigentlichste Künstler- Cor r u pt io n , die es geben kann, leider eine der allergewöhnlichsten : denn Nichts ist corruptibler, als ein Künstler.) Auch physio|logisch nachgerechnet, ruht die Wissenschaft auf dem gleichen Boden wie das asketische Ideal : eine gewisse Ver a r mu n g de s L eben s ist hier wie dort die Voraussetzung‚ – die Affekte kühl geworden, das tempo verlangsamt, die Dialektik an Stelle des Instinktes, der E r n s t den Gesichtern und Gebärden aufgedrückt (der Ernst, dieses unmissverständlichste Abzeichen des mühsameren Stoff-

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wechsels, des ringenden, schwerer arbeitenden Lebens). Man sehe sich die Zeiten eines Volkes an, in denen der Gelehrte in den Vordergrund tritt : es sind Zeiten der Ermüdung, oft des Abends, des Niederganges, – die überströmende Kraft, die Lebens-Gewissheit, die Zu k u n f t s - Gewissheit sind dahin. Das Übergewicht des Mandarinen bedeutet niemals etwas Gutes : so wenig als die Heraufkunft der Demokratie, der Friedens-Schiedsgerichte an Stelle der Kriege, der Frauen-Gleichberechtigung, der Religion des Mitleids und was es sonst Alles für Symptome des absinkenden Lebens giebt. (Wissenschaft als Problem gefasst ; was bedeutet Wissenschaft ? – vergl. darüber die Vorrede zur „Geburt der Tragödie“.)  – Nein ! diese „moderne Wissenschaft“ – macht euch nur dafür die Augen auf !  – ist einstweilen die b e s t e Bundesgenossin des asketischen Ideals, und gerade deshalb, weil sie die unbewussteste, die unfreiwilligste, die heimlichste und unterirdischste ist ! Sie haben bis jetzt Ein Spiel gespielt, die „Armen des Geistes“ und die wissenschaftlichen Widersacher jenes Ideals (man hüte sich, anbei gesagt, zu denken, dass sie deren Gegensatz seien, etwa als die R e ic he n des Geistes : – das sind sie n ic ht , ich nannte sie Hektiker des Geistes). Diese berühmten Sie g e der letzteren : unzweifelhaft, es sind Siege – aber worüber ? Das asketische Ideal wurde | ganz und gar nicht in ihnen besiegt, es wurde eher damit stärker, nämlich unfasslicher‚ geistiger, verfänglicher gemacht, dass immer wieder eine Mauer, ein Aussenwerk, das sich an dasselbe angebaut hatte und seinen Aspekt ve r g r ö b e r t e, seitens der Wissenschaft schonungslos abgelöst, abgebrochen worden ist. Meint man in der That‚ dass etwa die Niederlage der theologischen Astronomie eine Niederlage jenes Ideals bedeute ?  … Ist damit vielleicht der Mensch we n i g e r b e d ü r f t i g nach einer Jenseitigkeits-Lösung seines Räthsels von Dasein geworden, dass dieses Dasein sich seitdem noch beliebiger, eckensteherischer, entbehrlicher in der s ic ht b a r e n Ordnung der Dinge

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ausnimmt ? Ist nicht gerade die Selbstverkleinerung des Menschen, sein W i l le zur Selbstverkleinerung seit Kopernikus in einem unaufhaltsamen Fortschritte ? Ach, der Glaube an seine Würde, Einzigkeit, Unersetzlichkeit in der Rangabfolge der Wesen ist dahin, – er ist T h ie r geworden, Thier, ohne Gleichniss, Abzug und Vorbehalt, er, der in seinem früheren Glauben beinahe Gott („Kind Gottes“, „Gottmensch“) war … Seit Kopernikus scheint der Mensch auf eine schiefe Ebene gerathen, – er rollt immer schneller nunmehr aus dem Mittelpunkte weg – wohin ? in’s Nichts ? in’s „d u r c h b oh r e nd e Gefühl seines Nichts“ ? … Wohlan ! dies eben wäre der gerade Weg – in’s a lt e Ideal ? … A l le Wissenschaft (und keineswegs nur die Astronomie, über deren demüthigende und herunterbringende Wirkung Kant ein bemerkenswerthes Geständniss gemacht hat, „sie vernichtet meine Wichtigkeit“ …) alle Wissenschaft, die natürliche sowohl, wie die u n n at ü rl ic he  – so heisse ich die Erkenntniss-Selbstkritik  – ist heute darauf aus, dem Menschen seine bisherige Achtung | vor sich auszureden‚ wie als ob dieselbe Nichts als ein bizarrer Eigendünkel gewesen sei ; man könnte sogar sagen, sie habe ihren eigenen Stolz, ihre eigene herbe Form von stoischer Ataraxie darin, diese mühsam errungene S e l b s t ver ac ht u n g des Menschen als dessen letzten, ernstesten Anspruch auf Achtung bei sich selbst aufrecht zu erhalten (mit Recht, in der That : denn der Verachtende ist immer noch Einer, der „das Achten nicht verlernt hat“ …). Wird damit dem asketischen Ideale eigentlich e n t g e g e n g e a r b e i t e t ? Meint man wirklich alles Ernstes noch (wie es die Theologen eine Zeit lang sich einbildeten), dass etwa Kant’s Sie g über die theologische Begriffs-Dogmatik („Gott“, „Seele“, „Freiheit“, „Unsterblichkeit“) jenem Ideale Abbruch gethan habe ? – wobei es uns einstweilen Nichts angehen soll, ob Kant selber etwas Derartiges überhaupt auch nur in Absicht gehabt hat. Gewiss ist, dass alle Art Transcendentalisten seit Kant wieder gewonnenes Spiel haben,  – sie

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sind von den Theologen emancipirt : welches Glück ! – er hat ihnen jenen Schleichweg verrathen, auf dem sie nunmehr auf eigne Faust und mit dem besten wissenschaftlichen Anstande den „Wünschen ihres Herzens“ nachgehen dürfen. Insgleichen : wer dürfte es nunmehr den Agnostikern verargen, wenn sie, als die Verehrer des Unbekannten und Geheimnissvollen an sich, d a s Fr a g e z e ic he n s e l b s t jetzt als Gott anbeten ? (Xaver Doudan spricht einmal von den ravages, welche „l’habitude d ’a d m i r e r l’inintelligible au lieu de rester tout simplement dans l’inconnu“ angerichtet habe ; er meint, die Alten hätten dessen entrathen.) Gesetzt, dass Alles, was der Mensch „erkennt“, seinen Wünschen nicht genug thut, ihnen vielmehr widerspricht und Schauder macht, welche göttliche Ausflucht, die | Schuld davon nicht im „Wünschen“, sondern im „Erkennen“ suchen zu dürfen ! … „Es giebt kein Erkennen : f ol g l ic h – giebt es einen Gott“ : welche neue elegantia syllogismi ! welcher Tr iu m ph des asketischen Ideals ! – 26. – Oder zeigte vielleicht die gesammte moderne Geschichtsschreibung eine lebensgewissere‚ idealgewissere Haltung ? Ihr vornehmster Anspruch geht jetzt dahin, S p ie g e l zu sein ; sie lehnt alle Teleologie ab ; sie will Nichts mehr „beweisen“ ; sie verschmäht es, den Richter zu spielen, und hat darin ihren guten Geschmack, – sie bejaht so wenig als sie verneint, sie stellt fest, sie „beschreibt“  … Dies Alles ist in einem hohen Grade asketisch ; es ist aber zugleich in einem noch höheren Grade n i h i l i s t i s c h , darüber täusche man sich nicht ! Man sieht einen traurigen, harten, aber entschlossenen Blick, – ein Auge, das h i n au s s c h aut , wie ein vereinsamter Nordpolfahrer hinausschaut (vielleicht um nicht hineinzuschauen ? um nicht zurückzuschauen ? …) Hier ist Schnee, hier ist das Leben verstummt ; die letzten Krähen, die hier laut werden, heissen „Wozu ?“‚ „Umsonst !“, „Nada !“  – hier gedeiht und

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wächst Nichts mehr, höchstens Petersburger Metapolitik und Tolstoi’sches „Mitleid“. Was aber jene andre Art von Historikern betriff t, eine vielleicht noch „modernere“ Art, eine genüssliche, wollüstige, mit dem Leben ebenso sehr als mit dem asketischen Ideal liebäugelnde Art, welche das Wort „Artist“ als Handschuh gebraucht und heute das Lob der Contemplation ganz und gar für sich in Pacht genommen hat : oh welchen Durst erregen diese süssen Geistreichen selbst noch nach Asketen und Winterlandschaften ! Nein ! dies „beschau|liche“ Volk mag sich der Teufel holen ! Um wie viel lieber will ich noch mit jenen historischen Nihilisten durch die düstersten grauen kalten Nebel wandern ! – ja, es soll mir nicht darauf ankommen, gesetzt, dass ich wählen muss, selbst einem ganz eigentlich Unhistorischen, Widerhistorischen Gehör zu schenken (wie jenem Dühring, an dessen Tönen sich im heutigen Deutschland eine bisher noch schüchterne, noch uneingeständliche Species „schöner Seelen“ berauscht, die Species anarchistica innerhalb des gebildeten Proletariats). Hundert Mal schlimmer sind die „Beschaulichen“ – : ich wüsste Nichts, was so sehr Ekel machte, als solch ein „objektiver“ Lehnstuhl, solch ein duftender Genüssling vor der Historie, halb Pfaff, halb Satyr, Parfum Renan, der schon mit dem hohen Falsett seines Beifalls verräth, was ihm abgeht, wo es ihm abgeht, wo in diesem Falle die Parze ihre grausame Scheere ach ! allzu chirurgisch gehandhabt hat ! Das geht mir wider den Geschmack, auch wider die Geduld : behalte bei solchen Aspekten seine Geduld, wer Nichts an ihr zu verlieren hat, – mich ergrimmt solch ein Aspekt, solche „Zuschauer“ erbittern mich gegen das „Schauspiel“, mehr noch als das Schauspiel (die Historie selbst, man versteht mich), unversehens kommen mir dabei anakreontische Launen. Diese Natur, die dem Stier das Horn, dem Löwen das χ"σμ( )δvτων gab, wozu gab mir die Natur den Fuss ? … Zum Treten, beim heiligen Anakreon ! und nicht nur zum Davonlaufen ; zum Zusammentreten der mor-

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schen Lehnstühle, der feigen Beschaulichkeit, des lüsternen Eunuchenthums vor der Historie, der Liebäugelei mit asketischen Idealen, der Gerechtigkeits-Tartüfferie der Impotenz ! Alle meine Ehrfurcht dem asketischen Ideale, s of e r n | e s e h rl ic h i s t ! so lange es an sich selber glaubt und uns keine Possen vormacht ! Aber ich mag alle diese koketten Wanzen nicht, deren Ehrgeiz unersättlich darin ist, nach dem Unendlichen zu riechen, bis zuletzt das Unend liche nach Wanzen riecht ; ich mag die übertünchten Gräber nicht, die das Leben schauspielern ; ich mag die Müden und Vernutzten nicht, welche sich in Weisheit einwickeln und „objektiv“ blicken ; ich mag die zu Helden aufgeputzten Agitatoren nicht, die eine Tarnkappe von Ideal um ihren Strohwisch von Kopf tragen ; ich mag die ehrgeizigen Künstler nicht, die den Asketen und Priester bedeuten möchten und im Grunde nur tragische Hanswürste sind ; ich mag auch sie nicht, diese neuesten Spekulanten in Idealismus, die Antisemiten, welche heute ihre Augen christlich-arisch-biedermännisch verdrehn und durch einen jede Geduld erschöpfenden Missbrauch des wohlfeilsten Agitationsmittels, der moralischen Attitüde, alle Hornvieh-Elemente des Volkes aufzuregen suchen (– dass j e d e Art Schwindel-Geisterei im heutigen Deutschland nicht ohne Erfolg bleibt, hängt mit der nachgerade unableugbaren und bereits handgreifl ichen Ve r ö d u n g des deutschen Geistes zusammen, deren Ursache ich in einer allzuausschliesslichen Ernährung mit Zeitungen, Politik, Bier und Wagnerischer Musik suche, hinzugerechnet, was die Voraussetzung für diese Diät abgiebt : einmal die nationale Einklemmung und Eitelkeit, das starke, aber enge Princip „Deutschland, Deutschland über Alles“, sodann aber die Paralysis agitans der „modernen Ideen“). Europa ist heute reich und erfi nderisch vor Allem in Erregungsmitteln, es scheint Nichts nöthiger zu haben als Stimulantia und gebrannte Wasser : daher auch die ungeheure Fälscherei in Idealen, diesen ge|branntesten Was-

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sern des Geistes, daher auch die widrige, übelriechende‚ verlogne, pseudo-alkoholische Luft überall. Ich möchte wissen, wie viel Schiffsladungen von nachgemachtem Idealismus, von Helden-Kostümen und Klapperblech grosser Worte, wie viel Tonnen verzuckerten spirituosen Mitgefühls (Firma : la religion de la souff rance), wie viel Stelzbeine „edler Entrüstung“ zur Nachhülfe geistig Plattfüssiger, wie viel K omö d i a nt e n des christlich-moralischen Ideals heute aus Europa exportirt werden müssten, damit seine Luft wieder reinlicher röche … Ersichtlich steht in Hinsicht auf diese Überproduktion eine neue H a nd e l s - Möglichkeit offen, ersichtlich ist mit kleinen Ideal-Götzen und zugehörigen „Idealisten“ ein neues „Geschäft“ zu machen – man überhöre diesen Zaunspfahl nicht ! Wer hat Muth genug dazu ? – wir haben es in der H a nd , die ganze Erde zu „idealisiren“ ! … Aber was rede ich von Muth : hier thut Eins nur Noth, eben die Hand, eine unbefangne, eine sehr unbefangne Hand … 27. – Genug ! Genug ! Lassen wir diese Curiositäten und Complexitäten des modernsten Geistes, an denen ebensoviel zum Lachen als zum Verdriessen ist : gerade u n s e r Problem kann deren entrathen, das Problem von der B e d eut u n g des asketischen Ideals, – was hat dasselbe mit Gestern und Heute zu thun ! Jene Dinge sollen von mir in einem andren Zusammenhange gründlicher und härter angefasst werden (unter dem Titel „Zur Geschichte des europäischen Nihilismus“ ; ich verweise dafür auf ein Werk, das ich vorbereite : Der Wille zur Macht, Versuch ei ner Umwer thung a l ler Wer the). Worauf es mir allein ankommt hier | hingewiesen zu haben, ist dies : das asketische Ideal hat auch in der geistigsten Sphäre einstweilen immer nur noch Eine Art von wirklichen Feinden und S c h ä d i g e r n : das sind die Komödianten dieses Ideals, – denn sie wecken Misstrauen. Überall sonst, wo der Geist heute streng, mächtig und ohne Falschmünzerei am Werke

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ist, entbehrt er jetzt überhaupt des Ideals – der populäre Ausdruck für diese Abstinenz ist „Atheismus“ – : abg er ec h net sei ne s Wi l len s z u r Wa h rheit. Dieser Wille aber, dieser R e s t von Ideal, ist, wenn man mir glauben will, jenes Ideal selbst in seiner strengsten, geistigsten Formulirung, esoterisch ganz und gar, alles Aussenwerks entkleidet, somit nicht sowohl sein Rest, als sein K e r n . Der unbedingte redliche Atheismus (– und s e i ne Luft allein athmen wir, wir geistigeren Menschen dieses Zeitalters !) steht demgemäss n ic ht im Gegensatz zu jenem Ideale, wie es den Anschein hat ; er ist vielmehr nur eine seiner letzten Entwicklungsphasen, eine seiner Schlussformen und inneren Folgerichtigkeiten, – er ist die Ehrfurcht gebietende K a t a s t r o p h e einer zweitausendjährigen Zucht zur Wahrheit, welche am Schlusse sich die Lü g e i m G l au b e n a n G ot t verbietet. (Derselbe Entwicklungsgang in Indien, in vollkommner Unabhängigkeit, und deshalb Etwas beweisend ; dasselbe Ideal zum gleichen Schlusse zwingend ; der entscheidende Punkt fünf Jahrhunderte vor der europäischen Zeitrechnung erreicht, mit Buddha, genauer : schon mit der Sankhyam-Philosophie, diese dann durch Buddha popularisirt und zur Religion gemacht.) Wa s , in aller Strenge gefragt, hat eigentlich über den christlichen Gott g e s i e g t ? Die Antwort steht in meiner „fröhlichen Wissenschaft“ S. 290 : „die christliche Moralität | selbst, der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimirt zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis. Die Natur ansehn, als ob sie ein Beweis für die Güte und Obhut eines Gottes sei ; die Geschichte interpretiren zu Ehren einer göttlichen Vernunft, als beständiges Zeugniss einer sittlichen Weltordnung und sittlicher Schlussabsichten ; die eigenen Erlebnisse auslegen, wie sie fromme Menschen lange genug ausgelegt haben, wie als ob Alles Fügung, Alles Wink, Alles dem Heil der Seele zu Liebe

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ausgedacht und geschickt sei : das ist nunmehr vor b e i , das hat das Gewissen g e g e n sich, das gilt allen feineren Gewissen als unanständig, unehrlich, als Lügnerei, Femininismus, Schwachheit, Feigheit, – mit dieser Strenge, wenn irgend womit, sind wir eben g ut e Eu r o p äe r und Erben von Europa’s längster und tapferster Selbstüberwindung“ … Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung : so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der not hwe nd i g e n „Selbstüberwindung“ im Wesen des Lebens, – immer ergeht zuletzt an den Gesetzgeber selbst der Ruf : „patere legem, quam ipse tulisti.“ Dergestalt gieng das Christenthum a l s D og m a zu Grunde, an seiner eignen Moral ; dergestalt muss nun auch das Christenthum a l s Mo r a l noch zu Grunde gehn, – wir stehen an der Schwelle d ie s e s Ereignisses. Nachdem die christliche Wahrhaftigkeit einen Schluss nach dem andern gezogen hat, zieht sie am Ende ihren s t ä r k s t e n S c h lu s s , ihren Schluss g e g e n sich selbst ; dies aber geschieht, wenn sie die Frage stellt „wa s bedeutet a l ler Wi l le z u r Wa h rheit ?“ … Und hier rühre | ich wieder an mein Problem, an unser Problem, meine u n b e k a n nt e n Freunde (– denn noch we i s s ich von keinem Freunde) : welchen Sinn hätte u n s e r ganzes Sein, wenn nicht den, dass in uns jener Wille zur Wahrheit sich selbst a l s P r o ble m zum Bewusstsein gekommen wäre ?  … An diesem Sich-bewusstwerden des Willens zur Wahrheit geht von nun an – daran ist kein Zweifel – die Moral z u Gr u nd e : jenes grosse Schauspiel in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europa’s aufgespart bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoff nungsreichste aller Schauspiele … 28. Sieht man vom asketischen Ideale ab : so hatte der Mensch, das T h ie r Mensch bisher keinen Sinn. Sein Dasein auf Erden enthielt kein Ziel ; „wozu Mensch überhaupt ?“ – war eine Frage

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ohne Antwort ; der W i l le für Mensch und Erde fehlte ; hinter jedem grossen Menschen-Schicksale klang als Refrain ein noch grösseres „Umsonst !“ D a s eben bedeutet das asketische Ideal : dass Etwas f e h lt e, dass eine ungeheure Lüc k e den Menschen umstand, – er wusste sich selbst nicht zu rechtfertigen, zu erklären, zu bejahen, er l it t am Probleme seines Sinns. Er litt auch sonst, er war in der Hauptsache ein k r a n k h a f t e s Thier : aber n ic ht das Leiden selbst war sein Problem, sondern dass die Antwort fehlte für den Schrei der Frage „wo z u leiden ?“ Der Mensch, das tapferste und leidgewohnteste Thier, verneint an sich n ic ht das Leiden : er w i l l es, er sucht es selbst auf, vorausgesetzt, dass man ihm einen S i n n dafür aufzeigt, ein D a z u des Leidens. Die Sinnlosigkeit des Leidens, n ic ht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der | Menschheit ausgebreitet lag, – u nd d a s a sk et i sc he Idea l bot i h r ei nen Si n n ! Es war bisher der einzige Sinn ; irgend ein Sinn ist besser als gar kein Sinn ; das asketische Ideal war in jedem Betracht das „f aut e d e m ieu x“ par excellence, das es bisher gab. In ihm war das Leiden au s g e le g t ; die ungeheure Leere schien ausgefüllt ; die Thür schloss sich vor allem selbstmörderischen Nihilismus zu. Die Auslegung – es ist kein Zweifel – brachte neues Leiden mit sich, tieferes, innerlicheres, giftigeres, am Leben nagenderes : sie brachte alles Leiden unter die Perspektive der S c hu ld … Aber trotzalledem – der Mensch war damit g e r et t et , er hatte einen Si n n , er war fürderhin nicht mehr wie ein Blatt im Winde, ein Spielball des Unsinns, des „Ohne-Sinns“, er konnte nunmehr Etwas wolle n , – gleichgültig zunächst, wohin, wozu, womit er wollte : der Wi l le se lbst wa r g er et tet. Man kann sich schlechterdings nicht verbergen, w a s eigentlich jenes ganze Wollen ausdrückt, das vom asketischen Ideale her seine Richtung bekommen hat : dieser Hass gegen das Menschliche, mehr noch gegen das Thierische, mehr noch gegen das Stoffl iche, dieser Abscheu vor den Sinnen, vor der Vernunft selbst, diese

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was bedeuten asketische Ideale ?

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Furcht vor dem Glück und der Schönheit, dieses Verlangen hinweg aus allem Schein, Wechsel, Werden, Tod, Wunsch, Verlangen selbst – das Alles bedeutet, wagen wir es, dies zu begreifen, einen W i l le n z u m N ic ht s , einen Widerwillen gegen das Leben, eine Auflehnung gegen die grundsätzlichsten Voraussetzungen des Lebens, aber es ist und bleibt ein W i l le ! … Und, um es noch zum Schluss zu sagen, was ich Anfangs sagte : lieber will noch der Mensch d a s N ic ht s wollen, als n ic ht wollen … |

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INHALT.

Erste Abhandlung : „Gut und Böse“, „Gut und Schlecht“ . . . . . . . . . . . . .

Seite 1

1

Zweite Abhandlung : „Schuld“, „Schlechtes Gewissen“ und Verwandtes . . . . .

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Dritte Abhandlung : Was bedeuten asketische Ideale ? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Seitenangaben beziehen sich auf die Paginierung der Originalausgabe der „Genealogie“.

Friedrich Nietzsche

Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt.

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Vorwort.

Inmitten einer düstern und über die Maassen verantwortlichen Sache seine Heiterkeit aufrecht erhalten ist nichts Kleines von Kunststück : und doch, was wäre nöthiger als Heiterkeit ? Kein Ding geräth, an dem nicht der Übermuth seinen Theil hat. Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft. – Eine Umwe r t hu n g a l le r We r t he, dies Fragezeichen so schwarz, so ungeheuer, dass es Schatten auf Den wirft, der es setzt – ein solches Schicksal von Aufgabe zwingt jeden Augenblick, in die Sonne zu laufen, einen schweren, allzuschwer gewordnen Ernst von sich zu schütteln. Jedes Mittel ist dazu recht, jeder „Fall“ ein Glücksfall. Vor Allem der K r ie g. Der Krieg war immer die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister ; selbst in der | Verwundung liegt noch Heilkraft. Ein Spruch, dessen Herkunft ich der gelehrten Neugierde vorenthalte, war seit langem mein Wahlspruch : increscunt animi, virescit volnere virtus. Eine andre Genesung, unter Umständen mir noch erwünschter, ist G öt z e n au s hor c he n … Es giebt mehr Götzen als Realitäten in der Welt : das ist me i n „böser Blick“ für diese Welt, das ist auch mein „böses Oh r“… Hier einmal mit dem H a m me r Fragen stellen und, vielleicht, als Antwort jenen berühmten hohlen Ton hören, der von geblähten Eingeweiden redet – welches Entzücken für Einen, der Ohren noch hinter den Ohren hat, – für mich alten Psychologen und Rattenfänger, vor dem gerade Das, was still bleiben möchte, l aut we r d e n mu s s  … Auch diese Schrift – der Titel verräth es – ist vor Allem eine Erholung, ein Sonnenfleck, ein Seitensprung in den Müssig-

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Vorwort

iv | v

gang eines Psychologen. Vielleicht auch ein neuer Krieg ? Und werden neue Götzen ausgehorcht ? … Diese kleine Schrift ist eine g r o s s e K r ie g s e r k l ä r u n g ; und was das Aushorchen von Götzen anbetriff t, so sind es dies Mal keine Zeitgötzen, sondern | ew i g e Götzen, an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird, – es giebt überhaupt keine älteren, keine überzeugteren, keine aufgeblaseneren Götzen  … Auch keine hohleren  … Das hindert nicht, dass sie die g e g l au bt e s t e n sind ; auch sagt man, zumal im vornehmsten Falle, durchaus nicht Götze … Tu r i n , am 30. September 1888, am Tage, da das erste Buch der Umwe r t hu n g a l l e r We r t h e zu Ende kam.

Friedrich Nietzsche. |

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Inhalt. Seite1

Sprüche und Pfeile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Das Problem des Sokrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die „Vernunft“ in der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde . . . . . .

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Moral als Widernatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die vier grossen Irrthümer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Die „Verbesserer“ der Menschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .

51

Was den Deutschen abgeht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

Streifzüge eines Unzeitgemässen . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Was ich den Alten verdanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Der Hammer redet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Seitenangaben beziehen sich auf die Paginierung der Originalausgabe.

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Sprüche und Pfeile.

1. Müssiggang ist aller Psychologie Anfang. Wie ? wäre Psychologie ein – Laster ? 2. Auch der Muthigste von uns hat nur selten den Muth zu dem, was er eigentlich we i s s … 3. Um allein zu leben, muss man ein Thier oder ein Gott sein – sagt Aristoteles. Fehlt der dritte Fall : man muss Beides sein – Ph i lo s o ph . 4. „Alle Wahrheit ist einfach.“ – Ist das nicht zwiefach eine Lüge ? – 5. Ich will, ein für alle Mal, Vieles n ic ht wissen. – Die Weisheit zieht auch der Erkenntniss Grenzen. 6. Man erholt sich in seiner wilden Natur am besten von seiner Unnatur, von seiner Geistigkeit … | 7. Wie ? ist der Mensch nur ein Fehlgriff Gottes ? Oder Gott nur ein Fehlgriff des Menschen ? – 8. Au s der K r ieg ssc hu le des L eben s. – Was mich nicht umbringt, macht mich stärker.

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Götzen-Dämmerung

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9. Hilf dir selber : dann hilft dir noch Jedermann. Princip der Nächstenliebe. 10. Dass man gegen seine Handlungen keine Feigheit begeht ! dass man sie nicht hinterdrein im Stiche lässt ! – Der Gewissensbiss ist unanständig. 11. Kann ein E s e l tragisch sein ? – Dass man unter einer Last zu Grunde geht, die man weder tragen, noch abwerfen kann ? … Der Fall des Philosophen. 12. Hat man sein w a r u m ? des Lebens, so verträgt man sich fast mit jedem w ie ? – Der Mensch strebt n ic ht nach Glück ; nur der Engländer thut das. 13. Der Mann hat das Weib geschaffen – woraus doch ? Aus einer Rippe seines Gottes, – seines „Ideals“ … | 14. Was ? du suchst ? du möchtest dich verzehnfachen, verhundertfachen ? du suchst Anhänger ? – Suche Nu l le n ! – 15. Posthume Menschen – ich zum Beispiel – werden schlechter verstanden als zeitgemässe, aber besser g e hö r t . Strenger : wir werden nie verstanden – und d a he r unsre Autorität … 16. Unt e r Fr aue n . – „Die Wahrheit ? Oh Sie kennen die Wahrheit nicht ! Ist sie nicht ein Attentat auf alle unsre pudeurs ?“ –

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Sprüche und Pfeile

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17. Das ist ein Künstler, wie ich Künstler liebe, bescheiden in seinen Bedürfnissen : er will eigentlich nur Zweierlei, sein Brod und seine Kunst, – panem et C i r c e n … 18. Wer seinen Willen nicht in die Dinge zu legen weiss, der legt wenigstens einen Si n n noch hinein : das heisst, er glaubt, dass ein Wille bereits darin sei (Princip des „Glaubens“). 19. Wie ? ihr wähltet die Tugend und den gehobenen Busen und seht zugleich scheel nach den Vortheilen der Unbedenklichen ? – Aber mit der Tugend ve r z ic ht et man auf „Vortheile“ … (einem Antisemiten an die Hausthür.) | 20. Das vollkommene Weib begeht Litteratur, wie es eine kleine Sünde begeht : zum Versuch, im Vorübergehn, sich umblikkend, ob es Jemand bemerkt und d a s s es Jemand bemerkt … 21. Sich in lauter Lagen begeben, wo man keine Scheintugenden haben darf, wo man vielmehr, wie der Seiltänzer auf seinem Seile, entweder stürzt oder steht – oder davon kommt … 22. „Böse Menschen haben keine Lieder.“ – Wie kommt es, dass die Russen Lieder haben ? 23. „Deutscher Geist“ : seit achtzehn Jahren eine contradictio in adjecto.

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24. Damit, dass man nach den Anfängen sucht, wird man Krebs. Der Historiker sieht rückwärts ; endlich g l au bt er auch rückwärts. 25. Zufriedenheit schützt selbst vor Erkältung. Hat je sich ein Weib, das sich gut bekleidet wusste, erkältet ? – Ich setze den Fall, dass es kaum bekleidet war. | 26. Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit. 27. Man hält das Weib für tief – warum ? weil man nie bei ihm auf den Grund kommt. Das Weib ist noch nicht einmal flach. 28. Wenn das Weib männliche Tugenden hat, so ist es zum Davonlaufen ; und wenn es keine männlichen Tugenden hat, so läuft es selbst davon. 29. „Wie viel hatte ehemals das Gewissen zu beissen ! welche guten Zähne hatte es ! – Und heute ? woran fehlt es ?“ – Frage eines Zahnarztes. 30. Man begeht selten eine Übereilung allein. In der ersten Übereilung thut man immer zu viel. Eben darum begeht man gewöhnlich noch eine zweite – und nunmehr thut man zu wenig … 31. Der getretene Wurm krümmt sich. So ist es klug. Er verringert damit die Wahrscheinlichkeit, von Neuem getreten zu werden. In der Sprache der Moral : D e mut h . – |

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Sprüche und Pfeile

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32. Es giebt einen Hass auf Lüge und Verstellung aus einem reizbaren Ehrbegriff ; es giebt einen ebensolchen Hass aus Feigheit, insofern die Lüge, durch ein göttliches Gebot, ve r b ot e n ist. Zu feige, um zu lügen … 33. Wie wenig gehört zum Glücke ! Der Ton eines Dudelsacks. – Ohne Musik wäre das Leben ein Irrthum. Der Deutsche denkt sich selbst Gott liedersingend. 34. On ne peut penser et écrire qu’assis (G. Flaubert). – Damit habe ich dich, Nihilist ! Das Sitzfleisch ist gerade die S ü nd e wider den heiligen Geist. Nur die e r g a n g e ne n Gedanken haben Werth. 35. Es giebt Fälle, wo wir wie Pferde sind, wir Psychologen, und in Unruhe gerathen : wir sehen unsern eignen Schatten vor uns auf und niederschwanken. Der Psychologe muss von s ic h absehn, um überhaupt zu sehn. 36. Ob wir Immoralisten der Tugend S c h a d e n thun ? – Eben so wenig, als die Anarchisten den Fürsten. Erst seitdem diese angeschossen werden, sitzen sie wieder fest auf ihrem Thron. Moral : m a n mu s s d ie Mor a l a n s c h ie s s e n . | 37. Du läufst vor a n ? – Thust du das als Hirt ? oder als Ausnahme ? Ein dritter Fall wäre der Entlaufene … Er s t e Gewissensfrage.

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38. Bist du echt ? oder nur ein Schauspieler ? Ein Vertreter ? oder das Vertretene selbst ? – Zuletzt bist du gar bloss ein nachgemachter Schauspieler … Zwe it e Gewissensfrage. 39. D e r E nt t äu s c ht e s p r ic ht . – Ich suchte nach grossen Menschen, ich fand immer nur die A f f e n ihres Ideals. 40. Bist du Einer, der zusieht ? oder der Hand anlegt ? – oder der wegsieht, bei Seite geht ? … D r it t e Gewissensfrage. 41. Willst du mitgehn ? oder vorangehn ? oder für dich gehn ? … Man muss wissen, w a s man will und d a s s man will. – V ie r t e Gewissensfrage. 42. Das waren Stufen für mich, ich bin über sie hinaufgestiegen, – dazu musste ich über sie hinweg. Aber sie meinten, ich wollte mich auf ihnen zur Ruhe setzen … | 43. Was liegt daran, dass ic h Recht behalte ! Ich h a b e zu viel Recht. – Und wer heute am besten lacht, lacht auch zuletzt. 44. Formel meines Glücks : ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Z ie l … |

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Das Problem des Sokrates.

1. Über das Leben haben zu allen Zeiten die Weisesten gleich geurtheilt : e s t au g t n ic ht s  … Immer und überall hat man aus ihrem Munde denselben Klang gehört, – einen Klang voll Zweifel, voll Schwermuth, voll Müdigkeit am Leben, voll Widerstand gegen das Leben. Selbst Sokrates sagte, als er starb : „leben – das heisst lange krank sein : ich bin dem Heilande Asklepios einen Hahn schuldig.“ Selbst Sokrates hatte es satt. – Was b ewe i s t das ? Worauf we i s t das ? – Ehemals hätte man gesagt (– oh man hat es gesagt und laut genug und unsre Pessimisten voran !) : „Hier muss jedenfalls Etwas wahr sein ! Der consensus sapientium beweist die Wahrheit.“ – Werden wir heute noch so reden ? d ü r f e n wir das ? „Hier muss jedenfalls Etwas k r a n k sein“ – geben w i r zur Antwort : diese Weisesten aller Zeiten, man sollte sie sich erst aus der Nähe ansehn ! | Waren sie vielleicht allesammt auf den Beinen nicht mehr fest ? spät ? wackelig ? décadents ? Erschiene die Weisheit vielleicht auf Erden als Rabe, den ein kleiner Geruch von Aas begeistert ? … 2. Mir selbst ist diese Unehrerbietigkeit, dass die grossen Weisen Nied e r g a n g s -Ty p e n sind, zuerst gerade in einem Falle aufgegangen, wo ihr am stärksten das gelehrte und ungelehrte Vorurtheil entgegensteht : ich erkannte Sokrates und Plato als Verfalls-Symptome, als Werkzeuge der griechischen Auflösung, als pseudogriechisch, als antigriechisch („Geburt der Tragödie“ 1872). Jener consensus sapientium – das begriff ich immer besser – beweist am wenigsten, dass sie Recht mit dem hatten, worüber sie übereinstimmten : er beweist vielmehr, dass sie selbst, diese Weisesten, irgend worin phy s iolog i s c h

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übereinstimmten, um auf gleiche Weise negativ zum Leben zu stehn, – stehn zu mü s s e n . Urtheile, Werthurtheile über das Leben, für oder wider, können zuletzt niemals wahr sein : sie haben nur Werth als Symptome, sie kommen nur als Symptome in Betracht, – an sich sind solche Urtheile Dummheiten. Man muss durchaus seine Finger darnach ausstrecken und den Versuch machen, diese erstaunliche fi nesse zu fassen, dass der Wer t h des Lebens n ic ht abgesc hät zt werden k a n n. Von einem | Lebenden nicht, weil ein solcher Partei, ja sogar Streitobjekt ist und nicht Richter ; von einem Todten nicht, aus einem andren Grunde. – Von Seiten eines Philosophen im We r t h des Lebens ein Problem sehn bleibt dergestalt sogar ein Einwurf gegen ihn, ein Fragezeichen an seiner Weisheit, eine Unweisheit. – Wie ? und alle diese grossen Weisen – sie wären nicht nur décadents, sie wären nicht einmal weise gewesen ? – Aber ich komme auf das Problem des Sokrates zurück. 3. Sokrates gehörte, seiner Herkunft nach, zum niedersten Volk : Sokrates war Pöbel. Man weiss, man sieht es selbst noch, wie hässlich er war. Aber Hässlichkeit, an sich ein Einwand, ist unter Griechen beinahe eine Widerlegung. War Sokrates überhaupt ein Grieche ? Die Hässlichkeit ist häufig genug der Ausdruck einer gekreuzten, durch Kreuzung g e he m mt e n Entwicklung. Im andren Falle erscheint sie als n ie d e r g e he nd e Entwicklung. Die Anthropologen unter den Criminalisten sagen uns, dass der typische Verbrecher hässlich ist : monstrum in fronte, monstrum in animo. Aber der Verbrecher ist ein décadent. War Sokrates ein typischer Verbrecher ?  – Zum Mindesten widerspräche dem jenes berühmte Physiognomen-Urtheil nicht, das den Freunden des Sokrates so anstössig klang. Ein Ausländer, der sich auf Gesichter ver|stand, sagte, als er durch Athen kam, dem Sokrates in’s Gesicht, er s e i ein monstrum, – er berge alle schlimmen Laster

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und Begierden in sich. Und Sokrates antwortete bloss : „Sie kennen mich, mein Herr !“ – 4. Auf décadence bei Sokrates deutet nicht nur die zugestandne Wüstheit und Anarchie in den Instinkten : eben dahin deutet auch die Superfötation des Logischen und jene R h ac h i t i k e r -B o s he it , die ihn auszeichnet. Vergessen wir auch jene Gehörs-Hallucinationen nicht, die, als „Dämonion des Sokrates“, in’s Religiöse interpretirt worden sind. Alles ist übertrieben, buffo, Karikatur an ihm, Alles ist zugleich versteckt, hintergedanklich, unterirdisch. – Ich suche zu begreifen, aus welcher Idiosynkrasie jene sokratische Gleichsetzung von Vernunft = Tugend = Glück stammt : jene bizarrste Gleichsetzung, die es giebt und die in Sonderheit alle Instinkte des älteren Hellenen gegen sich hat. 5. Mit Sokrates schlägt der griechische Geschmack zu Gunsten der Dialektik um : was geschieht da eigentlich ? Vor Allem wird damit ein vor ne h me r Geschmack besiegt ; der Pöbel kommt mit der Dialektik obenauf. Vor Sokrates lehnte man in der guten Gesellschaft die dialektischen Manieren ab : sie galten als schlechte Manieren, | sie stellten bloss. Man warnte die Jugend vor ihnen. Auch misstraute man allem solchen Präsentiren seiner Gründe. Honnette Dinge tragen, wie honnette Menschen, ihre Gründe nicht so in der Hand. Es ist unanständig, alle fünf Finger zeigen. Was sich erst beweisen lassen muss, ist wenig werth. Überall, wo noch die Autorität zur guten Sitte gehört, wo man nicht „begründet“, sondern befiehlt, ist der Dialektiker eine Art Hanswurst : man lacht über ihn, man nimmt ihn nicht ernst. – Sokrates war der Hanswurst, der sich e r n s t ne h me n m ac ht e : was geschah da eigentlich ? –

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Götzen-Dämmerung

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6. Man wählt die Dialektik nur, wenn man kein andres Mittel hat. Man weiss, dass man Misstrauen mit ihr erregt, dass sie wenig überredet. Nichts ist leichter wegzuwischen als ein Dialektiker-Effekt : die Erfahrung jeder Versammlung, wo geredet wird, beweist das. Sie kann nur Not hwe h r sein, in den Händen Solcher, die keine andren Waffen mehr haben. Man muss sein Recht zu e r z w i n g e n haben : eher macht man keinen Gebrauch von ihr. Die Juden waren deshalb Dialektiker ; Reinecke Fuchs war es : wie ? und Sokrates war es auch ? – 7. – Ist die Ironie des Sokrates ein Ausdruck von Revolte ? von Pöbel-Ressentiment ? geniesst er | als Unterdrückter seine eigne Ferocität in den Messerstichen des Syllogismus ? r äc ht er sich an den Vornehmen, die er fascinirt ? – Man hat, als Dialektiker, ein schonungsloses Werkzeug in der Hand ; man kann mit ihm den Tyrannen machen ; man stellt bloss, indem man siegt. Der Dialektiker überlässt seinem Gegner den Nachweis, kein Idiot zu sein : er macht wüthend, er macht zugleich hülflos. Der Dialektiker d e p ot e n z i r t den Intellekt seines Gegners. – Wie ? ist Dialektik nur eine Form der R ac he bei Sokrates ? 8. Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates abstossen konnte : es bleibt um so mehr zu erklären, d a s s er fascinirte. – Dass er eine neue Art A g o n entdeckte, dass er der erste Fechtmeister davon für die vornehmen Kreise Athen’s war, ist das Eine. Er fascinirte, indem er an den agonalen Trieb der Hellenen rührte, – er brachte eine Variante in den Ringkampf zwischen jungen Männern und Jünglingen. Sokrates war auch ein grosser E r ot i k e r.

