Jenseits der Expertenkultur: Zur Aneignung und Transformation biopolitischen Wissens in der Schule (German Edition) 3531155113, 9783531155111

Wissen wird immer mehr zum Expertenwissen. Wissen über z.B. Neurowissenschaften oder Biotechnologie kann zunehmend schwe

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Jenseits der Expertenkultur: Zur Aneignung und Transformation biopolitischen Wissens in der Schule (German Edition)
 3531155113, 9783531155111

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Katharina Liebsch · Ulrike Manz Jenseits der Expertenkultur

Katharina Liebsch · Ulrike Manz

Jenseits der Expertenkultur Zur Aneignung und Transformation biopolitischen Wissens in der Schule

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

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1. Auflage 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frank Engelhardt Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15511-1

Inhalt

Dank ....................................................................................................................7 Problemaufriss....................................................................................................9 Kapitel I Die Veränderung des Wissens .........................................................................17 1. Wissen in der Wissensgesellschaft. Zum Zusammenhang von Wissenssoziologie und Bildungsforschung .............................................17 2. Die Rationalität unsicheren Wissens .......................................................30 3. Wissen und Handeln. Schulische Praxis im Kontext relativen Wissens..43 Kapitel II Biotechnologien. Diskursive und (bildungs)politische Aneignungen ...........61 1. Biomacht, Biopolitik, Bioethik................................................................61 2. Biopolitik und Schule ..............................................................................77 Kapitel III Zugänge: Implizite Normen – die Bedeutung von Weltbildern ...................89 1. Sinnbezug Technik und Naturwissenschaft.............................................92 2. Sinnbezug christliche Religion..............................................................101 3. Sinnbezug Ethik und Gesellschaftskritik...............................................112 4. Sinnbezug Methodik, Didaktik und Pragmatik .....................................119 5. Sinnbezug Nihilismus und Notwendigkeit ............................................126 6. Bilder von der Welt und Haltungen zur Welt ........................................132 Kapitel IV Plausibilisierungen: Neue Rationalitäten.....................................................137 1. Faktizität und Normativität....................................................................139 2. Evidenz von Erfahrungen ......................................................................151 3. Authentizität und Betroffenheit .............................................................166 4. Fazit: Rationalitäten und die Grenzen der Plausibilisierung..................175

Kapitel V Routinen: Wissen in Aktion ..........................................................................179 1. Wissen und Erfahrung ...........................................................................180 2. Die Aktualisierung von Wissen.............................................................186 3. Wissen und Meinung.............................................................................194 4. Implizites Wissen, relatives Wissen und die Notwendigkeit neuer Handlungsformen ..................................................................................200 Fazit Wandel und Innovation als Aufgabe. Die Gestaltung von Bildungsinhalten zwischen Beliebigkeit, Ökonomisierung und gesellschaftspolitischer Positionierung.................................................................................................203 Literatur..........................................................................................................213 Anhang ............................................................................................................223

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Dank

Die vorliegenden Thesen und Überlegungen entstanden im Rahmen des interdisziplinären Forschungs- und Nachwuchskollegs „Bioethik im Horizont ethischer Bildung – Didaktische Handlungsfelder und ihre Grundlagen“, das von Oktober 2002 bis September 2007 an der Pädagogischen Hochschule in Weingarten durchgeführt wurde. In diesem Kolleg ist unter der engagierten und umsichtigen Leitung von Bruno Schmid ein Forschungszusammenhang entstanden, in dem Doktorandinnen, ProfessorInnen und wissenschaftliche MitarbeiterInnen außerordentlich konstruktiv und mit viel Spaß an der Sache miteinander gearbeitet haben. Wir danken Siegbert Peetz, Edgar Thaidigsmann, Eike %ohlken, Hans-Martin Brüll, Ralf Elm, Monika Fuchs, Julia Horlacher, Beate Luther-Kirner, Christine Mann und vor allem Bruno Schmid für die aufmerksame Reflexion der Forschungsarbeit, für kritische Nachfragen, konstruktive Vorschläge, ihr Interesse am Austausch sowie das Ringen um interdisziplinäre Verständigung. Dem ehemaligen Rektor der PH Weingarten Rudolf Meissner danken wir für sein Engagement bei der Beantragung des Kollegs. Er hat sich für die Finanzierung der sozialwissenschaftlichen Perspektive in diesem Forschungszusammenhang stark gemacht. Unser Dank gilt auch allen Interviewpartnerinnen und Interviewpartnern, die uns ganz selbstverständlich und unkompliziert an ihren Überlegungen und ihrem Alltag teilhaben ließen und uns ihre Zeit zur Verfügung stellten. In diesem Kontext war es uns beiden möglich, ein Produkt von kollegialer Zusammenarbeit und Co-Autorinnenschaft zu erstellen und das vorliegende Buch gemeinsam zu erarbeiten und zu schreiben. Katharina Liebsch und Ulrike Manz Frankfurt a.M. im Mai 2007

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Der Bedeutungszuwachs von Wissen ist ein Kennzeichen gegenwärtiger Gesellschaften. Insbesondere die mit der These von der Wissensgesellschaft verbundene Behauptung, dass Wissen als Motor gesellschaftlicher Entwicklungen an die Stelle materieller Produktionsmittel trete, charakterisiert diesen Bedeutungszuwachs in zugespitzter Form und hat die gesellschaftliche Debatte um Wissen vorangetrieben. Dabei wird nicht nur eine zunehmende Bedeutung von Wissen, sondern auch eine Veränderung der Wissensinhalte und Wissensproduzenten postuliert. Wissen, so heißt es, sei ständiger Innovationen unterworfen und verändere seinerseits das Verhältnis von Ökonomie und Politik, so dass sich auch die Regulation durch Wissenspolitik neu ausgestalte. Augenfällig ist, dass in dieser Debatte die Institution Schule als zentraler Ort der Wissensvermittlung wenig Beachtung erfährt. Innerhalb der Soziologie werden die Konsequenzen der Wissensgesellschaft für das Verständnis und die gesellschaftliche Funktion und Organisation von Bildung kaum debattiert. In der erziehungswissenschaftlichen und bildungspolitischen Diskussion um Bildung hingegen wird zwar intensiv um die Konzeptionierung einer zeitgerechten Schule gestritten, die Frage nach den gesellschaftspolitischen Veränderungsprozessen von Wissen spielt aber, wenn überhaupt, eine untergeordnete Rolle. Es scheint, als würde über Bildung unter Ausklammerung einer ihrer wichtigsten Grundlagen, dem Wissen, debattiert. Diese doppelte Leerstelle thematisiert die vorliegende Studie. Ausgehend von wissenssoziologischen Thesen zur Neuerung und Veränderung der Wissensproduktion werden korrespondierende Neuerungen und Veränderungen von Wissensaneignung in den Blick genommen. Konkret gilt unser Interesse der Frage, wie die Institution Schule die Konfrontation mit neuem Wissen, anderen Wissensformen, neuen Techniken und Produzenten von Wissen bewältigt. Untersucht wurde, welche Umgangsformen und Strategien Lehrkräfte entwickeln, um neue Wissensbestände in den schulischen Unterricht zu integrieren. Neuerung und Veränderung von Wissen haben wir exemplarisch am Thema Biotechnologie/Biopolitik betrachtet. Die Auswahl dieses Wissensgebiets ist zum einen dadurch begründet, dass biopolitische Fragestellungen zum Zeitpunkt der Untersuchung noch nicht zu den kanonisierten Wissensbeständen von Schule gehörten. Wir nahmen deshalb an, dass unterschiedliche Wege und Formen

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der Integration des Neuen in den schulischen Unterricht wahrscheinlich und beobachtbar sind. Zum anderen weisen die Wissensbestände aus dem Bereich der Biotechnologie/Biopolitik wesentliche Kennzeichen und Charakteristika neuer Wissensfelder auf: Biotechnologische Forschungen und Anwendungen repräsentieren Innovation und Fortschrittsdenken per se. Zahlreich sind die Neugründungen biotechnologischer Firmen und die Ausweitung der Forschungsaktivitäten in diesem Bereich – sowohl innerhalb der Industrie als auch an Universitäten. Im Rahmen dieser Expansion entwickelt sich eine zunehmende Verknüpfung von Grundlagenforschung mit einer anwendungs- und profitorientierten Ausrichtung der Forschung. So wird mittlerweile die Forschung an den Universitäten teilweise direkt von großen Biotechfirmen finanziert, während gleichzeitig in den Laboratorien der Privatwirtschaft Grundlagenforschung betrieben wird. Diese Verzahnung der gesellschaftlichen Teilbereiche Ökonomie und Wissenschaft führt zu einer veränderten Anforderung an Wissen dergestalt, dass anwendungsorientierte Effizienz zum wichtigen Bewertungsmaßstab wird. Das neue Wissen ist somit erstens in hohem Maße an einer Verwertbarkeitslogik orientiert. Gleichzeitig kommt es zweitens zu einer beschleunigten Herstellung neuer Wissensbestände, was bedeutet, dass sich sowohl das Wissen im quantitativen Sinne vermehrt als auch seine inhaltliche Bestimmung ständigen Revisionen unterzogen wird. Das, was gestern noch Gültigkeit besaß, kann morgen schon verworfen werden. Diese Veränderungsprozesse von Wissensbeständen treffen sicherlich für viele Formen der Wissensproduktion zu, neu dagegen ist das Tempo der Erweiterung und Veränderung von Wissen im Feld der Biotechnologie, seine ständige Innovation. Mit dieser Entwicklung ist eine systematische Produktion unsicheren Wissens verbunden, da weder die Verlässlichkeit noch die Auswirkungen gewiss sind. Gerade im biotechnologischen Bereich gibt es zahlreiche Wissensgebiete, in denen keine definitiven Aussagen im Sinne von Verifizierung oder Falsifizierung gemacht werden können, sondern die ausschließlich Parameter der Wahrscheinlichkeitsrechnung hervor bringen. Dies bezieht sich insbesondere auf den medizinisch-diagnostischen Bereich biotechnologischer Verfahren, die als eine Form der Präventivmedizin zur Anwendung kommen. So gilt beispielsweise in der Pränataldiagnostik ein erhöhtes Alter der Schwangeren als Indikation für eine Fruchtwasseruntersuchung, da die Wahrscheinlichkeit, ein Kind mit Behinderung zu bekommen, mit dem Alter um einige Prozentpunkte steigt. Dieses Wissen in Prozenten verbleibt unsicher, denn für die konkrete Frau können keine präzisen Aussagen gemacht werden. Dies zeigt drittens, dass neue Wissensbestände gekennzeichnet sind durch Unsicherheiten, die im Fall der Biotechnologie nicht selten immanent sind.

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Das Beispiel aus der Pränataldiagnostik macht zudem deutlich, dass die Forschungen in diesem Bereich lebens- und gesundheitsrelevante Entscheidungen über Anwendungs- und Handlungsbezüge verlangen, für die sie selbst nur unzureichend gute Gründe und Argumente anbieten. Im Bereich der Biomedizin besteht geradezu die Notwendigkeit von Handlungsentscheidungen, wenn es um die Frage geht, sich für oder gegen eine bestimmte Diagnostik oder Therapie zu entscheiden. Da die biotechnologischen und biomedizinischen Einsichten und Wissensbestände selbst aber nicht eindeutig sind, bedarf es zusätzlicher Parameter, um zu einer Handlungsentscheidung zu gelangen. Hier ist das wissenschaftlich produzierte Wissen allein unzureichend und es bedarf der Ergänzung um soziale, politische, lebensweltliche und normative Informationen und Gesichtspunkte, beispielsweise um zu entscheiden, ob ein Embryo mit einer möglichen Behinderung ausgetragen werden soll. Deshalb kann viertens festgehalten werden, dass die neuen biotechnologischen Wissensbestände eine Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten mit sich bringen, die es notwendig machen, das neue Wissen ethisch und politisch zu bewerten. Biotechnologisches Wissen illustriert hier exemplarisch, dass neues Wissen durch a) eine wachsende Ökonomisierung, b) ständige Innovation und die damit einhergehende Schnelllebigkeit, c) eine implizite Unsicherheit sowie durch die d) Notwendigkeit der Einbeziehung ethisch-politischer Kriterien und Gesichtspunkte charakterisiert ist. Diese Dynamiken der Inhalte, der Produktion, des Gehalts und der Reichweite des neuen Wissens fordern dazu auf, die Wissensvermittlung der Schule darauf hin zu befragen, ob und inwiefern sie dem neuen Gegenstand gerecht wird, ob und inwiefern sie ihn angemessen aufnimmt, bearbeitet und aneignet. Dies betrifft zum einen die Inhalte des Wissens, also das, was weitergegeben, gelernt und gewusst werden soll. Hier könnte beispielsweise vermutet werden, dass die implizite Handlungsaufforderung vieler biotechnologischer Wissensbestände eine Verbindung von biologischem und ethischem Wissen erforderlich macht und neue Konzeptionen fächerverbindenden Lernens hervorbringt. Zum zweiten werfen die Schnelllebigkeit des neuen Wissens und die mit ihm verbundenen konkurrierenden Deutungsmöglichkeiten die Frage auf, was eigentlich als gesichert und fundiert weiter gegeben werden kann, oder ob – zugespritzt formuliert – die Aufgabe von Schule als Ort der Weitergabe von Wissen neu begründet oder gar revidiert werden müsste. Diese Frage kann auch angesichts des erwähnten Zuwachses an Anwendungsorientierung und Ökonomisierung des

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biotechnologischen Wissens gestellt werden: Wie ändert sich das Verständnis von Bildung, wenn das so genannte Allgemeinwissen privatwirtschaftlich hergestellt und als solches auch Eingang in die schulische Wissensvermittlung findet? Die Frage nach der Aneignung neuen Wissens in und durch die Schule berührt den schulischen Bildungsprozess auf drei Ebenen: Sie betrifft zum einen die strukturelle Organisation von Bildungsinhalten. Hierzu zählen zum Beispiel die Aufteilung in „Fächer“ oder „Themen- und Problembereiche“ wie auch die Herstellung entsprechender Informations- und Arbeitsmaterialien zu den neuen Themengebieten sowie das bildungspolitische Procedere, das neue Wissen als Gegenstand schulischen Wissens verbindlich zu machen. Sie betrifft zum zweiten didaktische und methodische Fragen, da die Schnelllebigkeit des Wissens eine Verständigung darüber erforderlich macht, was eigentlich Ziel des Unterrichts sein soll, und wie die Ziele erreicht werden können. Zum dritten berührt die Frage nach der Aneignung biopolitischen Wissens durch die Schule das professionelle Selbstverständnis von Lehrerinnen und Lehrern. Da die mangelnde Eindeutigkeit des Wissens sowie die ständige Expansion von Wissen das Bild vom Lehrenden als Wissenden untergräbt, sind die Lehrenden durch die neue Thematik aufgefordert zu bestimmen, was sie können, wissen und sollen. Sie müssen die Ziele und Vorgehensweise ihres Unterrichts neu ausrichten, ihre Beziehung zu den Lernenden im Kontext der neuen Thematik bewusst gestalten und ihre Kenntnisse und Kompetenzen überprüfen und erweitern. Die Vielschichtigkeit dieses Aneignungs- und Integrationsprozesses lässt erahnen, dass der Umgang mit den neuen Wissensbeständen Schwierigkeiten, Probleme und Herausforderungen für Lehrerinnen und Lehrer bereithält. Wie Lehrende damit umgehen, und wie das in privatwirtschaftlichen und universitären Experten-Zusammenhängen hergestellte neue Wissen von ihnen als Laien und Anwendern aufgenommen, angeeignet und weiter verarbeitet wird, soll im Folgenden dargestellt und problematisiert werden. Unsere Befunde und Überlegungen resultieren aus einem dreijährigen Forschungsprojekt, das am Beispiel der Biotechnologie/Biopolitik der Frage nachging, wie sich die Unterrichtspraxis von Lehrern und Lehrerinnen verändert, wenn sie nicht auf gesicherte Wissensbestände zurückgreifen können.1 Die Kontaktaufnahme zu den Interviewten erfolgte mittels eines Rundbriefs an alle Realschulen in Baden-Württemberg sowie per Schneeballsystem. In dem Rund1

Das Forschungsprojekt mit dem Titel „Reflexive Professionalisierung von Lehrerinnen und Lehrern im Umgang mit unsicherem Wissen“ wurde als Teilprojekt im Forschungs- und Nachwuchskolleg „Bioethik im Horizont ethischer Bildung“ von 2003 bis 2006 mit Mitteln des Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst des Landes Baden-Württembergs an der Pädagogischen Hochschule Weingarten durchgeführt.

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schreiben fragten wir nach Personen, die bereit waren, über ihre Erfahrungen mit biotechnologischen und bioethischen Unterrichtsinhalten zu berichten. Auf der Basis der Reaktionen auf dieses Schreiben gewannen wir weitere Interviewpartnerinnen und -partner per Schneeballsystem und konnten das Sample der Befragten hinsichtlich der Schulformen, Stadt-Land-Verteilung, der beteiligten Unterrichtsfächer und dem Geschlechterproporz unter den Befragten erweitern. Insgesamt wurden 22 leitfadengestützte Interviews geführt und die relevanten Lehrpläne sowie einschlägige Unterrichtsmaterialien analysiert. Von den 22 Interviews wurden 18 mit Einzelpersonen durchgeführt, drei Interviews fanden mit einem Duo von Lehrkräften statt, und ein Interview erfolgte als Gruppendiskussion einer fünfköpfigen Gruppe von Lehrkräften. Die gemeinsam mit zwei Personen geführten Interviews ergaben sich aufgrund von Kooperationsprojekten der Befragten, die Gruppendiskussion war aus organisatorischen Gründen zwingend. Von den Schulformen war die Hauptschule mit 3 Lehrkräften vertreten, 12 Lehrkräfte unterrichten an Realschulen sowie 9 Lehrkräfte an Gymnasien. Die Interviewten unterrichteten Biologie (15), Evangelische Religion (6), Katholische Religion (6), Deutsch (6) und Ethik (4). Die Interviews wurden transkribiert und unter inhaltsanalytischen Gesichtspunkten kodiert und mehrfach in verschiedenen Kontexten und Gruppen analysiert. Vier ausgewählte Interviews wurden zu Fallgeschichten verdichtet.

Zum Aufbau der Studie Ausgehend von wissenssoziologischen Überlegungen zur Veränderung von Wissen und deren Bedeutung für das Verständnis und die Organisation von Bildung wird in Kapitel I der Versuch einer wissenssoziologischen Bestimmung schulischen Wissens unternommen. Es werden gegenwärtige Transformationsprozesse des Wissens beschrieben, in ihrer Spezifik mit dem Begriff des relativen Wissens analytisch zugänglich gemacht und auf die bildungspolitischen und pädagogischen Debatten um Lernen, Wissen und Bildung bezogen. Dabei ist auch die Frage nach dem Zusammenhang von Wissen und Handeln von Bedeutung. Diskutiert wird deshalb, wie das neue Wissen die schulische Praxis und damit auch das theoretische Verständnis von ‚Praxis’ verändert. Die Produktion, Rezeption und Diskussion des exemplarischen Gegenstands ‚Biotechnologie’ als eine Form relativen Wissens steht im Mittelpunkt von Kapitel II. Das neue Wissensgebiet wird begrifflich differenziert und theoretisch bestimmt, indem „Biopolitik“, „Biomacht“, „Bioethik“ anhand von Argumentationen, medialen Debatten und politischen Positionierungen veranschaulicht werden. Es wird begründet, dass wir die gesellschaftlich breit geführte bioethi-

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sche Debatte als eine Variante der Aneignung biotechnologischen Wissens verstehen. In ihrer institutionalisierten Form, beispielsweise als „Nationaler Ethikrat“ oder „Enquête-Kommission des Deutschen Bundestags“ oder als medial präsentierte Pro-und-Kontra-Stellungnahme, verschiebt, erweitert und transformiert sich das biotechnologische Wissen und es entsteht neues, bioethisches Wissen. Gleichermaßen wird das biotechnologische Wissen auch für den schulischen Kontext gesellschaftlich vorbereitet, zubereitet und institutionell präsentiert. Unterrichtsmaterial, Lehr- und Bildungsplänen und bildungsoffensiven Einrichtungen und Netzwerken zwischen Industrie, Universitäten und Schulen zeugen von Aneignungen biotechnologischen Wissens, die speziell für den schulischen Kontext erfolgen. Sie bilden ein Spektrum von vorhandenen und fehlenden Möglichkeiten, auf die Lehrerinnen und Lehrer bei der Bearbeitung biopolitischer Themenstellungen in ihrem Unterricht zurückgreifen können. Die Analyse des Interviewmaterials aber zeigt, dass der überwiegende Teil der Befragten sich seinen/ihren eigenen Reim auf die Sache macht, und die in Kapitel II beschriebenen Entwicklungen, Debatten, Materialien und Kooperationen bei der Planung und Durchführung von Biotechnologie/Biopolitik im Unterricht zumeist gar nicht berücksichtigt. Im Gegenteil finden sich ganz eigene, den jeweiligen Personen, ihren Aufgaben und sozialen Kontexten entsprechende Varianten der Erschließung und Aneignung des Themenfelds, die in den nachfolgenden Kapiteln veranschaulicht werden. So sind der Zugang und die Bearbeitung des neuen Wissensfeldes Biopolitik maßgeblich davon gekennzeichnet, dass die Lehrkräfte das neue Wissen in bestehende Sinn- und Wertperspektiven integrieren. Kapitel III beschreibt und analysiert die Zugänge zum neuen Wissen als fünf verschiedene im empirischen Material auffindbare Sinnperspektiven. Diese an übergreifende Weltbilder angelehnten Sinnperspektiven strukturieren sowohl die Rezeption und Weitergabe biopolitischen Wissens als auch das Professionsverständnis der Befragten. Gleichzeitig – und dies bildet die zweite Ebene der Analyse des Materials – finden sich Legitimations- und Rechtfertigungsstrategien, die als Logiken des Verstehens und Verhandelns bei der Bearbeitung biopolitischer Wissensbestände im Unterricht sichtbar werden. Sie liegen quer zu der An- und Einpassung neuen Wissens in ein Weltbild und machen die neue Thematik handhabbar. In Anlehnung an Paul Rabinow (Rabinow 2004) nennen wir diese Plausibilisierungen ‚Rationalitäten’ und bezeichnen damit Handlungsmuster und Sinnstrukturen, die sowohl rational-kognitiv als auch praktisch, moralisch und affektiv gestützt sind. Auf der dritten Ebene der Analyse des empirischen Materials zeigt sich die handlungsleitende und handlungsgestaltende Kraft von Weltbildern und Rationalitäten. Im Rückgriff auf Routinen wird Neues und Unbekanntes mit einem

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Handlungsrepertoir bewältigt, das mehrere Möglichkeiten in sich trägt. So besteht zum einen die Möglichkeit, das Neue in der Routine verschwinden zu lassen, zum zweiten ermöglichen Routinen einen routinisierten Umgang mit Neuem, drittens ist denkbar, dass die neuen Themenstellungen auch eine Etablierung neuer Routinen notwendig machen. In Kapitel V wird veranschaulicht, wie Routinen die Umgangsweisen der Lehrkräfte mit dem neuen Wissen bestimmen, wie auf bekannte Routinen zurückgegriffen und wie Bestehendes reflektiert, modifiziert und neu verhandelt wird. Die Analyse des empirischen Materials bebildert die vielfältigen Formen, Wege und Umgangsweisen von Lehrkräften mit neuen Wissensbeständen am Beispiel der Biopolitik. Sie zeigt einerseits das immanente Veränderungspotenzial neuer Wissensbestände, andererseits verdeutlicht sie die Notwendigkeit einer gesteuerten, systematischen, demokratisch kontrollierten Innovationsoffenheit von Bildungsinstitutionen. Derartige Bemühungen stehen erst am Anfang und so beschreibt die Studie den Beginn der schulischen Beschäftigung mit einer Thematik, deren gesellschaftliche Relevanz offensichtlich ist, deren Integration in dem Bildungskontext sich aber nur zögerlich und allmählich vollzieht. Im Mittelpunkt der empirischen Auswertung steht deshalb etwas, was unfertig und noch im Entstehen begriffen ist. So geht es im Folgenden vor allem um die Art der Problematisierungen, die den Umgang mit dem neuen Wissen der Biotechnologie/Biopolitik in der Schule leiten.

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Kapitel I Die Veränderung des Wissens

1. Wissen in der Wissensgesellschaft. Zum Zusammenhang von Wissenssoziologie und Bildungsforschung Wissen, Bildung und Information haben in der Gegenwartsgesellschaft einen hohen Stellenwert und seit einiger Zeit kursiert das Schlagwort von der „Wissensgesellschaft“. Mit dieser Begrifflichkeit ist die Behauptung verbunden, dass in sogenannten Wissensgesellschaften Wissen als Motor gesellschaftlicher Entwicklung an die Stelle materieller Produktionsmittel trete.1 Das Postulat einer Bedeutungszunahme von Wissen wirft die Frage nach der Rolle der Wissenschaften im Prozess der Produktion von Wissen auf; beispielsweise ob auch zukünftig die Wissenschaften die Gewährsinstanz für die Produktion von Wissen sein werden oder welche Veränderungen im Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft denkbar oder wahrscheinlich sind. Es wird sowohl eine fortschreitende „Verwissenschaftlichung der Gesellschaft“ vermutet als auch umgekehrt eine „Vergesellschaftung von Wissenschaft“ postuliert, in dem Sinne, dass es zu deutlichen Grenzverschiebungen und Grenzauflösungen zwischen den gesellschaftlichen Teilsystemen Wissenschaft, Politik oder Recht kommt.2 Die Debatte um die Wissensgesellschaft macht deutlich, dass sich die Funktion und Bedeutung wissenschaftlichen Wissens derzeit verändern. Dies ist allerdings kein historisch neues Phänomen und Rudolf Stichweh hat argumentiert, dass in den vergangenen hundert Jahren wissenschaftliches Wissen im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Teilbereichen durch drei grundlegende Dynamiken jeweils neu konstituiert wurde: Um 1918 begann ein beschleunigtes Wachstum der Universitäten und ein zunehmend größerer Teil der Bevölkerung hatte teil an der Universitätserziehung. Dadurch wurde zweitens Wissen aus seinen Traditionsbindungen herausgelöst, konnte leichter zirkulieren und musste

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Vgl. z.B. Stehr 1994; Bittlingmayer 2001; Willke 2001; Foray 2002; Kübler 2005. Vgl. Weingart 2003.

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von nun an aber „unablässig neu produziert“ werden.3 Damit kam es drittens zu Veränderungen in der funktionalen Differenzierung der gesellschaftlichen Wissensproduktion, und die gesellschaftlichen Teilsysteme, wie Recht, Erziehung, Politik und Wirtschaft, wurden stärker voneinander abhängig. Aufgrund dieser Entwicklung kann heute kein Teilsystem für sich reklamieren, bei der Produktion gesellschaftlich relevanten Wissens eine Vorrangstellung gegenüber anderen einzunehmen, auch die Wissenschaft nicht. Seit geraumer Zeit konkurriert sie mit verschiedenen anderen Wissensformen und Arten und Weisen der Wissensproduktion. Darüber hinaus ist zu beobachten, dass das wissenschaftlich hergestellte Wissen gegenwärtig durch drei Tendenzen besonders heraus gefordert wird: x Wissen orientiert sich stärker als bisher an Nützlichkeits- und Verwertbarkeitskriterien und muss sich an dem Aspekt der Problemlösefähigkeit messen lassen. Damit verändern sich sowohl die Legitimationsnotwendigkeiten von Forschung als auch die Bewertung ihrer Ergebnisse, die zunehmend von Kriterien wie Wettbewerbsfähigkeit und Effizienz abhängig gemacht werden.4 x Das Tempo der Produktion, Veränderung und Entwertung wissenschaftlichen Wissens beschleunigt sich. Wissen und Expertise werden einem Prozess der kontinuierlichen Revision unterzogen. Innovation wird damit zum alltäglichen Bestandteil von Wissensarbeit.5 x Die Gewissheiten und die Glaubwürdigkeit des Wissens werden unsicher. Dies verstärkt einerseits die institutionellen Bemühungen gesichertes Wissen zu erzeugen, andererseits wächst das gesellschaftliche Bewusstsein für das, was nicht gewusst wird, angesichts von Nicht-Wissen, Fehlern und Plagiaten.6 Die englischen Wissenschaftsforscher Michael Gibbons, Helga Nowotny und Peter Scott haben angesichts dieser Entwicklungen die These von der Auflösung der herkömmlichen wissenschaftlichen Produktionsweisen von Wissen aufgestellt und unterscheiden zwei Modi der Wissensproduktion. Als „Mode 1“ bezeichnen sie das Verfahren, in dem die Wissenschaft die Qualitätskriterien für ihre Arbeiten in den Disziplinen selbst entwickelt. „Mode 1“ werde zunehmend 3

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Stichweh 2005: 10. Auch Lyotard betont in seinem Essay „Das postmoderne Wissen“ den Aspekt, dass wenn das Wissen nicht traditionsgebunden ist („narratives Wissen“) sich die Notwendigkeit zu Neuartikulationen ergibt („postmodernes Wissen“). Vgl. Lyotard 1994. Siehe dazu auch Kapitel IV dieses Buches. Vgl. z.B. Krohn/Küppers 1989. Vgl. z.B. Willke 1998. Vgl. Stehr 2004.

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durch „Mode 2“ der Wissensproduktion dominiert, bei dem sich die Wissensproduktion außerhalb der Grenzen von Wissenschaft an den Kriterien des Nutzens von Klienten und Anwendern orientieren. Damit, so die These der Autorinnen und Autoren, verliere die Universität das Monopol der wissenschaftlichen Wissensproduktion.7 Eine solche Prognose ist vergleichsweise offen und unpräzise, sie verlangt nach Veranschaulichung und Überprüfung und wirft die Frage auf, welche Entwicklungen und Veränderungen die Thesen von der Wissensgesellschaft stützen und welche sie relativieren. Zugleich aber erinnert die Prognose daran, dass Wissen ein umkämpftes Gut ist, das im Wechselspiel von Erkenntnis, Interessen und Macht hervorgebracht und verteilt wird.

Neue Dynamiken der Verbreitung und Vermarktung von wissenschaftlichem Wissen Bis dato ist die Organisation und Produktion von Wissen in und als Wissenschaft ein expandierendes und nicht ein schwindendes Modell. Dafür spricht zumindest die weltweite Verbreitung der Institution Wissenschaft8 und ihre Funktion als Ort „universeller“ Wissensbildung9 sowie die Verbreitung der Rolle des Wissenschaftlers bzw. die Vernetzung von Wissenschaftlern in staatlichen und nicht-staatlichen wissenschaftlichen Einrichtungen.10 Die Bedeutung und Präsenz dieser Wissensform zeigt sich darin, dass man heute in fast jeder Gesellschaft Bildungssysteme und professionelle Berufe findet11 und das Internet an der Organisation, Zirkulation und Regulierung wissenschaftlichen Wissen beteiligt ist. Zudem ist wissenschaftliches Wissen produktiv. Es generiert Methoden und Diskursformen, reagiert auf Probleme, wie z.B. Klimaveränderung, Gesundheit, Menschenrechtsverletzungen, produziert weltweite Formen von governance.12 Jenseits der universitären Wissensproduktion aber hat sich ein Wissensmarkt etabliert, der losgelöst von der Institution Wissenschaft Wissen anbietet, verbreitet und verkauft. Dieses Wissen wird abgefragt und genutzt, weil es Problemlösungen verspricht und vergleichsweise einfach zugänglich ist. So bieten beispielsweise im Internet eine große Anzahl multinationaler Unterneh7 8 9 10 11 12

Vgl. Gibbons et al. 1994; Nowotny u.a. 2004. Vgl. Drori/Meyer/Ramirez /Schofer 2003. Vgl. Fuller 2003. Vgl. Schott 2001. Siehe dazu z.B. Pfadenhauer 2003. Zum Beispiel zum Thema Seuchenpolitik, Aids-Politik, Klimakonferenzen. Siehe dazu z.B. Roth/Senghaas 2006.

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men ihr Wissen an. Die Firma „Global Knowledge“ wirbt mit dem Slogan „Experts teaching experts“ und bietet, wie der Name schon sagt, weltweit anwendbares Wissen zur Verbesserung der Ertragslage von Unternehmen an.13 Darüber hinaus ist es ein Kennzeichen „globalisierter Wissensmärkte“,14 dass sie wissenschaftliche und technische Erkenntnisse zunehmend standortunabhängig und grenzüberschreitend zugänglich machen, dass also eine Vielzahl von Standortfaktoren, wie z.B. mikro- und makro-ökonomische, politische, kulturelle und rechtliche Rahmenbedingungen immer weniger ins Gewicht fallen. Dies bildet Anlass von einer Internationalisierung des Wissens und der Informationen zu sprechen. Dabei helfen moderne Kommunikationstechniken, indem sie einen leichteren Zugang zum Wissen ermöglichen. Obwohl nicht beabsichtigt, trägt auch die Ausweitung des weltweiten Handels an diversen Orten der Welt zumindest phasenweise zu einer Verbreitung von Ideen und Wissen sowie zu einem Abbau der Informations- und Wissensdefizite bei. Gleichermaßen kann aber auch statt ungehinderter Wissensverbreitung Wissenskonzentration eintreten. Wenn beispielsweise Forscher und Forscherinnen zunehmend ihre Entdeckungen patentieren können, auch wenn sie diese mit Hilfe von öffentlichen Fördergeldern realisiert haben, wird die Verbreitung und Zugänglichkeit von Wissen eingeschränkt wie auch die Idee unterminiert, dass Erkenntnis ein globales öffentliches Gut sein sollte. Hinsichtlich der Verbreitung und Zugänglichkeit von Wissen ist auch die Verlagerung der Forschungsaktivitäten in den Bereich privater Unternehmen ambivalent. Einerseits ist die privatwirtschaftliche Vermarktung ein starkes Prinzip der Distribution, andererseits wird eine egalitäre Verbreitung durch copy-right-Forderung beschränkt.15 Eingeschränkt ist die Verbreitung und Zugänglichkeit im internationalisierten Wissensmarkt auch dadurch, dass dieser Markt auf kompetente Käufer angewiesen ist. Die Nutzung des Wissens ist eng damit verbunden, kognitive Fähigkeiten zu mobilisieren und zu artikulieren. Gebunden an kontextabhängige, institutionelle Zubehöre, die einer einfachen Verbreitung des Wissens entgegenstehen, brauchen auch die neuen Wissensformen des „Mode 2“ Zugänge und Methoden, die an Personen gebunden sind, wie etwa die Fähigkeit, das Lernen zu lernen, spezifische Wissenschaftssprachen zu lesen und zu verstehen oder über den Zugang zum Bildungssystem und dem kulturellen und intellektuellen Kapital zu verfügen. Das neue „Mode 2-Wissen“ ist in einer bestimmten Infra13 14 15

http://www.globalknowledge.com/training/generic.asp?pageid=2&translation=English, Zugriff 10. Februar 2007 Siehe dazu Gorz 2000. Siehe Flitner 1998; Kennedy 2002. Wenn man die Definition von Wissen auch auf das Image, die Marke oder den Ruf eines Produkts, z.B. Mac Donalds, Coca-Cola, eon, ausweitet, stellen sich Fragen der Verbreitung von Wissen selbstredend. Es besteht sodann immer die Möglichkeit, den Vorwurf der Imitation, des Plagiats und Copy right-Ansprüche geltend zu machen.

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struktur verankert und somit weder frei zirkulierbar noch einfach rekonstituierbar.16 Hierzu zählt auch, dass wenn wissenschaftliches Wissen in Technologie umgewandelt wurde, es bereits privatisiert ist, d. h. Menschen müssen den Zugang bezahlen. Die Kosten der Übertragung von Wissen werden heute zunehmend den Einzelnen aufgebürdet. Aufgrund dieser strukturellen, institutionellen und immanenten Voraussetzungen ist auch dieser neue Typus von Wissen kein öffentliches Gemeingut, das, zumindest dem Prinzip nach, allen zugänglich ist. Für beide Wissensformen, Mode 1 und Mode 2, gilt, dass ein allgemeiner Zugang zum gleichen Wissen nicht existiert. Es gibt bislang keine einheitliche Sprache, in der Wissen für alle zugänglich produziert wird. In Anlehnung an André Gorz lässt sich zusammenfassend festhalten, dass der Begriff der Wissensgesellschaft sich auf eine Gesellschaft bezieht, in der Wissen mit immenser, in der menschlichen Geschichte zum ersten Mal möglich gewordenen Geschwindigkeit produziert und verbreitet wird, in der aber die Akteure in soziale Beziehungen eingeflochten sind, die ihnen die Kontrolle über Voraussetzungen und Konsequenzen des Gebrauchs von Wissen entziehen.17 In der Wissensgesellschaft stellt sich deshalb die Frage nach der Aufgabe und Funktion von Bildung neu. Die hier beschriebenen Entwicklungen der gesellschaftlichen Definition, des Umgangs und der Anforderungen und Erwartungen an Wissen zielen auf den Kern von Bildungsbemühungen und Bildungsinstitutionen. Sie betreffen Fragen der Inhalte, also dessen, was gelernt und weitergegeben werden soll, Fragen des Zugangs und der Kontrolle zu diesem Wissen wie auch drittens die Frage, welchen Anforderungen, Erwartungen und Konsequenzen sich schulisches Wissen stellen muss. Viertens rücken die vorangegangenen Überlegungen die Institution Schule selbst in ein anderes Licht. Sie erscheint nicht länger als ein Ort der Sortierung, Verteilung und Weitergabe von Wissen, sondern ließe sich in Anlehnung an Gibbons, Nowotny und Scott vielmehr als ein „Anwendungsfeld“ von „Wissen“ verstehen. Als „Anwendungsfeld von Wissen“ etabliert die Institution Schule einen eigenen, spezifischen Interaktions- und Produktionsmodus von Wissen, z.B. in Form eines Bildungskanons, Schulbuchwissens oder bestimmten Techniken des Umgangs mit Wissen, wie Heftführung und Präsentationen. Das hier entfaltete und weiter gegebene schulische Wissen ist so gesehen kein ausgewählter, durch didaktische Reduktion verkleinerter Fundus allgemeinen Wissens, sondern eine Instanz, die im Sinne des „Mode 2“ selbst die ihr 16 17

Implizite, nur schwer transferierbare Wissensbestände, „tacit knowledge“, kognitive Fähigkeiten und Erfahrungen reduzieren die Mobilität von Wissen, erleichtern seine Kontrolle und reduzieren die Notwendigkeit diese Wissensformen zu schützen. Vgl. Polanyi 1985. Vgl. Gorz 2000: 15.

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gemäßen Wissensbestände produziert, selbst generiert und distribuiert. Als Anwendungsfeld von Wissen verfügt die Schule über genuine Wissensbestände. Diese werden gemäß der eigenen Logik, den spezifischen Erfordernissen und Geltungsnotwendigkeiten entwickelt. Mit einem solchen Verständnis würde nachvollziehbar, wieso sich schulisches Wissen zunehmend von anderen Wissensbeständen abkoppelt, eben wenig ‚für das Leben’ taugt. Auch die lediglich lose Anlehnung und Parallelität von Schulfächern an die wissenschaftlichen Disziplinen erschiene als Moment der Eigengesetzlichkeit der Produktionsform des schulischen Wissens. Eine wissenssoziologische Perspektive aber kommt in den überwiegend erziehungswissenschaftlich ausgerichteten Überlegungen zum schulischen Wissen kaum vor und Fragen der gesellschaftlichen Produktion von Wissen, wie sie oben skizziert wurden, bleiben undiskutiert. Stattdessen zeigt sich hier eine doppelte Leerstelle: In den sozialwissenschaftlichen Überlegungen zum Thema Wissen und Wissensgesellschaft ist das Anwendungsfeld „Schule“ ausgeblendet, und umgekehrt arbeiten diejenigen, die in der Schule tätig sind oder über Schule nachdenken, mit einem Wissensbegriff, der die sozialwissenschaftlichen Thesen der Wissensgesellschaft nicht berücksichtigt. Ein Brückenschlag soll im Folgenden versucht werden. Die pädagogische Konstruktion schulischen Wissens Bildung, Schule und Erziehung gründen auf einer Reihe von Annahmen, einem Set von mehr oder weniger vorläufigen Überzeugungen die Natur der Menschen, ihre Fähigkeiten und ihre Beziehung zur Welt und zueinander wie auch Vorstellungen über Wissen betreffend. Wissen wird dabei zum einen als Inhalt von Bildung und Lernen, als pädagogisch aufbereiteter Lernstoff angesehen, zum zweiten als ein Begriff, der darauf ausgerichtet ist, Bildungsprozesse zu legitimieren oder auch erzieherische Praktiken zu begründen. Im historischen Prozess der Debatte um Bildung und Schule spielen – grob und übergreifend betrachtet – zwei Begriffe von Wissen eine zentrale Rolle: eine Vorstellung von endogenem Wissen einerseits und Annahmen von exogenem Wissen andererseits.18 Beide Vorstellungen gehen von einem Dualismus zwischen Geist und Welt aus und stellen die materielle äußere Realität einer psychischen inneren Welt gegenüber. Vom exogenen Standpunkt aus konstituiert sich Wissen dar18

Die exogene Tradition in der Erziehungswissenschaft geht auf die empiristische Philosophien von John Locke bis zum logischen Positivismus zurück, die endogene Tradition begründet sich vor allem durch die Bezugnahme auf rationalistische Denker, z.B. Descartes, Kant bis hin zu den Forschungen über künstliche Intelligenz. Vgl. Gergen 1982.

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über, dass Individuen per Kognition und Aufmerksamkeit die Zustände der externen Welt reflektieren und benennen, abbilden oder repräsentieren. Wissen wird hier verstanden als eine wichtige Fähigkeit des Individuums, sich einer komplexen Umgebung anzupassen oder sich in ihr erfolgreich zu bewegen. Vom endogenen Standpunkt aus spielt die individuelle Vernunft, die dem Individuum eigenen Fähigkeiten zur Einsicht, Logik und begrifflichen Entwicklung, die zentrale Rolle bei der Konstitution von Wissen. Grenzen des Lernens werden im Rahmen dieses Denkens auf den Entwicklungsstand des kognitiven Systems zurückgeführt. Beide Vorstellungen von Wissen dienen zur Rechtfertigung und zur Begründung verschiedener Formen erzieherischer und unterrichtlicher Praxis. Exogene Vorstellungen favorisieren ein fächer- und lehrplanzentriertes Wissen, das mittels Beobachtung, dem Sammeln von Beispielen oder Objekten oder auch durch partizipierende Beobachtung, wie Laborexperimente oder Exkursionen, angeeignet wird. Bücher und Vorträge werden in ihrer Funktion als Informationsvermittler für bedeutsam gehalten. Demgegenüber ist die endogene Sichtweise individuumszentriert und favorisiert Inhalte und Aktivitäten, von denen angenommen wird, dass sie die Denkfähigkeiten fördern. Dann werden beispielsweise Diskussionen für bedeutsamer als Vorträge gehalten, weil davon ausgegangen wird, dass kognitive Fähigkeiten sich vor allem durch aktive Mitarbeit entfalten.19 Diese hier etwas holzschnittartig skizzierten Wissensvorstellungen, die das Problem des Wissens als Beziehung zwischen Geist und Welt verstehen, sind seit geraumer Zeit der Kritik ausgesetzt, vor allem weil sie das erkenntnistheoretische Problem, wie der Geist Kenntnis von einer für ihn externen Welt gewinnt, weder bedenken noch erklären.20 Zudem wurden sie dem Vorwurf einer politisch-moralischen Leere ausgesetzt, da sie Wissen als wertneutral ansahen. Frauen, Nicht-Weiße und Besitzlose artikulierten ihr Unbehagen an den Postulaten von Objektivität und Rationalität und kritisierten sie als Instrumente der Hierarchisierung und Herrschaft.21 Philosophen, Sprach- und LiteraturwissenschaftlerInnen verdeutlichten, dass Wissensansprüche sich weder durch Beobachtung noch durch Rationalität durchsetzen, sondern als Texte und literarische Methoden Wirklichkeit strukturieren.22 Die Wissenssoziologie unterstreicht die Bedeutung historischer und sozialer Kontexte bei der Bestimmung von gül19

20 21 22

Piagets Theorie ist ein Beispiel für die Verbindung beider Denk-Traditionen. Er postuliert zwei gegensätzliche Prozesse der kognitiven Entwicklung, die kognitive „Akkommodation“ an die Objekte der realen Welt und die kognitive „Assimilation“ der Welt an kognitive Strukturen. Vgl. Piaget 1973. Vgl. Rorty 1979. Vgl. z.B. Spivak 2003. Vgl. z.B. Barthes 2006.

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tigem Wissen,23 und nicht zuletzt hat Michel Foucault die historische Rolle des Wissens für die Disziplinierung der Einzelnen beschrieben24 und somit ein Verständnis von Wissen begründet, das sich von der Tradition des exogenen und endogenen Wissens maßgeblich durch seine kritisch-skeptische Perspektive unterscheidet. Diese kritischen Betrachtungen des Gegenstands ‚Wissen’ wie auch die sozialwissenschaftlichen Thesen zur Wissensgesellschaft aber haben die theoretisch-begriffliche Bestimmung des schulischen Wissens nicht nachhaltig beeinflussen können. Zwar hat sich der Einfluss eines Verständnisses, welches das Individuum als Zentrum und Besitzer von Wissen, Handlungen, Motiven, Emotionen und grundlegenden Wesenheiten lokalisiert, im Bereich der wissenschaftlichen Erklärungen aufgrund des Aufkommens konstruktivistischer Erklärungen verringert. Nach wie vor steht aber die Betrachtung Einzelner bzw. die Interaktion einer Person mit einer anderen im Mittelpunkt der Reflexion der Konstitution schulischen Wissens. Prominent geworden sind hier vor allem konstruktivistische Überlegungen, die das Wissen des Einzelnen als Produkt seiner Beziehungen mit anderen Menschen und ihrer gemeinsamen kulturellen Praxis verstehen, als ständigen Prozess der Handlungskoordinierung zwischen zwei oder mehreren miteinander kommunizierenden Personen, die im Austausch von Mustern wechselseitiger Abhängigkeit Bedeutung produzieren. Im Anschluss an Ludwig Wittgenstein, welchem zufolge es keine Privatsprache gibt, sondern Sprache ihre Verständlichkeit erst durch ihren sozialen Gebrauch erhält, dadurch, dass sie mit den Handlungen anderer koordiniert wird,25 haben sich verschiedene „Spielarten des Konstruktivismus“ entwickelt.26 Als „Sozialer Konstruktivismus“ und „Radikaler Konstruktivismus“ firmieren die beiden wichtigsten Schulen, die das Verhältnis von Geist und Welt bei der Entstehung des Wissens betrachten, sich jedoch letztlich einer Seite zuschlagen und damit ein reduziertes Verständnis von Wissen begründen. Der Radikale Konstruktivismus von Ernest Glasersfeld ist stark durch Piagets Theorie kognitiver Entwicklung beeinflusst und bleibt letztlich der oben skizzierten endogenen Einstellung zur Erziehung und zur Wissensvermittlung verhaftet. Die Ausgangsthese des Radikalen Konstruktivismus lautet, dass Wissen durch Beobachtung, Erkenntnis und Erfahrung von den Individuen „aktiv aufgebaut“ wird.27

23 24 25 26 27

Vgl. z.B. Latour/Woolgar 1979. Vgl. Foucault 1975. Siehe Wittgenstein 1953. Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Knorr-Cetina 1986. Vgl. Glasersfeld 1989: 83.

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„Wir definieren ‚Wissen’ neu als etwas, was zu den Invarianzen der Erfahrung des lebenden Organismus gehört und nicht zu Einheiten, Strukturen und Ereignissen in einer unabhängig existierenden Welt. Entsprechend definieren wir ‚Wahrnehmung’ neu. Sie ist nicht die Aufnahme oder Verdoppelung von Information, die von außen hereinkommt, sondern vielmehr die Konstruktion von Invarianzen, durch die der Organismus seine Erfahrungen angleichen und strukturieren kann“.28 „Die Bedeutung von Signalen, Zeichen, Symbolen und Sprache kann nichts anderes sein als subjektiv“.29

Hier wird das Wissen erneut in das Innere des Individuums verlegt und sein Effekt, seine Wirkungen und Konsequenzen den Einzelpersonen zugeschrieben. Es wird angenommen, dass sich Personen die Welt nach ‚eigenem’ Entwurf konstruieren, dass all das, was sie für „die Welt“ und „die Anderen“ halten, geschichtsloses und asoziales Produkt ihres subjektiven Denkens ist. Diese „radikale“ Perspektive wird lediglich durch einen sozialen Funktionalismus gebremst. Glasersfeld schreibt: „Die Funktion von Wahrnehmung ist die Anpassung und sie dient dem Subjekt zur Strukturierung der erfahrenen Welt“.30

Oder auch: „Radikaler Konstruktivismus ist schamlos instrumentalistisch (...) Der Begriff der Adaption, um den es hier geht, meint den grundlegenden biologischen Begriff der Evolutionstheorie. Er bezieht sich auf das Passen in die Umwelt“. 31

Die Funktion des Wissens wird hier schlicht behauptet und die Einpassung in das Gegebene als sinnhaft unterstellt. Eine detaillierte Erklärung der Prozesse des Einsatzes, des Gebrauchs und der Funktion schulischen Wissens leistet dieser Ansatz nicht.32 Demgegenüber setzen die unterschiedlichen Vertreter eines Sozialen Konstruktivismus ihren Schwerpunkt auf die Untersuchung der Entwicklung kognitiver Prozesse und ihrer Bedingungen, die durch die sozialen Milieus vorgegeben werden. Den theoretischen Ausgangspunkt bildeten die Thesen von Peter Berger und Thomas Luckmann „Zur sozialen Konstruktion der Wirklichkeit“33, bei der die Autoren die Phänomenologie in Verbindung mit dem strukturellen 28 29 30 31 32 33

Glasersfeld 1979: 40. Glasersfeld 1989: 88. Glasersfeld 1989: 83. Glasersfeld 1989: 87. Weitere kritische Diskussionen der konstruktivistischen Ausrichtung in Bezug auf Wissen und Erziehung finden sich z.B. bei Shotter 1997. Berger/Luckmann 1966.

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Begriff der Gesellschaft brachten und so die gesellschaftliche Basis von Wissensstrukturen beschrieben. Diese Denktradition hat jedoch die pädagogische Diskussion um Wissen und Lernen nie beeinflussen können. Stattdessen hat sich der Soziale Konstruktivismus stetig differenziert, eine handlungstheoretische Variante in Auseinandersetzung mit Vygotsky34 wie auch eine kulturpsychologische Richtung hervor gebracht35 und ist prominent geworden durch die Forschungen zur sozialen Konstruktion von Entwicklung und Kognition von James Youniss.36 Hier wird die Beziehung zwischen Lehrkraft und Lernender/m als der Dreh- und Angelpunkt des erzieherischen Prozesses angesehen und die Wirkungen von Diskurs, Dialog, Koordination, gemeinsamer Bedeutungsgebung und diskursiver Standortfindung beschrieben. Dabei spielt jedoch die Konstitution, Genese und Weitergabe von Wissen eine eher nachgeordnete Rolle – Wissen wird als Bestandteil der sozialen Welt, als schlicht gegeben, verstanden – und die Prozesse der psychischen Entwicklung und der individuellen Fähigkeiten zur Abstraktion, Verallgemeinerung, Vergleich, Unterscheidung, Willensäußerung, Bewusstheit, Reife, Assoziation, Aufmerksamkeit, Repräsentation und Urteil stehen im Mittelpunkt des Interesses. So macht auch diese pädagogische Forschungsrichtung zum Thema „Wissen“ wenig Aussagen über den schulischen Umgang mit Inhalten, über die Auswahl, den Zugang, den Rezeptionsweisen und zu der allgemeinen Frage, auf welche spezifische Art und Weise Schule als Anwendungsfeld von Wissen zur Geltung gebracht wird. Da sie überwiegend auf den Prozess des individuellen Erwerbs von Wissens konzentriert sind, reproduziert sie die oben erwähnte Zweiteilung in „exogenes“ und „endogenes“ Wissen, und verweist Personen, die an Fragen der Integration von Wissen in die Schule interessiert sind, an die Curriculums- und Lehrplanforschung oder auch an die Didaktik. Die Curriculumsforschung aber beschäftigt sich mit Inhalten und Wissensbeständen unter überwiegend normativer Perspektive („Was soll gewusst werden?“) und blendet Fragen der Rezeption, des Umgangs und der Auswirkungen des Wissens zumeist aus. Die Didaktik, als Lehre von der Vermittlung, hat kein genuines Interesse am Verstehen der Eigenmächtigkeiten von Wissensformen. Deshalb soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, an die Überlegungen des frühen Sozialkonstruktivismus von Berger/Luckmann an zu knüpfen und sie auf die Frage nach der sozialen Konstruktion schulischen Wissens an zu wenden.

34 35 36

Siehe z.B. Kozulin 1998. Siehe z.B. Bruner 1996. Vgl. Youniss et al. 1994.

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Versuch einer wissenssoziologischen Bestimmung des schulischen Wissens Für das Verständnis schulischen Wissens und für die Praxis des Erziehens und Unterrichtens verdeutlicht der Konstruktivismus, dass „Wissen“ in sich selbst keine eindeutige Botschaft trägt, sondern sich eine solche in Interaktionen mit und zwischen Lernenden, Zuhörern und Lesern konstituiert. Eine als grundsätzlich angesehene Unbestimmtheit von Verständlichkeit und Bedeutung des Wissens ist durch die Situiertheit und Kontextualität von Wissen bedingt. Da der Prozess der Herstellung von Verständlichkeit niemals abgeschlossen ist, kann auch die Festlegung eines Wortes niemals endgültig sein, auch wenn Lernende die Bedeutungskonstruktion beispielsweise eines Textes innerhalb des spezifischen Szenarios ihrer Schule ‚erfolgreich’ vorgenommen haben. Die Zustimmung der Lehrkraft durch die Aussage „Das ist die richtige Antwort“ ist im Rahmen des konstruktivistischen Denkens nur ein Moment innerhalb eines kontinuierlichen Gesprächs, dessen Einsichten und Erkenntnisse später und von anderen für nichtig erklärt werden können. Eine solche Varianz ist möglich, weil in jeder neuen Situation andere Gesprächspartner eine neue Beziehung miteinander aufnehmen und versuchen, gemeinsam Verständlichkeit zu erreichen. Dazu aktivieren die Beteiligten jeweils unterschiedliche vorausgegangene Praktiken der Sinngebung. Hinzu kommt, dass Personen zumeist Mitglieder mehrerer Sinnwelten und Beziehungsnetze sind und sich im Verlauf ihres Lebens und seiner Stationen ein umfangreiches Vokabular an Worten und Handlungen angeeignet haben, das sie nun in die Gegenwart importieren.37 Zwar sind den Möglichkeiten der Bedeutungsgebung durch die Bezugnahme auf einen „gemeinsamen Wissensvorrat“ (A. Schütz) Grenzen gesetzt, eine Spielbreite ist aber immer vorhanden. Durch die Situiertheit von Äußerungen und Wissensbeständen wird die Eindeutigkeit von Wissen systematisch eingeschränkt. Ludwig Wittgenstein spricht davon, dass unsere Sprachspiele innerhalb von Lebensformen stattfinden38 und verweist damit auf die unterschiedlichen Ressourcen, Fähigkeiten und Beziehungen, die mit den jeweiligen „Lebensformen“ verbunden sind. Dies kann zu Nicht-Verstehen führen oder auch zu einem flexiblen Umgang mit den Unterschiedlichkeiten und der Entstehung von neuen und überraschenden Sinngebungen.

37 38

Schütz 1971; Schütz/Luckmann 1979/1984. Vgl. Wittgenstein 1922.

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Aus konstruktivistischer wie auch aus wissenssoziologischer Perspektive ist Wissen daher als Modell für die Realität – und nicht als Modell von der Realität – zu verstehen.39 Wissen ist kein Abbild, sondern hat eine konstitutive Funktion. So braucht eine Schulklasse einen allen Akteuren gemeinsamen Wissensbestand, in dem beispielsweise Merksätze, der Lehrplanbezug und die Einteilung in Mathematik- und Deutschstunden die gemeinsamen Handlungen koordinieren. Wissen bildet hier also nicht das ab, was ist, sondern ist selbst ein zentrales Element, das den schulischen Alltag und seine Abläufe ermöglicht. Ein solches Verständnis von Wissen als Modell für die Realität verweist auf die offene Verbindung von Handeln und Wissen sowohl bei der Produktion als auch bei der Verwendung von Erkenntnissen. Wissen ist relevant, aufgrund seiner Fähigkeit, die soziale Wirklichkeit zu verändern. Bislang aber ist eine solche Eigentätigkeit schulischen Wissens, die man auch als Pragmatik bezeichnen könnte, bildungspolitisch wenig anerkannt worden. Stattdessen funktionieren Schulen in Übereinstimmung mit der traditionellen Sichtweise von Wissen als kumulativ und universell nach einem Modell der Wissenshierarchien. Das Modell sieht prototypisch folgendermaßen aus: Wissenschaftler und Forscher, also Experten, entdecken die Welt und verbreiten das Wissen. Als nächste in der Hierarchie folgen pädagogische und schuladministrative Experten, zum Beispiel diejenigen, die Lehrpläne erstellen.40 Die Lehrkräfte sind am Ende der Hierarchie angesiedelt. Sie geben „das Wissen“ an die Lernenden weiter.41 Aus der Perspektive des Sozialkonstruktivismus zeigt sich hier, dass Wissensansprüche von bedeutungsgebenden Gemeinschaften formuliert und durchgesetzt werden. Je hierarchischer die verschiedenen Wissensgruppen strukturiert sind desto wahrscheinlicher wird ein Wissensdogmatismus, der die Machtbeziehungen der Wissensproduzenten stabilisiert. Dogmatismus wird unter anderem dadurch befördert, dass die Wissensbestände die Hierarchie monologisch durchlaufen. Rückmeldungen von unten nach oben kommen kaum vor, so dass zwar die Empfänger die Wissensbestände reduzieren, ordnen und kontextualisieren, die Wissensdiskurse aber von dieser Arbeit unberührt bleiben. Da es die dominante Forderung gibt, dass das Wissen auch nützen möge („Wir lernen nicht für die Schule, sondern für das Leben“), werden die Transferleistungen zum allge39 40 41

Vgl. die Unterscheidung bei Geertz 1966, der „Kultur“ als Modell für respektive von der Realität versteht. Diesen Prozess dokumentiert die Curriculumsforschung, siehe zum Beispiel Postlethewaite 2002. Alle pädagogischen Forschungen und Bemühungen zum Thema „selbst gesteuertes Lernen“ illustrieren die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Eigenaktivität der Lernenden und verweisen dadurch darauf, dass das Modell einen relevanten Teil von Unterrichtspraxis offensichtlich recht zutreffend beschreibt.

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meinen Bereich des kulturellen oder alltäglichen Lebens dem Anwendungsfeld Schule zugemutet. Diese Forderung unterschlägt, dass die Wissensbestände z.B. der Algebra, Physik oder auch Bio-Technologie, einem ganz und gar speziellen Bereich des akademischen Gebrauchs entstammen und im kulturellen und alltäglichen Leben niemals in vorhandene Verhaltensformen direkt integrierbar sind. Die Wissensbestände tragen eine kontextspezifische Bedeutsamkeit in sich, die den Schülerinnen und Schülern – und teilweise auch den Lehrkräften – notwendigerweise verborgen bleiben muss, da ihnen diese Produktionskontexte fremd sind. Die Schule geht mit dieser paradoxen Anforderung so um, dass sie zum einen Wissen als absolut präsentiert und von Produktionsbedingungen abstrahiert, und zum zweiten die vielfältigen Wissensbestände in der Form einer relativen Isolation von Schulfächern zusammen bringt. Solche Umgangsweisen sind in wissenssoziologischer Perspektive ihrerseits ein Element der Produktion schulischen Wissens. Weil die Schule selbst ein Handlungsfeld wie auch ein Anwendungsfeld von Wissen ist, konstruiert sie ihre eigenen Formen von Bedeutsamkeiten. Sie erzeugt Wissensinhalte in Form von „Lernzielen“ oder „Fächern“ sowie ein institutionelles System, das von den Teilnehmern und Teilnehmerinnen innerhalb seiner eigenen Grenzen anerkannt wird. „Schulisches Wissen“ ist, so gesehen, ein spezifisches Gut, das von verschiedenen Ansprüchen und Organisationsformen institutionell zugeschnitten und geprägt ist. Zentral dabei ist zum einen die genannte Aufteilung in „Fächer“. Zum zweiten sind die beschriebenen zwei Formen, das Wissen pädagogisch in den Griff zu nehmen, relevante Produktionsmechanismen. Diese beiden Wissensformen unterscheiden sich a) von dem Alltagswissen der Akteure, und b) von dem wissenschaftlich hervorgebrachten Fachwissen, den sog. Lerninhalten. Zum dritten bildet ein spezifisches Verständnis der Beziehung von Wissen und Handeln einen Prozessor der Konstruktion „schulischen Wissens“. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass schulisches Wissen stark auf den Handlungskontext Schule ausgerichtet ist, also hauptsächlich in z. B. Klausuren oder Unterrichtsgesprächen zur Anwendung kommt und sich im Transfer in Bereiche außerhalb von Schule als nicht besonders handlungsrelevant erweist. Zugleich wird umgekehrt aber erwartet, dass sich die Schule offen hält für die Integration von neuem, als gesellschaftlich bedeutsam eingeschätztem Wissen. Die Integration neuer, von außen kommender Wissensbestände in die schulischen Praxis gilt als Indikator für Angemessenheit, Passung und gesellschaftlicher Aktualität und stabilisiert die spezifische schulische Handlungsanforderung, „nützlich“ und „wirksam“ zu sein. So sollen in der Wissensgesellschaft einerseits die Inhalte schulischer Bildung stetig angepasst werden, und andererseits legitimiert sich die Wissensinsti-

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tution Schule darüber, dass sie sich als Anwendungsfeld neuer Wissenstechniken und Wissensbestände zur Verfügung stellt und sich diese in einem Interaktions- und Handlungsprozess aneignet. Für eine wissenssoziologisch interessierte Bestimmung schulischen Wissens sind deshalb die Prozesse einer sukzessiven Aufnahme neuer Wissensbestände in den schulischen Kontext, die Schritte ihrer Integration, von großer Bedeutung. In unserer Studie diente das Wissensfeld der Biotechnologie, Biomedizin und Bioethik als Beispiel für genau solche Wissensbestände, die gesellschaftlich neu, innovativ, dynamisch und umstritten sind. Als „Mode 2“-produzierte Wissensbestände stellen die Verfahren, Thesen und Materialisierungen der Biotechnologie und Biomedizin die Schule vor neue Aufgaben im Umgang mit Wissen. Integriert und bewältigt werden muss nicht zuletzt eine mit diesen Wissensbeständen verbundene Unsicherheit, die zum einen in den neuen Inhalten selbst begründet liegt und zum anderen aber auch den Status des bislang als „gültig“ ausgewiesenen Wissens verändert.

2. Die Rationalität unsicheren Wissens Die Entwicklung und Nutzung moderner Technologien, wie beispielsweise die Gentechnologie, ist begleitet von kontroversen öffentlichen Debatten. Diese Auseinandersetzungen könnte man als Ausdruck von Produktivität und Effektivität naturwissenschaftlicher Erkenntnisse deuten, wenn es nicht einen anhaltenden Dissens über die Verlässlichkeit des Wissens gäbe. Hier zeigt sich ein Potenzial an unsicherem Wissen, das durch die Naturwissenschaften selbst nicht beseitigt werden kann. So fallen zum Beispiel die Aussagen der naturwissenschaftlichen Experten zu Fragen der Reaktorsicherheit, den Auswirkungen genmanipulierter Pflanzen auf den ökologischen Kreislauf, der Bedeutung von „assistierter Reproduktion“ für das familiäre Zusammenleben – um nur einige Beispiele zu nennen – sehr unterschiedlich aus. Bislang galt der Verweis auf Vernunft oder auf Erfolg als argumentative Grundannahme für die Rechtfertigung neuzeitlicher Wissenschaften,42 heute, so scheint es, tragen diese Argumentationslinien nicht mehr. Umstritten ist, wie „Erfolg“ in den prognostischen Wahrscheinlichkeitsberechnungen der Pränataldiagnose definiert wird, und wie „vernünftig“ die Entwicklung von Kernenergie angesichts von steigendem Energiebedarf und den mit der Kernenergie verbundenen Risiken durch Strahlenbelastungen ist. Je nach Position sind hier verschiedene Argumente zu erwarten, die sich gleichermaßen auf wissenschaftliche Begründungen berufen. 42

Vgl. Bonß 2003: 38.

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Die Akteure und Akteurinnen nutzen wissenschaftliches Wissen kontextbezogen und selektiv. So verliert die Vorstellung einer systematischen Überlegenheit wissenschaftlichen Wissens gegenüber anderen Wissensformen an Legitimation und divergierende Ansichten und grundlegende Verunsicherungen nehmen zu. Die konstatierten Verunsicherungen liegen auf verschiedenen Ebenen.43 Erstens bestehen Differenzen in der Frage der Risikobeurteilung von Anwendungsfolgen. So werden zum Beispiel die langfristigen Risiken bei der Entsorgung von Atommüll unterschiedlich eingeschätzt, und auch die Folgen der Freisetzung gentechnisch veränderter Pflanzen für die jeweiligen Ökosysteme sind umstritten. Zweitens wird über die Praxistauglichkeit des jeweiligen Wissens gestritten. So zeichnet sich zum Beispiel die Pränataldiagnostik durch Wahrscheinlichkeitsberechnungen aus – ein Wissensbestand, der für die jeweils betroffenen schwangeren Frauen als Begründung für ihre anstehenden Entscheidungen wenig aussagekräftig ist. Das Wissen um eine prozentuale Wahrscheinlichkeit ein behindertes Kind zu bekommen, kann die Entscheidungsfindung für oder gegen eine Schwangerschaft nicht fundieren, da beispielsweise unklar bleiben muss, ob hier 20% viel oder wenig sind; die Deutung dieses Wissens muss anhand anderer Kriterien vollzogen werden. Drittens bestehen Verunsicherungen auf der normativen Ebene, beispielsweise wirft die moderne Transplantationsmedizin neue Fragen im Hinblick auf Eigentumsverhältnisse des Körpers auf. Angesichts dieser Zunahme von Uneindeutigkeiten gibt es innerhalb der Wissenschaften selbst Auseinandersetzungen um die Frage, ob es allgemein erfolgreiche, kognitive Bezugsrahmen gibt, geben soll, und welche dies sein können.44 Da die Wissenschaften in vielen Fällen nicht in der Lage sind, kognitive Sicherheit zu liefern und definitive oder gar wahre Aussagen – im Sinne von bewiesenen kausalen Sätzen – für praktische Zwecke anzubieten, sondern überwiegend mehr oder weniger plausible Annahmen, Szenarien oder Wahrscheinlichkeitsaussagen produzieren, ist Unsicherheit der Wissensproduktion immanent. 45 Sie ist deshalb weniger als ein Ausdruck von Unwissen oder als ein aufhebbares Defizit an Wissen, sondern vielmehr als ein konstitutives Merkmal von Wissen und seiner Produktionskontexte zu verstehen. Im Rahmen einer „Philosophie der Forschung“ wird deshalb darüber nachgedacht, dass die wissenschaftliche Forschung das sein kann, was die Wissenschaft nicht sein darf. So argumentiert zum Beispiel Bruno Latour, dass die Forschung Dispute produzieren und strittige Wissensansprüche formulieren darf. Die Forschung soll sich

43 44 45

Vgl. Böschen et al. 2004: 8. Vgl. z.B. Harding 2002 oder auch Popitz 1968. Vgl. Stehr 2003.

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involvieren, die Wissenschaft hingegen soll Kontroversen beenden und sich von der Gesellschaft distanzieren.46 Im Kontext der Entwicklung neuer Technologien gerät die Bedeutung von „Nichtwissen“ als integraler Bestandteil naturwissenschaftlich induzierter Wissensproduktion zunehmend in das Zentrum der Aufmerksamkeit – und zwar sowohl innerhalb der Naturwissenschaften als auch aus einer gesellschaftsanalytischen Perspektive. Als „selbstdefiniertes Nichtwissen“ bezeichnet Bernhard Gill die Entwicklungen innerhalb der Naturwissenschaften.47 Parallel zu den Forschungen im Kontext der „exakten Naturwissenschaften“ entstanden in den letzten 40 Jahren zunehmend auch Forschungen, die sich auf komplexe Wechselwirkungen der Naturverhältnisse beziehen, welche nicht mehr als lineare Abläufe zu beschreiben seien. Beispiele hierfür sind die sogenannte Chaostheorie oder auch das Beschreiben der Natur als Ökosystem. Nichtwissen, das heißt hier: unvorhersehbare Wechselwirkungen, gehören in diesen Theorien zum grundlegenden Bestandteil der Überlegungen. Zudem bringen die Risiken der hochentwickelten Technologien das Problem mit sich, nicht mehr alle möglichen Risiken im Experiment durchspielen zu können (zum Beispiel austretende Strahlung in Atomkraftwerken). Damit verliert das Experiment als klassische Versicherungsstrategie der Naturwissenschaften seine Bedeutung und naturwissenschaftliches Wissen wird zunehmend auf der Basis von Hypothesen und theoretischen Annahmen entwickelt. Wenngleich das Ausmaß der Reflexion dieses selbstdefinierten Nichtwissens innerhalb der Naturwissenschaften umstritten ist,48 so bleibt festzuhalten, dass die Faktizität naturwissenschaftlichen Wissens auch innerhalb der Fachwissenschaften diskutiert wird und es zumindest Ansätze gibt, in denen Nichtwissen im Sinne unvorhersehbarer Wechselwirkungen theoretisch integriert wird. Darüber hinaus hat der sogenannte Laborkonstruktivismus49 mit detaillierten empirischen Forschungen verdeutlicht, dass auch naturwissenschaftliches Wissen als Form des sozial geschaffenen Wissens betrachtet werden muss. So konnte gezeigt werden, „dass die Produkte der Wissenschaft kontextspezifische Konstruktionen darstellen, die durch die Situationsspezifizität und Interessensstrukturen, aus denen sie erzeugt wurden, gekennzeichnet sind“.50 Wissenschaft wur46 47 48

49 50

Vgl. Latour 1998. Gill 2004: 21-27. Während Gill davon ausgeht, dass sich seit den 1970er Jahren eine naturwissenschaftliche Perspektive abzeichnet, die Nichtwissen als Bestandteil der Wissensproduktion aufnimmt, halten Autoren wie Lerf/Schuberth diese Position in den Naturwissenschaften für marginal. Vgl. Gill 2004: 26/27; Lerf/Schuberth 2004: 211. Maßgeblich sind hier die Arbeiten von Bruno Latour und Steven Woolgar sowie die Studien von Knorr Cetina. Vgl. Latour/Woolgar 1979; Knorr Cetina 1984; 2002. Knorr Cetina 1984: 25.

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de im Prozess ihrer handelnden Erzeugung analysiert mit dem Ergebnis, dass deutlich wurde, wie verschiedene Arten von Handlungen unterschiedliches Wissen erzeugen. Diese verschiedenen Arten von Handlungen bezeichnet Knorr Cetina als „Wissenskulturen“, d.h. „diejenigen Praktiken, Mechanismen und Prinzipien, die (...) in einem Wissensgebiet bestimmen, wie wir wissen, was wir wissen“.51 Die Diskussion um wissenschaftliches Wissen und seinen Anspruch auf Neutralität und Verlässlichkeit hat auch zur Folge, dass sich viele Stimmen die Definition von Wissen gegenseitig streitig machen. Damit verlieren die Wissenschaften die alleinige Kontrolle über die Bestimmung von Wissen, und darüber hinaus auch die über die gesellschaftlich jeweils gültige Definition von Nichtwissen.52 Innerhalb der Soziologie haben die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Nichtwissen der neuen Technologien seit den 1980er Jahren zu einer verstärkten Beschäftigung mit dem Gegenstand des wissenschaftlichen Nichtwissens geführt.53 Statt Nichtwissen als eine rein negative und residuale Größe zu betrachten, wird Nichtwissen nun zunehmend als ein Phänomen analysiert, welches moderner Technologieentwicklung immanent zu sein scheint, nicht restlos zu beseitigen ist und auch produktiv genutzt werden kann. Dabei kommen vor allem drei soziologische Ansätze zum Tragen: Im Kontext von Luhmanns Systemtheorie wird Nichtwissen als die „andere Seite des Wissens“ bestimmt,54 im Anschluss an Ulrich Beck wird das Phänomen des Nicht-Wissens als integraler Bestandteil der „reflexiven Moderne“ gesehen und somit modernisierungskritisch gelesen,55 während in einem weiteren Forschungsstrang mit Hilfe des Foucaultschen Konzepts der Gouvernementalität insbesondere die mit der Unterscheidung von Wissen und Nichtwissen verbundenen Selbstregulierungspraxen diskurstheoretisch in den Blick genommen werden.56 Allen genannten Ansätzen gemeinsam ist, dass sie davon ausgehen, dass Nichtwissen keinen vorfindlichen Tatbestand darstellt, sondern vielmehr ebenso wie Wissen gesellschaftlich erzeugt, definiert und genutzt wird. Damit grenzen sie sich von einer Perspektive auf Nichtwissen ab, die das Phänomen des NichtWissens entweder als Fehl-Wahrnehmung von gesellschaftlich bereits vorhandenen Wissensbeständen interpretiert, als Fehl-Verteilung im Sinne von mangelndem Zugang zu Wissen, oder aber als vorläufiges Phänomen, als Noch51 52 53 54 55 56

Knorr Cetina 2002: 11. Vgl. Gill 2004: 20. Einen systematischen Überblick über die soziologische Debatte liefert Wehling 2001 sowie Wehling 2004: 35-74. Luhmann 1992: 159. Beck 1986; 1996. Foucault 1977; 1978.

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nicht-Wissen, das mit Hilfe der Wissenschaft in Wissen zu transformieren sei.57 Vielmehr versuchen sie das Phänomen des Nichtwissens als eigenen Gegenstand systematisch in ihre gesellschaftstheoretische Analyse mit einzubeziehen. Luhmann nähert sich dem Problem des Nichtwissens zunächst auf einer formalen Ebene. Den Begriff des Nichtwissens entwickelt er aus einer Theorie des Beobachtens als Prozess des Unterscheidens und Bezeichnens: „Jede Beobachtung bewirkt, dass die eine Seite einer Unterscheidung bezeichnet wird und die andere folglich unmarkiert bleibt.“58

Versteht man unter Wissen die „Kondensierung von Beobachtungen“59, so führt diese Definition zu einer Bestimmung von Nichtwissen als die „andere Seite des Wissens“. Ein Zuwachs an Wissen brächte somit zeitgleich auf der „Rückseite“ einen Zuwachs an Nichtwissen mit sich. Aus dieser Perspektive ist Nichtwissen durch die Unterscheidung von Wissen als das „Unbezeichnete“ definiert. Dieses Nichtwissen differenziert Luhmann dann noch einmal in „spezifiziertes“ und „unspezifiziertes“ Nichtwissen. Spezifiziertes Wissen kann, zum Beispiel in Form eines Problems, unterschieden und bezeichnet werden, so dass sich hieran weitere Forschungen anschließen – in diesem Sinne kann es als Noch-nichtWissen verstanden werden. Unspezifiziertes Nichtwissen dagegen reproduziert sich bei jeder Beobachtung immer mit60 und kann nicht durch weitere Forschungen aufgelöst werden. Im Anschluss an Luhmann hat sich Japp mit dem Phänomen des unspezifischen Nichtwissen beschäftigt, und dieses am Beispiel von Risikokonflikten empirisch untersucht.61 Unspezifisches Nichtwissen gilt Japp als „kognitiv unlösbar“, da es immer unerkannt bleiben wird und grundsätzlich nicht gefasst werden kann. Es findet jedoch einen kommunikativen Ausdruck, den Japp am Beispiel von Katastrophenszenarien veranschaulicht: „In der Entgrenzung von Schadensmöglichkeiten flackert das unspezifische Nichtwissen (...) auf“.62

Hier bleibt unspezifisches Nichtwissen prinzipiell unerkannt, kann bestenfalls im Kommunikationsprozess „aufflackern“, und ist damit auch den Forschenden nicht zugänglich. Die doppelte Differenzierung von Wissen und Nichtwissen sowie spezifischem Nichtwissen und unspezifischem Nichtwissen ermöglicht somit die Öffnung einer erkenntnistheoretischen Perspektive, bietet aber wenig 57 58 59 60 61 62

Vgl. Wehling 2001. Luhmann 1992: 155. Luhmann 1990: 123. Vgl. Luhmann 1995: 177 Vgl. Japp 1997. Japp 1997: 306. Zitiert nach Wehling 2001: 476.

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Anschlussmöglichkeiten für empirische Forschungen, zumindest im Hinblick auf unspezifisches Nichtwissen. Fragen nach gesellschaftlichen Transformationsprozessen im Kontext von Nichtwissen können mit der systemtheoretischen Nichtwissens-Hypothese nur schwer empirisch erforscht werden, da sich der Gegenstand per definitionem einer Analyse entzieht. Im Unterschied dazu geht Ulrich Beck davon aus, dass sich die sogenannte Zweite Moderne durch die Reflexion von Folgeproblemen der Verwissenschaftlichung auszeichne.63 Im Zentrum des gesellschaftlichen Interesses steht nicht mehr die Erforschung der Natur, sondern die Beschäftigung mit den Risiken dieser Erforschung. Dabei gerät auch das Problem des Nichtwissens in den Blick der Aufmerksamkeit, da Risiken als eine Form des Umgangs mit Nichtwissen angesehen werden können. Bei Risiken handelt es sich um potenzielle Gefährdungen, um etwas, das nicht im Experiment erprobt, sondern nur über Wahrscheinlichkeiten entworfen werden kann. Die Potenzialität als Kennzeichen der Risikodefinition macht es erforderlich, diese Wahrscheinlichkeit zu bestimmen. Damit ist, so Beck, aufgrund von Nichtwissen ein reflexives Moment in die gegenwärtigen Gesellschaften eingeführt: „Nicht Wissen, sondern Nicht-Wissen“ sei das „Medium reflexiver Modernisierung“.64 Die These von Beck, dass Nichtwissen der modernen Wissensproduktion und Anwendung immanent sei, wurde innerhalb der Soziologie vielfach aufgegriffen und theoretisch weiterentwickelt. So spricht Wolfgang Bonß von einer „Dialektik der Verwissenschaftlichung“, nach der die Wissenschaft in ihren Folgen sich gleichermaßen als destruktiv erweise wie sich auch im Hinblick auf ihre Verlässlichkeit entzaubere.65 Bonß plädiert angesichts dieser Situation für eine Perspektive auf unsicheres Wissen als Ressource: Wenn es kein wissenschaftlich sicheres, eindeutiges Wissen gibt, dann müsse eine Logik des unsicheren Wissens und der Fehlerfreundlichkeit erarbeitet werden.66 Dies ermögliche die Aufwertung und Stärkung anderer Formen des Wissens, wie zum Beispiel künstlerische Kompetenzen, wie auch die Bestimmung legitimer Sphären des Nicht-Wissens, wie sie sich beispielsweise in der Diskussion um pränatale Diagnostik gezeigt haben.67 Die Sphären des Nicht-Wissens sind keine Areale 63 64

65 66 67

Vgl. Beck 1986. Beck 1996: 298. Anthony Giddens dagegen hält an der Bedeutung von Expertensystemen fest und betont die Notwendigkeit von „Vertrauen“ angesichts der Unmöglichkeit, alles zu wissen. Vgl. Giddens 1996: 316 ff. Beck behauptet demgegenüber, dass Giddens die Pluralität von Rationalitäten und Wissensakteuren unterschätze. Vgl. Beck 1996: 313. Bonß 2003: 47. Ansätze hierfür hat Dörner bereits 1989 mit einer Arbeit über computergestützte Planspiele vorgelegt, welche die Sinnhaftigkeit vorgeblich rationaler Vorgehensweisen in Frage stellten. Vgl. Dörner 1989. Bonß 2003: 50.

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fehlenden Wissens, sondern bieten individuellen Schutz vor prognostischem Wissen und seinem Einfluss auf die Lebensgestaltung.68 Becks These eines systematischen Nicht-Wissen-Könnens als Kennzeichen der reflexiven Moderne, „nicht als Ausdruck selektiver Standpunkte, momentanen Vergessens oder unterentwickelten Expertentums , sondern Produkt gerade hochentwickelter Experten-Rationalitäten“,69 hat zahlreiche empirische Forschungen über den Umgang mit Nicht-Wissen angeregt.70 Diese betreffen etablierte Formen des Risikomanagements, der Risikokommunikation und der Risikobewertung. Am Beispiel neuer Technologien wie Nanotechnologie,71 der Chemikalienbewertung72 oder auch des Klimawandels73 werden konkrete Konzepte untersucht, wie mit dem Problem des Nicht-Wissens in der Technikbewertung produktiv umgegangen werden kann.74 Dieser Untersuchungsstrang beschäftigt sich somit in erster Linie mit den Risiken neuer Technologien und kann als Technikfolgenabschätzung75 verstanden werden. Daneben widmen sich andere Studien vor allem der Frage nach Möglichkeiten des politisch-administrativen Umgangs mit Nichtwissen. Ausgehend von der Annahme, dass mit der Auflösung des Experten-Monopols konkurrierende Wissensakteure um die Definitionsmacht des Wissens ringen, werden verschiedene Wege der politischen Entscheidungsfindung untersucht, die dem Umgang mit 68 69 70 71 72 73 74

75

Vgl. z.B. Damm 1999. Beck 1996: 304. Siehe dazu auch den DFG - Sonderforschungsbereich 536 „Reflexive Modernisierung“, in dem unter dem Titel „Politische Epistemologie der Ungewissheit“ in verschiedenen Projekten Fragestellungen zum Thema unsicheres Wissen erforscht werden. Vgl. z.B. Gleich 2004. Vgl. z.B. Scheringer 2004. Vgl. z.B. Kleinen/Füssel/Bruckner 2004. Zum Beispiel das „Reichweiten-Konzept“ oder der „Leitplankenansatz“: Bei dem Reichweiten Konzept handelt es sich um Bewertungskonzept möglicher Risiken, in dem neben der Persistenz auch die Reichweite, d.h. die räumlichen Auswirkungen, als Indikator in die Risikoanalyse miteinbezogen werden. Vgl. z.B. Scheringer 2004. Beim Leitplankenansatz (tolerable windows approach) dagegen werden von den betroffenen AkteurInnen zunächst normative Punkte benannt, die die Entscheidung für oder gegen bestimmten Technologieentwicklungen wie „Leitplanken“ einrahmen sollen. Hierdurch wird das Handlungsfeld abgesteckt und sich von vorn herein auf relevante Entscheidungskriterien festgelegt. Somit führt die Vorgabe durch normative Leitplanken zu einer Begrenzung zulässiger Entwicklungspfade. Vgl. Kleinen/Füssel/Bruckner 2004. S. 86-98. Unter Technikfolgenabschätzung sind allgemein alle Bestrebungen zu verstehen, Einsatzbedingungen und Auswirkungen von Techniken systematisch abzuschätzen und zu bewerten. Gleichzeitig sollen gesellschaftliche Konfliktfelder, die durch Technikeinsatz entstehen können, analysiert sowie geeignete Vorschläge zur Lösung möglicher Konflikte entwickelt werden. Wichtigste Institutionen in Deutschland sind das Büro für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) sowie das Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe.

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Nicht-Wissen Rechnung tragen.76 Als Beispiele dienen hier die neuen Technologien sowie Gesundheitsgefährdungen, wie sie zum Beispiel im Rahmen der BSE-Krise debattiert wurden.77 Analysiert wird die Veränderung institutioneller Routinen angesichts der Bedeutung des Nichtwissens. So wurde für die BSEKrise gezeigt, dass sie den Anlass für eine Zusammenlegung von Landwirtschafts- und Verbraucherschutzministerium darstellte und für die Implementierung einer Reihe von neuen Gremien und Verfahren innerhalb dieses neuen Ministeriums sorgte.78 Auch wurden Fragen nach Veränderungen von Rationalitätsstandards thematisiert, beispielsweise ob angesichts des Bedeutungsverlustes naturwissenschaftlicher Wissensbestände andere Rationalitäten an Bedeutung gewinnen. So untersuchte Bernhard Gill den Einfluss von Weltbildern in Technik- und Umweltkonflikten und Willy Viehöver veranschaulichte Elemente des Narrativen und der Mythenbildung in den Diskursen um neue Technologien.79 An der Debatte um die Stammzellenforschung zeigt er, dass eine Art der Vernunft, die ihren Ort in der Erzählung und im Mythos hat, eine wichtige Rolle in den Diskursen um Debatten über Stammzellenforschungen spielen. Im Zentrum der empirischen Analysen zum Thema „Nichtwissen“, die im Anschluss an das Konzept der „reflexiven Modernisierung“ durchgeführt wurden, stehen somit Technikfolgenabschätzungen, Veränderungen institutioneller Abläufe und Rationalitäten. Demgegenüber konzentrieren sich die Arbeiten im Anlehnung an Foucault vor allem auf die Erforschung der Prozesse der Selbstregulierung des Individuums sowie des Verhältnisses von Wissen und Macht. Michel Foucault begreift Wissen nicht als etwas dem Individuum Vorgängiges, das man entdecken kann, sondern als eine Bewegung auf der Oberfläche von Aussagen, die als „Diskurse“ historisch-soziale Gegenstände, z. B. „Wahnsinn“ oder „Perversion“, produzieren. Deshalb ist Wissen in diesem Verständnis nicht an Individuen gebunden. Vielmehr sind Personen lediglich in bestimmte Diskurses verstrickt und so ist unerheblich, wer spricht. Vielmehr wird als wichtig angesehen, welche Funktion das Sprechen im Diskurs übernimmt. Aus dieser Perspektive wird die Unterscheidung zwischen Alltagswissen und Wissenschaft hinfällig, da beide Bereiche Aussagen zu einem spezifischen Gegenstand machen und so gemeinsam das Wissen und den thematischen Diskurs konstituieren. Die Notwendigkeit der Abgrenzung des Wissens nach bestimmten gesellschaftlichen Bereichen entfällt und in den Mittelpunkt der Betrachtung rücken die Regeln, nach denen Wissen hervorgebracht wird. Foucault spricht davon, 76 77 78 79

Vgl. z.B. May 2002; Gill 1998. Böschen et al. 2004. Böschen et al. 2004: 110 ff. Gill 2004; Viehöver 2003a; Viehöver 2003b.

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dass die jeweiligen Wissensbestände über Diskurse als „geregelte Formation von Aussagen“ erzeugt werden.80 Die Erkenntnisse und Entwicklungen von Wissenschaft sind aus dieser Perspektive Ausdruck bestimmter diskursiver Praktiken. Fragen nach der Verlässlichkeit oder dem Wahrheitsgehalt bestimmter Wissensbestände werden dahingehend verschoben, dass gefragt wird, welche diskursiven Formationen dazu führten, dass bestimmte Aussagen als wahr und andere Aussagen als falsch identifiziert werden. Die Verbindungen und Verknüpfungen von Wissen und Macht zeigen sich in den Diskursen als Ordnungen des Denkens und der Unterscheidungen wie auch als „Form, Mittel und Inhalt der Macht“.81 Macht und Wissen stehen nach Foucault in einer doppelten Beziehung zueinander: Einerseits werden mit Hilfe von Wissen bestimmte Machttechniken erzeugt, zum Beispiel pädagogische Disziplinierungen. Diese Machttechniken regulieren ihrerseits die Herstellung neuer Wissensbestände, beispielsweise als „Erkenntnisse“ der Pädagogik zum Thema kindliche Entwicklung. Diese Prozesse einer Verbindung von Wissen und Macht bezeichnet Foucault als „Dispositiv“. Hier bündeln sich Diskurse und werden durch institutionelle Vorgaben oder bestimmte Kommunikationsweisen, zum Beispiel in der Form einer „Prüfung“ oder „Beratung“, zum Ausdruck gebracht. Da im Foucaultschen Denken jedes Wissen durch den Willen zur Macht bestimmt ist, begreift er auch die Grenze zwischen Wissen und Nichtwissen als einen Ausdruck der Macht spezifischer diskursiver Praktiken, die in Dispositiven gebündelt sind. „Jede Gesellschaft hat ihre eigene Ordnung der Wahrheit, ihre „allgemeine Politik“ der Wahrheit, d. h. sie akzeptiert bestimmte Diskurse, die sie als wahre Diskurse funktionieren lässt; es gibt Mechanismen und Instanzen, die eine Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen ermöglichen und den Modus festlegen, in dem die einen oder andere sanktioniert werden; es gibt einen Status für jene, die darüber zu befinden haben, was wahr ist und was nicht“.82

Eine wissenssoziologische Analyse, die diesem Denken folgt, könnte „Mechanismen und Instanzen“, welche die Unterscheidung von wahren und falschen Aussagen festlegen, empirisch verifizieren.83 Dabei kommt Nicht-Wissen als eigene Instanz oder Größe nicht vor, sondern tritt lediglich als eine Variante diskursiv erzeugten Wahrheitsgehalts von Wissen in Erscheinung. Das Foucaultsche Denken hat eine Vielzahl empirischer Arbeiten über die gegenwärtigen biotechnologischen Entwicklungen angeregt. Dies hängt auch 80 81 82 83

Vgl. Foucault 1973; 1991. Knoblauch 2005: 213. Foucault 1978: 51. Die insbesondere von Reiner Keller ausgearbeitete wissenssoziologische Diskursanalyse beschäftigt sich mit diesen Fragen nach den institutionellen Regulierungen von Aussagen und deren Machtwirkungen. Vgl. Keller 2005; 2001.

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damit zusammen, dass Foucault den Terminus „Biopolitik“ prägte, um zu beschreiben, wie neue Formen des Wissens Macht über Leben erlangen, und wie das Leben selbst in den Einflussbereich von politischen Kalkulationen und Manipulationen gerät. Er illustriert einen um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstehenden Macht-Wissen-Komplex, in dem die „Fortpflanzung, die Geburten- und Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, Lebensdauer, die Langlebigkeit mit all ihren Variationsbedingungen zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrolle (wurden): Bio-Politik der Bevölkerung“ entstand.84

Als wesentlichen Mechanismus dieser Bio-Politik charakterisiert Foucault veränderte „Selbsttechnologien“, Verfahren, mit denen sich die Subjekte aktiv und eigenständig kontrollieren und die bewirken, dass Macht nicht „ausgeübt“ werden muss, sondern dass die in Macht-Wissen-Komplexe eingebundenen Individuen diese selbst durch die Teilhabe an diskursiven Praktiken vollziehen und betreiben. Diese Perspektive bietet für ein Verständnis der gegenwärtigen Veränderungen, die mit der Biotechnologie verbunden sind, viele Anknüpfungspunkte. Wenn biotechnologische Wissensbestände als Form des Regierens, als Gouvernementalität, verstanden werden, wird die produktive wie auch die reglementierende Seite des neuen Wissens sichtbar. Die vorgeburtliche Diagnostik beispielsweise erscheint so als ambivalente Regulationsform. Sie zielt auf den Ausschluss möglicher Behinderungen und die Vermeidung gesundheitlicher Risiken für schwangere Frauen und führt gleichzeitig zu einem verunsicherten, selbstkontrollierten Schwangerschaftserleben, das als „Schwangerschaft auf Probe“ erfahren wird. Durch die Beschreibung einer veränderten Selbsttechnologie kann die spezifische Machtwirkung biotechnologischer Wissensbestände analysiert werden. Macht/Wissen entfaltet sich hier durch von den Beteiligten selbst vorgenommenen Regulierungen, die diese als Kernbestand ihres Seins, Wollen und ihres Selbst verstehen.85 Risiko-Kalkulationen und Wahrscheinlichkeitsberechnungen, also Formen unsicheren Wissens, werden durch die Betroffenen subjektiv angeeignet, indem sie Techniken entwickeln, mit diesen Wissensformen umzugehen, beispielsweise Vorsorgeuntersuchungen in Anspruch nehmen oder ein Recht auf Nicht-Wissen propagieren. Zugleich haben die prognostischen und risikobezogenen Aussagen auch „sozialisierende“ Folgen86 und können beispielsweise in einem Konzept von Vererbung wirksam werden, das genetische Dispositionen nicht nur auf den Einzelnen, sondern auf das gesamte Verwandtschaftsgefüge bezieht. Auf der 84 85 86

Foucault 1977: 166. Vgl. Waldschmidt 1996; Lösch 1998; Lemke 2004. Vgl. z.B. Lemke 2004: 89.

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Basis solcher genetischer Diagnosen gründen sich neue kollektive und individuelle Praktiken, zum Beispiel Selbsthilfegruppen, deren entscheidendes Zugehörigkeitskriterium auf Aussagen moderner Technologien basiert und im konkreten Erleben der Betroffenen womöglich (noch) gar nicht erfahrbar ist. Diese technologisch induzierte Form des sozialen Zusammenschlusses wird als neue „Biosozialität“ charakterisiert.87

Unsicheres Wissen, Nicht-Wissen, relatives Wissen: Versuch einer Begriffsbestimmung für die Arbeit am empirischen Material In den Sozialwissenschaften wird – das verdeutlicht das oben Ausgeführte – der neue Gegenstand „Unsicheres Wissen/Nicht-Wissen“ vorwiegend mit Hilfe dreier theoretischer Perspektiven bearbeitetet. Systemtheoretisch gedacht gilt Nicht-Wissen als die Rückseite des Wissens. Es wird davon ausgegangen, dass bei jeder Produktion von Wissen auch gleichzeitig ein (unspezifisches) Wissen mit produziert wird. Im Licht dieser theoretischen Perspektive gehören Wissen und Nicht-Wissen untrennbar zusammen. Für die Konzeptualisierung empirischer Untersuchung ist damit eine Reduzierung auf Fragen nach den Kommunikationsprozessen über Nicht-Wissen verbunden, da Nichtwissen als eigenständiger Gegenstand sich aus formallogischen Gründen der Beobachtung entzieht. Für die Untersuchung der Frage nach dem Umgang mit unsicherem Wissen innerhalb des Bildungssystems erscheint der Dualismus Wissen/Nicht-Wissen wenig hilfreich, bewegt sich „unsicheres Wissen“ doch gerade zwischen diesen Polen; Wahrscheinlichkeitsberechnungen zum Beispiel sind kein Nicht-Wissen, sondern Wissensbestände, die unsicheres Wissen zur Verfügung stellen. Insofern bedürfen die Verunsicherungen die Verlässlichkeit der Wissensbestände im Kontext neuer Technologien betreffend eher einer Analyse der verschiedenen Deutungspotenziale von unsicherem Wissen statt einer Aufteilung von NichtWissen und Wissen. Die Luhmannsche Perspektive erweist sich demzufolge für den Gegenstand dieser Studie als wenig produktiv. Ulrich Becks Konzept einer „reflexiven Moderne“ hingegen konzeptualisiert Nicht-Wissen als der modernen Wissensproduktion und ihrer Anwendung immanent. Nicht-Wissen wird hier als (Neben-)Produkt hochentwickelter Expertenrationalitäten angesehen. Damit wird das Ansinnen formuliert, das Phänomen des Nicht-Wissens empirisch rückzubinden, es nicht erkenntnistheore87

Lemke 2004: 90. Der Begriff „Biosozialität geht auf Paul Rabinow zurück. Rabinow versteht „Biosozialität“ als eine neue Form des Sozialen, bei der Natur auf der Grundlage von Kultur modelliert , d.h. erkannt und neu gestaltet wird, während die Kultur gleichzeitig von Natur gestaltet wird. Dadurch wird Natur artifiziell und Kultur natürlich. Vgl. Rabinow 2004: 139.