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9. Aber Sokrates errieth noch mehr. Er sah h i nt e r seine vornehmen Athener ; er begriff, dass s e i n Fall, seine Idiosynkrasie von Fall bereits kein Ausnahmefall war. Die gleiche Art von Degenerescenz bereitete sich überall im Stillen vor : | das alte Athen gieng zu Ende. – Und Sokrates verstand, dass alle Welt ihn nöt h i g hatte, – sein Mittel, seine Kur, seinen Personal-Kunstgriff der Selbst-Erhaltung  … Überall waren die Instinkte in Anarchie ; überall war man fünf Schritt weit vom Excess : das monstrum in animo war die allgemeine Gefahr. „Die Triebe wollen den Tyrannen machen ; man muss einen G e g e nt y r a n ne n erfi nden, der stärker ist“ … Als jener Physiognomiker dem Sokrates enthüllt hatte, wer er war, eine Höhle aller schlimmen Begierden, liess der grosse Ironiker noch ein Wort verlauten, das den Schlüssel zu ihm giebt. „Dies ist wahr, sagte er, aber ich wurde über alle Herr.“ W ie wurde Sokrates über s ic h Herr ? – Sein Fall war im Grunde nur der extreme Fall, nur der in die Augen springendste von dem, was damals die allgemeine Noth zu werden anfieng : dass Niemand mehr über sich Herr war, dass die Instinkte sich g e g e n einander wendeten. Er fascinirte als dieser extreme Fall – seine furchteinflössende Hässlichkeit sprach ihn für jedes Auge aus : er fascinirte, wie sich von selbst versteht, noch stärker als Antwort, als Lösung, als Anschein der K u r dieses Falls. – 10. Wenn man nöthig hat, aus der Ve r nu n f t einen Tyrannen zu machen, wie Sokrates es that, so muss die Gefahr nicht klein sein, dass etwas | Andres den Tyrannen macht. Die Vernünftigkeit wurde damals errathen als R et t e r i n , es stand weder Sokrates, noch seinen „Kranken“ frei, vernünftig zu sein, – es war de rigueur, es war ihr let z t e s Mittel. Der Fanatismus, mit dem sich das ganze griechische Nachdenken auf die Vernünftigkeit wirft, verräth eine Nothlage : man war in Gefahr,

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man hatte nur Eine Wahl : entweder zu Grunde zu gehn oder – a b s u r d -ve r nü n f t i g zu sein  … Der Moralismus der griechischen Philosophen von Plato ab ist pathologisch bedingt ; ebenso ihre Schätzung der Dialektik. Vernunft  = Tugend = Glück heisst bloss : man muss es dem Sokrates nachmachen und gegen die dunklen Begehrungen ein Ta g e s l ic ht in Permanenz herstellen – das Tageslicht der Vernunft. Man muss klug, klar, hell um jeden Preis sein : jedes Nachgeben an die Instinkte, an’s Unbewusste führt h i n a b … 11. Ich habe zu verstehn gegeben, womit Sokrates fascinirte : er schien ein Arzt, ein Heiland zu sein. Ist es nöthig noch den Irrthum aufzuzeigen, der in seinem Glauben an die „Vernünftigkeit um jeden Preis“ lag ? – Es ist ein Selbstbetrug seitens der Philosophen und Moralisten, damit schon aus der décadence herauszutreten, dass sie gegen dieselbe Krieg machen. Das Heraustreten steht ausserhalb ihrer Kraft : was sie als Mittel, als Rettung wählen, | ist selbst nur wieder ein Ausdruck der décadence – sie ve r ä nd e r n deren Ausdruck, sie schaffen sie selbst nicht weg. Sokrates war ein Missverständniss ; d ie g a n z e B e s s e r u n g s - Mo r a l , auc h d ie c h r i s t l ic he , wa r e i n M i s s ve r s t ä nd n i s s … Das grellste Tageslicht, die Vernünftigkeit um jeden Preis, das Leben hell, kalt, vorsichtig, bewusst, ohne Instinkt, im Widerstand gegen Instinkte war selbst nur eine Krankheit, eine andre Krankheit – und durchaus kein Rückweg zur „Tugend“, zur „Gesundheit“, zum Glück … Die Instinkte bekämpfen mü s s e n – das ist die Formel für décadence : so lange das Leben au f s t e i g t , ist Glück gleich Instinkt. – 12. – Hat er das selbst noch begriffen, dieser Klügste aller SelbstÜberlister ? Sagte er sich das zuletzt, in der We i s h e it seines Muthes zum Tode ? … Sokrates wol lt e sterben : – nicht

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Athen, e r gab sich den Giftbecher, er zwang Athen zum Giftbecher … „Sokrates ist kein Arzt, sprach er leise zu sich : der Tod allein ist hier Arzt … Sokrates selbst war nur lange krank …“ |

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1. Sie fragen mich, was Alles Idiosynkrasie bei den Philosophen ist ?  … Zum Beispiel ihr Mangel an historischem Sinn, ihr Hass gegen die Vorstellung selbst des Werdens, ihr Ägypticismus. Sie glauben einer Sache eine E h r e anzuthun, wenn sie dieselbe enthistorisiren, sub specie aeterni, – wenn sie aus ihr eine Mumie machen. Alles, was Philosophen seit Jahrtausenden gehandhabt haben, waren Begriffs-Mumien ; es kam nichts Wirkliches lebendig aus ihren Händen. Sie tödten, sie stopfen aus, diese Herren Begriff s-Götzendiener, wenn sie anbeten, – sie werden Allem lebensgefährlich, wenn sie anbeten. Der Tod, der Wandel, das Alter ebensogut als Zeugung und Wachsthum sind für sie Einwände, – Widerlegungen sogar. Was ist, w i r d nicht ; was wird, i s t nicht … Nun glauben sie Alle, mit Verzweiflung sogar, an’s Seiende. Da sie aber dessen nicht habhaft werden, suchen sie | nach Gründen, weshalb man’s ihnen vorenthält. „Es muss ein Schein, eine Betrügerei dabei sein, dass wir das Seiende nicht wahrnehmen : wo steckt der Betrüger ?“ – „Wir haben ihn, schreien sie glückselig, die Sinnlichkeit ist’s ! Diese Sinne, d ie auc h s o n s t s o u n mor a l i s c h s i nd , sie betrügen uns über die w a h r e Welt. Moral : loskommen von dem Sinnentrug, vom Werden, von der Historie, von der Lüge, – Historie ist nichts als Glaube an die Sinne, Glaube an die Lüge. Moral : Neinsagen zu Allem, was den Sinnen Glauben schenkt, zum ganzen Rest der Menschheit : das ist Alles „Volk“. Philosoph sein, Mumie sein, den Monotono-Theismus durch eine Todtengräber-Mimik darstellen ! – Und weg vor Allem mit dem L e i b e, dieser erbarmungswürdigen idée fi xe der Sinne ! behaftet mit allen Fehlern der Logik, die es giebt, widerlegt, unmöglich

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sogar, ob er schon frech genug ist, sich als wirklich zu gebärden !“ … 2. Ich nehme, mit hoher Ehrerbietung, den Namen He r a k l it ’s bei Seite. Wenn das andre Philosophen-Volk das Zeugniss der Sinne verwarf, weil dieselben Vielheit und Veränderung zeigten, verwarf er deren Zeugniss, weil sie die Dinge zeigten, als ob sie Dauer und Einheiten hätten. Auch Heraklit that den Sinnen Unrecht. Dieselben lügen weder in der Art, wie die Eleaten es glauben, noch wie | er es glaubte, – sie lügen überhaupt nicht. Was wir aus ihrem Zeugniss m ac he n , das legt erst die Lüge hinein, zum Beispiel die Lüge der Einheit, die Lüge der Dinglichkeit, der Substanz, der Dauer  … Die „Vernunft“ ist die Ursache, dass wir das Zeugniss der Sinne fälschen. Sofern die Sinne das Werden, das Vergehn, den Wechsel zeigen, lügen sie nicht … Aber damit wird Heraklit ewig Recht behalten, dass das Sein eine leere Fiktion ist. Die „scheinbare“ Welt ist die einzige : die „wahre Welt“ ist nur h i n z u g e log e n . 3. Und was für feine Werkzeuge der Beobachtung haben wir an unsren Sinnen ! Diese Nase zum Beispiel, von der noch kein Philosoph mit Verehrung und Dankbarkeit gesprochen hat, ist sogar einstweilen das delikateste Instrument, das uns zu Gebote steht : es vermag noch Minimaldifferenzen der Bewegung zu constatiren, die selbst das Spektroskop nicht constatirt. Wir besitzen heute genau so weit Wissenschaft, als wir uns entschlossen haben, das Zeugniss der Sinne a n z une h me n , – als wir sie noch schärfen, bewaff nen, zu Ende denken lernten. Der Rest ist Missgeburt und Noch-nicht-Wissenschaft : will sagen Metaphysik, Theologie, Psychologie, Erkenntnisstheorie. O d e r Formal-Wissenschaft, Zeichenlehre : wie die Logik und jene angewandte Logik, die Mathe|matik. In ihnen kommt die Wirklichkeit gar nicht vor, nicht ein-

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mal als Problem ; ebensowenig als die Frage, welchen Werth überhaupt eine solche Zeichen-Convention, wie die Logik ist, hat. – 4. Die a nd r e Idiosynkrasie der Philosophen ist nicht weniger gefährlich : sie besteht darin, das Letzte und das Erste zu verwechseln. Sie setzen Das, was am Ende kommt – leider ! denn es sollte gar nicht kommen ! – die „höchsten Begriffe“, das heisst die allgemeinsten, die leersten Begriffe, den letzten Rauch der verdunstenden Realität an den Anfang a l s Anfang. Es ist dies wieder nur der Ausdruck ihrer Art zu verehren : das Höhere d a r f nicht aus dem Niederen wachsen, d a r f überhaupt nicht gewachsen sein  … Moral : Alles, was ersten Ranges ist, muss causa sui sein. Die Herkunft aus etwas Anderem gilt als Einwand, als Werth-Anzweifelung. Alle obersten Werthe sind ersten Ranges, alle höchsten Begriffe, das Seiende, das Unbedingte, das Gute, das Wahre, das Vollkommne – das Alles kann nicht geworden sein, mu s s folglich causa sui sein. Das Alles aber kann auch nicht einander ungleich, kann nicht mit sich im Widerspruch sein  … Damit haben sie ihren stupenden Begriff „Gott“ … Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum … Dass die Mensch|heit die Gehirnleiden kranker Spinneweber hat ernst nehmen müssen ! – Und sie hat theuer dafür gezahlt ! … 5. – Stellen wir endlich dagegen, auf welche verschiedne Art w i r (– ich sage höflicher Weise wir …) das Problem des Irrthums und der Scheinbarkeit in’s Auge fassen. Ehemals nahm man die Veränderung, den Wechsel, das Werden überhaupt als Beweis für Scheinbarkeit, als Zeichen dafür, dass Etwas da sein müsse, das uns irre führe. Heute umgekehrt sehen wir, genau so weit als das Vernunft-Vorurtheil uns zwingt, Einheit, Identität, Dauer, Substanz, Ursache, Dinglichkeit,

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Sein anzusetzen, uns gewissermaassen verstrickt in den Irrthum, ne c e s s it i r t zum Irrthum ; so sicher wir auf Grund einer strengen Nachrechnung bei uns darüber sind, d a s s hier der Irrthum ist. Es steht damit nicht anders als mit den Bewegungen des grossen Gestirns : bei ihnen hat der Irrthum unser Auge, hier hat er unsre S p r ac he zum beständigen Anwalt. Die Sprache gehört ihrer Entstehung nach in die Zeit der rudimentärsten Form von Psychologie : wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch : der Ve r nu n f t, zum Bewusstsein bringen. D a s sieht überall Thäter und Thun : das glaubt an Willen als Ursache überhaupt ; das glaubt an’s „Ich“, an’s Ich | als Sein, an’s Ich als Substanz und p r ojic i r t den Glauben an die Ich-Substanz auf alle Dinge – es s c h a f f t erst damit den Begriff „Ding“  … Das Sein wird überall als Ursache hineingedacht, u n t e r g e s c h o b e n ; aus der Conception „Ich“ folgt erst, als abgeleitet, der Begriff „Sein“  … Am Anfang steht das grosse Verhängniss von Irrthum, dass der Wille Etwas ist, das w i r k t , – dass Wille ein Ve r mög e n ist  … Heute wissen wir, dass er bloss ein Wort ist  … Sehr viel später, in einer tausendfach aufgeklärteren Welt kam die Sic he rhe it , die subjektive G ew i s s he it in der Handhabung der Vernunft-Kategorien den Philosophen mit Überraschung zum Bewusstsein : sie schlossen, dass dieselben nicht aus der Empirie stammen könnten, – die ganze Empirie stehe ja zu ihnen in Widerspruch. Woh e r a l s o s t a m m e n s ie ? – Und in Indien wie in Griechenland hat man den gleichen Fehlgriff gemacht : „wir müssen schon einmal in einer höheren Welt heimisch gewesen sein (– statt i n e i ne r s e h r v ie l n ie d e r e n : was die Wahrheit gewesen wäre !), wir müssen göttlich gewesen sein, d e n n wir haben die Vernunft !“ … In der That, Nichts hat bisher eine naivere Überredungskraft gehabt als der Irrthum vom Sein, wie er zum Beispiel von den Eleaten formulirt wurde : er hat ja jedes Wort für sich, jeden Satz für

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sich, den wir sprechen ! – Auch die Gegner der Eleaten unterlagen noch der Ver|führung ihres Seins-Begriffs : Demokrit unter Anderen, als er sein Atom erfand … Die „Vernunft“ in der Sprache : oh was für eine alte betrügerische Weibsperson ! Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben … 6. Man wird mir dankbar sein, wenn ich eine so wesentliche, so neue Einsicht in vier Thesen zusammendränge : ich erleichtere damit das Verstehen, ich fordere damit den Widerspruch heraus. E r s t e r S a t z . Die Gründe, darauf hin „diese“ Welt als scheinbar bezeichnet worden ist, begründen vielmehr deren Realität, – eine a nd r e Art Realität ist absolut unnachweisbar. Zwe it e r S at z . Die Kennzeichen, welche man dem „wahren Sein“ der Dinge gegeben hat, sind die Kennzeichen des Nicht-Seins, des Nic ht s , – man hat die „wahre Welt“ aus dem Widerspruch zur wirklichen Welt aufgebaut : eine scheinbare Welt in der That, insofern sie bloss eine mor a l i s c h - o pt i s c he Täuschung ist. D r it t e r S at z . Von einer „andren“ Welt als dieser zu fabeln hat gar keinen Sinn, vorausgesetzt, dass nicht ein Instinkt der Verleumdung, Verkleinerung, Verdächtigung des Lebens in uns mächtig ist : im letzteren Falle r ä c he n wir uns am Leben mit der Phantasmagorie eines „anderen“, eines „besseren“ Lebens. | V ie r t e r S at z . Die Welt scheiden in eine „wahre“ und eine „scheinbare“, sei es in der Art des Christenthums, sei es in der Art Kant’s (eines h i nt e rl i s t i g e n Christen zu guterletzt) ist nur eine Suggestion der décadence, – ein Symptom n ie d e r g e he nd e n Lebens  … Dass der Künstler den Schein höher schätzt als die Realität, ist kein Einwand gegen diesen Satz. Denn „der Schein“ bedeutet hier die Realität no c h e i n m a l ,

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nur in einer Auswahl, Verstärkung, Correctur … Der tragische Künstler ist k e i n Pessimist, – er sagt gerade Ja zu allem Fragwürdigen und Furchtbaren selbst, er ist d iony s i s c h … |

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Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde. Geschichte eines Irrthums. 1. Die wahre Welt erreichbar für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften, – er lebt in ihr, e r i s t s ie. (Älteste Form der Idee, relativ klug, simpel, überzeugend. Umschreibung des Satzes „ich, Plato, b i n die Wahrheit“.) 2. Die wahre Welt, unerreichbar für jetzt, aber versprochen für den Weisen, den Frommen, den Tugendhaften („für den Sünder, der Busse thut“). (Fortschritt der Idee : sie wird feiner, verfänglicher, unfasslicher, – s ie w i r d We i b, sie wird christlich …) 3. Die wahre Welt, unerreichbar, unbeweisbar, unversprechbar, aber schon als gedacht ein Trost, eine Verpfl ichtung, ein Imperativ. (Die alte Sonne im Grunde, aber durch Nebel und Skepsis hindurch ; die Idee sublim geworden, bleich, nordisch, königsbergisch.) | 4. Die wahre Welt – unerreichbar ? Jedenfalls unerreicht. Und als unerreicht auch u n b e k a n nt . Folglich auch nicht tröstend, erlösend, verpfl ichtend : wozu könnte uns etwas Unbekanntes verpfl ichten ? … (Grauer Morgen. Erstes Gähnen der Vernunft. Hahnenschrei des Positivismus.) 5. Die „wahre Welt“ – eine Idee, die zu nichts mehr nütz ist, nicht einmal mehr verpfl ichtend, – eine unnütz, eine überflüssig gewordene Idee, f o l g l i c h eine widerlegte Idee : schaffen wir sie ab ! (Heller Tag ; Frühstück ; Rückkehr des bon sens und der Heiterkeit ; Schamröthe Plato’s ; Teufelslärm aller freien Geister.) 6. Die wahre Welt haben wir abgeschaff t : welche Welt blieb

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übrig ? die scheinbare vielleicht ? Aber nein ! m it d e r w a h r e n We lt h a b e n w i r au c h d ie s c h e i n b a r e a b g e schafft ! (Mittag ; Augenblick des kürzesten Schattens ; Ende des längsten Irrthums ; Höhepunkt der Menschheit ; INCIPIT ZAR ATHUSTR A .) |

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1. Alle Passionen haben eine Zeit, wo sie bloss verhängnissvoll sind, wo sie mit der Schwere der Dummheit ihr Opfer hinunterziehen – und eine spätere, sehr viel spätere, wo sie sich mit dem Geist verheirathen, sich „vergeistigen“. Ehemals machte man, wegen der Dummheit in der Passion, der Passion selbst den Krieg : man verschwor sich zu deren Vernichtung, – alle alten Moral-Unthiere sind einmüthig darüber „il faut tuer les passions.“ Die berühmteste Formel dafür steht im neuen Testament, in jener Bergpredigt, wo, anbei gesagt, die Dinge durchaus nicht au s d e r Höhe betrachtet werden. Es wird daselbst zum Beispiel mit Nutzanwendung auf die Geschlechtlichkeit gesagt „wenn dich dein Auge ärgert, so reisse es aus“ : zum Glück handelt kein Christ nach dieser Vorschrift. Die Leidenschaften und Begierden ve r n ic ht e n , bloss um ihrer Dummheit und den unangenehmen Folgen ihrer Dummheit vorzubeugen, | erscheint uns heute selbst bloss als eine akute Form der Dummheit. Wir bewundern die Zahnärzte nicht mehr, welche die Zähne au s r e i s s e n , damit sie nicht mehr weh thun … Mit einiger Billigkeit werde andrerseits zugestanden, dass auf dem Boden, aus dem das Christenthum gewachsen ist, der Begriff „Ve r g e i s t i g u n g der Passion“ gar nicht concipirt werden konnte. Die erste Kirche kämpfte ja, wie bekannt, g e g e n die „Intelligenten“ zu Gunsten der „Armen des Geistes“ : wie dürfte man von ihr einen intelligenten Krieg gegen die Passion erwarten ? – Die Kirche bekämpft die Leidenschaft mit Ausschneidung in jedem Sinne : ihre Praktik, ihre „Kur“ ist der Ca st r at i smu s. Sie fragt nie : „wie vergeistigt, verschönt, vergöttlicht man eine Begierde ?“ – sie hat zu allen Zeiten den Nachdruck der Disciplin auf die Ausrot-

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tung (der Sinnlichkeit, des Stolzes, der Herrschsucht, der Habsucht, der Rachsucht) gelegt. – Aber die Leidenschaften an der Wurzel angreifen heisst das Leben an der Wurzel angreifen : die Praxis der Kirche ist leb e n s f e i nd l ic h  … 2. Dasselbe Mittel, Verschneidung, Ausrottung, wird instinktiv im Kampfe mit einer Begierde von Denen gewählt, welche zu willensschwach, zu degenerirt sind, um sich ein Maass in ihr auflegen zu können : von jenen Naturen, die la Trappe nöthig | haben, im Gleichniss gesprochen (und ohne Gleichniss –), irgend eine endgültige Feindschafts-Erklärung, eine K lu f t zwischen sich und einer Passion. Die radikalen Mittel sind nur den Degenerirten unentbehrlich ; die Schwäche des Willens, bestimmter geredet, die Unfähigkeit, auf einen Reiz n ic ht zu reagiren, ist selbst bloss eine andre Form der Degenerescenz. Die radikale Feindschaft, die Todfeindschaft gegen die Sinnlichkeit bleibt ein nachdenkliches Symptom : man ist damit zu Vermuthungen über den Gesammt-Zustand eines dergestalt Excessiven berechtigt. – Jene Feindschaft, jener Hass kommt übrigens erst auf seine Spitze, wenn solche Naturen selbst zur Radikal-Kur, zur Absage von ihrem „Teufel“ nicht mehr Festigkeit genug haben. Man überschaue die ganze Geschichte der Priester und Philosophen, der Künstler hinzugenommen : das Giftigste gegen die Sinne ist n ic ht von den Impotenten gesagt, auch n ic ht von den Asketen, sondern von den unmöglichen Asketen, von Solchen, die es nöthig gehabt hätten, Asketen zu sein … 3. Die Vergeistigung der Sinnlichkeit heisst L ieb e : sie ist ein grosser Triumph über das Christenthum. Ein andrer Triumph ist unsre Vergeistigung der Fe i nd s c h a f t . Sie besteht darin, dass man tief den Werth begreift, den es hat, Feinde zu haben :

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kurz, dass man umgekehrt thut | und schliesst als man ehedem that und schloss. Die Kirche wollte zu allen Zeiten die Vernichtung ihrer Feinde : wir, wir Immoralisten und Antichristen, sehen unsern Vortheil darin, dass die Kirche besteht … Auch im Politischen ist die Feindschaft jetzt geistiger geworden, – viel klüger, viel nachdenklicher, viel s c ho ne n d e r. Fast jede Partei begreift ihr Selbsterhaltungs-Interesse darin, dass die Gegenpartei nicht von Kräften kommt ; dasselbe gilt von der grossen Politik. Eine neue Schöpfung zumal, etwa das neue Reich, hat Feinde nöthiger als Freunde : im Gegensatz erst fühlt es sich nothwendig, im Gegensatz w i r d es erst nothwendig … Nicht anders verhalten wir uns gegen den „inneren Feind“ : auch da haben wir die Feindschaft vergeistigt, auch da haben wir ihren We r t h begriffen. Man ist nur f r uc ht b a r um den Preis, an Gegensätzen reich zu sein ; man bleibt nur j u n g unter der Voraussetzung, dass die Seele nicht sich streckt, nicht nach Frieden begehrt … Nichts ist uns fremder geworden als jene Wünschbarkeit von Ehedem, die vom „Frieden der Seele“, die c h r i s t l ic he Wünschbarkeit ; Nichts macht uns weniger Neid als die Moral-Kuh und das fette Glück des guten Gewissens. Man hat auf das g r o s s e Leben verzichtet, wenn man auf den Krieg verzichtet … In vielen Fällen freilich ist der „Frieden der Seele“ bloss ein Missverständniss,  – etwas A nd e r e s , das sich nur nicht ehrlicher zu | benennen weiss. Ohne Umschweif und Vorurtheil ein paar Fälle. „Frieden der Seele“ kann zum Beispiel die sanfte Ausstrahlung einer reichen Animalität in’s Moralische (oder Religiöse) sein. Oder der Anfang der Müdigkeit, der erste Schatten, den der Abend, jede Art Abend wirft. Oder ein Zeichen davon, dass die Luft feucht ist, dass Südwinde herankommen. Oder die Dankbarkeit wider Wissen für eine glückliche Verdauung („Menschenliebe“ mitunter genannt). Oder das Stille-werden des Genesenden, dem alle Dinge neu schmecken und der wartet  … Oder der Zustand, der einer

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starken Befriedigung unsrer herrschenden Leidenschaft folgt, das Wohlgefühl einer seltnen Sattheit. Oder die Altersschwäche unsres Willens, unsrer Begehrungen, unsrer Laster. Oder die Faulheit, von der Eitelkeit überredet, sich moralisch aufzuputzen. Oder der Eintritt einer Gewissheit, selbst furchtbaren Gewissheit, nach einer langen Spannung und Marterung durch die Ungewissheit. Oder der Ausdruck der Reife und Meisterschaft mitten im Thun, Schaffen, Wirken, Wollen, das ruhige Athmen, die e r r e ic ht e „Freiheit des Willens“ … G öt z e n - D ä m me r u n g : wer weiss ? vielleicht auch nur eine Art „Frieden der Seele“ … 4. – Ich bringe ein Princip in Formel. Jeder Naturalismus in der Moral, das heisst jede g e s u n d e | Moral ist von einem Instinkte des Lebens beherrscht, – irgend ein Gebot des Lebens wird mit einem bestimmten Kanon von „Soll“ und „Soll nicht“ erfüllt, irgend eine Hemmung und Feindseligkeit auf dem Wege des Lebens wird damit bei Seite geschaff t. Die w id e r n at ü rl ic he Moral, das heisst fast jede Moral, die bisher gelehrt, verehrt und gepredigt worden ist, wendet sich umgekehrt gerade g e g e n die Instinkte des Lebens, – sie ist eine bald heimliche, bald laute und freche Ve r u r t h e i lu n g dieser Instinkte. Indem sie sagt „Gott sieht das Herz an“, sagt sie Nein zu den untersten und obersten Begehrungen des Lebens und nimmt Gott als Fe i nd d e s L eb e n s  … Der Heilige, an dem Gott sein Wohlgefallen hat, ist der ideale Castrat … Das Leben ist zu Ende, wo das „Reich Gottes“ a n f ä n g t  … 5. Gesetzt, dass man das Frevelhafte einer solchen Auflehnung gegen das Leben begriffen hat, wie sie in der christlichen Moral beinahe sakrosankt geworden ist, so hat man damit, zum Glück, auch etwas Andres begriffen : das Nutzlose, Scheinbare, Absurde, L ü g n e r i s c h e einer solchen Auf lehnung.

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Eine Verurtheilung des Lebens von Seiten des Lebenden bleibt zuletzt doch nur das Symptom einer bestimmten Art von Leben : die Frage, ob mit Recht, ob mit Unrecht, ist gar nicht damit | aufgeworfen. Man müsste eine Stellung au s s er h a l b des Lebens haben, und andrerseits es so gut kennen, wie Einer, wie Viele, wie Alle, die es gelebt haben, um das Problem vom We r t h des Lebens überhaupt anrühren zu dürfen : Gründe genug, um zu begreifen, dass das Problem ein für uns unzugängliches Problem ist. Wenn wir von Werthen reden, reden wir unter der Inspiration, unter der Optik des Lebens : das Leben selbst zwingt uns Werthe anzusetzen, das Leben selbst werthet durch uns, we n n wir Werthe ansetzen … Daraus folgt, dass auch jene W id e r n at u r vo n Mor a l , welche Gott als Gegenbegriff und Verurtheilung des Lebens fasst, nur ein Werthurtheil des Lebens ist – we lc he s Lebens ? we lc he r Art von Leben ? – Aber ich gab schon die Antwort : des niedergehenden, des geschwächten, des müden, des verurtheilten Lebens. Moral, wie sie bisher verstanden worden ist – wie sie zuletzt noch von Schopenhauer formulirt wurde als „Verneinung des Willens zum Leben“ – ist der d éc ad e nce-I n s t i n k t selbst, der aus sich einen Imperativ macht : sie sagt : „ g e h z u Gr u nd e !“ – sie ist das Urtheil Verurtheilter … 6. Erwägen wir endlich noch, welche Naivetät es überhaupt ist, zu sagen „so und so s ol lt e der Mensch sein !“ Die Wirklichkeit zeigt uns einen | entzückenden Reichthum der Typen, die Üppigkeit eines verschwenderischen Formenspiels und -Wechsels : und irgend ein armseliger Eckensteher von Moralist sagt dazu : „nein ! der Mensch sollte a nd e r s sein“ ? … Er weiss es sogar, w ie er sein sollte, dieser Schlucker und Mukker, er malt sich an die Wand und sagt dazu „ecce homo !“ … Aber selbst wenn der Moralist sich bloss an den Einzelnen wendet und zu ihm sagt : „so und so solltest d u sein !“ hört

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er nicht auf, sich lächerlich zu machen. Der Einzelne ist ein Stück fatum, von Vorne und von Hinten, ein Gesetz mehr, eine Nothwendigkeit mehr für Alles, was kommt und sein wird. Zu ihm sagen „ändere dich“ heisst verlangen, dass Alles sich ändert, sogar rückwärts noch … Und wirklich, es gab consequente Moralisten, sie wollten den Menschen anders, nämlich tugendhaft, sie wollten ihn nach ihrem Bilde, nämlich als Mucker : dazu ve r ne i nt e n sie die Welt ! Keine kleine Tollheit ! Keine bescheidne Art der Unbescheidenheit ! … Die Moral, insofern sie ve r u r t h e i lt , an sich, n ic ht aus Hinsichten, Rücksichten, Absichten des Lebens, ist ein spezifischer Irrthum, mit dem man kein Mitleiden haben soll, eine D e g e ne r i r t e n - Id io s y n k r a s ie, die unsäglich viel Schaden gestiftet hat ! … Wir Anderen, wir Immoralisten, haben umgekehrt unser Herz weit gemacht für alle Art Verstehn, Begreifen, G ut he i s s e n . Wir verneinen nicht leicht, wir | suchen unsre Ehre darin, B e ja h e n d e zu sein. Immer mehr ist uns das Auge für jene Ökonomie aufgegangen, welche alles Das noch braucht und auszunützen weiss, was der heilige Aberwitz des Priesters, der k r a n k e n Vernunft im Priester verwirft, für jene Ökonomie im Gesetz des Lebens, die selbst aus der widerlichen Species des Muckers, des Priesters, des Tugendhaften ihren Vortheil zieht, – we lc he n Vortheil ? – Aber wir selbst, wir Immoralisten sind hier die Antwort … |

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Die vier grossen Irrthümer.