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tisch abzuleiten, sondern als eine spezifische historische Erscheinung zu analysieren. So können verschiedene Umgangsweisen mit dieser „Begleiterscheinung“, die Beck als „Konfliktfeld pluralistischer Rationalitätsansprüche“88 typisiert, empirisch beschrieben und sichtbar gemacht werden. Die Stärke dieses Ansatzes liegt gerade in seinen Anschlussmöglichkeiten für empirische Projekte. Für die hier untersuchte Fragestellung nach den Umgangsweisen mit unsicheren Wissensbeständen innerhalb des Bildungssystems legt die theoretische Perspektive der „reflexiven Modernisierung“ es nahe, das Untersuchungsmaterial auf veränderte Rationalitäten, institutionelle Transformation und normative Wandlungsprozesse hin abzuklopfen. Allerdings liefert dieser Ansatz keine theoretisch entwickelte Begrifflichkeit von Wissen, um die beschriebenen Veränderungen zu erfassen. Eine theoretisch ausgearbeitete Begrifflichkeit aber stellt das Denken von Michel Foucault zur Verfügung, indem es Wissen zu einem Produkt diskursiver Praxen erklärt. Wissen, das als verlässlich oder auch als unsicher charakterisiert ist, zeigt sich im Rahmen dieses Denkens als Effekt und Form von diskursiv erzeugter Macht. Im Zentrum einer an Foucault angelehnten Analyse steht die Frage, wie die Gültigkeit von Wissen entsteht, und mit Hilfe welcher diskursiven Praktiken die Unterscheidung von wahrem und unwahrem Wissen vorgenommen wird. In der unserer Studie zugrunde liegenden Forschungsfrage ist jedoch die Unterscheidung in wahres und unwahres Wissen unbedeutend, stattdessen zeigt sich „unsicheres Wissen“ als eine Art drittes Wissensfeld. Im Zuge der Bearbeitung der neuen biotechnologischen und biopolitischen Wissensinhalte im schulischen Unterricht lassen sich diverse diskursive Praktiken beschreiben, in denen der Wahrheitsgehalt der Wissensbestände situativ und kontextbezogen bestimmt wird. So veranschaulicht das empirische Material eher, wie „wahr“ und „unwahr“ zu durchlässigen Kategorien werden, die permanent diffundieren. Hier zeigt sich eine Art erweiterter Wahrheitsdiskurs, nach dem diskursive Praktiken die jeweiligen Wissensbestände nicht nur als wahr oder unwahr bestimmen, sondern darüber hinaus eine neue Form des Wissens hervorbringen, die sich dieser Unterscheidung entzieht. Wir bezeichnen diese Wissensformen als relatives Wissen. Kennzeichen eines relativen Wissens ist zum einen sein Kontextbezug. Dieser sorgt dafür, dass die Verlässlichkeit der Wissensbestände sich aus dem jeweiligen Sinnzusammenhang ergibt; beispielsweise gilt eine Heilungsrate von 10% als eindeutig unzuverlässig für den Einsatz von Medikamenten im Rahmen einer medizinischen Therapie. Im Rahmen der Behandlung unfruchtbarer Paare 88

Beck 1996: 29.

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durch IVF dagegen wird die baby-take-home-Rate von 10% als medizinischer Erfolg gewertet. Zum zweiten wird relatives Wissen immer situativ bestimmt, so dass dieselben Wissensbestände individuell sowohl als verlässlich als auch als unsicher eingestuft werden. Im Falle der Amniocentese zum Beispiel können dieselben Wahrscheinlichkeiten einer möglichen Behinderung des Ungeborenen für die eine schwangere Frau den Anlass darstellen, eine Amniocentese zu befürworten, während eine andere Schwangere diese Wahrscheinlichkeiten für unzuverlässig hält und sich gegen eine Amniocentese entscheidet. Damit wird drittens, und darin unterscheidet sich relatives Wissen von Donna Haraways Konzept des „situierten Wissens“,89 die Bedeutung von Potenzialität als Kennzeichen relativen Wissens deutlich. Relatives Wissen bezieht sich auf Potenzialität, auf den möglichen Eintritt eines Ereignisses, zum Beispiel Heilung oder Gefährdung. Es ist zukunftsgerichtet und bedient sich häufig der Wahrscheinlichkeitsberechnungen als Argumentationsstrategie, beispielsweise wenn mögliche Gesundheitsgefährdungen durch gentechnisch veränderte Nahrungsmittel mit Hilfe von Wahrscheinlichkeitsberechnungen für die Zukunft ermittelt werden. Viertens schließlich zeichnet sich relatives Wissen durch seinen Handlungsbezug aus. Es bildet zumeist die Grundlage für Handlungsentscheidungen in Dilemmasituationen und dieses Kennzeichen macht die Relativität des Wissens äußerst brisant. Dies zeigt sich zum Beispiele im Bereich der Palliativmedizin, wenn Entscheidungen über lebensverlängernde Maßnahmen getroffen werden müssen oder im Kontext der Pränataldiagnostik, wenn Entscheidungen über mögliche Abtreibungen anstehen. Aufgrund der genannten Kennzeichen kann relatives Wissen wie folgt definiert werden: Relatives Wissen bezeichnet diejenigen Wissensbestände, deren Wahrheitsgehalt kontextbezogen und situativ bestimmt wird. Es bezieht sich auf potenzielle Ereignisse und bildet die Grundlage für dilemmatische Entscheidungsanforderungen. Diese Definition einer – wie wir meinen – neuen Art des Wissens wirft aus wissenssoziologischer Perspektive (zumindest ) zwei ungeklärte Punkte auf: Wird der Bedeutungsgehalt von Wissen kontextbezogen, situativ, zukunftsorientiert und handlungsleitend bestimmt, so impliziert dies zum einen mögliche Veränderungen von Rationalitäten. Rationalitäten als Arten der Deutung von Wissen müssen in Bezug zum Kontext und Situation gesetzt werden, denn je 89

Vgl. Haraway 1996.

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nachdem, in welchem sozialen Zusammenhang und aus welcher persönlichen Lebenssituation heraus Wissensbestände betrachtet werden, erscheinen sie als plausibel oder nicht. Aufgrund seines unspezifischen, teilweise prognostischen Gehalts kann relatives Wissen Rationalitäten hervor bringen, bei denen beispielsweise Wahrscheinlichkeiten zu Tatbeständen werden. Aufgabe einer Analyse des Umgangs mit relativem Wissen in der Schule wird es somit sein, die spezifischen Rationalitäten herauszuarbeiten, welche hier wirksam werden und mögliche Bedeutungsverschiebungen zu analysieren. Zum zweiten stellen sich durch die Zunahme an relativem Wissen neue Fragen für das Verhältnis von Wissen und Handeln in der Schule. Da bei relativem Wissen keine eindeutigen Deutungsangebote für die jeweils Handelnden vorzufinden sind, gerät relatives Wissen im Handlungskontext zu unsicherem Wissen. Die Kontextualisierung und ständige Diffundierung der neuen Wissensformen führt zu einer Verunsicherung im unterrichtlichen Handeln, die auch nicht durch eine Zunahme an mehr Wissen aufzulösen ist. So soll an dieser Stelle in einem dritten Schritt der Zusammenhang von Wissen und Handeln unter den Bedingungen einer Verbreitung relativen Wissens neu bedacht werden. 3. Wissen und Handeln. Schulische Praxis im Kontext relativen Wissens Im Zuge gesellschaftlicher Wandlungsprozesse und Dynamiken und angesichts neu entstehender vielfältiger Wissensformen verändern sich auch die Voraussetzungen von Handlungen und Praktiken. Davon betroffen ist sowohl der Begriff der Praxis selbst wie auch die Qualität von sozialen Praktiken, sprich ihre Stimmigkeit und ihre Wirksamkeit. „Praxis“ als empirisch beobachtbarer Handlungsvollzug eines Umgangs mit neuem Wissen ist beispielsweise für den schulischen Unterricht insofern herausgefordert, als dass Lehrer und Lehrerinnen nicht länger auf vorhandene und auf gesicherte Wissensbestände zurückgreifen können. Sie müssen sich, um das neue Wissen zu erlangen, informieren, weiterbilden und positionieren. Dieser Prozess bezieht sich nun aber, wie am Beispiel Biotechnologie/Biopolitik zu zeigen sein wird, auf einen Diskurs, der in sich heterogen ist und selbst Normen in einem Feld zu setzen sucht, in dem die Lehrkräfte keine Experten sind, und in das sie selbst als potenziell Betroffene eingebunden sind. Dies wird sowohl als Herausforderung begriffen als auch als irritierend und verunsichernd erfahren, und beides kann dazu führen, dass die alltäglichen Handlungsroutinen der Lehrpersonen außer Kraft gesetzt werden. Ein Gefühl der Überforderung beispielsweise ist nicht selten verbunden mit dem Befragen der eigenen Rolle, des Selbstverständnisses als Lehrkraft, der

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Professionalität und dem Wunsch nach Hilfe bei dem Versuch, das Verhältnis von Theorie und Praxis im Unterricht neu zu konzipieren. Dies geschieht vor dem Hintergrund, dass Fragen nach dem Verhältnis von Wissen, Handeln und Reflexion (fast) alle Bildungsdebatten begleiten und in jeder Begründung und Legitimation von zum Beispiel Studiengängen, Lehrplänen, Bildungseinrichtungen sowie in Debatten um professionelle Selbstverständnisse Erwähnung finden. Unbestritten ist, dass Bildung und Wissensvermittlung einer Theorie bedarf, die dabei hilft, Wissen zu organisieren und handlungsleitend zu werden. Schon Aristoteles verstand „Theorie“ als Begreifen der Welt, welches sich an der Wirklichkeit messen lassen muss. Theorie und Wissen sind deshalb immer wieder mit der Frage konfrontiert, ob sie der Wirklichkeit Recht widerfahren lassen. Die Spannung zwischen Theorie und Praxis ist ein viel diskutiertes Thema, bei dem entweder ein Auseinanderklaffen betont wird, so dass ein Zusammendenken nicht mehr möglich scheint, oder ein Aufeinander-Verwiesen-Sein behauptet wird, bei dem Praxis der ausführende Arm ist und Theorie dazu die Vorgaben liefert. Dies verschärfte sich, als in den 1970er Jahren unter der Maßgabe die Bildungsberufe zu modernisieren und zu professionalisieren, die Lehramtsausbildung an die Universitäten verlagert wurde. In der Lehramtsausbildung ist bis heute die Relevanz eines „Praxisbezugs“ als Norm der Lehrerbildung „auf merkwürdige Weise unstrittig“90 und dies obwohl weder der Begriff des „Praxisbezugs“ noch dessen Sinn und Nutzen ausreichend präzisiert und begründet werden.91 Stattdessen wird vorsichtig empfohlen, den Praxisbezug so zu organisieren, dass „Unerfahrene ihren Handlungserfahrungen reflektierend Bedeutung abgewinnen können“.92 Wie diese „Reflexion“ abläuft und wie Theorie und Wissen im Prozess dieser Reflexion aktiviert und systematisch eingebracht werden, ist kaum untersucht. So ist weitgehend unklar, welche Bedeutung dem Erlebnis von Hilflosigkeit, Überforderung oder auch Erfolg bei der Gewinnung der Einsicht zukommt, dass gerade solche Situationen einer theoretischen Orientierung bedürfen. Ob angenommen werden kann, dass erst die Theorie die Handelnden in die Lage versetzt, ihre Praxis kritisch zu reflektieren, differenziert zu beurteilen und weiter zu entwickeln, ist vielfach unterstellt, empirisch aber nicht belegt. Auch das Verständnis von Professionalität der Lehrkräfte ist davon abhängig, wie sie das Verhältnis zwischen Theorie und Praxis verstehen, ob sie Theorie, sprich Wissen und deren Vermittlung, also Didaktik, favorisieren, oder ob sie Praxis, sprich schulischen Alltag, Pädagogik und Unterrichtsmethoden, 90 91 92

Oelkers 1999: 69. Vgl. z.B. Bommes/Radtke/Webers 1999; Kucharz/Liebsch et al. 2004. Kolbe 1997: 135.

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akzentuieren. Denkbar wäre darüber hinaus auch ein Verständnis, welches Theorie und Praxis nicht versucht zu hierarchisieren, sie zwar als verschieden, aber als aufeinander verwiesen begreift. Im Zusammenhang mit Professionalität würde dies die Einnahme und Wahrung von Distanz bedeuten, weil erst aus der Distanz das eigene Verhalten und das der anderen gedeutet und systematisch verstanden werden kann. Für die Auseinandersetzung mit dem Untersuchungsmaterial der vorliegenden Studie legt diese langanhaltende Debatte um das Verhältnis zwischen Wissen und Handeln in der Schule nahe, auch darüber zu reflektieren, wie Veränderungen in den Inhalten des schulischen Unterrichts mit Veränderungen des Unterrichtshandelns, des Professionsverständnisses wie auch des zugrunde liegenden Verständnisses des wechselseitigen Zusammenhangs von Wissen und Handeln, von Theorie und Praxis, verbunden sind. Konkret gefragt heißt das: Wie genau gestalten die Akteurinnen und Akteure von Unterricht angesichts neuer Wissensformen, medialer Konstruktionen und sich wandelnder Identitäts- und Repräsentationsräume ihre Handlungsvollzüge? Welche Transformationen, Performanzen und Verschiebungen vollziehen sie in ihren Unterrichtspraktiken? Allgemein formuliert steht die Frage dahinter: Welcher Art ist die durch die Dynamiken der Wissensgesellschaft verursachte Veränderung alltäglicher Praktiken? Gleichermaßen fordern die konstatierten Veränderungen dazu auf, über die theoretische Fassung des Praxisbegriff nach zu denken. So ist anzunehmen, dass das klassische, theoretische Verständnis von Handlung als normgeleitet, routinisiert und institutionalisiert, wie die frühen Soziologen Max Weber, Talcott Parsons, Arnold Gehlen und George Herbert Mead93 sie gefasst haben, hier zur Beschreibung und Erklärung nicht ausreicht. Vielmehr soll im Folgenden an begrifflich-theoretische Erweiterungen der sozialwissenschaftlichen Handlungstheorie angeknüpft werden. Hier erfuhr seit einigen Jahren der Begriff der Praxis eine Renaissance, zum Beispiel dadurch, dass Autoren des philosophischen Pragmatismus erneut bemüht wurden94 oder sich Theoretiker wie Anthony Giddens oder Pierrre Bourdieu mit den alltäglichen Praktiken der Gesellschaftsmitglieder beschäftigten95 oder im Rahmen von cultural studies, Theorien des Performativen und der ethnomethodologischen Perspektive des „doing culture“ eine Eigenständigkeit des Handeln herausgearbeitet wurde.96

93 94 95 96

Vgl. dazu den Überblick bei Straub 1999. So bezieht sich beispielsweise Hans Joas grundlegend auf William James und George Herbert Mead. Vgl. Joas 1998. Giddens 1997; Bourdieu 1987. Siehe dazu z.B. den Überblick bei Winter 2001 oder auch Butler 1997.

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Auch das empirische Untersuchungsmaterial der vorliegenden Studie veranschaulicht drei relevante Dimensionen der Unterrichtspraxis, die als PraxisWeisen der Performance, der Routinen und der Konstruktion in Erscheinung treten 97 und für eine theoretische Präzisierung des Praxisbegriffs genutzt werden sollen, das Transformationen und Verschiebungen in Praxisvollzügen berücksichtigt. Während Performance sich auf die Darstellungsebene der Unterrichtspraxis von Lehrerinnen und Lehrern bezieht, stellen die Routinen die entlastenden und als gegeben erfahrenen Selbstverständlichkeit von Handlungen dar. Konstruktionen markieren solche Handlungsanteile, die auf kollektiven und verbindlichen Annahmen beruhen. Performance Jede Unterrichtspraxis ist mehr als die Weitergabe von Inhalten, mehr als eine soziale Form des Zusammen-Seins und mehr als die Verwirklichung pädagogischer Intentionen. Dieses „Mehr“ besteht in der Art und Weise, in der Handelnde ihre Ziele realisieren. Trotz einer intentional gleichen Ausrichtung von Handlungen zeigen sich in dem Wie, dem modus operandi ihrer Durchführung, erhebliche Unterschiede. Zu den Gründen dieser Varianz gehören einerseits historische, kulturelle und soziale Rahmenbedingungen, andererseits besondere, mit der Individualität der Handelnden verbundene Merkmale. Der Handlungsvollzug hängt immer auch davon ab, welche Körperhaltungen die Akteure zeigen, welche Gesten sie entwickeln. Auch haben Handlungsvollzüge immer einen Ereignischarakter und eine inszenatorische Dimension. Ein Verständnis von Praxis als cultural performance fragt deshalb danach, wie Handeln mit Sprache und Imagination verbunden ist, wie seine Einmaligkeit durch gesellschaftliche und kulturelle Muster ermöglicht wird. Die Begriffe performance, performativ, Performativität vergegenwärtigen die Relevanz der ästhetischen Dimension menschlichen Handelns und den Orientierungscharakter sozialer Darstellungen. Die Gestaltung ist ein konstitutives Element jeder sozialen Praxis, in deren Verlauf der Handelnde sein Tun und sich selbst inszeniert. Dabei bringt er sich in seinen Handlungen zur Erscheinung. Er erzeugt Bilder

97

Unsere Ausführungen sind, da wir über das Handeln von Schülerinnen und Schüler im Unterricht keine Aussagen machen können, auf die Konzeptualisierung der Tätigkeiten von Lehrkräften konzentriert. Die gestalterische Dimension einer wechselseitigen Interaktion bleibt hier deshalb unberücksichtigt. Die Überlegungen können deshalb nur vorläufig sein und deuten an, in welche Richtung sich ein Verständnis von Handeln als „Praxis“ weiter ausbuchstabieren ließe.

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seines Handelns und seiner selbst in Form sinnlich-körperlicher Repräsentation für die Erinnerungs- und Vorstellungswelt seiner Mitmenschen. Um eine Handlung zu einer Performance zu machen, bedarf es einer entsprechenden Rahmung. Zu dieser gehören, neben den Akteuren und einem zeitlichen und räumlichen Kontext, vor allem die Zuschauer, die für das Geschehen eine konstitutive Rolle haben. Erst in Bezugnahme der Praxis auf Zuschauer entsteht Performance. Dass Schule einen solchen Rahmen darstellt und dass im Unterricht Performances aufgeführt werden und von den Zuschauern zustimmend aufgenommen oder abgelehnt werden, ist Anlass für eine ganze Forschungsrichtung die in dieser Institution ausgeübten Handlungen als „Aufführungen“ zu begreifen und mit dem Konzept der Performativität zu erklären.98 Performativität kennzeichnet ein Theorie- und Diskursfeld, in dessen Mittelpunkt unterschiedliche Formen und Theorien sozialen Wissens und Handelns stehen. Es benennt ein Konzept, mit dem sich die Praxis der Bedeutungsproduktion beschreiben lässt und betont die performative Kraft von Sprache, Imagination, künstlerischer Inszenierung und Aufführung, sozialem Handeln und rituellem Geschehen. Dabei wird zudem von der Annahme einer „Performativen Differenz“ ausgegangen, von der nachahmenden Veränderung und Gestaltung des Vorausgehenden. Es ist genau diese Unterstellung von Variabilität, die Performativitätstheorien für den hier verhandelten Untersuchungsgegenstand interessant machen; die Unterrichtspraxis kann als ein Paradebeispiel eines performativen Sprechakts verstanden werden. In ihr fallen zum einen Sprechen und Handeln in eins. Zum zweiten ist Sprechen hier stets mit dem Ziel von Wirkung verbunden.99 Veranschaulichung: Performance als Einfühlung und Annäherung100 Herr Eitel ist als Religionspädagoge beschäftigt, unterrichtet an einer Realschule und führt Fortbildung für Lehrkräfte zum Thema „Biomedizin/Bioethik“ durch. Er ist ein freundlicher, offener Mensch, der schnell redet. Kolleginnen und 98 99

Vgl. z.B. Fischer-Lichte 2004; Wulf et al. 2001. Vgl. Austin 1979. John Austin unterscheidet in a) illokutionäre Sprechakte: indem ein Lehrer spricht, konstituiert er zugleich auch seine Unterrichtshandlung, und b) perlokutionäre Sprechakte: indem durch das Sprechhandeln des Lehrers auch eine Wirkung, z.B. ein Lernerfolg, erzielt wird. 100 Das folgende Porträt basiert auf Ausführungen im Rahmen eines Interviews, ist also nicht selbst Produkt von Praxis bzw. Handlungsweisen. Da die Erzählungen im Rahmen des Interviews aber außerordentlich detailliert, ausführlich und gehaltvoll waren, fiel es uns nicht schwer, uns die Unterrichtspraxis des Interviewten vorzustellen. Seine Erzählungen waren selbst performativ.

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Kollegen erleben ihn häufig als anstrengend, weil er so viele Ideen hat. Er arbeitet gern mit KollegInnen zusammen, weil er sich durch die Kooperation angeregt fühlt und weil sich dadurch Neues ergeben kann. Herr Eitel hat über lange Zeit verschiedene Materialien, wie Zeitungsartikel, Fachbuchartikel, politische Stellungnahmen gesammelt und ergänzt sie bei Bedarf um aktuelle Informationen. Durch die Vielzahl der Materialien, sein thematisches und persönliches Engagement und die Aufforderung an die Schülerinnen und Schüler, nachzudenken, Positionen zu erarbeiten, zu zuhören, andere Positionen befragen und verstehen zu versuchen, realisiert er ein Prinzip von Wahrnehmung, Darstellung und Erkenntnis. Seine Unterrichtspraxis produziert Bedeutung, indem er nachhaltig, lebendig, anschaulich und eindringlich auf die Komplexität der Thematik verweist und durch Fragen, Probleme und Illustrationen die Schülerinnen und Schüler dazu auffordert, mitzudenken und sich quasi ins Thema hinein zu denken. Ausgehend von der Erfahrung, dass Schülerinnen und Schüler sich für zwischenmenschliche Themen fast immer interessieren, bespricht er Facetten der Identitätsgenese und illustriert deren historische und kulturelle Varianz. Beispielsweise informiert und diskutiert er über Varianten von Zeugung, über verschiedene Methoden und Verfahren von Empfängnisverhütung oder Formen gezielter Befruchtung und lädt die Schülerinnen und Schüler ein, sich zu diesen Techniken ins Verhältnis zu setzen, um nachfolgend das biotechnologisch vermittelte Verfahren der In-vitro-Fertilisation zu besprechen. In einem Austauschprozess, der manchmal lebendig, manchmal nachdenklich, manchmal mühsam verläuft, informieren, relativieren, präzisieren und konkretisieren Schüler und Schülerinnen die Thematik gemeinsam mit der Lehrkraft. Die so erarbeiteten Einschätzungen, Überlegungen und Positionen werden dann mit den Positionsbekundungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, z.B. katholischer, fundamentalistischer, politischer Gruppierungen verglichen, um einen Überblick über das Meinungsspektrum in unserer Gesellschaft zu bekommen. In Gruppenarbeit und mit Hilfe von Rollenspielen werden Sachinformationen angeeignet, eigene Fragen und Einschätzungen begründet, andere Meinungen nachvollzogen und befragt. Im Ringen um ein Verständnis der Technik samt ihrer Probleme, zeigen einige Schülerinnen und Schüler Solidarität mit verschiedenen Gruppen sogenannter Betroffener. Die Wünsche kinderloser Paare, die Befürchtungen von Behinderten, das Postulat von der Freiheit der Forschung und der Wissenschaften und die ethische Position von den Grenzen der Verfügbarkeit werden im Prozess der Auseinandersetzung lebendig und so für die Schülerinnen und Schüler erfahrbar und nachvollziehbar. Sie haben Gelegenheit, Fragen der Angemessenheit von Verhalten zu besprechen, ihre Sensibilität und ihr Empfinden mitzuteilen. Mehrere haben sehr klare Vorstellungen

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davon, was sie nicht wollen bzw. was sie nicht für akzeptabel halten. Hier zeigt sich eine existierende Moral von Schülerinnen, die der Unterricht zunächst sichtbar macht und dann daran anknüpft. Diejenigen, die sich aus der Debatte heraus halten, artikulieren ihre Schwierigkeiten sich auszudrücken und einzubringen. Sie monieren, dass sie mit den beschriebenen Erfahrungen, Erzählungen und Positionen nichts anfangen können. Sie wehren sich gegen die Überlegung, dass die Positionen verschieden sind, weil das jeweilige Leben anders ist. Sie sind beunruhigt über den Mangel an Einheitlichkeit und äußern die Ansicht, dass es klare Information und Regel geben sollte. Sie beschweren sich, dass der Unterricht „zu wischiwaschi“ sei. Auch für diese Schülerinnen und Schüler wird auf Komplexität verwiesen, ohne sie aufzulösen. Herr Eitel fordert sie auf, sich durch Beobachtung und Nachdenken mit den Forschungsbefunden wie auch den Erfahrungen der Anwender und Anwenderinnen der Technologie in Beziehung zu setzen. Er insistiert darauf, dass alle Ebenen, die das Thema betreffen, zur Sprache kommen – die biologisch-anthropologische, die religiös-ethische und die zwischenmenschliche: „Wenn man nur eine Ebene anschaut, kommt man der Sache nicht nahe. Darum geht’s. Sparten haben wir schon genug. Auch in der Schule. Es geht darum, die Dinge wieder zusammenzubringen. Das gehört zum Erwachsen-Werden dazu, dass man etwas zusammenbringen kann und für sich einen Sinn zusammenreimen kann.“ (Interview Eitel:2)

Herr Eitel ist im Unterricht als Person sichtbar und erlebbar. Er erzählt den Schülerinnen und Schülern aus seinem Leben, macht seine Sorgen, Ängste und Einschätzungen zum Bestandteil des Unterrichts. Er bringt seine Motivationen, seine Interessen und Fachwissen wie auch kritische Einschätzungen in das Unterrichtsgespräch ein. Manchmal vertritt er bewusst eine bislang noch nicht geäußerte Position. Er macht immer ein Deutungsangebot zu den umstrittenen Themen. Er ist hartnäckig, will von den SchülerInnen wissen, was sie denken, verlangt rationale Argumentationen und Erklärungen, will aber auch, dass sie darüber nachdenken, was dies emotional bedeutet. Es geht um Einfühlung, um den Versuch eines Erahnens und Verstehens, wenn die Schülerinnen und Schüler auf der Basis ihres Kenntnisstandes formulieren, was sie wohl tun würden. Die Schülerinnen und Schüler sind begeistert, irritiert, nachdenklich. Ignoranz wird erschüttert, als zum Beispiel ein Schüler argumentiert, dass die Mutter eines behinderten Kindes „einfach zu bescheuert“ sei, dieses Kind abzutreiben. In dem Nachdenken der Schülerinnen und Schüler taucht immer wieder die Frage nach der eigenen Beziehung zur Mutter auf. Entscheidungen haben also offenbar etwas zu tun mit den Biografien und Beziehungsgeschichten. Aus dem „Es wäre möglich“, „Eventuell“ und „Vielleicht“ können sich begründete Haltungen entwickeln. Es wird erahnbar, dass die Bio-

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medizin Gestaltungsräume und Handlungsoptionen schafft und dass Handelnde wissen sollten, wie und warum sie sich verhalten. Der Unterricht von Herrn Eitel ist performativ, insofern er Momente der Annäherung, des Mimetischen, inszeniert.101 Indem Intentionen artikuliert, aber nicht auf ihnen insistiert wird, entstehen in der Interaktion zwischen Schülerinnen und Schülern und der Lehrkraft Bedeutungen und Möglichkeiten, die vorher in den Köpfen nicht in der zum Ausdruck gebrachten Form präsent waren. Die artikulierten Überlegungen haben den Charakter von Probehandlungen, sie sind suchend, tastend, imaginativ und müssen sich nicht in der Konfrontation mit der Realität des Verhaltens und Handels beweisen. Sie werden allenfalls als formulierter Gedankengang im Rahmen einer Klausur einer Bewährungsprobe unterzogen, haben also einen spielerischen Charakter. Weil aber die Tragweite der Thematik nicht zu übersehen ist – es geht um Fragen der Identität, Leben und Tod – kann der Unterricht auch betroffen und nachdenklich machen, transportiert also die grundsätzliche Möglichkeit der Entstehung von neuen Gedanken und Erfahrungen. Routinen Lehrerhandeln, darauf verweisen diverse Untersuchungen,102 basiert zum überwiegenden Teil auf Routinen, Ritualen und Regeln. Damit steht die professionelle Praxis der Lehrkräfte in der Tradition der klassischen Handlungstheorien, welche die Funktionalität und Sinnhaftigkeit von Handlungsregelmäßigkeiten und routinisierten Handlungsmustern beschreiben. Dies erfasst jedoch das unterrichtliche Handeln nicht vollständig. Im Gegenteil müssen Routinen, um erfolgreiche Unterrichtspraxis zu vollziehen, derart gestaltet sein, dass sie sich zwischen einer Geschlossenheit der Wiederholung einerseits und einer relativen Offenheit für Misslingen, Neuinterpretation und Konflikthaftigkeit des alltäglichen Vollzugs andererseits hin und her bewegen. Zur theoretischen Erklärung dieser Doppelgleisigkeit von Wiederholung und Neuinterpretation von Routinen bietet sich zunächst eine Bezugnahme auf Pierre Bourdieu und seinen praxeologischen Ansatz an. Mit Hilfe von Bourdieus Begriffen des Habitus, des sozialen Feldes, des praktischen Sinns und der Inkorporiertheit von Wissen ist einerseits ein Modell der Vergesellschaftung von Praxis vorlegt. Andererseits ist in dieser theoretischen Begrifflichkeit die Wechselbeziehungen zwischen Prägung und Gestaltung, zwischen Zwang und Er101 Zum Begriff des Mimetischen siehe Adorno/Horkheimer 1988, zur begrifflichen Bestimmung der dabei relevanten Fähigkeiten der Einfühlung und Empathie siehe Milch 2000. 102 Siehe dazu den Überblick bei Wahl 1991 und Huber 2005.

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möglichung angelegt. Dafür ist zentral, dass die Bourdieusche Perspektive im Unterschied zu vielen anderen sozialwissenschaftlichen Theorien, den Körperbezug einer jeden Praxis betont. Normen und Routinen können, so Bourdieus nachdrücklicher Hinweis, ohne eine Konzeption von Inkorporierung nicht verstanden werden. Nur als inkorporierte Wertvorstellungen werden Routinen handelnd zum Ausdruck gebracht. Bourdieus Vorstellung eines „praktischen Sinns“ und die Konzeption der „Inkorporiertheit von Wissen“ bezeichnet in seiner Theorie den Prozess, in dem Menschen oder Gruppen ihren Habitus, also ein spezifisches Handlungs- und Wahrnehmungsrepertoire, bilden und hervorbringen. Dieses Erlernen von habituellen Praktiken erfolgt auf einer vorbewussten Ebene vermittels dreier Formen der Einprägung, die Bourdieu „unmerkliches Vertrautwerden“, „explizite Überlieferung“ und „Übungen in Spielform“ nennt. Unmerklich, überliefert und spielerisch sind Adjektive, die auf eine Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit im Prozess der Inkorporierung verweisen. Durch die Begriffe Vertrautwerden und Übungen wird auf die Nachhaltigkeit von Inkorporierungen des „praktischen Sinns“ hingewiesen. Der „praktische Sinn“ ist einerseits bedeutet, gesellschaftlichen Zuschreibungen und sozialen Umständen und Situationen ausgesetzt, andererseits ist er selbst produktiv insofern, als dass er Situationen, Kontexte und Wissensformen gestaltet und mitbestimmt.103 Dies macht deutlich, dass Routinen als automatisierte, immer gleiche Abläufe nicht angemessen beschrieben sind. Vielmehr kann deren Grundlegung wie auch deren Veränderbarkeit erst mit Hilfe eines erweiterten Verständnisses als inkorporierte Praxisformen erfasst werden. Veranschaulichung: Veränderte Routinen Frau Wald arbeitet seit 15 Jahren als Deutschlehrerin an einer Realschule einer Kleinstadt. Sie wird aufgrund einer schulorganisatorischen Maßnahme mit den neuen Reproduktionstechnologien konfrontiert, von denen sie sagt, dass sie bislang in ihrem Denken und Nachdenken keine Rolle gespielt haben. Aufgrund der landesweiten Festlegungen der Themen für die Abschlussprüfung zur Mittleren Reife ist sie gehalten, mit der 10. Klasse, in der sie Klassenlehrerin ist, den Jugendroman „blue print“ der Autorin Charlotte Kerner zu lesen. Im Mittelpunkt des Buches steht das Identitätsproblem eines adoleszenten Mädchens, das als Klon ihrer Mutter lebt. Gefangen zwischen der Kontrolle durch den Reproduktionsmediziner, der ihr Leben technisch produzierte, einerseits, und den 103 Vgl. Bourdieu 1987: 122 ff.

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Unsterblichkeitsfantasien der Genmaterial gebenden „Mutter“ andererseits werden mögliche Folgen der Gen- und Reproduktionstechnologie am Beispiel der Klonierungstechniken thematisiert. Frau Wald beschäftigt sich zur Vorbereitung auf diese für sie neue Thematik ausführlich mit dem für das Buch entwickelten „Themenheft für Lehrkräfte“, arbeitet mit den Materialien aus dem Unterrichtsheft für Schülerinnen und Schüler und ergänzt ihren Unterricht mit aktuellen Artikeln aus der Tagespresse. Bei der Vorbereitung auf die neue Unterrichtseinheit stellt sie fest, dass sie die Thematik interessant und wichtig findet, weil sie derzeit breit diskutiert wird und weil sie Schülerinnen und Schüler auffordert, „über die Zukunft nach zu denken“. Auch realisiert sie, dass die Begegnung mit der neuen Thematik für sie selbst mit zeitlichen Organisationsschwierigkeiten verbunden ist. Sie muss mehr lesen und ihr Vorbereitungsaufwand vergrößert sich. Inhaltlich fühlt sie sich nicht verunsichert, sondern erlebt es als produktive Situation, dass ihr Wissensstand und der der Schülerinnen und Schüler weitgehend identisch sind. Den Vorteil sieht sie darin, dass es eine gemeinsame Suche nach Antworten gibt und dass ihre Fragen wirklich ernst gemeint sind. „Also mir hat es Spaß gemacht, auch mal wirklich auf dem gleichen Stand zu sein wie die“, sagt sie. Einzig die Aufarbeitung der biologischen Abläufe der Erbfolgen und der reproduktionsmedizinischen Verfahren stellt für sie eine Herausforderung dar. „Es war für mich sehr schwierig. Nicht unbedingt von der Ethik her, denke ich. Da kann man mit den Schülern immer sprechen. Aber das ganze Wissen, was um das Klonen herum ist. Diese Unterschiede. Was therapeutisches und was dieses reproduktive Klonen ist, und, und, und. Das mussten wir uns selber anlesen“ (Interview Wald: 1).

Mögliche Unterstützung von fachkundigen Kollegen holt sie sich nicht. Für sie ist Kooperation und Kommunikation zwischen KollegInnen bei pädagogischen Anforderungen und didaktisch-methodischen Fragen eine Selbstverständlichkeit. Die inhaltliche Fort- und Weiterbildung jedoch versteht sie als individuelle Angelegenheit der einzelnen Lehrperson. Sie bilanziert: „Das heißt, wir waren gezwungen, uns damit zu beschäftigen. Ich wüsste nicht, ob ich dieses Thema normal genommen hätte, wenn ich jetzt nicht über die Lektüre dazu gekommen wäre“ (Interview Wald: 1).

Frau Wald nimmt die neue Thematik in Angriff, indem sie die Elemente des Deutschunterrichts im Allgemeinen akzentuiert und den inhaltlichen Verlauf der Erzählung, sprachtheoretische Fragestellungen wie auch das Einüben von „kreativem Schreiben“ in den Vordergrund ihres Unterrichts stellt. Dabei wird schnell deutlich, dass der Inhalt des Buches von den SchülerInnen ohne spezifisches

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Sachwissen nur schwer rekonstruiert werden kann und dass auch das kreative Schreiben einen ethisch-moralischen Ausgangspunkt der schreibenden Person braucht. So entscheidet Frau Wald, dass die Schüler und Schülerinnen zunächst den gesamten Text zu Hause lesen und dann einen umfassenden Fragekatalog zum Textinhalt bearbeiten. Dabei müssen Informationen zur In-VitroFertilisation nachgeschlagen oder das Internet oder Fachbücher zum Thema Krankheitsverläufe und Erbfolge konsultiert werden. Bei der Bearbeitung taucht immer wieder die Frage nach der ethischen Bewertung auf und die Schülerinnen und Schüler fangen an, über die Problematik von Klonen zu diskutieren, werden mit gesetzlichen Regulierungen konfrontiert und erwägen die Vor- und Nachteile des reproduktiven und des therapeutischen Klonens im Rahmen eines Rollenspiels. Auch ist es der Lehrerin wichtig, die lebensgeschichtlichen Veränderungen, die mit dem Klonen verbunden sein können, deutlich zu machen, und sie lässt die Schülerinnen und Schüler eigene Lebensentwürfe schreiben, die sie aufbewahren und nach fünf Jahren wieder anschauen sollen. Auf diese Weise hofft Frau Wald einen „persönlichen Bezug“ zum Thema herstellen zu können, den sie für unerlässlich für die Entwicklung einer „eigenen Meinung“ zum Thema hält. Sie sagt: „Ich denke immer, man kann in der Theorie immer sagen, ‚Ich bin dagegen’. Und wenn es einen mal wirklich betrifft, sieht es garantiert ganz anders aus“ (Interview Wald: 3).

Die Behandlung der ethisch-normativen Aspekte der Thematik hat sich nach Beobachtung von Frau Wald im Unterricht „so ergeben“ und ist von ihrer Seite nicht entsprechend vorbereitet. Sie macht den Entstehungs- und Entwicklungsprozess von Meinungen und Positionen zum Thema Biomedizin nicht zum Gegenstand der unterrichtlichen Auseinandersetzung. Vielmehr macht sie immer wieder deutlich, dass sie die „eigene Betroffenheit“ als Maßstab politischethischer Beurteilung ansieht und dass sie Wissen, das aus „Lebenserfahrungen“ resultiert, für bedeutsam hält. Im Unterricht bewirkt dieses Postulat, dass im Rollenspiel alle sogenannten „Betroffenen“ die reproduktionsmedizinischen Technologien befürworten, kritische Distanz und allgemeine Normen also aus dem Blick geraten. Das Verhältnis zwischen Wissen und Handeln wie auch das zwischen Normen und Verhaltensspielräumen wird nicht ausgelotet, wohl aber benannt: „Es ist auch nicht meine Aufgabe, die Schüler in irgendeine Richtung zu lenken. Sondern ich habe versucht, allgemein zu informieren und habe dann eigentlich von den Schülern erwartet, dass sie sich ihre eigene Meinung dazu bilden.(...) Also ich beziehe auch ganz klar Stellung. Das mache ich sowieso. Weil ich denke, die Schüler haben da ein Anrecht drauf. Und die müssen wissen, wir sind nicht nur Lehrpersonen, wir sind auch Menschen. Und wir haben auch unsere eigenen Ideen und Gedanken“ (Interview Wald: 3).

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Weil sich alle Schülerinnen und Schüler positionieren müssen, wird am Ende der Lehreinheit darüber abgestimmt, wer für und wer gegen das Klonen ist. In der Erzählung von Frau Wald münden Wissen und Handeln in die weitgehend standardisierte Forderung nach einer „eigenen Meinung“. Diese Aufforderungen zur Meinungsbildung und Selbst-Positionierung basiert auf einer Konzeption des Wissens, die wir im ersten Teil dieses Kapitels als einen individuumszentrierten pädagogischen Wissensbegriff charakterisiert haben. Dieser Wissensbegriff ist, wie wir argumentierten, davon bestimmt, dass er allgemeine, übergreifende, gesamtgesellschaftliche und politisch-normative Konstellationen kaum berücksichtigt. Dies zeigt sich auch hier, wo die übergreifenden Wissensanteile, wie zum Beispiel Argumente, allgemeine Erwägungen und Normen (z.B. Kriterien für Gerechtigkeit und Gleichheit) in der Darstellung der Lehrerin nicht expliziert werden. Ihrer Ausbildung entsprechend – Frau Wald hat ein Lehramtsstudium mit einem hohem erziehungswissenschaftlichen Anteil absolviert – aktiviert sie ein Wissenskonzept, das ihr geläufig ist. Zum routinierten und inkorporierten Wissensbestand fast jeder Lehrkraft gehört auch die ebenso plausible wie dauerhaft aufgestellte Forderung danach, dass die Schule die Schülerinnen und Schüler zu eigenständigen Persönlichkeiten ausbilden möge. Diese Überzeugung wird durch ein gleichermaßen routinisiertes Methodenrepertoire zur Anwendung gebracht. Rollenspiel, Zweiergespräche und das abschließende „Abstimmen“ sind Elemente der Einübung, des Vertraut-Werdens mit den Anforderungen des pädagogischen Wissensbestands des „Sich-Selbst-Positionierens“. Der Bezug auf diese Routinen gewährt Stabilität und Sicherheit, die im Umgang mit der neuen Thematik notwendig und verständlich sind. Gleichzeitig zeigt das Fallbeispiel aber auch, dass ein Misslingen dieser Routinen wahrscheinlich, und ihre Variation von der Sache her nötig ist. Da die Routinen nicht wirklich passen – beispielsweise gibt es die Möglichkeit des Rekurses auf Erfahrungswissen beim Thema „Klonen“ nicht, weil bislang kein Mensch geklont worden ist; auch das Procedere des „Abstimmens“ mutet deshalb etwas unangemessen an – verweisen sie auch auf das Neue der Thematik „Biomedizin“. So macht Frau Walds Erzählung deutlich, dass angemessene Rituale der Einprägung und Präsentation des Themas „Biomedizin“ noch gefunden werden müssen. Das Interview zeigt, dass Schülerinnen und Schülern wie auch die meisten Lehrkräfte im Bereich dieser Thematik über kein Wissen verfügen, das sich als habituelle, also in weiten Teilen verselbstständigte Praxis zeigt, das Ausdruck von Prägung und Einprägung ist, und in dem Bekanntes, Vertrautes und Tradiertes eingeübt werden. Zum Thema In-Vitro-Fertilisation hat kaum einer der am Unterricht Beteiligten seine Meinung in mehrfacher Auseinandersetzung mit

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Fragen von „Recht“ und dem Verhältnis „Ich/Andere“ erprobt und geübt. Der Umgang mit solchen Kategorien ist weder bekannt noch vertraut noch ist die Anwendung und die Bezugnahme auf diese Kategorien als sinnvoll und hilfreich erlebt und erfahren worden. Das, was Bourdieu als „Inkorporiertheit von Wissen“ bezeichnet hat, gibt es hier nicht. Indem die Unangemessenheit der Routinen sichtbar werden, wird das Neue denkbar.

Konstruktion Handeln im Unterricht – wie z.B. die Auswahl der Themen, der Methoden und die Art der Klassenführung – ist in hohem Maße geleitet von normativen Vorstellungen, kollektiven Werten, welche die Maximen und symbolischen Formen der Lehr-Lernpraxis bestimmen. Praxis – und dies gilt nicht nur für die Unterrichtspraxis – steht im Kontext von Denktraditionen, von Ideologien und Weltanschauungen. Theoretisch gesprochen ist damit die Frage nach dem Zusammenhang von Diskursen und Praktiken aufgeworfen. An welchen begrifflichen Konstruktionen wird sich zur Legitimierung des praktischen Handelns angelehnt? Und gibt es umgekehrt eine Macht oder Dominanz von Diskursen, die eine Reorganisation der Praxis erforderlich machen? Die von uns untersuchte Frage nach der Behandlung des biopolitischen Diskurses im schulischen Unterricht erfordert, da der Diskurs Ambivalenzen und Unsicherheiten in Bezug auf die Verlässlichkeit wissenschaftlichen Wissens transportiert, eine Auseinandersetzung über die Legitimität von Expertise. Der biopolitische Diskurs bietet keine eindeutigen Konstruktionen, naturwissenschaftliche Tatsachen oder Wahrheiten an, sondern ist vielmehr selbst ein Versuch, mit Vieldeutigkeit umzugehen. Viele Versuche, das Thema im Unterricht zu behandeln, stellen, wie wir in den nachfolgenden Kapiteln zeigen werden, selbst Versuche dar, die Komplexität dessen, was sich angesichts der biomedizinischen Entwicklung alles verändert, ethisch zu standardisieren und handhabbar zu machen. Wenn allerdings Lehrer und Lehrerinnen ihre Konstruktionen der Thematik an Direktiven und ethischen Imperativen angelehnt im Unterricht vermitteln, dann brechen sich klare und ausformulierte Werten und Normen Bahn. Dann werden ethische Konstruktionen selbst aktiv und lebendig. Für ein theoretisches Verständnis des Wechselverhältnisses von Wissen und Handeln, von Theorie und Praxis, zeigt dies, dass Konstruktionen selbst insofern „praktisch“ sind, als dass sie kategoriale Ordnungen herstellen, die Praktiken reglementieren, Habitnjs gestalten, in Fleisch und Blut übergehen, zum Bestand-

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teil des Seins werden. Die Bezugnahme auf einen bestimmten Diskurs, auf spezifische Konstruktionen, bringen auch immer einen Typus von Sprechen, Handeln und Sein hervor. Dies zeigt, dass Konstruktionen nicht reine Sprachmuster oder Textbausteine sind, sondern konstituiert sind durch kommunikative, praktische und identifikatorische Handlungsvollzüge und sich in den Aktivitäten, der verwendeten Sprache und in den symbolischen Praktiken zeigen.104 Der Begriff der Konstruktion umfasst deshalb immer zwei Dimensionen. Zum einen wirken Konstruktionen; beispielsweise indem spezifische Konstruktionen von „Biotechnologie“ zu bestimmten Handlungsmaximen führen und eine Positionierung in der Frage der Bewertung der Errungenschaften der Biotechnologie ermöglichen. Dabei verlaufen Konstruktionen immer doppelgleisig – kognitiv und affektiv – und werden in der Schnittstelle zwischen individueller Erfahrung und kollektiven Regulierungen wirksam. Zum zweiten lässt sich dieser Vorgang auf einer analytischen bzw. erkenntnistheoretischen Ebene als sozialer Herstellungsprozess – z. B. als „Konstruktion von Risikobewältigung” – beschreiben. Wenn aber Logiken und Sinnhaftigkeiten von Handlungsvollzügen als konstruiert und hergestellt verstanden werden, wird auch die Möglichkeit ihrer Veränderbarkeit denkbar. Veranschaulichung: Konstruktionen und ihre „Seinsgebundenheit“ (Mannheim) als biografische Kontinuität Monika Blume ist Lehrerin an einer Realschule im nördlichen BadenWürttemberg. Sie ist 38 Jahre alt, und hat Biologie, Chemie und Mathematik auf Lehramt studiert. Sie setzt sich mit uns für ein Interview in Verbindung, weil sie zusammen mit einer Praktikantin eine Projektwoche zum Thema „Gentechnik“ durchgeführt hat und darüber gern berichten möchte. Das Gespräch mit Frau Blume verbleibt diffus, immanent und wird selten konkret und anschaulich. Frau Blume spricht assoziativ, ohne Erläuterungen und Beschreibungen von Kontexten. Sie erklärt keine Hintergründe und sozialen Bezüge. Wenn sie „wir“ sagt, bezeichnet sie jeweils andere Bezugsgruppen, ohne diesen Wechsel deutlich zu machen; einmal spricht sie von der besagten Studentin und sich, ein weiteres Mal von ihrer Klasse, dann von dem Kurs, mit dem sie Termine außerhalb der Schule wahr genommen hat. Sie berichtet von Ereignissen und Begebenheiten, ohne von ihnen zu erzählen: dass sie im Rahmen einer Projektwoche zum Thema Biomedizin/Biotechnologie an der Uni 104 Formuliert in Anlehnung an Karl Mannheim, der Konstruktionen als von Individuen angeeignete und in ihrer „Seinsgebundenheit” gelebte und praktizierte Handlungszusammenhänge versteht. Vgl. Mannheim 1964: 408.