1. Ir r t hu m der Ver wec h slu ng von Ursac he u nd Folge. – Es giebt keinen gefährlicheren Irrthum als d ie Folge m it der Ur sac he z u ver wec h sel n : ich heisse ihn die eigentliche Verderbniss der Vernunft. Trotzdem gehört dieser Irr thum zu den ältesten und jüngsten Gewohnheiten der Menschheit : er ist selbst unter uns geheiligt, er trägt den Namen „Religion“, „Moral“. Je d e r Satz, den die Religion und die Moral formulirt, enthält ihn ; Priester und Moral-Gesetzgeber sind die Urheber jener Verderbniss der Vernunft. – Ich nehme ein Beispiel : Jedermann kennt das Buch des berühmten Cornaro, in dem er seine schmale Diät als Recept zu einem langen und glücklichen Leben – auch tugendhaften – anräth. Wenige Bücher sind so viel gelesen worden, noch jetzt wird es in England jährlich in vielen Tausenden von Exemplaren gedruckt. Ich zweifle nicht daran, | dass kaum ein Buch (die Bibel, wie billig, ausgenommen) so viel Unheil gestiftet, so viele Leben ve r k ü r z t hat wie dies so wohl gemeinte Curiosum. Grund dafür : die Verwechslung der Folge mit der Ursache. Der biedere Italiäner sah in seiner Diät die Ur s ac he seines langen Lebens : während die Vorbedingung zum langen Leben, die ausserordentliche Langsamkeit des Stoff wechsels, der geringe Verbrauch, die Ursache seiner schmalen Diät war. Es stand ihm nicht frei, wenig o d e r viel zu essen, seine Frugalität war n ic ht ein „freier Wille“ : er wurde krank, wenn er mehr ass. Wer aber kein Karpfen ist, thut nicht nur gut, sondern hat es nöthig, or d e nt l ic h zu essen. Ein Gelehrter u n s r e r Tage, mit seinem rapiden Verbrauch an Nervenkraft, würde sich mit dem régime Cornaro’s zu Grunde richten. Crede experto. –

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2. Die allgemeinste Formel, die jeder Religion und Moral zu Grunde liegt, heisst : „Thue das und das, lass das und das – so wirst du glücklich ! Im andern Falle …“ Jede Moral, jede Religion i s t dieser Imperativ, – ich nenne ihn die grosse Erbsünde der Vernunft, die u n s t e r bl ic he Unve r nu n f t . In meinem Munde verwandelt sich jene Formel in ihre Umkehrung  – e r s t e s Beispiel meiner „Umwerthung aller Werthe“ : ein wohlgerathner Mensch, ein „Glücklicher“, mu s s gewisse | Handlungen thun und scheut sich instinktiv vor anderen Handlungen, er trägt die Ordnung, die er physiologisch darstellt, in seine Beziehungen zu Menschen und Dingen hinein. In Formel : seine Tugend ist die Fol g e seines Glücks … Langes Leben, eine reiche Nachkommenschaft ist n ic ht der Lohn der Tugend, die Tugend selbst ist vielmehr selbst jene Verlangsamung des Stoff wechsels, die, unter Anderem, auch ein langes Leben, eine reiche Nachkommenschaft, kurz den C or n a r i s mu s im Gefolge hat. – Die Kirche und die Moral sagen : „ein Geschlecht, ein Volk wird durch Laster und Luxus zu Grunde gerichtet.“ Meine w ie d e r h e r g e s t e l lt e Vernunft sagt : wenn ein Volk zu Grunde geht, physiologisch degenerirt, so f ol g e n daraus Laster und Luxus (das heisst das Bedürfniss nach immer stärkeren und häufigeren Reizen, wie sie jede erschöpfte Natur kennt). Dieser junge Mann wird frühzeitig blass und welk. Seine Freunde sagen : daran ist die und die Krankheit schuld. Ich sage : d a s s er krank wurde, d a s s er der Krankheit nicht widerstand, war bereits die Folge eines verarmten Lebens, einer hereditären Erschöpfung. Der Zeitungsleser sagt : diese Partei richtet sich mit einem solchen Fehler zu Grunde. Meine höhe r e Politik sagt : eine Partei, die solche Fehler macht, ist am Ende – sie hat ihre Instinkt-Sicherheit nicht mehr. Jeder Fehler in jedem Sinne ist die Folge von Instinkt-Entartung, von Disgregation | des Willens : man definirt beinahe damit das S c h le c ht e. Alles G ut e ist Instinkt –

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und, folglich, leicht, nothwendig, frei. Die Mühsal ist ein Einwand, der Gott ist typisch vom Helden unterschieden (in meiner Sprache : die le ic ht e n Füsse das erste Attribut der Göttlichkeit). 3. I r r t hu m e i ne r f a l s c he n Ur s äc h l ic h k e it . – Man hat zu allen Zeiten geglaubt, zu wissen, was eine Ursache ist : aber woher nahmen wir unser Wissen, genauer, unsern Glauben, hier zu wissen ? Aus dem Bereich der berühmten „inneren Thatsachen“, von denen bisher keine sich als thatsächlich erwiesen hat. Wir glaubten uns selbst im Akt des Willens ursächlich ; wir meinten da wenigstens die Ursächlichkeit au f der That z u er tappen. Man zweifelte insgleichen nicht daran, dass alle antecedentia einer Handlung, ihre Ursachen, im Bewusstsein zu suchen seien und darin sich wiederfänden, wenn man sie suche – als „Motive“ : man wäre ja sonst z u ihr nicht frei, f ü r sie nicht verantwortlich gewesen. Endlich, wer hätte bestritten, dass ein Gedanke verursacht wird ? dass das Ich den Gedanken verursacht ?  … Von diesen drei „inneren Thatsachen“, mit denen sich die Ursächlichkeit zu verbürgen schien, ist die erste und überzeugendste die vom W i l le n a l s Ur s ac he ; die Conception | eines Bewusstseins („Geistes“) als Ursache und später noch die des Ich (des „Subjekts“) als Ursache sind bloss nachgeboren, nachdem vom Willen die Ursächlichkeit als gegeben feststand, als E m p i r ie … Inzwischen haben wir uns besser besonnen. Wir glauben heute kein Wort mehr von dem Allen. Die „innere Welt“ ist voller Trugbilder und Irrlichter : der Wille ist eins von ihnen. Der Wille bewegt nichts mehr, erklärt folglich auch nichts mehr – er begleitet bloss Vorgänge, er kann auch fehlen. Das sogenannte „Motiv“ : ein andrer Irrthum. Bloss ein Oberflächenphänomen des Bewusstseins, ein Nebenher der That, das eher noch die antecedentia einer That verdeckt, als dass es sie darstellt. Und gar das Ich ! Das ist zur Fabel geworden, zur Fiktion, zum Wort-

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spiel : das hat ganz und gar aufgehört, zu denken, zu fühlen und zu wollen ! … Was folgt daraus ? Es giebt gar keine geistigen Ursachen ! Die ganze angebliche Empirie dafür gieng zum Teufel ! D a s folgt daraus ! – Und wir hatten einen artigen Missbrauch mit jener „Empirie“ getrieben, wir hatten die Welt daraufhin g e s c h a f f e n als eine Ursachen-Welt, als eine Willens-Welt, als eine Geister-Welt. Die älteste und längste Psychologie war hier am Werk, sie hat gar nichts Anderes gethan : alles Geschehen war ihr ein Thun, alles Thun Folge eines Willens, die Welt wurde ihr eine Vielheit von Thätern, ein Thäter (ein „Sub|jekt“) schob sich allem Geschehen unter. Der Mensch hat seine drei „inneren Thatsachen“, Das, woran er am festesten glaubte, den Willen, den Geist, das Ich, aus sich herausprojicirt, – er nahm erst den Begriff Sein aus dem Begriff Ich heraus, er hat die „Dinge“ als seiend gesetzt nach seinem Bilde, nach seinem Begriff des Ichs als Ursache. Was Wunder, dass er später in den Dingen immer nur wiederfand, wa s er i n sie gestec k t hat te ? – Das Ding selbst, nochmals gesagt, der Begriff Ding, ein Reflex bloss vom Glauben an’s Ich als Ursache … Und selbst noch Ihr Atom, meine Herren Mechanisten und Physiker, wie viel Irrthum, wie viel rudimentäre Psychologie ist noch in Ihrem Atom rückständig ! – Gar nicht zu reden vom „Ding an sich“, vom horrendum pudendum der Metaphysiker ! Der Irrthum vom Geist als Ursache mit der Realität verwechselt ! Und zum Maass der Realität gemacht ! Und G ot t genannt ! – 4. I r r t hu m d er i m a g i n ä r e n Ur s ac he n . – Vom Traume auszugehn : einer bestimmten Empfi ndung, zum Beispiel in Folge eines fernen Kanonenschusses, wird nachträglich eine Ursache untergeschoben (oft ein ganzer kleiner Roman, in dem gerade der Träumende die Hauptperson ist). Die Empfi ndung dauert inzwischen fort, in einer Art von Resonanz : sie wartet

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gleichsam, bis der | Ursachentrieb ihr erlaubt, in den Vordergrund zu treten, – nunmehr nicht mehr als Zufall, sondern als „Sinn“. Der Kanonenschuss tritt in einer c au s a le n Weise auf, in einer anscheinenden Umkehrung der Zeit. Das Spätere, die Motivirung, wird zuerst erlebt, oft mit hundert Einzelnheiten, die wie im Blitz vorübergehn, der Schuss fol g t … Was ist geschehen ? Die Vorstellungen, welche ein gewisses Befi nden e r z eu g t e, wurden als Ursache desselben missverstanden. – Thatsächlich machen wir es im Wachen ebenso. Unsre meisten Allgemeingefühle – jede Art Hemmung, Druck, Spannung, Explosion im Spiel und Gegenspiel der Organe, wie in Sonderheit der Zustand des nervus sympathicus – erregen unsern Ursachentrieb : wir wollen einen Gr u nd haben, uns s o u nd s o zu befi nden, – uns schlecht zu befi nden oder gut zu befi nden. Es genügt uns niemals, einfach bloss die Thatsache, d a s s wir uns so und so befi nden, festzustellen : wir lassen diese Thatsache erst zu, – werden ihrer b ew u s s t –, we n n wir ihr eine Art Motivirung gegeben haben. – Die Erinnerung, die in solchem Falle, ohne unser Wissen, in Thätigkeit tritt, führt frühere Zustände gleicher Art und die damit verwachsenen Causal-Interpretationen herauf,  – n ic ht deren Ursächlichkeit. Der Glaube freilich, dass die Vorstellungen, die begleitenden Bewusstseins-Vorgänge die Ursachen gewesen seien, wird durch die Erinnerung | auch mit heraufgebracht. So entsteht eine G ewöh nu n g an eine bestimmte Ursachen-Interpretation, die in Wahrheit eine E r f or s c hu n g der Ursache hemmt und selbst ausschliesst. 5. Psycholog ische Erk lär u ng da zu. – Etwas Unbekanntes auf etwas Bekanntes zurückführen, erleichtert, beruhigt, befriedigt, giebt ausserdem ein Gefühl von Macht. Mit dem Unbekannten ist die Gefahr, die Unruhe, die Sorge gegeben, – der erste Instinkt geht dahin, diese peinlichen Zustände

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we g z u s c h a f f e n . Erster Grundsatz : irgend eine Erklärung ist besser als keine. Weil es sich im Grunde nur um ein Loswerdenwollen drückender Vorstellungen handelt, nimmt man es nicht gerade streng mit den Mitteln, sie loszuwerden : die erste Vorstellung, mit der sich das Unbekannte als bekannt erklärt, thut so wohl, dass man sie „für wahr hält“. Beweis der Lu s t („der Kraft“) als Criterium der Wahrheit. – Der Ursachen-Trieb ist also bedingt und erregt durch das Furchtgefühl. Das „Warum ?“ soll, wenn irgend möglich, nicht sowohl die Ursache um ihrer selber willen geben, als vielmehr eine A r t vo n Ur s ac he – eine beruhigende, befreiende, erleichternde Ursache. Dass etwas schon B e k a n nt e s , Erlebtes, in die Erinnerung Eingeschriebenes als Ursache ange|setzt wird, ist die erste Folge dieses Bedürfnisses. Das Neue, das Unerlebte, das Fremde wird als Ursache ausgeschlossen. – Es wird also nicht nur eine Art von Erklärungen als Ursache gesucht, sondern eine au s g e s uc ht e und b evor z u g t e Art von Erklärungen, die, bei denen am schnellsten, am häufigsten das Gefühl des Fremden, Neuen, Unerlebten weggeschaff t worden ist, – die g ewöh n l ic h s t e n Erklärungen. – Folge : eine Art von Ursachen-Setzung überwiegt immer mehr, concentrirt sich zum System und tritt endlich d om i n i r e nd hervor, das heisst a n d e r e Ursachen und Erklärungen einfach ausschliessend. – Der Banquier denkt sofort an’s „Geschäft“, der Christ an die „Sünde“, das Mädchen an seine Liebe. 6. D e r g a n z e B e r e ic h d e r Mor a l u nd Re l i g ion g e hör t u nt e r d ie s e n B e g r i f f d e r i m a g i n ä r e n Ur s a c he n . – „Erklärung“ der u n a n g e ne h me n Allgemeingefühle. Dieselben sind bedingt durch Wesen, die uns feind sind (böse Geister : berühmtester Fall – Missverständniss der Hysterischen als Hexen). Dieselben sind bedingt durch Handlungen, die nicht zu billigen sind (das Gefühl der „Sünde“, der „Sünd-

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haftigkeit“ einem physiologischen Missbehagen untergeschoben – man fi ndet immer Gründe, mit sich unzufrieden zu sein). Dieselben sind bedingt als Strafen, als | eine Abzahlung für Etwas, das wir nicht hätten thun, das wir nicht hätten s e i n sollen (in impudenter Form von Schopenhauer zu einem Satze verallgemeinert, in dem die Moral als Das erscheint, was sie ist, als eigentliche Giftmischerin und Verleumderin des Lebens : „jeder grosse Schmerz, sei er leiblich, sei er geistig, sagt aus, was wir verdienen ; denn er könnte nicht an uns kommen, wenn wir ihn nicht verdienten.“ Welt als Wille und Vorstellung, 2, 666). Dieselben sind bedingt als Folgen unbedachter, schlimm auslaufender Handlungen (– die Affekte, die Sinne als Ursache, als „schuld“ angesetzt ; physiologische Nothstände mit Hülfe a n d e r e r Nothstände als „verdient“ ausgelegt). – „Erklärung“ der a n g e ne h me n Allgemeingefühle. Dieselben sind bedingt durch Gottvertrauen. Dieselben sind bedingt durch das Bewusstsein guter Handlungen (das sogenannte „gute Gewissen“, ein physiologischer Zustand, der mitunter einer glücklichen Verdauung zum Verwechseln ähnlich sieht). Dieselben sind bedingt durch den glücklichen Ausgang von Unternehmungen (– naiver Fehlschluss : der glückliche Ausgang einer Unternehmung schaff t einem Hypochonder oder einem Pascal durchaus keine angenehmen Allgemeingefühle). Dieselben sind bedingt durch Glaube, Liebe, Hoff nung – die christlichen Tugenden. – In Wahrheit sind alle diese vermeintlichen Erklärungen Fol g e zustände | und gleichsam Übersetzungen von Lust- oder Unlust-Gefühlen in einen falschen Dialekt : man ist im Zustande zu hoffen, we i l das physiologische Grundgefühl wieder stark und reich ist ; man vertraut Gott, we i l das Gefühl der Fülle und Stärke Einem Ruhe giebt. – Die Moral und Religion gehört ganz und gar unter die P s yc holog ie d e s I r r t hu m s : in jedem einzelnen Falle wird Ursache und Wirkung verwechselt ; oder die Wahrheit mit der Wirkung des als wahr G e g l au bt e n

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verwechselt ; oder ein Zustand des Bewusstseins mit der Ursächlichkeit dieses Zustands verwechselt. 7. I r r t hu m vo m f r e ie n W i l le n . – Wir haben heute kein Mitleid mehr mit dem Begriff „freier Wille“ : wir wissen nur zu gut, was er ist – das anrüchigste Theologen-Kunststück, das es giebt, zum Zweck, die Menschheit in ihrem Sinne „verantwortlich“ zu machen, das heisst s ie vo n s ic h a bh ä n g i g z u m ac he n … Ich gebe hier nur die Psychologie alles Verantwortlichmachens. – Überall, wo Verantwortlichkeiten gesucht werden, pflegt es der Instinkt des St r a f e n - u nd R ic ht e n -Wol le n s zu sein, der da sucht. Man hat das Werden seiner Unschuld entkleidet, wenn irgend ein So-und-soSein auf Wille, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückgeführt wird : die Lehre vom Willen ist wesentlich erfunden zum | Zweck der Strafe, das heisst des S c hu ld i gf i nd e n -wol le n s . Die ganze alte Psychologie, die WillensPsychologie hat ihre Voraussetzung darin, dass deren Urheber, die Priester an der Spitze alter Gemeinwesen, sich ein R e c ht schaffen wollten, Strafen zu verhängen – oder Gott dazu ein Recht schaffen wollten  … Die Menschen wurden „frei“ gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können,  – um s c hu ld i g werden zu können : folglich mu s s t e jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden (– womit die g r u nd s ät z l ic h s t e Falschmünzerei in psychologicis zum Princip der Psychologie selbst gemacht war  …) Heute, wo wir in die u m g e k e h r t e Bewegung eingetreten sind, wo wir Immoralisten zumal mit aller Kraft den Schuldbegriff und den Straf begriff aus der Welt wieder herauszunehmen und Psychologie, Geschichte, Natur, die gesellschaftlichen Institutionen und Sanktionen von ihnen zu reinigen suchen, giebt es in unsern Augen keine radikalere Gegnerschaft als die der

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Theologen, welche fortfahren, mit dem Begriff der „sittlichen Weltordnung“ die Unschuld des Werdens durch „Strafe“ und „Schuld“ zu durchseuchen. Das Christenthum ist eine Metaphysik des Henkers … | 8. Was kann allein u n s r e Lehre sein ? – Dass Niemand dem Menschen seine Eigenschaften g i e b t , weder Gott, noch die Gesellschaft, noch seine Eltern und Vorfahren, noch e r s e l b s t (– der Unsinn der hier zuletzt abgelehnten Vorstellung ist als „intelligible Freiheit“ von Kant, vielleicht auch schon von Plato gelehrt worden). N ie m a nd ist dafür verantwortlich, dass er überhaupt da ist, dass er so und so beschaffen ist, dass er unter diesen Umständen, in dieser Umgebung ist. Die Fatalität seines Wesens ist nicht herauszulösen aus der Fatalität alles dessen, was war und was sein wird. Er ist n ic ht die Folge einer eignen Absicht, eines Willens, eines Zwecks, mit ihm wird n ic h t der Versuch gemacht, ein „Ideal von Mensch“ oder ein „Ideal von Glück“ oder ein „Ideal von Moralität“ zu erreichen, – es ist absurd, sein Wesen in irgend einen Zweck hin a bwä l z e n zu wollen. W i r haben den Begriff „Zweck“ erfunden : in der Realität fe h lt der Zweck … Man ist nothwendig, man ist ein Stück Verhängniss, man gehört zum Ganzen, man i s t im Ganzen, – es giebt Nichts, was unser Sein richten, messen, vergleichen, verurtheilen könnte, denn das hiesse das Ganze richten, messen, vergleichen, verurtheilen … Aber es g iebt Nic ht s au sser dem Ga n z en ! – Dass Niemand mehr verantwortlich gemacht wird, dass die Art des Seins nicht auf eine causa prima | zurückgeführt werden darf, dass die Welt weder als Sensorium, noch als „Geist“ eine Einheit ist, d ie s e r s t i s t d ie g r o s s e B e f r e iu n g , – damit erst ist die Un s c hu ld des Werdens wieder hergestellt … Der Begriff „Gott“ war bisher der grösste E i nw a nd gegen das Dasein … Wir leugnen Gott, wir leugnen die Verantwortlichkeit in Gott : d a m it erst erlösen wir die Welt. – |

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1. Man kennt meine Forderung an den Philosophen, sich je n s e it s von Gut und Böse zu stellen, – die Illusion des moralischen Urtheils u nt e r sich zu haben. Diese Forderung folgt aus einer Einsicht, die von mir zum ersten Male formulirt worden ist : d a ss es g a r kei ne mor a l i sc hen T hat sac hen g iebt. Das moralische Urtheil hat Das mit dem religiösen gemein, dass es an Realitäten glaubt, die keine sind. Moral ist nur eine Ausdeutung gewisser Phänomene, bestimmter geredet, eine M i s s deutung. Das moralische Urtheil gehört, wie das religiöse, einer Stufe der Unwissenheit zu, auf der selbst der Begriff des Realen, die Unterscheidung des Realen und Imagi nären noch fehlt : so dass „Wahrheit“ auf solcher Stufe lauter Dinge bezeichnet, die wir heute „Einbildungen“ nennen. Das moralische Urtheil ist insofern nie wörtlich zu nehmen : als solches enthält es immer nur Widersinn. Aber es bleibt als | S e m iot i k unschätzbar : es offenbart, für den Wissenden wenigstens, die werthvollsten Realitäten von Culturen und Innerlichkeiten, die nicht genug w u s s t e n , um sich selbst zu „verstehn“. Moral ist bloss Zeichenrede, bloss Symptomatologie : man muss bereits wissen, wor u m es sich handelt, um von ihr Nutzen zu ziehen. 2. Ein erstes Beispiel und ganz vorläufig. Zu allen Zeiten hat man die Menschen „verbessern“ wollen : dies vor Allem hiess Moral. Aber unter dem gleichen Wort ist das Allerverschiedenste von Tendenz versteckt. Sowohl die Z ä h mu n g der Bestie Mensch als die Züc ht u n g einer bestimmten Gattung Mensch ist „Besserung“ genannt worden : erst diese zoologi-

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schen termini drücken Realitäten aus – Realitäten freilich, von denen der typische „Verbesserer“, der Priester, Nichts weiss – Nichts wissen w i l l   … Die Zähmung eines Thieres seine „Besserung“ nennen ist in unsren Ohren beinahe ein Scherz. Wer weiss, was in Menagerien geschieht, zweifelt daran, dass die Bestie daselbst „verbessert“ wird. Sie wird geschwächt, sie wird weniger schädlich gemacht, sie wird durch den depressiven Affekt der Furcht, durch Schmerz, durch Wunden, durch Hunger zur k r a n k h a f t e n Bestie. – Nicht anders steht es mit dem gezähmten Menschen, den der Priester | „verbessert“ hat. Im frühen Mittelalter, wo in der That die Kirche vor Allem eine Menagerie war, machte man aller wärts auf die schönsten Exemplare der „blonden Bestie“ Jagd,  – man „verbesserte“ zum Beispiel die vornehmen Germanen. Aber wie sah hinterdrein ein solcher „verbesserter“, in’s Kloster verführter Germane aus ? Wie eine Caricatur des Menschen, wie eine Missgeburt : er war zum „Sünder“ geworden, er stak im Käfig, man hatte ihn zwischen lauter schreck liche Begriffe eingesperrt … Da lag er nun, krank, kümmerlich, gegen sich selbst böswillig ; voller Hass gegen die Antriebe zum Leben, voller Verdacht gegen Alles, was noch stark und glücklich war. Kurz, ein „Christ“ … Physiologisch geredet : im Kampf mit der Bestie k a n n Krankmachen das einzige Mittel sein, sie schwach zu machen. Das verstand die Kirche : sie ve r d a r b den Menschen, sie schwächte ihn, – aber sie nahm in Anspruch, ihn „verbessert“ zu haben. 3. Nehmen wir den andern Fall der sogenannten Moral, den Fall der Zü c ht u n g einer bestimmten Rasse und Art. Das grossartigste Beispiel dafür giebt die indische Moral, als „Gesetz des Manu“ zur Religion sanktionirt. Hier ist die Aufgabe gestellt, nicht weniger als vier Rassen auf einmal zu züchten : eine priesterliche, eine kriegerische, eine | händler- und

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ackerbauerische, endlich eine Dienstboten-Rasse, die Sudras. Ersichtlich sind wir hier nicht mehr unter Thierbändigern : eine hundert Mal mildere und vernünftigere Art Mensch ist die Voraussetzung, um auch nur den Plan einer solchen Züchtung zu concipiren. Man athmet auf, aus der christlichen Kranken- und Kerkerluft in diese gesündere, höhere, we it er e Welt einzutreten. Wie armselig ist das „neue Testament“ gegen Manu, wie schlecht riecht es ! – Aber auch diese Organisation hatte nöthig, f u r c ht b a r zu sein, – nicht dies Mal im Kampf mit der Bestie, sondern mit i h r e m Gegensatz-Begriff, dem Nicht-Zucht-Menschen, dem Mischmasch-Menschen, dem Tschandala. Und wieder hatte sie kein andres Mittel, ihn ungefährlich, ihn schwach zu machen, als ihn k r a n k zu machen, – es war der Kampf mit der „grossen Zahl“. Vielleicht giebt es nichts unserm Gefühle Widersprechenderes als d ie s e Schutzmaassregeln der indischen Moral. Das dritte Edikt zum Beispiel (Avadana-Sastra I), das „von den unreinen Gemüsen“, ordnet an, dass die einzige Nahrung, die den Tschandala erlaubt ist, Knoblauch und Zwiebeln sein sollen, in Anbetracht, dass die heilige Schrift verbietet, ihnen Korn oder Früchte, die Körner tragen, oder Wa s s e r oder Feuer zu geben. Dasselbe Edikt setzt fest, dass das Wasser, welches sie nöthig haben, weder aus den Flüssen, noch aus den Quellen, noch aus den Teichen genommen werden | dürfe, sondern nur aus den Zugängen zu Sümpfen und aus Löchern, welche durch die Fusstapfen der Thiere entstanden sind. Insgleichen wird ihnen verboten, ihre Wäsche zu waschen und s ic h s e l b s t z u w a s c he n , da das Wasser, das ihnen aus Gnade zugestanden wird, nur benutzt werden darf, den Durst zu löschen. Endlich ein Verbot an die Sudra-Frauen, den Tschandala-Frauen bei der Geburt beizustehn, insgleichen noch eins für die letzteren, e i n a nd e r d a b e i b e i z u s t e h n … – Der Erfolg einer solchen Sanitäts-Polizei blieb nicht aus : mörderische Seuchen, scheussliche Geschlechtskrankheiten und darauf hin wieder

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„das Gesetz des Messers“, die Beschneidung für die männlichen, die Abtragung der kleinen Schamlippen für die weiblichen Kinder anordnend. – Manu selbst sagt : „die Tschandala sind die Frucht von Ehebruch, Incest und Verbrechen (– dies die not hwe nd i g e Consequenz des Begriffs Züchtung). Sie sollen zu Kleidern nur die Lumpen von Leichnamen haben, zum Geschirr zerbrochne Töpfe, zum Schmuck altes Eisen, zum Gottesdienst nur die bösen Geister ; sie sollen ohne Ruhe von einem Ort zum andern schweifen. Es ist ihnen verboten, von links nach rechts zu schreiben und sich der rechten Hand zum Schreiben zu bedienen : der Gebrauch der rechten Hand und des von Links nach Rechts ist bloss den Tu g e nd h a f t e n vorbehalten, den Leuten von R a s s e.“ – | 4. Diese Verfügungen sind lehrreich genug : in ihnen haben wir einmal die a r i s c he Humanität, ganz rein, ganz ursprünglich, – wir lernen, dass der Begriff „reines Blut“ der Gegensatz eines harmlosen Begriff s ist. Andrerseits wird klar, in we lc h e m Volk sich der Hass, der Tschandala-Hass gegen diese „Humanität“ verewigt hat, wo er Religion, wo er G e n ie geworden ist  … Unter diesem Gesichtspunkte sind die Evangelien eine Urkunde ersten Ranges ; noch mehr das Buch Henoch. – Das Christenthum, aus jüdischer Wurzel und nur verständlich als Gewächs dieses Bodens, stellt die G e g e n b ewe g u n g gegen jede Moral der Züchtung, der Rasse, des Privilegiums dar : – es ist die a nt i a r i s c he Religion par excellence : das Christenthum die Umwerthung aller arischen Werthe, der Sieg der Tschandala-Werthe, das Evangelium den Armen, den Niedrigen gepredigt, der Gesammt-Aufstand alles Niedergetretenen, Elenden, Missrathenen, Schlechtweggekommenen gegen die „Rasse“, – die unsterbliche Tschandala-Rache als Re l i g ion d e r L ieb e …

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5. Die Moral der Z ü c h t u n g und die Moral der Z ä h mu n g sind in den Mitteln, sich durchzusetzen, vollkommen einander würdig : wir dürfen als obersten Satz hinstellen, dass, um Moral zu m ac he n , man | den unbedingten Willen zum Gegentheil haben muss. Dies ist das grosse, das u n he i m l ic he Problem, dem ich am längsten nachgegangen bin : die Psychologie der „Verbesserer“ der Menschheit. Eine kleine und im Grunde bescheidne Thatsache, die der sogenannten pia fraus, gab mir den ersten Zugang zu diesem Problem : die pia fraus, das Erbgut aller Philosophen und Priester, die die Menschheit „verbesserten“. Weder Manu, noch Plato, noch Confucius, noch die jüdischen und christlichen Lehrer haben je an ihrem R e c ht zur Lüge gezweifelt. Sie haben a n g a n z a nd r e n Rec ht e n nicht gezweifelt … In Formel ausgedrückt dürfte man sagen : a l le Mittel, wodurch bisher die Menschheit moralisch gemacht werden sollte, waren von Grund aus u n mor a l i s c h . – |

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1. Unter Deutschen ist es heute nicht genug, Geist zu haben : man muss ihn noch sich nehmen, sich Geist h e r au s n e h me n … Vielleicht kenne ich die Deutschen, vielleicht darf ich selbst ihnen ein paar Wahrheiten sagen. Das neue Deutschland stellt ein grosses Quantum vererbter und angeschulter Tüchtigkeit dar, so dass es den aufgehäuften Schatz von Kraft eine Zeit lang selbst verschwenderisch ausgeben darf. Es ist n ic ht eine hohe Cultur, die mit ihm Herr geworden, noch weniger ein delikater Geschmack, eine vornehme „Schönheit“ der Instinkte ; aber m ä n n l ic h e r e Tugenden, als sonst ein Land Europa’s aufweisen kann. Viel guter Muth und Achtung vor sich selber, viel Sicherheit im Verkehr, in der Gegenseitigkeit der Pfl ichten, viel Arbeitsamkeit, viel Ausdauer – und eine angeerbte Mässigung, welche eher des Stachels als des Hemmschuhs bedarf. Ich füge hinzu, dass hier | noch gehorcht wird, ohne dass das Gehorchen demüthigt … Und Niemand verachtet seinen Gegner … Man sieht, es ist mein Wunsch, den Deutschen gerecht zu sein : ich möchte mir darin nicht untreu werden, – ich muss ihnen also auch meinen Einwand machen. Es zahlt sich theuer, zur Macht zu kommen : die Macht ve r d u m mt … Die Deutschen – man hiess sie einst das Volk der Denker : denken sie heute überhaupt noch ? – Die Deutschen langweilen sich jetzt am Geiste, die Deutschen misstrauen jetzt dem Geiste, die Politik verschlingt allen Ernst für wirklich geistige Dinge – „Deutschland, Deutschland über Alles“, ich fürchte, das war das Ende der deutschen Philosophie … „Giebt es deutsche Philosophen ? giebt es deutsche Dichter ? giebt es g ut e deutsche

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Bücher ?“ fragt man mich im Ausland. Ich erröthe, aber mit der Tapferkeit, die mir auch in verzweifelten Fällen zu eigen ist, antworte ich : „Ja, Bi s m a r c k !“ – Dürfte ich auch nur eingestehn, welche Bücher man heute liest ? … Vermaledeiter Instinkt der Mittelmässigkeit ! – 2. – Was der deutsche Geist sein k ö n nt e, wer hätte nicht schon darüber seine schwermüthigen Gedanken gehabt ! Aber dies Volk hat sich willkürlich verdummt, seit einem Jahrtausend beinahe : nirgendswo sind die zwei grossen europäischen | Narcotica, Alkohol und Christenthum, lasterhafter gemissbraucht worden. Neuerdings kam sogar noch ein drittes hinzu, mit dem allein schon aller feinen und kühnen Beweglichkeit des Geistes der Garaus gemacht werden kann, die Musik, unsre verstopfte verstopfende deutsche Musik. – Wie viel verdriessliche Schwere, Lahmheit, Feuchtigkeit, Schlafrock, wie viel Bie r ist in der deutschen Intelligenz ! Wie ist es eigentlich möglich, dass junge Männer, die den geistigsten Zielen ihr Dasein weihn, nicht den ersten Instinkt der Geistigkeit, den Selbsterha lt u ng s-I n st i n k t des Gei stes in sich fühlen – und Bier trinken ? … Der Alkoholismus der gelehrten Jugend ist vielleicht noch kein Fragezeichen in Absicht ihrer Gelehrsamkeit – man kann ohne Geist sogar ein grosser Gelehrter sein –, aber in jedem andren Betracht bleibt er ein Problem. – Wo fände man sie nicht, die sanfte Entartung, die das Bier im Geiste hervorbringt ! Ich habe einmal in einem beinahe berühmt gewordnen Fall den Finger auf eine solche Entartung gelegt – die Entartung unsres ersten deutschen Freigeistes, des k lu g e n David Strauss, zum Verfasser eines Bierbank-Evangeliums und „neuen Glaubens“ … Nicht umsonst hatte er der „holden Braunen“ sein Gelöbniss in Versen gemacht – Treue bis zum Tod … |

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3. – Ich sprach vom deutschen Geiste : dass er gröber wird, dass er sich verflacht. Ist das genug ? – Im Grunde ist es etwas ganz Anderes, das mich erschreckt : wie es immer mehr mit dem deutschen Ernste, der deutschen Tiefe, der deutschen L e i d e n s c h a f t in geistigen Dingen abwärts geht. Das Pathos hat sich verändert, nicht bloss die Intellektualität. – Ich berühre hier und da deutsche Universitäten : was für eine Luft herrscht unter deren Gelehrten, welche öde, welche genügsam und lau gewordne Geistigkeit ! Es wäre ein tiefes Missverständniss, wenn man mir hier die deutsche Wissenschaft einwenden wollte – und ausserdem ein Beweis dafür, dass man nicht ein Wort von mir gelesen hat. Ich bin seit siebzehn Jahren nicht müde geworden, den e nt g e i s t i g e nd e n Einfluss unsres jetzigen Wissenschafts-Betriebs an’s Licht zu stellen. Das harte Helotenthum, zu dem der ungeheure Umfang der Wissenschaften heute jeden Einzelnen verurtheilt, ist ein Hauptgrund dafür, dass voller, reicher, t ie f e r angelegte Naturen keine ihnen gemässe Erziehung u nd E r z ie he r me h r vorfi nden. Unsre Cultur leidet an Nichts me h r, als an dem Überfluss anmaasslicher Eckensteher und Bruchstück-Humanitäten ; unsre Universitäten sind, w id e r Willen, die eigentlichen Treibhäuser für diese Art Instinkt-Verkümmerung des Geistes. Und ganz Europa hat bereits einen | Begriff davon – die grosse Politik täuscht Niemanden … Deutschland gilt immer mehr als Europa’s F l ac h l a nd . – Ich s uc he noch nach einem Deutschen, mit dem ic h auf meine Weise ernst sein könnte, – um wie viel mehr nach einem, mit dem ich heiter sein dürfte ! G öt z e n - D ä m me r u n g : ah wer begriffe es heute, vo n w a s f ü r e i ne m E r n s t e sich hier ein Einsiedler erholt ! – Die Heiterkeit ist an uns das Unverständlichste …

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4. Man mache einen Überschlag : es liegt nicht nur auf der Hand, dass die deutsche Cultur niedergeht, es fehlt auch nicht am zureichenden Grund dafür. Niemand kann zuletzt mehr ausgeben als er hat – das gilt von Einzelnen, das gilt von Völkern. Giebt man sich für Macht, für grosse Politik, für Wirthschaft, Weltverkehr, Parlamentarismus, Militär-Interessen aus, – giebt man das Quantum Verstand, Ernst, Wille, Selbstüberwindung, das man ist, nach d ie s e r Seite weg, so fehlt es auf der andern Seite. Die Cultur und der Staat – man betrüge sich hierüber nicht – sind Antagonisten : „Cultur-Staat“ ist bloss eine moderne Idee. Das Eine lebt vom Andern, das Eine gedeiht auf Unkosten des Anderen. Alle grossen Zeiten der Cultur sind politische Niedergangs-Zeiten : was gross ist im Sinn der Cultur war unpolitisch, selbst a nt i p ol it i s c h . – Goethen gieng das Herz | auf bei dem Phänomen Napoleon, – es gieng ihm z u bei den „Freiheits-Kriegen“ … In demselben Augenblick, wo Deutschland als Grossmacht heraufkommt, gewinnt Frankreich als C u lt u r m ac ht eine veränderte Wichtigkeit. Schon heute ist viel neuer Ernst, viel neue L eiden sc h a f t des Geistes nach Paris übergesiedelt ; die Frage des Pessimismus zum Beispiel, die Frage Wagner, fast alle psychologischen und artistischen Fragen werden dort unvergleichlich feiner und gründlicher erwogen als in Deutschland, – die Deutschen sind selbst u n f ä h i g zu dieser Art Ernst. – In der Geschichte der europäischen Cultur bedeutet die Heraufkunft des „Reichs“ vor allem Eins : eine Ve rle g u n g d e s S c hwe r g ew ic ht s . Man weiss es überall bereits : in der Hauptsache – und das bleibt die Cultur – kommen die Deutschen nicht mehr in Betracht. Man fragt : habt ihr auch nur Einen für Europa m itz ä h le nd e n Geist aufzuweisen ? wie euer Goethe, euer Hegel, euer Heinrich Heine, euer Schopenhauer mitzählte ? – Dass es nicht einen einzigen deutschen Philosophen mehr giebt, darüber ist des Erstaunens kein Ende. –

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5. Dem ganzen höheren Erziehungswesen in Deutschland ist die Hauptsache abhanden gekommen : Zwe c k sowohl als M it t e l zum Zweck. Dass Erziehung, Bi ld u n g selbst Zweck ist – | und n ic ht „das Reich“ –, dass es zu diesem Zweck der E r z ie he r bedarf – und n ic ht der Gymnasiallehrer und Universitäts-Gelehrten – man vergass das … Erzieher thun noth, d ie s e l b s t e r z og e n sind, überlegene, vornehme Geister, in jedem Augenblick bewiesen, durch Wort und Schweigen bewiesen, reife, s ü s s gewordene Culturen, – n ic ht die gelehrten Rüpel, welche Gymnasium und Universität der Jugend heute als „höhere Ammen“ entgegenbringt. Die Erzieher f e h le n , die Ausnahmen der Ausnahmen abgerechnet, die e r s t e Vorbedingung der Erziehung : d a he r der Niedergang der deutschen Cultur. – Eine jener allerseltensten Ausnahmen ist mein verehrungswürdiger Freund Jakob Burckhardt in Basel : ihm zuerst verdankt Basel seinen Vorrang von Humanität. – Was die „höheren Schulen“ Deutschlands thatsächlich erreichen, das ist eine brutale Abrichtung, um, mit möglichst geringem Zeitverlust, eine Unzahl junger Männer für den Staatsdienst nutzbar, au s nut z b a r zu machen. „Höhere Erziehung“ und Un z a h l – das widerspricht sich von vornherein. Jede höhere Erziehung gehört nur der Ausnahme : man muss privilegirt sein, um ein Recht auf ein so hohes Privilegium zu haben. Alle grossen, alle schönen Dinge können nie Gemeingut sein : pulchrum est paucorum hominum. – Was b e d i n g t den Niedergang der deutschen Cultur ? Dass „höhere Erziehung“ kein Vor r e c ht | mehr ist – der Demokratismus der „allgemeinen“, der g e me i n gewordnen „Bildung“ … Nicht zu vergessen, dass militärische Privilegien den Zu-Vie l- B e s uc h der höheren Schulen, das heisst ihren Untergang, förmlich erzwingen.  – Es steht Niemandem mehr frei, im jetzigen Deutschland seinen Kindern eine vornehme Erziehung zu geben : unsre „höheren“ Schulen sind allesammt