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einen Vortrag besucht haben, dass sie in ihrem Unterricht auch das Thema „Abtreibung“ behandelt, dass die Schülerinnen und Schüler oft unaufmerksam sind. In ihren Ausführungen finden sich kaum Details, Eindrücke und Reflexionen. Inhaltlich bezieht sie zu einer Frage Position: Sie ärgert sich über gentechnikkritische Darstellungen in den Medien und möchte in ihrem Unterricht gern erreichen, dass die „Schüler nicht alles glauben, was in der Zeitung steht“. Das Gespräch verläuft, ohne dass Frau Blume inhaltliche Aussagen zum Thema „Biotechnologie“ macht. Die Verfahren, z.B. Sichtbarmachtung der DNS oder Klonierung, von denen sie sagt, sie im Unterricht zu behandeln, werden zwar als „bedeutsame technische Entwicklungen“ bezeichnet, aber in Ablauf und Durchführung nicht nachvollziehbar beschrieben. Trotz mehrfachem Nachfragen wird nicht deutlich, wie und womit sie ihren Unterricht gestaltet. Einzig das Anliegen, die Kritik der Skeptiker der Gentechnologie zurück zu weisen und zu differenzieren, wird von ihr durch Lautstärke der Stimme und dem Duktus der Empörung deutlich gemacht. Es lässt sich insgesamt sagen, dass Frau Blume in dem Gespräch kein biotechnologisches und naturwissenschaftliches Wissen artikuliert und ihr Interesse und ihre Erfahrungen nicht zum Ausdruck bringt. Die Aussagen bleiben diffus, inszenieren und veranschaulichen das, worum es der Interviewerin geht: um das unsichere Wissen im Kontext der Biotechnologie. Dem steht gegenüber, dass Frau Blume sich selbst als engagierte Lehrerin schildert. Ihrem Selbstverständnis zufolge ist sie innovativer und aktiver als der Rest des Kollegiums. Sie ist diejenige, die in der Schule, an der sie unterrichtet, neue Unterrichtsthemen und neue Methoden aufgreift. Sie ist Ausbildungslehrerin für Lehramtsstudierende im Schulpraktikum. Sie ist die einzige Person an der Schule, die Chemie unterrichtet. „Ich bin Chemiker“, sagt sie im Verlauf des Gesprächs und vielleicht ist dies ein Hinweis auf ihr Selbstbild/ Selbstverständnis einer Naturwissenschaftlerin. Andererseits ist sie aber als Chemielehrerin wenig initiativ und stellt ihre Arbeit mehrmals so dar, dass sie aufgefordert wurde, eine Aufgabe zu übernehmen oder Aktivitäten nur deshalb begleitet, „weil es niemand anders machen wollte“. Sie beschreibt sich als jemand, die Aufträge und Aufgaben erhält und die erst im Prozess der Ausführung beginnt, sich mit den Aktivitäten zu identifizieren. So entsteht auch hier der Eindruck einer Unentschiedenheit, eines Hin- und Herpendelns zwischen Aktivität und Desinteresse, zwischen Engagement und Enttäuschung. Eine Zweiteilung von Abwertung und Aufwertung bestimmt auch Frau Blumes Darstellung ihrer Arbeitssituation. Sie berichtet von ihrer Isolation im Kollegium und beschreibt die Kolleginnen und Kollegen als eingefahren und desinteressiert. Zusammenarbeit und kollegiale Unterstützung gibt es in ihrem Berufsalltag nicht. Auch von der Schulleitung bekommt sie keine Anerkennung.

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Die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern schildert sie als überwiegend anstrengend. Positiv herausgestellt hingegen werden von ihr ein Lob der Bildungsministerin, welches sie im Rahmen eines Ideenwettbewerbs für Schulklassen erhielt sowie die Unterstützung und Spendierfreudigkeit eines Professors der nahegelegenen Universität, die sie bei der Ausstattung der Biologiesammlung der Schule bekam. Auch ihre Bereitschaft, sich im Rahmen einer wissenschaftlichen Untersuchung interviewen zu lassen, unterscheidet sie von ihren Kolleginnen und Kollegen. Die Ausführungen von Frau Blume geben über ihre Unterrichtspraxis nicht viel Preis. Explizit macht sie einzig ihre Ansicht, dass Gen-Food „harmlos“ sei und kritische Mediendarstellungen „übertreiben“ und „dramatisieren“. In Anlehnung an das oben Ausgeführte kann diese Position als „Konstruktion“, die das Wissen und Handeln von Frau Blume leitet und strukturiert, verstanden werden. In dieser Position transportiert sich die eine Seite der Ausführungen Frau Blumes. Sie ist identifiziert mit den „richtigen“ Chemikern, mit den Autoritäten aus Politik und Wissenschaft und fällt aus den Reihen der LehrerKolleginnen und -Kollegen heraus. Die Konstruktion wird aber von Frau Blume nicht mit Argumenten und Erzählungen gestützt und veranschaulicht, sondern bleibt als unbegründetes Postulat blass und wenig überzeugend. Hier zeigt sich die andere Seite des Interviews: Frau Blume ist selbst ein Teil dessen, was sie nicht besonders erstrebenswert findet und was sich bei den von ihr verachteten KollegInnen zeigt. Weil ihre Tätigkeit als Realschullehrerin entwertet ist, kann sie nicht selbstbewusst sein. Ihr Bemühen, nach Höherem zu streben und sich z.B. im Interview als kompetente Naturwissenschaftlerin darzustellen, scheitert, weil sie keine Worte findet. Sie bezieht sich auf Ideen, die sie aber nicht realisiert. Sie interessiert sich für Neues und Anspruchsvolles und erfährt darin in ihrem Lebensumfeld keine Unterstützung. So kann sie nicht tätig werden, sondern verbleibt gebremst und deprimiert. Das Beispiel illustriert die praktische Dimension von Konstruktionen. Konstruktionen sind zwar Worte und Sätze, aber sie leiten Handlungsvollzüge (hier z.B. sich zu einem Interview bereit erklären), bestimmen die Art der verwendeten Sprache (hier z.B. Postulate, die nicht ausgeführt und begründet werden) und beeinflussen die Auswahl der symbolischen Praktiken (hier z.B. der Wunsch nach Anerkennung durch Autoritäten aus Wissenschaft und Politik). Zudem sind die Konstruktionen selbst wirksam, zum Beispiel indem sie als Haltung/Meinung in die Welt getragen werden und indem sie, wie das vorliegende Beispiel zeigt, eine Positionierung in der Frage der Bewertung der Biotechnologie ermöglichen.

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Fazit: Zu einem erweiterten Verständnis von „Praxis“ Die hier aufgegriffenen Dimensionen von Praxis als Performance, Routinen und Konstruktion unterscheiden sich deutlich von handlungstheoretischen Konzeptualisierungen der Strukturtheorie oder des Homo oeconomicus der Rational Choice Theorien oder dem Homo sociologicus der Systemtheorie.105 Im Gegenteil betonen die hier beschriebenen Handlungsdimensionen die kulturellen Komponenten eines jeden Handelns sowie ein spezifisches praktisches Können als das den Praktiken und Verhaltensweisen Gemeinsame. Für das Verständnis von „schulischer Praxis“ angesichts der gesellschaftlichen Veränderung der Bedeutung von Wissen macht dies es erforderlich, zu bestimmen, wie das institutionen-spezifische praktische Können genau aussieht oder auch aussehen sollte. Dabei muss auch die besondere Materialität, die implizite Logik und Widersprüchlichkeit schulischer Unterrichtspraxis Berücksichtigung finden. Die bisherigen Überlegungen machen zu dieser Frage dreierlei deutlich: Zur „schulischen Praxis“ gehört zum einen, dass Intentionalität, Normativität und Schemata im Handeln eine wichtige Rolle spielen und dass Praktiken als Performance, Routinen und Konstruktionen zuallererst wissensbasiert sind. Sie sind eine Aktivität, in der ein praktisches Wissen, ein Können im Sinne eines know hows und eines praktischen Verstehens zum Einsatz kommt. Zur „schulischen Praxis“ gehört zweitens, und das sollte im Rückgriff auf den Konstruktionsbegriff gezeigt werden, die Implizitheit des Wissens. Eine Orientierung an den Prinzipien der Bio-Ethik beispielsweise lässt sich nicht unbedingt als explizierbare Überzeugungen darstellen. Die Aufforderung, sich angemessen zu verhalten, ist deshalb immer eine wissensabhängige Routinisiertheit, die das Handeln des Einzelnen anleitet. Zur „schulischen Praxis“ gehört drittens, dass Handeln die Aspekte der Inkorporiertheit von Wissen und der Performativität des Handelns umfasst. Nach innen setzt sich die Fähigkeit der Akteure zum Vollzug einer Praktik als Sequenz von Körperbewegungen eine Inkorporierung von Wissen und eines praktischen Verstehens voraus. Nach außen bedeutet die Körperlichkeit des Vollzugs von Praktiken, dass sie von der sozialen Umwelt als eine skillfull performance wahrgenommen werden kann.

105 Siehe dazu den Überblick bei Etzrodt 2003 sowie Diekmann 1999. Dies zeigt, dass aus der Perspektive der diskutieren Elemente „Praxis“ nicht, wie in vielen Handlungstheorien üblich, mit „Intersubjektivität und nicht mit „Normengeleitetheit“ und auch nicht mit „Kommunikation“ begründet werden kann.

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Bevor wir beschreiben, welche konkreten Umgangsformen mit neuem Wissen und neuen Technologien sich in der schulischen Praxis ausmachen lassen, und wie sich Bewahrung und Veränderungen von Wissen zeigen, soll zunächst das neue Wissensfeld der Biotechnologie/Biopolitik vorgestellt und seine Dynamiken veranschaulicht werden.

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Kapitel II Biotechnologien. Diskursive und (bildungs)politische Aneignungen

1. Biomacht, Biopolitik, Bioethik Mit dem Modell der Doppelhelix haben James Watson und Francis Crick 1953 die Struktur der Erbsubstanz DNA beschrieben und damit die Voraussetzung für die biotechnologische Erforschung des menschlichen Genoms geschaffen. Seither wird auf verschiedenen Wegen und mit diversen Mitteln der Experimentalund der Laborwissenschaften daran gearbeitet, die Erkenntnis des Lebendigen und des Umgangs mit ihm, den Organismus und seine Organisation weiter zu erforschen und zu simulieren. Das Wissen über Organismen, ihre Bau- und Funktionspläne wie auch ihre Entwicklungsprozesse verändert sich stetig, und in immer neuen Experimenten werden mittlerweile auch synthetische Elemente des Lebendigen hergestellt. 1989 gelang an der ETH Zürich erstmalig die Herstellung einer DNA-Struktur mit zwei künstlichen Basen,1 1997 wurde das erste Säugetier geklont, 1998 begann die Stammzellforschung2 und 2002 wurde mit

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Zuvor war in San Francisco bereits die Erfindung der Polymerasen-Kettenreaktion (PCR) gelungen, eine Technik, die es erlaubt, einzelne Stücke DNA beliebig oft zu vervielfältigen. Damit war die Forschung nicht mehr vom Reproduktionszyklus lebendiger Organismen abhängig. Paul Rabinow hat die Einführung dieser Technologie kulturanthropologisch untersucht. Vgl. Rabinow 1996. Stammzellen sind Zell-Kulturen, die noch nicht auf ein bestimmtes Wachstumsziel festgelegt sind. Dabei ist zu unterscheiden zwischen adulten Stammzellen, die sich organspezifisch entwickeln und embryonale Stammzellen, deren Ausdifferenzierung noch unbestimmt ist (pluripotent). Insbesondere letztere werden als für die Forschung interessant angesehen. Sie werden gewonnen entweder aus dem Nabelschnurblut oder direkt von, zumeist abgetriebenen,Embryonen. Auch werden sie in vitro hergestellt durch die Verbindung von Samen und Eizelle im Labor wie auch durch die Klonierung von Embryonen. Embryonale Stammzellen lassen sich demzufolge als echtes Produkt der Biotechnologie beschreiben. Sie sind ein Konstrukt, eine Folge, ein Verfahren der sich ausdifferenzierenden Technologien. Voraussetzung ihrer Existenz ist, dass sie anfänglich Frauenkörpern entnommen wurden. Zur Kritik, dass genau davon in der gesamten Auseinandersetzung um die biotechnologischen Verfahren immer wieder abstrahiert wird, siehe Haraway 1996; Duden 1991; Kollek 2000.

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der Entdeckung der Bedeutung nicht-kodierender DNA und RNA die Vorstellung von der Weitergabe genetischer Informationen maßgeblich verändert.3 Heute umfassen die sogenannten Life-Sciences neben der Gentechnologie und der Reproduktionsmedizin auch die Hirnforschung und die Palliativ- und die Transplantationsmedizin. Im Mittelpunkt der Forschungen stehen der Beginn und das Ende des Lebens. Ziel ist es, die Entwicklung des Lebens zu verstehen und zu beeinflussen. Medizinisch-technische Verfahren sollen dabei der Heilung sowie der Verbesserung des Körpers dienen. Zugleich werden Elemente des Lebendigen künstlich konstruiert, erzeugt und produziert. Damit werden das Entwicklungspotenzial und die Kreativität von Lebensformen und Organismen in der Entwicklung technischer Artefakte zur Anwendung gebracht. Artifiziell hergestellte Teile von „Natur“ werden aufgrund ihrer Gebrauchsmöglichkeiten entwickelt und zeugen zum Beispiel als Bakterien, die Ölteppiche fressen, oder als gentechnisch hergestelltes Insulin von ihrer Wirksamkeit. Die zentrale Veränderung, die mit den Life- Sciences und ihren biotechnologischen und biomedizinischen Verfahren verbunden ist, besteht darin, dass die Körpersubstanzen selbst zu einem Rohstoff werden. Körpersubstanzen werden im dreifachen Sinne zum Produkt: Zum einen werden sie als Blut, Organe, Spermien, Eizellen, Stammzellen gesammelt und verkauft. Es wird zweitens daran gearbeitet, sie beispielsweise mittels Stammzellenforschung und Klonierungstechniken künstlich herzustellen, zu vermehren und qua Patentierung zum Eigentum Einzelner oder von Firmen zu machen. Drittens werden Informationen über ihre Verbreitung, ihre Art und Struktur von Erscheinung und Vorkommen in Biodatenbanken,4 in Gesundheitspässen oder als Gen-Screenings dokumentiert und für diverse Anwendungsfunktionen, wie beispielsweise Krankheitsprognosen, verwendet. Dadurch vollziehen sich bedeutsame Veränderungen in der Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Technik, von Körper und Leben, von Körper und Selbst. Die Körpernatur, die körperlichen Substanzen und die Lebendigkeit des 3

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Vgl. Mattick 2003. Lange Zeit war man in der Biologie davon ausgegangen, dass die Informationen von der DNA zur RNA und dann zu den Proteinen fließen. Hier war die Vorstellung eines „genetischen Programms“ als präformierend leitend. Mittlerweile gibt es nun auch Einsichten über die RNA, die zwar keine Proteine codiert, aber trotzdem wichtige genetische Steuerungsfunktion übernimmt. Als „Proteom“ und nicht als „Genom“ programmiert sich die Information selbst und kommuniziert und differenziert sich im Wechsel mit ihren Umgebungen. Damit bietet die Epigenetik neue Einsichten über den Zusammenhang des genetischen Codes als Steuerungsprogramm einerseits und der Umwelt als gestaltendes Realisierungsmoment andererseits. Die erste umfassende Biodatenbank wurde auf Island erstellt. Auf Vorschlag der Firma DeCode beschloss die isländische Regierung 1998 die Sammlung der Gesundheitsdaten und lebensgeschichtlicher Informationen der gesamten isländischen Bevölkerung. Siehe dazu Rabinow 2002: 179-196; Rödel/Ullrich 2005.

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Körpers sind nicht länger einfach gegeben, sondern werden in einen Produktions- und Verwertungszusammenhang eingestellt, zu dem sich jedes Individuum verhalten muss. Als „Produkt“ schaffen Körpersubstanzen einen Mehrwert, und als Bestandteil eines Produktions- und Distributionszirkels werden Körpersubstanzen angeeignet und werden zum „Eigentum“.5 Damit verändert sich auch das Verständnis von „Leben“. Neben der Ansicht, „Leben“ als einen Zufall der Evolution oder ein Geschenk Gottes zu begreifen, etabliert sich nun auch die Vorstellung von „Leben“ als Wert, mit dem die Besitzer verantwortungsbewusst umgehen sollen. Nun also sind die Menschen das Leben, und zugleich kann „Leben“ durch sie hindurch gehen, wenn es künstlich hergestellt und außerhalb der Ränder unseres Körpers existiert.6 Die gewandelten Vorstellungen vom „Leben“ wie die veränderten Zugänge charakterisieren die Gegenwartsgesellschaft und die Bezeichnung „Life Sciences“ sucht dem Rechnung zu tragen. Die Life-Sciences und ihre Technologien sind Bestandteil gegenwärtiger Wirklichkeiten und sie sind von alltäglicher Bedeutung. Sie haben sich kontinuierlich entwickelt und es ist nicht damit zu rechnen, dass sie gebremst oder gar abgeschafft würden.7 Sie transportieren Vorstellungen von „Entwicklung“, von „Fortschritt“, „Zukunft“ und damit Versprechungen und Verheißungen. Sie folgen einer Logik des Vorteils, der Optimierung und der Chancen, und bieten so Anreize für potenzielle und interessierte Macher und Teilhaber.8 Da die Teilnahme und die Verfügung über die Technologien nicht egalitär verteilt sind, spielen soziale Ungleichheitsverhältnisse und Machtbeziehungen im Umgang mit den Technologien wie auch ihren Erkenntnissen und Errungenschaften eine bedeutsame Rolle. Deshalb ist auch immer wieder die Rede von der „Biomacht“.

5 6

7 8

Zur rechtsphilosophischen Problematik dieser Entwicklung siehe z.B. Hermann 2003. Die damit verbundenen Veränderungen des Verständnisses von „Natur“ wie auch der Beziehung von Natur, Kultur und Technik werden breit diskutiert und kritisch betrachtet. Siehe dazu z.B. Böhme 2003. Zur historischen Entwicklung des Begriffs „Natur“ siehe Sieferle 1997. Für eine kritische Position zu der hier skizzierten Entwicklung sei hier stellvertretend auf Habermas 2001 verwiesen. Volker Gerhardt skizziert den Weg dieser Entwicklung. Vgl. Gerhardt 2001. Dietmar Mieth vergleicht die „Entdeckung neuer Genwelten“ mit der Fahrt des Christoph Kolumbus am Ende des 15. Jahrhunderts, da mit beiden eine neue Sicht auf die Welt verbunden sei. Vgl. Mieth 2002: 2.

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Die politische Regulation des Lebendigen. Biomacht und Biopolitik Michel Foucault hat darauf hingewiesen, dass die hohe Bedeutung des Begriffs „Leben“ nicht erst mit der Entdeckung der DNA begann, sondern als ein Charakteristikum der Moderne gelten kann.9 Seine Begriffe der „Biomacht“ und der „Biopolitik“ kennzeichnen eine Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Machtstrategien, die vornehmlich darauf zielen, dass Leben selbst als produktives Element zu kontrollieren. Neben einer bis heute existierenden eher repressiv wirkenden Machtform, die Leben nimmt (z.B. durch Justiz, als Todesstrafe) oder gefährdet (z.B. indem Personen in den Krieg ‚geschickt’ werden), die Foucault „politische Anatomie des menschlichen Körpers“ nennt und die auf die Disziplinierung des Einzelkörpers ausgerichtet ist, etabliert sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Macht, die das Leben selbst zu steuern und zu bewahren sucht. Diese Regulation zielt auf die Bevölkerung als Gesamtheit und umfasst eine Vielfalt von Strategien wie Wissen, Wohlfahrt und Wachstum. Mit Hilfe von Bevölkerungspolitik, Sexualpolitik oder auch Frauen- und Geburtenpolitik wird das Leben selbst reguliert und als Quelle erschlossen. Foucault versteht diese zweipolige Biomacht als den „Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewussten Kalküle und die Verwandlung des MachtWissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens“.10 Das historische Neue dieser Form der Macht liegt darin, dass sie nicht primär auf den Gehorsam und die Arbeitskraft der Einzelnen gerichtet sind, sondern auf deren biologische Qualitäten. Ernährung, Gesundheit, Umweltschutz, erbbiologische Verbesserung werden zu Themen, an denen sich die Biomacht entfaltet. Auf diese Weise entsteht eine ganz neue Logik von Machtwirkungen. Die Biomacht arbeitet nicht mit Verboten, Kontrolle oder Sicherung. Da sie auf Optimierung zielt, sind Qualität, Ästhetik und Anreize die Elemente und Mechanismen, mit deren Hilfe sie sich Wirkung verschafft. Da eine Verbesserung in Aussicht gestellt wird, nehmen die Beteiligten aus freien Stücken teil. Biomacht basiert auf einer „Vorteilslogik“.11 Da sich dieses Ansinnen nicht von selbst Geltung verschafft, sondern politisch unterstützt, reguliert und institutionalisiert wird, verwendet Foucault den Begriff der „Biopolitik“. Mit „Biopolitik“ sind all solche Handlungen und Strategien bezeichnet, die als Verhalten und Normen in Bezug auf die Organisation und Gestaltung des Lebendigen und des Lebendig-Seins wirksam werden. Darunter fallen die Förderungsstrategien der Wissenschaftspolitik genauso wie die

9 10 11

Siehe dazu auch Foucault 1988. Foucault 1984: 170. Gehring 2006: 225.

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gesundheitspolitischen Aktivitäten in Richtung Eigenverantwortung oder auch die Standardisierung der Geburtsvorbereitung und -nachsorge.12 Foucaults Begriffe sind Kategorien der Beschreibung, die er an historischen Materialien aus dem 19. Jahrhundert entwickelt hat, um eine Verschiebung von Machtwirkungen, von „Macht-Wissens-Komplexen“, wie er sie nennt, zu veranschaulichen. Die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierenden Wissenschaften Biologie und Soziologie wirkten sich u.a. als Darwinismus, Psychoanalyse und Statistik gestaltend auf die Gesellschaft aus, und die Wirksamkeiten dieses Denkens sind bis heute auszumachen. Für eine Anwendung der Foucaultschen Begriffe auf aktuelle Phänomene und Erscheinungen gilt es jedoch zu bedenken, dass Foucault sich immer für Brüche und Transformationen, nicht für Kontinuitäten interessierte,13 und eine schlichte Übertragung der Begriffe in das 21. Jahrhundert wohlmöglich Veränderungen und Neuerungen übersehen ließe. Deshalb wäre bei einer Verwendung der Begriffe „Biopolitik“ und „Biomacht“ heute zu fragen, was gegenwärtig als „Biomacht“ und „Biopolitik“ gefasst werden könnte, wie sie wirken und ob sich mit Hilfe dieser Begriffe ein Stück Genealogie schreiben lässt, ein Teil der Geschichte der Veränderungen im Umgang mit dem Lebendigen. Paul Rabinow hat genau eine solche Untersuchungsperspektive angelegt und die Veränderung durch die moderne Biotechnologie als Entwicklung „von der Soziobiologie zur Biosozialität“14 beschrieben. Auch Petra Gehring sucht am Beispiel von zehn unterschiedlichen gegenwärtigen gentechnologischen Entwicklungen reichend von der Stammzellforschung über die InvitroFertilisation bis hin zur Hirnforschung die Frage zu klären, welche neuen Formen von Macht die neuen Technologien eigentlich mit sich bringen und trägt damit zur Präzisierung und Aktualisierung des Begriffs der „Biomacht“ bei.15 Thomas Lemke analysiert das neue Phänomen der verschiedenen Formen von „genetischer Diskriminierung“.16 Die Ausführungen dieser AutorInnen machen deutlich, dass – mit Foucault gesprochen – die in den Biotechnologien vollzogenen Praktiken des Lebens ein gegenwärtig äußerst bedeutsames Feld von Macht und Wissen darstellen. Die 12

13 14 15 16

Auch der Entartungsgedanke, die Eugenik und die systematische Nutzung von Körpersubstanzen in den Konzentrationslagern des Nationalsozialistischen Regimes werden von einigen Autoren als Formen der Biomacht angesehen; vgl. z.B. Agamben 1995. Demgegenüber definiert Wolfgang van den Daele den Begriff der Biopolitik schlicht als die „gesellschaftliche Thematisierung und Regulierung der Anwendung moderner Naturwissenschaft und Technik auf den Menschen“. Vgl. van den Daele 2005: 7. Das unterscheidet ihn von Norbert Elias, der langfristige Entwicklungen, wie z.B. den „Prozess der Zivilisation“ in den Blick nahm. Vgl. Elias 1990, Bd. 1 und 2. Rabinow 2004: 129-152. Gehring 2006. Lemke 2006.

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Biotechnologien repräsentieren die Idee des technologischen Fortschritts schlechthin, sie werden finanziell stark unterstützt und gefördert, sie entwickeln sich im Spannungsfeld von Wissen und Macht, Mittel und Zweck, Repräsentation und Intervention, und sollen sowohl Erkenntnisse produzieren als auch nützlich und wirksam sein. Sie bringen eine ganze Reihe von biomedizinischen, biorechtlichen und biopolitischen Alltagsangeboten hervor, reichend von künstlicher Befruchtung, Gentests oder gentechnisch hergestellten Medikamenten und Gemüsesorten, um nur einige zu nennen. Die vielfältigen neuen Angebote machen die Anbieter zu Experten, und die Nutzer zu Laien. Die potenziellen NutzerInnen brauchen Information, Entscheidungshilfe und sie müssen Nutzen und Risiken abwägen. Eine neue Klasse von Experten, wie z.B. Reproduktionsmediziner, Bio-Ethiker oder Lobbyisten für gentechnisch veränderte Nahrungsmittel, entsteht. Angesichts der für die Laien im neuen Ausmaß vorhandenen Notwendigkeit, Informationen zu bekommen, aufzunehmen und zu verarbeiten, und angesichts der Unsicherheit bezüglich möglicher Risiken einerseits und den anvisierten Verbesserungen und Verheißungen andererseits wie auch angesichts der ideologischen und politischen Auseinandersetzungen und Dispute zum Thema Gen- und Biotechnologie ist es für die Laien zunehmend schwieriger, sich zu orientieren und zu verhalten. Sie können zum einen die neuen Möglichkeiten dankbar aufnehmen und als Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten einschätzen, beispielsweise im Fall spezifischer Krankheiten, für die durch Biomedizin und Biotechnologie neue Therapiemöglichkeiten eröffnet werden. Sie können zweitens die neuen Möglichkeiten schlicht verweigern, eine Haltung, die derzeit beim Kauf gentechnisch veränderter Nahrungsmittel zu beobachten ist. Sie können sich drittens überfordert, verunsichert und von Verhaltens- und Entscheidungserwartungen überfrachtet fühlen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der vorgeburtlichen Diagnostik. Konfrontiert mit Veränderungen der Lebenswelt, der Wissensbestände und der Verantwortungsbereiche entstehen für die Laien, aber auch für die sogenannten Experten, moralische Ambivalenzen. Es ist unsicher geworden, welches Verhalten richtig und angemessen ist. Der Bedarf nach Orientierung, nach Ethik, steigt. Dies führt dazu, dass Bioethik als wissenschaftliche Disziplin wie auch als Feld der Politik sich breit etabliert.

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Technikfolgenabschätzung und die Systematisierung der gesellschaftlichen Reflexionsfähigkeit: Bioethik Der Ruf nach Ethik hat sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt und wird häufig in den Zusammenhang mit der Diagnose einer Erosion der moralischen Instanzen und Institutionen in der Gesellschaft gestellt.17 Ethik, also eine reflektierende Moralphilosophie, soll, so die Hoffnung, zu einer pragmatischen Regulierung des Fortschritts beitragen. Die Bioethik ist eine angewandte Ethik. Sie nimmt Problemstellungen und Fragen auf, die im Zuge der modernen Biotechnologien aufgekommen sind, und will sie lösen. Sie versteht sich selbst „als Moment des 18 gesellschaftlichen Problemlösungsprozesses.“ Bioethik ist die „institutionalisierte Form des Nachdenkens über den Umgang mit den neuen Möglichkeiten von Biologie und Medizin“.19 Die Entwicklung der Biotechnologie und die Bioethik sind deshalb untrennbar miteinander verbunden. Diese strukturelle Verflochtenheit mit dem Verursacher der Neuerungen bzw. der Probleme hat der Bioethik den Vorteil gebracht, dass sie als wissenschaftliche wie auch als politisch-regulative Instanz zunehmend sichtbarer und einflussreicher geworden ist. Es hat ihr aber auch den Vorwurf beschert, dass sie letztlich den Weg für die neuen Technologien bereite. Da Bioethik nicht auf die Zurückweisung oder Revision der Technologien zielt, sondern sie durch ein Durchdenken möglicher Anwendungsfolgen verbessern will, trage sie zur Akzeptanz und zum Vertrauen in die Technologie bei.20 So kritisiert beispielsweise Petra Gehring: Bioethik „macht den Diskurs des Lebens produktiv anwendbar, indem sie dessen Unvereinbarkeiten mit dem bisherigen Status Quo einer Gesellschaft auflöst“.21

Dies galt zweifelsohne für den Beginn der modernen Bioethik zu Beginn der 1970er Jahre in den USA. Als Überlebenswissenschaft vor dem Hintergrund der ökologischen Krise sollte die Verbindung von Ethik und Naturwissenschaft bei der Überwindung von Problemfällen helfen. Der zunächst dominante religiöse Einfluss in der Bioethik wich einer zunehmenden Vielfalt verschiedener Strö17 18 19 20

21

Eine solche Sichtweise findet sich beispielsweise ausformuliert bei Engelhardt 1996. Bayertz 1999: 76. Düwell/Steigleder 2003: 9. Zum Ideologieverdacht der Bioethik siehe Düwell/Steigleder 2003: 26-28. Bei Eser 1999 findet sich die Kritik an der nur vorgeblich partizipativen und demokratischen Ausrichtung der Bioethik. Braun 2000 nimmt eine kritische Diskussion des Konzepts des Lebenswerts und der Menschenwürde vor, die in der Bioethik eine wichtige Rolle spielen. Gehring 2006: 116. Gehring argumentiert, dass Bioethik auf der Basis der Auskunft der Biowissenschaften selbst arbeitet und kein eigenes Wissen für die Zukunft entwickelt hat. Deshalb setze die Bioethik „Projektionen all dessen ins Recht, was sie als kommende Notwendigkeit betrachtet“. Vgl. Gehring 2006: 117.

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mungen und heute finden sich in der Bioethik personenzentrierte, tugendethische, kasuistische und prinzipienethische Ansätze.22 In Europa begann die Auseinandersetzung mit der Bioethik in der Mitte der 1980er Jahre. Angestoßen durch die Entwicklungen in der Gentechnik und Reproduktionsmedizin gab es breite öffentliche Debatten. Dies führte unter anderem zur Einrichtung verschiedener Ethikkommissionen der Bundesärztekammer, zur Aufnahme der Arbeit der Enquete-Kommission Ethik und Recht in der modernen Medizin im Jahr 2000 wie auch zur Einrichtung des Nationalen Ethikrats 2001.23 Daneben hat sich die Bioethik als wissenschaftliche Disziplin ausdifferenziert und auch in der Bundesrepublik wurden eine Reihe von wissenschaftlichen Einrichtungen gegründet, die sich schwerpunktmäßig der Thematik widmen. Dazu gehören beispielsweise das Institut für Wissenschaft und Ethik in Bonn oder das Interfakultäre Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW)in Tübingen. Ausgehend von den unterschiedlichen Paradigmen verschiedener Bereichsethiken (z.B. Wissenschaftsethik, Technikethik, Umweltethik) verklammert die Bioethik ausgehend von den Entwicklungen der Life Sciences mehrere dieser Ansätze. Dabei ist eine empirische und kulturalistische Ausrichtung unerlässlich. Ziel einer philosophisch ausgerichteten Ethik ist es jedoch, die konkreten Erscheinungen oder Fallbeispiele unter allgemeine Formen bzw. Prinzipien zu fassen, sie zu ordnen und abzugrenzen. Bernhard Irrgang hält es in diesem Zusammenhang für zentral, dass „argumentative Plausibilisierungsstrategien“ an „die Stelle von Letztbegründungen kategorischer Verpflichtungen“ treten und versteht seinen bioethischen Ansatz einer phänomenologisch-hermeneutisch arbeitenden Ethik und einer existentialen Anthropologie verpflichtet.24 Seinem Verständnis zufolge hat die Bioethik die Aufgabe, die Strukturierung der Bewertung von Handlungen oder Handlungsbereichen als ein Ineinander von Deuten und Werten verallgemeinernd zu beschreiben. Die Verallgemeinerungen können auf vier Ebenen vorgenommen werden: x x x

22 23 24

Auf der Ebene allgemeiner Prinzipien und Leitbilder (z.B. Menschenwürde) Auf der Ebene bereichsspezifischer und temporaler Handlungsregeln (z.B. das Leitbild der Patientenautonomie) Auf der Ebene der Anwendungs-/Handlungsregeln (z.B. die Klärung der Kompetenz zur sittlichen Entscheidung)

Vgl. Irrgang 2006: 11. Vgl. Ach/Runtenberg 2002: 38-47. Irrgang 2005: 20/1. Auf die Fülle unterschiedlicher bioethischer Ansätze kann hier nur verwiesen werden. Einen gehaltvollen Überblick geben Düwell/Steigleder 2003.

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x

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Auf der Ebene der Anwendungsregeln für Handlungskriterien durch die Etablierung ethisch relevanter empirischer Kriterien (z.B. empirische Kriterien zur Bestimmung der Entscheidungskompetenz einzelner Menschen, z.B. bei Demenz oder psychischen Erkrankungen).25

Dieses Verständnis von Bioethik zielt darauf ab, Fundamental-Positionen zu vermeiden und eine abgestufte ethische Argumentation von der Prinzipienreflexion bis zur ethisch reflektierten Empirie und umgekehrt zu etablieren. Deduktion von gesetzten Prämissen, wie z.B. der Annahme einer Heiligkeit des Lebens, können diesem Verständnis zufolge nur als Beispiel einer Prinzipienreflexion und ihrer Konvergenz, aber nie als absolute Setzung vorkommen. Auch die „Sozialethik im Kontext der Biotechnik“, wie sie prominent von Diethmar Mieth entwickelt wurde, versucht, gesellschaftsbezogene Fragen und den Wertewandel in der Gesellschaft zu berücksichtigen. Mieth will eine Engführung der Bioethik auf Labor und Krankenbett vermeiden.26 Aus dieser Perspektive diskutiert der Sozialethiker auch ethische Fragen der Fortpflanzungsmedizin, die im Folgenden als Veranschaulichung und Beispiel des bioethischen Diskurses beschrieben werden soll.

Bioethische Fragen an die Fortpflanzungsmedizin Die Reproduktionsmedizin gehört zu den stark nachgefragten und breit diskutierten Anwendungen der Life Sciences. Ihre Verwendung basiert auf einer Reihe von Voraussetzungen, die aus bioethischer Perspektive problematisiert werden. Mit der Anwendung der modernen reproduktionsmedizinischen Verfahren sind Veränderungen des Verständnisses von Elternschaft, Krankheit und dem menschlichen Lebewesen im Allgemeinen verbunden, die im Rahmen der Bioethik als „Verschiebung in der Wertorientierung“27 diskutiert werden. Wenn Ehe und Familie als wertorientierende Institutionen angesehen werden, verändern sich Orientierungen, wenn ein Elternteil, sei es durch Samenspende oder Leihmutterschaft, aus der familialen Gemeinschaft ausgeklammert bleibt. Es entstehen Fragen der Rechte und Pflichten von Verantwortungsübernahme durch das ausgeschlossene leibliche Elternteil, die der Regelung bedürfen. Auch muss die Stellung des Kinderwunsches angesichts der reproduktionstechnologischen Möglichkeiten neu bedacht werden: Begründet er ein persönliches Recht oder ein Elternrecht? Stellt der Wunsch einen Anspruchsgrund für soziale Ga25 26 27

Vgl. Irrgang 2005: 76. Vgl. Mieth 2002. Zum Thema „Wertewandel“ siehe Joas 1999. Mieth 2002: 122.

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rantien dar oder legitimiert er ein Mittel individueller Selbstverwirklichung oder auch ein Mittel sozialer Anerkennung? Die technische „Lösung“ des Konflikts durch Invitro-Fertilisation jedenfalls führt dazu, dass derartige Fragen tendenziell gar nicht mehr gestellt werden. Kinderlosigkeit wird nunmehr als „Krankheit“ definiert und die Therapiemöglichkeit schafft den Therapiebedarf. Es zeigt sich eine doppelte Verschiebung, dergestalt dass Bedürfnissituationen zu Krankheitssituationen und Bedürfnisartikulation zu einem Anspruchsfaktor werden. Darüber hinaus ergeben sich Fragen nach dem Umgang mit den invitro-fertilisierten Embryonen. Wie sind der Verlust, das Überlebensrisiko und die Möglichkeiten des Experimentierens mit ihnen zu bewerten? Wenn der allgemeine Grundsatz, das menschliche Leben zu schützen und zu fördern, umfassend gelten soll, dann ist die Frage aufgeworfen, ob dies für die erste Vermutung oder Möglichkeit bis zur letzten Feststellbarkeit menschlicher Lebendigkeit zutrifft, oder ob es Argumente gibt, die diesen Grundsatz außer Kraft setzen können. Die Bioethik vermutet, dass eine Aufteilung in vormenschliche, menschliche und nachmenschliche Stadien des Lebens diesen allgemeinen Grundsatz relativiert.28 Die bioethische Diskussion und Beantwortung derartiger Fragen richtet sich an unterschiedliche Träger von Verantwortung, sucht Beratung zu etablieren und ist nicht gleichzusetzen mit rechtlicher Regelung. Mieth beschreibt eine ethisch-moralische Arbeit, die von zwei Grundsätzen geleitet ist und für die Einhaltung von „ethischen Grenzen“ sorgen sollen.29 Als ersten Grundsatz für die ethische Verständigung über Vernünftigkeit und Sinnhaftigkeit biotechnologischer Anwendungen nennt Mieth, dass technischer Fortschritt so realisiert sein sollte, dass er mehr Probleme löst als er hervor bringt. Da aber Unklarheit über die Bewertung von Technikfolgen herrscht, sei es Aufgabe der Bioethik die Auswirkungen zu bewerten und Kriterien für die Anwendung der Technologie zu entwickeln. Dabei ist ein in der Bioethik häufig verwendeter Einwand auf die langfristigen negativen Folgen des Einsatzes einer Technologie gerichtet. Es werde, so das Argument, ein Weg eingeschlagen, der letztlich in einer inakzeptablen Lage ende. Dieser als „Argument der schiefen Ebene“ (slippery slope) oder auch als „Dammbruch“ oder „Überschreiten des Rubikon“ bezeichneten Argumentationsweise wird der Nachweis der postulierten langfristigen Folgen und ihrer Unabwendbarkeit auferlegt. So hat beispielsweise der Einwand, dass die vorgeburtliche Diagnostik die (Spät-)Abtreibung von Föten mit bestimmten Krankheitsmerkmalen (z.B. Trisomie 21) legitimiere und insgesamt ein behindertenfeindliches gesellschaftliches Klima schaffe, das Problem darlegen zu müssen, 28 29

Vgl. Mieth 2002: 124/5. Mieth 2002: 126.

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dass die unterstellten Folgen unvermeidlich mit der Praxis der vorgeburtlichen Diagnostik zusammen hängen und dass sie gravierender als die Vorteile dieser Praxis sind. Gleichermaßen wird auch die Befürchtung, dass sich zukünftig für Schwangere ein Zwang zur pränatalen Diagnostik etablieren könne, im Rückgriff auf ein ethisches Prinzip entkräftet. Dieses Prinzip rekurriert auf den hohen Stellenwert der „Autonomie“ des Menschen, seiner Fähigkeit, sich selbst Gesetze des Handelns zu geben, die, wie Immanuel Kant annahm, der Grund menschlicher Würde ist. Durch die Bezugnahme auf „Autonomie“ wird die Vermutung von Zwang durch die Technologie zurückgewiesen. Allerdings ist dieses Prinzip nicht uneingeschränkt gültig. Auch der „Autonomie“ sind Grenzen gesetzt, die im Selbstbestimmungsrecht anderer und in gemeinsam geteilten Wertüberzeugungen liegen, und in diesem Verwiesen-Sein auf intersubjektive sozialmoralische Überzeugungen wird die subjektive Autonomie eingeschränkt. Es ist deshalb durchaus vorstellbar, dass eine kollektive sozialmoralische Überzeugung, die besagt, dass behinderte Kinder für die Gesellschaft zu teuer seien, die individuelle Autonomie einer Frau, ein behindertes Kind auszutragen, einschränkt. In Ausdifferenzierung des Autonomie-Prinzips formuliert Dietmar Mieth den zweiten Grundsatz der Bioethik. Da zur Autonomie auch das Wissen um die eigene Person und die Herkunft der Person gehört, dürfen Technologien, speziell die Reproduktionstechnologie, die personalen Beziehungen der beteiligten Personen nicht untergraben. Das bedeutet konkret, Eltern- und Kindschaft nicht auf ein biologisches Verhältnis zu reduzieren, sondern die personalen Relationen als Voraussetzung und Bedingung der Person-Werdung mit zu reflektieren. Bezogen auf die Technik der In-vitro-Fertilisation macht dieses Axiom deutlich, dass die Identifizierbarkeit personaler Beziehungen ein wichtiges Kriterium bildet, das bei der Erfüllung des Kinderwunsches ethisch gewichtet werden muss. Mit der IVF-Technik entsteht das Risiko, dass die personale Beziehung randständig wird, beispielsweise indem sie individuelle Selbstverwirklichung einzelner Männer und Frauen ermöglicht. Auch ist die Aufspaltung, Funktionalisierung und Instrumentalisierung von Elternschaft möglich, beispielsweise indem Elternschaft teilbar wird, es zum Beispiel zwei biologische Mütter (Eizelle von der einen, Uterus von der anderen) und eine soziale Mutter gibt. Auch gilt es, die ethische Dimension des bei der IVF verwirklichten Anspruchs auf ein eigenes, biologisches Kind zu prüfen. Dazu führt Mieth aus, dass das eheliche Ziel, Eltern zu werden, ethisch unbedenklich sei und von Staat und Kirche breit unterstützt wird. Daraus leite sich jedoch kein persönliches Recht auf ein eigenes Kind im Sinne eines Zielrechts ab. Vielmehr sei das Recht auf Elternschaft so zu verstehen, dass dieses Recht weder absolut ist noch ein

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Recht auf jedes Kind darstellt. Konkret: Es können keine Garantien zur Ermöglichung dieses Vorgangs übernommen werden. Weil nun aber die durch IVF ermöglichte Elternschaft den Kinderwunsch zum Anspruch auf Selbstverwirklichung individualisiert und aufgrund der technischen Ermöglichung von Familienähnlichkeit bei z.B. gleichgeschlechtlichen Paaren eine Pflicht oder ein Anspruchsrecht formuliert werden könnte, hält Mieth es für notwendig, dass IVF nicht, wie in den USA, privat reguliert und allen Interessierten gegen Entgelt zugänglich ist. Vielmehr hält er eine staatliche Regulierung für geboten, die den „bindungsrechtlichen Status“ berücksichtigt. Dies sei notwendig, weil Mieth den Fall einer nicht-ehelichen IVF-Elternschaft als eine „ethische Grenze“ ansieht. Er plädiert dafür, den „Anspruch auf das eigene Kind analog zur Bindungsfertigkeit“30 zu verstehen. Diese werde eben auch am bindungsrechtlichen Status festgemacht. Den Ansprüchen gleichgeschlechtlicher Paare hält er entgegen, dass diese Paare sich auf „Veranlagungen“ beriefen, die vorwillentlich seien. Dies gelte aber nicht für die biologische Fruchtbarkeit, so dass hier ein Widerspruch in der Legitimation vorliege.31 Der Kinderwunsch gleichgeschlechtlicher Paare wird hier als ethisch unbegründet zurück gewiesen, weil das Familienrecht die homosexuelle Ehe nicht kennt und weil die Rede von der Homosexualität als „Veranlagung“ im Widerspruch zu der Möglichkeit, die Fortpflanzung willentlich zu beeinflussen, steht. Dieser Rekurs auf die normative Kraft von Institution der heterosexuellen Ehe und dem Selbstbestimmungsrecht in Sachen Generativität kann als Versuch gewertet werden, das zu stabilisieren, was durch die In-Vitro-Fertilisation selbst von Auflösung bedroht ist. Es werden politische Setzungen vorgenommen, um andere Setzungen zu vermeiden. Dass derartige bioethische Diskussionen, Überlegungen und Argumente nicht nur in Expertenkreisen der Ethiker und Ethikkommissionen geführt werden, sondern auch ihren medialen Niederschlag finden, soll ein weiteres Beispiel veranschaulichen. Die mediale Rezeption und Aneignung bioethischen Denkens stellt eine Facette des bioethischen Diskurses dar, der gerade im Zusammenhang unserer Fragestellung von Interesse ist, da Lehrerinnen und Lehrer in ihrem Unterricht Pressetexte und mediale Verlautbarungen häufig und gern einsetzen.

30 31

Mieth 2002: 131. Vgl. Mieth 2002: 130-132.

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Die mediale Berichterstattung zum Thema Präimplantationsdiagnostik32 Das Verfahren der Präimplantationsdiagnostik (PID) führte zu einer breiten Rezeption bioethischer Überlegungen, da es, wie kaum ein anderes Thema der Life Sciences, öffentlich diskutiert worden ist. Die PID kann im Rahmen einer In-vitro-Fertilisation genutzt werden, wenn aufgrund einer monogenetischen Krankheit das Risiko besteht, ein krankes Kind zur Welt zu bringen. Ein Vorteil wird darin gesehen, dass die in-vitro erzeugte befruchtete Eizelle bereits vor der Einpflanzung in den Uterus genetisch untersucht wird und so die Einpflanzung einer Eizelle mit dem Krankheitsgen auf diese Weise vermieden werden kann. Bei einer PID werden der befruchteten Eizelle im 4 bis 7-Zellstadium Zellen entnommen. Die entnommenen Zellen sind in diesem Entwicklungsstand „totipotent“. Sie können theoretisch bei entsprechender Kultivierung zu einem Lebewesen weiterentwickelt werden, das mit der Ursprungseizelle (oder dem Embryo, wenn man in diesem Stadium der Zellteilung schon von einem Embryo sprechen will), genetisch identisch ist. In der Bundesrepublik ist die Entnahme solcher Zellen durch das Embryonenschutzgesetz verboten. Diese Technik hat eine Debatte über den moralischen Status des Embryos ausgelöst, die mit der Stellungnahme des Nationalen Ethikrats zur PID im Januar 2003 ihr vorläufiges Ende fand.33 Im Zeitraum von Dezember 2002 bis Februar 2003 erfuhr die PID in der medialen Öffentlichkeit zu einem derartigen Ausmaß Beachtung, dass man die These wagen könnte, dass sich in dieser Zeit die öffentliche Beschreibung, Wahrnehmung und Bewertung der neuen Technologie konstituierte. In diesem Prozess dominierte eine Charakterisierung der Thematik als „umstritten“,34 „schwierig“, „kontrovers“, „unsicher“, „heikel“. In besonders drastischen Formulierungen war die Rede vom „ethischen Minenfeld“ und „ethischen Sprengstoff“.35 Die Möglichkeiten zur Diagnostik wurden als überwiegend „umstritten“ beschrieben, die Technik an sich galt zumeist als praktikabel und funktionierend.36

32

33 34 35 36

Die folgenden Ausführungen basieren auf der Analyse von Tages- und Wochenzeitungen während des Zeitraums von Dezember 2002 bis Februar 2003. Unter dem Stichwort „PID“ wurden insgesamt 97 Artikel aus sieben überregionalen und vier regionalen Zeitungen analysiert. Siehe http://www.ethikrat.org In dem untersuchten Textcorpus taucht allein das Wort „umstritten“ in 22 Artikeln auf, wobei die Verknüpfung „umstrittene Diagnostik/Methode“ 19 Mal vorzufinden ist. Fasst man alle verunsichernden Bezeichnungen des Themenfeldes zusammen, so finden sich 33 Artikel mit diesen Markierungen in der Einleitung, d.h. ca. 30%. Siehe dazu auch Bock von Wülfingen 2007.

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Es wurde geargwöhnt, welche Grenzziehungen die Zulassung der PID erforderlich mache und Spekulationen und Befürchtungen nahmen einen breiten Raum ein: Skepsis gegenüber z.B. Ethikkommissionen als denjenigen Institutionen, welche die neuen Grenzen ziehen sollen, mögliche Diskriminierungsfolgen, Angst vor einem „rechtsfreier Raum“ ohne Regeln, Grenzen und Moral, in dem „Menschen nach Maß“ und „Designer-Babies“ hergestellt werden. Demgegenüber waren die Beschreibungen der Technik, der bloßen Verfahrensweise, wesentlich weniger von Befürchtungen als von Nachfragen gekennzeichnet: Fragen die in Aussicht gestellten Erfolge betreffend, Zweifel angesichts der geringen Anzahl der zu erkennenden Krankheiten und der Risiken der Technologie, gesundheitliche Belastungen und die Fehleranfälligkeit der Methode bzw. die eingeschränkte Aussagekraft der PID wurden als Gegenargumente angeführt. Als akzeptiert, abgesichert und eindeutig erschien hingegen, dass PID von der Gruppe der „Betroffenen“ gewollt und gewünscht wird; sie hätten ein „berechtigtes Bedürfnis“, die Technologie zu nutzen. Strittig war vielmehr die Frage, ob den „Betroffenen“ die Entscheidung und Verfügung über die Geburt eines Kindes zugestanden werden sollte oder nicht. Befürchtet wurde „Selektion“ sowie „Tötung“, „Vernichtung“ von Embryonen, die nicht implantiert werden. Die weitgehendeste Kritik beschrieb die „PID als technologisches Tötungsangebot außerhalb des Uterus“.37 Überwiegend wurde die Position vertreten, dass Embryonen mit dem Zeitpunkt der Kernverschmelzung als „Person“ bzw. als „Mensch vor der Geburt“ anzusehen seien.38 In über der Hälfte aller untersuchten Artikel wurde auch der Versuch unternommen, Vorschläge für den gesellschaftlichen Umgang mit PID zu formulieren. Dabei überwogen Plädoyers für eine begrenzte Zulassung der PID, welche die Entscheidung in die Hände der sogenannten Betroffenen verlagert. 39 Des Weiteren wurde die Ausweitung der öffentlichen Debatte als Lösung des Konfliktes vorgeschlagen.40 Auch sprachen sich einige für ein Verbot der PID aus.41 Insgesamt typisiert der mediale Diskurs zum Thema PID, wie er 2002 und 2003 geführt wurde, die Thematik überwiegend negativ und charakterisiert die Technik als Verunsicherung. Die mediale Berichterstattung trägt auf diese Weise zur Unbestimmtheit und Ambivalenz des Themas bei. Konkretisierungen zentraler Befürchtungen und Probleme unterbleiben; beispielsweise wird für eine begrenzte Zulassung der PID argumentiert, ohne auszuweisen, für wen 37 38 39 40 41

Geyer, Christian: Wenn die Ausnahme zur Regel wird, in: FAZ, 12.12.2002 Von 22 expliziten Beiträgen über den Status des Embryos weichen nur 2 Beiträge von dieser Position ab. 35 Beiträge sprechen sich für eine begrenzte Zulassung aus. Diese Position vertreten 14 der untersuchten Beiträge. Diese Position vertreten 10 der untersuchten Beiträge.

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unter welchen Umständen die Zulassung in Frage käme. Es wird vage von drohender Behindertenfeindlichkeit oder pauschal von „den Betroffenen“ gesprochen. Alles in allem wird wenig argumentiert und viel befürchtet. Skandalisierung trifft auf Bagatellisierung, wenn der Wunsch der Vermeidung der Geburt eines genetisch kranken Kindes einerseits als Weg zum „Designer-Baby“ beschrieben wird und andererseits als „berechtigtes Bedürfnis“ bezeichnet wird. Der Umgang mit der neuen Technologie wird entweder in die Entscheidungsbefugnis der Individuen („berechtigtes Bedürfnis“) oder in die Logik des Marktes („Designer Babies“) gestellt. Eine politisch-gesellschaftliche Debatte um Regulationsstrategien und normative Maßstäbe hingegen findet sich in der medialen Debatte um die bioethische Einschätzung der Präimplantationsdiagnostik so gut wie gar nicht.

Ethik und die Ausblendung des Politischen Demgegenüber veranschaulicht das erste Beispiel – die bioethische Abwägung von Grundsätzen, Argumenten und Anliegen durch Diethmar Mieth – dass die Bioethik durchaus Politik betreibt und politische Stellungnahmen und Urteile mitbegründet. Mieth macht deutlich, dass es der Bioethik um die Formulierung von Regulierungsvorschlägen geht. Die Regulative werden auf der Basis der Hierarchisierungen von Werten entwickelt und formuliert, die als gesellschaftlicher Konsens sozialmoralische Wirkung und Kraft entfalten sollen. Diese Ausrichtung auf „Werte“ zwingt die Bio-Ethik in den Prozess einer andauernden Abwägung, in dem der Wert, der von Gott geschaffenen Kreatur, dem Wert der Erbsubstanz als Nutzungspotenzial für die Gattung oder dem Wert des Körpermaterials für die Erforschung von medizinischen Chancen für künftige Generationen gegenübergestellt, miteinander verglichen und ins Verhältnis gesetzt werden. Aufgrund dieser „Wert“-Orientierung der bioethischen Vorgehensweise ist die Analyse sozialer Beziehungen oder gesellschaftlicher Verhältnisse nachgeordnet. So wird möglich, wie das Beispiel von Mieths Argumentation illustriert, dass der Status Quo zum Maßstab von Werthaftigkeit wird und der „Wert“ und die Bedeutung anderer Formen von sozialen Beziehungen und sozialen Verhältnissen als nicht-konsensuell herunter gestuft werden. Bei Mieth begründet das rechtliche Primat der Ehe die ethische Überlegenheit dieser Lebensform, legitimiert die Nutzung der IVF-Technik und gibt den rechtlichen Rahmen des Schutzes vor Missbrauch dieser Technik vor. Weiterhin veranschaulichen beide Beispiele die Rolle und Bedeutung des Begriffs der „Grenze“ im bioethischen Denken. Die Rede von der Grenze basiert darauf, dass eine erste Grenzüberschreitung immer schon vollzogen ist,

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nachfolgend geht es dann um deren ‚ethische’ Bewältigung. Das Abwägen findet auf der Grundlage statt, dass die Wirklichkeit der technisch neuen Option die Überschreitung bereits hat passieren lassen und in der Anerkennung eines nun existierenden Regelungsbedarfs schwingt auch immer schon die Legitimation der Überschreitung mit. In der Bioethik dominiert die pragmatische Ausrichtung, also der richtige Umgang mit den Möglichkeiten, die die Technologie freisetzt. Die Reflexion der neuen Wirklichkeit und ein grundlegendes Nachdenken, etwa über die historische Wünschbarkeit oder Gewolltheit einer Technologie, stehen hingegen zurück. Diesseits und jenseits der „überschrittenen Grenze“ schlägt die Bioethik die Wahl vorgegebener Optionen als rationale (Wahl)-Entscheidung vor, dargeboten in der Form der problemlösenden Reflexion auf Alternativen. Kennzeichnend für den bioethischen Diskurs ist zudem, dass er sich aus drei Sprechergruppen zusammensetzt, den „Experten“ (z.B. Ärzte, Biotechnologen), den „Betroffenen“ (z.B. unfruchtbare Paare) und den Bioethikern, die eine Moderationsaufgabe wahrnehmen und die Aussagen der anderen beiden Gruppen beschreiben, zusammenfassen und bilanzieren. Jenseits dieser drei Rollen kann sich der bioethische Diskurs nicht entfalten. Beobachtern fällt zumeist die Rolle der potenziell Betroffenen zu, in Ausnahmefällen können kompetente Beobachter, wie zum Beispiel Journalisten, auch die Rolle der Ethiker übernehmen. Die allermeisten Orte des bioethischen Sprechens sind jedoch institutionell strukturiert. In den Medien, in den Bildungseinrichtungen, in spezifischen Kommissionen sowie in wissenschaftsnahen Einrichtungen wie Akademien der Technikfolgenabschätzung entfaltet sich die spezifische Form der bioethischen Expertise. Neben der naturwissenschaftlichen Expertise der Life Sciences existiert das Expertentum der Bioethiker. Insgesamt lässt sich festhalten, dass das neue Wissensfeld außerordentlich aktiv und produktiv ist. Die sozialwissenschaftliche Aufarbeitung der hier stattfindenden Erkenntnisprozesse, seiner Produkte und der damit verbundenen gesellschaftsbezogenen Fragen, Probleme und Debatten steht erst am Anfang. Auch die vorliegende Studie versteht sich als ein Beitrag zur Beschreibung der sich entfaltenden Praktiken und Diskurse der Lebenswissenschaften und ihrer institutionellen Veränderungen. Bislang gibt es im Zuge des Nachdenkens über die Wirkungen und Folgen der Produkte und Effekte der neuen Wissenschaften noch keine Untersuchung zu der Frage, wie sich das Themenfeld Biotechnologie allmählich als Thema des schulischen Unterrichts zu etablieren beginnt und was mit dieser Neuerung an Veränderungen verbunden ist. Wohl aber existieren Aktivitäten und Verlautbarungen zur Aufnahme der Thematik in Schule und Unterricht. Sie wurden in Form von Lehrplänen, Lehrmaterialien, Zusatzange-

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boten und Fortbildungsveranstaltungen in den letzten Jahren entwickelt und sollen im Folgenden betrachtet werden.

2. Biopolitik und Schule Mit der Verleihung des Nobelpreises an James Watson und Francis Crick 1962 verbreiteten die als „Entdecker“ der DNA-Struktur gefeierten Molekularbiologen auch ihre Idee, DNA-Lern-Zentren in den Schulen einzurichten.42 Es sollte aber bis in die 1990er Jahre dauern, bis in der Bundesrepublik Deutschland diese Idee allmählich Gestalt annahm. Auch ging die Initiative, wie am Beispiel Baden-Württemberg gezeigt werden soll, weniger von der staatlichen Bildungsbürokratie als von Netzwerken und Interessensvereinigungen zwischen BiotechIndustrie und Vertretern der Bildungspolitik aus. Neue Formen des Bildungssponsorings zum Thema Biotechnologie Baden- Württemberg zählt mit ca.100 Unternehmen zu einem wichtigen Industriestandort biotechnologischer Firmen in Deutschland.43 Die Bedeutung dieses Industriezweiges für die Wissensvermittlung in den Schulen BadenWürttembergs zeigt sich auf direktem Wege in Form eines „Bildungssponsorings“. Hierzu zählt zunächst die Ausstattung von Schulen mit biotechnischen Materialien bis hin zu der Einrichtung von ganzen Gentechnik-Labors in Schulen. Angesichts knapper öffentlicher Kassen versuchen zahlreiche Lehrkräfte heute, ihre Verbrauchsmaterialien sowie spezifische technische Apparate über die Industrie zu finanzieren. Da die technischen Voraussetzungen in den einzelnen Schulen, gerade in den ländlichen Regionen, sehr unterschiedlich sind, kam es 2003 zur Gründung eines fahrbaren Gen-Labors, das die Schulen anfordern können.44 Unter dem Namen „BioLab Baden-Württemberg on tour – Forschung, Leben, Zukunft“ hat es sich diese Initiative zum Ziel gesetzt „über den aktuellen Forschungsstand und die Entwicklungspotenziale der modernen Lebenswissenschaften und der Biotechnologie“45 zu informieren. Die Finanzierung dieser Initiative erfolgt durch die Landesstiftung Baden-Württemberg und dem Ver42 43 44 45

Vgl. Genethischer Informationsdienst (GID): Die nächste Generation, Heft 177, August/ September 2006: 3. Vgl. Firmenatlas Biotechnologie. In: http://biotech.dechema.de sowie http://www.biosme.de, Zugriff: 13.02.2007. Vgl. http:// www.biolab-bw.de, Zugriff 10.12.2006. ebd.

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band der Chemischen Industrie. Zur Ausstattung des BioLabs gehören drei Biologen, die die Schüler und Schülerinnen über einen Zeitraum von mehreren Tagen über grundständige Themen der Biotechnologie und ihre Anwendungsmöglichkeiten informieren sowie die Durchführung von Experimenten und genetischen Versuchen betreuen. Darüber hinaus werden landesbezogene Informationen zu Ausbildungs- und Berufswegen in dem Bereich Biotechnologie/Life Sciences angeboten, um auf diese Weise neue Berufswege für die Schülerinnen und Schüler zu eröffnen. Der „Einblick in den praktischen Laboralltag junger Forscher“ soll den SchülerInnen die Distanz zu der neuen Technologie nehmen und einen akzeptierenden Umgang mit ihr stärken. Kritiker verstehen das BioLab deshalb als eine Art bildungspolitische Rekrutierungsoffensive für die lokale Biotech-Industrie.46 Auch andere in den Schulen verbreitete Materialien und Informationen haben den Charakter von Werbematerial und entbehren jeglichen Verweises auf mögliche Risiken, Bedenken oder Kritik. So werden zum Beispiel von der Firma „Roche Diagnostik“ aus Mannheim erstellte Unterrichtsmaterialien zum Thema Diabetis/Blutzuckertests wie auch die von der Firma „Bayer“ entwickelten Unterrichtsmaterialien über die Bedeutung von Gentechnik für die Landwirtschaft als Hochglanzbroschüren freizügig ausgegeben. Die impliziten Hinweise auf die Produkte in diesen Materialien sind selbstredend. Einige Biotech-Firmen stellen in Baden-Württemberg eigens eingerichtete Schulungslabors für Schulklassen zur Verfügung, in denen die SchülerInnen unter Anleitung von FirmenmitarbeiterInnen spezielle Versuche durchführen können. Die Firma „Bayer“ beispielsweise betreibt unter dem Namen „BayLab“ ein eigenes Labor, in dem „wissenschaftliche Mitarbeiter den Schülern Wege zeigen, um naturwissenschaftlichen Phänomenen selbst auf den Grund zu gehen.“47 In diesen Schulungslabors soll den SchülerInnen der Zugang zu biotechnologischen Laborarbeiten vermittelt werden. Auch wird die Möglichkeit eines anschließenden Praktikums geboten. Verbunden mit den Labors ist manchmal auch eine firmenfinanzierte Möglichkeit zur Lehrerfortbildung; beispielsweise bietet das Xplore Schülerlabor der „BASF“ in Ludwigshafen einschlägige Schulungen für Lehrerinnen und Lehrer gleich mit an: Das Fachwissen der BASFExperten wird den Schulen zur Verfügung gestellt, und auf diese Weise sollen Brücken zwischen Schule und Wirtschaft geschlagen werden. Oft jedoch gestaltet sich der Informationsaustausch zwischen Schule und Wirtschaft zögerlich und kompliziert. Den Lehrkräften mangelt es an Zeit, Energie und Spielräumen, um die Angebote der Industrie zu nutzen, und viele Lehrende stehen den Angeboten skeptisch gegenüber und vermuten eine 46 47

Vgl. Feuerlein 2006. http://www.wuppertal.bayer.de/index.cfm?PAGE_ID=314, Zugriff 12.02.2007.

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Manipulation des Bildungsbereichs durch die Industrie. Initiativen und Netzwerke zur Koordination von außerschulischen Bildungsmöglichkeiten im biotechnologischen Bereich versuchen deshalb, einer solchen Skepsis offensiv zu begegnen. Das Netzwerk NUGI („Netzwerk Universität – Gymnasien – Industrie“) beispielsweise, ein auf Initiative eines Biotechnologen der Universität Ulm im Jahr 2000 gegründeter Zusammenschluss, verfolgt das Ziel, den gymnasialen Biologieunterricht seitens der Universitäten und der Industrie vielfältig zu unterstützen. Aufgrund seiner Erfahrungen in der Lehrerfortbildung hielt es der Initiator für notwendig, „die derzeit ungünstigen Rahmenbedingungen“ zu ändern.48 Heute wird das Netzwerk von knapp 40 Unternehmen gefördert, die vorwiegend aus dem Bereich der Computer- oder Medizinprodukte-Branche stammen.49 Darüber hinaus erhält der Zusammenschluss staatliche Förderung, u.a. durch das Kultusministerium. Zu den Angeboten von NUGI zählen Lehrerfortbildung, die Ausstattung von Schulen mit technischen Geräten, verschiedene Unterrichtsmaterialien sowie eine Eliteförderung, die besonders leistungsbereite und interessierte Schüler und Schülerinnen im Ulmer „Leistungszentrum für Biowissenschaften“ zusätzlich ausbildet. Daneben werden auch Referendare an dem Projekt beteiligt, um „den Generationenwechsel in den Lehrerkollegien aktiv gestalten zu können.“50 Das Netzwerk basiert auf einer kontinuierlichen Kooperation mit Schulen. Indem die einzelne Schule Kooperationspartner im NUGI wird, kommt sie in den Genuss der genannten Förderungen. Zur Zielgruppe von NUGI gehörten bislang ausschließlich Gymnasien in Baden-Württemberg, eine neuere Initiative mit dem Namen „NUGI-Exchange“ bindet aber auch Grundschulen in das Projekt mit ein.51 Weitere Netzwerke in Baden-Württemberg sind das Heidelberger LifeScience-Lab oder das Netzwerk „NaT-Working-Projekt Molekularbiologie“.52 Letzteres wird als Modellprojekt vom Oberschulamt in Tübingen organisiert und über einen Zeitraum von drei Jahren von der Robert-Bosch-Stiftung finanziert. Ziel ist auch hier, die Kommunikation von Schule, Universität und Industrie zu fördern, die Schulen im biotechnologischen Bereich auszustatten sowie den Lehrkräften Kompetenzen für die Durchführung biotechnologischer Versuche zu vermitteln.

48 49 50 51 52

Stupperich 2000: 38. Vgl. Feuerlein 2006. Vgl. http://www.nugi-zentrum.de/nugi/Konzept.html Zugriff 10.12.2006. Vgl. ebd. Vgl. http://life-scienc-lab.xmachina.de, http://www.nat-working-biologie.de, Zugriff 13.02.07. Einen Überblick über weitere Netzwerkinitiativen findet sich in http://www.bio-pro.de

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Alle genannten Initiativen zur Verbreitung biotechnologischen Wissens an Schulen basieren auf einer Mischfinanzierung aus staatlichen und industriellen Geldern. Sie alle verfolgen das Ziel, Schulen mit biotechnologischen Instrumenten und Materialien auszustatten, interessierte Lehrkräfte entsprechend zu schulen sowie Schülerinnen und Schülern einen Zugang zu dem Berufsfeld „Biotechnologie“ zu eröffnen. Die Initiativen sind deutlich anwendungsorientiert. Ein problemorientierter Blick auf die neuen Technologien kommt nicht zum Tragen. Kultusministerielle Aktivitäten: Einrichtung von Koordinationsstellen und „Biotechnologie-Gymnasien“ sowie Öffnung der Lehrpläne Die Bemühungen der staatlichen Bildungsbürokratie, biopolitische Themenstellungen in den Unterricht zu integrieren, umfassen nicht nur die oben genannten Kooperationen mit Industrie und Universitäten, sondern auch eigenständige Initiativen. Zu nennen ist hier vor allem die 2002 gegründet GmbH „BIOPRO Baden-Württemberg“, eine Service- und Marketinggesellschaft, die zum Ziel hat, Forschungseinrichtungen und Unternehmen im Bereich der Biotechnologie zu unterstützen.53 Neben gezielten Wirtschaftsfördermaßnahmen und Öffentlichkeitsarbeit soll die Gesellschaft im Arbeitsbereich „Biopro und Schule“ die Vermittlung biotechnologischen Wissens in der Schule vorantreiben. Zu diesem Zweck wurde u.a. eine Studie in Auftrag gegeben, die das Bildungs- und Weiterbildungsangebot für Schülerinnen und Schüler im Bereich Biotechnologie in Baden-Württemberg erheben sollte. Ein Ergebnis dieser Studie, die 2004 vom Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung durchgeführt wurde, war die Einrichtung einer zentralen Koordinationsstelle für Angebote im Bereich der Biotechnologie.54 Zwar gäbe es zahlreiche Anstrengungen, biotechnologisches Wissen in der Schule zu etablieren, doch liefen diese häufig nebeneinander her und wären zudem nur lokal begrenzt zugänglich, so dass eine Koordination in Baden-Württemberg notwendig erscheine. Empfohlen wurde deshalb, die BIOPRO Baden-Württemberg „als Informationsdrehscheibe, als Impulsgeber und Initialzünder sowie als zentraler Koordinator“ zu etablieren.55 Dieser Aufforderung kommt die BIOPRO-Gesellschaft nach, indem sie über ein Internetportal die Vernetzung verschiedener Initiativen ermöglicht, über aktuelle Entwicklungen im Bereich der Biotechnologie informiert und Angebote

53 54 55

Vgl. http://www.bio-pro.de, Zugriff 10.12.2006. Vgl. http://www.bio-pro.de/imperia/md/content/biopro/edition_2teil2pdf, Zugriff 13.02.07. ebd.: 3.

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zur Lehrerfortbildung zugänglich macht.56 Darüber hinaus veranstaltet die Gesellschaft unter dem Namen „Forum Biotech und Schule“ Seminare mit Workshops und Vorträgen, in denen Konzepte zur Integration biotechnologischer Themenstellung in den Unterricht vorgestellt werden. Entsprechend der allgemeinen Richtlinien von BIOPRO Baden-Württemberg haben diese Informationen alle eine akzeptierende Ausrichtung. Vereinzelt finden bioethische Themenstellungen Erwähnung,57 insgesamt überwiegt jedoch die zustimmende Haltung gegenüber der Biotechnologie als „zukunftsversprechende Innovationstechnologie“. In den Schulen selbst wurde die Integration biopolitischer Themen in den Unterricht bislang durch die Einrichtung sogenannter „BiotechnologieGymnasien“ sowie die Einrichtung von „Stützpunktschulen“ gefördert. Durch die Einrichtung der Biotechnologie-Gymnasien möchte das Land BadenWürttemberg Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit eröffnen, sich schon in der Oberstufe auf den Bereich „Biotechnologie“ zu spezialisieren. Erklärtes Ziel ist die Integration der SchülerInnen in den biotechnologischen Arbeitsmarkt.58 Im Jahr 2004 existierten bereits über 20 Gymnasien dieser Art in Baden-Württemberg.59 Die „Stützpunktschulen“ für Molekularbiologie sind Schulen mit einer besonderen Laborausstattung und einem hohen einschlägigen Ausbildungsniveau bei den Lehrkräften. Die Schulen stehen im engen Kontakt mit Universitäten und Industrie-Unternehmen, welche teilweise auch die Ausstattung der Stützpunktschulen finanzieren; beispielsweise unterstützt die Firma „Pfizer“ – ein Arzneimittelhersteller im Raum Karlsruhe – sechs Schulen.60 Den SchülerInnen der Stützpunktschulen werden neben dem Unterricht Experimentierkurse, Praktika und Ferienakademien angeboten. Zudem, und darin liegt die eigentliche Idee der Stützpunktschulen, können die Laborausstattung sowie das technische Know-how der LaborleiterInnen auch von sogenannten Partnerschulen genutzt werden. SchülerInnen umliegender Schulen erhalten so die Möglichkeit des Zugangs zum biotechnologischen Experimentieren und die Lehrkräfte von Partnerschulen können sich an den Stützpunktschule einschlägig fortbilden. Eine andere Form staatlicher Lenkung zur Verbreitung biotechnologischen Wissens in der Schule ist die Aufnahme des Themenzusammenhangs in die Lehr- und Bildungspläne. Zum Zeitpunkt unserer Untersuchung 2003 galten die 56 57 58 59 60

Vgl. http://www.bio-pro/schule, Zugriff 13.02.2007. So war zum Beispiel das Thema „Bioethik“ Schwerpunktthema auf dem Forum „Biotech und Schule“ 2005 in Ulm. Vgl. Feuerlein 2006: 4. Vgl. http://www.bio-pro.de/imperia/md/content/biopro/edition_2_teil_2.pdf, Zugriff 13.02.07. http://www.pfizer.de/standpunkte/ausbildung_stuetzpunkte.html, Zugriff 10.12.2006.

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Lehrpläne aus dem Jahr 1994/1995.61 Im Lehrplan für die Hauptschule findet die Thematik Biotechnologie/Bioethik erstmalig für die 9. Klasse im Rahmen der Wahlthemen des Evangelischen Religionsunterrichts Erwähnung („Gentechnik: Die Welt verbessern?“ und „Leben erhalten – um jeden Preis?“). Für Klasse 10 wird das Thema beim Themenschwerpunkt „Mit Technik und Wirtschaft verantwortlich leben“ (Evangelische Religion) sowie „Die Verantwortung des Menschen in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft“ (Katholische Religion) berücksichtigt. Im Fach Biologie kann die Thematik in der 9. Klassenstufe im Rahmen des Themas „Vererbung und Evolution“ bearbeitet werden. Im Fach HTW werden beim Thema „Einkaufen. Kriterien für die Kaufentscheidung“ auch gentechnisch veränderte Lebensmittel aufgeführt. Die Lehrpläne für die Realschule ermöglichen den Einbezug bioethischer Fragen ab Klasse 8. Im Evangelischen Religionsunterricht wird das Wahlthema „Gegenseitige Hilfe zum Leben. Behinderte Menschen und nichtbehinderte Menschen“ genannt, in der neunten Jahrgangsstufe sollen im Religionsunterricht die Themen „Ehrfurcht vor dem Leben“ (Evangelische Religion) sowie „Sterben“ (Evangelische und Katholische Religion) behandelt werden, in Klasse 10 bieten die Themenschwerpunkte „Natur und Mensch“ (Ethik), „Lebenswert? Lebenswert!“ sowie „Dürfen Wissenschaft und Technik, was sie können?“ (Katholische Religion) Anknüpfungsmöglichkeiten für bioethische Fragestellungen. Im Biologieunterricht der Realschule ist vorgesehen, das Thema „Fortpflanzung und Entwicklung des Menschen“ sowie „Grundlagen der Vererbung“ in der 9. Klasse zu bearbeiten. Für den Unterricht an Gymnasien regeln die Lehrpläne, dass in Klasse 8 die Themeneinheit „Gegenseitige Hilfe zum Leben – Behinderte Menschen und nichtbehinderte Menschen“ (Evangelischer Religionsunterricht) behandelt werden soll. Hier böten sich Anknüpfungspunkte für die Bearbeitung bioethischer Fragestellungen, die gleichermaßen im Evangelischen Religionsunterricht der Klasse 9 im Rahmen der Themen „Gottes gute Schöpfung – uns anvertraut“ und „An Grenzen stoßen“ behandelt werden könnten. Im Katholischen Religionsunterricht wäre dies anhand der Problemstellungen rund um das Thema „Tod und 61

Die Lehrpläne bzw. Bildungspläne, wie sie in Baden-Württemberg heißen, werden in der Regel alle zehn Jahre überarbeitet. Sie nehmen eine Anpassung an die Entwicklung in den Fachwissenschaften vor, benennen Themen und Inhalte des Unterrichts und die zu erwerbenden Fähigkeiten und „Kompetenzen“. Unter dem Eindruck des PISA-Schocks wurden im Sommer 2004 in Baden-Württemberg neue Bildungspläne erarbeitet. Biopolitische Themenstellungen fanden explizit nicht zu einem bedeutend größeren Ausmaß als im Lehrplan von 1994 Erwähnung, allerdings sind die Lehrpläne insgesamt weniger inhaltlich ausgerichtet, sondern vielmehr an der Vermittlung grundlegender Kompetenzen orientiert. Die Bildungspläne bis 2004 finden sich im Internet auf verschiedenen Bildungsservern, so zum Beispiel: http://www.leu-bw.de/allg/lp/index.htm

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Sterben“ möglich. Für Klasse 10 ist eine Schwerpunktsetzung des Biologieunterrichts auf „Zelle, Zellteilung, Fortpflanzung und Entwicklung sowie Vererbung beim Menschen“ vorgesehen. In der Oberstufe sollen in den Fächern Katholische und Evangelische Religion Fragen nach dem Verhältnis von Glaube und Wissen bzw. Glaube und Naturwissenschaft aufgegriffen werden. Der Biologieunterricht der Klassen 12 und 13 ist auf den Themenbereich „Genetik“ konzentriert. Dieser Überblick zeigt, dass die biopolitische Themenstellungen in den zum Zeitpunkt der Untersuchung gültigen Lehrplänen explizit eher selten Erwähnung finden, im Gegensatz zu beispielsweise ökologischen Themen. Allerdings ermöglicht eine Reihe von offenen Themenformulierungen die Integration und den Anschluss biotechnologischer und biopolitischer Fragen.

Materialien und Fortbildungen Für die Bearbeitung biopolitischer Themenstellungen steht Lehrerinnen und Lehrern mittlerweile ein recht breites Angebot an Unterrichtsentwürfen und Lehrmaterialien zur Verfügung. Diese stammen nicht nur aus den oben beschriebenen Initiativen und Netzwerken mit der Industrie, sondern finden sich vor allem in den Fachzeitschriften der Fächer Biologie und Religion.62 Darüber hinaus machen verschiedene Internetportale wie zum Beispiel „Genlabor und Schule“ sowie einzelne Institutionen wie die Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg Materialien für die Schule zugänglich.63 Schließlich sind es auch gentechnisch-kritische Initiativen wie die BUKOPharmakampagne oder das Gen-ethische Netzwerk, die den Schulen Unterrichtsmaterialien zur Verfügung stellen.64 Auch Verlage entwickeln Hefte und Lehrerbände mit Materialien, wenn entsprechende Verkaufszahlen zu erwarten sind. So wurde beispielsweise der im Beltz-Verlag erschienene Roman Blueprint von Charlotte Kerner zur Pflichtlektüre im Fach Deutsch im Rahmen 62

63 64

Siehe z.B. das Schwerpunktheft „Bioethik“ der Zeitschrift ru – Ökumenische Zeitschrift für den Religionsunterricht 03/2003, Unterricht Biologie – Schwerpunkthefte „Genetische Techniken am Menschen“, 1/2004 oder „Gene und Evolution 11/2000“. Einen allgemeinen Überblick zum Thema speziell für Lehrerinnen und Lehrer geben beispielsweise Droste 2004 oder auch Bedford-Strohm 2006. Z.B . Grünes Gold der Zukunft? - Biotechnologie in der Pflanzenproduktion. Materialien der Akademie für Technikfolgenabschätzung in Baden-Württemberg. Stuttgart 1995. Die Akademie musste 12/2003 ihre Arbeit einstellen. Z.B. die Projektmappe „Biopoli“ der BUKO AgrarKoordination. Vgl. Potthof 2006 oder die Broschüren „Gentechnik in der Landwirtschaft“ und „Gentechnik in der Medizin“ des Genethischen-Netzwerks.

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der Abschlussprüfung zur Mittleren Reife gemacht und der Verlag entwickelte Arbeitsbände für Lehrkräfte wie auch solche für Lernende.65 Die Ausrichtung dieser Materialien folgt dabei zum überwiegenden Teil der gängigen Aufteilung in Unterrichtsfächer, daneben existieren aber auch eine Reihe von Unterrichtsentwürfen mit Vorschlägen für eine fächerverbindende Bearbeitung des Zusammenhangs von Biotechnologie und Ethik.66 Auch wurden didaktische Ansätze zu einer ethischen Erziehung im naturwissenschaftlichen Unterricht sowie dem fächerverbindenden Lernen zum Thema Biopolitik entwickelt.67 So konzipierte beispielsweise Helmut Sturm unter dem Titel „Ethische Aspekte im Biologieunterricht“ eine Vorstellung von „erziehendem Unterricht“, dessen Ziel es ist, den Schülerinnen und Schülern neben der Vermittlung von „Fakten“ auch die Möglichkeit zu geben, diese zu bewerten.68 Hier sollen Schülerinnen und Schüler durch Argumentation, Begründung und Wertorientierung eine Einschätzung selbst erarbeiten. Lothar Kuld und Bruno Schmid haben einen didaktischen Ansatz fächerübergreifenden Lernens entwickelt, bei dem Schülerinnen und Schülern durch die Diskussion moralischer Dilemmata zu einer ethischen Urteilsfindung gelangen sollen. Moralische Dilemmata verstehen die Autoren als „die Schwierigkeit, zu wählen zwischen Handlungsweisen, in denen ethische Normen konkurrieren“.69 In Prozessen argumentativen Abwägens sollen die moralischen Dilemmata ausgewiesen, begründet und gewichtet werden. Neben dem Aufgreifen neuer Unterrichtsmaterialien und Unterrichtsentwürfe haben Lehrerinnen und Lehrer auch die Möglichkeit, sich im Rahmen von Fortbildungen neues biopolitisches Wissen anzueignen, die sowohl an den Landesakademien als auch an anderen Bildungseinrichtungen, wie zum Beispiel der Weiterbildungsinstitution der Fraunhofer Gesellschaft, angeboten werden. Das Interfakultäre Zentrum für Ethik in den Wissenschaften (IZEW) an der Universität Tübingen nimmt für den Bereich der ethischen und fächerübergreifenden Bildung eine Vorreiterrolle ein. Das 1990 gegründete Institut hat es sich zur Aufgabe gemacht, den interdisziplinären Austausch zu fördern und ethische Fragen in der Wissenschaft zu bearbeiten. Dabei bildet der Transfer von wissenschaftlichen Ergebnissen in den Bildungsbereich einen Schwerpunkt der Zentrumsarbeit. Im „Arbeitsbereich Ethik und Bildung“ geht es im zentral um die Frage, wie ethische Urteilsbildung in Schule und Hochschule gefördert werden 65 66 67 68 69

Vgl. Koenen 2001. Eine Analyse dieser Unterrichtsentwürfe für den Biologieunterricht wird zur Zeit von Beate Lutter-Kirner in einer Dissertation an der Pädagogischen Hochschule Weingarten bearbeitet. Einen Überblick liefert Rehm 2003: 21-54. Vgl. ebd.: 22-27; Sturm 1991. Kuld/Schmid 1999: 147.

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können. Ausgehend von der Annahme, dass die Entwicklungen moderner Technologien immer auch ethische Fragen implizieren, sollen Schülerinnen und Schüler befähigt werden, systematische Wege der ethischen Urteilsbildung zu erlernen. Hierzu verfolgt das Zentrum verschiedene Forschungsprojekte und Initiativen: Im Forschungsprojekt „Schule – Ethik – Technologie“ (1996-1999) wurde der Stand ethischer Bildung anhand von Lehrplananalysen erhoben, und in einem Modellprojekt die Implementierung wissenschaftsethischer Themen in den schulischen Unterricht erprobt (SET-Studie). Hieran anschließend wurde 2001 durch die Einführung eines Ethisch-Philosophischen-Grundlagenstudiums (EPG) für gymnasiale Lehramtsstudiengänge in Baden-Württemberg eine ethische Grundbildung in die Ausbildung von Lehrenden integriert. Dieser Studienschwerpunkt umfasst zwei Veranstaltungen mit jeweils zwei Semesterwochenstunden und ist prüfungsrelevant. Ein wissenschaftliches Begleitprogramm unterstützte die Hochschulen bei der Einführung des Ethisch-Philosophischen Grundlagenstudiums, zum Beispiel in Form von Fachtagungen. Um die Auseinandersetzungen mit ethischen Fragestellungen auch nach dem Studium zu ermöglichen, wurde darüber hinaus mit dem Projekt „EPG im Referendariat“ ein dieser Ausbildungsphase entsprechendes Konzept entwickelt. Zentral für die Umsetzung sind hier die Staatlichen Seminare für Didaktik und Lehrerbildung. Das aktuelle Projekt des IZEW im „Arbeitsbereich Bildung und Ethik“ konzentriert sich auf die Vermittlung gesellschaftlicher Diskurse in den schulischen Alltag. Ausgehend von der Annahme, dass die gesellschaftlichen Diskurse häufig von der individuellen Meinungsbildung entkoppelt sind, sucht das Projekt hier eine Vermittlungsebene zu etablieren. Unter dem Titel „Konkrete Diskurse“ wurden 16 Diskursprojekte zum Einsatz moderner Biotechnologie in Landwirtschaft und Medizin an Schulen und Hochschulen durchgeführt. Dabei wurden zwei unterschiedliche Diskurs-Methoden in verschiedenen Modulen erprobt: die Reflexive Beratung und die Theaterpädagogik. Leitidee für die Auswahl dieser Methoden bildeten dabei die Zielsetzungen, im Unterricht erstens eine Ernsthaftigkeit in der Bearbeitung ethischer Probleme zu erreichen, zweitens die Entwicklung von Argumentationsfähigkeit zu fördern sowie drittens eine Reflexion und Flexibilisierung von Experten-Laien-Verhältnissen voranzutreiben. Erste Ergebnisse der Untersuchung verweisen auf die erfolgversprechende Umsetzung dieser Zielsetzungen mit Hilfe der genannten Module, eine umfangreiche Dokumentation und die Erarbeitung von Unterrichtsmaterialien steht noch aus.

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Aneignung des neuen Wissens durch die Lehrkräfte Lehrerinnen und Lehrer, die biopolitische Fragestellungen in ihrem Unterricht bearbeiten wollen, haben also verschiedene Möglichkeiten, sich die neue Thematik anzueignen. Da sie dem Thema Biotechnologie und Biopolitik im Rahmen ihrer Ausbildung selbst nicht begegnet sind, bieten ihnen die dargestellten bildungspolitischen und didaktischen Angebote wichtige Orientierungs- und Anknüpfungsmöglichkeiten. Die neuen Angebote zur Fortbildung und zur Aktualisierung von Bildung und Unterricht unterliegen ihrerseits einem auffälligen und in der Dynamik und Intensität selbst neuartigem Einfluss aus Industrie und Wirtschaft. Industrieunternehmen stellen umfängliche Ressourcen, vor allem Geld und Materialausstattung zur Verfügung, um die Biotechnologie als Unterrichtsgegenstand im Biologieunterricht zu etablieren. Insbesondere für den Bereich der Gymnasien arbeiten Industrie und Bildungsadministration zusammen, um Wissen über bestimmte technologische Abläufe und Erfahrungen im Umgang mit ihnen zu vermitteln. Verbunden mit dieser Zusammenarbeit ist eine bildungspolitisch bedeutsame Verschiebung der Lerninhalte. Naturwissenschaftlicher Unterricht zum Thema Biotechnologie ist nicht länger auf die Vermittlung von Einsichten in die zugrunde liegenden Wissenschaftsperspektiven ausgerichtet, sondern stellt die Kenntnis der Technik und ihrer Anwendung in den Mittelpunkt. Neben diesem technologieorientierten Material gibt es eine Reihe von Vorschlägen für Unterrichtsentwürfe sowie didaktische Materialien, die biotechnologische und ethische Fragen zu verbinden suchen. Diese Materialien sind zumeist im universitären Kontext der Lehrerausbildung entwickelt worden, sind weniger handlungsorientiert ausgerichtet und zielen auf die Reflexion des Themenzusammenhangs. Auch die Bemühungen, ethische Wissensbestände als einen grundlegenden Baustein der Lehrerausbildung und Lehrerfortbildung zu etablieren, sind universitärer Provenienz, so dass sich hier insgesamt ein zweigeteiltes Feld präsentiert: eine handlungsorientierte und auf Berufserkundung zielende industriell geförderte Palette von Angeboten einerseits und auf die Entwicklung von Reflexionswissen zielende Angebote der klassischen Bildungsinstitutionen andererseits. Die noch nicht erfolgte Kanonisierung des biopolitischen Wissens für die Schule lässt hier also sichtbar werden, was eingangs als ein charakteristisches Moment der „Wissensgesellschaft“ genannt wurde: ein geschmälerter Einfluss der Wissenschaften und eine wachsende Ausrichtung des Wissens an direkter Anwendung und unmittelbarem Nutzen. Die folgende Analyse der Gespräche mit Lehrerinnen und Lehrern zu der Frage, wie sie dem neuen Thema „Biotechnologie, Bioethik, Biopolitik“ in

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ihrem Unterricht Raum geben, soll deshalb die Bandbreite der Umgangsformen, der Legitimationsstrategien, der Suchbewegungen wie auch der Irritationen der Lehrenden im Umgang mit den vielfältigen Aspekten des neuen Wissens veranschaulichen. Dabei ist insgesamt auffällig, dass nur wenige der von uns Befragten die oben beschriebenen Angebote und Materialien nutzen bzw. auf sie zurückgreifen. Der überwiegende Teil der Befragten arbeitet autodidaktisch, aufgrund eigenen Interesses und aufgrund zufälliger Begegnungen und Entscheidungen mit dem neuen Themenzusammenhang. Die Reflexionen und Erklärungen der Lehrerinnen und Lehrer sperren sich einer eindimensionalen Deutung und Strukturierung und werden im Folgenden unter drei Perspektiven bzw. Fragestellungen analysiert. x Zum einen interessierte uns, ob verschiedene Formen des Zugangs und des Umgangs mit der neuen Thematik erkennbar sind. x Zum zweiten wollten wir wissen, wie die Lehrkräfte ihre Zugänge und ihre Aktivitäten plausibilisieren und rechtfertigen. x Zum dritten fragen wir danach, wie Lehrerinnen und Lehrer ihr unterrichtliches Handeln und Verhalten darstellen und erklären. Alle drei Ebenen der Analyse des empirischen Materials fokussieren die Frage, wie das vielfältig Neue von den Lehrerinnen und Lehrern aufgenommen und bearbeitet wird.

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Kapitel III Zugänge: Implizite Normen – die Bedeutung von Weltbildern

Die schulische Bearbeitung des neuen Wissensfeldes Biotechnologie/Biopolitik ist maßgeblich davon gekennzeichnet, dass Lehrerinnen und Lehrer das neue Wissen in bestehende Sinn- und Wertperspektiven integrieren und die noch nicht geläufige, hochkomplexe Materie durch die Bezugnahme auf existierende Sinnhorizonte anschlussfähig machen. Diese Bezugnahme auf bereits bekannte Sinnhorizonte haben wir in Anlehnung an Günter Dux und Bernhard Gill „Weltbild-Orientierung“ genannt1 und wollen das Begriffsverständnis eingangs kurz erläutern. Im Unterschied zu anderen Bezeichnungen übergreifender Sinnperspektiven, wie z.B. „Diskurs“ oder „Ideologie“ oder auch „Denkstil“, umfasst der Begriff des Weltbildes Denkbewegungen und Erklärungsbemühungen, mit denen Menschen ihre Stellung im Prozess der Geschichte und ihren Bezug zur Natur zu klären versuchen. Da sich speziell das Verständnis der menschlichen Natur durch die neue Biotechnologie historisch einschneidend zu verändern scheint, ist die Bezugnahme auf Weltbilder als „Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte“2 ein wichtiger Versuch der Orientierung und Sinngebungspraxis im 1

2

Vgl. Dux 1982; Gill 2004; Gill 1999. Prominent im Zusammenhang der Frage nach der Aneignung von Expertenwissen durch so genannte Laien ist auch das Konzept der „sozialen Repräsentation“. „Soziale Repräsentation“ meint eine Art „Wissen des Alltagsverstandes“, ein System der Organisation von Werten, Ideen, Handlungsweisen und dessen Bedeutungen, das sich je nach Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe unterscheidet. Auch will der Begriff den Prozess der Attribution und der Ausarbeitung von Wirklichkeit durch Individuen mitbezeichnen. Vgl. Jodelet 1991: 361f. wie auch Flick 1995 und Scheibler-Meissner 2004: 43. Demgegenüber favorisieren wir den Begriff der Weltbildorientierung, weil sich damit auch Inhalte und hegemoniale Tendenzen verdeutlichen lassen. So lautet der Untertitel der Analyse von Günter Dux 1982. Interessanterweise beginnt auch Dux seine Herleitungen des Begriffs der „Weltbilder“ mit der Auseinandersetzung mit der postmodernen Pluralisierungsthese. Er führt aus, dass die Beschäftigung mit „Weltbildern“ den Wissenschaftler mit dem Problem konfrontiert, dass es zwar nach wie vor Bestandteile von Wissen und Wahrheiten gibt, die als gesichert gelten können, jedoch das Gesamtsystem, in das die verschiedenen Wissensformen eingeordnet werden und das die Wissensformen zu einem Weltbild zusammenfügt, zweifelhaft geworden ist. Dux hält dem entgegen, dass trotz einer gewissen Relativität von Weltbildern es in jedem Falle Wissen gebe, von dem aus das, was man Weltanschauung nennt, zu erarbeiten ist. Mit dem neuerworbenen Wissen wird auch die Strategie mitgeliefert, von der aus sich das Wissen zur Einheit eines Weltbildes zusammenfügt.

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Rahmen der Auseinandersetzung mit biopolitischen Themen. Günter Dux, der sich eingehend mit dem Begriff des Weltbilds beschäftigt hat, geht davon aus, dass die Entstehung und Entwicklung von Weltanschauungen und Weltbildern sich strukturell und logisch ableiten von Wissensformen, die der Mensch über sich selbst hat: „Der Mensch kann über die Anschauung von der Welt als ganzer nur befinden, indem er zugleich über sich in der Welt befindet. Er muß seine Stellung in ihr klären, wenn er seine Anschauung von ihr klären will. Über sich und seine Stellung in der Welt erfährt er etwas, indem er sich aus zwei Bereichen zu verstehen sucht: Zum einen aus seiner Stellung zur Natur, zum anderen aus seiner Selbstdarstellung in der Geschichte.“3

Dux macht die „Logik der Weltbilder“ an der kognitiven Grundstruktur der Erkennenden fest und analysiert Weltbilder nicht nur auf der inhaltlichen Ebene. Er verfolgt die These, dass das anfängliche Muster für die Deutung und das Verstehen der Welt durch das Verfahren der Selbstreflexion bereitgestellt wurde. Frühe Deutungen basierten zunächst auf Verfahren, die Personen in Prozessen des Verstehens der eigenen Person entwickeln und Dux behauptet demzufolge, dass erste Weltbilder mit Hilfe eines „subjektivistischen Schemas“ funktionierten. Er versteht die kognitiven Grundstrukturen im Aufbau der Lebenswelt als anthropologische Grundstruktur von Erkenntnis und Deutung: Da der Mensch genötigt ist, verlässliche Umgangsformen mit der Natur zu entwickeln, in die er hineingeboren wurde, muss er dauerhafte Formen in den Begegnungen ausbilden. Dies gilt bereits bei der Ausbildung kategorialer Schemata. Sie dienen dazu, die vorfindliche Wirklichkeit in feste Formen zu bringen, Konstanz ausfindig zu machen und in Sätzen und Systemen festzuhalten.4 Das „subjektivistische Schema“ wurde und wird maßgeblich befördert durch Religion. „Gott“ oder Vorstellung von anderen höheren Wesen sind auf das subjektivistische Schema festgelegt; Götter sind Subjekte, sie handeln, strafen und belehren. Zudem hat die Religion die Aufgabe, dem Menschen die Welt als Ganzes verständlich zu machen. Mit ihrer Hilfe können Menschen auf das Ganze, auf die Einheit der Welt rekurrieren. Sie bietet eine durchgehende Struktur für das Verständnis der inneren Organisation der Welt, stellt eine spezifische Deutung davon zur Verfügung, wie es in ihr zugeht, in welcher Weise die Dinge und Ereignisse bestimmt werden. Sie operiert an der Grenze zum Unendlichen, sie hilft, wenn Routine fehlschlägt. Damit hebt die Religion die kognitiven Strukturen auf ein Niveau, auf dem sie handhabbar werden und den Umgang mit der vorfindlichen Wirklichkeit ermöglichen. Sie bestimmt die Art der Auswertung und Verwertung einer erfahrenen Wirklichkeit, indem sie die kognitive 3 4

Dux 1982: 21. ebd.: 146.

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Grundstruktur, das „subjektivistische Schema“, bewusst macht und die Welt zu einer Einheit zusammenfügt. Demzufolge waren und sind Götter nicht einfach Erfindungen oder Ausgeburt der Phantasie. Sie entstehen unter angebbaren Bedingungen als Resultat der Erfahrung im Umgang mit der Welt. Sie haben eine Objektseite, insofern sie angerufen werden, egal ob sie Regen oder Segen bringen sollen. Sie sind Ausdruck von Erfahrungen aus dem Zusammenstoß mit einer Welt, die nicht einfach zu verändern ist. In allen religiösen Deutungen ist dieses Moment der Erkenntnis einer vorgegebenen Mächtigkeit der erfahrbaren Welt enthalten, die den Menschen a priori zum Abhängigen macht. Darin liegt der konservative Charakter von Religion. Die Vorstellung von der Einheit der Welt ist nur durch Unterwerfung zu erhalten. Mit der Entstehung der Naturwissenschaften änderte sich das subjektivistische Verständnis und wurde zunehmend durch ein funktionales ersetzt. In den Naturwissenschaften bleibt das subjektivistische Deutungsschema beschränkt und sinnentleert: Die sinnhafte Daseinsweise des Menschen, sein Leben in sozio-kulturellen Formen, lässt sich als Resultat der Evolution aus einer vollständig sinnfreien Natur erklären. So gab es zunächst einen Rückzug der Götter aus der Natur, der ihre Zuständigkeit im Sozialen noch verstärkte. Nachfolgend wurde auch das göttliche Kausalitätsprinzip für den Bereich des Sozialen zunehmend transzendiert und entsubjektiviert. Dux zeigt, dass diese Erkenntnispraxis Deutungen und Weltbilder hervorbringt, die lange Zeit praktiziert und in vielen Kulturen noch heute gültig sind und ein strukturelles Moment von Verstehensleistungen darstellen. Die Entstehung und Durchsetzung eines naturwissenschaftlich ausgerichteten Weltbildes aber hat die religiösen, „subjektivistisch“ geleiteten Deutungen überlagert und „funktionalistische“ Weltbilder hervorgebracht. In ähnlicher Weise unterscheidet Bernhard Gill zwischen einem „identitätsorientierten“ und einem „utilitätsorientierten“ Weltbild.5 Auch in der Gillschen Begrifflichkeit ist das eine Weltbild durch Vereinheitlichung gestiftet, das andere durch funktionale Rationalität. Ein „identitätsorientierter Diskurs“, wie Gill das historisch ältere Weltbild nennt, ist darüber gekennzeichnet, dass er das, was gottgewollt oder von Natur aus schon immer so war oder ist, als von der Begründung entlastet und als unverfügbar charakterisiert. Dies bewirkt, dass Sein und Sollen nur undeutlich voneinander geschieden werden. Veränderungen und technologische Neuerungen sind aus dieser Perspektive solange unproblematisch, wie die Einheit von Welt nicht in Frage gestellt wird. Soweit Technik die als natürlich verstandene Ordnung unterstützt, ist sie willkommen. Abgelehnt

5

Gill 1999; Gill 2004.