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auf die zweideutigste Mittelmässigkeit eingerichtet, mit Lehrern, mit Lehrplänen, mit Lehrzielen. Und überall herrscht eine unanständige Hast, wie als ob Etwas versäumt wäre, wenn der junge Mann mit 23 Jahren noch nicht „fertig“ ist, noch nicht Antwort weiss auf die „Hauptfrage“ : we lc he n Beruf ? – Eine höhere Art Mensch, mit Verlaub gesagt, liebt nicht „Berufe“, genau deshalb, weil sie sich berufen weiss … Sie hat Zeit, sie nimmt sich Zeit, sie denkt gar nicht daran, „fertig“ zu werden,  – mit dreissig Jahren ist man, im Sinne hoher Cultur, ein Anfänger, ein Kind. – Unsre überfüllten Gymnasien, unsre überhäuften, stupid gemachten Gymnasiallehrer sind ein Skandal : um diese Zustände in Schutz zu nehmen, wie es jüngst die Professoren von Heidelberg gethan haben, dazu hat man vielleicht Ur s ac he n , – Gründe dafür giebt es nicht. | 6. – Ich stelle, um nicht aus meiner Art zu fallen, die ja s a g e nd ist und mit Widerspruch und Kritik nur mittelbar, nur unfreiwillig zu thun hat, sofort die drei Aufgaben hin, derentwegen man Erzieher braucht. Man hat s e he n zu lernen, man hat d e n k e n zu lernen, man hat s p r e c he n und s c h r e i b e n zu lernen : das Ziel in allen Dreien ist eine vornehme Cultur. – S e he n lernen – dem Auge die Ruhe, die Geduld, das An-sichheran-kommen-lassen angewöhnen ; das Urtheil hinausschieben, den Einzelfall von allen Seiten umgehn und umfassen lernen. Das ist die e r s t e Vorschulung zur Geistigkeit : auf einen Reiz n ic ht sofort reagiren, sondern die hemmenden, die abschliessenden Instinkte in die Hand bekommen. S e he n lernen, so wie ich es verstehe, ist beinahe Das, was die unphilosophische Sprechweise den starken Willen nennt : das Wesentliche daran ist gerade, n ic ht „wollen“, die Entscheidung aussetzen k ö n ne n . Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten – man mu s s reagiren, man folgt jedem Impulse. In vielen

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Fällen ist ein solches Müssen bereits Krankhaftigkeit, Niedergang, Symptom der Erschöpfung, – fast Alles, was die unphilosophische Rohheit mit dem Namen „Laster“ bezeichnet, ist bloss jenes physiologische Unvermögen, n ic ht zu reagiren. – Eine Nutzanwendung vom | Sehen-gelernt-haben : man wird als L e r ne nd e r überhaupt langsam, misstrauisch, widerstrebend geworden sein. Man wird Fremdes, Neue s jeder Art zunächst mit feindseliger Ruhe herankommen lassen, – man wird seine Hand davor zurückziehn. Das Offenstehn mit allen Thüren, das unterthänige Auf-dem-Bauch-Liegen vor jeder kleinen Thatsache, das allzeit sprungbereite Sich-hinein-Setzen, Sich-hinein-St ü r z e n in Andere und Anderes, kurz die berühmte moderne „Objektivität“ ist schlechter Geschmack, ist u nvor ne h m par excellence. – 7. D e n k e n lernen : man hat auf unsren Schulen keinen Begriff mehr davon. Selbst auf den Universitäten, sogar unter den eigentlichen Gelehrten der Philosophie beginnt Logik als Theorie, als Praktik, als H a nd we rk , auszusterben. Man lese deutsche Bücher : nicht mehr die entfernteste Erinnerung daran, dass es zum Denken einer Technik, eines Lehrplans, eines Willens zur Meisterschaft bedarf, – dass Denken gelernt sein will, wie Tanzen gelernt sein will, a l s eine Art Tanzen  … Wer kennt unter Deutschen jenen feinen Schauder aus Erfahrung noch, den die le ic ht e n F ü s s e im Geistigen in alle Muskeln überströmen ! – Die steife Tölpelei der geistigen Gebärde, die plu m p e Hand beim Fassen – das ist in dem Grade deutsch, dass man es im Auslande mit dem deutschen | Wesen überhaupt verwechselt. Der Deutsche hat keine Fi n g e r für nuances … Dass die Deutschen ihre Philosophen auch nur ausgehalten haben, vor Allen jenen verwachsensten BegriffsKrüppel, den es je gegeben hat, den g r o s s e n Kant, giebt keinen kleinen Begriff von der deutschen Anmuth. – Man kann

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nämlich das Ta n z e n in jeder Form nicht von der vor ne h me n E r z ie hu n g abrechnen, Tanzen-können mit den Füssen, mit den Begriffen, mit den Worten : habe ich noch zu sagen, dass man es auch mit der Fe d e r können muss, – dass man s c h r e i b e n lernen muss ? – Aber an dieser Stelle würde ich deutschen Lesern vollkommen zum Räthsel werden … |

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1. Me i ne Un mög l ic he n . – S e ne c a : oder der Toreador der Tugend. – Rou s s e au : oder die Rückkehr zur Natur in impuris naturalibus. – S c h i l le r : oder der Moral-Trompeter von Säckingen. – D a nt e : oder die Hyäne, die in Gräbern d ic h t et . – K a nt : oder cant als intelligibler Charakter. – V ic t or Hu g o : oder der Pharus am Meere des Unsinns. – L i s z t : oder die Schule der Geläufigkeit – nach Weibern. – G eor g e Sa nd : oder lactea ubertas, auf deutsch : die Milchkuh mit „schönem Stil“. – M ic he let : oder die Begeisterung, die den Rock auszieht  … C a r l y le : oder Pessimismus als zurückgetretenes Mittagessen. – Joh n S t u a r t M i l l : oder die beleidigende Klarheit. – L e s f r è r e s d e G oncou r t : oder die beiden Ajaxe im Kampf mit Homer. Musik von Offenbach. – Z ol a : oder „die Freude zu stinken.“ – | 2. Re n a n . – Theologie, oder die Verderbniss der Vernunft durch die „Erbsünde“ (das Christenthum). Zeugniss Renan, der, sobald er einmal ein Ja oder Nein allgemeinerer Art risquirt, mit peinlicher Regelmässigkeit daneben greift. Er möchte zum Beispiel la science und la noblesse in Eins verknüpfen : aber la science gehört zur Demokratie, das greift sich doch mit Händen. Er wünscht, mit keinem kleinen Ehrgeize, einen Aristokratismus des Geistes darzustellen : aber zugleich liegt er vor dessen Gegenlehre, dem évangile des humbles auf den Knien und nicht nur auf den Knien … Was hilft alle Freigeisterei, Modernität, Spötterei und Wendehals-Geschmeidigkeit, wenn man mit seinen Eingeweiden Christ, Katholik und sogar Priester geblieben ist ! Renan hat seine Erfi ndsamkeit, ganz wie ein Jesuit und Beichtvater, in der Verführung ; seiner

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Geistigkeit fehlt das breite Pfaffen-Geschmunzel nicht, – er wird, wie alle Priester, gefährlich erst, wenn er liebt. Niemand kommt ihm darin gleich, auf eine lebensgefährliche Weise anzubeten … Dieser Geist Renan’s, ein Geist, der e nt ne r v t , ist ein Verhängniss mehr für das arme, kranke, willenskranke Frankreich. – 3. S a i nt e - B eu ve. – Nichts von Mann ; voll eines kleinen Ingrimms gegen alle Mannsgeister. | Schweift umher, fein, neugierig, gelangweilt, aushorcherisch, – eine Weibsperson im Grunde, mit einer Weibs-Rachsucht und Weibs-Sinnlichkeit. Als Psycholog ein Genie der médisance ; unerschöpflich reich an Mitteln dazu ; Niemand versteht besser, mit einem Lob Gift zu mischen. Plebejisch in den untersten Instinkten und mit dem ressentiment Rousseau’s verwandt : f ol g l ic h Romantiker – denn unter allem romantisme grunzt und giert der Instinkt Rousseau’s nach Rache. Revolutionär, aber durch die Furcht leidlich noch im Zaum gehalten. Ohne Freiheit vor Allem, was Stärke hat (öffentliche Meinung, Akademie, Hof, selbst Port Royal). Erbittert gegen alles Grosse an Mensch und Ding, gegen Alles, was an sich glaubt. Dichter und Halbweib genug, um das Grosse noch als Macht zu fühlen ; gekrümmt beständig, wie jener berühmte Wurm, weil er sich beständig getreten fühlt. Als Kritiker ohne Maassstab, Halt und Rückgrat, mit der Zunge des kosmopolitischen libertin für Vielerlei, aber ohne den Muth selbst zum Eingeständniss der libertinage. Als Historiker ohne Philosophie, ohne die M ac ht des philosophischen Blicks, – deshalb die Aufgabe des Richtens in allen Hauptsachen ablehnend, die „Objektivität“ als Maske vorhaltend. Anders verhält er sich zu allen Dingen, wo ein feiner, vernutzter Geschmack die höchste Instanz ist : da hat er wirklich den Muth zu sich, die Lust an sich, | – da ist er Me i s t e r. – Nach einigen Seiten eine Vorform Baudelaire’s. –

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4. Die i m it at io C h r i s t i gehört zu den Büchern, die ich nicht ohne einen physiologischen Widerstand in den Händen halte : sie haucht einen parfum des Ewig-Weiblichen aus, zu dem man bereits Franzose sein muss – oder Wagnerianer … Dieser Heilige hat eine Art von der Liebe zu reden, dass sogar die Pariserinnen neugierig werden. – Man sagt mir, dass jener k lü g s t e Jesuit, A. Comte, der seine Franzosen auf dem Umwe g der Wissenschaft nach Rom führen wollte, sich an diesem Buche inspirirt habe. Ich glaube es : „die Religion des Herzens“ … 5. G . E l iot . – Sie sind den christlichen Gott los und glauben nun um so mehr die christliche Moral festhalten zu müssen : das ist eine e n g l i s c he Folgerichtigkeit, wir wollen sie den Moral-Weiblein à la Eliot nicht verübeln. In England muss man sich für jede kleine Emancipation von der Theologie in furchteinflössender Weise als Moral-Fanatiker wieder zu Ehren bringen. Das ist dort die Bu s s e, die man zahlt. – Für uns Andre steht es anders. Wenn man den christlichen Glauben aufgiebt, zieht man sich damit das R e c ht zur christlichen Moral unter den Füssen weg. Diese | versteht sich schlechterdings n ic ht von selbst : man muss diesen Punkt, den englischen Flachköpfen zum Trotz, immer wieder an’s Licht stellen. Das Christenthum ist ein System, eine zusammengedachte und g a n z e Ansicht der Dinge. Bricht man aus ihm einen Hauptbegriff, den Glauben an Gott, heraus, so zerbricht man damit auch das Ganze : man hat nichts Nothwendiges mehr zwischen den Fingern. Das Christenthum setzt voraus, dass der Mensch nicht wisse, nicht wissen k ö n ne, was für ihn gut, was böse ist : er glaubt an Gott, der allein es weiss. Die christliche Moral ist ein Befehl ; ihr Ursprung ist transscendent ; sie ist jenseits aller Kritik, alles Rechts auf Kritik ; sie hat nur Wahrheit, falls Gott die Wahrheit ist, – sie steht

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und fällt mit dem Glauben an Gott. – Wenn thatsächlich die Engländer glauben, sie wüssten von sich aus, „intuitiv“, was gut und böse ist, wenn sie folglich vermeinen, das Christenthum als Garantie der Moral nicht mehr nöthig zu haben, so ist dies selbst bloss die Fol g e der Herrschaft des christlichen Werthurtheils und ein Ausdruck von der St ä r k e und Tie f e dieser Herrschaft : so dass der Ursprung der englischen Moral vergessen worden ist, so dass das Sehr-Bedingte ihres Rechts auf Dasein nicht mehr empfunden wird. Für den Engländer ist die Moral noch kein Problem … | 6. G eor g e S a nd . – Ich las die ersten lettres d’un voyageur : wie Alles, was von Rousseau stammt, falsch, gemacht, Blasebalg, übertrieben. Ich halte diesen bunten Tapeten-Stil nicht aus ; ebensowenig als die Pöbel-Ambition nach generösen Gefühlen. Das Schlimmste freilich bleibt die Weibskoketterie mit Männlichkeiten, mit Manieren ungezogener Jungen. – Wie kalt muss sie bei alledem gewesen sein, diese unausstehliche Künstlerin ! Sie zog sich auf wie eine Uhr – und schrieb  … Kalt, wie Hugo, wie Balzac, wie alle Romantiker, sobald sie dichteten ! Und wie selbstgefällig sie dabei dagelegen haben mag, diese fruchtbare Schreibe-Kuh, die etwas Deutsches im schlimmen Sinne an sich hatte, gleich Rousseau selbst, ihrem Meister, und jedenfalls erst beim Niedergang des französischen Geschmacks möglich war ! – Aber Renan verehrt sie … 7. Mor a l f ü r P s yc holog e n . – Keine Colportage-Psychologie treiben ! Nie beobachten, u m zu beobachten ! Das giebt eine falsche Optik, ein Schielen, etwas Erzwungenes und Übertreibendes. Erleben als Erleben-Wol le n – das geräth nicht. Man d a r f nicht im Erlebniss nach sich hinblicken, jeder Blick wird da zum „bösen Blick“. Ein ge|borner Psycholog hütet

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sich aus Instinkt, zu sehn, um zu sehn ; dasselbe gilt vom gebornen Maler. Er arbeitet nie „nach der Natur“, – er überlässt seinem Instinkte, seiner camera obscura das Durchsieben und Ausdrücken des „Falls“, der „Natur“, des „Erlebten“  … Das A l l g e me i ne erst kommt ihm zum Bewusstsein, der Schluss, das Ergebniss : er kennt jenes willkürliche Abstrahiren vom einzelnen Falle nicht. – Was wird daraus, wenn man es anders macht ? Zum Beispiel nach Art der Pariser romanciers gross und klein Colportage-Psychologie treibt ? D a s lauert gleichsam der Wirklichkeit auf, d a s bringt jeden Abend eine Handvoll Curiositäten mit nach Hause … Aber man sehe nur, was zuletzt herauskommt – ein Haufen von Klecksen, ein Mosaik besten Falls, in jedem Falle etwas Zusammen-Addirtes, Unruhiges, Farbenschreiendes. Das Schlimmste darin erreichen die Goncourt : sie setzen nicht drei Sätze zusammen, die nicht dem Auge, dem P s yc holog e n -Auge einfach weh thun. – Die Natur, künstlerisch abgeschätzt, ist kein Modell. Sie übertreibt, sie verzerrt, sie lässt Lücken. Die Natur ist der Zu f a l l . Das Studium „nach der Natur“ scheint mir ein schlechtes Zeichen : es verräth Unterwerfung, Schwäche, Fatalismus, – dies Im-Staube-Liegen vor petits faits ist eines g a n z e n Künstlers unwürdig. Sehen, wa s i s t – das gehört einer andern Gattung von Geistern zu, den a n t i|a r t i s t i s c h e n , den Thatsächlichen. Man muss wissen, we r man ist … 8. Zu r Ps yc holog ie de s K ü n st ler s. – Damit es Kunst giebt, damit es irgend ein ästhetisches Thun und Schauen giebt, dazu ist eine physiologische Vorbedingung unumgänglich : der R au s c h . Der Rausch muss erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben : eher kommt es zu keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft : vor Allem der Rausch der Geschlechtserregung, diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches.

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Insgleichen der Rausch, der im Gefolge aller grossen Begierden, aller starken Affekte kommt ; der Rausch des Festes, des Wettkampfs, des Bravourstücks, des Siegs, aller extremen Bewegung ; der Rausch der Grausamkeit ; der Rausch in der Zerstörung ; der Rausch unter gewissen meteorologischen Einflüssen, zum Beispiel der Frühlingsrausch ; oder unter dem Einfluss der Narcotica ; endlich der Rausch des Willens, der Rausch eines überhäuften und geschwellten Willens. Das Wesentliche am Rausch ist das Gefühl der Kraftsteigerung und Fülle. Aus diesem Gefühle giebt man an die Dinge ab, man z w i n g t sie von uns zu nehmen, man vergewaltigt sie, – man heisst diesen Vorgang Id e a l i s i r e n . Machen wir uns | hier von einem Vorurtheil los : das Idealisiren besteht n ic ht , wie gemeinhin geglaubt wird, in einem Abziehn oder Abrechnen des Kleinen, des Nebensächlichen. Ein ungeheures He r au s t r e i b e n der Hauptzüge ist vielmehr das Entscheidende, so dass die andern darüber verschwinden. 9. Man bereichert in diesem Zustande Alles aus seiner eignen Fülle : was man sieht, was man will, man sieht es geschwellt, gedrängt, stark, überladen mit Kraft. Der Mensch dieses Zustandes verwandelt die Dinge, bis sie seine Macht wiederspiegeln, – bis sie Reflexe seiner Vollkommenheit sind. Dies Verwandeln-mü s s e n in’s Vollkommne ist – Kunst. Alles selbst, was er nicht ist, wird trotzdem ihm zur Lust an sich ; in der Kunst geniesst sich der Mensch als Vollkommenheit. – Es wäre erlaubt, sich einen gegensätzlichen Zustand auszudenken, ein spezifisches Antikünstlerthum des Instinkts, – eine Art zu sein, welche alle Dinge verarmte, verdünnte, schwindsüchtig machte. Und in der That, die Geschichte ist reich an solchen Anti-Artisten, an solchen Ausgehungerten des Lebens : welche mit Nothwendigkeit die Dinge noch an sich nehmen, sie auszehren, sie m a g e r e r machen müssen. Dies

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ist zum Beispiel der Fall des echten Christen, Pascal’s zum Beispiel : ein Christ, der zugleich Künstler wäre, k o m m t n ic ht | vor … Man sei nicht kindlich und wende mir Raffael ein oder irgend welche homöopathische Christen des neunzehnten Jahrhunderts : Raffael sagte Ja, Raffael m ac ht e Ja, folglich war Raffael kein Christ … 10. Was bedeutet der von mir in die Aesthetik eingeführte Gegensatz-Begriff a p ol l i n i s c h und d io ny s i s c h , beide als Arten des Rausches begriffen ? – Der apollinische Rausch hält vor Allem das Auge erregt, so dass es die Kraft der Vision bekommt. Der Maler, der Plastiker, der Epiker sind Visionäre par excellence. Im dionysischen Zustande ist dagegen das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert : so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandelns, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, n ic ht zu reagiren (– ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in je d e Rolle eintreten). Es ist dem dionysischen Menschen unmöglich, irgend eine Suggestion nicht zu verstehn, er übersieht kein Zeichen des Affekts, er hat den höchsten Grad des verstehenden und errathenden Instinkts, wie er den höchsten Grad von Mittheilungs-Kunst besitzt. Er geht in | jede Haut, in jeden Affekt ein : er verwandelt sich beständig. – Musik, wie wir sie heute verstehn, ist gleichfalls eine Gesammt-Erregung und -Entladung der Affekte, aber dennoch nur das Überbleibsel von einer viel volleren Ausdrucks-Welt des Affekts, ein blosses r e s id uu m des dionysischen Histrionismus. Man hat, zur Ermöglichung der Musik als Sonderkunst, eine Anzahl Sinne, vor Allem den Muskelsinn still gestellt (relativ wenigstens : denn in einem gewissen Grade redet noch aller Rhythmus zu

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unsern Muskeln) : so dass der Mensch nicht mehr Alles, was er fühlt, sofort leibhaft nachahmt und darstellt. Trotzdem ist D a s der eigentlich dionysische Normalzustand, jedenfalls der Urzustand ; die Musik ist die langsam erreichte Spezifi kation desselben auf Unkosten der nächstverwandten Vermögen. 11. Der Schauspieler, der Mime, der Tänzer, der Musiker, der Lyriker sind in ihren Instinkten grundverwandt und an sich Eins, aber allmählich spezialisirt und von einander abgetrennt – bis selbst zum Widerspruch. Der Lyriker blieb am längsten mit dem Musiker geeint ; der Schauspieler mit dem Tänzer. – Der A r c h it e k t stellt weder einen dionysischen, noch einen apollinischen Zustand dar : hier ist es der grosse Willensakt, der Wille, der Berge versetzt, der Rausch des grossen Willens, | der zur Kunst verlangt. Die mächtigsten Menschen haben immer die Architekten inspirirt ; der Architekt war stets unter der Suggestion der Macht. Im Bauwerk soll sich der Stolz, der Sieg über die Schwere, der Wille zur Macht versichtbaren ; Architektur ist eine Art Macht-Beredsamkeit in Formen, bald überredend, selbst schmeichelnd, bald bloss befehlend. Das höchste Gefühl von Macht und Sicherheit kommt in dem zum Ausdruck, was g r o s s e n St i l hat. Die Macht, die keinen Beweis mehr nöthig hat ; die es verschmäht, zu gefallen ; die schwer antwortet ; die keinen Zeugen um sich fühlt ; die ohne Bewusstsein davon lebt, dass es Widerspruch gegen sie giebt ; die in s ic h ruht, fatalistisch, ein Gesetz unter Gesetzen : D a s redet als grosser Stil von sich. – 12. Ich las das Leben T hom a s Ca rl yle’s , diese farce wider Wissen und Willen, diese heroisch-moralische Interpretation dyspeptischer Zustände. – Carlyle, ein Mann der starken Worte und Attitüden, ein Rhetor aus Not h , den beständig

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das Verlangen nach einem starken Glauben agaçirt u nd das Gefühl der Unfähigkeit dazu (– darin ein typischer Romantiker !). Das Verlangen nach einem starken Glauben ist n ic ht der Beweis eines starken Glaubens, vielmehr das Gegentheil. H a t m a n i h n , so darf man sich den schönen | Luxus der Skepsis gestatten : man ist sicher genug, fest genug, gebunden genug dazu. Carlyle betäubt Etwas in sich durch das fortissimo seiner Verehrung für Menschen starken Glaubens und durch seine Wuth gegen die weniger Einfältigen : er b e d a r f des Lärms. Eine beständige leidenschaftliche Un r e d l ic h k e it gegen sich – das ist sein proprium, damit ist und bleibt er interessant. – Freilich, in England wird er gerade wegen seiner Redlichkeit bewundert … Nun, das ist englisch ; und in Anbetracht, dass die Engländer das Volk des vollkommnen cant sind, sogar billig, und nicht nur begreiflich. Im Grunde ist Carlyle ein englischer Atheist, der seine Ehre darin sucht, es n ic ht zu sein. 13. E me r s o n . – Viel aufgeklärter, schweifender, vielfacher, raffinirter als Carlyle, vor Allem glücklicher … Ein Solcher, der sich instinktiv bloss von Ambrosia nährt, der das Unverdauliche in den Dingen zurücklässt. Gegen Carlyle gehalten ein Mann des Geschmacks. – Carlyle, der ihn sehr liebte, sagte trotzdem von ihm : „er giebt u n s nicht genug zu beissen“ : was mit Recht gesagt sein mag, aber nicht zu Ungunsten Emerson’s. – Emerson hat jene gütige und geistreiche Heiterkeit, welche allen Ernst entmuthigt ; er weiss es schlechterdings nicht, wie alt er schon ist und wie jung er noch sein wird, – er könnte von sich | mit einem Wort Lope de Vega’s sagen : ‚yo me sucedo a mi mismo‘. Sein Geist fi ndet immer Gründe, zufrieden und selbst dankbar zu sein ; und bisweilen streift er die heitere Transscendenz jenes Biedermanns, der von einem verliebten Stelldichein tamquam re bene gesta zurückkam. ‚Ut desint vires, sprach er dankbar, tamen est laudanda voluptas.‘ –

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14. A nt i-Da r w i n. – Was den berühmten „Kampf um’s Leben“ betriff t, so scheint er mir einstweilen mehr behauptet als bewiesen. Er kommt vor, aber als Ausnahme ; der GesammtAspekt des Lebens ist n ic ht die Nothlage, die Hungerlage, vielmehr der Reichthum, die Üppigkeit, selbst die absurde Verschwendung, – wo gekämpft wird, kämpft man um M a c ht  … Man soll nicht Malthus mit der Natur verwechseln. – Gesetzt aber, es giebt diesen Kampf – und in der That, er kommt vor –, so läuft er leider umgekehrt aus als die Schule Darwin’s wünscht, als man vielleicht mit ihr wünschen d ü r f t e : nämlich zu Ungunsten der Starken, der Bevorrechtigten, der glücklichen Ausnahmen. Die Gattungen wachsen n ic ht in der Vollkommenheit : die Schwachen werden immer wieder über die Starken Herr, – das macht, sie sind die grosse Zahl, sie sind auch k lü g e r  … Darwin hat den Geist vergessen (– das ist englisch !), d ie S c hw ac he n h a b e n me h r | G e i s t … Man muss Geist nöthig haben, um Geist zu bekommen, – man verliert ihn, wenn man ihn nicht mehr nöthig hat. Wer die Stärke hat, entschlägt sich des Geistes (– „lass fahren dahin ! denkt man heute in Deutschland – das R e ic h muss uns doch bleiben“ …). Ich verstehe unter Geist, wie man sieht, die Vorsicht, die Geduld, die List, die Verstellung, die grosse Selbstbeherrschung und Alles, was mimicry ist (zu letzterem gehört ein grosser Theil der sogenannten Tugend). 15. P s yc holog e n - Ca s u i s t i k . – Das ist ein Menschenkenner : wozu studirt er eigentlich die Menschen ? Er will kleine Vortheile über sie erschnappen, oder auch grosse, – er ist ein Politikus ! … Jener da ist auch ein Menschenkenner : und ihr sagt, der wolle Nichts damit für sich, das sei ein grosser „Unpersönlicher“. Seht schärfer zu ! Vielleicht will er sogar noch einen s c h l i m me r e n Vortheil : sich den Menschen überlegen

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fühlen, auf sie herabsehn dürfen, sich nicht mehr mit ihnen verwechseln. Dieser „Unpersönliche“ ist ein Menschen-Ve r äc ht e r : und jener Erstere ist die humanere Species, was auch der Augenschein sagen mag. Er stellt sich wenigstens gleich, er stellt sich h i ne i n  … | 16. Der psycholog ische Takt der Deutschen scheint mir durch eine ganze Reihe von Fällen in Frage gestellt, deren Verzeichniss vorzulegen mich meine Bescheidenheit hindert. In Einem Falle wird es mir nicht an einem grossen Anlasse fehlen, meine These zu begründen : ich trage es den Deutschen nach, sich über K a nt und seine „Philosophie der Hinterthüren“, wie ich sie nenne, vergriffen zu haben, – das war n ic ht der Typus der intellektuellen Rechtschaffenheit. – Das Andre, was ich nicht hören mag, ist ein berüchtigtes „und“ : die Deutschen sagen „Goethe u nd Schiller“, – ich fürchte, sie sagen „Schiller und Goethe“ … K e n nt man noch nicht diesen Schiller ? – Es giebt noch schlimmere „und“ ; ich habe mit meinen eigenen Ohren, allerdings nur unter Universitäts-Professoren, gehört „Schopenhauer u nd Hartmann“ … 17. Die geistigsten Menschen, vorausgesetzt, dass sie die muthigsten sind, erleben auch bei weitem die schmerzhaftesten Tragödien : aber eben deshalb ehren sie das Leben, weil es ihnen seine grösste Gegnerschaft entgegenstellt. | 18. Zu m „ i nt e l le k t ue l le n G ew i s s e n .“ – Nichts scheint mir heute seltner als die echte Heuchelei. Mein Verdacht ist gross, dass diesem Gewächs die sanfte Luft unsrer Cultur nicht zuträglich ist. Die Heuchelei gehört in die Zeitalter des starken Glaubens : wo man selbst nicht bei der Nöt h i g u n g , einen andern Glauben zur Schau zu tragen, von dem Glauben losliess,

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den man hatte. Heute lässt man ihn los ; oder, was noch gewöhnlicher, man legt sich noch einen zweiten Glauben zu, – e h rl ic h bleibt man in jedem Falle. Ohne Zweifel ist heute eine sehr viel grössere Anzahl von Überzeugungen möglich als ehemals : möglich, das heisst erlaubt, das heisst u n s c h ä d l ic h . Daraus entsteht die Toleranz gegen sich selbst. – Die Toleranz gegen sich selbst gestattet mehrere Überzeugungen : diese selbst leben verträglich beisammen, – sie hüten sich, wie alle Welt heute, sich zu compromittiren. Womit compromittirt man sich heute ? Wenn man Consequenz hat. Wenn man in gerader Linie geht. Wenn man weniger als fünfdeutig ist. Wenn man echt ist … Meine Furcht ist gross, dass der moderne Mensch für einige Laster einfach zu bequem ist : so dass diese geradezu aussterben. Alles Böse, das vom starken Willen bedingt ist – und vielleicht giebt es nichts Böses ohne Willensstärke – | entartet, in unsrer lauen Luft, zur Tugend … Die wenigen Heuchler, die ich kennen lernte, machten die Heuchelei nach : sie waren, wie heutzutage fast jeder zehnte Mensch, Schauspieler. – 19. S c hö n u nd h ä s s l ic h . – Nichts ist bedingter, sagen wir b e s c h r ä n k t e r, als unser Gefühl des Schönen. Wer es losgelöst von der Lust des Menschen am Menschen denken wollte, verlöre sofort Grund und Boden unter den Füssen. Das „Schöne an sich“ ist bloss ein Wort, nicht einmal ein Begriff. Im Schönen setzt sich der Mensch als Maass der Vollkommenheit ; in ausgesuchten Fällen betet er sich darin an. Eine Gattung k a n n gar nicht anders als dergestalt zu sich allein Ja sagen. Ihr u nt e r s t e r Instinkt, der der Selbsterhaltung und Selbsterweiterung‚ strahlt noch in solchen Sublimitäten aus. Der Mensch glaubt die Welt selbst mit Schönheit überhäuft‚ – er ve r g i s s t sich als deren Ursache. Er allein hat sie mit Schönheit beschenkt, ach ! nur mit einer sehr menschlichallzumenschlichen Schönheit … Im Grunde spiegelt sich der

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Mensch in den Dingen, er hält Alles für schön, was ihm sein Bild zurückwirft : das Urtheil „schön“ ist seine G at t u n g s E it e l k e it   … Dem Skeptiker nämlich darf ein kleiner Argwohn die Frage in’s Ohr flüstern : ist wirklich damit die Welt verschönt, dass gerade | der Mensch sie für schön nimmt ? Er hat sie ve r me n s c h l ic ht : das ist Alles. Aber Nichts, gar Nichts verbürgt uns, dass gerade der Mensch das Modell des Schönen abgäbe. Wer weiss, wie er sich in den Augen eines höheren Geschmacksrichters ausnimmt ? Vielleicht gewagt ? vielleicht selbst erheiternd ? vielleicht ein wenig arbiträr ? … „Oh Dionysos, Göttlicher, warum ziehst du mich an den Ohren ?“ fragte Ariadne einmal bei einem jener berühmten Zwiegespräche auf Naxos ihren philosophischen Liebhaber. „Ich fi nde eine Art Humor in deinen Ohren, Ariadne : warum sind sie nicht noch länger ?“ 20. Nichts ist schön, nur der Mensch ist schön : auf dieser Naivetät ruht alle Aesthetik, sie ist deren e r s t e Wahrheit. Fügen wir sofort noch deren zweite hinzu : Nichts ist hässlich als der e nt a r t e nd e Mensch, – damit ist das Reich des ästhetischen Urtheils umgrenzt. – Physiologisch nachgerechnet, schwächt und betrübt alles Hässliche den Menschen. Es erinnert ihn an Verfall, Gefahr, Ohnmacht ; er büsst thatsächlich dabei Kraft ein. Man kann die Wirkung des Hässlichen mit dem Dynamometer messen. Wo der Mensch überhaupt niedergedrückt wird, da wittert er die Nähe von etwas „Hässlichem“. Sein Gefühl der Macht, sein Wille zur Macht, sein Muth, sein Stolz – | das fällt mit dem Hässlichen, das steigt mit dem Schönen … Im einen wie im andern Falle m ac he n w i r e i ne n S c h lu s s : die Prämissen dazu sind in ungeheurer Fülle im Instinkte aufgehäuft. Das Hässliche wird verstanden als ein Wink und Symptom der Degenerescenz : was im Entferntesten an Degenerescenz erinnert, das wirkt in uns das Urtheil „hässlich“. Jedes Anzeichen von Erschöpfung, von Schwere,

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von Alter, von Müdigkeit, jede Art Unfreiheit, als Krampf, als Lähmung, vor Allem der Geruch, die Farbe, die Form der Auflösung, der Verwesung, und sei es auch in der letzten Verdünnung zum Symbol – das Alles ruft die gleiche Reaktion hervor, das Werthurtheil „hässlich“. Ein H a s s springt da hervor : wen hasst da der Mensch ? Aber es ist kein Zweifel : den N ie d e r g a n g s e i ne s Ty pu s . Er hasst da aus dem tiefsten Instinkte der Gattung heraus ; in diesem Hass ist Schauder, Vorsicht, Tiefe, Fernblick, – es ist der tiefste Hass, den es giebt. Um seinetwillen ist die Kunst t ie f … 21. S c hop e n h aue r. – Schopenhauer, der letzte Deutsche, der in Betracht kommt (– der ein eu r o p ä i s c he s Ereigniss gleich Goethe, gleich Hegel, gleich Heinrich Heine ist, und n ic ht blo s s ein lokales, ein „nationales“), ist für einen Psychologen ein Fall ersten Ranges : nämlich als bösartig | genialer Versuch, zu Gunsten einer nihilistischen Gesammt-Abwerthung des Lebens gerade die Gegen-Instanzen, die grossen Selbstbejahungen des „Willens zum Leben“, die Exuberanz-Formen des Lebens in’s Feld zu führen. Er hat, der Reihe nach, die K u n s t , den Heroismus, das Genie, die Schönheit, das grosse Mitgefühl, die Erkenntniss, den Willen zur Wahrheit, die Tragödie als Folgeerscheinungen der „Verneinung“ oder der Verneinungs-Bedürftigkeit des „Willens“ interpretirt – die grösste psychologische Falschmünzerei, die es, das Christenthum abgerechnet, in der Geschichte giebt. Genauer zugesehn ist er darin bloss der Erbe der christlichen Interpretation : nur dass er auch das vom Christenthum A bg e le h nt e, die grossen Cultur-Thatsachen der Menschheit noch in einem christlichen, das heisst nihilistischen Sinne g ut z u he i s s e n wusste (– nämlich als Wege zur „Erlösung“, als Vorformen der „Erlösung“, als Stimulantia des Bedürfnisses nach „Erlösung“ …)

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22. Ich nehme einen einzelnen Fall. Schopenhauer spricht von der S c hö n he it mit einer schwermüthigen Gluth, – warum letzten Grundes ? Weil er in ihr eine Br üc k e sieht, auf der man weiter gelangt, oder Durst bekommt, weiter zu gelangen … Sie ist ihm die Erlösung vom „Willen“ auf Augenblicke – sie lockt zur Erlösung für | immer … Insbesondere preist er sie als Erlöserin vom „Brennpunkte des Willen“, von der Geschlechtlichkeit, – in der Schönheit sieht er den Zeugetrieb ve r ne i nt … Wunderlicher Heiliger ! Irgend Jemand widerspricht dir, ich fürchte, es ist die Natur. Wo z u giebt es überhaupt Schönheit in Ton, Farbe, Duft, rhythmischer Bewegung in der Natur ? was t r e i bt die Schönheit he r au s ? – Glücklicherweise widerspricht ihm auch ein Philosoph. Keine geringere Autorität als die des göttlichen Plato (– so nennt ihn Schopenhauer selbst) hält einen andern Satz aufrecht : dass alle Schönheit zur Zeugung reize, – dass dies gerade das proprium ihrer Wirkung sei, vom Sinnlichsten bis hinauf in’s Geistigste … 23. Plato geht weiter. Er sagt mit einer Unschuld, zu der man Grieche sein muss und nicht „Christ“, dass es gar keine platonische Philosophie geben würde, wenn es nicht so schöne Jünglinge in Athen gäbe : deren Anblick sei es erst, was die Seele des Philosophen in einen erotischen Taumel versetze und ihr keine Ruhe lasse, bis sie den Samen aller hohen Dinge in ein so schönes Erdreich hinabgesenkt habe. Auch ein wunderlicher Heiliger ! – man traut seinen Ohren nicht, gesetzt selbst, dass man Plato traut. Zum Mindesten erräth man, dass in Athen a nd e r s philosophirt | wurde, vor Allem öffentlich. Nichts ist weniger griechisch als die Begriffs-Spinneweberei eines Einsiedlers, amor intellectualis dei nach Art des Spinoza. Philosophie nach Art des Plato wäre eher als ein erotischer Wettbewerb zu defi niren, als eine Fortbildung und Verinner-

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lichung der alten agonalen Gymnastik und deren Vor au s s et z u n g e n … Was wuchs zuletzt aus dieser philosophischen Erotik Plato’s heraus ? Eine neue Kunstform des griechischen Agon, die Dialektik. – Ich erinnere noch, g e g e n Schopenhauer und zu Ehren Plato’s, daran, dass auch die ganze höhere Cultur und Litteratur des k l a s s i s c he n Frankreichs auf dem Boden des geschlechtlichen Interesses aufgewachsen ist. Man darf überall bei ihr die Galanterie, die Sinne, den GeschlechtsWettbewerb, „das Weib“ suchen, – man wird nie umsonst suchen … 24. L’a r t pou r l ’a r t. – Der Kampf gegen den Zweck in der Kunst ist immer der Kampf gegen die mor a l i s i r e nd e Tendenz in der Kunst, gegen ihre Unterordnung unter die Moral. L’art pour l’art heisst : „der Teufel hole die Moral !“ – Aber selbst noch diese Feindschaft verräth die Übergewalt des Vorurtheils. Wenn man den Zweck des Moralpredigens und Menschen-Verbesserns von der Kunst ausgeschlossen hat, so folgt daraus | noch lange nicht, dass die Kunst überhaupt zwecklos, ziellos, sinnlos, kurz l’art pour l’art – ein Wurm, der sich in den Schwanz beisst – ist. „Lieber gar keinen Zweck als einen moralischen Zweck !“ – so redet die blosse Leidenschaft. Ein Psycholog fragt dagegen : was thut alle Kunst ? lobt sie nicht ? verherrlicht sie nicht ? wählt sie nicht aus ? zieht sie nicht hervor ? Mit dem Allen s t ä r k t oder s c hw äc ht sie gewisse Werthschätzungen … Ist dies nur ein Nebenbei ? ein Zufall ? Etwas, bei dem der Instinkt des Künstlers gar nicht betheiligt wäre ? Oder aber : ist es nicht die Voraussetzung dazu, dass der Künstler k a n n  … ? Geht dessen unterster Instinkt auf die Kunst oder nicht vielmehr auf den Sinn der Kunst, das L eb e n ? auf eine Wü n s c h b a r k e it vo n L eb e n ? – Die Kunst ist das grosse Stimulans zum Leben : wie könnte man sie als zwecklos, als ziellos, als l’art pour l’art verstehn ? – Eine Frage bleibt zurück : die Kunst bringt auch vieles Hässliche,