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werden hingegen technische Innovationen, wenn sie das bis dato moralisch und physisch Unverfügbare verfügbar machen. Das zweite von Gill beschriebene Weltbild ist utilitätsorientiert und hat auch eine solche Naturvorstellung. Im Denken dieses Weltbilds wird davon ausgegangen, dass dem technischen Handeln keine der Natur selbst inhärenten normativen Grenzen gesetzt sind. Die vom menschlichen Geist in Erfahrung gebrachten Naturgesetze geben lediglich an, unter welchen kausalen Bedingungen sich die Natur selbst verändert und wie sie dementsprechend auch durch technischen Eingriff umgeformt werden kann. Maßgeblich für den Technikeinsatz ist hier weder die „Natur“ noch die „Gesellschaft“, sondern das individuelle oder kollektive Nutzenkalkül. Insofern kann es nur utilitaristische Gründe geben, technische Innovationen zu verwerfen. Beide Begriffserläuterungen schreiben dem Begriff der Weltbilder den Charakter eines Paradigmas zu. Er bezeichnet die vorherrschende Art und Weise, durch die Beziehungen zwischen Menschen und ihrer natürlichen und sozialen Umgebung begriffen werden. Er bezeichnet spezifische Erkenntnis- und Deutungsschemata, mittels derer Wissensbestände transportiert und weitergegeben sowie Einheit suggeriert und gestiftet werden. Eine solche Sinngebungspraxis findet sich auch in unseren Interviews. Unter Bezugnahme auf fünf verschiedene Weltbilder eignen sich die Befragten das neue Wissensfeld Biotechnologie/Biopolitik an. Die Wahl des paradigmatischen Sinnbezugs hat dabei Auswirkungen auf die Art und Weise der Aneignung sowie auf die Vermittlung biopolitischen Wissens.

1. Sinnbezug Technik und Naturwissenschaft Eine Gruppe von Lehrerinnen und Lehrern zeichnet sich durch Begeisterung und Faszination für die Entwicklung der Biomedizin und Biotechnologie aus und stellt die Möglichkeiten und Optionen der neuen Technologie in den Vordergrund ihres Unterrichts.6 Biotechnologie wird von diesen Lehrkräften als Abenteuer, als Aufbruch und zukunftsversprechende Technologie begriffen. Dementsprechend richten sich die Lernziele hier vor allen auf die Vermittlung von Kenntnissen biotechnologischer Verfahrensweisen. Inhaltlich spiegelt sich diese Herangehensweise in der Auswahl der behandelten Themenbereiche. So konzentrieren sich die Unterrichtsthemen auf naturwissenschaftlich-technische Vorgänge wie zum Beispiel den Aufbau der DNA, die Technik des Klonens, die Produktion von Humaninsulin oder die Möglichkeiten der genetischen Verände6

Fünf der insgesamt 22 befragten Personen sind dieser Gruppe zuzuordnen. Sie unterrichten alle das Fach Biologie, allerdings in recht unterschiedlichen Fächerkombinationen.

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rung von Pflanzen. Ein wesentlicher Bestandteil des Unterrichts bildet die Durchführung von Versuchen, wie zum Beispiel das Klonen von Usambaraveilchen oder das Sichtbarmachen der DNA bei Tomaten. Darüber hinaus ermöglichen Kontakte zu verschiedenen Forschungseinrichtungen die Beobachtung komplizierterer Versuchsabläufe in außerschulischen Forschungslabors; beispielsweise Versuche zum genetischen Fingerabdruck im Landeskriminalamt Baden-Württemberg. Die Planung von Versuchen und Versuchsbeobachtungen, die Beschaffung von ausreichendem Versuchsmaterial sowie die Schaffung geeigneter technologischer Laborvoraussetzungen nehmen demzufolge einen breiten Raum in den Unterrichtsvorbereitungen dieser Gruppe von Lehrkräften ein. Die Unterrichtseinheiten werden vorwiegend in Anlehnung an Fachzeitschriften wie zum Beispiel „Biologie in unserer Zeit“ konzipiert sowie mit Materialien verschiedener universitärerer und industrieller Forschungszentren bestückt. Auch Filmmaterial aus der medizin- und biotechnologischen Industrie, beispielweise zur Insulinherstellung oder zur Stammzellenforschung, kommt im Unterricht zum Einsatz. Unterstützung erfahren die Lehrkräfte darüber hinaus auch durch das mobile Genlabor „Bio-Lab“, das sie anfordern bzw. bestellen können. Technikbegeisterte Lehrkräften bewegen sich somit in ihrer Unterrichtsvorbereitung ausschließlich in einem naturwissenschaftlichen Fachdiskurs und beziehen hieraus ihre Materialien. Demgegenüber spielt die Berücksichtigung des öffentlichen Diskurses, beispielsweise mit Hilfe der Verwendung von Zeitungsartikeln aus der Tagespresse, bei dieser Gruppe eine lediglich nachgeordnete Rolle, dominant ist die Rezeption des biologischen Fachdiskurses. Diese Rezeption wird neben der Fachlektüre unterstützt durch die Partizipation an außerschulischen Netzwerken. Zu nennen ist hier vor allem das Netzwerk NUGI (Netzwerk Universität Gymnasium Industrie),7 das den Lehrkräften die Option bietet, den fachwissenschaftlichen Diskurs zu verfolgen sowie an ihm beteiligt zu sein – eine für Lehrkräfte eher außergewöhnliche Situation. Da die Möglichkeiten der Lehrkräfte zur fachwissenschaftlichen Auseinandersetzung zumeist auf den Bereich der Schule beschränkt sind, bietet das Netzwerk NUGI den Biologie- und Chemie-Lehrenden die Möglichkeit jenseits ihrer Lehrerposition Naturwissenschaften konkret zu erfahren und mitzugestalten. Durch Presseberichte über schulische Projektarbeiten zum Thema Biotechnologie erhalten die beteiligten Lehrkräfte eine Form der Wertschätzung, die Lehrern in der öffentlichen Debatte um Schule sonst kaum gewährt wird. Daneben eröffnet die Teilhabe am Netzwerk auch die Möglichkeit, Schülerinnen und Schülern Einblicke in eine konkrete Berufswelt zu eröffnen. 7

Siehe dazu Kapitel II 2.

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Themenstellungen, Material und Zielsetzung des Unterrichts der technischbegeisterten Lehrkräfte sind somit deutlich auf die Vermittlung biotechnologischer Abläufe und Verfahren ausgerichtet. Politische und ethische Fragen im Kontext der Biotechnologie werden dagegen nur am Rande behandelt. So gilt die Bioethik allenfalls als ein „Randbereich“ der Biologie und als unsicheres Wissensfeld. Gegenüber den harten, objektivierbaren Fakten der Biologie verblassen Ethik und Politik zu einer „persönlichen Meinung“, die als Gegenstand des Lernens im naturwissenschaftlichen Unterricht zu vernachlässigen sei. Diese Lehrkräfte gehen deshalb von der Notwendigkeit einer fächerspezifischen Umgangsweise mit biopolitischen Fragestellungen aus: die Biologie solle die technologischen Abläufe vermitteln und in Religion und im sozialkundlichen Unterricht könnten die ethischen Dimensionen der Technikentwicklung thematisiert werden. Faszinierend für diese Lehrkräfte ist die biotechnologische Entwicklung, Ethik dagegen bildet eine Leerstelle, die allenfalls noch mit spontanen Diskussionen über Technikfolgen gefüllt wird. Mechanismen der Vermittlung biotechnologischer und biopolitischer Wissensbestände: Verharmlosungen und Verheißungen Technikgläubigkeit und Technikfaszination bestimmen allerdings nicht nur Themenauswahl, Material und die Vernachlässigung ethischer Fragen, sondern gehen auch einher mit bestimmten normativen Beurteilungen der Biotechnologie und Biomedizin. So werden in der Beschreibung des Unterrichtsgeschehens verschiedene Mechanismen der Vermittlung biotechnologischer Wissensbestände deutlich, die übereinstimmend biotechnologische Entwicklungen in Richtung einer positiven Bewertung vereindeutigen. Dies zeigt sich zunächst in der Verharmlosung und Bagatellisierung potenzieller Risiken. Verharmlost werden sowohl die Folgen und Risiken der Technologie als auch die ethische Tragweite der technologischen Entwicklung. Die Risikoabwehr betrifft dabei insbesondere den Bereich der Grünen Gentechnologie. Diese wird zum Beispiel als die weitaus harmlosere Variante im Vergleich zur herkömmlichen chemischen Schädlingsbekämpfung bezeichnet, deren Gift viel größere Schäden verbreite. Außerdem könnten gentechnologisch veränderte Pflanzen in der „freien Natur“ nicht überleben, da ihnen der Selektionsvorteil fehle und deshalb eine flächendeckende Veränderung der Umwelt nicht zu erwarten sei. Ebenfalls als gering erachtet wird das Risiko möglicher Allergien durch die Aufnahme von genetisch veränderten Nahrungsmitteln. Mit dem Argument, Allergien gäbe es auch so schon sehr lange, wird die Behauptung von der Zunahme allergischer Reaktionen zurückgewiesen. Häufig geäußerte Befürchtungen gegen die Grüne Gentechno-

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logie werden hier also durch Bagatellisierung von Risikofaktoren zu entkräften versucht. Dies gilt auch für das Risiko bei der Entsorgung genetisch veränderten Materials. Hier wird davon ausgegangen, dass die staatlichen Sicherheitsauflagen ausreichend seien, um eine Gefahr für die Umwelt zu vermeiden. Werden die behördlichen Vorgaben eingehalten, so handele es sich um eigentlich „problemlose Experimente“. Gleichzeitig wird auch davon ausgegangen, dass die entsprechenden Institutionen ihre Aufgaben gewissenhaft erledigen: „Ich fahr damit zur Uni und die entsorgen das. Also genetisches Material, wo eben dieser krebserregende Farbstoff drin ist“ (Interview Unger: 3).

Darüber hinaus wird die politische Tragweite biotechnologischer Entwicklungen mit dem Argument einer unbedenklichen Kontinuität verharmlost. Gentechnologie wird beschrieben als eine unproblematische Weiterführung schon lange betriebener Biotechnologie. „Bei Biotechnologie denkt man immer, das ist so etwas Feindliches, was Modernes. Aber dass wir das seit Jahrtausenden anwenden, kam ja in dem Projekt auch zum Tragen. Und das war irgendwo das Positive“ (Interview Schmidt: 8).

Diese Haltung findet auch ihren Ausdruck in den Versuchsanordnungen, also der praktischen Seite des Biologieunterrichts. So werden zum Beispiel Versuche zur Joghurtherstellung und dem Klonen von Usambaraveilchen durchgeführt, um den Zusammenhang von herkömmlicher Biotechnologie und moderner Entwicklung auch in der praktischen Arbeit zu verdeutlichen. Mit dieser Kontinuitätsvorstellung verlieren sich die ethischen und politischen Implikationen der modernen Biotechnologie, wie beispielsweise neue Manipulations- und Kontrollmöglichkeiten. Ein weiterer Mechanismus, biotechnologisches Wissen im Vermittlungsprozess zu verharmlosen, besteht in der wertenden Polarisierung. Die der Biotechnologie innewohnende Pluralität von Ansichten, Einschätzungen und Meinungen begegnen diese Lehrkräfte mit Hilfe einer Polarisierung der Argumente. Unterschieden werden auf der einen Seite die „extremen Positionen“ und auf der anderen Seite die Position der „Mitte“. Betrachtete man genauer, wie diese Polarisierung zwischen Extrem und Mitte inhaltlich gefüllt ist, so wird schnell deutlich, dass es sich bei den „Extremen“ um deutliche Positionierungen gegen Biotechnologie handelt. Als „extrem“ gelten zum Beispiel das Engagement bei Greenpeace gegen Genversuche auf Maisfeldern oder auch die Ablehnung der Gentechnologie aus religiösen Gründen. Dabei wird „extrem“ auch häufig gleichgesetzt mit „emotional“ und „wenig reflektiert“. Eine Lehrkraft hält darüber hinaus das Alter für einen entscheidenden Faktor der Positionierung:

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„Ich glaube, wenn jemand in so ein Thema reinwächst als Jugendlicher, ist er nicht so polarisiert, wie wenn man als Erwachsener neu mit so einem Thema konfrontiert wird“ (Interview Müller: 7).

Angesichts dieser Vorstellung von Gewöhnung und Anpassung kann eine kritische Positionierung schnell zur Abweichung werden und so gilt als Norm, Ziel und anzustrebende Umgangsform mit der Thematik im Unterricht, als Lehrkraft selbst eine neutrale, ausgleichende Position einzunehmen. Im pluralen Feld der Meinungen und ethischen Positionen zur Entwicklung der neuen Biotechnologie erscheint es diesen Lehrkräften am sinnvollsten, sich „in der Mitte“ zu positionieren. „Also, ich vertrete in der Schule, in meinen Gebieten, die mich da betreffen, eher den Standpunkt, dass man die, so, so die mittlere Ebene gut durchdiskutieren muss. Und die Extreme sind meistens sie – also, die bringen nichts. Weil die Extreme bleiben extrem. Jetzt, ich glaube, in der Mitte tut sich am meisten“ (Interview Müller: 7).

Was genau sich in dieser oft bemühten „Mitte“ tut, die als Abgrenzung zum „Extrem“ fungiert, benennen die Interviewten, wenn sie auf die Abwägung der Chancen und Risiken zu sprechen kommen. Die Abwägung erscheint ihnen als eine Art Königsweg, um sich in der vielfältigen ethischen Debatte zu verorten. Dabei betonen die Befragten die „Sachorientierung“ einer Chancen- und Risiken-Abwägung durch Argumente und unterscheiden diese von emotionalen Äußerungen und leidenschaftlicher Parteinahme. In einer solchen Chancen- und Risiken-Debatte sehen technikbegeisterte Lehrkräfte die Möglichkeit, eine Verunsicherung durch die Biotechnologie zu vermeiden. Sie gehen davon aus, dass Risikofaktoren im Rahmen eines Austauschs von Pro- und KontraÜberlegungen sich durch die Kontrastierung mit den „Chancen“ und Möglichkeiten der Technologie quasi selbst erledigen und im Abgleich als zu vernachlässigende Aspekte erscheinen. Kennzeichnend für eine solche, als „sachorientiert“ bezeichnete Vorgehensweise ist zweierlei: Zum einen wird davon ausgegangen, dass sachorientierte Wissensbestände „neutrale“ Wissensbestände seien. Die Lehrenden vertreten die Ansicht, dass es ein Wissen „an sich“ gibt. Diese verändere sich zwar ständig, sei aber als naturwissenschaftliches Wissen objektiv und „neutral“ und als solches wollen sie das Wissen auch vermitteln. Zum zweiten ist die Annahme vorherrschend, dass eine Zunahme an Wissen zu einer Komplexität führe, die eine ethische Positionierung unmöglich mache. Je intensiver die Beschäftigung mit der Thematik vorangetrieben wird, desto schwieriger sei es, eine Position zu vertreten. So gilt die Zunahme an Information als entscheidendes Faktum für die Neutralisierung von Positionen, im Zuge derer der informierte Mensch zwar vernunftgeleitet und ausgewogen argumentiert, aber keinen Standpunkt beziehe.

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Diese Einschätzung von Wissen und Information steht im deutlichen Gegensatz zu einer aufklärerischen Vorstellung von Wissen, welche den Aufbau von Wissen als Fundierung und Untermauerung von Positionierung ansieht. Im Verständnis der hier beschriebenen Lehrkräfte hingegen führt mehr Information zu mehr Verunsicherung und verunmöglicht klare Einschätzungen. Ein Tatbestand soll von verschiedenen Seiten beleuchtet, und lediglich betrachtet werden. Die unterbleibende Urteilsbildung wird dabei als unproblematisch angesehen, die Notwendigkeit einer ethisch-politischen Positionierung wie auch eine Verständigung um normative Verortungen ist für diese Lehrkräfte nicht von Relevanz. „Gut. Aber belasten tut es mich nicht. Oder wenig. Es belastet mich schon auch so. Also mal, aber wenn ich verunsichert bin, was die Positionen anbetrifft, dann ist es halt, das belastet mich selten“ (Interview Meier: 9).

Dementsprechend formulieren technikbegeisterte Lehrkräfte keine Lernziele, die im Zusammenhang mit Urteilsbildung stehen, sondern nennen lediglich die Kenntnis von Pro- und Kontra-Argumenten als Zielsetzung ihres Unterrichts. Sie haben selbst kein artikuliertes Wissen davon, dass sie die biotechnologischen Wissensbestände implizit als ethisch unbedenklich vermitteln und in ihrem Unterricht im Sinne einer Zustimmung vereindeutigen. Diese zustimmende Vereindeutigung zeigt sich auch in der Betonung der Relevanz von Biotechnologien: So argumentieren diese Lehrkräfte mit einer herausragenden Bedeutung biotechnologischen Wissens für die weitere Entwicklung der SchülerInnen. „Ich denke, dass Biologie heute den Jugendlichen, auf Genetik bezogen, einfach die Grundlage bieten muss, dass er in der Gesellschaft zumindest versteht, worum es geht. Und dazu braucht er die Grundlage der DNA. Anders kann er eigentlich der Gesellschaft im Moment nicht folgen. Ich denke, der Schüler sollte heute in der Biologie die Grundlage bekommen zumindest zu verstehen, was läuft in der Gesellschaft ab“ (Interview Schmidt: 12).

Wissensbestände der Biotechnologie erhalten hier die Aufgabe, den Schülerinnen und Schülern die Gesellschaft zu erklären. Die Bedeutung der Biotechnologie wird als so umfassend aufgefasst, dass die Kenntnis ihrer Grundlagen mit der Kenntnis verbunden ist, was in der Gesellschaft „abläuft“. Darüber hinaus sprechen die Befragten der Biotechnologie ein hohes Maß an Bedeutung im Hinblick auf die Lösung gesellschaftlicher Probleme zu. Insbesondere im Bereich der Grünen Gentechnologie gehen die Lehrkräfte dieser Gruppe davon aus, dass mit der Grünen Gentechnologie die Probleme des Hungers in der Welt zu lösen seien. So heißt es beispielsweise: „Ich denke, ein Inder denkt über Gentechnik ganz anders nach. Denn für ihn ist es Überlebenschance, während wir leben im Überfluss. Also können wir uns die neue Methode der Pflanzen-

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zucht, ja, die können wir ablehnen. Wir können weiterhin herkömmlich züchten, das reicht für uns. Aber ich denke für die Dritte Welt bleibt letztlich gar nichts übrig als schneller zu züchten“ (Interview Schmidt: 5).

Mit Vehemenz vertreten die Befragten die Überzeugung einer biotechnologischen Lösung gesellschaftlicher Probleme ohne jedoch auf Fragen der sozialen Ungleichheit oder Macht zu sprechen zu kommen. Im Lichte dieser Überzeugung werden kritische Haltungen gegenüber der Grünen Gentechnologie als unmoralisch, als Weigerung die Probleme des Hungers und der sozialen Not lösen zu wollen, deklariert. Als „Wohlstandsphänomene“ werden Kontroversen um die Kennzeichnungspflicht bezeichnet, die sich die sogenannte Dritte Welt gar nicht leisten könnte und die Debatte um mögliche gesundheitliche Risiken genetisch veränderter Nahrungsmittel wird als „Luxus“ benannt, und damit moralisch entwertet. Es verschränkt sich die Bagatellisierung möglicher Risken mit Verheißungen. Fasziniert von der technologischen Entwicklung schreiben die Lehrkräfte der Biotechnologie ein hohes Potenzial an gesellschaftlichen Problemlösungsmöglichkeiten zu. Professionsverständnis Die Begeisterung für biotechnologische Möglichkeiten findet ihren Ausdruck auch im Selbstverständnis der Lehrkräfte. Diese sehen sich in erster Linie als Naturwissenschaftler, als fachwissenschaftlich Interessierte, angetrieben durch Forschungsdrang und Fortschrittsglaube. „Ich möchte einfach in meinem Fach gut sein. Ich möchte kompetent sein. (...) Man könnte es als Arbeit deklarieren, aber für mich ist es auch Freizeitgestaltung“ (Interview Meier: 7/2).

Da gerade die Gentechnologie innerhalb der Biologie als innovativ und zukunftsversprechend gilt, ist es nicht überraschend, dass naturwissenschaftlich ausgebildete Lehrkräfte sich durch diesen Themenkomplex fachlich gefordert fühlen. Angetrieben vom Ehrgeiz, an den neuen Entwicklungen des eigenen Faches teilzuhaben, bringen sie sich auch persönlich ein, da ihr Interesse über das schulisch Notwendige hinausreicht. Die naturwissenschaftliche Ausrichtung im Selbstverständnis der Lehrkräfte bestimmt ihre Positionierung sowohl im Hinblick auf ihre sozialen Beziehungen innerhalb der Schule als auch hinsichtlich ihres Verständnisses von Lehre und der eigenen Professionalität. Ihre Position innerhalb des Kollegiums beschreiben die Lehrkräfte als isoliert. Gründe hierfür sehen sie zum einem in der Schulstruktur, welche die einzelnen Lehrerinnen und Lehrer so einbinde, dass kein Platz für kollegialen Aus-

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tausch und Zusammenarbeit bliebe. Zum anderen wird in den Kommentaren über KollegInnen aber auch deutlich, dass naturwissenschaftlich orientierte Lehrkräfte sich von ihren Kolleginnen und Kollegen distanzieren und diese als wenig innovativ und interessiert beschreiben. So seien die anderen BiologieKollegInnen mit biotechnologischen Themen fachlich überfordert und kaum dazu bereit, aus den vertrauten Bahnen des Unterrichtens auszubrechen, während die technikbegeisterten Lehrkräfte erzählen, dass sie sich fachlich fortbilden und innovative Wege der Unterrichtsgestaltung verfolgen. Es ist diese Einnahme einer distanzierten Haltung zum Kollegium der eigenen Schule wie auch die Begeisterung n der Vernetzung und Partizipation an außerschulischen Fachdiskursen und Initiativen, mittels derer sich diese Gruppe der Befragten aus dem Schulalltag heraus definieren und sich als „anders“, „besonders“ und als „Elite“ beschreiben. Teile dieses elitären Selbstverständnisses werden auch im Hinblick auf die Ansprüche an die SchülerInnen artikuliert. Die biotechnologische Thematik gilt als besonders schwierig und sei nur von „den Besten“ zu bewältigen. „Weil, das ist für die zu komplex. Ich denke, für einen Durchschnittschüler ist das eh kein Thema“ (Interview Schmidt: 6).

Deshalb werden biotechnologisch interessierte SchülerInnen in Leistungskursen gezielt gefördert sowie durch die Vermittlung von Praktikumsplätzen in die entsprechenden Berufswelten eingeführt. Dabei wird der Gedanke einer Förderung der „Besten“ in allen drei Schulformen formuliert, obgleich Berufsmöglichkeiten für HauptschülerInnen im Bereich der Biotechnologie wenig wahrscheinlich sind. Dies deutet zumindest an, dass es weniger um realistische Einschätzungen und Optionen geht, als darum, ein Kriterium von Unterscheidung zu etablieren. Die positive Bezugnahme auf biotechnologische Inhalte wird von allen Lehrkräften aus dieser Gruppe dazu genutzt, sich vom Durchschnitt abzugrenzen. Auch ist im Unterschied zu anderen Befragten auffällig, dass die hier beschriebenen Lehrkräfte in den Interviews in erster Linie von sich selbst und ihren Aktivitäten und Vernetzungen sprechen, während der konkrete Unterricht, das Verhältnis zu den Lernenden wie auch deren Verhalten deutlich seltener zur Sprache kommt. Zum positiven Selbstbild der Lehrenden gehört auch, dass sich die Befragten aus dieser Gruppe als kompetent in der Vermittlung biologischen „Faktenwissens“ begreifen. Ihr professionelles Selbst ist davon gekennzeichnet, Begeisterung für Biotechnologie vermitteln zu wollen. Einwände, Bedenken, Kritik und Fragen nach gesellschaftlichen Auswirkungen nehmen die Lehrkräfte nur dann in ihren Unterricht auf, wenn entsprechende Fragen oder Diskussionen von Seiten der SchülerInnen initiiert werden. Kommt es zu Streitgesprächen, verste-

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hen sich die Biologie-Lehrkräfte nicht als Wissensvermittler, sondern als interessierte Mitdiskutanten. Sie beschreiben sich dann als „Begleiter“ der SchülerInnen und versuchen die „Sachorientierung“ der Debatte zu gewährleisten. Provokation oder die gezielte Thematisierung bestimmter Aspekte oder Probleme suchen sie zu vermeiden. So berichtet eine Lehrerkraft: „Da warte ich dann mehr oder weniger darauf, dass die Schüler auch solche Themen dann ansprechen. Wenn ich irgendwie das Gefühl habe, ich mache da ein künstliches Problem daraus, da bin ich da im Biologieunterricht relativ sparsam. Also, ich finde es ist nicht meine Aufgabe, dann da was zu provozieren, was vorher noch nicht da war“ (Interview Müller: 2/3).

Hier wird die Thematisierung ethisch-politischer Problemstellungen in die Hände der SchülerInnen gelegt und eine Haltung zum Ausdruck gebracht, die das Nicht-Zuständig-Sein für gesellschaftliche Fragen im Kontext von Biotechnologie und Biomedizin betont. Mit Rekurs auf ihre mangelnde Ausbildung in Sachen „Ethik“ lehnen die technologisch faszinierten Lehrkräfte eine Thematisierung der Folgen und Wirkungen der Biotechnologien ab. Sie ziehen ihr Selbstbewusstsein aus der Aktualisierung ihrer Wissensbestände im naturwissenschaftlich-technischen Bereich und halten an einem Verständnis von Naturwissenschaft fest, das die Thematisierung von Auswirkungen und Folgen der Forschungen anderen überlässt. Diese Trennung von Biotechnologie und ihren Anwendungen und Folgen geschieht auf zweierlei Wegen. Einmal werden vor allem Fragen aus dem Bereich der Grünen Gentechnologie behandelt. Damit konzentriert sich der Unterricht auf ein Themenfeld, welches Fragen grundlegender Art zu einem geringeren Maße aufwirft als dies zum Beispiel bei der Roten Gentechnologie der Fall ist. Die Grüne Gentechnik wird als sinnvoll und nützlich präsentiert, und so können normative und politische Fragen aus dem Biologieunterricht herausgehalten werden. Zum zweiten plädieren technikfaszinierte Lehrkräfte für eine klare Aufteilung der Inhalte zwischen den Fächern. Aufgrund ihrer naturwissenschaftlichen Ausrichtung erklären sie sich für ethische Fragen nicht zuständig und verweisen diese in den Bereich des Religionsunterrichts. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Vermittlung biotechnologischer Wissensbestände unter Ausschluss politisch-ethischer Bewertungen vonstatten geht. Vielmehr, so haben wir zu zeigen versucht, werden die neuen Entwicklungen der Biotechnologie im Unterricht der hier befragten Lehrkräfte in Richtung einer positiven Bewertung vereindeutigt. Durch Bagatellisierung möglicher Auswirkungen, vermittels der Polarisierung von Kritik als „extrem“ und gemäßigt („Mitte“) sowie durch Überhöhung der technischen Möglichkeiten wird das neue Wissen der Biotechnologie in den Rahmen eines allgemeinen, weit verbreiteten naturwissenschaftlichen Denkens eingeordnet.

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Diesem Denken zufolge sind sowohl die Naturwissenschaften als auch die mit ihnen verbundenen Entwicklungen notwendige und herausfordernde Weiterentwicklungen des Wissens über die Natur, die kontinuierlich fortschreiten und dem Gedanken von „Entwicklung“ und „Fortschritt“ folgen. Entdeckertum, Faszination und Abenteuer sind mit der Vorstellung eines naturwissenschaftlichen Aufbruchs in die Zukunft der Gesellschaft verbunden und sind zentraler Bestandteil des Denkens wie auch des Selbstverständnisses der in diesem Unterkapitel beschriebenen Lehrkräfte. Die Lehrenden positionieren sich eindeutig zu Fragen des gesellschaftlichen Natur-Verständnisses wie auch zu Fragen nach dem Gang der Geschichte, indem sie ein naturwissenschaftlich begründetes Naturverständnis propagieren und dessen Macht, Einfluss und Bedeutung in Gegenwart und Zukunft herausstellen. Als Kehrseite dieses Denkens erscheint, dass die Folgen, Auswirkungen und Veränderungen der Entwicklungen in den Naturwissenschaften und ihren korrespondierenden Technologien auf Natur, Gesellschaft und das soziale Miteinander als nachgeordnet, als zweitrangig, behandelt werden.

2. Sinnbezug christliche Religion Eine zweite Art der Thematisierung biopolitischer Inhalte im schulischen Unterricht stellt die Orientierung an einer christlichen Sichtweise dar.8 Ziel dieser Gruppe von Lehrkräften ist es, den Schülern und Schülerinnen anhand des Themenbereichs Bioethik ein christliches Wertesystem zu vermitteln. Im Mittelpunkt des Unterrichts steht die religiös-moralische Bildung der Individuen, die mittels zweier Bildungsinhalte realisiert werden soll: Zum einen geht es den Lehrkräften darum, ihren Schülerinnen und Schülern eine „Ehrfurcht vor dem Leben“ zu vermitteln. „Also mir ist es wichtig, dass sie diese Ehrfurcht vor dem Leben, die ich halt selber so spüre in mir, dass ich versuche da auch ein Bewusstsein zu schaffen. Dass man da unheimlich Respekt haben muss“ (Interview Paulus: 2).

Zum zweiten sollen die SchülerInnen anhand biopolitischer Fragestellungen dazu angehalten werden, Verantwortung für die Gestaltung des eigenen Daseins zu übernehmen. Entsprechend dieser Bildungsziele im Bereich der religiösen Moral konzentriert sich die Auswahl der Themen auf Fragen der Manipulationsmöglichkeiten menschlichen Lebens und der Natur sowie auf Fragen der Lebensführung insbesondere im Bereich von Sexualität und Reproduktion. 8

Ein Viertel der Befragten (6 Personen) lassen sich dieser Art der Argumentation zurechnen. Sie unterrichten alle entweder das Fach Katholische Religion oder Evangelische Religion.

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Fragen der Manipulation werden vorwiegend am Beispiel solcher Techniken thematisiert, die den Beginn und das Ende des menschlichen Lebens beeinflussen: In-Vitro-Fertilisation, Präimplantationsdiagnostik, Abtreibungen sowie Sterbehilfe. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, welche Eingriffsmöglichkeiten in die Entstehung und das Ende menschlichen Lebens vorhanden sind und wie diese Eingriffe ethisch zu beurteilen sind. Aus dieser Perspektive werden auch biotechnologische Veränderungen von Pflanzen und Tieren im Unterricht behandelt. Die ethische Beurteilung dieser Themenbereiche basiert allerdings nicht auf einem Abwägen unterschiedlicher Sichtweisen, sondern thematisiert wird vor allem die Frage nach den Grenzen der Zulässigkeit möglicher Eingriffe. „Ich hab einfach die Frage gestellt. Also ganz schlicht, ohne methodischen Firlefanz, einfach die Frage: wie weit darf der Mensch eigentlich gehen?“ (Interview Bentel: 3).

Mit dieser Frage wird eine Grenzziehung angestrebt, die ethische Beurteilungen strukturieren soll, der Prozess ethischer Urteilsfindungen wird hier verbunden mit der Frage nach normativen Grenzziehungen. Damit wird indirekt einem Verständnis von Ethik entgegen getreten, welches Urteilsbildung als Prozess des Aushandelns und als ein Kontinuum versteht. Stattdessen bilden Fragen, die aus einem religiösen Weltbild resultieren, den Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit bioethischen Fragestellungen. So kommen beispielsweise Formulierungen, wie „Spielt der Mensch Gott?“ oder „Inwieweit ist die Natur göttlich gegeben und deshalb vom Menschen nicht zu beeinflussen?“ häufig vor. Als Maßstab für diese Art von „Grenzziehungen“ dient diesen Lehrkräften das christliche oder auch „biblische“ Menschenbild. „Also, ich orientiere mich klar am biblischen Menschenbild. Jeder Mensch ist ein Abbild es ist mir nicht erlaubt, Gott zu spielen. (...) Also, das ist ein Eingriff in die Schöpfung. Da ist für mich die Grenze“ (Interview Vogt: 4).

Die Grenze zwischen Gebot und Verbot wird hier mit Hilfe einer geläufigen Begründungslogik, der Gottesähnlichkeit des Menschen, gezogen, ohne die Grenzen der Verfügbarkeit menschlichen Lebens genauer zu markieren, indem beispielsweise konkretisiert würde, warum im Rahmen dieses Menschenbilds eine Herzoperation ethisch vertretbar, das Experimentieren an Embryonen hingegen als problematisch angesehen wird. Damit bildet das christliche Menschenbild zwar die wesentliche Bezugsgröße für christlich orientierte Lehrkräfte, um sich im Feld der Bioethik zu positionieren, ist jedoch zur inhaltlichen Bestimmung von „Grenzen“ nur eingeschränkt geeignet, da der Begriff das Spektrum von Körper-Manipulationen nicht normativ zu strukturieren vermag, sondern auf zusätzliche Argumente angewiesen bleibt. Demgegenüber bildet die

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Thematisierung der Euthanasie im Nationalsozialismus eine deutliche Negativfolie. Die Gefahr der Entgrenzung, der Überschreitung ethischer Grenzen wird anhand dieses Beispiels immer wieder vorgeführt, dieses Thema wird von allen religiös motivierten Lehrkräften angesprochen. Es erfüllt eine Abschreckungsfunktion und soll auf die Gefahren heutiger biotechnologischer Entwicklungen aufmerksam machen. Ähnliches gilt auch für die utilitaristischen Thesen des australischen Philosophen Peter Singer, auch diese werden als Beispiel für die Möglichkeiten heutiger „unmenschlicher Entgrenzungen“ angeführt. Das eingangs genannte Bildungsziel christlich motivierter Lehrkräfte, die Ehrfurcht vor dem Leben, soll den SchülerInnen somit über die negative Bezugnahme auf Entgrenzungen sowie die positive Bezugnahme auf ein christliches Menschenbild vermittelt werden. Zum christlichen Menschenbild zugehörig verstehen alle Befragten das Postulat von Verantwortung, Ehrfurcht und Demut. Dieses Postulat im Handeln von Schülerinnen und Schülern zu verankern und ihm im Rahmen gesellschaftlicher und politischer Regulierungen Geltung zu verschaffen, bildet das zweite wichtige Bildungsziel dieser Gruppe. Wesentliche bioethische Themenkomplexe sind dabei die Fragen nach der Selektion von Behinderungen im Kontext von IVF und PID sowie die Abtreibungsfrage. In der Bearbeitung dieser Themenstellungen wird das Postulat eines „verantwortlichen“ Umgangs mit bioethischen Themen angebunden an die allgemeine Vorstellung einer an traditionellen Leitbildern orientierten Lebensführung. Veränderungen im Bereich der gesellschaftlichen Organisation von Sexualität, Partnerschaft und Reproduktion nehmen die christlich orientierten Lehrkräfte als Bedrohung wahr. Sie betrachten diese Veränderungen als einen Bedeutungsverlust christlicher Lebensführung und sehen sich aufgefordert, diesem Wandel etwas entgegen zu setzen. Dabei spielt die Thematisierung der Abtreibungsfrage eine zentrale Rolle. Allen christlich orientierten Lehrkräften ist es ein wichtiges Anliegen, die im Zuge der Bioethik neu entfachte Diskussion über Abtreibungen und den Beginn menschlichen Lebens aufzugreifen und als „Grenzüberschreitung“, „Sittenverfall“ oder „Uferlosigkeit“ zu kritisieren. Das Thema „Abtreibung“ dient als Einstieg in die Debatte der biomedizinischen Möglichkeiten, in die Auseinandersetzung mit Fragen von Ethik und Lebensführung wie auch als Ankerpunkt für religiöses und gottesehrfürchtiges Denken im Allgemeinen. Darüber hinaus machen die Lehrenden „Verantwortung“ an der „Ehrfurcht“ gegenüber jeder Form menschlichen Lebens fest, die sich beispielsweise durch einen respektvollen Umgang mit behinderten Menschen wie auch in Form einer grundsätzlichen Akzeptanz von Behinderung als Bestandteil des menschlichen Daseins zeigt. Am Beispiel der Behandlung der Themenbereiche Pränataldiagnostik und Präimplantationsdiagnostik wird mit Hilfe von Fragen, wie „Wür-

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dest Du ein behindertes Kind austragen?“ oder „Welchen Stellenwert haben Krankheit und Behinderung in unserem Leben?“ die Thematik der „verantwortungsbewussten Lebensführung“ behandelt. Durch diese Fokussierung der Ebene individueller Entscheidungen und einzelner Lebenswege wird die Problematik der Selektion von Behinderungen durch die Techniken der Pränataldiagnostik der Tendenz nach zu einem individuellen Problem. Ihre gesellschaftlichen Dimensionen und politischen Implikationen geraten aus dem Blick. Insgesamt ist festzuhalten, dass durch die Ausrichtung des Unterrichts auf religiöse Fragen, wie zum Beispiel die Klärung des Verhältnisses Mensch und Gott, sowie auf Fragen der Lebensführung, z.B. den Umgang mit Sexualität und Behinderungen betreffend, die Thematik eine Breite erhält, die die Spezifik bioethischer Fragestellungen eher verwischt als dazu beiträgt, sie zu präzisieren. Als ausschließlich religiöse Themen treten die Brisanz und Aktualität biopolitischer Entwicklungen in den Hintergrund und dienen lediglich der Veranschaulichung und Bearbeitung religiöser Problemstellungen und Fragen. Letztlich, so formuliert eine Person, könnte man die angesprochenen Themen auch anhand ganz anderer Fragen behandeln, und die Besonderheiten der Entwicklungen der Biotechnologie verschwinden in einem übergreifenden Sinnhorizont: „Es landet dann im Religionsunterricht eigentlich alles in einem mordsmäßigen, riesigem Komplex“ (Interview Eichner: 8).

Das Fehlen von Systematik und thematischer Vertiefung zeigt sich auch in den verwendeten Unterrichtsmaterialien. So beschreiben die Lehrkräfte eine eher zufällige und unsystematische Verwendung von Materialien, als Kriterium der Auswahl wird einzig die Aktualität des Materials genannt. Einigen ist die Arbeit mit biblischen Texten wichtig, vor allem mit der Schöpfungsgeschichte und dem Galaterbrief. Bei anderen kommen theologische Fachzeitschriften zum Einsatz, wie zum Beispiel „Publikorum. Zeitung kritischer Christen“ oder die Zeitschrift „Konzilium“. Auch werden einzelne theologische Positionen heran gezogen, beispielsweise Eberhard Schockenhoffs „Ethik des Lebens“ oder Hans Küngs Buch „Ewiges Leben“. In der Zusammenschau der Materialien nehmen die Materialien aus dem theologischen Fachdiskurs allerdings einen verschwindend kleinen Teil gegenüber Materialien aus dem öffentlichen Diskurs ein. Artikel aus der aktuellen Tagespresse und Wochenzeitschriften sowie dem Internet bilden den Hauptbestandteil der verwendeten Unterrichtsmaterialien. Namentlich genannt werden „Die Zeit“, „GEO“ und „Brigitte“. Zudem werden auch Beiträge aus laufenden Fernsehsendungen gezeigt. Dies macht deutlich, dass sich die christlich orientierten Lehrkräfte nicht schwerpunktmäßig innerhalb eines theologischen Fachdiskurses bewegen, sondern sich vorwiegend auf den öffentlichen Diskus beziehen.

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Lehrmaterial für den Religions- und Ethikunterricht wird von diesen Lehrkräften recht unterschiedlich beurteilt. Während auf der einen Seite ein Lehrer angibt, ausschließlich mit dem Unterrichtswerk „Ethik unterrichten“ zu arbeiten, halten auf der anderen Seite drei Lehrerkräfte die Materialien für derart unzureichend, dass es besser sei, sich eigene Unterlagen für den Unterricht zusammenzustellen und gar nicht mit den üblichen Lehrmaterialien zu arbeiten. „Also, am Besten ist es, wenn man sich selber etwas schreibt“ (Interview Vogt: 3 sowie Interview Paulus: 9).

Lediglich ein Lehrer gibt an, seinen Unterricht sowohl mit Hilfe vorhandener Unterrichtswerke als auch mit aktuellen Beiträgen aus Presse und Film zu gestalten. Alle Lehrkräfte dieser Gruppe verhandeln schlussendlich unter dem Titel „Bioethik“ diejenigen Aspekte, die sie in ihrem Unterricht schon immer behandelt haben. Entsprechend der Konzentration auf religiöse Fragestellungen zeigen sich im Unterrichtsmaterial dabei auch tendenziöse Schwerpunktsetzungen. So wird beispielsweise beim Thema Abtreibungen ausschließlich mit Materialien gearbeitet, die ein Recht auf Abtreibung in Frage stellen. Indem beispielsweise Dias von abgetriebenen Föten oder der Film „Wunder des Lebens“ von Lennart Nilsson im Unterricht gezeigt werden, wird die Perspektive des „Lebensschutzes“ vor das Selbstbestimmungsrecht von Frauen gestellt. Diese Tendenz in den verwendeten Materialien machen die Lehrkräfte nicht zum Thema, sondern präsentieren sie als selbstverständlich. Methodisch wird in den beschriebenen Unterrichtseinheiten vor allem mit Diskussionen gearbeitet, die entweder anhand verschiedener Positionen und Fallbeispielen in Gruppenarbeiten vorbereitet oder aber durch eine Impulsfrage eingeleitet werden. Daneben erhält das Rollenspiel ein großes Gewicht. Hier werden Dilemma-Situationen anhand von Fallbeispielen im Rollenspiel bearbeitet und auch Beobachtungsaufgaben vergeben. Die Behandlung bioethischer Fragen wird von der Gruppe der christlich orientierten Lehrkräfte somit überwiegend mit Hilfe von Unterrichtsmethoden gestaltet, die eine aktive Beteiligung der Schülerinnen und Schüler verlangen. Lediglich eine Lehrkraft gibt an, den Unterricht vorwiegend als Frontalunterricht durchzuführen, alle anderen setzen auf einen hohen Grad der Schülerbeteiligung.

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Mechanismen der Vermittlung bioethischer Wissensbestände: Normenbezug und Skandalisierungen Christlich orientierte Lehrkräfte stehen den Entwicklungen in der Biotechnologie ablehnend gegenüber. Das Potenzial und die Möglichkeiten dieser Technologie werden kritisch beurteilt und negativ akzentuiert. Diese ablehnende Haltung kommt zum Ausdruck in der Bezugnahme auf feststehende und als konkret gegeben angesehene religiöse Normen wie auch in einer Skandalisierung biotechnologischer Entwicklungen. Der Normbezug zeigt sich, wie oben veranschaulicht, vor allem in der Darstellung der Bildungsziele und des Unterrichtsmaterials. Er beinhaltet zunächst die Festlegung des Beginns des Lebens, der mit religiösen Argumenten in der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle angenommen wird. „Für mich als Person, das sage ich dann, für mich fängt das Leben bei der Verschmelzung an, weil da alle Grundlagen weitergegeben werden“ (Interview Vogt: 2).

Darüber hinaus wird mit Bezugnahme auf den religiösen Schöpfungsgedanken eine Haltung gegenüber der Natur postuliert, die diese als unantastbar und als Geschenk betrachtet. „Dass man da unheimlich Respekt vor haben muss. So wie das alles entstanden ist und wie das alles nach Plan lebt und gedeiht“ (Interview Paulus: 2).

Die dritte normative Bezugsgröße ist das christliche Menschenbild, dem gemäß jeder Mensch ein Ebenbild Gottes ist und demzufolge sich beispielsweise eine Selektion nach bestimmten Kriterien verbietet. Vielmehr soll Gegebenes demütig angenommen werden. So sagt beispielsweise eine Lehrerin: „Kinder sind ein Geschenk Gottes, die kann man nicht machen“ (Interview Vogt: 5).

Neben derartigen normativen Aussagen und Setzungen betreiben die Lehrenden aus dieser Gruppe negative Vereindeutigungen durch den Mechanismus der Skandalisierung. Diese treten als drei Formen, als ökonomische Skandalisierungen, als Bezugnahme auf Risiko- und Technikfolgeneinschätzungen sowie als Dammbuchargument, in Erscheinung. Eine mehrmals artikulierte Variante einer ökonomischen Skandalisierung ist zum Beispiel die Klage, dass die Kosten der technologischen Entwicklung immens seien und in keinem Verhältnis zum möglichen Nutzen stünden: „Dann argumentiere ich natürlich auch oft mit diesen ganzen In-Vitro-Sachen: Wenn eine 68jährige Frau – oder 64 Jahre alt war sie – zur Mutter gemacht wird von so einem italienischem Arzt. Über einen irren Kostenaufwand“ (Interview Bruhno: 1).

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Das Zitat macht deutlich, dass nicht nur das Kostenargument an sich von Bedeutung ist, sondern auch die Auswahl der Beispiele eine tragende Rolle in der Skandalisierung einnimmt. Hier wird nicht eine durchschnittliche IVFGeschichte bearbeitet, sondern herausgegriffen wird die ungewöhnliche und viel diskutierte Geschichte einer 64jährigen Schwangeren. Damit fokussiert sich die Problematik auf die Aufhebung der Generationen und die Entgrenzung von Verwandtschaft, und es wird kritisiert, dass elementare Sozialbezüge durcheinander geraten. Diese Kritik trifft aber für die allermeisten IVF Behandlungen nicht zu, im Gegenteil, die sogenannten „normalen Sozialbezüge“, wie zum Beispiel leibliche Elternschaft, zählen zu den Hauptargumenten für die Durchführung von IVF. Insofern wird mit diesem Beispiel die Diskussion über die ethischen Konfliktpotentiale bei IVF vermieden, denn diese liegen auf ganz anderen Ebenen, wie beispielsweise das Problem der selektiven Abtreibungen überzähliger Embryonen. So lässt sich vermuten, dass die Kritik an den gesellschaftlichen Kosten der biotechnologischen Entwicklung hier nicht auf einer durchkalkulierten Kostenrechnung beruht, sondern durch den Bezug auf skandalträchtigen Einzelbeispiele von vorneherein als unzumutbar konstruiert wird. Darüber hinaus werden ökonomische Argumente auch im Sinne einer Wirtschaftskritik verwendet, nach der die Biotechnologie letztlich nur Profite für bestimmte Firmen mit sich bringe und keinen Nutzen für einzelne Betroffene. Ausgehend von einer diffusen Ablehnung des bestehenden Wirtschaftssystems werden biotechnologische Entwicklungen als Profitmacherei skandalisiert und gelten deshalb als unmoralisch. „Das Fazit der Stunde wäre für mich, das man halt die Gefahren aufzeigt, dass man halt auch sagt, da ist sehr, sehr viel Geld, wo eine Rolle spielt, dass uns Menschen das einfach interessiert, wie viel das kostet und was dabei rausspringt und dass wir uns halt nicht überlegen, ob das besonders gut ist für unsere Nachkommen oder nicht“ (Interview Paulus: 5).

Eine weitere Art von Skandalisierung liegt in der Hervorhebung von Risikound Technikfolgen der Biotechnologie. Hier gerät Wissen zur Gefahr, zur Bedrohung, die es zu verhindern gilt. Dieses Risikopotenzial der Biotechnologie wird zum Beispiel durch den Vergleich mit der Entwicklung der Kernspaltung betont, deren Gefahrenpotential als Atombombe man auch erst im Nachhinein erkannt habe. „Der Mensch hat das Atom gefunden und was er daraus gemacht, er hat gespalten und eine Bombe daraus gemacht, Wasserstoff gespalten und auch eine Bombe daraus gemacht. Jetzt ist die Frage, was macht der Mensch, wenn er diese Macht auch in sich trägt“ (Interview Bentel: 4).

Auch wird die Zerstörung des Ökosystems durch gentechnisch veränderte Pflanzen sowie genetisch veränderte Tiere unterstellt, genetisch veränderte

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Mäuse als „Monster“ bezeichnet und die Technik des Klonens als „Horror“ benannt. Das weitaus größte Risiko biotechnologischer Entwicklungen aber sehen christlich orientierte Lehrkräfte in den Möglichkeiten der Selektion und Manipulation menschlichen Lebens. In diesem dritten Feld der Skandalisierungen, dem so genannten „Dammbruchargument“, werden mögliche Folgen des genetischen Eingriffs in verschiedene Richtungen dramatisiert. Hierzu zählt zunächst die Möglichkeit einer Zucht von Menschen entweder in Richtung einer Perfektion von Schönheit oder aber einer Züchtung von Kampfmaschinen. „Die Angst allerdings war wirklich vor diesem ‚Was kommt dann?’ Dann sind natürlich Vorstellungen aus der Medienwelt auch noch präsent. Einmal ist es dieses schöne, dieses überschöne Ideal [...] oder ist es womöglich dieses Thema ‚Wir kreieren für die Armee so einen Kampfmenschen’“ (Interview Bentel: 4).

Ähnliche Zuspitzungen finden sich, wenn über Behinderte und Biotechnologie gesprochen wird. Hier wird die Biotechnologie als eine Technologie dargestellt, die es behinderten Menschen unmöglich mache, innerhalb der Gesellschaft zu leben. Um diese These zu untermauern werden die Überlegungen Peter Singers herangezogen und ggf. auch die nationalsozialistische Euthanasiepolitik angeführt. Darüber hinaus werden Positionen von betroffenen Personen, die mit Behinderungen oder Krankheiten leben, in den Unterricht mit einbezogen. Auch dies dient der Stärkung ablehnender Argumente und der negativen Seite der Biotechnologie, da generell davon ausgegangen wird, dass wenn es zu einer Ausweitung der Technologie käme, sich die Lebenssituation kranker und behinderter Menschen massiv verschlechtern würde. Gleichzeitig mit der negativen Bewertung und Einschätzung formulieren die Lehrkräfte aber auch ein Bewusstsein davon, dass religiöse Normen allein nicht unbedingt helfen, beispielsweise weil sie keine direkte Handlungsanweisung im konkreten Konfliktfall liefern. So ist der Zweck der normativen Setzungen stärker darin zu sehen, dass sie eine grundsätzlich ablehnende Haltung gegenüber biotechnologischen Entwicklungen begründen, als dass sie sich eins zu eins in lebenspraktische Entscheidungen umsetzen ließen. Diese Ambivalenz ist allen christlich orientierten Lehrkräften bewusst und so stärken sie die Annahme, dass es bei bioethischen Entscheidungen vor allem darum gehe, verantwortlich zu handeln. „Der getaufte Christ ist selbstverantwortlich. Und muss sich im Ernstfall von niemandem dreinreden lassen. Auch von keiner Kirche. Der ist frei in seinem Gewissen vor Gott“ (Interview Eichner: 9).

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Das Verhältnis zwischen Individuen und Gott wird zur entscheidenden Instanz von Verantwortung und Moral, die das Individuum erkennen und gestalten muss. „Es gibt unterschiedliche Situationen, die unterschiedliche Verantwortungen verlangen“ (Interview Vogt: 5).

Dies deutet an, dass ein Konflikt zwischen der eigenen Betroffenheit und religiösen Normen von den Befragten durchaus in Erwägung gezogen wird, aber nicht durch Argumente oder Kriterien oder auch durch das Procedere von Entscheidungsverfahren konkretisiert wird. Vielmehr wird hier „Verantwortung“ postuliert, ohne inhaltlich und pragmatisch gefüllt zu werden.

Professionsverständnis Alle christlich orientierten Lehrkräfte gehen davon aus, dass es Aufgabe von Lehrern sei, den SchülerInnen eine Orientierung für ihre Lebensgestaltung zu geben. Sie verstehen sich als Aufklärer, die den SchülerInnen aufgrund eines Erfahrungsvorsprungs Leitlinien vermitteln sollen. Sie wollen Ratgeber für die ihnen „anvertrauten“ Lernenden sein und halten bloße Wissensvermittlung für zu wenig. „Also, ich bin Lehrer als ganze Person. Ich bin nicht Wissensvermittler. Das hängt auch wieder mit meinem Bild als Lehrer zusammen. Also, ich sag denen nicht alleine –was weiß ich, welche Methoden der Empfängnisverhütung es gibt, sondern ich find’, dass es viel wichtiger ist zu sagen, was man an Risiken eingeht, was Sinn hat oder was Unsinn ist und was man eigentlich falsch machen kann“ (Interview Bruhno: 2).

In dieser Aussage wird deutlich, dass die Lehrkraft meint über ein Normensystem zu verfügen, welches über richtig und falsch entscheidet, und er möchte dieses Normensystem an seine Schülerinnen und Schüler vermitteln. Die Position des Ratgebers, des Orientierungsgebers, bedarf also einer Eindeutigkeit der eigenen Position, eine Sicherheit der Verankerung im eigenen Wertesystem. Christlich orientierte Lehrkräfte verfügen über diese Sicherheit, weil sie religiöse Wissensbestände auf der Ebene von Faktizität behandeln. Die Religion bietet eine Grundlage, sich eindeutig im bioethischen Feld zu positionieren und liefert die Voraussetzung für ihr Professionsverständnis als Ratgeber. Dieses Professionsverständnis prägt die sozialen Bezüge innerhalb der Schule sowohl zu den SchülerInnen als auch zu den KollegInnen. Die SchülerInnen werden in dieser Perspektive nicht als gleichgestellt betrachtet, sondern es wird eine Hierarchie konstruiert, die die Aufgabe der Lehrkraft im Sinne

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eines Orientierungsgebers stützen soll. Dies geschieht zum einen über Aussagen, die das mangelnde Interesse der SchülerInnen hervorheben. Sie werden als „unkritisch“ und diskussionsmüde und positionslos beschrieben. Sie verfolgten eine „einfache Weltsicht“ und müssten aufgerüttelt, aufgeklärt und zu einer Positionierung gezwungen werden. Indem die Lehrkräfte ihre eigene Position deutlich einbringen, versuchen sie, so die einhellige Ansicht, der konstatierten Gleichgültigkeit der Lernenden entgegenzuwirken. Dabei formulieren die Lehrkräfte ihren Aufklärungsauftrag teilweise in fast aggressiver Form. So müsse man seine Meinung deutlich einbringen und in die Auseinandersetzung gehen, man müsse die SchülerInnen provozieren und polarisieren. „Und man muss sie schockieren. Man muss sie schockieren, um sie dann zu einer Diskussion zu bringen“ (Interview Vogt: 2).

Ergänzend dazu werden die SchülerInnen von ihren Lehrkräften so wahrgenommen und beschrieben, dass sie nach Eindeutigkeit und klaren Positionierungen ihrer Lehrenden verlangten. Dies ist zum Teil der Einschätzung geschuldet, dass die meisten Schülerinnen und Schüler nicht als fähig angesehen werden, plurale Wissensbestände zu bearbeiten. Vielmehr bedürften sie der Hilfestellung, die möglichst linear und eindeutig formuliert sein müsse. Die von den Lehrenden praktizierte Vereindeutigung von Wissen wird hier also mit Verweis auf die Schülerinnen und Schüler legitimiert. Es gelte, klare Ziele und Regeln aufzustellen. So sagt eine Lehrkraft: „Und jetzt geht es darum, denen beizubringen, was eigentlich auch behinderte Kinder für geliebte Kinder sind.“, „(...) aber man kann den Schülern auch beibringen, im Optimalfall, dass das Leiden nicht unbedingt aus dem Leben wegzudiskutieren, wegzubringen ist.“, (...) „aber davon wissen die Schüler nichts. Das musst Du Ihnen beibringen“ (Interview Eichner: 3/4/8).

Gleichzeitig formuliert aber die hier zitierte Lehrkraft, dass sie den Schülerinnen und Schülern keine fertigen Meinungen mitgeben möchte und keine fertigen Positionen vertrete. Offensichtlich bewegen sich die Lehrkräfte in einem Spannungsfeld zwischen dem pädagogischen Entwurf mündiger Lernender einerseits und einem Aufklärungs- und Orientierungsauftrag andererseits. In den Beschreibungen konkreter Unterrichtsverläufe löst sich dieses Spannungsverhältnis allerdings deutlich zugunsten eines Orientierungswissens auf, so dass die Offenheit gegenüber unterschiedlichen Positionen sich als Postulat erweist. Sie resultiert aus bestimmten, von außen gesetzten Ansprüchen an die Profession, die von christlich orientierten Lehrkräften aufgrund ihres geschlossenen Weltbildes nicht verwirklicht werden. Allerdings gibt es hier eine Ausnahme. So beschreibt eine der Lehrkräfte das Verhältnis zu den SchülerInnen als wechselseitiges Lernen:

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„Ja, das ist das Schöne am Lehrerberuf, ich lerne auch immer wieder von den Schülern, ich muss auch Positionen überdenken, wenn ich mal festgefahren bin, da helfen meine Schüler mir auch“ (Interview Bentel: 10).

Diese Lehrkraft reagiert auf die Fragen der SchülerInnen und ist bereit, sich selbst zu hinterfragen. Interessant ist, dass gerade diese Lehrkraft das Verhältnis zwischen religiösen, normativen Wissensbeständen und seinem Professionsverständnis anders als die anderen beschreibt. So sieht dieser Lehrer sich explizit der Neutralität verpflichtet und versteht sich eher als jemand, der einen Überblick denn eine Leitlinie vorgibt. Trotz religiöser Überzeugung verfolgt dieser Lehrer keinen Aufklärungsauftrag. Vielmehr hält er sich aufgrund seines Professionsverständnisses mit seiner Positionen zurück, auch wenn ihn dies in Konflikt mit seinen normativen Wertvorstellungen bringt. Er sagt: „Ich muss dann auch meine Meinung dann zurückhalten. Und das ist, was ich vorher schon erwähnt habe, meine Neutralitätspflicht, die auch hier oftmals Spannungen aufwirft, muss man ganz klar sagen“ (Interview Bentel: 10/11).

Die Beziehungen zu anderen Kolleginnen und Kollegen sind bei den befragten christlich orientierten Lehrkräften von Nicht-Beziehung und Isolation geprägt. So fühlen sich die Befragten häufig nicht ernst genommen mit ihren Anliegen und empfinden ihre KollegInnen als ignorant. Sie selbst verstehen sich hingegen als diejenigen Lehrkräfte, die sich mit den tatsächlich wichtigen Fragen des Lebens innerhalb der Institution Schule auseinandersetzen und bedauern, hierfür wenig Anerkennung innerhalb des Kollegiums zu erhalten. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass christlich orientierte Lehrkräfte bioethische Fragestellungen als Ausgangspunkt für die Thematisierung religiös motivierter Problemstellungen verwenden. Ihr Anliegen besteht darin, grundlegende Fragen der Lebensführung an plastischen Beispielen zu illustrieren. Dies hat zur Folge, dass die Bioethik als eigenständiges Wissensfeld mit ihren komplexen Fragestellungen nicht zum Gegenstand des Unterrichts wird. Da die Lehrkräfte weder ausreichend informiert sind über die speziellen biotechnischen Abläufe und auch nicht über Wissensbestände der Ethik verfügen, erhalten Schülerinnen und Schüler in diesem Unterricht keinen systematischen Überblick zu dem Themenfeld „Biotechnologie/Bioethik“. Auch das Erlernen einer Systematik verschiedener Argumentationsweisen, um strukturierte Wege der Entscheidungsfindung zu gehen, bleibt aus. Konfrontiert hingegen werden die SchülerInnen mit einer verengten Perspektive auf die Thematik, die biotechnologische Entwicklungen negativ vereindeutigt. Indem sich auf christliche Normen bezogen wird und indem Skandalisierungen dominieren und zur Richtschnur bioethischer Entscheidungen gemacht werden, verschiebt sich der Inhalt

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des Lernens auf Fragen der Überprüfung und Anwendbarkeit christlicher Normen. Ein solches Lernziel wird zudem durch das Professionsverständnis der Lehrkräfte gestützt. Die befragten christlich motivierten Lehrkräfte betrachten sich als Orientierungsgebende, als Vermittler religiöser Werte, die „ihren“ Schülerinnen und Schülern Leitlinien für die Gestaltung der Lebenswelten mit auf den Weg geben.

3. Sinnbezug Ethik und Gesellschaftskritik Knapp ein Drittel aller befragten Lehrkräfte behandelt biopolitische Fragestellungen in unterschiedlichen Unterrichtsfächern aus einem politischen und/oder ethischen Engagement heraus. Ziel ihres Unterrichts ist es, die Schülerinnen und Schüler zu einem eigenständigen Urteil im Hinblick auf biopolitische Fragen zu befähigen. Dieser Zielsetzung liegt die Annahme zugrunde, dass die Problemfelder der Biotechnologie gegenwärtig eine hohe gesellschaftspolitische Relevanz besitzen sowie brisante ethische Herausforderungen in sich bergen. Damit gehen die Lehrkräfte vor allem von einem lebensweltlichen Bezug biopolitischer Themen aus. So weisen alle Befragten dieser Gruppe auf die Notwendigkeit hin, sich sowohl politisch zu diesen Fragestellungen als auch persönlich in bestimmten Lebensentscheidungen zu positionieren. „Für mich wäre es ein Ziel, und das ist eigentlich meine Überzeugung, warum ich es auch gerne mache, dass die Menschen, also jetzt hier die jugendliche Generation, die hier irgendwann auch Entscheidungskompetenz hat, für die Zukunft, im Rahmen der Gesellschaft, dass die dahin kommt, dass sie sich bewusst entscheiden“ (Interview Albrecht: 15).

Hier sind Wissen und Handeln eng miteinander verbunden, so dass die im Unterricht behandelten Wissenskomplexe einen wesentlichen Bedeutungszuwachs erhalten: sie sollen SchülerInnen zu außerschulischem Handeln befähigen und ihnen eine Orientierung in lebensweltlichen Entscheidungskonflikten ermöglichen. Die Motivation, Fragestellungen der Biopolitik in das Unterrichtsgeschehen aufzunehmen, gründet auf der gesellschaftspolitischen Einschätzung der Befragten. Ähnlich wie bei den technikbegeisterten und christlich motivierten Lehrkräften erhält der Themenbereich auch hier aufgrund der persönlichen Ansichten einzelner Lehrkräfte Einzug in den schulischen Unterricht und gewinnt so innerhalb des schulischen Geschehens an Gewicht. Thematisch konzentrieren diese Lehrkräfte sich vor allem auf politische und ethische Dimensionen der Biotechnologie, die das menschliche Leben betreffen,

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thematisieren also überwiegend die so genannte Rote Gentechnik. Dies gilt zum einen für den Bereich der Entstehung menschlichen Lebens und der Manipulationsmöglichkeiten in diesem Prozess. Stammzellenforschung, Pränataldiagnostik, Klonen sowie Präimplantationsdiagnostik zählen hier zu den typischen Themenstellungen. Zum anderen werden therapeutische Möglichkeiten für vorhandenes menschliches Leben thematisiert, wie zum Beispiel Therapiemöglichkeiten von Erbkrankheiten wie Mucoviscidose oder auch gentechnologisch hergestellte Medikamente wie beispielsweise Insulin. Während biotechnologische Eingriffe in Bezug auf den Menschen somit ausführlich diskutiert werden, findet der Bereich der Grünen Gentechnologie nur am Rande Erwähnung. Lediglich eine Lehrkraft macht ihn zu einem eigenständigen Thema in ihrem Unterricht und behandelt die genetische Manipulation von Mais, bei allen anderen Lehrkräften bleibt dieser Themenkomplex randständig. Die inhaltliche Gewichtung der Thematik variiert mit den Unterrichtsfächern. So nimmt zum Beispiel im Biologieunterricht die Vermittlung biologischer Wissensbestände einen größeren Raum ein als im Religions-, Deutschoder Ethikunterricht. Von allen Lehrkräften aber wird die Frage nach den biotechnologischen Eingriffsmöglichkeiten in das Werden und Leben von Menschen eingebettet in verschiedene politische und ethische Dimensionen. Hierzu zählen erstens Fragen des Rechts. Sowohl die Rechtslage in Deutschland als auch gesetzliche Regelungen anderer Länder werden für den Bereich des Klonens, der Stammzellenforschung sowie der Präimplantationsdiagnostik bearbeitet. Zweitens werden Fragen der Verteilungsgerechtigkeit angesprochen. Gefragt wird nach den weltweit unterschiedlichen Zugängen zu medizintechnologischen Entwicklungen und den hiermit verbundenen sozialen Ungleichheiten im globalen Kontext. So wird beispielsweise die moralische Zulässigkeit der Forschungen für einen gentechnologisch produzierten Impfstoff gegen Malaria hinterfragt, wenn gleichzeitig für die relativ simple Maßnahme der Verteilung von Moskitonetzen die Gelder fehlen. Die Reflexion der Definitionen und Vorannahmen zum Thema „Gesundheit“ stellt einen dritten Themenkomplex im Unterricht dar. Hierzu zählen Fragen nach der Reichweite und Zulässigkeit medizinischer Versuche am Menschen, nach den Aufgaben des Arztes in der Gesellschaft sowie die Frage nach dem Begriff von „Gesundheit“, welcher der biotechnologischen Forschung und Entwicklung zugrunde liegt. Zusätzlich bearbeiten alle Befragten dieser Gruppe in ihren Überlegungen auf den Bereich der Gesundheitspolitik in Deutschland. Im Mittelpunkt stehen hier vor allem finanzielle Fragen, zum Beispiel in welche Bereiche der Forschung angesichts knapper Kassen investiert werden sollte. Viertens schließlich werden Fragen der personalen Identität aufgeworfen. Insbesondere sind diese gerichtet auf die Frage nach der Art der Zeugung sowie

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Fragen nach der Definition von Beginn und Ende des Lebens. Zur Sprache kommen hier Vorstellungen verschiedener Kulturen, unterschiedlicher Religionen ebenso wie historische und kulturelle Vergleiche im Hinblick auf Abtreibung, Schwangerschaft, Geburt und Sterben. Zur Bearbeitung dieser Themen im Unterricht haben die hier Befragten zumeist eigene Materialsammlungen zusammengestellt, bestehend aus Zeitungsartikeln, Fachaufsätzen sowie Arbeitsblättern. Für die DeutschlehrerInnen bildet darüber hinaus die Lektüre des Jugendromans „blueprint“ den Ausgangspunkt, um über bioethische Fragen zu sprechen. Ansonsten stehen die politisch/ethisch engagierten Lehrkräfte den vorhandenen Lehrmaterialien (z.B. Lehrbücher, Unterrichtsentwürfe) eher kritisch gegenüber, insbesondere die Biologielehrer-Innen kritisieren die mangelnde Aktualität und die fehlende ethische Dimension in den vorgegebenen Lehrmaterialien. Zwei der Lehrkräfte geben an, mit dem Internet zu arbeiten, halten dessen Verwendungsmöglichkeit allerdings für beschränkt, da es schwierig sei, dort auch etwas Kritisches zu finden. Auch Filmmaterial wird im Unterricht verwendet und die Befragten arbeiten sowohl mit Aufzeichnungen aus Fernsehsendungen als auch mit Infomaterial der Pharmaindustrie. Allerdings beklagen die Lehrkräfte bei Letzterem die tendenziöse Darstellung dieses Materials, das nur Fortschritt, aber keine Risiken erkennen ließe. Ein Lehrer schließlich hat sein Lehrmaterial über den Austausch mit verschiedenen Universitäten und bioethisch interessierten Personen angereichert, da er an einer Ethik-Fortbildung am IZEW in Tübingen teilgenommen hat und deshalb gut mit Fachkollegen und Kolleginnen vernetzt ist. Zusammenfassend ist also fest zu halten, dass Lehrende mit politisch/ethischem Engagement biotechnologische Fragestellungen im Kontext der Dimensionen von Recht, Verteilungsgerechtigkeit, Definitions- und Identitätsfragen bearbeiten und ihr Material hierfür vor allem selbst zusammenstellen. Die Frage, welche normativen Einschätzungen in der Vermittlung dieser verschiedenen Dimensionen zum Tragen kommt, steht im Zentrum der folgenden Ausführungen.

Mechanismen der Vermittlung biopolitischer Wissensbestände: Kritik der Modernisierung Die Auswahl der Themenschwerpunkte seitens der Lehrkräfte ist ihrer Aktualität und den Vorgaben des Lehrplans geschuldet. Der Lehrplan ist dabei insbesondere für die DeutschlehrerInnen von Relevanz, da hier die Lektüre des Romans „blueprint“ für die zehnte Realschulklasse vorgesehen ist. Auch die Lehrkräfte aus dem Fach Biologie müssen Inhalte des Lehrplans in ihren Unterricht

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berücksichtigen, zum Beispiel den Aufbau der DNA bearbeiten. Ansonsten resultiert die Auswahl der Themenstellungen aus den übergeordneten politischen und ethischen Fragen, die die Lehrkräfte mit der Thematik verbinden. Systematische inhaltliche Kriterien der Auswahl werden dabei allerdings nicht deutlich und es stellt sich die Frage, inwieweit Auswahl und Vermittlung bioethischer Themen die Werthaltungen der Lehrkräfte gegenüber der Biotechnologie zum Ausdruck bringen. Dazu ist zunächst festzuhalten, dass politisch/ethisch engagierte Lehrkräfte den aktuellen Entwicklungen innerhalb der Biotechnologie kritisch gegenüber stehen. Deutlich wird diese kritische Perspektive vor allem in der Akzentuierung der Thematik auf ihre problematischen Anteile. Mit Blick auf die gesellschaftlichen Folgen der Biotechnologie werden drei aktuelle gesellschaftspolitische Problemfelder in den Kontext biotechnologischer Entwicklungen gestellt. Hierzu zählt zum einen die Individualisierung. So gilt Biotechnologie als Ausdruck einer zunehmenden Individualisierung, die die politische Betrachtungsweise gesellschaftlicher Probleme verunmögliche. Nach Ansicht der Lehrkräfte dieser Gruppe stehen bei biotechnologischen Anwendungen vor allem die „eigene Wahl” und der „eigene Vorteil“ im Zentrum des Interesses, ohne dass die gesellschaftlichen Folgen thematisiert würden. Dieser Logik folge auch der Roman „blueprint“, der durch die Protagonistin eine individuelle Perspektive auf das Klonen einnehme. Bearbeitet wird hier die Frage nach dem persönlichen Glück eines Klons, während politische Kontexte und gesellschaftliche Folgen des Klonens unbeachtet blieben. Diese Kritik an dem Rekurs auf die Perspektive der Betroffenen als Ausdruck einer zunehmenden Individualisierung fällt auf, da in dem überwiegendem Teil unserer Interviews die „Betroffenenperspektive“ als positives Moment der Unterrichtsgestaltung beschrieben wird. So gilt, wie wir im folgenden Kapitel noch genauer ausführen werden, die Einbeziehung der Betroffenen als ein Moment der Authentizität sowie als Möglichkeit, vorhandene Einschätzungen in Frage zu stellen, denn zu jedem Beispiel gibt es auch ein Gegenbeispiel. Dieser positiven Sichtweise wird hier eine kritische Perspektive entgegengesetzt, indem auf die Entpolitisierung des Themas hingewiesen wird. Allerdings bleibt dabei das Potenzial der Betroffenperspektive unberücksichtigt, deren Bedeutung vor allem darin zu sehen ist, auf den Konflikt zwischen möglichen individuellen Heilungschancen und gesellschaftlichen Risikofaktoren hinzuweisen. Insofern stützt auch die Kritik an einer individualisierenden Sichtweise auf biotechnologische Entwicklungen eine negative Sicht auf moderne Technologien im Allgemeinen. Neben der zunehmenden Individualisierung thematisieren politisch/ethisch motivierte Lehrkräfte die Folgen der Biotechnologie für die Verteilungsgerech-

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tigkeit. Biotechnologische Entwicklungen werden überprüft auf ihren Beitrag zu einer Veränderung sozialer Ungleichheit. Die Auswahl der Beispiele legt dabei nahe, biotechnologische Anwendungen vor allem kritisch als Verschärfung vorhandener Ungleichheiten zu bewerten. So weist diese Gruppe von Lehrenden beispielsweise auf die Abhängigkeitsstrukturen in der Vergabe von Saatgut hin und steht damit im Gegensatz zu den technikbegeisterten Lehrkräften, die gerade die Züchtung genetisch veränderter Pflanzen zur Bekämpfung von Unterernährung befürworteten. Thematisiert wird auch die Verteilung von Forschungsgeldern sowie der Zugang zu den Ergebnissen und Produkten der Biotechnologie, die weiten Teilen der Menschheit verwehrt blieben und von denen nur einige Wenige profitierten. Auch die Situation des bundesdeutschen Gesundheitswesens wird in diesem Kontext kritisch reflektiert, d.h. auch hier werden Ausgaben im Bereich der Biomedizin kontrastiert mit Ausgaben beispielsweise im Pflegebereich. So sei der sogenannte Pflegnotstand auch als Folge von Fehlinvestitionen zu betrachten. Letztlich würden mit der Biotechnologie teure Methoden der Therapie entwickelt, die sich unser Gesundheitssystem nicht leisten könne. Die Beispiele illustrieren, dass die Befragten Probleme der Gerechtigkeit überwiegend an der Verteilung finanzieller Mittel festmachen. Hingegen spielt die Frage einer möglichen Zunahme von Diskriminierungen von Menschen mit Behinderungen für politisch/ethisch engagierte Lehrkräfte im Zusammenhang mit der Frage nach sozialer Gerechtigkeit nur eine untergeordnete Rolle. Die insbesondere von christlich motivierten Lehrkräften häufig angeführte Befürchtung von zunehmenden Diskriminierungsstrukturen findet hier nur am Rande Erwähnung. Biotechnologie gilt politisch/ethisch engagierten Lehrkräften vor allem als eine Technologie, die die bereits vorhandenen ökonomischen Ungleichheiten verschärft. Eine Lehrkraft fasst zusammen: „Dass das eigentlich schon eine Technik ist, die sehr dazu beiträgt, die Menschheit in arm und reich auseinander zu dividieren“ (Interview Fischer: 12).

Fragen, die um mögliche Veränderungen der personalen Identität kreisen, stellen einen dritten Themenkomplex dar. Anhand der Lektüre des Romans „blueprint“ wird die Frage nach Individualität gestellt, die durch die Manipulationsmöglichkeiten genetischer Eingriffe wie das Klonen verunmöglicht werde. Problematisiert werden auch die Manipulation der Zeugung, die verschiedene Varianten der Entstehung des Menschen mit sich bringen, sowie die Möglichkeiten der Pränataldiagnostik. Die Lehrkräfte thematisieren Probleme der Selbstwerdung und gehen davon aus, dass diese durch die Fragmentierung des Lebens und die Manipulationsmöglichkeiten genetischer Eingriffe heute letztlich erschwert werde. Viertens schließlich verweisen politisch/ethisch engagierte Lehrkräfte auf die Grenzen der Wirksamkeit sogenannter biotechnologischer

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Errungenschaften. Sie betrachten die Heilungserfolge der Biotechnologie mit Skepsis und betonen demgegenüber die gesellschaftlichen Kosten der Entwicklung dieser Technologien. Damit bilden sie einen Kontrapunkt zu den technologisch faszinierten Lehrkräften, die von großen Heilungschancen der Biotechnologie ausgehen und deren Wirksamkeit optimistisch sehen. Im Unterschied zu den technologisch faszinierten Lehrkräften, die die Entwicklung der Biotechnologie als Voraussetzungen für die Lösung gesellschaftlicher Probleme betrachten, sehen die politisch/ethisch motivierte Lehrkräfte hierin vor allem die Ursache gesellschaftlicher Probleme. Im Rahmen unseres Samples sind es die politisch/ethisch engagierten Lehrkräfte, die das Thema breit fassen und umfangreiche Wissensbestände in ihren Unterricht einbeziehen. Sie thematisieren den Prozess der technologischen Entwicklungen von Beginn der Herstellung bis zu den Folgen der Technologie anhand unterschiedlicher Themenbereiche.

Professionsverständnis In ihrem Selbstverständnis verstehen sich politisch/ethisch engagierte Lehrkräfte als Lehrende, die den Schülerinnen und Schülern Möglichkeiten eröffnen, unterschiedliche Wissensbestände zu erarbeiten und hieran anschließend eigene Positionen zu entwickeln. Damit sehen sie ihre Aufgabe vor allem darin, möglichst umfangreich Informationen zur Verfügung zu stellen und die Lernenden bei der Verarbeitung dieser Informationen zu unterstützen. Die Urteilsfindung der SchülerInnen steht im Zentrum des Interesses dieser Lehrkräfte. Dabei betonen sie die Notwendigkeit ausreichender Informationen; es geht ihnen darum, möglichst „sachlich fundiert“ zu begründen. Verschiedene ethische Positionierungen verstehen sie als eine Art Deutungsangebot, das den SchülerInnen hilft, ihre Position zu entwickeln. In diesem Zusammenhang findet auch die Selbstpositionierung der Lehrkräfte Erwähnung, die die Lehrenden selbst als Bestandteil dieser Deutungsangebote ansehen. Damit unterscheiden sich politisch/ethisch engagierte Lehrkräfte von christlich oder technisch orientierten Lehrkräften, denn sie haben im Gegensatz zu diesen keine inhaltliche Überzeugung, die sie im Unterricht vermitteln wollen. Zwar vertreten sie eine kritische Perspektive auf Biotechnologie, betrachten diese aber als Deutungsangebot und konzentrieren sich vor allem auf das Zur-Verfügung-Stellen von Informationen. Ein logischer Argumentationsaufbau sowie die Fähigkeit des Perspektivwechsels gilt es nach Ansicht politisch/ethischer Lehrkräfte den SchülerInnen am Beispiel der Biopolitik zu vermitteln.

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„Also ist es Aufgabe des Unterrichts, ihnen beizubringen, dass sie unterscheiden müssen, zwischen der Perspektive der verschiedenen Personen und dass Moral sich zusammensetzt aus den verschiedenen Haltungen. Es geht mir darum, Ignoranz zu erschüttern“ (Interview Eitel: 5).

Dieses Erschüttern von Ignoranz bezieht sich auch auf die eigene Position als Lehrkraft. So gehen die hier Befragten davon aus, dass biopolitische Themen auch die sogenannte „Allwissenheit“ der Lehrkräfte in Frage stellen und damit die Schulroutine in positiver Weise durchbrochen wird. „Ich meine, das tut mir auch gut, das tut jedem Lehrer ganz gut, wenn er mal erfährt, dass er vielleicht nicht so perfekt ist. Und sich ein bisschen zurücknimmt. Mit dem Getue, man weiß alles. Das ist, glaube ich, ganz gut“ (Interview Albrecht: 5).

Die hieraus entstehende Offenheit in der ethischen Bewertung empfinden die meisten der hier Befragten als positiv und als Bereicherung. Die Pluralität des Wissens und die verschiedenen Perspektiven ethischer Beurteilung verstehen diese Lehrkräfte als „spannend“, als „bereichernd“ und als Möglichkeit, sich selbst immer wieder zu hinterfragen. Damit einher geht ein fast durchgängig positives SchülerInnenbild. Lernende werden als vorwiegend aufgeschlossen und interessierte Personen beschrieben, die sich selbstständig informieren und, im Gegensatz zur öffentlichen Meinung, sehr wohl auch über eine eigenständige Moral verfügen.9 Demgegenüber ist die Sichtweise auf die Institution Schule eher negativ. Moniert werden hier vor allem der fehlende alltagsweltliche Bezug von Schule und die Fragmentierung der Wissensbestände. Dem versuchen die Lehrkräfte mit einem lebensweltlichen Bezug sowie mit Kooperationsprojekten entgegenzuwirken. Hervorzuheben ist, dass alle Befragten dieser Gruppe in mindestens einem kooperativen Projekt tätig sind, sei es innerschulisch oder außerschulisch. So arbeiten sie entweder fächerübergreifend mit verschiedenen KollegInnen zusammen, insbesondere Biologielehrkräfte mit ReligionslehrerInnen, organisieren Projektunterricht oder nehmen an außerschulischen Aktivitäten wie zum Beispiel Podiumsdiskussionen teil. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass politisch/ethisch engagierte Lehrkräfte mit ihrem Unterricht auf die Bildung eines selbständigen Urteils der SchülerInnen in biopolitischen Fragen abzielen. Die Notwendigkeit eines eigenständigen Urteils ergibt sich dabei vor allem aus der engen Verbindung von Wissen und Handeln. Nach Ansicht politisch/ethisch engagierter Lehrkräfte haben biopolitische Themen einen starken Handlungsbezug, so dass diese Wissensbestände keineswegs abstrakt verstanden werden, sondern die mit 9

Einzige Ausnahme bildet hier das Interview mit der Realschullehrerin Wild, in welchem die SchülerInnen als politisch desinteressiert und moralisch indifferent beschrieben werden.

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ihnen verbundenen lebensweltlichen Entscheidungen betont werden. Um diese Entscheidungen schulisch zu unterstützen, bearbeiten die Klassen verschiedene Dimensionen des Diskurses, der in seiner Vielfalt zum Tragen kommen soll. Die Vorgehensweise ist dabei diskursiv-argumentativ und letztlich geht es um den Austausch wissensbasierter Argumente als Grundlage der Urteilsfindung. Die Bearbeitung der Themen verläuft nicht neutral, sondern erfolgt aus einer problemorientierten Perspektive, aus der vor allem die kritischen Aspekte der Biotechnologie beleuchtet werden. Entsprechend eines modernisierungskritischen Weltbildes gilt die technologische Entwicklung politisch/ethisch engagierten Lehrkräften vorwiegend als Ergebnis und Motor der Verschärfung sozialer Probleme sowie zunehmender Individualisierung und wachsender sozialer Ungleichheit.

4. Sinnbezug Methodik, Didaktik und Pragmatik Biopolitische Fragestellungen werden von einer weiteren Gruppe von Lehrkräften als primär methodisch-didaktische Herausforderung verstanden. Im Mittelpunkt steht hier der Versuch, den Problemen der Biopolitik mit Hilfe einer bestimmten Unterrichtsmethodik zu begegnen. Dieser Akzentsetzung liegt ein Verständnis der Thematik zugrunde, welches davon ausgeht, dass bioethische Fragen in den Bereich privater Entscheidungen gehörten und letztlich alle Positionen akzeptiert werden könnten. Im Gegensatz zu den bisher beschrieben Typen von Lehrkräften haben methodisch orientierte Lehrkräfte kein explizit inhaltliches Anliegen bei der Behandlung biopolitischer Themenstellungen im Unterricht. Da diese Gruppe vielmehr davon ausgeht, dass Positionsbekundungen zur Thematik als Ausdruck individueller Persönlichkeit anzusehen seien, sehen sie die schulische Aufgabe vor allem darin, Persönlichkeitsbildung zu betreiben. Im Mittelpunkt ihrer Bemühungen stehen deshalb das Erlernen sozialer Fähigkeiten, das sachliche Argumentieren und Diskutieren und die Vertretung und Begründung einer „eigenen Meinung“. „Ich versuche stärker an der Persönlichkeit der Schüler zu arbeiten und so weiter. So was wie einen Standpunkt haben, Meinung bilden, begründen können, zuhören können“ (Interview Hahne: 7).

Biopolitische Fragestellungen eignen sich nach Ansicht der hier vorgestellten Gruppe von Lehrkräften gut, um diese Fähigkeit bei Schülerinnen und Schülern zu schulen und sie, wie eine Lehrkraft formuliert, „ein Stück weit weiter zu bringen“ (Interview Wald: 9). Zwei weitere Lehrerinnen berichten:

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„Wir hatten das Ziel, dass sie sich mit einem Thema tief beschäftigen, dass sie sich eine Meinung bilden und dass sie von den anderen Themen zumindest am Rande etwas mitbekommen“ (Interview Dom/Frankenberg: 11).

In dieser Formulierung erscheint der thematische Bezug als nachgeordnet vor den Prozessen des Erarbeitens von Wissensbeständen und der Meinungsbildung. Dementsprechend wird die Auswahl der Thematik in dieser Gruppe überwiegend mit dem Verweis auf den Lehrplan begründet. Nur selten finden sich auch inhaltliche Argumente für die Behandlung des Themas Biotechnologie und Bioethik im Unterricht. Eine Lehrkraft distanziert sich gar von der Thematik: „Das heißt, wir waren gezwungen uns damit zu beschäftigen. Ich wüsste nicht, ob ich dieses Thema normal genommen hätte, wenn ich jetzt nicht über die Lektüre dazu gekommen wäre“ (Interview Wald: 1).

Die Vorgaben des Lehrplans werden inhaltlich unterschiedlich umgesetzt. Ein Teil der Lehrkräfte behandelt Fragen nach den Manipulationsmöglichkeiten bei der Entstehung menschlichen Lebens und der Entwicklung personaler Identität am Beispiel „Klonen“, „Abtreibung“ oder „Ablösungsprozesse in der Adoleszenz“. Demgegenüber bearbeiten andere Lehrkräfte die Thematik breiter, so dass neben den genannten Themen auch Pflanzenzucht, Tierzucht sowie historische Bezüge zur NS-Geschichte aufgegriffen werden. Innerhalb dieser Themenbandbreite werden keine thematischen Schwerpunkte gesetzt. Sie ist gewollt breit und unspezifisch. Die thematische Zusammensetzung ist Ergebnis eines brainstormings und wird mit Hilfe diverser Materialien bearbeitet: Lehrbücher aus Biologie und Religion, Fachzeitschriften und Info-Material der Pharmaindustrie. Zudem werden die Schüler dazu angehalten, sich ihr Material selbst zusammen zu stellen und durch Internet-Recherchen oder Interviews mit Expertinnen und Experten ihre Zugänge zum Wissen zu erweitern. Dabei erfolgt die Materialauswahl eher zufällig, da der Anspruch, möglichst viele Materialien zu möglichst vielen biopolitischen Themenbereichen zusammenzustellen, als Leitlinie der Unterrichtsplanung beschrieben wird. Die Lehrkräfte, die in ihrem Unterricht vorrangig Fragen der Identitätsentwicklung behandeln, greifen vor allem auf vorgegebene Lehrmaterialien zurück; im Deutschunterricht bedeutet dies die gemeinsame Lektüre des Romans „blueprint“, in den Fächern Religion und Biologie wird mit den jeweiligen Lehrbüchern der entsprechenden Jahrgangsstufen gearbeitet. In der für diese Gruppe von Lehrkräften charakteristischen Bandbreite von Themen und Material zeigt sich, was die Lehrenden auch selbst thematisieren. Sie haben keine explizit inhaltlichen Lernziele, die sie mit der Thematik verbinden. Stattdessen machen sich die Lehrkräfte dieser Gruppe ausführlich Gedan-

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ken zu Methoden und Arbeitsweisen in ihrem Unterricht. Sie arbeiten gern in Kleingruppen und vermeiden Frontalunterricht – dieser sei nur sinnvoll bei der Vermittlung von „Informationen“, wie zum Beispiel gesetzlichen Rahmenbedingungen oder biologisch-technischen Abläufen. Den Lehrenden ist es wichtig, dass SchülerInnen in einer Gruppe gut zusammen arbeiten und dass Kleingruppen so organisiert sind, dass sie das selbstständige Erarbeiten von Wissensbeständen unterstützen. Sie variieren die Formen der Darstellung von Arbeitsergebnissen (Marktstand, Rollenspiel, Gruppenpuzzle) mit dem vorrangigen Ziel, die SchülerInnen zu Diskussionen und Meinungsbildung zu befähigen. Ein inhaltlicher Zusammenhang zwischen diesen verwendeten Methoden und der Thematik findet zwei Mal Erwähnung: Eine Lehrkraft führt aus, dass die verwendeten Methoden den Themen der Bioethik entsprächen: Da bioethische Fragen persönlich und emotional berührend seien, „ans Eingemachte gehen“, wären Äußerungen hierzu in kleinen Gruppen leichter als vor der gesamten Klasse. Eine zweite Lehrkraft thematisiert eine Entsprechung von Methode und Inhalt als sie ihre Arbeit mit „mindmaps“ beschreibt. Sie vertritt die Ansicht, dass es im Feld der Bioethik sowieso unmöglich sei, zu einer abschließenden Urteilsfindung zu kommen und so entspräche die mindmap am Ende des Unterrichts am Besten der „Sachlage“ (Interview Hahne:7). Diese hier erahnbar werdende Schwerpunktsetzung des Unterrichts auf die Vermittlung sozialer Fertigkeiten und die Entwicklung eines persönlichen Standpunktes soll nachfolgend weiter veranschaulicht werden.

Mechanismen der Vermittlung bioethischen Wissens: Persönlichkeitsbildung Diskussionsfähigkeit, der Umgang mit pluralen Wissensbeständen und das Vertreten einer eigenständigen Position zu gesellschaftlich und individuell bedeutsamen Fragen und Debatten sind die zentrale Ziele im Unterricht dieser Gruppe von Interviewten. Inhaltliche Besonderheiten des Themenfelds Biotechnologie und Bioethik werden aufgrund dieser Ausrichtung und Zielsetzung funktional umgedeutet. So wird beispielsweise die Aktualität bioethischer Themen sowie ihre enge Verknüpfung mit Fragen des individuellen Lebens als Qualitätsmoment für die Weckung von Aufmerksamkeit und Interesse beschrieben. Weil das Thema aktuell ist, sind SchülerInnen zumeist dem Thema gegenüber aufgeschlossener, fällt es leichter, Interesse und Aufmerksamkeit am Unterricht aufrecht zu erhalten. Auch das Lernziel des Umgangs mit prozesshaften und pluralen Wissensbeständen wird methodisiert und nicht in seiner inhaltlichen Varianz ausbuchsta-

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biert. Indem die Befragten dieser Gruppe davon ausgehen, dass verschiedene Methoden der Pluralität des Wissens Rechnung tragen, hoffen sie, über die Unterschiedlichkeit der Zugänge auch eine thematische Orientierung zu ermöglichen. Wenn, so die formulierte didaktische Grundannahme, die Auswahl von Informationen selbstständig erfolgt und von einer Dokumentation der Arbeitsschritte und Lernprozesse begleitet ist, zeigt sich in der Präsentation der Ergebnisse, beispielsweise als „Marktstand“ oder „mind-map“, eine fundierte Inhaltlichkeit. „Also, es war uns wichtig die Vielfalt ihnen zu zeigen und zum anderen auch nicht diese, der Schule wirft man ja oft vor, dass es diese Häppchen gibt. So genau portioniert auf 45 Minuten und genau das wollten wir nicht. Sondern ihnen eher so einen Haufen hinlegen und sagen, jetzt sucht mal bitte, das was ihr braucht. Wir helfen euch, aber ihr sucht“ (Interview Dom/Frankenberg: 5).

Für die hier zitierten Lehrkräfte steht das selbstständige Erarbeiten von Wissensbeständen im Mittelpunkt ihrer Bemühungen. Sie gehen davon aus, dass mit der Zunahme von Wissen auch die Notwendigkeit einer Auswahl von Wissensbeständen verbunden ist, und dass es für SchülerInnen deshalb wichtig ist, diese Auswahl selbstständig vorzunehmen. Verfahren, Wege und Strategien der Auswahl werden dabei als bekannt voraus gesetzt: sie sollen sich aus dem „Haufen“ etwas heraussuchen. Da Kriterien, inhaltliche Leitlinien oder Vorgehensweisen keine Erwähnung finden, scheint wesentlich, dass SchülerInnen überhaupt eine Auswahl treffen. Damit wird das Thema zum einen handhabbar gemacht, zum zweiten kann es dann inhaltlich vertieft werden. Die Methode des „Marktstandes“ dient dazu, das Sachgebiet ausführlich vorzustellen. Die Methode der „mind-map“ ermöglicht eine strukturierte Darstellung unterschiedlicher Wissensbestände. So erzählt ein Lehrer: „Es gibt oft kein Fazit. Was ich oft mache, ist eine mind-map am Ende. Dass ich an der Tafel dann versuche, ein mind-map zu machen. Verschiedene Aspekte, die wir diskutiert haben. Oder ich sage, sie sollen den Text umsetzen in mind-map. Das kommt schon öfter vor. Und dann, das halte ich dann an der Tafel fest oder trage es zusammen mit denen. Das scheint mir oft eher der Sachlage zu entsprechen, weil es offener ist. Also kann man zu verschiedenen Ergebnissen kommen“ (Interview Hahne: 7).

Hier hat die verwendetet Methode eine doppelte Funktion wie auch einen Nachteil. Sie soll zum einen die Pluralität von Meinungen abbilden. Zum zweiten soll sie das Lernziel der individuellen Meinungsäußerung steuern, zu Äußerungen und Positionierungen anhalten, ohne aber diesen Prozess inhaltlich zu strukturieren. Die verschiedenen Positionen werden erfasst, stehen aber in keiner Beziehung zueinander.

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Die durch die Lernenden vorgenommene Auswahl von Wissensbeständen und die anschließende Erarbeitung einer eigenen Stellungnahme erfolgt über und mit Hilfe von Diskussionen. Diskutieren und somit das Formulieren eigener Stellungnahmen wie auch das Zur-Kenntnis-Nehmen anderer Positionen ist den befragten Lehrenden dieses Typus’ ein zentrales Anliegen. Diskussionen bilden die Basis ihres Unterrichts und die angestrebten „eigenen Stellungnahmen“ der Lernenden werden in diskursiver Auseinandersetzung entwickelt. Jedoch erhalten die SchülerInnen wenig Hilfestellung für diese verbale Aktivität. Vielmehr überwiegt die Einschätzung, dass Diskussionen quasi naturwüchsig erfolgten, sich „ganz einfach so“ ergäben und sogar „im luftleeren Raum“ stattfänden. Sie gelten als leicht zu handhabender Teil des Unterrichts, der sich immer wieder wie von selbst entwickelt. Die methodische Aktivität der Lehrkräfte zielt weniger auf die Debatte und den Austausch von Einschätzungen sondern vielmehr auf die Meinungsäußerung an sich: Abstimmungen, Gruppeneinteilungen für das Zusammentragen von Pro- und Kontra-Argumenten oder das Rollenspiel illustrieren die Notwendigkeit, die Form zu bedienen: Nicht nichts sagen. Professionsverständnis Methodisch orientierte Lehrkräfte verstehen sich in erster Linie als Organisatoren von Unterricht. Sie sehen ihre Aufgabe darin, den Schülerinnen und Schülern Informationen zur Verfügung zu stellen und einen strukturierten Raum für die Erlernung der oben genannten sozialen Fähigkeiten zu schaffen. Im Gegensatz zu christlich motivierten Lehrkräften wollen diese Lehrkräfte nicht Ratgeber der Lernenden sein, sondern eher eine Art Informationsbörse, die den Schülerinnen und Schülern Wissensbestände zur Verfügung stellt. Die spezifischen Herausforderungen des Wissensgebiets „Biotechnologie/Bioethik“, dessen Vielfalt und rasante Veränderung, stellen für die Lehrenden dieses Typs eine Herausforderung dar, die sie gern annehmen. Dem Problem der Pluralität von Deutungsmöglichkeiten biopolitscher Wissensbestände begegnen die Lehrkräfte dieser Gruppe, indem sie sich mit eigenen Stellungnahmen und normativen Vorgabe zurückhalten. Methodisch orientierte Lehrkräfte versuchen, sich möglichst wenig als Person in den Unterricht einzubringen, sondern vielmehr den Unterrichtsablauf zu moderieren. „Es ist auch nicht meine Aufgabe, die in irgendeine Richtung zu lenken. Sondern ich habe versucht, allgemein zu informieren und habe dann eigentlich von den Schülern erwartet, dass sie sich ihre eigene Meinung dazu bilden. (...) Ich denke immer, der bessere Weg ist, man geht von hinten herum. Man macht im Unterrichtsgespräch fest oder in der Diskussion, dass sie zu einer eigenen Einsicht kommen“ (Interview Wald: 2/ 7).