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Harte, Fragwürdige des Lebens zur Erscheinung, – scheint sie nicht damit vom Leben zu entleiden ? – Und in der That, es gab Philosophen, die ihr diesen Sinn liehn : „loskommen vom Willen“ lehrte Schopenhauer als Gesammt-Absicht der Kunst, „zur Resignation stimmen“ verehrte er als die grosse Nützlichkeit der Tragödie. – Aber dies – ich gab es schon zu verstehn – ist Pessimisten-Optik und „böser Blick“ – : man muss an die | Künstler selbst appelliren. Wa s t he i lt d e r t r a g i s c he K ü n s t le r vo n s ic h m it ? Ist es nicht gerade der Zustand oh ne Furcht vor dem Furchtbaren und Fragwürdigen, das er zeigt ? – Dieser Zustand selbst ist eine hohe Wünschbarkeit ; wer ihn kennt, ehrt ihn mit den höchsten Ehren. Er theilt ihn mit, er mu s s ihn mittheilen, vorausgesetzt, dass er ein Künstler ist, ein Genie der Mittheilung. Die Tapferkeit und Freiheit des Gefühls vor einem mächtigen Feinde, vor einem erhabenen Ungemach, vor einem Problem, das Grauen erweckt – dieser s ie g r e ic he Zustand ist es, den der tragische Künstler auswählt, den er verherrlicht. Vor der Tragödie feiert das Kriegerische in unserer Seele seine Saturnalien ; wer Leid gewohnt ist, wer Leid aufsucht, der he r oi s c he Mensch preist mit der Tragödie sein Dasein, – ihm allein kredenzt der Tragiker den Trunk dieser süssesten Grausamkeit. – 25. Mit Menschen fürlieb nehmen, mit seinem Herzen offen Haus halten, das ist liberal, das ist aber bloss liberal. Man erkennt die Herzen, die der vor ne h me n Gastfreundschaft fähig sind, an den vielen verhängten Fenstern und geschlossenen Läden : ihre besten Räume halten sie leer. Warum doch ? – Weil sie Gäste erwarten, mit denen man n ic ht „fürlieb nimmt“ … | 26. Wir schätzen uns nicht genug mehr, wenn wir uns mittheilen. Unsre eigentlichen Erlebnisse sind ganz und gar nicht

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geschwätzig. Sie könnten sich selbst nicht mittheilen, wenn sie wollten. Das macht, es fehlt ihnen das Wort. Wofür wir Worte haben, darüber sind wir auch schon hinaus. In allem Reden liegt ein Gran Verachtung : Die Sprache, scheint es, ist nur für Durchschnittliches, Mittleres, Mittheilsames erfunden. Mit der Sprache v u l g a r i s i r t sich bereits der Sprechende. – Aus einer Moral für Taubstumme und andere Philosophen. 27. „Dies Bildniss ist bezaubernd schön !“ … Das Litteratur-Weib, unbefriedigt, aufgeregt, öde in Herz und Eingeweide, mit schmerzhafter Neugierde jederzeit auf den Imperativ hinhorchend, der aus den Tiefen seiner Organisation „aut liberi aut libri“ flüstert : das Litteratur-Weib‚ gebildet genug, die Stimme der Natur zu verstehn, selbst wenn sie Latein redet und andrerseits eitel und Gans genug, um im Geheimen auch noch französisch mit sich zu sprechen „je me verrai, je me lirai, je m’extasierai et je dirai : Possible, que j’aie eu tant d’esprit ?“. 28. Die „Unpersön l ic hen“ kom men z u Wor t. – „Nichts fällt uns leichter, als weise, geduldig, über|legen zu sein. Wir triefen vom Oel der Nachsicht und des Mitgefühls‚ wir sind auf eine absurde Weise gerecht, wir verzeihen Alles. Eben darum sollten wir uns etwas strenger halten ; eben darum sollten wir uns, von Zeit zu Zeit, einen kleinen Affekt, ein kleines Laster von Affekt z üc ht e n . Es mag uns sauer angehn ; und unter uns lachen wir vielleicht über den Aspekt, den wir damit geben. Aber was hilft es ! Wir haben keine andre Art mehr übrig von Selbstüberwindung : dies ist u n s r e Asketik, u n s e r Büsserthum“ … Pe r s ö n l ic h we r d e n – die Tugend des „Unpersönlichen“ …

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29. Au s e i n e r D o c t or - P r omot io n . – „Was ist die Aufgabe alles höheren Schulwesens ?“ – Aus dem Menschen eine Maschine zu machen. – „Was ist das Mittel dazu ?“ – Er muss lernen, sich langweilen. – „Wie erreicht man das ?“ – Durch den Begriff der Pfl icht. – „Wer ist sein Vorbild dafür ?“ – Der Philolog : der lehrt o c h s e n . – „Wer ist der vollkommene Mensch ?“ – Der Staats-Beamte. – „Welche Philosophie giebt die höchste Formel für den Staats-Beamten ?“ – Die Kant’s : der Staats-Beamte als Ding an sich zum Richter gesetzt über den Staats-Beamten als Erscheinung. – 30. D a s R e c ht au f D u m m he it . – Der ermüdete und langsam athmende Arbeiter, der gut|müthig blickt, der die Dinge gehen lässt, wie sie gehn : diese typische Figur, der man jetzt, im Zeitalter der Arbeit (u nd des „Reichs“ ! –) in allen Klassen der Gesellschaft begegnet, nimmt heute gerade die K u n s t für sich in Anspruch, eingerechnet das Buch, vor Allem das Journal, – um wie viel mehr die schöne Natur, Italien … Der Mensch des Abends, mit den „entschlafenen wilden Trieben“, von denen Faust redet, bedarf der Sommerfrische, des Seebads, der Gletscher, Bayreuth’s  … In solchen Zeitaltern hat die Kunst ein Recht auf r e i ne T hor he it , – als eine Art Ferien für Geist, Witz und Gemüth. Das verstand Wagner. Die r e i ne T hor he it stellt wieder her … 31. No c h e i n P r o ble m d e r D i ä t . – Die Mittel, mit denen Julius Cäsar sich gegen Kränklichkeit und Kopfschmerz vertheidigte : ungeheure Märsche, einfachste Lebensweise, ununterbrochner Aufenthalt im Freien, beständige Strapazen – das sind, in’s Grosse gerechnet, die Erhaltungs- und SchutzMaassregeln überhaupt gegen die extreme Verletzlichkeit

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jener subtilen und unter höchstem Druck arbeitenden Maschine, welche Genie heisst. – 32. D e r I m mor a l i s t r e d et . – Einem Philosophen geht Nichts m e h r wider den Geschmack | als der Mensch, s of e r n e r w ü n s c h t   … Sieht er den Menschen nur in seinem Thun, sieht er dieses tapferste, listigste, ausdauerndste Thier verirrt selbst in labyrinthische Nothlagen, wie bewunderungswürdig erscheint ihm der Mensch ! Er spricht ihm noch zu … Aber der Philosoph verachtet den wünschenden Menschen, auch den „wünschbaren“ Menschen – und überhaupt alle Wünschbarkeiten, alle Id e a le des Menschen. Wenn ein Philosoph Nihilist sein könnte, so würde er es sein, weil er das Nichts hinter allen Idealen des Menschen fi ndet. Oder noch nicht einmal das Nichts, – sondern nur das Nichtswürdige, das Absurde, das Kranke, das Feige, das Müde, alle Art Hefen aus dem au s g et r u n k e ne n Becher seines Lebens … Der Mensch, der als Realität so verehrungswürdig ist, wie kommt es, dass er keine Achtung verdient, sofern er wünscht ? Muss er es büssen, so tüchtig als Realität zu sein ? Muss er sein Thun, die Kopf- und Willensanspannung in allem Thun, mit einem Gliederstrecken im Imaginären und Absurden ausgleichen ? – Die Geschichte seiner Wünschbarkeiten war bisher die partie honteuse des Menschen : man soll sich hüten, zu lange in ihr zu lesen. Was den Menschen rechtfertigt, ist seine Realität, – sie wird ihn ewig rechtfertigen. Um wie viel mehr werth ist der wirkliche Mensch, verglichen mit irgend einem bloss gewünschten, erträumten, erstunkenen und erlogenen Menschen ? | mit irgend einem id e a le n Menschen ? … Und nur der ideale Mensch geht dem Philosophen wider den Geschmack.

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33. Nat u r we r t h d e s E g oi s mu s . – Die Selbstsucht ist so viel werth, als Der physiologisch werth ist, der sie hat : sie kann sehr viel werth sein, sie kann nichtswürdig und verächtlich sein. Jeder Einzelne darf darauf hin angesehen werden, ob er die aufsteigende oder die absteigende Linie des Lebens darstellt. Mit einer Entscheidung darüber hat man auch einen Kanon dafür, was seine Selbstsucht werth ist. Stellt er das Aufsteigen der Linie dar, so ist in der That sein Werth ausserordentlich, – und um des Gesammt-Lebens willen, das mit ihm einen Schritt we it e r thut, darf die Sorge um Erhaltung, um Schaff ung seines optimum von Bedingungen selbst extrem sein. Der Einzelne, das „Individuum“, wie Volk und Philosoph das bisher verstand, ist ja ein Irrthum : er ist nichts für sich, kein Atom, kein „Ring der Kette“, nichts bloss Vererbtes von Ehedem, – er ist die ganze Eine Linie Mensch bis zu ihm hin selber noch … Stellt er die absteigende Entwicklung, den Verfall, die chronische Entartung, Erkrankung dar (– Krankheiten sind, in’s Grosse gerechnet, bereits Folgeerscheinungen des Verfalls, n ic ht dessen Ursachen), so kommt ihm wenig Werth zu, und | die erste Billigkeit will, dass er den Wohlgerathenen so wenig als möglich we g n i m mt . Er ist bloss noch deren Parasit … 34. C h r i s t u nd A n a r c h i s t . – Wenn der Anarchist, als Mundstück n i e d e r g e h e n d e r Schichten der Gesellschaft, mit einer schönen Entrüstung „Recht“, „Gerechtigkeit“, „gleiche Rechte“ verlangt, so steht er damit nur unter dem Drucke seiner Unkultur, welche nicht zu begreifen weiss, w a r u m er eigentlich leidet, – wor a n er arm ist, an Leben … Ein UrsachenTrieb ist in ihm mächtig : Jemand muss schuld daran sein, dass er sich schlecht befi ndet … Auch thut ihm die „schöne Entrüstung“ selber schon wohl, es ist ein Vergnügen für alle armen Teufel, zu schimpfen, – es giebt einen kleinen Rausch

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von Macht. Schon die Klage, das Sich-Beklagen, kann dem Leben einen Reiz geben, um dessentwillen man es aushält : eine feinere Dosis R ac he ist in jeder Klage, man wirft sein Schlechtbefi nden, unter Umständen selbst seine Schlechtigkeit Denen, die anders sind, wie ein Unrecht, wie ein u ne r l au bt e s Vorrecht vor. „Bin ich eine canaille‚ so solltest du es auch sein“ : auf diese Logik hin macht man Revolution. – Das Sich-Beklagen taugt in keinem Falle etwas : es stammt aus der Schwäche. Ob man sein Schlecht-Befi nden Andern oder s ic h s e l b e r zu|misst – Ersteres thut der Socialist, Letzteres zum Beispiel der Christ –, macht keinen eigentlichen Unterschied. Das Gemeinsame, sagen wir auch das Unw ü r d i g e daran ist, dass Jemand s c hu ld daran sein soll, dass man leidet – kurz, dass der Leidende sich gegen sein Leiden den Honig der Rache verordnet. Die Objekte dieses Rach-Bedürfnisses als eines Lu s t-Bedürfnisses sind Gelegenheits-Ursachen : der Leidende fi ndet überall Ursachen, seine kleine Rache zu kühlen, – ist er Christ, nochmals gesagt, so fi ndet er sie in s ic h  … Der Christ und der Anarchist – Beide sind décadents. – Aber auch wenn der Christ die „We lt“ verurtheilt, verleumdet, beschmutzt, so thut er es aus dem gleichen Instinkte, aus dem der socialistische Arbeiter die G e s e l l s c h a f t verurtheilt, verleumdet, beschmutzt : das „jüngste Gericht“ selbst ist noch der süsse Trost der Rache – die Revolution, wie sie auch der socialistische Arbeiter erwartet ; nur etwas ferner gedacht … Das „Jenseits“ selbst – wozu ein Jenseits, wenn es nicht ein Mittel wäre, das Diesseits zu beschmutzen ? … 35. K r it i k d e r D é c a d e nc e - Mor a l . – Eine „altruistische“ Moral, eine Moral, bei der die Selbstsucht verk ü m mer t –, bleibt unter allen Umständen ein schlechtes Anzeichen. Dies gilt vom Einzelnen, dies gilt namentlich von Völkern. Es | fehlt am Besten, wenn es an der Selbstsucht zu fehlen beginnt.

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Instinktiv das S i c h -Schädliche wählen, G e l o c k t-werden durch „uninteressirte“ Motive giebt beinahe die Formel ab für décadence. „Nicht s e i ne n Nutzen suchen“ – das ist bloss das moralische Feigenblatt für eine ganz andere, nämlich physiologische Thatsächlichkeit : „ich weiss meinen Nutzen nicht mehr zu f i nd e n“ … Disgregation der Instinkte ! – Es ist zu Ende mit ihm, wenn der Mensch altruistisch wird. – Statt naiv zu sagen, „ ic h bin nichts mehr werth“, sagt die Moral-Lüge im Munde des décadent : „Nichts ist etwas werth, – das L eb e n ist nichts werth“  … Ein solches Urtheil bleibt zuletzt eine grosse Gefahr, es wirkt ansteckend, – auf dem ganzen morbiden Boden der Gesellschaft wuchert es bald zu tropischer Begriffs-Vegetation empor, bald als Religion (Christenthum), bald als Philosophie (Schopenhauerei). Unter Umständen vergiftet eine solche aus Fäulniss gewachsene Giftbaum-Vegetation mit ihrem Dunste weithin, auf Jahrtausende hin d a s L eb e n … 36. Mor a l f ü r Ä r z t e. – Der Kranke ist ein Parasit der Gesellschaft. In einem gewissen Zustande ist es unanständig, noch länger zu leben. Das Fortvegetiren in feiger Abhängigkeit von Ärzten und Praktiken, nachdem der Sinn vom | Leben, das R e c ht zum Leben verloren gegangen ist, sollte bei der Gesellschaft eine tiefe Verachtung nach sich ziehn. Die Ärzte wiederum hätten die Vermittler dieser Verachtung zu sein, – nicht Recepte, sondern jeden Tag eine neue Dosis E k e l vor ihrem Patienten … Eine neue Verantwortlichkeit schaffen, die des Arztes, für alle Fälle, wo das höchste Interesse des Lebens, des au f s t e i g e n d e n Lebens, das rücksichtsloseste Niederund Beiseite-Drängen des e nt a r t e nd e n Lebens verlangt – zum Beispiel für das Recht auf Zeugung, für das Recht, geboren zu werden, für das Recht, zu leben … Auf eine stolze Art sterben, wenn es nicht mehr möglich ist, auf eine stolze Art zu leben. Der Tod, aus freien Stücken gewählt, der Tod zur rech-

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ten Zeit, mit Helle und Freudigkeit, inmitten von Kindern und Zeugen vollzogen : so dass ein wirkliches Abschiednehmen noch möglich ist, wo Der no c h d a i s t , der sich verabschiedet, insgleichen ein wirkliches Abschätzen des Erreichten und Gewollten, eine S u m m i r u n g des Lebens – Alles im Gegensatz zu der erbärmlichen und schauderhaften Komödie, die das Christenthum mit der Sterbestunde getrieben hat. Man soll es dem Christenthume nie vergessen, dass es die Schwäche des Sterbenden zu Gewissens-Nothzucht, dass es die Art des Todes selbst zu Werth-Urtheilen über Mensch und Vergangenheit gemissbraucht hat ! – | Hier gilt es, allen Feigheiten des Vorurtheils zum Trotz, vor Allem die richtige, das heisst physiologische Würdigung des sogenannten n a t ü r l i c h e n Todes herzustellen : der zuletzt auch nur ein „unnatürlicher“, ein Selbstmord ist. Man geht nie durch Jemand Anderes zu Grunde, als durch sich selbst. Nur ist es der Tod unter den verächtlichsten Bedingungen, ein unfreier Tod, ein Tod zur u n r e c ht e n Zeit, ein Feiglings-Tod. Man sollte, aus Liebe zum L eb e n –, den Tod anders wollen, frei, bewusst, ohne Zufall, ohne Überfall … Endlich ein Rath für die Herrn Pessimisten und andere décadents. Wir haben es nicht in der Hand, zu verhindern, geboren zu werden : aber wir können diesen Fehler – denn bisweilen ist es ein Fehler – wieder gut machen. Wenn man sich a b s c h a f f t , thut man die achtungswürdigste Sache, die es giebt : man verdient beinahe damit, zu leben … Die Gesellschaft, was sage ich ! das L eb e n selber hat mehr Vortheil davon, als durch irgend welches „Leben“ in Entsagung, Bleichsucht und andrer Tugend –, man hat die Andern von seinem Anblick befreit, man hat das Leben von einem E i nw a nd befreit … Der Pessimismus, pur, vert, b e we i s t s ic h e r s t durch die Selbst-Widerlegung der Herrn Pessi misten : man muss einen Schritt weiter gehn in seiner Logik, nicht bloss mit „Wille und Vorstellung“, wie Schopenhauer es that, das Leben verneinen –, man muss | S c ho p e n -

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h au e r n z u e r s t ve r n e i n e n   … Der Pessimismus, anbei gesagt, so ansteckend er ist, vermehrt trotzdem nicht die Krankhaftigkeit einer Zeit, eines Geschlechts im Ganzen : er ist deren Ausdruck. Man verfällt ihm, wie man der Cholera verfällt : man muss morbid genug dazu schon angelegt sein. Der Pessi mismus selbst macht keinen einzigen décadent mehr ; ich er innere an das Ergebniss der Statistik, dass die Jahre, in denen die Cholera wüthet, sich in der GesammtZiffer der Sterbefälle nicht von andern Jahrgängen unterscheiden. 37. O b w i r mor a l i s c he r g ewor d e n s i nd . – Gegen meinen Begriff „jenseits von Gut und Böse“ hat sich, wie zu erwarten stand, die ganze Fe r o c it ät der moralischen Verdummung, die bekanntlich in Deutschland als die Moral selber gilt –‚ in’s Zeug geworfen : ich hätte artige Geschichten davon zu erzählen. Vor Allem gab man mir die „unleugbare Überlegenheit“ unsrer Zeit im sittlichen Urtheil zu überdenken, unsern wirklich hier gemachten For t s c h r it t : ein Cesare Borgia sei, im Vergleich mit u n s , durchaus nicht als ein „höherer Mensch“, als eine Art Ü b e r me n s c h , wie ich es thue, aufzustellen … Ein Schweizer Redakteur, vom „Bund“‚ gieng so weit, nicht ohne seine Achtung vor dem Muth zu solchem Wagniss auszudrücken, den Sinn meines Werks dahin | zu „verstehn“‚ dass ich mit demselben die Abschaff ung aller anständigen Gefühle beantragte. Sehr verbunden ! – Ich erlaube mir, als Antwort, die Frage aufzuwerfen, o b w i r w i r k l ic h mor al i s c he r g ewor d e n s i nd . Dass alle Welt das glaubt, ist bereits ein Einwand dagegen … Wir modernen Menschen, sehr zart, sehr verletzlich und hundert Rücksichten gebend und nehmend, bilden uns in der That ein, diese zärtliche Menschlichkeit, die wir darstellen, diese e r r e ic ht e Einmüthigkeit in der Schonung, in der Hülfsbereitschaft, im gegenseitigen Vertrauen sei ein positiver Fortschritt, damit seien wir weit

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über die Menschen der Renaissance hinaus. Aber so denkt jede Zeit, so mu s s sie denken. Gewiss ist, dass wir uns nicht in Renaissance-Zustände hineinstellen dürften, nicht einmal hineindenken : unsre Nerven hielten jene Wirklichkeit nicht aus, nicht zu reden von unsern Muskeln. Mit diesem Unvermögen ist aber kein Fortschritt bewiesen, sondern nur eine andre, eine spätere Beschaffenheit, eine schwächere, zärtlichere, verletzlichere, aus der sich nothwendig eine r üc k s ic ht e n r e ic he Moral erzeugt. Denken wir unsre Zartheit und Spätheit, unsre physiologische Alterung weg, so verlöre auch unsre Moral der „Vermenschlichung“ sofort ihren Werth  – an sich hat keine Moral Werth – : sie würde uns selbst Geringschätzung machen. Zweifeln wir andrerseits nicht daran, dass wir Modernen mit unsrer dick wattirten | Humanität, die durchaus an keinen Stein sich stossen will, den Zeitgenossen Cesare Borgia’s eine Komödie zum Todtlachen abgeben würden. In der That, wir sind über die Maassen unfreiwillig spasshaft, mit unsren modernen „Tugenden“ … Die Abnahme der feindseligen und misstrauenweckenden Instinkte – und das wäre ja unser „Fortschritt“ – stellt nur eine der Folgen in der allgemeinen Abnahme der V it a l it ä t dar : es kostet hundert Mal mehr Mühe, mehr Vorsicht, ein so bedingtes, so spätes Dasein durchzusetzen. Da hilft man sich gegenseitig, da ist Jeder bis zu einem gewissen Grade Kranker und Jeder Krankenwärter. Das heisst dann „Tugend“ – : unter Menschen, die das Leben noch anders kannten, voller, verschwenderischer, überströmender, hätte man’s anders genannt, „Feigheit“ vielleicht, „Erbärmlichkeit“, „Altweiber-Moral“ … Unsre Milderung der Sitten – das ist mein Satz, das ist, wenn man will, meine Neue r u n g – ist eine Folge des Niedergangs ; die Härte und Schrecklichkeit der Sitte kann umgekehrt eine Folge des Überschusses von Leben sein : dann nämlich darf auch Viel gewagt, Viel herausgefordert, Viel auch ve r g eud e t werden. Was Würze ehedem des Lebens war, für uns

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wäre es G i f t  … Indifferent zu sein – auch das ist eine Form der Stärke  – dazu sind wir gleichfalls zu alt, zu spät : unsre Mitgefühls-Moral, vor der ich als der Erste | gewarnt habe, Das, was man l’impressionisme morale nennen könnte, ist ein Ausdruck mehr der physiologischen Überreizbarkeit, die Allem, was décadent ist, eignet. Jene Bewegung, die mit der M it le id s - Mor a l Schopenhauer’s versucht hat, sich wissenschaftlich vorzuführen – ein sehr unglücklicher Versuch ! – ist die eigentliche décadence-Bewegung in der Moral, sie ist als solche tief verwandt mit der christlichen Moral. Die starken Zeiten, die vo r n e h m e n Culturen sehen im Mitleiden, in der „Nächstenliebe“, im Mangel an Selbst und Selbstgefühl etwas Verächtliches. – Die Zeiten sind zu messen nach ihren p o s it i ve n K r ä f t e n – und dabei ergiebt sich jene so verschwenderische und verhängnissreiche Zeit der Renaissance als die letzte g r o s s e Zeit, und wir, wir Modernen mit unsrer ängstlichen Selbst-Fürsorge und Nächstenliebe, mit unsren Tugenden der Arbeit, der Anspruchslosigkeit, der Rechtlichkeit‚ der Wissenschaftlichkeit – sammelnd, ökonomisch, machinal – als eine s c hw a c h e Zeit  … Unsre Tugenden sind bedingt, sind he r au s g e f or d e r t durch unsre Schwäche … Die „Gleichheit“, eine gewisse thatsächliche Anähnlichung, die sich in der Theorie von „gleichen Rechten“ nur zum Ausdruck bringt, gehört wesentlich zum Niedergang : die Kluft zwischen Mensch und Mensch, Stand und Stand, die Vielheit der Typen, der Wille, selbst zu sein, sich abzu|heben, Das, was ich P at ho s d e r D i s t a n z nenne, ist jeder s t a r k e n Zeit zu eigen. Die Spannkraft, die Spannweite zwischen den Extremen wird heute immer kleiner, – die Extreme selbst verwischen sich endlich bis zur Ähnlichkeit … Alle unsre politischen Theorien u n d Staats-Verfassungen, das „deutsche Reich“ durchaus nicht ausgenommen, sind Folgerungen, Folge-Nothwendigkeiten des Niedergangs ; die unbewusste Wirkung der décadence ist bis in die Ideale einzelner Wissen-

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schaften hinein Herr geworden. Mein Einwand gegen die ganze Sociologie in England und Frankreich bleibt, dass sie nur die Ve r f a l l s - G eb i ld e der Societät aus Erfahrung kennt und vollkommen unschuldig die eigenen Verfalls-Instinkte als No r m des sociologischen Werthurtheils nimmt. Das n ie d e r g e he nd e Leben, die Abnahme aller organisirenden, das heisst trennenden, Klüfte aufreissenden, unter- und überordnenden Kraft formulirt sich in der Sociologie von heute zum Id e a l   … Unsre Socialisten sind décadents, aber auch Herr Herbert Spencer ist ein décadent, – er sieht im Sieg des Altruismus etwas Wünschenswerthes ! … 38. M e i n B e g r i f f vo n F r e i h e it . – Der Werth einer Sache liegt mitunter nicht in dem, was man mit ihr erreicht, sondern in dem, was man für sie bezahlt, – was sie uns k o s t et . Ich | gebe ein Beispiel. Die liberalen Institutionen hören alsbald auf, liberal zu sein, sobald sie erreicht sind : es giebt später keine ärgeren und gründlicheren Schädiger der Freiheit, als liberale Institutionen. Man weiss ja, w a s sie zu Wege bringen : sie unterminiren den Willen zur Macht, sie sind die zur Moral erhobene Nivellirung von Berg und Thal, sie machen klein, feige und genüsslich, – mit ihnen triumphirt jedesmal das Heerdenthier. Liberalismus : auf deutsch He e r d e n Ve r t h ie r u n g … Dieselben Institutionen bringen, so lange sie noch erkämpft werden, ganz andere Wirkungen hervor ; sie fördern dann in der That die Freiheit auf eine mächtige Weise. Genauer zugesehn, ist es der Krieg, der diese Wirkungen hervorbringt, der Krieg u m liberale Institutionen, der als Krieg die i l l i b e r a le n Instinkte dauern lässt. Und der Krieg erzieht zur Freiheit. Denn was ist Freiheit ! Dass man den Willen zur Selbstverantwortlichkeit hat. Dass man die Distanz, die uns abtrennt, festhält. Dass man gegen Mühsal, Härte, Entbehrung, selbst gegen das Leben gleichgültiger wird. Dass

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man bereit ist, seiner Sache Menschen zu opfern, sich selber nicht abgerechnet. Freiheit bedeutet, dass die männlichen, die kriegs- und siegsfrohen Instinkte die Herrschaft haben über andre Instinkte, zum Beispiel über die des „Glücks“. Der f r e i g e wo r d n e Mensch, um wie viel mehr der frei|gewordne G e i s t , tritt mit Füssen auf die verächt liche Art von Wohlbefi nden, von dem Krämer, Christen, Kühe, Weiber, Engländer und andre Demokraten träumen. Der freie Mensch ist K r ie g e r. – Wonach misst sich die Freiheit, bei Einzelnen, wie bei Völkern ? Nach dem Widerstand, der überwunden werden muss, nach der Mühe, die es kostet, o b e n zu bleiben. Den höchsten Typus freier Menschen hätte man dort zu suchen, wo beständig der höchste Widerstand überwunden wird : fünf Schritt weit von der Tyrannei, dicht an der Schwelle der Gefahr der Knechtschaft. Dies ist psychologisch wahr, wenn man hier unter den „Tyrannen“ unerbittliche und furchtbare Instinkte begreift, die das Maximum von Autorität und Zucht gegen sich herausfordern – schönster Typus Julius Caesar – ; dies ist auch politisch wahr, man mache nur seinen Gang durch die Geschichte. Die Völker, die Etwas werth waren, werth w u r d e n , wurden dies nie unter liberalen Institutionen : die g r o s s e G e f a h r machte Etwas aus ihnen, das Ehrfurcht verdient, die Gefahr, die uns unsre Hülfsmittel, unsre Tugenden, unsre Wehr und Waffen, unsern G e i s t erst kennen lehrt, – die uns z w i n g t , stark zu sein … E r s t e r Grundsatz : man muss es nöthig haben, stark zu sein : sonst wird man’s nie. – Jene grossen Treibhäuser für starke, für die stärkste Art Mensch, die es bisher gegeben hat, die aristo|kratischen Gemeinwesen in der Art von Rom und Venedig verstanden Freiheit genau in dem Sinne, wie ich das Wort Freiheit verstehe : als Etwas, das man hat und n ic ht hat, das man w i l l , das man e r o b e r t …

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39. K r it i k der Moder n ität. – Unsre Institutionen taugen nichts mehr : darüber ist man einmüthig. Aber das liegt nicht an ihnen, sondern an u n s . Nachdem uns alle Instinkte abhanden gekommen sind, aus denen Institutionen wachsen, kommen uns Institutionen überhaupt abhanden, weil w i r nicht mehr zu ihnen taugen. Demokratismus war jeder Zeit die Niedergangs-Form der organisirenden Kraft : ich habe schon in „Menschliches, Allzumenschliches“ I, 318 die moderne Demokratie sammt ihren Halbheiten, wie „deutsches Reich“, als Ve r f a l l s f or m d e s St a at s gekennzeichnet. Damit es Institutionen giebt, muss es eine Art Wille, Instinkt, Imperativ geben, antiliberal bis zur Bosheit : den Willen zur Tradition, zur Autorität, zur Verantwortlichkeit auf Jahrhunderte hinaus, zur S ol id a r it ät von Geschlechter-Ketten vorwärts und rückwärts in infi nitum. Ist dieser Wille da, so gründet sich Etwas wie das imperium Romanum : oder wie Russland, die e i n z i g e Macht, die heute Dauer im Leibe hat, die warten kann, die Etwas noch versprechen kann, – Russland der Gegensatz-|Begriff zu der erbärmlichen europäischen Kleinstaaterei und Nervosität, die mit der Gründung des deutschen Reichs in einen kritischen Zustand eingetreten ist  … Der ganze Westen hat jene Instinkte nicht mehr, aus denen Institutionen wachsen, aus denen Z u k u n f t wächst : seinem „modernen Geiste“ geht vielleicht Nichts so sehr wider den Strich. Man lebt für heute, man lebt sehr geschwind‚ – man lebt sehr unverantwortlich : dies gerade nennt man „Freiheit“. Was aus Institutionen Institutionen m ac ht , wird verachtet, gehasst, abgelehnt : man glaubt sich in der Gefahr einer neuen Sklaverei, wo das Wort „Autorität“ auch nur laut wird. So weit geht die décadence im Werth-Instinkte unsrer Politiker, unsrer politischen Parteien : s ie z ie h n i n s t i n k t i v vor, was auflöst, was das Ende beschleunigt … Zeugniss die mo d er ne E he. Aus der modernen Ehe ist ersichtlich alle Vernunft ab-

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handen gekommen : das giebt aber keinen Einwand gegen die Ehe ab, sondern gegen die Modernität. Die Vernunft der Ehe – sie lag in der juristischen Alleinverantwortlichkeit des Mannes : damit hatte die Ehe Schwergewicht, während sie heute auf beiden Beinen hinkt. Die Vernunft der Ehe – sie lag in ihrer principiellen Unlösbarkeit : damit bekam sie einen Accent, der, dem Zufall von Gefühl, Leidenschaft und Augenblick gegenüber, s ic h G e hör z u s c h a f f e n wusste. Sie lag insgleichen | in der Verantwortlichkeit der Familien für die Auswahl der Gatten. Man hat mit der wachsenden Indulgenz zu Gunsten der L i e b e s -Heirath geradezu die Grundlage der Ehe, Das, was erst aus ihr eine Institution m ac ht , eliminirt. Man gründet eine Institution nie und nimmermehr auf eine Idiosynkrasie, man gründet die Ehe n ic ht , wie gesagt, auf die „Liebe“, – man gründet sie auf den Geschlechtstrieb, auf den Eigenthumstrieb (Weib und Kind als Eigenthum), auf den H e r r s c h a f t s -Tr i e b, der sich beständig das kleinste Gebilde der Herrschaft, die Familie, organisirt, der Kinder und Erben b r au c ht , um ein erreichtes Maass von Macht, Einfluss, Reichthum auch physiologisch festzuhalten, um lange Aufgaben, um Instinkt-Solidarität zwischen Jahrhunderten vorzubereiten. Die Ehe als Institution begreift bereits die Bejahung der grössten, der dauerhaftesten Organisationsform in sich : wenn die Gesellschaft selbst nicht als Ganzes für sich g ut s a g e n kann bis in die fernsten Geschlechter hinaus, so hat die Ehe überhaupt keinen Sinn. – Die moderne Ehe ve rlor ihren Sinn, – folglich schaff t man sie ab. – 40. D ie A r b e it e r - Fr a g e. – Die Dummheit, im Grunde die Instinkt-Entartung, welche heute die Ursache a l le r Dummheiten ist, liegt darin, dass | es eine Arbeiter-Frage giebt. Über gewisse Dinge f r a g t m a n n ic ht : erster Imperativ des Instinktes. – Ich sehe durchaus nicht ab, was man mit dem euro-

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päischen Arbeiter machen will, nachdem man erst eine Frage aus ihm gemacht hat. Er befi ndet sich viel zu gut, um nicht Schritt für Schritt mehr zu fragen, unbescheidner zu fragen. Er hat zuletzt die grosse Zahl für sich. Die Hoff nung ist vollkommen vorüber, dass hier sich eine bescheidene und selbstgenügsame Art Mensch, ein Typus Chinese zum Stande herausbilde : und dies hätte Vernunft gehabt, dies wäre geradezu eine Nothwendigkeit gewesen. Was hat man gethan ? – Alles, um auch die Voraussetzung dazu im Keime zu vernichten, – man hat die Instinkte, vermöge deren ein Arbeiter als Stand möglich, s i c h s e l b e r möglich wird, durch die unverantwortlichste Gedankenlosigkeit in Grund und Boden zerstört. Man hat den Arbeiter militärtüchtig gemacht, man hat ihm das Coalitions-Recht, das politische Stimmrecht gegeben : was Wunder, wenn der Arbeiter seine Existenz heute bereits als Nothstand (moralisch ausgedrückt als Un r e c ht –) empfi ndet ? Aber was w i l l man ? nochmals gefragt. Will man einen Zweck, muss man auch die Mittel wollen : will man Sklaven, so ist man ein Narr, wenn man sie zu Herrn erzieht. – | 41. „Freiheit, die ich n ic ht meine …“ – In solchen Zeiten, wie heute, seinen Instinkten überlassen sein, ist ein Verhängniss mehr. Diese Instinkte widersprechen, stören sich, zerstören sich unter einander ; ich defi nirte das Mo d e r ne bereits als den physiologischen Selbst-Widerspruch. Die Vernunft der Erziehung würde wollen, dass unter einem eisernen Drucke wenigstens Eins dieser Instinkt-Systeme p a r a l y s i r t würde, um einem andren zu erlauben, zu Kräften zu kommen, stark zu werden, Herr zu werden. Heute müsste man das Individuum erst möglich machen, indem man dasselbe b e s c h ne i d et : möglich, das heisst g a n z … Das Umgekehrte geschieht : der Anspruch auf Unabhängigkeit, auf freie Entwicklung, auf laisser aller wird gerade von Denen am hitzigsten gemacht,

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für die kein Zügel z u s t r e n g w ä r e – dies gilt in politicis, dies gilt in der Kunst. Aber das ist ein Symptom der d é c ad e nc e : unser moderner Begriff „Freiheit“ ist ein Beweis von Instinkt-Entartung mehr. – 42. Wo G l au b e not h t hut . – Nichts ist seltner unter Moralisten und Heiligen als Rechtschaffenheit ; vielleicht sagen sie das Gegentheil, vielleicht g l au b e n sie es selbst. Wenn nämlich ein Glaube nützlicher, wirkungsvoller, überzeugender ist, als | die b ew u s s t e Heuchelei, so wird, aus Instinkt, die Heuchelei alsbald zur Un s c hu ld : erster Satz zum Verständniss grosser Heiliger. Auch bei den Philosophen, einer andren Art von Heiligen, bringt es das ganze Handwerk mit sich, dass sie nur gewisse Wahrheiten zulassen : nämlich solche, auf die hin ihr Handwerk die öf fe nt l ic he Sanktion hat, – Kantisch geredet, Wahrheiten der p r a k t i s c he n Vernunft. Sie wissen, was sie beweisen mü s s e n , darin sind sie praktisch, – sie erkennen sich unter einander daran, dass sie über die „Wahrheiten“ übereinstimmen. – „Du sollst nicht lügen“ – auf deutsch : hüten Sie sic h, mein Herr Philosoph, die Wahrheit zu sagen … 43. Den Conser vativen i n’s Ohr gesag t. – Was man früher nicht wusste, was man heute weiss, wissen könnte –, eine R üc k b i ld u n g , eine Umkehr in irgend welchem Sinn und Grade ist gar nicht möglich. Wir Physiologen wenigstens wissen das. Aber alle Priester und Moralisten haben daran geglaubt, – sie wol lt e n die Menschheit auf ein f r ü he r e s Maass von Tugend zurückbringen, zurück sc h rauben. Moral war immer ein Prokrustes-Bett. Selbst die Politiker haben es darin den Tugendpredigern nachgemacht : es giebt auch heute noch Parteien, die als Ziel den K r eb s g a n g aller Dinge träumen. Aber es steht | Niemandem frei, Krebs zu sein. Es hilft nichts : man mu s s vorwärts, will sagen Sc h r it t f ü r Sc h r it t

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weiter i n der déc adence (– dies me i ne Defi nition des modernen „Fortschritts“  …). Man kann diese Entwicklung h e m m e n und, durch Hemmung, die Entartung selber stauen, aufsammeln, vehementer und plöt z l ic he r machen : mehr kann man nicht. – 44. Mei n Beg r i f f vom Gen ie. – Grosse Männer sind wie grosse Zeiten Explosiv-Stoffe, in denen eine ungeheure Kraft aufgehäuft ist ; ihre Voraussetzung ist immer, historisch und physiologisch, dass lange auf sie hin gesammelt, gehäuft, gespart und bewahrt worden ist, – dass lange keine Explosion stattfand. Ist die Spannung in der Masse zu gross geworden, so genügt der zufälligste Reiz, das „Genie“, die „That“, das grosse Schicksal in die Welt zu rufen. Was liegt dann an Umgebung, an Zeitalter, an „Zeitgeist“, an „öffentlicher Meinung“ ! – Man nehme den Fall Napoleon’s. Das Frankreich der Revolution, und noch mehr das der Vor-Revolution, würde aus sich den entgegengesetzten Typus, als der Napoleon’s ist, hervorgebracht haben : es h at ihn auch hervorgebracht. Und weil Napoleon a n d e r s war, Erbe einer stärkeren, längeren, älteren Civilisation als die, welche in Frankreich | in Dampf und Stücke gieng, wurde er hier Herr, wa r er allein hier Herr. Die grossen Menschen sind nothwendig, die Zeit, in der sie erscheinen, ist zufällig ; dass sie fast immer über dieselbe Herr werden, liegt nur darin, dass sie stärker, dass sie älter sind, dass länger auf sie hin gesammelt worden ist. Zwischen einem Genie und seiner Zeit besteht ein Verhältniss, wie zwischen stark und schwach, auch wie zwischen alt und jung : die Zeit ist relativ immer viel jünger, dünner, unmündiger, unsicherer, kindischer. – Dass man hierüber in Frankreich heute s e h r a nd e r s denkt (in Deutschland auch : aber daran liegt nichts), dass dort die Theorie vom milieu, eine wahre Neurotiker-Theorie, sakrosankt und beinahe wissenschaftlich geworden ist und bis unter die Physiologen Glauben fi ndet, das „riecht nicht gut“,

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das macht Einem traurige Gedanken. – Man versteht es auch in England nicht anders, doch darüber wird sich kein Mensch betrüben. Dem Engländer stehen nur zwei Wege offen, sich mit dem Genie und „grossen Manne“ abzufi nden : entweder d e mok r at i s c h in der Art Buckle’s oder r e l i g iö s in der Art Carlyle’s. – Die G e f a h r, die in grossen Menschen und Zeiten liegt, ist ausserordentlich ; die Erschöpfung jeder Art, die Sterilität folgt ihnen auf dem Fusse. Der grosse Mensch ist ein Ende ; die grosse Zeit, die Renaissance zum Beispiel, ist ein Ende. Das Genie – in Werk, in | That – ist nothwendig ein Verschwender : d a s s e s s ic h au s g iebt , ist seine Grösse … Der Instinkt der Selbsterhaltung ist gleichsam ausgehängt ; der übergewaltige Druck der ausströmenden Kräfte verbietet ihm jede solche Obhut und Vorsicht. Man nennt das „Aufopferung“ ; man rühmt seinen „Heroismus“ darin, seine Gleichgültigkeit gegen das eigne Wohl, seine Hingebung für eine Idee, eine grosse Sache, ein Vaterland : Alles Missverständnisse … Er strömt aus, er strömt über, er verbraucht sich, er schont sich nicht, – mit Fatalität‚ verhängnissvoll, unfreiwillig, wie das Ausbrechen eines Flusses über seine Ufer unfreiwillig ist. Aber weil man solchen Explosiven viel verdankt, hat man ihnen auch viel dagegen geschenkt, zum Beispiel eine Art höhe r e r Mor a l … Das ist ja die Art der menschlichen Dankbarkeit : sie m i s s ve r s t e ht ihre Wohlthäter. – 45. D e r Ve r b r e c he r u n d w a s i h m ve r w a n d t i s t . – Der Verbrecher-Typus, das ist der Typus des starken Menschen unter ungünstigen Bedingungen, ein krank gemachter starker Mensch. Ihm fehlt die Wildniss, eine gewisse freiere und gefährlichere Natur und Daseinsform, in der Alles, was Waffe und Wehr im Instinkt des starken Menschen ist, z u Rec ht bes t e ht . Seine Tu g e nd e n sind von der Gesellschaft in Bann | gethan ; seine lebhaftesten Triebe, die er mitgebracht hat, ver-

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wachsen alsbald mit den niederdrückenden Affekten‚ mit dem Verdacht, der Furcht, der Unehre. Aber dies ist beinahe das R e c e pt zur physiologischen Entartung. Wer Das, was er am besten kann, am liebsten thäte, heimlich thun muss, mit langer Spannung, Vorsicht, Schlauheit, wird anämisch ; und weil er immer nur Gefahr, Verfolgung, Verhängniss von seinen Instinkten her erntet, verkehrt sich auch sein Gefühl gegen diese Instinkte – er fühlt sie fatalistisch. Die Gesellschaft ist es, unsre zahme, mittelmässige, verschnittene Gesellschaft, in der ein naturwüchsiger Mensch, der vom Gebirge her oder aus den Abenteuern des Meeres kommt, nothwendig zum Verbrecher entartet. Oder beinahe nothwendig : denn es giebt Fälle, wo ein solcher Mensch sich stärker erweist als die Gesellschaft : der Corse Napoleon ist der berühmteste Fall. Für das Problem, das hier vorliegt, ist das Zeugniss Dostoiewsky’s von Belang – Dostoiewsky’s, des einzigen Psychologen, anbei gesagt, von dem ich Etwas zu lernen hatte : er gehört zu den schönsten Glücksfällen meines Lebens, mehr selbst noch als die Entdeckung Stendhal’s. Dieser t ie f e Mensch, der zehn Mal Recht hatte, die oberflächlichen Deutschen gering zu schätzen, hat die sibirischen Zuchthäusler, in deren Mitte er lange lebte, lauter schwere Verbrecher, für die es keinen | Rückweg zur Gesellschaft mehr gab, sehr anders empfunden als er selbst erwartete – ungefähr als aus dem besten, härtesten und werthvollsten Holze geschnitzt, das auf russischer Erde überhaupt wächst. Verallgemeinern wir den Fall des Verbrechers : denken wir uns Naturen, denen, aus irgend einem Grunde, die öffentliche Zustimmung fehlt, die wissen, dass sie nicht als wohlthätig, als nützlich empfunden werden, – jenes Tschandala-Gefühl, dass man nicht als gleich gilt, sondern als ausgestossen, unwürdig, verunreinigend. Alle solche Naturen haben die Farbe des Unterirdischen auf Gedanken und Handlungen ; an ihnen wird Jegliches bleicher als an Solchen, auf deren Dasein das Tageslicht ruht. Aber fast alle Existenz-

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formen, die wir heute auszeichnen, haben ehemals unter dieser halben Grabesluft gelebt : der wissenschaftliche Charakter, der Artist, das Genie, der freie Geist, der Schauspieler, der Kaufmann, der grosse Entdecker  … So lange der P r ie s t e r als oberster Typus galt, war je d e werthvolle Art Mensch entwerthet … Die Zeit kommt – ich verspreche das – wo er als der n ie d r i g s t e gelten wird, als u n s e r Tschandala, als die verlogenste, als die unanständigste Art Mensch … Ich richte die Aufmerksamkeit darauf, wie noch jetzt, unter dem mildesten Regiment der Sitte, das je auf Erden, zum Mindesten in Europa, geherrscht hat, jede Abseitigkeit, jedes | lange, allzulange Unt e r h a l b, jede ungewöhn liche, undurchsichtige Daseinsform jenem Typus nahe bringt, den der Verbrecher vollendet. Alle Neuerer des Geistes haben eine Zeit das fahle und fatalistische Zeichen des Tschandala auf der Stirn : n ic ht , weil sie so empfunden würden, sondern weil sie selbst die furchtbare Kluft fühlen, die sie von allem Herkömmlichen und in Ehren Stehenden trennt. Fast jedes Genie kennt als eine seiner Entwicklungen die „catilinarische Existenz“, ein Hass-, Rache- und Aufstands-Gefühl gegen Alles, was schon i s t , was nicht mehr w i r d … Catilina – die Präexistenz-Form je d e s Caesar. – 46. H ier i st d ie Au s s ic ht f r ei. – Es kann Höhe der Seele sein, wenn ein Philosoph schweigt ; es kann Liebe sein, wenn er sich widerspricht ; es ist eine Höflichkeit des Erkennenden möglich, welche lügt. Man hat nicht ohne Feinheit gesagt : il est indigne des grands coeurs de répandre le trouble, qu’ils ressentent : nur muss man hinzufügen, dass vor d e m Un w ü r d i g s t e n sich nicht zu fürchten ebenfalls Grösse der Seele sein kann. Ein Weib, das liebt, opfert seine Ehre ; ein Erkennender, welcher „liebt“, opfert vielleicht seine Menschlichkeit ; ein Gott, welcher liebte, ward Jude … |

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47. D ie S c hö n he it k e i n Zu f a l l . – Auch die Schönheit einer Rasse oder Familie, ihre Anmuth und Güte in allen Gebärden wird erarbeitet : sie ist, gleich dem Genie, das Schlussergebniss der accumulirten Arbeit von Geschlechtern. Man muss dem guten Geschmacke grosse Opfer gebracht haben, man muss um seinetwillen Vieles gethan, Vieles gelassen haben – das siebzehnte Jahrhundert Frankreichs ist bewunderungswürdig in Beidem –, man muss in ihm ein Princip der Wahl, für Gesellschaft, Ort, Kleidung, Geschlechtsbefriedigung gehabt haben, man muss Schönheit dem Vortheil, der Gewohnheit, der Meinung, der Trägheit vorgezogen haben. Oberste Richtschnur : man muss sich auch vor sich selber nicht „gehen lassen“. – Die guten Dinge sind über die Maassen kostspielig : und immer gilt das Gesetz, dass wer sie h at , ein Andrer ist, als wer sie e r w i r bt . Alles Gute ist Erbschaft : was nicht ererbt ist, ist unvollkommen, ist Anfang … In Athen waren zur Zeit Cicero’s, der darüber seine Überraschung ausdrückt, die Männer und Jünglinge bei weitem den Frauen an Schönheit überlegen : aber welche Arbeit und Anstrengung im Dienste der Schönheit hatte daselbst das männliche Geschlecht seit Jahrhunderten von sich verlangt ! – Man soll sich nämlich über die Methodik hier nicht vergreifen : | eine blosse Zucht von Gefühlen und Gedanken ist beinahe Null (– hier liegt das grosse Missverständniss der deutschen Bildung, die ganz illusorisch ist) : man muss den L e i b zuerst überreden. Die strenge Aufrechterhaltung bedeutender und gewählter Gebärden, eine Verbindlichkeit, nur mit Menschen zu leben, die sich nicht „gehen lassen“, genügt vollkommen, um bedeutend und gewählt zu werden : in zwei, drei Geschlechtern ist bereits Alles ve r i n ne rl ic ht . Es ist entscheidend über das Loos von Volk und Menschheit, dass man die Cultur an der r e c ht e n St e l le beginnt – n ic ht an der „Seele“ (wie es der verhängnissvolle Aberglaube der Priester und Halb-Priester war) : die

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rechte Stelle ist der Leib, die Gebärde, die Diät, die Physiologie, der R e s t folgt daraus … Die Griechen bleiben deshalb das e r s t e C u lt u r - E r e i g n i s s der Geschichte – sie wussten, sie t h at e n , was Noth that ; das Christenthum, das den Leib verachtete, war bisher das grösste Unglück der Menschheit. – 48. Fo r t s c h r i t t i n m e i n e m S i n n e . – Auch ich rede von „Rückkehr zur Natur“, obwohl es eigentlich nicht ein Zurückgehn, sondern ein H i n au f k om me n ist – hinauf in die hohe, freie, selbst furchtbare Natur und Natürlichkeit, eine solche, die mit grossen Aufgaben spielt, spielen | d a r f … Um es im Gle ic h n i s s zu sagen : Napoleon war ein Stück „Rückkehr zur Natur“, so wie ich sie verstehe (zum Beispiel in rebus tacticis, noch mehr, wie die Militärs wissen, im Strategischen). – Aber Rousseau – wohin wollte d e r eigentlich zurück ? Rousseau, dieser erste moderne Mensch, Idealist und canaille in Einer Person ; der die moralische „Würde“ nöthig hatte, um seinen eignen Aspekt auszuhalten ; krank vor zügelloser Eitelkeit und zügelloser Selbstverachtung. Auch diese Missgeburt, welche sich an die Schwelle der neuen Zeit gelagert hat, wollte „Rückkehr zur Natur“ – wohin, nochmals gefragt, wollte Rousseau zurück ? – Ich hasse Rousseau noch i n der Revolution : sie ist der welthistorische Ausdruck für diese Doppelheit von Idealist und canaille. Die blutige farce, mit der sich diese Revolution abspielte, ihre „Immoralität“, geht mich wenig an : was ich hasse, ist ihre Rousseau’sche Mor a l it ät – die sogenannten „Wahrheiten“ der Revolution, mit denen sie immer noch wirkt und alles Flache und Mittelmässige zu sich überredet. Die Lehre von der Gleichheit ! … Aber es giebt gar kein giftigeres Gift : denn sie s c he i nt von der Gerechtigkeit selbst gepredigt, während sie das E nd e der Gerechtigkeit ist … „Den Gleichen Gleiches, den Ungleichen Ungleiches – d a s wäre die wahre Rede der Gerechtigkeit : und, was daraus folgt, Unglei-

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ches niemals gleich machen.“ – Dass es um | jene Lehre von der Gleichheit herum so schauerlich und blutig zugieng, hat dieser „modernen Idee“ par excellence eine Art Glorie und Feuerschein gegeben, so dass die Revolution als S c h au s p ie l auch die edelsten Geister verführt hat. Das ist zuletzt kein Grund, sie mehr zu achten. – Ich sehe nur Einen, der sie empfand, wie sie empfunden werden muss, mit E k e l – Goethe … 49. G o et he – kein deutsches Ereigniss, sondern ein europäisches : ein grossartiger Versuch, das achtzehnte Jahrhundert zu überwinden durch eine Rückkehr zur Natur, durch ein H i n au fkommen zur Natürlichkeit der Renaissance, eine Art Selbstüberwindung von Seiten dieses Jahrhunderts. – Er trug dessen stärkste Instinkte in sich : die Gefühlsamkeit, die Natur-Idolatrie, das Antihistorische, das Idealistische, das Unreale und Revolutionäre (– letzteres ist nur eine Form des Unrealen). Er nahm die Historie, die Naturwissenschaft, die Antike, insgleichen Spinoza zu Hülfe, vor Allem die praktische Thätigkeit ; er umstellte sich mit lauter geschlossenen Horizonten ; er löste sich nicht vom Leben ab, er stellte sich hinein ; er war nicht verzagt und nahm so viel als möglich auf sich, über sich, in sich. Was er wollte, das war Tot a l it ät ; er bekämpfte das Auseinander von Vernunft, Sinnlichkeit, Gefühl, Wille (– in ab|schreckendster Scholastik durch K a nt gepredigt, den Antipoden Goethe’s), er disciplinirte sich zur Ganzheit, er s c hu f sich … Goethe war, inmitten eines unreal gesinnten Zeitalters ein überzeugter Realist : er sagte Ja zu Allem, was ihm hierin verwandt war, – er hatte kein grösseres Erlebniss als jenes ens realissimum, genannt Napoleon. Goethe concipirte einen starken, hochgebildeten, in allen Leiblichkeiten geschickten, sich selbst im Zaume habenden, vor sich selber ehrfürchtigen Menschen, der sich den ganzen Umfang und Reichthum der Natürlichkeit zu gönnen wagen darf, der stark genug zu dieser

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Freiheit ist ; den Menschen der Toleranz, nicht aus Schwäche, sondern aus Stärke, weil er Das, woran die durchschnittliche Natur zu Grunde gehn würde, noch zu seinem Vortheile zu brauchen weiss ; den Menschen, für den es nichts Verbotenes mehr giebt, es sei denn die S c hw äc he, heisse sie nun Laster oder Tugend … Ein solcher f r e i g ewor d ne r Geist steht mit einem freudigen und vertrauenden Fatalismus mitten im All, im G l au b e n , dass nur das Einzelne verwerflich ist, dass im Ganzen sich Alles erlöst und bejaht – e r ve r n e i nt n ic ht me h r  … Aber ein solcher Glaube ist der höchste aller möglichen Glauben : ich habe ihn auf den Namen des D io ny s o s getauft. – | 50. Man könnte sagen, dass in gewissem Sinne das neunzehnte Jahrhundert Das alles auc h erstrebt hat, was Goethe als Person erstrebte : eine Universalität im Verstehn, im Gutheissen, ein An-sich-heran-kommen-lassen von Jedwedem, einen verwegnen Realismus, eine Ehrfurcht vor allem Thatsächlichen. Wie kommt es, dass das Gesammt-Ergebniss kein Goethe, sondern ein Chaos ist, ein nihilistisches Seufzen, ein Nichtwissen-wo-aus-noch-ein, ein Instinkt von Ermüdung, der in praxi fortwährend dazu treibt, z u m ac ht z e h nt e n Ja h r hu nd e r t z u r üc k z u g r e i f e n ? (– zum Beispiel als GefühlsRomantik, als Altruismus und Hyper-Sentimentalität, als Femininismus im Geschmack, als Socialismus in der Politik). Ist nicht das neunzehnte Jahrhundert, zumal in seinem Ausgange, bloss ein verstärktes ve r r oht e s achtzehntes Jahrhundert, das heisst ein d é c a d e nc e -Jahrhundert ? So dass Goethe nicht bloss für Deutschland, sondern für ganz Europa bloss ein Zwischenfall, ein schönes Umsonst gewesen wäre ? – Aber man missversteht grosse Menschen, wenn man sie aus der armseligen Perspektive eines öffentlichen Nutzens ansieht. Dass man keinen Nutzen aus ihnen zu ziehn weiss, d a s g e hör t s e l b s t v ie l le ic ht z u r Gr ö s s e … |

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51. Goethe ist der letzte Deutsche, vor dem ich Ehrfurcht habe : er hätte drei Dinge empfunden, die ich empfi nde, – auch verstehen wir uns über das „Kreuz“  … Man fragt mich öfter, wozu ich eigentlich d eut s c h schriebe : nirgendswo würde ich schlechter gelesen, als im Vaterlande. Aber wer weiss zuletzt, ob ich auch nur w ü n s c he, heute gelesen zu werden ? – Dinge schaffen, an denen umsonst die Zeit ihre Zähne versucht ; der Form nach, d e r S u b s t a n z n ac h um eine kleine Unsterblichkeit bemüht sein – ich war noch nie bescheiden genug, weniger von mir zu verlangen. Der Aphorismus, die Sentenz, in denen ich als der Erste unter Deutschen Meister bin, sind die Formen der „Ewigkeit“ ; mein Ehrgeiz ist, in zehn Sätzen zu sagen, was jeder Andre in einem Buche sagt, – was jeder Andre in einem Buche n ic ht sagt … Ich habe der Menschheit das tiefste Buch gegeben, das sie besitzt, meinen Z a r at hu s t r a : ich gebe ihr über kurzem das unabhängigste. – |

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1. Zum Schluss ein Wort über jene Welt, zu der ich Zugänge gesucht, zu der ich vielleicht einen neuen Zugang gefunden habe – die alte Welt. Mein Geschmack, der der Gegensatz eines duldsamen Geschmacks sein mag, ist auch hier fern davon, in Bausch und Bogen Ja zu sagen : er sagt überhaupt nicht gern Ja, lieber noch Nein, am allerliebsten gar nichts … Das gilt von ganzen Culturen, das gilt von Büchern, – es gilt auch von Orten und Landschaften. Im Grunde ist es eine ganz kleine Anzahl antiker Bücher, die in meinem Leben mitzählen ; die berühmtesten sind nicht darunter. Mein Sinn für Stil, für das Epigramm als Stil erwachte fast augenblicklich bei der Berührung mit Sallust. Ich habe das Erstaunen meines verehrten Lehrers Corssen nicht vergessen, als er seinem schlechtesten Lateiner die allererste | Censur geben musste –, ich war mit Einem Schlage fertig. Gedrängt, streng, mit so viel Substanz als möglich auf dem Grunde, eine kalte Bosheit gegen das „schöne Wort“‚ auch das „schöne Gefühl“ – daran errieth ich mich. Man wird, bis in meinen Zarathustra hinein, eine sehr ernsthafte Ambition nach r öm i s c he m Stil, nach dem ‚aere perennius‘ im Stil bei mir wiedererkennen. – Nicht anders ergieng es mir bei der ersten Berührung mit Horaz. Bis heute habe ich an keinem Dichter dasselbe artistische Entzükken gehabt, das mir von Anfang an eine Horazische Ode gab. In gewissen Sprachen ist Das, was hier erreicht ist, nicht einmal zu wol le n . Dies Mosaik von Worten, wo jedes Wort als Klang, als Ort, als Begriff, nach rechts und links und über das Ganze hin seine Kraft ausströmt, dies minimum in Umfang und Zahl der Zeichen, dies damit erzielte maximum in der Energie der Zeichen – das Alles ist römisch und, wenn man

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mir glauben will, vor ne h m par excellence. Der ganze Rest von Poesie wird dagegen etwas zu Populäres, – eine blosse Gefühls-Geschwätzigkeit … 2. Den Griechen verdanke ich durchaus keine verwandt starken Eindrücke ; und, um es geradezu herauszusagen, sie k ön ne n uns nicht sein, was die Römer sind. Man le r nt nicht von den | Griechen – ihre Art ist zu fremd, sie ist auch zu flüssig, um imperativisch, um „klassisch“ zu wirken. Wer hätte je an einem Griechen schreiben gelernt ! Wer hätte es je oh ne die Römer gelernt ! … Man wende mir ja nicht Plato ein. Im Verhältniss zu Plato bin ich ein gründlicher Skeptiker und war stets ausser Stande, in die Bewunderung des A r t i s t e n Plato, die unter Gelehrten herkömmlich ist, einzustimmen. Zuletzt habe ich hier die raffi nirtesten Geschmacksrichter unter den Alten selbst auf meiner Seite. Plato wirft, wie mir scheint, alle Formen des Stils durcheinander, er ist damit ein e r s t e r décadent des Stils : er hat etwas Ähnliches auf dem Gewissen, wie die Cyniker, die die satura Menippea erfanden. Dass der Platonische Dialog, diese entsetzlich selbstgefällige und kindliche Art Dialektik, als Reiz wirken könne, dazu muss man nie gute Franzosen gelesen haben, – Fontenelle zum Beispiel. Plato ist langweilig. – Zuletzt geht mein Misstrauen bei Plato in die Tiefe : ich fi nde ihn so abgeirrt von allen Grundinstinkten der Hellenen, so vermoralisirt, so präexistent-christlich – er hat bereits den Begriff „gut“ als obersten Begriff –, dass ich von dem ganzen Phänomen Plato eher das harte Wort „höherer Schwindel“ oder, wenn man’s lieber hört, Idealismus – als irgend ein andres gebrauchen möchte. Man hat theuer dafür bezahlt, dass dieser Athener bei den Ägyptern in die | Schule gieng (– oder bei den Juden in Ägypten ? …) Im grossen Verhängniss des Christenthums ist Plato jene „Ideal“ genannte Zweideutigkeit und Fascination, die den edleren Naturen des

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Alterthums es möglich machte, sich selbst misszuverstehn und die Br üc k e zu betreten, die zum „Kreuz“ führte … Und wie viel Plato ist noch im Begriff „Kirche“, in Bau, System, Praxis der Kirche ! – Meine Erholung, meine Vorliebe, meine K u r von allem Platonismus war zu jeder Zeit T hu k yd id e s . Thukydides und, vielleicht, der principe Macchiavell’s sind mir selber am meisten verwandt durch den unbedingten Willen, sich Nichts vorzumachen und die Vernunft in der R e a l i t ät zu sehn, – n ic ht in der „Vernunft“, noch weniger in der „Moral“ … Von der jämmerlichen Schönfärberei der Griechen in’s Ideal, die der „klassisch gebildete“ Jüngling als Lohn für seine Gymnasial-Dressur in’s Leben davonträgt, kurirt Nichts so gründlich als Thukydides. Man muss ihn Zeile für Zeile umwenden und seine Hintergedanken so deutlich ablesen wie seine Worte : es giebt wenige so hintergedankenreiche Denker. In ihm kommt die S o ph i s t e n - C u lt u r, will sagen die R e a l i s t e n - C u lt u r, zu ihrem vollendeten Ausdruck : diese unschätzbare Bewegung inmitten des eben allerwärts losbrechenden Moral- und Ideal-Schwindels der sokratischen Schulen. Die griechische Philosophie als die d é c a d e nc e des griechischen Instinkts ; | Thukydides als die grosse Summe, die letzte Offenbarung jener starken, strengen, harten Thatsächlichkeit‚ die dem älteren Hellenen im Instinkte lag. Der Mut h vor der Realität unterscheidet zuletzt solche Naturen wie Thukydides und Plato : Plato ist ein Feigling vor der Realität, – f ol g l ic h flüchtet er in’s Ideal ; Thukydides hat s ic h in der Gewalt, folglich behält er auch die Dinge in der Gewalt … 3. In den Griechen „schöne Seelen“, „goldene Mitten“ und andre Vollkommenheiten auszuwittern, etwa an ihnen die Ruhe in der Grösse, die ideale Gesinnung, die hohe Einfalt bewundern – vor dieser „hohen Einfalt“, einer niaiserie allemande zuguterletzt, war ich durch den Psychologen behütet, den ich

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in mir trug. Ich sah ihren stärksten Instinkt, den Willen zur Macht, ich sah sie zittern vor der unbändigen Gewalt dieses Triebs, – ich sah alle ihre Institutionen wachsen aus Schutzmaassregeln, um sich vor einander gegen ihren inwendigen E x plo s i v s t of f sicher zu stellen. Die ungeheure Spannung im Innern entlud sich dann in furchtbarer und rücksichtsloser Feindschaft nach Aussen : die Stadtgemeinden zerfleischten sich unter einander, damit die Stadtbürger jeder einzelnen vor sich selber Ruhe fänden. Man hatte es nöthig, stark zu sein : die Gefahr war in der | Nähe –, sie lauerte überall. Die prachtvoll geschmeidige Leiblichkeit, der verwegene Realismus und Immoralismus, der dem Hellenen eignet, ist eine Not h , nicht eine „Natur“ gewesen. Er folgte erst, er war nicht von Anfang an da. Und mit Festen und Künsten wollte man auch nichts Andres als sich o b e n au f fühlen, sich obenauf z e i g e n : es sind Mittel, sich selber zu verherrlichen, unter Umständen vor sich Furcht zu machen … Die Griechen auf deutsche Manier nach ihren Philosophen beurtheilen, etwa die Biedermännerei der sokratischen Schulen zu Aufschlüssen darüber benutzen, w a s im Grunde hellenisch sei ! … Die Philosophen sind ja die décadents des Griechenthums, die Gegenbewegung gegen den alten, den vornehmen Geschmack (– gegen den agonalen Instinkt, gegen die Polis, gegen den Werth der Rasse, gegen die Autorität des Herkommens). Die sokratischen Tugenden wurden gepredigt, we i l sie den Griechen abhanden gekommen waren : reizbar, furchtsam, unbeständig, Komödianten allesammt hatten sie ein paar Gründe zu viel, sich Moral predigen zu lassen. Nicht, dass es Etwas geholfen hätte : aber grosse Worte und Attitüden stehen décadents so gut … | 4. Ich war der Erste, der, zum Verständniss des älteren, des noch reichen und selbst überströmenden hellenischen Instinkts, jenes wundervolle Phänomen ernst nahm, das den Namen des

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Dionysos trägt : es ist einzig erklärbar aus einem Zuv ie l von Kraft. Wer den Griechen nachgeht, wie jener tiefste Kenner ihrer Cultur, der heute lebt, wie Jakob Burckhardt in Basel, der wusste sofort, dass damit Etwas gethan sei : Burckhardt fügte seiner „Cultur der Griechen“ einen eignen Abschnitt über das genannte Phänomen ein. Will man den Gegensatz, so sehe man die beinahe erheiternde Instinkt-Armuth der deutschen Philologen, wenn sie in die Nähe des Dionysischen kommen. Der berühmte Lobeck zumal, der mit der ehrwürdigen Sicherheit eines zwischen Büchern ausgetrockneten Wurms in diese Welt geheimnissvoller Zustände hineinkroch und sich überredete, damit wissenschaftlich zu sein, dass er bis zum Ekel leichtfertig und kindisch war, – Lobeck hat mit allem Aufwande von Gelehrsamkeit zu verstehn gegeben, eigentlich habe es mit allen diesen Curiositäten Nichts auf sich. In der That möchten die Priester den Theilhabern an solchen Orgien einiges nicht Werthlose mitgetheilt haben, zum Beispiel, dass der Wein zur Lust anrege, dass der Mensch unter Umständen von Früchten lebe, dass die Pflanzen im Frühjahr aufblühn, im Herbst | verwelken. Was jenen so befremdlichen Reichthum an Riten, Symbolen und Mythen orgiastischen Ursprungs angeht, von dem die antike Welt ganz wörtlich überwuchert ist, so fi ndet Lobeck an ihm einen Anlass, noch um einen Grad geistreicher zu werden. „Die Griechen, sagt er Aglaophames I, 672, hatten sie nichts Anderes zu thun, so lachten, sprangen, rasten sie umher, oder, da der Mensch mitunter auch dazu Lust hat, so sassen sie nieder, weinten und jammerten. A nd e r e kamen dann später hinzu und suchten doch irgend einen Grund für das auffallende Wesen ; und so entstanden zur Erklärung jener Gebräuche jene zahllosen Festsagen und Mythen. Auf der andren Seite glaubte man, jenes p o s s i r l ic he Tr e i b e n , welches nun einmal an den Festtagen stattfand, gehöre auch nothwendig zur Festfeier, und hielt es als einen unentbehrlichen Theil des Gottesdienstes fest.“ – Das ist

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verächtliches Geschwätz, man wird einen Lobeck nicht einen Augenblick ernst nehmen. Ganz anders berührt es uns, wenn wir den Begriff „griechisch“ prüfen, den Winckelmann und Goethe sich gebildet haben, und ihn unverträglich mit jenem Elemente fi nden, aus dem die dionysische Kunst wächst, – mit dem Orgiasmus. Ich zweifle in der That nicht daran, dass Goethe etwas Derartiges grundsätzlich aus den Möglichkeiten der griechischen Seele ausgeschlossen hätte. Fol g l ic h ve r s t a n d G o e t h e d ie | G r ie c h e n n ic h t . Denn erst in den dionysischen Mysterien, in der Psychologie des dionysischen Zustands spricht sich die Gr u nd t h at s ac he des hellenischen Instinkts aus – sein „Wille zum Leben“. Wa s verbürgte sich der Hellene mit diesen Mysterien ? Das e w i g e Leben, die ewige Wiederkehr des Lebens ; die Zukunft in der Vergangenheit verheissen und geweiht ; das triumphirende Ja zum Leben über Tod und Wandel hinaus ; das w a h r e Leben als das Gesammt-Fortleben durch die Zeugung, durch die Mysterien der Geschlechtlichkeit. Den Griechen war deshalb das g e s c h le c ht l ic he Symbol das ehrwürdige Symbol an sich, der eigentliche Tiefsinn innerhalb der ganzen antiken Frömmigkeit. Alles Einzelne im Akte der Zeugung, der Schwangerschaft, der Geburt erweckte die höchsten und feierlichsten Gefühle. In der Mysterienlehre ist der S c h me r z heilig gesprochen : die „Wehen der Gebärerin“ heiligen den Schmerz überhaupt, – alles Werden und Wachsen, alles Zukunft-Verbürgende b e d i n g t den Schmerz … Damit es die ewige Lust des Schaffens giebt, damit der Wille zum Leben sich ewig selbst bejaht, mu s s es auch ewig die „Qual der Gebärerin“ geben … Dies Alles bedeutet das Wort Dionysos : ich kenne keine höhere Symbolik als diese g r ie c h i s c he Symbolik, die der Dionysien. In ihnen ist der tiefste Instinkt des Lebens, der zur Zukunft des Lebens, zur Ewigkeit des | Lebens, religiös empfunden, – der Weg selbst zum Leben, die Zeugung, als der he i l i g e Weg … Erst das Christenthum, mit seinem Res-

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sentiment g e g e n das Leben auf dem Grunde, hat aus der Geschlechtlichkeit etwas Unreines gemacht : es warf K ot h auf den Anfang, auf die Voraussetzung unsres Lebens … 5. Die Psychologie des Orgiasmus als eines überströmenden Lebens- und Kraftgefühls, innerhalb dessen selbst der Schmerz noch als Stimulans wirkt, gab mir den Schlüssel zum Begriff des t r a g i s c he n Gefühls, das sowohl von Aristoteles als in Sonderheit von unsern Pessimisten missverstanden worden ist. Die Tragödie ist so fern davon, Etwas für den Pessimismus der Hellenen im Sinne Schopenhauer’s zu beweisen, dass sie vielmehr als dessen entscheidende Ablehnung und G e g e n I n s t a n z zu gelten hat. Das Jasagen zum Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen ; der Wille zum Leben, im O pf e r seiner höchsten Typen der eignen Unerschöpflichkeit frohwerdend – d a s nannte ich dionysisch, d a s errieth ich als die Brücke zur Psychologie des t r a g i s c he n Dichters. N ic ht um von Schrecken und Mitleiden loszukommen, nicht um sich von einem gefährlichen Affekt durch dessen vehemente Entladung zu reinigen – so | verstand es Aristoteles – : sondern um, über Schrecken und Mitleid hinaus, die ewige Lust des Werdens s e l b s t z u s e i n , – jene Lust, die auch noch die Lu s t a m Ve r n ic ht e n in sich schliesst … Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausgieng – die „Geburt der Tragödie“ war meine erste Umwerthung aller Werthe : damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein K ö n n e n wächst – ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft … |

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Der Hammer redet. A lso sprach Zarathustra. 3, 90. |

„Warum so hart ! – sprach zum Diamanten einst die Küchen-Kohle : sind wir denn nicht Nah-Verwandte ?“ Warum so weich ? Oh meine Brüder, also frage ich euch : seid ihr denn nicht – meine Brüder ? War um so weich, so weichend und nachgebend ? Warum ist so viel Leug nung, Verleug nung in eurem Herzen ? so wenig Schick sal in eurem Blicke ? Und wollt ihr nicht Schick sale sein und Unerbittliche : wie könntet ihr einst mit mir – siegen ? Und wenn eure Härte nicht blitzen und schneiden und zerschneiden will : wie könntet ihr einst mit mir – schaffen ? A lle Schaffenden nämlich sind hart. | Und Seligkeit muss es euch dünken, eure Hand auf Jahrtausende zu drücken wie auf Wachs, – – Seligkeit, auf dem Willen von Jahrtausenden zu schreiben wie auf Erz, – härter als Erz, edler als Erz. Ganz hart allein ist das Edelste. Diese neue Tafel, oh meine Brüder, stelle ich über euch : Werdet hart ! – –

Nachworte von Claus-Artur Scheier

Zur Genealogie der Moral Eine Streitschrift

Nach der Geburt der Tragödie fand Nietzsche sich genötigt, zurückzukehren aus der Tiefe der Geschichte zum Nutzen der Historie für das Leben und „das Um-uns scharf zu fassen“ (EH, JGB 2) – schärfer. Das Resultat waren „unzeitgemässe“ Betrachtungen : Provokationen der Modernität.1 Als deren Kritik überhaupt war Jenseits von Gut und Böse dann die erste Frucht des Um-sich-blickens nach dem Zarathustra : das Um-uns unter der Optik des alles verändernden Gedankens. Kraft dieser Optik war aus dem Um-sich-Blicken zugleich ein Um-sich-Blicken geworden, vernehmlich im Atemholen der Vorreden von 1886 und den Liedern des Prinzen Vogelfrei. Nach dieser Fermate schlagen Wir Furchtlosen den neuen Ton an, und das Schiff (FW 289) nimmt wieder Fahrt auf, jetzt beladen mit dem „Schwergewicht“2 des vor-zarathustrischen Ertrags – denn „endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagniss des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, unser Meer liegt wieder of1

Ebd. – Von „Modernität“ (modernité) spricht Nietzsche seit dem Fall Wagner : „Durch Wagner redet die Modernität ihre intimste Sprache : sie verbirgt weder ihr Gutes, noch ihr Böses, sie hat alle Scham vor sich verlernt. Und umgekehrt : man hat beinahe eine Abrechnung über den Werth des Modernen gemacht, wenn man über Gut und Böse bei Wagner mit sich im Klaren ist. – Ich verstehe es vollkommen, wenn heut ein Musiker sagt ‚ich hasse Wagner, aber ich halte keine andre Musik mehr aus‘. Ich würde aber auch einen Philosophen verstehn, der erklärte : ‚Wagner resümirt die Modernität. Es hilft nichts, man muss erst Wagnerianer sein …‘“ (WA, Vorwort) 2 MA 1.436. Zuletzt handelt es sich um das in der Fröhlichen Wissenschaft auf der Schwelle zum Zarathustra entdeckte „grösste Schwergewicht“ (FW 341) der ewigen Wiederkunft des Gleichen.

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Nachworte

fen da, vielleicht gab es noch niemals ein so ‚off nes Meer‘. –“ (FW 5.343) Hatten die frühen Schriften behutsam und desto weniger Knoten machend je mehr aufzulösen waren, die verschiedensten Tiefen (Urteile) und Untiefen (Vorurteile) des moralischen Welt-Meers sondiert – jetzt wirft Nietzsche das Lot in seinen „Abgrund“3 und entdeckt die Moral in ihrer verführerischsten Gestalt als das asketische Ideal : Das asketische Ideal hat ein Ziel, – dasselbe ist allgemein genug, dass alle Interessen des menschlichen Daseins sonst, an ihm gemessen, kleinlich und eng erscheinen; es legt sich Zeiten, Völker, Menschen unerbittlich auf dieses Eine Ziel hin aus, es lässt keine andere Auslegung, kein andres Ziel gelten, es verwirft, verneint, bejaht, bestätigt allein im Sinne seiner Interpretation (– und gab es je ein zu Ende gedachteres System von Interpretation ?); es unterwirft sich keiner Macht, es glaubt vielmehr an sein Vorrecht vor jeder Macht, an seine unbedingte Rang-Distanz in Hinsicht auf jede Macht, – es glaubt daran, dass Nichts auf Erden von Macht da ist, das nicht von ihm aus erst einen Sinn, ein Daseins-Recht, einen Werth zu empfangen habe, als Werkzeug zu seinem Werke, als Weg und Mittel zu seinem Ziele, zu Einem Ziele … (GM 3.23)

Was verführt, ist immer ein Ziel : es verführt dazu, alles andre zum Mittel zu machen. Kurz nach Abschluß der Genealogie notiert Nietzsche : „Nihilism : es fehlt das Ziel; es fehlt die Antwort auf das ‚Warum ?‘“.4 Das alte Ideal hatte eine Antwort gegeben, scheint sie sogar alternativlos gegeben zu haben und präsentiert sich damit noch der Moderne als der Gegenkan3

GM 3.23 : „heute ist das wissenschaftliche Gewissen ein Abgrund –

[…] : die Wissenschaft hat heute schlechterdings keinen Glauben an sich, geschweige ein Ideal über sich, — und wo sie überhaupt noch Leidenschaft, Liebe, Gluth, Leiden ist, da ist sie nicht der Gegensatz jenes asketischen Ideals, vielmehr dessen jüngste und vornehmste Form selber“. 4 VIII-2. 9[35] (1887).

Claus-Artur Scheier

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didat. Die inzwischen „positiv“ gewordnen Wissenschaften sind kein Einwand : Es giebt, streng geurtheilt, gar keine ‚voraussetzungslose‘ Wissenschaft, der Gedanke einer solchen ist unausdenkbar, paralogisch : eine Philosophie, ein ‚Glaube‘ muss immer erst da sein, damit aus ihm die Wissenschaft eine Richtung, einen Sinn, eine Grenze, eine Methode, ein Recht auf Dasein gewinnt.5

Dieser Glaube war von den frühen Griechen bis über Nietzsche hinaus ins zwanzigste Jahrhundert der Glaube an die Wahrheit.6 Er ist selber schon eine Antwort : Die Frage, ob Wahrheit noth thue, muss nicht nur schon vorher bejaht, sondern in dem Grade bejaht sein, dass der Satz, der Glaube, die Ueberzeugung darin zum Ausdruck kommt ‚es thut nichts mehr noth als Wahrheit, und im Verhältniss zu ihr hat alles Uebrige nur einen Werth zweiten Rangs‘. (FW 5.344)

Die Geschichte dieses Glaubens hatte bereits die Geburt der Tragödie rekonstruiert als die „Metamorphose des aeschyleischen Menschen in den alexandrinischen Heiterkeitsmenschen“7 und weiter des sokratischen Optimismus in den schopenhauerschen Pessimismus bis zum proklamierten Nihilismus. 1887 stellt Nietzsche die Diagnose : Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui : er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen. (GM 3.1) 5

GM 3.24. Zum ganzen Komplex vgl. heute Niklas Luhmann : Die

Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992 (11990). 6 Vgl. JGB, Erstes Hauptstück : von den Vorurtheilen der Philosophen. 7 GT 19. „Nun aber eilt die Wissenschaft, von ihrem kräftigen Wahne angespornt, unaufhaltsam bis zu ihren Grenzen, an denen ihr im Wesen der Logik verborgener Optimismus scheitert.“ (GT 15, vgl. 18)

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Nachworte

Darin koinzidieren logischer Optimismus, weltanschaulicher Pessimismus und Positivismus. Denn dieser ist nicht minder Nihilismus, die wissenschaftliche Spielart, Inventarisierung der Einzelheiten, „jenes Stehenbleiben-Wollen vor dem Thatsächlichen, dem factum brutum, jener Fatalismus der ‚petits faits‘ (ce petit faitalisme, wie ich ihn nenne)“.8 Weil das Ziel fehlt, ist nichts mehr Mittel, alles ist wie es ist,9 jedes Faktum factum brutum.10 Nietzsche hätte auf den wissenschaftlich-technischen Fortschritt setzen können,11 die rapide Industrialisierung war so unübersehbar wie unüberhörbar,12 noch 8

GM 3.24. Die Naturwissenschaft „hat allein in der Raupe des Wei-

denspinners am Kopfe 228, am Körper 1647, am Magen und den Gedärmen 2186 Muskeln anatomisch nachgewiesen. Was will man mehr verlangen ? Hier haben wir daher ein sinnfälliges Beispiel von der Wahrheit, daß die Vorstellung des Menschen von Gott nichts andres ist als eine Vorstellung des menschlichen Individuums von seiner Gattung“ (Feuerbach : Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 12, Gesammelte Werke [GW ], hg. von W. Schuffenhauer, Berlin 1967 ff., Bd. 9, S. 279). 9 Vgl. Za 2.19 : Der Wahrsager : „Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war !“ 10 Ludwig Wittgenstein wird das im zweiten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts so formulieren : „Alle Sätze sind gleichwertig. – Der Sinn der Welt muß außerhalb ihrer liegen. In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht; es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe, so hätte er keinen Wert.“ (Logisch-philosophische Abhandlung [Tractatus] 6.4/6.41). 11 Skeptisch, wie immer, Henry Adams (The Education of Henry Adams, Cambridge [U.S.A.] 1961, ch. XXXIV. A Law of Acceleration, S. 498) : „The movement from unity into multiplicity, between 1200 and 1900, was unbroken in sequence, and rapid in acceleration. Prolonged one generation longer, it would require a new social mind. As though thought were common salt in indefi nite solution it must enter a new phase subject to new laws. Thus far, since five or ten thousand years, the mind had successfully reacted, and nothing yet proved that it would fail to react – but it would need to jump.“ 12 Seit 1882 besaß Nietzsche eine Schreibmaschine, GM 3.5 apostrophiert Wagner als „Telephon des Jenseits“.

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knatterten ihre Fahnen triumphal ohne den schwarzen Rand zweier Weltkriege. Nietzsche teilte auch keineswegs Schopenhauers grämliches Vorurteil, habe einer den Herodot gelesen, so habe er, „in philosophischer Absicht, schon genug Geschichte studirt“.13 Das System des asketischen Ideals ausgenommen kannte Nietzsche aber noch kein andres System als den Menschen,14 aus dem, mußte er seinem philosophischen Erzieher beipfl ichten, „weder Konstitutionen und Gesetzgebungen, noch Dampfmaschinen und Telegraphen jemals etwas wesentlich Besseres machen können“.15 Einzig der Mensch selbst könnte aus sich selbst etwas wesentlich Besseres machen. Das Ziel der Menschheit also – wäre es am Ende nur ein Ende ? Und wenn es das Ziel gewesen war – das Ende ? der moderne Mensch der „letzte Mensch“ ?16 Wo, fragt die Genealogie, „ist das Gegenstück zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation ? Warum fehlt das Gegenstück ? … Wo ist das andre ‚Eine Ziel‘ ? …“ (GM 3.23) Wohl 13

Arthur Schopenhauer : Die Welt als Wille und Vorstellung [ WWV ] II, Kap. 38 : Über Geschichte, Werke [ W ], hg. von Ludger Lütkehaus, Zürich 1991 (11988), Bd. 2, S. 517. 14 Vgl. PhtZ, Vorrede (KGW III-2 : „Wer […] an großen Menschen überhaupt seine Freude hat, hat auch seine Freude an solchen Systemen, seien sie auch ganz irrthümlich : sie haben doch einen Punkt an sich, der ganz unwiderleglich ist, eine persönliche Stimmung, Farbe, man kann sie benutzen, um das Bild des Philosophen zu gewinnen : wie man vom Gewächs an einem Orte auf den Boden schliessen kann. Die Art zu leben und die menschlichen Dinge anzusehn ist jedenfalls einmal dagewesen und also möglich : das ‚System‘ ist das Gewächs dieses Bodens, oder wenigstens ein Theil dieses Systems, – – / Ich erzähle die Geschichte jener Philosophen vereinfacht : ich will nur den Punkt aus jedem System herausheben, der ein Stück Persönlichkeit ist und zu jenem Unwiderleglichen Undiskutirbaren gehört, das die Geschichte aufzubewahren hat“. 15 Ebd., S. 516. 16 Za, Zarathustra’s Vorrede 5. Vgl. für das zweite Fin de siècle Francis Fukuyama : The End of History and the Last Man, Free Press 1992.

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Nachworte

hieß die Antwort Zarathustra; nur hatte Nietzsche alsbald erfahren müssen,17 daß sie übertönt vom „Hahnenschrei des Positivismus“18 nicht auf dem Niveau der Zeit war, „unzeitgemäß“ noch in einem andern Sinn als die Unzeitgemässen. Wie vordem schon die Geburt der Tragödie hatte der Zarathustra „die Heraufbeschwörung eines Tags der Entscheidung“ (EH, JGB 1) sein sollen; aber auch er war ohne Widerhall geblieben. Die „neinsagende, neinthuende Hälfte“ (ebd.) der Aufgabe – was war da zu tun, wenn nicht die Transformation des tragischen Epos ins dionysische System ? Denn ersichtlich konnte keine Dichtung,19 kein ‚absolutes Lehrgedicht‘ jenem geschlossenen System beikommen, das, und genau kraft seiner Geschlossenheit, gefeit schien gegen alle Sprüche und Pfeile und jeden Aphorismus umstandslos assimilierte. Einzig ein neues „Dynamit des Geistes, vielleicht ein neuentdecktes Russisches Nihilin, ein Pessimismus bonae voluntatis, der nicht bloss Nein sagt, Nein will, sondern – schrecklich zu denken ! Nein thut“ ( JGB 208), schien als Abhilfe übrig zu bleiben, ein Gegen-System. Als dionysisches wäre es notwendigerweise der so oder so ausgehaltene Widerspruch, ein paradoxes System (und eben damit ein philosophisches System) :20 „Alle Wissenschaften haben nunmehr der Zukunfts17

„– die nächsten 6 Jahre“, schreibt Nietzsche am 2. September 1884 an Köselitz, „gehören der Ausarbeitung eines Schema’s an, mit welchem ich meine ‚Philosophie‘ umrissen habe. Es steht gut und hoff nungsvoll damit. Zarathustra hat einstweilen nur den ganz persönlichen Sinn, daß es mein ‚Erbauungs- und Ermuthigungs-Buch‘ ist – im Übrigen dunkel und verborgen und lächerlich für Jedermann.“ 18 GD, Wie die „wahre Welt“ endlich zur Fabel wurde 4. 19 „Nur Narr ! Nur Dichter !“ (Za 4.14 : Das Lied der Schwermuth 3. 20 Wie das entparadoxierte und damit instrumentalisiert-instrumentalisierende System – ein „weltanschauliches“ System in Sinn der „politischen Systeme“ des 20. Jahrhunderts – aussieht, belegt der von Nietzsches Schwester und Heinrich Köselitz kompilierte „Wille zur Macht“ (1901, 1906, 1911). Wenn Alfred Baeumler im Nachwort (Stuttgart 1964)

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Aufgabe des Philosophen vorzuarbeiten : diese Aufgabe dahin verstanden, dass der Philosoph das Problem vom Werthe zu lösen hat, dass er die Rangordnung der Werthe zu bestimmen hat. –“21 „Es ist gleich tödlich für den Geist, ein System zu haben, und keins zu haben. Er wird sich also wohl entschließen müssen, beides zu verbinden“,22 notierte Friedrich Schlegel 1798. Geschlossenheit im Sinn der Vernunftsysteme des siebzehnten Jahrhunderts wie noch bei Christian Wolff und Alexander Gottlieb Baumgarten war nach Kants Exposition der dritten kosmologischen Antinomie23 nicht mehr möglich. Fichtes Wissenschaftslehre von 1794 hatte das reflektiert 24 und den „Knoten zwar nicht gelös’t, aber zerschnitten“;25 die speschreibt, nur „die künstliche Systembauerei [sei] von Nietzsche verspottet worden“, während dieser selber „in dem Sinne Systematiker [sei] wie es Heraklit ist, oder Anaximander“ (S. 699), dann allerdings liegt das System schon vor im publizierten Werk, und Nietzsche spottet der Kompilation posthum. Heidegger, in Atem gehalten von der (Nietzsches Unternehmen fortschreibenden) Aufgabe der „Destruktion“ der Metaphysik (vgl. Sein und Zeit, § 6), behauptet zwar : „Was Nietzsche zeit seines Schaffens selbst veröffentlicht hat, ist immer Vordergrund. […] Die eigentliche Philosophie bleibt als ‚Nachlaß‘ zurück“ (Nietzsche I, Pfullingen 1961, S. 17), aber das ist ein Heideggersches pro domo. Wo wäre eine philosophische Einsicht Nietzsches, die im veröffentlichten oder zur Veröffentlichung bestimmten Werk fehlte ? 21 GM 1.17, Anm.. 22 Friedrich Schlegel : Kritische Ausgabe, hg. v. E. Behler unter Mitwirkung von J.-J. An stett und H. Eichner, Bd. 2, München/Paderborn/ Wien 1967, S. 173. 23 Kant : Kritik der reinen Vernunft, A 532 – 558, B 560 – 586. 24 „Es giebt nur zwei Systeme, das kritische und das dogmatische“ (Johann Gottlieb Fichte : Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, 1794/95, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, I, 2, hg. von R. Lauth und H. Jacob, Stuttgart-Bad Cann statt 1965, S. 280, Anm.). 25 Ebd., S. 301.

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Nachworte

kulativen Lösungen Schellings, Solgers und Hegels konnten dem positivistischen Jahrhundert nicht mehr einleuchten, und so wird die Antinomie von Freiheit und Notwendigkeit noch Nietzsches unschlichtbar paradoxe Lehre von der ewigen Wiederkunft provozieren. Verschwiegen motiviert sie das „muß“ in Nietzsches Hoff nung, die immer – das ist die geschichtliche Grenze seines Gedankens – eine persönliche, empathische Hoff nung bleibt : Aber irgendwann, in einer stärkeren Zeit, als diese morsche, selbstzweiflerische Gegenwart ist, muss er uns doch kommen, der erlösende Mensch der grossen Liebe und Verachtung, der schöpferische Geist 26 […]. Dieser Mensch der Zukunft, der uns ebenso vom bisherigen Ideal erlösen wird, als von dem, was aus ihm wachsen musste, […] der der Erde ihr Ziel und dem Menschen seine Hoff nung zurückgiebt, dieser Antichrist und Antinihilist, dieser Besieger Gottes und des Nichts – er muss einst kommen … (GM 2.24)

Das bisherige Ideal und das, „was aus ihm wachsen mußte“ – diese historische Kohärenz wenigstens läßt sich wissenschaftlich fassen, und Nietzsche greift zurück auf die bewährte Form der Abhandlung, der auch der Titel entspricht :27 nicht, 26

Nietzsche zitiert den Pfi ngsthymnus Veni creator spiritus, vgl. AC 19 : „Zwei Jahrtausende beinahe und nicht ein einziger neuer Gott ! Sondern immer noch und wie zu Recht bestehend, wie ein ultimatum und maximum der gottbildenden Kraft, des creator spiritus im Menschen, dieser erbarmungswürdige Gott des christlichen Monotono-Theismus ! dies hybride Verfalls-Gebilde aus Null, Begriff und Widerspruch, in dem alle Décadence-Instinkte, alle Feigheiten und Müdigkeiten der Seele ihre Sanktion haben ! – –“ 27 Die Geburt der Tragödie, die ja etwas gewinnen will „für die aesthetische Wissenschaft“ (GT 1), bezeichnet sich selbst als Abhandlung (GT 4) und ebenso Vom Nutzen und Nachtheil der Historie (HL 10, vgl. EH, UB 1). Zur Genealogie plante Nietzsche weitere Abhandlungen, vgl. VIII2.9[83] (1887). Den wissenschaftlichen Charakter des Buchs unterstreicht zudem die Anmerkung am Schluß der ersten Abhandlung.

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wie geläufigerweise zitiert, ‚Genealogie der Moral‘ oder ‚Die Genealogie der Moral‘, sondern Zur Genealogie der Moral (‚De genealogia morum‘). Die ganze Abhandlung ist gebaut aus drei auftreppenden Einzelabhandlungen, die 1. den Unterschied von Herren- und Sklavenmoral, 2. die Entstehung von Gewissen und Ressentiment und 3. das asketische Ideal thematisieren, auf dessen Exposition die gesamte Darstellung abzweckt. Der Keim ist eine zuvor in Jenseits von Gut und Böse festgehaltene Einsicht : Bei einer Wanderung durch die vielen feineren und gröberen Moralen, welche bisher auf Erden geherrscht haben oder noch herrschen, fand ich gewisse Züge regelmässig mit einander wiederkehrend und aneinander geknüpft : bis sich mir endlich zwei Grundtypen verriethen, und ein Grundunterschied heraussprang. Es giebt HerrenMoral und Sklaven-Moral; – ich füge sofort hinzu, dass in allen höheren und gemischteren Culturen auch Versuche der Vermittlung beider Moralen zum Vorschein kommen, noch öfter das Durcheinander derselben und gegenseitige Missverstehen, ja bisweilen ihr hartes Nebeneinander – sogar im selben Menschen, innerhalb Einer Seele. ( JGB 260)

Es ist der seit der Antike immer wieder behandelte Unterschied von Herrschaft und Knechtschaft, den Nietzsche hier provokativ einfärbt, zutiefst irritiert von der „Moral-Tarantel“ Rousseau :28 Der empfi ndsame Rousseau zuerst hatte diesen ökonomisch-politischen Unterschied moralisiert. In seinem Diskurs über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen (1755) wollte er „im Fortschritt der Dinge den Augenblick […] bezeichnen, in dem das Recht die Stelle der Gewalt einnahm und die Natur somit dem Gesetz unter28

M, Vorrede 3. – „Vier Paare waren es, welche sich mir […] nicht ver-

sagten : Epikur und Montaigne, Goethe und Spinoza, Plato und Rousseau, Pascal und Schopenhauer“ (MA 2.1.408).

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worfen wurde; [..] erklären, durch welche Kette von Wundern der Starke sich entschließen konnte, dem Schwachen zu dienen, und das Volk, eine nur in der Vorstellung existierende Ruhe um den Preis einer wirklichen Glückseligkeit zu erkaufen“.29 Schon die Gedanken über die moralischen Vorurtheile löckten wider den Stachel : Gegen Rousseau. – Wenn es wahr ist, dass unsere Civilisation etwas Erbärmliches an sich hat : so habt ihr die Wahl, mit Rousseau weiterzuschliessen ‚diese erbärmliche Civilisation ist Schuld an unserer schlechten Moralität‘ oder gegen Rousseau zurückzuschliessen ‚unsere gute Moralität ist Schuld an dieser Erbärmlichkeit der Civilisation[‘]. (M 163)

Anknüpfend an Jenseits von Gut und Böse hat die erste Abhandlung der Genealogie vorbereitenden Charakter : „Jede Erhöhung des Typus ‚Mensch‘ war bisher das Werk einer aristokratischen Gesellschaft […], welche an eine lange Leiter der Rangordnung und Werthverschiedenheit von Mensch und Mensch glaubt und Sklaverei in irgend einem Sinne nöthig hat.“30 Eine solche Oberschicht steht nicht unter dem Druck, 29

Vgl. Jean-Jacques Rousseau : Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Mit sämlichen Fragmenten und ergänzenden Materialien nach den Originalausgaben und den Handschriften neu ediert, übersetzt und kommentiert von Heinrich Meier, Paderborn 1985, S. 68 f. Ebenfalls im Rückgriff auf Rousseau hatte Hegel das Verhältnis dargestellt im Kapitel über „Herrschaft und Knechtschaft“ in seiner Phänomenologie des Geistes (IV.A). Zu tun war es Hegel dabei freilich nicht um den moralischen Aspekt, sondern um den der Arbeit : „das arbeitende Bewußtseyn kommt […] hiedurch zur Anschauung des selbstständigen Seyns, als seiner selbst“ (IV.A, Abs. 18, Gesammelte Werke [GW ] 9, hg. v. Wolfgang Bonsiepen und Reinhard Heede, Düsseldorf 1980, S. 115). 30 JGB 257. Nietzsches Nachgedanke „– und so wird es immer wieder sein“ läßt sehen, daß er (im Unterschied etwa zu Marx) keinerlei Glauben an die prospektive Potenz der gesellschaftlichen Umstruktu-

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sich vor irgendeiner Instanz rechtfertigen zu müssen : „Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist aber, dass sie sich nicht als Funktion (sei es des Königthums, sei es des Gemeinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt“ ( JGB 258). In diesem vorreflexiven Daseinsgefühl ist sie sich selbst genug, bedingungslos „gut“ (wie es der Titel „Aristokratie“ unbefangen ausspricht) : Wer nicht dazu gehört, ist unmittelbar niederen Ranges, „schlecht“. Umgekehrt der Sklave. Er gehört nicht zu den „AusnahmeMenschen“, für die gilt : „erst der Träger macht die Tracht“ (MA 2.1.325). Er schuldet dem Herrn sein Leben, ist von ihm abhängig und macht ihn darum in seinem reflexiven oder reaktiven Gefühl (vgl. GM 2.11) zum Gegenstand. Logisch wie psychologisch ist er darum mit sich entzweit : In der Wirklichkeit bloße Funktion, nimmt er in der Reflexion den Träger- oder Beobachterstandpunkt ein, von dem aus ihm nicht nur sein wirkliches Elend und die Willkür des Herrn, sondern ebenso die Differenz zwischen beiden gegenständlich wird. In ihrer Unmittelbarkeit erscheint diese gesellschaftliche Differenz dem reflektierenden Bewußtsein aber als ein natürliches Verhältnis, mithin als die Wahrheit. In Wirklichkeit Produkt einer gerierungen innerhalb der noch jungen Moderne hatte. Insofern ist er nicht minder antimodernistisch als der ein knappes Jahrzehnt ältere Pius X. Die prospektive Bedeutung oder Tendenz der zeitgenössischen Gärung kann er sich nur als Signatur einer Verfallsgeschichte begreiflich machen, die er seit der Geburt der Tragödie nicht mehr revidiert (vgl. noch „Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde“ in der GD) : „Wir sehen heute Nichts, das grösser werden will, wir ahnen, dass es immer noch abwärts, abwärts geht“ (GM 1.12). Auch wenn der „Erzieher“ Nietzsche den guten Europäer und den freien Geist fordert als Mittelglieder zwischen dem modernen Menschen und dem des erhoff ten tragischen Zeitalters (dem „Übermenschen“), bleibt der konstellierende Gedanke der des Sprungs, schon bei Kierkegaard und im 20. Jahrhundert namentlich bei Heidegger ein Differenz-Gedanke, dessen Entweder-Oder erst von Derridas différance und clôture verabschiedet wird.

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sellschaftlichen Lebensform, erweist die Wahrheit sich damit strukturell als das, was Marx den Fetischcharakter der Ware genannt hatte.31 Der „mystische Charakter der Ware“ oder die Warenform spiegelt „den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge“ zurück,32 zu denen sich die gesellschaftliche Charaktermasken (vgl. MA 2.2.63) geschichtlich niederschlagen. Im Unterschied zum Herrn weiß der Sklave sich im Besitz der natürlichen Wahrheit als der Wahrheit, erkennt sich also als gut in der Reflexion auf seine Natur und als schlecht nur in der zufälligen Wirklichkeit. Obwohl an sich gut, ist er unmittelbar schlecht, und indem es der Herr ist, der ihn seines Ansich enteignet, ist der Herr nicht nur in Wirklichkeit, sondern in Wahrheit schlecht, d. h. böse : „Dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen – das ist der höchste Wille zur Macht.“33 Weil der Herr böse ist, ergeht es dem Sklaven schlecht : „[H]ier gerade ist seine That, seine Schöpfung : er hat ‚den bösen Feind‘ concipirt, ‚den Bösen‘, und zwar als Grundbegriff, von dem aus er sich als Nachbild und Gegenstück nun auch noch einen ‚Guten‘ ausdenkt – sich selbst ! …“ (GM 1.10) – „Dies ‚schlecht‘ vornehmen Ursprungs und jenes ‚böse‘ aus dem Braukessel des ungesättigten Hasses – das erste eine Nachschöpfung, ein Nebenher, eine Complementärfarbe, das zweite dagegen das Original, der Anfang, die eigentliche 31

Vgl. GD, Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie 5 : „wir kommen in ein grobes Fetischwesen hinein, wenn wir uns die Grundvoraussetzungen der Sprach-Metaphysik, auf deutsch : der Vernunft, zum Bewusstsein bringen.“ 32 Karl Marx : Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis, in : Das Kapital. Kritik der politischen Oekonomie, MEW 23, Kap. 1.1.1.4, S. 85 f. 33 VIII-1.7[54] (1886/87).

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That in der Conception einer Sklaven-Moral“ (GM 1.11). Das reale oder Wirklichkeitsverhältnis erscheint darum als Wahrheits- oder moralisches Verhältnis, und aus der geschichtlichgesellschaftlichen Produktion ist eine ewige „Idee“ geworden, zwingender noch, als die Wahrheit im Unterschied zur Wirklichkeit, ein Ideal. Kein Zweifel, daß Nietzsche mit dem asketischen Ideal seine letztgültige Interpretation der absoluten Identität gibt, des Prinzips der Metaphysik : „gab es je ein zu Ende gedachteres System von Interpretation ?“ (GM 3.23) So zu Ende gedacht hat es freilich auch in der Moderne noch seine Vorzüge, und Nietzsche unterscheidet sorgfältig den dialektischen vom diätetischen Aspekt. In diätetischer Hinsicht ist das asketische Ideal nurmehr das, was es menschlicherweise sein kann : die – nicht ohne merkliche Sympathie beschworene – praktische Maxime des theoretischen Menschen : „Ruhe in allen Souterrains; alle Hunde hübsch an die Kette gelegt; kein Gebell von Feindschaft und zotteliger Rancune“ (GM 3.8). Es gibt nämlich eine eigentliche Philosophen-Voreingenommenheit und -Herzlichkeit in Bezug auf das ganze asketische Ideal, darüber und dagegen soll man sich nichts vormachen. […] der Philosoph lächelt bei seinem Anblick einem Optimum der Bedingungen höchster und kühnster Geistigkeit zu, – er verneint nicht damit ‚das Dasein‘, er bejaht darin vielmehr sein Dasein und nur sein Dasein, und dies vielleicht bis zu dem Grade, dass ihm der frevelhafte Wunsch nicht fern bleibt : pereat mundus, fiat philosophia, fiat philosophus, fi am ! … (GM 3.7)

Im Schlaglicht des „ich, Plato, bin die Wahrheit“,34 wird dies fiam lesbar als ‚ich, Nietzsche, mache mich zum System‘,35 als 34 35

GD, Wie die ‚wahre Welt‘ endlich zur Fabel wurde. Vgl. GD, Sprüche und Pfeile 26, VIII-2.11[410] (1887/88). In einer

Notiz vom Sommer 1888 parodiert Nietzsche Horaz’ „Odi profanum volgus et arceo“ (Oden 3.1) : „Ich mißtraue allen Systematikern und gehe ihnen aus dem Weg.“ Aber weiter : „Der Wille zum System ist, für uns

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die ihm einzig mögliche Antwort auf die sonst verzweifelte Frage : „Wo ist das Gegenstück zu diesem geschlossenen System von Wille, Ziel und Interpretation ? Warum fehlt das Gegenstück ? … Wo ist das andre ‚Eine Ziel‘ ? …“ (GM 3.23) Das ist der dialektische Aspekt. Unter seiner Optik ist nicht das fiam das Ziel, das asketische Ideal keine bloße Maxime, sondern „die Wahrheit“, und hat als solche sogleich etwas zu verbergen und zu vergessen.36 Denn auch als hypostasierte, zur Natur geronnene Maxime ist das asketische Ideal nicht das Ziel (causa finalis), sondern hat eines, systematisch wie historisch : das Nichts.37 Diese Differenz jedoch verschwindet in der Hypostasierung, um als ihr Supplement die Identität erscheinen zu lassen, kraft deren das asketische Ideal Selbstzweck wird, causa sui : „Das Letzte, Dünnste, Leerste wird als Erstes gesetzt, als Ursache an sich, als ens realissimum …“38 Denker wenigstens, etwas, das compromittirt, eine Form unsrer Immoralität. – Vielleicht erräth man, bei einem Blick hinter dies Buch, welchem Systematiker ich selbst nur mit Mühe ausgewichen bin …“ ( VIII3.18[4], 1888) – freilich ein Systematiker, geschweige dieser Systematiker, kann sich nur innerhalb seines Systems ‚ausweichen‘. Zuletzt bemerkt Nietzsche über die Schopenhauer und Wagner gewidmeten Unzeitgemäßen, „dass sie im Grunde bloss von mir reden“ (EH, UB 3). 36 Die Moderne muß von Anfang an die lêthê denken als das Ursprüngliche in der a-lêtheia, als die „Vergessenheit des Unterschiedes [der ontologischen Differenz], mit der das Geschick des Seins beginnt […] Es ist das Ereignis der Metaphysik. Was jetzt ist, steht im Schatten des schon vorausgegangenen Geschickes der Seinsvergessenheit“ (Heidegger : Der Spruch des Anaximander, in : Holzwege, Frankfurt a. M. 4 1963 [11950], S. 336). 37 Indem das Axiom der Moderne die Differenz ist, erscheint ihr gegenüber jede Identität als relativ (konstituiert), die klassische absolute Identität darum notwendig als gedankliche Null, die erst durch identifizierende Konstitution („Hypostasierung“) zu dem Nichts wird, einer bête noire schon Feuerbachs : „Nichts ist aber kein Gegenstand des Denkens.“ (Grundsätze der Philosophie der Zukunft, § 26, GW 9, S. 305) 38 GD, Die ‚Vernunft‘ in der Philosophie 4. Vgl. JGB 21 : „Die causa sui

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Die „Gewohnheit, Macht an Macht zu vergleichen, zu messen, zu berechnen“ (GM 2.9), läßt dem sklavischen Bewußtsein die so bestimmte Wahrheit schließlich als die reibungslose Achse erscheinen, um die das ganze Verhältnis drehbar wird, d. h. der Sklave ist auf dem Sprung zur Revolution, sei diese (wie vom Christentum) eschatologisch vorgestellt oder (wie von Rousseau und dem Sozialismus) geschichtsphilosophisch. Hegel spricht vom ‚niederträchtigen‘ Bewußtsein, das die Ungleichheit festhält, „in der Herrschergewalt also eine Fessel und Unterdrückung des Fürsichseyns sieht, und daher den Herrscher haßt, nur mit Heimtücke gehorcht, und immer auf dem Sprunge zum Aufruhr steht“.39 Und Nietzsches psychologische Analyse wäre der Sache nach keinen Schritt weitergerückt als Marx’ Kritik der politischen Ökonomie, hätte er nicht entdeckt, daß im Braukessel (GM 1.11) des reaktiven Gefühls (GM 2.11) noch eine viel giftigere Maische brodelt als die von Haß und Rache. Es bedarf nur eines gewissen moralischen Beisatzes, um das Destillat zu erzeugen, das von Nietzsches feiner Nase wohl wahrgenommen wurde, seine tödliche ist der beste Selbst-Widerspruch, der bisher ausgedacht worden ist, eine Art logischer Nothzucht und Unnatur : aber der ausschweifende Stolz des Menschen hat es dahin gebracht, sich tief und schrecklich gerade mit diesem Unsinn zu verstricken.“ Nietzsche nimmt den Spinozischen Begriff sozusagen mit spitzen Fingern auf – scheint doch das fi am (GM 3.7) ganz dasselbe zu meinen. Der epochale Unterschied liegt darin, daß der Anti-Metaphysiker den Begriff verzeitlichen muß, um sich nicht in den „Unsinn“ des logischen Widerspruchs „zu verstricken“ : „Unsinn ist das höchste Wesen der Theologie – der gemeinen wie der spekulativen.“ (Feuerbach : Grundsätze, § 23, GW 9, S. 301) Die Funktion kann nicht Argument ihrer selbst sein, weshalb die moderne Reflexion sich im Unterschied zu klassischen in ein irreduzibles Usw. auflöst : …f n+2{f n+1[f n(a)]}… Das moderne Korrelat der causa sui ist darum die „ewige Wiederkunft des Gleichen“ (vgl. FW 341; Za 3.2 : Vom Gesicht und Räthsel; EH, Za 1). 39 Hegel : Phänomenologie des Geistes, VI.B.I.a, Die Bildung und ihr Reich der Wirklichkeit, Abs. 14, GW 9, S. 273.

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Wirkung aber erst im zwanzigsten Jahrhundert unter Beweis stellen wird : das Ressentiment. Daß es, wie Eugen Dühring behauptet,40 der Ursprung des Rechtsgefühls sei, hat Nietzsche vehement bestritten (ebd.). Das reaktive Gefühl ist ein Gefühl sui generis und Ressentiment eigentlich erst dann, wenn es sich mit der Wahrheit gleichsetzt :41 Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das Ressentiment selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert : das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten. […] und dies Nein ist ihre schöpferische That. Diese Umkehrung des werthesetzenden Blicks – diese nothwendige Richtung nach Aussen statt zurück auf sich selber – gehört eben zum Ressentiment : die Sklaven-Moral bedarf, um zu entstehn, immer zuerst einer Gegen- und Aussenwelt, sie bedarf, physiologisch gesprochen, äusserer Reize, um überhaupt zu agiren, – ihre Aktion ist von Grund aus Reaktion. (GM 1.10)

Darin hat Nietzsche trotz der historisierenden Übermalungen das emotionale Motiv der am geschichtlichen Horizont der jungen industriellen Moderne aufziehenden Ideologien entdeckt, der dezisionistischen Substitutionen des seit dem 18. Jahrhundert geschichtlich zu denkenden Wesens des Men40

Eugen Dühring (Der Werth des Lebens, Breslau 1865, S. 219) – jener „Berliner Rache-Apostel Eugen Dühring, der im heutigen Deutschland den unanständigsten und widerlichsten Gebrauch vom moralischen Bumbum macht : Dühring, das erste Moral-Grossmaul, das es jetzt giebt, selbst noch unter seines Gleichen, den Antisemiten“ (GM 3.14). 41 Als politisches Motiv hatte Nietzsche es kennengelernt in Wagners Beethoven : In diesem Geist wendet Wagner sich der „Betrachtung der äußeren Welt“ zu, „unter deren Drucke jenes innere Wesen [des deutschen Volks] zu der ihm jetzt eigenen, nach außen reagierenden Kraft sich er mächtigte“ (Sämtliche Schriften und Dichtungen. VolksAusgabe. Leipzig 61912/14, Bd. 9, S. 113).

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schen. Sie alle stellen „das noch nicht festgestellte Thier“ ( JGB 62) fest in der politischen Ausgrenzung des „Anderen“ überhaupt : „Die spezifische politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind“.42 Carl Schmitt führt das Axiom politologisch neutral ein, aber es kommt darauf an, wer hier als Feind gedacht wird. Und daran lassen die Konsequenzen keinen Zweifel. Proskribiert ist der politische Gegner als natürlicher Feind, und die Unterscheidung macht nicht die politische Vernunft, sondern das Ressentiment : jeder „Feind“ ist der ‚böse Feind‘, „Volksfeind“, „Klassenfeind“, „Revanchist“, wer auch immer, jedenfalls der Andre, der Schuld hat. Allerdings ist für den Geschichts-Psychologen Nietzsche noch nicht das nach außen, sondern das nach innen reagierende Ressentiment die eigentliche pièce de résistance : Der Priester ist der Richtungs-Veränderer des Ressentiment. […] ‚Irgend Jemand muss schuld daran sein, dass ich mich schlecht befi nde‘ […] ‚Ich leide : daran muss irgend Jemand schuld sein‘ – also denkt jedes krankhafte Schaf. Aber sein Hirt, der asketische Priester, sagt zu ihm : ‚Recht so, mein Schaf ! irgend wer muss daran schuld sein : aber du selbst bist dieser Irgend-Wer, du selbst bist daran allein schuld, du selbst bist an dir allein schuld !‘ … Das ist kühn genug, falsch genug : aber Eins ist damit wenigstens erreicht, damit ist, wie gesagt, die Richtung des Ressentiment – verändert. (GM 3.15)

Hegels „auf sich und ihre kleines Thun beschränkte, und sich bebrütende, ebenso unglückliche als ärmliche Persönlichkeit“43 erscheint hier in ihrer modernen Statur. „Ich bin, der ich bin : 42

Carl Schmitt : Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. 3. Auflage der Ausgabe von 1963, Berlin 1991, S. 26. 43 Hegel : Phänomenologie des Geistes, IV.B. Abs. 29, GW 9, S. 129.

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wie käme ich von mir selber los ? Und doch  – habe ich mich satt !  …“44 – das zwanzigste Jahrhundert wird dafür die bekannten kollektiven Abhilfen schaffen.

44

GM 3.14. Vgl. VII-2.25[181] (1881) : „Die Fülle pöbelhafter Instinkte un-

ter dem jetzigen aesthetischen Urtheil der französischen Romanschriftsteller. […] ihr Anspruch auf Unpersönlichkeit ist ein Gefühl, daß ihre Person mesquin ist z. B. Flaubert, selber seiner satt, als ‚bourgeois‘“.

Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt

Diese „Zusammenfassung meiner wesentlichsten philosophischen Heterodoxien“,1 eine „vollkommene Gesammt-Einführung“,2 die „meine Philosophie in ihrer dreifachen Eigenschaft, als lux, als nux und als crux, zur Erscheinung bringt“,3 sollte vorerst und „liebenswürdig genug ‚Müßiggang eines Psychologen‘“ heißen.4 Gar so harmlos5 ist auch dieser Titel nicht,6 aber Nietzsche nahm sich doch ein Bedenken von 1

An Heinrich Köselitz, 12. September 1888. An Carl Fuchs, 9. September 1888. 3 An Reinhart von Seydlitz, 13. September 1888. 4 An Carl Fuchs, 9. September 1888. Vgl. GD, Vorwort und Sprüche und Pfeile 1. 5 An Heinrich Köselitz, 12.- September 1888. 6 EH, JGB 2 : „Theologisch geredet – man höre zu, denn ich rede selten als Theologe – war es Gott selber, der sich als Schlange am Ende seines Tagewerks unter den Baum der Erkenntniss legte : er erholte sich so davon, Gott zu sein … Er hatte Alles zu schön gemacht … Der Teufel ist bloss der Müssiggang Gottes an jedem siebenten Tage …“, und EH, GD 3 : „Am 30. September [1888] grosser Sieg; Beendigung der Umwerthung [Der Antichrist]; Müssiggang eines Gottes am Po entlang. Am gleichen Tage schrieb ich noch das Vorwort zur ‚Götzen-Dämmerung‘, deren Druckbogen zu corrigiren meine Erholung im September gewesen war.“ Die Rede ist jeweils vom gelungenen Schaffen, das Nietzsche stets als weiblich denkt : „Das vollkommene Weib jeder Zeit ist der Müssiggang des Schöpfers an jedem siebenten Tage der Cultur, das Ausruhen des Künstlers in seinem Werke.“ (MA 2.1.274) 1884 notierte er : „Als ich 12 Jahre alt war, erdachte ich mir eine wunderliche Drei-Einigkeit : nämlich Gott-Vater, Gott-Sohn und Gott-Teufel. Mein Schluß, war, daß Gott, sich selber denkend, die zweite Person der Gottheit schuf : daß aber, um sich selber denken zu können, er seinen Gegensatz denken mußte, also schaffen mußte. – Damit fieng ich an, zu philosophiren.“ ( VII-2.26[390]) 2

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Heinrich Köselitz, seinem „Peter Gast“, zu Herzen,7 denn unstreitig ist „der Inhalt vom Allerschlimmsten und Radikalsten, obwohl unter viele fi nesses und Milderungen versteckt.“8 Die (bis zuletzt offene) Gliederung9 folgt dem Plan von Jenseits von Gut und Böse und verweist damit noch einmal zurück auf Menschliches, Allzumenschliches. Polemischer freilich als Jenseits von Gut und Böse, zugleich ‚unzeitgemäß‘ europäischer als in den Jahren der ersten „vier Attentate[-]“ (EH, UB 2), war Nietzsche mit dem Fall Wagner erneut zum Frontalangriff übergegangen :10 „Der Krieg war immer die grosse Klugheit aller zu innerlich, zu tief gewordnen Geister;11 selbst in der Verwundung liegt noch Heilkraft. […] Diese kleine Schrift ist eine grosse Kriegserklärung; und was das Aushorchen von Götzen anbetriff t, so sind es dies Mal keine Zeitgötzen, sondern ewige Götzen, an die hier mit dem Hammer wie mit einer Stimmgabel gerührt wird“.12 Wenn zum Schluß der „Hammer redet“, um das „härter als Erz“ zu evozieren,13 war er schon im Vorwort dreifach überdeterminiert als Perkussionshammer, Stimmgabel und sokratischer Knöchel, der an Protagoras’ „bewegtes Sein“ klopft, „ob es

7

An Heinrich Köselitz, 27. September 1888. An Carl Fuchs, 9. September 1888. 9 Vgl. den Brief an den Verleger Naumann, 27. September 1888. 10 „Attentate sind besser als schleichende Verdrießlichkeiten.“ (V-2.11 [28], 1881) 11 Nietzsche spielt an auf Heraklit (B 53) : „Der Krieg (pólemos) ist von allem der Vater, von allem der König, und zeigt die einen als Götter, die andern als Menschen, macht die einen zu Knechten, die andern zu Freien.“ (Hermann Diels & Walther Kranz : Die Fragmente der Vorsokratiker [DK], Berlin 61952, 22) 12 GD, Vorwort. „Es läuft wirklich auf horrible Detonationen hinaus“ (an Heinrich Köselitz, 27. September 1888). 13 Za 3.12 : Von alten und neuen Tafeln 29, zitiert Horaz’ „aere perennius“ (Oden III.30). 8

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heil oder morsch klingt“.14 Ein Quiproquo : „‚ich, Plato, bin die Wahrheit‘“15 – Platon hätte es nicht sagen können, aber Nietzsche muß zu verstehen geben „‚ich, Nietzsche, bin die Wahrheit‘, denn es ist nichts mehr mit der Wahrheit an sich. Schon 1874, in Schopenhauer als Erzieher,16 hatte er geschrieben : ‚Seht euch vor, sagt Emerson,17 wenn der grosse Gott einen Denker auf unsern Planeten kommen lässt. Alles ist dann in Gefahr. Es ist wie wenn in einer grossen Stadt eine Feuersbrunst ausgebrochen ist, wo keiner weiss, was eigentlich noch sicher ist und wo es enden wird. Da ist nichts in der Wissenschaft, was nicht morgen eine Umdrehung erfahren haben möchte, da gilt kein litterarisches Ansehn mehr, noch die sogenannten ewigen Berühmtheiten; alle Dinge, die dem Menschen zu dieser Stunde theuer und werth sind, sind dies nur auf Rechnung der Ideen, die an ihrem geistigen Horizonte aufgestiegen sind und welche die gegenwärtige Ordnung der Dinge ebenso verursachen, wie ein Baum seine Aepfel trägt. Ein neuer Grad der Kultur würde augenblicklich das ganze System menschlicher Bestrebungen einer Umwälzung unterwerfen.‘18

14

Platon : Theaet. 197d2-4. GD, Wie die ‚wahre Welt‘ endlch zur Fabel wurde 1. 16 Vgl. GD, Streifzüge 21 – 23. 17 Vgl. GD, Streifzüge 13. Nietzsche liest (und exzerpiert) Emerson seit den sechziger Jahren. Vgl. auch FW 92 : „Der Krieg ist der Vater aller guten Dinge, der Krieg ist auch der Vater der guten Prosa ! […] Um von Goethe abzusehen, welchen billigerweise das Jahrhundert in Anspruch nimmt, das ihn hervorbrachte : so sehe ich nur Giacomo Leopardi, Prosper Mérimée, Ralph Waldo Emerson und Walter Savage Landor, den Verfasser der Imaginary Conversations, als würdig an, Meister der Prosa zu heissen.“ 18 SE 3.8. Emerson : Circles (1841), von Nietzsche zitiert nach : Ralph Waldo Emerson. Versuche. (Essays.) Aus dem Englischen von G. Fabricius. Hannover. Carl Meyer. 1858, S. 226. Obwohl noch in Anführungszeichen eingeschlossen, ist die Passage ab „alle Dinge“ Nietzsches eigne Interpretation. 15

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„Augenblicklich“ – „sofort“… :19 1888 hat die seit 1876 wie Brünnhilde20 nur eingeschläferte Naherwartung sich wieder eingefunden als das innerste Motiv des Nietzscheschen Schreibens und Planens. Sich zurückzufühlen in diese Gestimmtheit, dies emotionale Korrelat der geglaubten Utopien der zweiten Hälfte des neunzehnten und der ersten des zwanzigsten Jahrhunderts ist in der hyperkomplexen Welt unsrer medialen Moderne wohl kaum mehr möglich.21 Zwar kann der 1903 geborene Adorno noch versichern : „Die Elemente jenes Anderen sind in der Realität versammelt, sie müßten nur, um ein Geringes versetzt, in neue Konstellation treten, um ihre rechte Stelle zu fi nden“;22 aber der um zwei Jahrzehnte jüngere Jean-François Lyotard wird schon das Ende der „grands récits“, der „großen Erzählungen“ diagnostizieren, ihre seit 1968 allgemein fühlbar gewordene Unglaubwürdigkeit.23 Achtzig Jahre früher : Im September erscheint Der Fall Wagner (und erregt Aufsehen),24 im November die Götzen19

Vgl. M 96 : „Es giebt jetzt vielleicht zehn bis zwanzig Millionen Menschen unter den verschiedenen Völkern Europa's, welche nicht mehr ‚an Gott glauben‘, – ist es zu viel gefordert, dass sie einander ein Zeichen geben ? Sobald sie sich derartig erkennen, werden sie sich auch zu erkennen geben, – sie werden sofort eine Macht in Europa sein […].“ 20 Vgl. WA 4 : „Siegfried und Brünnhilde; das Sakrament der freien Liebe; der Aufgang des goldnen Zeitalters; die Götterdämmerung der alten Moral – das Uebel ist abgeschaff t …“. 21 „Operative Schließung, Emanzipation von Kontingenz, Selbstorganisation, Polykontexturalität, Hyperkomplexität der Selbstbeschreibungen oder einfacher und unverständlicher formuliert : Pluralismus, Relativismus, Historismus, all das sind nur verschiedene Anschnitte dieses Strukturschicksals der Moderne.“ (Niklas Luhmann : Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1997 [11995], S. 499) 22 Adorno : Ästhetische Theorie, GS 7, hg. von Gretel Adorno und Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1970, S. 199. 23 Jean-François Lyotard : La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979 (dt. Das postmoderne Wissen, Graz u. a. 1986). 24 Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem, Leipzig 1888.

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Dämmerung; Ende Dezember sind Der Antichrist,25 Ecce homo,26 die Dionysos = Dithyramben27 und Nietzsche contra Wagner28 druckfertig. In Nietzsches desolate Verfassung am Anfang des Jahrs gibt ein Brief an Freund Overbeck bedrückenden Einblick,29 die Krankheit nimmt einen Lauf, der diesmal auch die Texte selbst angreift.30 Zwar bleibt das philosophische Ur25

Nietzsche hat im eigenhändigen Druckmanuskript den ursprünglichen Untertitel Umwerthung aller Werthe durchgestrichen und durch Fluch auf das Christenthum ersetzt. Erschienen 1895 im achten Band der unter Leitung der Schwester herausgegebenen Großoktav-Ausgabe, Leipzig 1894 – 1904. 26 Ecce homo [Wie man wird, was man ist], hg. von Raoul Richter, Leipzig (Insel-Verlag) 1908. 27 Erschien zusammen mit Also sprach Zarathustra, Bd. 4, Leipzig, 1891. 28 Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen, Leipzig 1889. 29 Am 3. Februar 1888 : „[D]ie Umrisse der ohne allen Zweifel ungeheuren Aufgabe, die jetzt vor mir steht, steigen immer deutlicher aus dem Nebel heraus. Es gab düstere Stunden, es gab ganze Tage und Nächte inzwischen, wo ich nicht mehr wußte, wie leben und wo mich eine schwarze Verzweiflung ergriff, wie ich sie bisher noch nicht erlebt habe. Trotzdem weiß ich, daß ich weder rückwärts, noch rechts, noch links weg entschlüpfen kann : ich habe keine Wahl. Diese Logik hält mich jetzt allein aufrecht : von allen andern Seiten aus betrachtet ist mein Zustand unhaltbar und schmerzhaft bis zur Tortur. Meine letze Schrift [Zur Genealogie der Moral] verräth etwas davon : in einem Zustande eines bis zum Springen gespannten Bogens thut einem jeder Affekt wohl, gesetzt, daß er gewaltsam ist. Man soll jetzt nicht von mir ‚schöne Sachen‘ erwarten : so wenig man einem leidenden und verhungernden Thiere zumuthen soll, daß es mit Anmuth seine Beute zerreißt. Der jahrelange Mangel einer wirklich erquickenden und heilenden menschlichen Liebe, die absurde Vereinsamung, die es mit sich bringt, daß fast jeder Rest von Zusammenhang mit Menschen nur eine Ursache von Verwundungen ist : das Alles ist vom Schlimmsten und hat nur Ein Recht für sich, das Recht, nothwendig zu sein. –“ 30 „Die Gefahr bei außerordentlichen Geistern ist keine kleine, daß sie irgend wann die fürchterlichen Genüsse des Zerstörens, des Zugrunderichtens, des langsam Zugrunderichtens erstreben lernen : wenn

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teil klar, aber Nietzsches Wertungen bezeugen unübersehbar die Verwilderung der Affekte und den fortschreitenden Verlust der Herrschaft über die wechselnden Stimmungslagen.31 Ins Chaos32 verläuft sich, von außen betrachtet und die Zeit in Tribschen abgerechnet,33 ein Leben der Einsamkeit, Heiihnen nämlich durchaus die schaffende That, etwa durch den Mangel an Werkzeugen oder sonstigen Unfug des Zufalls, versagt bleibt. In dem Haushalte solcher Seelen giebt es dann kein Entweder-Oder mehr; und vielleicht müssen sie gerade das was sie bis dahin am Meisten geliebt haben, mit der Lust eines Teufels auf eine feine langwierige Art verderben.“ ( VII-3.38[9], 1885) 31 „Im dionysischen Zustande ist […] das gesammte Affekt-System erregt und gesteigert : so dass es alle seine Mittel des Ausdrucks mit einem Male entladet und die Kraft des Darstellens, Nachbildens, Transfigurirens, Verwandelns, alle Art Mimik und Schauspielerei zugleich heraustreibt. Das Wesentliche bleibt die Leichtigkeit der Metamorphose, die Unfähigkeit, nicht zu reagiren (– ähnlich wie bei gewissen Hysterischen, die auch auf jeden Wink hin in jede Rolle eintreten).“ (GD, Streifzüge 10). Vgl. GD, Was den Deutschen abgeht 6 : „Alle Ungeistigkeit, alle Gemeinheit beruht auf dem Unvermögen, einem Reize Widerstand zu leisten – man muss reagiren, man folgt jedem Impulse.“ 32 Vgl. FW 109 und V-2.11[121] (1881) : „Fortwährend arbeitet noch das Chaos in unserem Geiste : Begriffe Bilder Empfi ndungen werden zufällig neben einander gebracht, durch einander gewürfelt. Dabei ergeben sich Nachbarschaften, bei denen der Geist stutzt : er erinnert sich des Ähnlichen, er empfi ndet einen Geschmack dabei, er hält fest und arbeitet an den Beiden, je nachdem seine Kunst und sein Wissen ist.“ 33 Vgl. EH, Warum ich so klug bin 5 : „Ich lasse den Rest meiner menschlichen Beziehungen billig; ich möchte um keinen Preis die Tage von Tribschen aus meinem Leben weggeben, Tage des Vertrauens, der Heiterkeit, der sublimen Zufälle – der tiefen Augenblicke … Ich weiss nicht, was Andre mit Wagner erlebt haben : über unsern Himmel ist nie eine Wolke hinweggegangen.“ Dazu EH, Warum ich so gute Bücher schreibe 2 : „Wer einen Begriff davon hat, was für Visionen mir schon damals über den Weg gelaufen waren, kann errathen, wie mir zu Muthe war, als ich eines Tags in Bayreuth aufwachte. Ganz als ob ich träumte … Wo war ich doch ? Ich erkannte Nichts wieder, ich erkannte kaum Wagner wieder. Umsonst blätterte ich in meinen Erinnerungen.

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matlosigkeit, Sehnsucht nach Geborgenheit und menschlichweiblicher Wärme, ein verzweifelter Kampf gegen die Krankheit unter der immerwährenden sichtbaren wie unsichtbaren Kontrolle durch Mutter und Schwester.34 Hätte Nietzsche Tribschen – eine ferne Insel der Glückseligen : kein Schatten von Ähnlichkeit. Die unvergleichlichen Tage der Grundsteinlegung, die kleine zugehörige Gesellschaft, die sie feierte und der man nicht erst Finger für zarte Dinge zu wünschen hatte : kein Schatten von Ähnlichkeit.“ 34 „Die Behandlung, die ich von Seiten meiner Mutter und Schwester erfahre, bis auf diesen Augenblick, flösst mir ein unsägliches Grauen ein : hier arbeitet eine vollkommene Höllenmaschine, mit unfehlbarer Sicherheit über den Augenblick, wo man mich blutig verwunden kann – in meinen höchsten Augenblicken, … denn da fehlt jede Kraft, sich gegen giftiges Gewürm zu wehren … Die physiologische Contiguität ermöglicht eine solche disharmonia praestabilita … Aber ich bekenne, dass der tiefste Einwand gegen die ‚ewige Wiederkunft‘, mein eigentlich abgründlicher Gedanke, immer Mutter und Schwester sind.“ (EH, Warum ich so weise bin 3) Vgl. VIII-2.10[128] (Herbst 1887) : „Pascal, der bewunderungswürdige Logiker des Christenthums, […] man erwäge sein Verhältniß zu seiner Schwester […]“, und VIII-3.14[162] (1888) : „Philosoph […] [Seit Pyrrho] fürchteten sich am Allermeisten die Philosophen vor der Schwester – die Schwester ! Schwester ! ’s klingt so fürchterlich !  – und vor der Hebamme ! … (Ursprung des Coelibats)“. Zur berufenen Hebamme vgl. Platon : Theaet. 148d – 151d. – Freuds Totem und Tabu erscheint 1913. Indem die industrielle Moderne antritt im Zeichen grenzenloser maschineller Produktion, tabuiert sie zugleich den klassischen Begriff der (re)produktiven Natur (phýsis), damit deren unmittelbare gesellschaftliche Erscheinung, die Sexualität, und darin den Inzest als die drohende „Wiederkehr des Verdrängten“, nämlich der Identität als Grund-Begriff der natürlichen Produktion. Mit dem ersten Akt der Walküre hat Wagner, in eine „ursprüngliche“ Produktivität zurückhörend, den Tabubruch auf die Bühne gebracht : „Not tut ein Held, / Der, ledig göttlichen Schutzes, / Sich löse vom Göttergesetz; / So nur taugt er / Zu wirken die Tat, / Die, wie not sie den Göttern, / Dem Gott doch zu wirken verwehrt.“ (Die Walküre, 2. Aufzug, V. 763 – 769) – und Nietzsche hatte es verstanden : „Haben Sie bemerkt […], dass die Wagnerischen Heldinnen keine Kinder bekommen ? – Sie können’s nicht … Die Verzweiflung, mit der Wagner das Problem angegriffen hat, Siegfried

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selbst sich nicht jedes Mitleid verboten, hier wäre dessen nächster Gegenstand. Das eine freilich ist die Krankheit, das andre ihre gedankliche Verwindung, die philosophische Interpretation durch Nietzsche selbst. Sie bleibt nachvollziehbar, läßt begreifen, wie all jene Passagen zu verstehen sind, die den heutigen Leser fassungslos machen, wenn sie ihm durchs dunkle Prisma des zwanzigsten Jahrhunderts hindurch in die Augen springen.35 „Letzte“ Konsequenzen sind immer gefährlich und nie ganz konsequent – das ist selber eine Konsequenz aus Nietzsches kontemplativer Periode.36 Die Eruption des dionysischen Gedankens hatte den Altphilologen zum Parteigänger und Agitator gemacht. 1876 läßt die Enttäuschung den Philosophen zu sich kommen.37 Der weitere Weg war die Klärung des Verhältnisses von Wissenschaft und Weisheit unter den historischen Bedingungen des Positivismus (Menschliches, Allzumenschliches),38 die Entdeckung des schaffenden Trägers der Weisheit (Vermischte Meinungen und Sprüche), die Einverüberhaupt geboren werden zu lassen, verräth, wie modern er in diesem Punkte fühlte.“ (WA 9) 35 Zum Beispiel GD, Die ‚Verbesserer‘ der Menschheit 1 – 5, „Moral für Ärzte“, GD, Streifzüge 36. 36 Zum Beispiel FW 51 : „Ich […] mag von allen Dingen und allen Fragen, welche das Experiment nicht zulassen, Nichts mehr hören. Diess ist die Grenze meines ‚Wahrheitssinnes‘ : denn dort hat die Tapferkeit ihre Recht verloren.“ 37 „Als ich allein weiter gieng, zitterte ich; nicht lange darauf, und ich war krank, mehr als krank, nämlich müde, aus der unaufhaltsamen Enttäuschung über Alles, was uns modernen Menschen zur Begeisterung übrig blieb, über die allerorts vergeudete Kraft, Arbeit, Hoff nung, Jugend, Liebe“ (MA 2, Vorrede 3) 38 „Was uns von allen Platonischen und Leibnitzischen Denkweisen am Gründlichsten abtrennt, das ist : wir glauben an keine ewigen Begriffe, ewigen Werthe, ewigen Formen, ewigen Seelen; und Philosophie, soweit sie Wissenschaft und nicht Gesetzgebung ist, bedeutet uns nur die weiteste Ausdehnung des Begriff s ‚Historie‘.“ ( VII-3.38[14], 1885)

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leibung des Schattens (Der Wanderer und sein Schatten) und die kontemplative Ausfaltung des neuen synthetischen Ich (Morgenröthe). Es folgen die Einverleibung dieses Ich in die „großen Vernunft“39 (Fröhliche Wissenschaft), die Entzweiung in den Denker und seinen Gedanken (Also sprach Zarathustra),40 und endlich dessen stufenweise Wiederaneignung ( Jenseits von Gut und Böse, Vorreden, Wir Furchtlosen und Zur Genealogie der Moral) : Die 1876 paralysierte Naherwartung einer menschlich verklärten Welt ist zurückgekehrt. Diese in den Vorreden von 1886 und noch einmal im Ecce homo verinnerlichte Entwicklung nimmt die Gestalt eines Systems an, das sich von allen bisherigen Systemen radikal dadurch unterscheidet, daß es unter allen „wahren ‚Lebens-systeme[n]‘, deren jeder von uns eins ist“,41 als das sich selbst wissende die eigne Paradoxie aushält als die temporäre Vereinigung des Unvereinbaren. Hatte das Vorbild Heraklit die Paradoxien seiner Lehre im göttlichen Welturteil (logos eôn) anschauen42 und Hegel die Widersprüche „in ihren Grund“ aufheben können,43 ist es in der industriellen Moderne nichts 39

Vgl. Za 1.4 : Von den Verächtern des Leibes : „[…] der Erwachte, der Wissende sagt : Leib bin ich ganz und gar, und Nichts ausserdem; und Seele ist nur ein Wort für ein Etwas am Leibe. Der Leib ist eine grosse Vernunft, eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ‚Geist‘ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft.“ 40 VII-2.26[394] (1884) und öfter : „mein Sohn Zarathustra“. Vgl. VII1.12[43] (Sommer 1883) : „Wovon der Vater schwieg, das kommt im Sohn zur Rede. Und oft ist der Sohn nur die enthüllte Seele des Vaters.“ 41 V-2.11[7] (1881). M 343 evoziert in diesem Sinn „die Reise um die Welt (die ihr selber seid !)“. 42 Vgl. Heraklit (DK 22, B 67) : „Der Gott Tag Nacht, Winter Sommer, Streit Frieden, Fülle Hunger : er wandelt sich wie (die Salbe), die, Gewürzen zugesetzt, nach deren Geruch genannt wird.“ 43 Vgl. Hegel : Wissenschaft der Logik. Erster Band. Die objective Logik. Zweytes Buch. Die Lehre vom Wesen. 1.2.C. Der Wider-

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mehr mit diesen transzendentalen Signifi katen der Metaphysik : All ihre Identitäten sind depotenziert zum „Unsinn“44 des historisch Vergangenen kraft der modernen Logik der Funktion, deren nicht zu tilgende Differenz jede Synthesis in ein Bis-auf-weiteres… verwandelt im endlosen Aufschub. 1888 ist nichts mehr „einzuverleiben“, und versteckterweise – manifest erst in den Botschaften des Januar 1889 – ist auch schon das ganz Andere unter dem alten Namen „Dionysos“ Eins geworden mit dem sich wissenden Lebens-System des Philosophen.45 In diesem Augenblick ist Nietzsche das System – nicht der Nietzschesche Gedanke, sondern, in Personaleinheit mit seinem Gedanken, er selbst : „ich habe die größte Umfänglichkeit der Seele, die je ein Mensch gehabt hat. Verhängnißvoll Gott oder Hanswurst – das ist das Unfreiwillige an mir, das bin ich.“46 Gott und Hanswurst, Weiser und Narr, Plauderer spruch, Anmerkung 3 (GW 11, hg. von Friedrich Hogemann und Walter Jaeschke, Düsseldorf 1978, S. 286-289) : „[…] So wäre der Widerspruch für das Tiefere und Wesenhaftere zu nehmen. Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die Bestim mung des einfachen Unmittelbaren, des todten Seyns; er aber ist die Wurzel aller Bewegung und Lebendigkeit; […] das Princip aller Selbstbewegung, die in nichts weiter besteht, als in ei ner Darstellung desselben. […] Die endlichen Dinge in ihrer gleichgültigen Mannichfaltigkeit, sind daher überhaupt diß, widersprechend an sich selbst, in sich gebrochen zu seyn und in ihren Grund zurückzugehen.“ 44 „Historia in nuce. – Die ernsthafteste Parodie, die ich je hörte, ist diese : ‚im Anfang war der Unsinn, und der Unsinn war, bei Gott ! und Gott (göttlich) war der Unsinn.“ (MA 2.1.22) 45 EH, Warum ich ein Schicksal bin 1 : „Ich kenne mein Loos. Es wird sich einmal an meinen Namen die Erinnerung an etwas Ungeheures anknüpfen, – an eine Krisis, wie es keine auf Erden gab, an die tiefste Gewissens-Collision, an eine Entscheidung herauf beschworen gegen Alles, was bis dahin geglaubt, gefordert, geheiligt worden war. Ich bin kein Mensch, ich bin Dynamit.“ Vgl. JGB 208. 46 VIII-3.25[6] (1888). Auch hinter dem Hanswurst noch verbirgt sich ein agitatorisches Moment : „Muss nicht Der, welcher die Menge bewe-

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im Negligé47 und höchster Gesetzgeber „mit dem Hammer“,48 Aristokrat und Pöbelmann :49 „Was unangenehm ist und meiner Bescheidenheit zusetzt, ist, daß im Grunde jeder Name in der Geschichte ich bin“50 – es gibt nichts anderes mehr : „Diese Welt ist der Wille zur Macht – und nichts außerdem ! Und auch ihr selber seid dieser Wille zur Macht – und nichts außerdem !“51 So ist Nietzsches philosophisches System das System, das alle andern Systeme in sich enthält. Und da es ein „einverleibtes“ System ist, enthält es sie auch als Lebens-Systeme, ist sie als ihre Form.52 Im Unterschied zu ihnen allen aber enthält es gen will, der Schauspieler seiner selber sein ? Muss er nicht sich selber erst in's Grotesk-Deutliche übersetzen und seine ganze Person und Sache in dieser Vergröberung und Vereinfachung vortragen ?“ (FW 236) – „Ich will kein Heiliger sein, lieber noch ein Hanswurst … Vielleicht bin ich ein Hanswurst … Und trotzdem oder vielmehr nicht trotzdem – denn es gab nichts Verlogneres bisher als Heilige – redet aus mir die Wahrheit. – Aber meine Wahrheit ist furchtbar : denn man hiess bisher die Lüge Wahrheit.“ (EH, Warum ich ein Schicksal bin 1. Vgl. den Briefentwurf an Wilhelm II Anfang Dezember 1888) 47 An Jacob Burckhardt, 6. Januar 1889. 48 VII-3.34[199] (1885) (auf Za 4 bezüglich), vgl. schon SE 3. „Denn das ist die eigenthümliche Arbeit aller grossen Denker gewesen, Gesetzgeber für Maass, Münze und Gewicht der Dinge zu sein.“ 49 „Ich notirte mir gestern, zur eignen Bestärkung auf dem einmal eingeschlagnen Wege des Lebens, eine Menge Züge, an denen ich die ,Vornehmheit‘ oder den ,Adel‘ bei Menschen herauswittere – und was, umgekehrt, Alles zum ,Pöbel‘ in uns gehört. (In allen meinen Krankheits-Zuständen fühle ich, mit Schrecken, eine Art Herabziehung zu pöbelhaften Schwächen, pöbelhaften Milden, sogar pöbelhaften Tugenden – verstehen Sie das ? Oh Sie Gesunder !)“ (an Heinrich Köselitz, 23. Juli 1885) 50 An Jacob Burckhardt, 6. Januar 1889. 51 VII-3.38[12] (1885). 52 Wie die Nietzschesche Sentenz das System in elementarer Gestalt ist : „Der Glaube in der Form, der Unglaube im Inhalt – das macht den Reiz der Sentenz aus – also eine moralische Paradoxie“ ( VII-1.3[1].121, 1882) – „das Unvergängliche inmitten des Wechselnden“ (MA 2.1.168).

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sich selbst, ist in sich reflektiert, weiß sich.53 Und das ist das Riff, an dem Nietzsches Schiff geradeso scheitert54 wie Freges Logizismus an Russells Mengen- oder Klassen-Antinomie. Die „Einzel-Person“ von „unendliche[m] Werth“ ist nämlich der „Träger des Lebens-prozesses“,55 der Prozeß als solcher die Summe der Lebens-Funktionen. Selber nicht Funktion, ist dieser Träger die dionysische Differenz selbst. Das System, das sie geschichtlich identifi ziert, enthält sie damit als seinen Gegenstand und enthält sie nicht als seinen Träger, enthält sich als Lebens-System und enthält sich nicht als Lebens-System, weiß sich und weiß sich nicht.56 So ist das System der eingeholDie „Modernität“ (vgl. WA , Vowort 1) hatte Baudelaire, diese „Art Richard Wagner ohne Musik“ ( VII-3.34[166], 1885), 1863 bestimmt als „das Übergängliche, Flüchtige, Kontingente, die Hälfte der Kunst, deren andre Hälfte das Unvergängliche und Unveränderliche ist“ (Der Maler des modernen Lebens IV ). 53 „Wenn ich nur den Muth hätte, Alles zu denken, was ich weiß.“ (An Overbeck, 12. Februar 1887) 54 Vgl. WA 4 : „[…] der Aufgang des goldnen Zeitalters; die Götterdämmerung der alten Moral – das Uebel ist abgeschaff t … Wagner’s Schiff lief lange Zeit lustig auf dieser Bahn. Kein Zweifel, Wagner suchte auf ihr sein höchstes Ziel. – Was geschah ? Ein Unglück. Das Schiff fuhr auf ein Riff; Wagner sass fest. Das Riff war die Schopenhauerische Philosophie; Wagner sass auf einer conträren Weltansicht fest. Was hatte er in Musik gesetzt ? Den Optimismus.“ 55 VIII-3.22[22] (1888), vgl. MA 2.1.325. 56 „Und wißt ihr auch, was mir ‚die Welt‘ ist ? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen ? [vgl. M 243] Diese Welt : ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, […] als Ganzes unveränderlich groß, […] ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, […] sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muß“ ( VII-3.38[12], 1885). Dies im System selbst vorgestellte System ist der Gedanke der ewigen Wiederkunft, den Nietzsche zunächst als eine Hypothese („Wie, wenn“…) von „grösste[m] Schwergewicht“ (FW 341) einführt. Kern ist Schopenhauers Lehre von der Freiheit nicht des empirischen, wohl aber des intelligiblen Charakters, der „ein außerzeitlicher, daher untheilbarer und unveränderlicher Willensakt“ sei (WWV I, § 55, W I, S. 380). Nietzsches Tilgung dieses meta-

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ten Differenz der logische Ausdruck ihrer Uneinholbarkeit,57 es selbst die Grenze, an der die Logik sich „um sich selbst ringelt und endlich sich in den Schwanz beisst“ (GT 15) : Irrthum der Philosophen. – Der Philosoph glaubt, der Werth seiner Philosophie liege im Ganzen, im Bau : die Nachwelt fi ndet ihn im Stein, mit dem er baute und mit dem, von da an, noch oft und besser gebaut wird : also darin, dass jener Bau zerstört werden kann und doch noch als Material Werth hat. (MA 2.1.201)

physischen Rests von ‚Außerzeitlichkeit‘ nimmt den Willensakt in die Zeit als in den Augenblick hinein (Za 3.2 : Vom Gesicht und Räthsel). In dieser Grenze will ich etwas, weil ich es einst gewollt habe, und habe es einst gewollt, weil ich es jetzt will. Kraft ihrer einstigen Enscheidung ist die Person, was sie ist, weiß sich als ihr ‚Lebens-prozess‘, kraft der jetzigen Entscheidung ist sie Träger des Lebensprozesses und weiß sich nicht. 57 „Der Schaffende als der Selbst-Vernichter.“ ( VII-1.21[3], 1883, Plan zu Zarathustra IV ). Vgl. GM 3.27 : „Alle grossen Dinge gehen durch sich selbst zu Grunde, durch einen Akt der Selbstaufhebung : so will es das Gesetz des Lebens, das Gesetz der nothwendigen ‚Selbstüberwindung‘ im Wesen des Lebens“ – sobald es nämlich nicht mehr das Und dann … zu sein vermag, das schon bei Schopenhauer den Status eines Existenzials hatte : Des Menschen „Leben schwingt also, gleich einem Pendel, hin und her, zwischen dem Schmerz und der Langenweile, welche beide in der That dessen letzte Bestandtheile sind“ ( WWV I, § 57, W I, S. 407).

Editorische Notiz

Die Wiedergabe des Textes von Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift erfolgt nach der ersten Ausgabe von 1887, die des Textes der Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt nach der ersten Ausgabe von 1889. Die Eigentümlichkeiten der Orthographie der Zeit und der Interpunktion Nietzsches bleiben unverändert erhalten; offenkundige Fehler wurden stillschweigend korrigiert, die Edition der beiden Texte in der Kritischen Gesamtausgabe der Werke von Colli und Montinari (Berlin 1967 ff.) wurde durchgängig vergleichend herangezogen. Der Seitenumbruch der Originalausgaben wird in den jeweiligen Texten fortlaufend durch einen senkrechten Strich | markiert und im Kolumnentitel innen mit Angabe der Seitenzahlen angezeigt.

Siglenverzeichnis

AC

Der Antichrist (1888)

EH

Ecce homo (1888/89)

FW

Die fröhliche Wissenschaft (1882)

GD

Götzen-Dämmerung (1889)

GM

Zur Genealogie der Moral (1887)

GT

Die Geburt der Tragödie (1872)

HL

Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874)

JGB

Jenseits von Gut und Böse (1886)

KGB

Briefe. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1975 ff.

KGW Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v G. Colli u. M. Montinari, Berlin / New York 1967 ff. M

Morgenröthe (1881)

MA

Menschliches, Allzumenschliches

NW

Nietzsche contra Wagner (1894)

PhtZ

Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (1873)

SE

Schopenhauer als Erzieher (1874)

UB

Unzeitgemässe Betrachtungen

WA

Der Fall Wagner (1888)

WB

Richard Wagner in Bayreuth (1878)

Za

Also sprach Zarathustra