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So zielt zwar der Unterricht auf Selbstpositionierungen der SchülerInnen ab, eine solche gilt aber nicht für die Lehrkräfte. Nur auf Wunsch und Aufforderung sind die methodisch orientierten Lehrkräfte bereit, ihre Einschätzung zum Thema abzugeben. Sie gehen davon aus, dass eine Stellungnahme der Lehrkraft die SchülerInnen beeinflusst und in ihrer Freiheit der Meinungsbildung beschränkt. Ihrem Professionalitätsverständnis zufolge gilt es, eigene Stellungnahmen zu vermeiden und die eigene Person aus dem Unterricht weitestgehend herauszuhalten. Ein „guter Lehrer“ sei neutral und habe die Aufgabe eines Moderators. Damit eng verbunden ist ein hoher Anspruch an die Selbstständigkeit der SchülerInnen. Nach Meinung der Befragten sind die SchülerInnen wenig darin geübt, sich Wissensbestände selbstständig zu erarbeiten. Darüber hinaus hätten sie Schwierigkeiten, eigene Meinungen zu entwickeln, da ethische oder religiöse Prägungen im Elternhaus zunehmend geringer würden. Insgesamt überwiegt aber die Einschätzung, dass die SchülerInnen an ethischen Fragen sehr interessiert sind und sich nach Anlaufschwierigkeiten gut in der Materie zurechtfinden. Die Lehrkräfte des methodisch orientierten Typus haben ein im Vergleich auffallend positives Bild von den Lernenden. Dies mag auch damit zusammen hängen, dass die Lehrenden inhaltlich keine Ansprüche formulieren und deshalb auch nicht enttäuscht werden können. Stattdessen scheinen die methodisch begründeten Anforderungen dieser Lehrkräfte im Hinblick auf selbstständiges Arbeiten auch Zufriedenheit zu produzieren, da dieser Anspruch offensichtlich erfüllt werden kann und erfüllt wird. So gesehen ist diese Grundhaltung bei der Unterrichtsgestaltung – zumindest aus der Sicht der Lehrkräfte – durchaus erfolgreich. Auch die Prozesshaftigkeit biopolitischer Wissensbestände birgt für die Gruppe der methodisch orientierten Lehrkräfte wenig Verunsicherung. In der raschen Zunahme neuer Wissensbestände sehen die Befragten vielmehr die Notwendigkeit und auch die Chance, dass sich auch das Verhältnis der Lehrkräfte zum Wissen ändern müsse. Es sei Lehrkräften heute schlichtweg nicht möglich, immer auf dem neuesten Stand der Forschung zu sein und das Bild vom Lehrenden als Wissensvermittler oder Hüter humanistischer Bildung könne nicht mehr länger aufrecht erhalten werden. Sowohl Lehrkräfte als auch SchülerInnen müssten in ihre Vorstellungen von einem „guten Lehrer“ auch dessen Unwissenheit und Unkenntnis bestimmter Sachverhalte integrieren. Diese Entwicklung wird von den Befragten keineswegs als problematisch oder negativ angesehen, sondern gilt vielmehr als zeitgemäß und angemessen für die heutige Schule. „Und das, denke ich auch, das wird in Zukunft immer mehr kommen, dass wir Lehrer auch nicht alles Hundertprozentig wissen können“ (Interview Dom/Frankenberg: 4).

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Darüber hinaus sehen die Lehrkräfte diese Veränderung als Chance, das Verhältnis zu den SchülerInnen in Richtung mehr Egalität zu gestalten. SchülerInnen und Lehrkräfte begreifen sich als gemeinsam Lernende, die sich bestimmte Wissensbestände erarbeiten. Dieser Vorgang wird als bereichernd und freudvoll beschrieben. „Also, mir hat es Spaß gemacht, auch mal wirklich auf dem gleichen Stand zu sein wie die“ (Interview Wald: 11).

Möglicherweise auftauchende Disziplinproblem in dieser Arbeitsweise werden von den Lehrkräften auch angesprochen, letztlich aber als unwesentlich beschrieben. „Ich denke, wenn man in der Klasse eine Position als Lehrer hat, hat es auch keinen Abbruch getan an Disziplin oder dem Ansehen oder an Sonstigem“ (Interview Dom/Frankenberg: 4).

Das Verhältnis von Lehrkräften zu ihren SchülerInnen gründet demnach nicht auf einem Vorsprung an Wissensbeständen, sondern auf einer Rollenvorgabe, einer „Position“. Hier zeigt sich eine Grenze der eher pragmatischen, methodisch orientierten Sicht auf die Welt. Weil die reine Existenz von Rolle, Positionen und Status nicht automatisch mit deren Legitimität und Angemessenheit verbunden ist, kann auch die Schule nicht als methodisch wohlkomponiertes Rollenspiel begriffen werden. Auch „Positionen“ müssen argumentativ und inhaltlich begründet werden. Umgekehrt aber hat diese Sichtweise den Vorteil, flexible Reaktionen auf gesellschaftliche Veränderungen zu ermöglichen. Bei fehlender inhaltlicher Festschreibung kann sich die Form ändern, ohne dass es zu professionellen Irritationen kommt. So können die methodisch orientierten Lehrkräfte die Prozesshaftigkeit biopolitischer Wissensbestände als positives Moment in ihre Professionalität integrieren. Sie modifizieren es in Richtung eines Selbstverständnisses als prozesshaft „lernende Lehrende“. Ebenfalls positiv in das Selbstbild integriert wird die ethische Dimension der Fragestellungen. Methodisch orientierte Lehrkräfte mit geisteswissenschaftlichem Hintergrund gehen davon aus, dass ihre Ausbildung sie in besonderer Weise befähige, ethische Themen zu reflektieren. So äußert zum Beispiel ein Biologie- und Religionslehrer: „Ich habe das Gefühl, dass ich das mit denen insofern leichter diskutieren kann, als ich von der Religion her methodisch besser vorbereitet bin als viele Biologie-Kollegen. Die haben eben das Problem, das Diskutieren nicht gelernt zu haben. Also viele Bio-Kollegen sind nicht darauf vorbereitet. Können das nicht. Methodisch jetzt. Und erarbeiten sich es dann vielleicht im Laufe der Zeit. Mir fällt es auch methodisch leicht, ich bin das Diskutieren quasi gewohnt“ (Interview Hahne: 11).

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Hier zeigt sich erneut das zentrale Merkmale dieser Befragtengruppe. Inhaltliche Neuerungen, thematische Probleme und normative Bewertungen werden handhabbar gemacht durch die Bereitstellung eines ihnen angemessenen methodischen Instrumentariums. Die Angemessenheit des Methodenrepertoires bemisst sich im vorliegenden Beispiel daran, dass sie die Pluralität ethischer und politischer Positionen zu Fragen der Biotechnologie bearbeitbar macht. Mit Hilfe der Methoden kann abgebildet werden, was inhaltlich so schwer abzuwägen und zu entscheiden wäre. Zumindest auf formaler Ebene wird thematisiert, was sachlich einem den Kopf sprengen könnte. Dieser Sinnbezug ‚funktioniert’, insofern er den Gegenstand tatsächlich bearbeitet und somit der schulischen Aufgabe, das Thema zu behandeln, gerecht wird. Seine pragmatische Ausrichtung zeigt sich darin, dass er die Lernziele weg von den Inhalten hin zu den Tugenden und Fähigkeiten der Einzelnen verschiebt. Dies entbindet diesen Typus von Lehrkräften der Verpflichtung zur inhaltlichen Auseinandersetzung.

5.

Sinnbezug Nihilismus und Notwendigkeit

In unserem Sample gibt es eine fünfte Gruppe von Lehrenden, deren Ausführungen von umfänglichem pädagogischen Pragmatismus gekennzeichnet sind und bis zur Resignation reichen. Diese Lehrkräfte beschreiben ihre Zielsetzungen und Vorgehensweisen im Unterricht durchgängig wenig pointiert und engagiert. „Und ich denke, dass sie sich Gedanken machen über die Situationen, über irgendwelche Tatsachen sich um irgendetwas Gedanken machen und sich das Für und Wider einfach überlegen. Und dann natürlich den religiösen, den menschlichen Aspekt mit reinbringen“ (Interview Gruppe: 11).

Dieser Gruppe von Lehrkräften geht es lediglich darum, dass Lernende sich mit den Folgen der Technologie beschäftigen und verschiedene Positionen kennen lernen. Die Formulierung einer eigenen Meinung, wie sie von den Lehrkräften mit anderen Sinnbezügen genannt wurde, findet nur am Rande Erwähnung. Ihre Themenauswahl biopolitischer Fragestellungen lässt keine Schwerpunktsetzung erkennen. Die Bandbreite reicht hier von Klonen über gentechnologische Veränderungen von Schafen über Stammzellenforschung bis hin zu Abtreibungen. Diese Auswahl ist nicht sachlogisch oder vom Gegenstand her begründet, sondern von den Lehrkräften, zum Teil gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern, per Assoziation und Zuruf thematisch zusammengestellt. Eine Lehrerin wird im Rahmen eines Projekts der Universität gebeten, sich hieran zu beteiligen.

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Biopolitische Fragestellungen umfassen nach Ansicht dieser Lehrkräfte kein spezifisches Wissensfeld, sondern „man kann es eigentlich immer machen“. Für einige der Befragten ist unklar, was sich genau eigentlich hinter dem Themenfeld Biotechnologie/Biopolitik/Bioethik versteckt. Sie gehen davon aus, dass sie Bioethik in ihrem Unterricht immer „so ein bisschen mit machen“ und alle Befragte dieser Gruppe stellen den Bezug zu der Thematik über den Lehrplan her. Lehrkräfte aus dieser Gruppe artikulieren keine eigenen, persönlichen Interessen an biopolitischen Fragestellungen. Die Thematik wird von außen, aufgrund von Vorgaben oder Anregungen an sie herangetragen. Materialien für den Unterricht beziehen die Lehrkräfte dieser Gruppe aus vorgegebenem Unterrichtsmaterial sowie mit Hilfe einer selbst erstellten Auswahl an Zeitungsartikeln. Darüber hinaus verwenden BiologielehrerInnen Materialsammlungen der biotechnologischen Industrie, und ReligionslehrerInnen Material der Kirchen, beispielsweise die „Hirtenworte“ der deutschen Bischöfe. Eigene Materialzusammenstellungen erfreuen sich aus didaktischen Gründen großer Beliebtheit. Zum einen führen die Befragten die Aktualität von Zeitungsartikeln an und vertreten die Ansicht, dass Aktualität bei der Gewinnung des Interesses der Lernenden eine wichtige Rolle spiele. Zum zweiten könnten so vorzugsweise Artikel ausgewählt werden, die einen „Tabubruch“ dokumentieren, „etwas Bahnbrechendes“. Dies sei hilfreich, da die Lehrkräfte die Erfahrung gemacht haben, dass Schülerinnen und Schüler auf diese Weise am ehesten zur Mitarbeit zu bewegen seien. Zum dritten wird mit Berichten so genannter „Betroffener“ im Unterricht gearbeitet. Gern werden Berichte betroffener Jugendlicher herangezogen, da die Lehrkräfte davon ausgehen, dass diese Fallbeispiele Identifikation und emotionale Betroffenheit bei den Lernenden bewirken und auf diese Weise das Interesse der Schülerinnen und Schüler am Unterricht befördern. Die Bearbeitung des Materials im Unterricht erfolgt bei den pragmatisch/resignierten Lehrkräften zumeist in Gruppenarbeit. Hierfür erhalten die Lernenden Textmaterial, welches sie durch Recherchen im Internet ergänzen sollen, um es anschließend vor der Klasse zu präsentieren. Dabei beschreiben die Lehrkräfte, dass ihre Materialiensammlungen zum Teil veraltet seien und dass die Schülerinnen und Schüler aufgefordert werden, das Material mit Hilfe des Internets zu aktualisieren. „Also, ich gebe ihnen ja immer Texte, Materialien, die ich so habe, und die sind natürlich nicht immer die neuesten. Und dann suchen sie aber zu dem Thema noch andere Sachen. Bilder oder einfach andere, neuere Versuche. Jetzt gerade bei Tierzüchtung oder so was“ (Interview Stemplewski: 3).

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Neben der Textarbeit führen die BiologielehrerInnen auch kleine Versuche in Gruppenarbeiten durch, zum Beispiel DNA-Analysen bei Pflanzen. Im Unterschied zu der Gruppe der technisch-faszinierten Lehrkräfte beschreiben die Lehrenden aus dieser Gruppe die Versuchsvorgänge distanziert und reserviert. Sie betonen die Schwierigkeit der Versuche und beschreiben die Grenzen, an die ihre Schülerinnen und Schüler im Unterricht stoßen. Frontalunterricht befürworten die Lehrkräfte dieser Gruppe nur im Falle von sehr „arbeitsunwilligen“ Lernenden. Für sie ist die Arbeit in Gruppen, die selbstständige Recherche von Informationen und die anschließende Präsentation vor der Klasse die wichtigste Unterrichtsmethode. Unabhängig von Fach und Thema arbeiten alle Befragten mit diesem methodischen Dreischritt. In den Aussagen der Befragten dieser Gruppe fehlt jegliche Spezifizierung der biopolitischen Inhalte. Eine Besonderheit der Thematik findet nirgends Erwähnung und ist demzufolge auch bei Ausführungen zur Zielsetzung, Motivation, Themenauswahl und Methodik nicht zu finden. So sagt beispielsweise eine Lehrkraft: „Dann kommen neue wissenschaftliche Erkenntnisse dazu, die man mit einarbeitet, aber das Thema selbst haben wir schon lange“ (Interview Gruppe: 13).

Mechanismen der Vermittlung bioethischen Wissens: Reduktion Die Beschreibungen des konkreten Unterrichtsgeschehens sind lapidar, bagatellisierend und gekennzeichnet von einer resignierten Perspektive. So bemühen sich die Lehrkräfte zwar um die Integration bioethischer und biotechnologischer Wissensbestände in das bestehende Lernsystem, aber die Miss-Erfolge von Unterricht und Lernen zeigen, so die allgemein formulierte Ansicht, dass diese Bemühungen zum Scheitern verurteilt seien. Die Befragten dieser Gruppen beklagen die Prozesshaftigkeit des Wissens, das sie vermitteln. Einzig das oben bereits erwähnte Moment der „Aktualität“ findet eine positive Erwähnung, weil es – pragmatisch gewendet – als guter Aufhänger zur Motivation von SchülerInnen angesehen wird. Überwiegend beklagen die Lehrkräfte aber, dass ihnen Zeit fehle, um sich der Komplexität und Differenziertheit neuen Wissens widmen zu können. Sie gehen davon aus, das es für Lehrerinnen und Lehrer grundsätzlich unmöglich sei, die wissenschaftliche Entwicklung zu verfolgen, da hierfür die Zeit fehle und die Alltagsarbeit zu dominant sei. Aus diesem Grund seien ihre Materialien „immer ein bisschen veraltet“ und sie seien deshalb nicht in der Lage, spezifische Fragen der Jugendlichen zu beantworten.

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„Die Schüler wollten wissen, wie weit eigentlich der Stand der Dinge ist, die rein technischen, formalen Dinge. Also, die kann man in der Schule gar nicht klären“ (Interview Gruppe: 4).

Offen bleibt bei dieser Aussage, was genau denn ungeklärt bleibt, die schnelle Weiterentwicklung der Wissensbestände oder die Verlässlichkeit von Wissen angesichts der andauernden und schnellen Veränderungsprozesse. Vielmehr wird auch hier nur umrissen und angedeutet, welche Zusammenhänge und Themen in der Schule zur Sprache kommen. Man gewinnt den Eindruck, dass die Lehrenden aus dieser Gruppe die Veränderungen in den Wissensbestände lediglich diffus erleben, sie als Begrenztheit des eigenen Wissens erfahren und sie nicht zu erklären und zu reflektieren vermögen. Die inhaltliche Vielfalt des biopolitischer Themenfeldes bearbeiten die Lehrkräfte aus der Gruppe der Pragmatisch/Resignierten, indem sie entweder die thematische Auswahl vollständig den SchülerInnen überlassen oder aber indem sie ihr eigenes Interessensgebiet zum Thema machen. Im ersten Fall werden die SchülerInnnen aufgefordert, über ein brainstorming einen Themenbereich für die selbstständige Bearbeitung auszuwählen. Im zweiten Fall sind die LehrerInnen selbst an bestimmten biologischen Abläufen, wie zum Beispiel Tierzüchtung, interessiert und entscheiden sich deshalb dafür, diesen Bereich in ihrem Unterricht zu behandeln. Beide Vorgehensweisen zeichnen sich auch hier vor allem durch Pragmatik aus: in der Themenauswahl greifen die Lehrkräfte auf erprobte Strategien ihres Unterrichtens zurück und nehmen keine inhaltliche Strukturierung des Themenfeldes vor. Gleichermaßen pragmatisch gestaltet sich der Umgang mit dem Problem der ethischen Bewertung technologischer Entwicklungen. So sehen die Befragten ethische Urteile als Ausdruck einer persönlichen Meinung und Einschätzung an und klammern durch diese Sichtweise den Prozess der Meinungsfindung wie auch die Inhalte einer Begründung von Urteilen aus. So werden ähnlich der Gruppe der methodisch orientierten Lehrkräfte auch hier ethische Urteile individualisiert. Berichte von sogenannten „Betroffenen“ dienen der Illustration der Individualität ethischer Urteile. Ethische Urteile und Positionen stehen nebeneinander, denn „es hat ja jeder seine Meinung“, die Vielfalt der „Meinungen“ soll abgebildet werden und diese Abbildung verstehen die Befragten als „neutrales“ Bild des Themenfeldes, welches sie den Lernenden vermitteln wollen. Das Lernziel pragmatisch/resignierter Lehrkräfte ist bescheiden. Es besteht in der Kenntnisnahme verschiedener Positionen, nicht aber in der Stärkung der Urteilsbildung der Lernenden. Damit werden Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler entlastet, und offenbar ist Entlastung nötig. Die Befragten dieser Gruppe sehen den Erfolg des Unterrichts bereits aufgrund schulstruktureller Vorgaben beeinträchtigt: Zu wenig Fachunterricht, desinteressierte Kollegen

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und Kolleginnen, Überforderung oder mangelnde Intelligenz der Lernenden. Eine Lehrerin meint: „Und es wird immer welche geben, die…die können das jetzt umsetzen und werden damit was machen und andere haben es in der nächsten Stunde wieder vergessen. Also das ist einfach so. Oder interessieren sich einfach für so was nicht“ (Interview Stemplewski: 9/10).

Auch die Thematik selbst beurteilt die Gruppe dieser Lehrenden eher resignativ. Sie sind der Ansicht, dass biotechnologische Entwicklungen zukünftig zunehmen werden und dass wenige Einflussmöglichkeiten seitens einzelner Bürgerinnen und Bürger bestehen. Äußerungen wie „Da mach ich mir gar keine Illusionen“ oder „Damit muss man sich abfinden“ gehören zu den typischen Aussagen dieser Gruppe von Lehrkräften.

Professionsverständnis Auch das Professionsverständnis der pragmatisch/resignierten Lehrkräfte ist durch die Vorstellung einer geringen Gestaltungsmacht geprägt. Wie bereits erwähnt gilt dies zum einen im Hinblick auf strukturelle Probleme von Schule wie große Klassenstärken und mangelnde Kooperation zwischen den Lehrkräften. Dabei werden als Gründe für die fehlende Kooperation nicht nur die Arbeitsbelastung, sondern auch die Persönlichkeit von Lehrenden genannt. „Man müsste mehr zusammenarbeiten, aber das ist einfach nicht so. Die Leute, die kann man nicht ändern. Man kann auch jetzt nicht sagen, jetzt macht ihr mal ein Team. Wir sollen ja den Schülern Teamarbeit, Methodenkompetenz und alle möglichen Kompetenzen aneignen, aber die findet man ja bei uns kaum“ (Interview Blume: 6).

Andere hingegen tun sich mit ähnlich denkenden Kolleginnen und Kollegen zusammen und bilden eine Gruppe pragmatisch bis resigniert denkender Lehrkräfte innerhalb des Kollegiums. Zum zweiten drückt sich die resignierte Haltung der Lehrkräfte in dem zum Ausdruck gebrachten SchülerInnen-Bild aus. Lernende werden als defizitär beschrieben und Potenziale und Stärken von Jugendlichen finden nur am Rande Erwähnung. Beklagt wird ein Mangel an elementaren Fähigkeiten, wie selbstständiges Erarbeiten von Texten, Arbeitshaltung, Gestaltung von Gruppenarbeiten. Desinteresse an politischen Fragen, Angepasstheit und eine instabile, an dem jeweiligen Kontext ausgerichtete Moral werden zur Charakterisierung der Schülerinnen und Schüler häufig genannt. Lobende Erwähnung finden lediglich Kinder und Jugendliche, die von einem Bauernhof kommen. Sie hätten aufgrund ihres lebensweltlichen Bezuges (gentechnologisch veränderte Nahrungsmittel)

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ein starkes Interesse an bioethischen Themen und stellten von sich aus Fragen zu den Folgen der Anwendung biotechnologischer Entwicklungen. Alle übrigen Schülerinnen und Schüler aber werden als weitgehend uninteressiert an ethischen Fragestellungen beschrieben. „Überdruss“ und „Übersättigung“ werden als mögliche Ursache vermutet, aber nicht weiter ausgeführt. Es erscheint als ein Widerspruch, dass gerade diese Gruppe von Lehrkräften den Lernenden, die sie als desinteressiert und faul beschreiben, so viel Gestaltungsraum im Unterricht übertragen. Schülerinnen und Schüler sollen die inhaltliche Gestaltung der Themenauswahl vornehmen und an ihnen machen die Lehrenden das Gelingen oder Scheitern des Unterrichts fest. Statt den Unterricht selbst vorzustrukturieren, überlassen sie die Gestaltungsmöglichkeiten zu einem großen Ausmaß an ihr Gegenüber. So überrascht nicht, dass die Lehrenden sich in ihren Handlungsmöglichkeiten als begrenzt erfahren. Begrenzung betreiben die Lehrkräfte aus der Gruppe der pragmatisch/resignierten Lehrkräfte häufig. Beispielsweise sind die Themenstellungen ihres Unterrichtes so einfach strukturiert, dass die Lehrkräfte „nicht enttäuscht werden“. Dadurch wird das inhaltliche Niveau des Unterrichts gering gehalten. Es werden kaum Ansprüche an die SchülerInnen gestellt, da man davon ausgeht, dass sie die Ansprüche sowieso nicht erfüllen werden. „Gerade wenn man jetzt so eine Gruppe mit 34 hat, dann bin ich dann froh, ich habe eher solche Aspekte oder solche Themen, die ich auch noch vermitteln kann oder wenn ich die Schüler arbeiten lassen kann, damit ich sie einfach aushalte die Stunde. Weil, wenn man jetzt so ein Thema machen würde, erst mal ist man dann oft enttäuscht, weil dann so wenig kommt, die Arbeitshaltung nicht entsprechen ist. Und gerade bei so einem Thema begreift man es dann natürlich umso weniger, wenn dann noch rumgeblödelt wird“ (Interview Gruppe: 9).

Hier ist die Haltung gegenüber den Lernenden eng verzahnt mit der Unterrichtsgestaltung. Wenn die Schülerinnen und Schüler wenig arbeitsfreudig sind, dann sollen auch die Themenstellungen entsprechend ausgerichtet sein. Auch das Verhältnis zwischen SchülerInnen und Lehrkräften ist für die Unterrichtsgestaltung von Relevanz. Pragmatisch/resignierte Lehrkräfte gehen davon aus, dass ein Vertrauensverhältnis zwischen Lehrkräften und ihren SchülerInnen die Grundvoraussetzung für die Behandlung biopolitischer Themenstellungen sei, da gerade diese Themen „so persönlich“ seien. Ein Vertrauensverhältnis besteht aber aufgrund der beschriebenen indifferenten Moral der Schülerinnen und Schüler sowie der großen Klassenstärken nur äußerst selten, so dass die Behandlung bioethischer Themen im Unterricht dieser Lehrkräfte nur sehr eingeschränkt möglich ist. Gleichzeitig ist das Verhältnis zu den SchülerInnen auch durch eine Form von Unsicherheit gekennzeichnet. Dies wird zum Beispiel deutlich in der Frage der Leistungskontrolle bei ethischen Fragestellungen. Hierzu sagt ein Lehrer:

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„Aber bei ethischen Fragestellungen ist die Gefahr, dass man als Schüler und als Schülerin meint, man müsste schreiben, was der Lehrer gern hört. Und glaubt zu wissen, was er gern hört. Was gar nicht stimmen muss. Und man sich dann, wenn die Note nicht die ist, die man sich als Schüler erhofft hat sagt: Jetzt hab ich die Note nicht, weil ich ne andere Meinung vertreten habe“ (Interview Koch: 9).

Lehrkräfte aus dieser Gruppe lehnen Leistungskontrollen bei ethischen Fragestellungen ab und begründen dies unter anderem mit der oben erwähnten Möglichkeit einer Beschwerde seitens der SchülerInnen. Damit werden die SchülerInnen erneut für pädagogische Entscheidungen in die Verantwortung genommen: Weil es Beschwerden geben könnte, hält der Lehrer es für nötig, seine Unterrichtsweise anzupassen. Umgekehrt unterstellt er seinen Schülern und Schülerinnen Anpassung und ein Kreislauf von Zuschreibungen negativer Färbungen wird etabliert. Diese werden mit dem Hinweis auf strukturelle Bedingungen und Zwänge von Schule und Unterricht zementiert. Alle Lehrenden dieser Gruppe können den von ihnen entworfenen Zirkel der Negativität nicht verlassen. Ihre pragmatisch bis resignierte Ausrichtung hindert sie daran, die Neuerungen, Verwirrungen und Herausforderungen der Themenfelder Biotechnologie/ Bioethik zu bearbeiten. Stattdessen werden einzelne Elemente der neuen Thematik in alte Unterrichtskonzepte integriert und aufgrund der Kontinuität postuliert, dass die neue Thematik schon „seit Jahren“ und „bereits seit langem immer mitthematisiert“ werde. Damit ist dann auch das Neue in diesen Kreislauf eingeordnet.

6. Bilder von der Welt und Haltungen zur Welt Den beschriebenen fünf Typen der Rezeption und Weitergabe bioethischer und biotechnologischer Wissensbestände liegt jeweils ein Weltbild und die damit verbundenen Wertperspektiven zugrunde. Die befragten Lehrkräfte integrieren das neue Wissen in eine Kosmologie von Vorstellungen über die äußere Natur, über die Natur des Menschen und über die gewünschten Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie machen die neuen Wissensbeständen zu einem Bestandteil ihres Weltbilds. Ein leitendes Weltbild, das wir eingangs in Anlehnung an Günter Dux und Bernhard Gill als „subjektivistisch“ bzw. als „identitätsorientiert“ bezeichnet haben, zeigt sich bei den Lehrkräften, deren Sinnstrukturen an christlichen Wertmaßstäben orientiert sind. Die christliche Orientierung bietet den Lehrkräften einen Sinnhorizont, der es ihnen ermöglicht, die Welt als Ganzes zu begreifen, ihr eigenes Dasein darin einzuordnen und diesem Struktur und Bedeutung zu verleihen. Beim Umgang mit biopolitischen Fragestellungen zeigt sich die

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vereinheitlichende Deutung der Welt zum einen darin, dass biotechnologische Entwicklungen vor allem unter dem Gesichtspunkt der Grenzüberschreitungen betrachtet werden. Die Frage „Dürfen wir alles, was wir können?“ stellt den zentralen Bezugspunkt ethischer Überlegungen dieser Gruppe von Lehrenden dar und zielt auf die Erhaltung von Ordnung, Struktur und Organisation der Gattung. Indem vor allem grundlegende Fragen der Lebensführung und des Umgangs mit der Natur im Unterricht behandelt werden, will dieser Typus von Lehrkräften mittels der Postulate „Verantwortung“ und „Respekt“ die Welt zusammenhalten. Er reflektiert die Entwicklungen der Biotechnologie und Biomedizin im Rahmen allgemeiner religiös-philosophischer Fragestellungen und liefert die ethische Beurteilung gleich mit. Sie soll dafür sorgen, dass sich zwar das Wissen verändert, aber die Erklärungen die gleichen bleiben können. Auch die Rezeption und Vermittlung biopolitischer Wissensbestände durch pragmatisch bis resignierte Lehrkräfte ist von einem „subjektivistischen“ und „identitätsorientierten“ Denken bestimmt. Für diese Gruppe von Lehrkräften ist die vorfindliche, gegebene Welt so dominant, dass sie sich nur einordnen können. Zwar fehlt bei diesen Lehrkräften die religiöse Überzeugung, an deren Stelle tritt jedoch eine Art institutioneller Pragmatismus. Pragmatisch/resignierte Lehrkräfte gehen davon aus, dass sie einen festen Platz innerhalb der schulstrukturellen und politisch-organisatorischen Strukturen einnehmen, der ihre Aufgabe, den Sinn ihres Tuns und ihre Funktion bestimmt. Hier überwiegt die Pflicht und entsprechend mühsam ist der Alltag. Neue Inhalte und Wissensbestände werden in den bestehenden Unterricht integriert, ohne dass dem Neuen, der Spezifik der biotechnologischen und bioethischen Inhalte auf den Grund gegangen wird. Diese Lehrenden bleiben inhaltlich unpräzise und überlassen es der Notwendigkeit oder dem Zufall, mit welchen Themengebieten sie ihren Unterricht gestalten. Da sie annehmen, dass die bestehende Struktur keinen Spielraum für die Integration neuer Wissensbestände lässt, benutzen sie die neuen Inhalte als attention-getter und um ihrem Unterricht den Anstrich von Aktualität zu verleihen. Dies bleibt oberflächlich, weil sich eigentlich nichts ändern kann und soll. Deshalb erscheinen ihnen auch die Entwicklungen der Biotechnologie als quasi naturwüchsig, als unvermeidbar. Sie werden hingenommen und eine ethische und/oder politische Einschätzung bleibt letztlich hinfällig und irrelevant. Davon unterscheidet sich der Unterricht der technologisch faszinierten Lehrkräfte wie auch der der politisch/ethisch engagierten Lehrenden. Diese Gruppen gehen nicht davon aus, dass die Sinnhaftigkeit der Welt vor allem in der Erfüllung eines großen Plans, eines einheitlichen Entwurfs, in den sich die Individuen einordnen können, liege. Vielmehr formulieren sie den Anspruch, dass sich etwas als sinnvoll erweist, wenn es eine Funktion erfüllt. Ihr Denken

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ist, um es mit Bernhard Gill zu sagen, „utilitätsorientiert“, einem Weltbild verpflichtet, das sich historisch mit der Herausbildung der modernen Naturwissenschaften als evolutionäre, systemische und funktionalistische Perspektive entwickelte. Demzufolge ist auch die Rezeption und die Weitergabe von Neuem vor allem davon geprägt, dass biotechnologische Entwicklungen im Hinblick auf ihren Nutzen diskutiert werden. Ihre Legitimität und ihr Sinn wird daran bemessen, ob sie der individuellen Heilung oder der Lösung gesellschaftlicher Probleme dient und um dies zu beurteilten, wird der Vermittlung der biologischen und technischen Basisinformationen ein große Bedeutung zugeschrieben. Diese ist allerdings als Grundlage für eine politisch und/oder ethische Bewertung nicht geeignet und an dieser Stelle werden grundlegende Werthaltungen aktiviert. So gehen die technologisch faszinierten Lehrkräfte davon aus, dass der Biotechnologie eine Schlüsselrolle bei der Lösung individueller sowie gesellschaftlicher Probleme zukommt, während die politisch/ethischen Lehrkräfte genau dieses Potenzial der Biotechnologie in Frage stellen und auf Risiken verweisen. Dementsprechend wählen die Gruppen die im Unterricht zu behandelnden Themenbereiche aus. Die technologisch faszinierten Lehrkräfte behandeln vorwiegend Fragen aus dem Bereich der Grünen Gentechnologie und konzentrieren sich damit auf ein Themenfeld, welches aus politisch/ethischer Perspektive die harmlosere Variante der Biotechnologie darstellt. Die politisch/ethisch engagierten Lehrkräfte behandeln vor allem Fragen der möglichen Manipulation von Menschen in ihrem Unterricht und damit den ethisch strittigsten Anwendungsbereich der Biotechnologie. So wird das diesem Denken zugrunde liegende Verständnis von „Nützlichkeit“ zwar unterschiedlich bewertet und inhaltlich gefüllt, ist aber Anlass und Motor beider Gruppen für eine engagierte Auseinandersetzung mit den Entwicklungen der Biotechnologie. Davon unterscheidet sich die Vorgehensweise methodisch-didaktisch argumentierender Lehrkräfte, deren Verständnis von „Nützlichkeit“ sich weniger auf Wissensinhalte denn auf Fertigkeiten und Kompetenzen richtet. Sie folgen einem Denken, das Dux als „funktionalistisch“ charakterisiert, insofern es den Alltag und die jeweilige Lebenswelt in sich zu stabilisieren beabsichtigt. Im Denken und im Unterricht von Lehrenden dieses Typs spielt die Einheit der Welt oder die Überzeugung und das Engagement für eine Wissensrichtung und deren Sinnhaftigkeit eine geringe Rolle. Insofern sind diese Lehrkräfte gegenüber den inhaltlichen Aspekten der neuen Thematik leidenschaftslos und wählen einen im Sinne der Schule rationalen und systemstabilisierenden Weg für die Bearbeitung des neuen Wissensgebiets, indem sie die Pluralität der Positionen als Lernfeld für soziale Fähigkeiten methodisch aufarbeiten.

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Die fünf hier beschriebenen Typisierungen des Umgangs mit neuen Wissensbeständen in der Schule sind trotz ihrer Unterschiede in Inhalt, Vorgehensweise und Intensität alle davon gekennzeichnet, dass das neue Thema Biotechnologie/Bioethik zunächst einmal anschlussfähig gemacht werden muss. Dabei spielt die Integration neuer Wissensbestände in bestehende Weltbilder eine wichtige Rolle, da so die dem Thema innewohnende Unsicherheit gebannt werden kann. Mit Hilfe von Weltbildern werden Routinen gestützt, Bekanntes stabilisiert und Sicherheit vermittelt. Sie stellen eine Möglichkeit dar, mit unsicherem Wissen umzugehen, da sie alltagsorientiert, praktisch und relativ stabil sind. Auf diese Art und Weise wird die hochkomplexe Materie Biotechnologie/Biopolitik für den schulischen Alltag anschlussfähig gemacht. Die Lehrkräfte können auf Bekanntes zurückgreifen, an vorhandene Routinen anknüpfen und auf der Basis dieser Sicherheiten sich allmählich neuen Fragestellungen zuwenden. Zum anderen kann mit der Orientierung an einem Weltbild aber auch Unflexibilität und Dogmatismus dem Neuen gegenüber verbunden sein. Durch die Ankopplung an ein Weltbild werden die Äußerungen der Lehrenden zu moralischen Positionsbekundungen. Die Befragten haben schon eine Antwort und brauchen deshalb auch keine politische oder ethische Reflexionskompetenz. Ein politisches oder ethisches Problem, das der Reflexion auf moralische Überzeugungen, Argumente und Urteile bedürfe, würde nur dann entstehen, wenn aufgrund neuartiger Fragen oder Situationen moralische Beurteilungen als uneindeutig, unklar oder fraglich angesehen werden. Dies setzte eine Problemorientierung voraus, die hier jedoch zumeist in den jeweils vorherrschenden Zielen der Wahrnehmenden bzw. Handelnden verschwindet. Wir verstehen die beschriebene Integration biopolitischer Wissensbestände in Sinn- und Wertperspektiven als einen Mechanismus der Veralltäglichung wissenschaftlichen Wissens. Die Veralltäglichung besteht darin, dass Expertenwissen in die Zeitrhythmen, die Normalität und Routinen von Schule eingebracht und in eine Alltagspraxis schulischen Lernens integriert wird, in der neue Wissensbestände auf Fächer verteilt, ihres Problemzusammenhangs entledigt und der Simplifizierung ausgesetzt sind. Als ein weiteres Element der Veralltäglichung wissenschaftlichen Wissens zeigt sich in der oft beschriebenen Praxis der Befragten, in ihrem Unterricht unterschiedliche Haltungen und mögliche Gründe des Handelns im Rahmen eines Meinungsaustauschs zu den biomedizinischen Themen und Inhalten auf zu rufen, ohne die Pluralität der Ansichten und Meinungen ein zu schränken, einer Prüfung oder argumentativen Auseinandersetzung zu unterziehen. Hier zeigt sich eine Haltung und Umgangsform, die den Alltag von professionellen und wissenschaftlichen Situationen unterscheidet. Im Alltag ist die Vielfalt verschiedener Wertperspektiven zu einem Sachverhalt weit verbreitet und zudem

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auch akzeptiert. Es gehört zu den Alltagserfahrungen, dass Menschen mit wechselseitig unterschiedlichen Prämissen und Argumenten aneinander vorbei reden. Verschiedene Werthaltungen sind anerkannt, weil sie für unterschiedliche Bereiche der Lebenspraxis ihre Berechtigung immer wieder bestätigen. In beruflichen oder wissenschaftlichen Kontexten aber werden diese Werthaltungen zumeist funktional reduziert und einer dominanten Logik, z.B. dem Berufsethos oder dem Gebot von Werturteilsfreiheit angepasst. Die Befragten aber artikulieren keine professionelle Haltung zum Wissen. Sie verwenden Alltagswissen als Gebrauchswissen und weil es orientierenden Charakter hat. So ist diese Orientierung an einem Weltbild letztlich als ambivalent einzuschätzen: Einerseits erfüllt sie die Funktion, biotechnologische und bioethische Inhalte für den schulischen Unterricht anschlussfähig zu machen. Andererseits ermöglicht sie, dass das Neue und Spezifische der Thematik unsichtbar gemacht wird.

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Kapitel IV Plausibilisierungen: Neue Rationalitäten „Sollen wir uns an die Vernunft halten? Nichts wäre steriler als das. (...) Wir sollten spezifische Rationalitäten untersuchen, statt ständig vom Fortschreiten der Rationalisierung im allgemeinen zu reden“ (Foucault 1994: 244).

Viele biotechnologische und biomedizinische Entwicklungen machen die Körper und die Körpersubstanzen zu Objekten von Tausch, Optimierung und Planung. Mit den neuen Biotechnologien entstehen neue Begründungen, neue Sichtweisen, neue Rationalitäten, die sich mit bekannten Rationalitäten und Sinnhorizonten verschränken, überlagern und abwechseln. Als spezifische Substanzen und Substrate des Denkens, Begründens und Verstehens begleiten sie die neuen Technologien, gestalten Prozesse wie auch Formen des Nachdenkens und des Umgangs mit den Technologien. Transformationen, Innovationen und Veränderungen machen eine Umstrukturierung und Verschiebung von Rationalitäten und Begründungslogiken erforderlich, damit sie als neue Realität wahrgenommen und anerkannt werden können. Dementsprechend finden sich in unserem Erhebungsmaterial auch Muster der Darstellung und Erzählung, die übergreifend vorhanden sind und sich als Besonderungen mit großer Verbreitung beschreiben lassen. Jenseits ihrer Anund Einpassung in ein Weltbild sind mit den neuen Wissensbeständen aus der Biotechnologie und der Bioethik auch den fünf oben beschriebenen Typen gemeinsame Darstellungen, Verstehensprobleme und Begründungen zu finden, die wir in Anlehnung an Paul Rabinow als „Rationalitäten“ bezeichnen.1 Wenn wir im Folgenden von „Rationalitäten“ sprechen, folgen wir nicht einem in der deutschen Soziologie verbreiteten Verständnis von Rationalität als Rationalisierung, das die Zurichtung und Funktionalisierung von Vernunft als

1

Rabinow 2004, speziell Kapitel 1: 31-55.

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„instrumentell“, „entfremdet“ oder „entzaubert“ kritisiert.2 Auch finden in unserer Reflexion von „Rationalitäten“ Vorstellungen von sachlich-geltungszentriertem kooperativen Wettbewerb um die besten Argumente, wie sie beispielsweise Jürgen Habermas formuliert hat oder sie in Theorien deliberativer Demokratie verhandelt werden,3 keine Berücksichtigung. Vielmehr sprechen wir von Rationalitäten im Plural, im Sinne empirisch auffindbarer Plausibilisierungsstrategien oder Logiken des Verstehens und Verhandelns. Dabei sind Rationalitäten nicht nur in Form von Argumentationen, vernunft- und wissensgeleiteter Sachlichkeit und systematischer Begriffsarbeit vorfindlich. Sie zeigen sich als sinngebende Strukturen und handlungsleitende Maximen auch, wenn sie narrativ, affektiv oder moralisch-normativ präsentiert werden. Das hier verwendete Verständnis des Begriffs „Rationalitäten“ ist als Momentaufnahme von Beschreibung, Erfassen und Formgebung zu verstehen. Als Rationalitäten zeigen sich Versuche, neue Sachverhalte zu begreifen, die verwendeten Bezeichnungen zu erweitern und zu erneuern oder auch zu befestigen und zu aktualisieren. Indem Rationalitäten praktiziert werden, d.h. indem sich geäußert, Fragen gestellt, Antworten gesucht und gegeben werden, stellen sie einen Bezug zur Gegenwart her, machen sie sichtbar und erfahrbar und konstituieren sie auf diese Art und Weise mit. Lehrer und Lehrerinnen praktizieren Rationalitäten, indem sie wissenschaftlich geleitete Gedanken in konkrete Praktiken umsetzen. Die mit der Biotechnologie verbundenen neuen Wissensbestände, neuen Praktiken, neuen Formen des Lebens und der Arbeit haben Auswirkungen auf soziale und ethische Verhaltensweisen und Alltagspraktiken, die im Unterricht thematisiert und sichtbar gemacht werden müssen. Bei der Betrachtung der Biotechniken und Bioethiken lösen sich herkömmliche Klassifikationen, z.B. Natur/Kultur, auf, ihre Bedeutungen verändern sich, sie stoßen zusammen mit neuen Begriffen und Bezeichnungen und ältere Klassifikationen werden umoder neudefiniert oder auch erneut befestigt. Diese Prozesse der vorläufigen Annäherung und Bezeichnung neuen Wissens und neuer Techniken, die Rekonfigurationen von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit im schulischen Unterricht empirisch zu erfassen, soll mit der Beschreibung der in unserem Untersuchungsmaterial dominant genannten Rationalitäten versucht werden. Dies folgt 2

3

Siehe dazu den Überblick bei Liebsch 2006. Dies bedeutet nicht, dass ein solches Verständnis von technischer Rationalität sich für die Biopolitik als spezifischer Verwertungszusammenhang nicht zeigen ließe. Petra Gehring 2006 oder auch Thomas Lemke 2006 haben genau diesen Aspekt der neuen Biotechnologien präzise veranschaulicht. Da wir auf der Basis unseres empirischen Materials aber vor allem Aussagen darüber machen können, welche Erklärungsmuster, Sinnlogiken und Fragestellungen im Umgang mit dem neuen Wissen sich für die interessierten Lehrerinnen und Lehrer ergeben, arbeiten wir mit einem breiteren, alltagsweltlich ausgerichteten Verständnis dieses Begriffs. Vgl. z.B. Habermas 1991; 1992, Elster 1998.

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dem Anspruch, dem empirisch Erfassten umfassend gerecht zu werden, dessen gedankliche Zusammenhänge und die geäußerten moralischen Verantwortlichkeiten jenseits einer Typisierung in Weltbildorientierungen zu erfassen. Mit Hilfe von Rationalitäten wird das neue Wissensfeld „rational“, in dem Sinne, dass es kognitiv – denn das ist ja der Bereich, über den die Schule Schülerinnen und Schüler anspricht – erfahrbar und zugänglich gemacht wird. Rationalitäten erfüllen die Aufgabe, übergreifende Ziele und Absichten von Unterricht zu begründen sowie einsichtig zu machen, dass es hier etwas zu lernen gibt und welche Aufgaben und Anforderungen zu bewältigen sind. Als eine Art formulierte und verwirklichte praktische Vernunft werden diese Rationalitäten zum Einsatz gebracht. Die Analyse unseres Materials hat drei Typen von Rationalitäten sichtbar gemacht, die zum einen darum ringen, die Faktizität und die Normativität der Thematik zu formulieren, zum zweiten darauf setzen, dass die Historizität und Lebensweltorientierung von Erfahrungen die Thematik einsichtig machen und drittens die Thematik darüber zu legitimieren beabsichtigen, dass sie zum Bestandteil von Authentizität und Identität gemacht wird.

1. Faktizität und Normativität Es ist ein Spezifikum der biotechnologischen Entwicklungen, dass sie die Trennung von Fakten und Normen schwierig machen; wenn beispielsweise die Methode der In-Vitro-Fertilisation zur faktisch vorhandenen Möglichkeit, Kinder zu zeugen wird, dann schafft dies auch neue Normativität dergestalt, dass sich von nun an Frauen und Männer überlegen müssen, ob sie sich der Technik bedienen wollen oder nicht. Auch verändert sich der Standard, also die Norm, dass Kinder bislang ausschließlich auf sogenannt natürlichem Wege, d.h. ohne biotechnologische Techniken, gezeugt werden konnten. Auf diese Weise ist auch die Frage der Bewertung aufgeworfen, die Frage, ob die Veränderung der Norm gut oder schlecht ist, welche Veränderungen akzeptabel oder inakzeptabel sind, welche Vorstellungen eines „guten“ und „richtigen“ Lebens damit verbunden sind. Insofern ist das Wissen, das im Zuge dieser Entwicklungen hervor gebracht wird, so wie wir es in Kapitel II entwickelt haben, ein Relatives Wissen. Mit dieser Bezeichnung ist verbunden, dass sich eben nicht mehr genau sagen lässt, worin hier das unbestreitbare, objektiv nachgewiesene Faktum besteht, und welches die einer Diskussion und Abwägung zugänglichen Normen und Normativierungen sind. Als Technik ist die IVF eine faktische Möglichkeit, über deren Einsatz politisch-ethisch-normativ gerungen wird und deren Faktizität insofern umstritten ist, als dass sie in mindestens zwei Dritteln aller Einsätze

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nicht zum gewünschten Ergebnis führt. Eine Unterscheidung in Fakten einerseits und Normen und Werten andererseits scheint also angesichts der vielen normativen Fragen, die Forschungen an Stammzellen, Organtransplantationen oder vorgeburtliche Untersuchungen aufwerfen, wenig sinnvoll. Wenn das bloße Vorhandensein der Techniken schon eine Normverschiebung bedeutet, wird auch die Normativität zum Fakt. Umgekehrt begründet eine Sichtweise, welche die Techniken als vorhandene, nicht mehr zu relativierende Fakten versteht, eine Faktizität, die keinesfalls gegeben, sondern ein Produkt oder Konstrukt einer ganz bestimmten Perspektive auf den Gegenstand darstellt. Es ist deshalb der Sache durchaus angemessen, dass die von uns befragten Lehrkräfte das Thema auch darüber in den Griff zu bekommen versuchen, dass sie die Unterscheidung von Fakten und Normen anlegen und für die Strukturierung der Thematik nutzen, insofern genau hier ein Element des Neuen und Besonderen des Themas liegt. Diese Neuerung wird jedoch von den meisten Lehrerinnen und Lehrern durch die schlichte Behauptung überdeckt, dass auch biopolitische Themen sich in „Fakten“ und in „Bewertungen“ und „Normen“ einteilen ließen. Alle von uns interviewten Lehrkräfte halten an der Trennung von Urteilen und Fakten in ihrer Behandlung des Themas fest, wenngleich auch in unterschiedlicher Gewichtung und mit verschiedenen inhaltlichen Konkretisierungen. Fakten und Faktizität Der weitaus größte Anteil aller Aussagen über die Existenz eines faktischen Wissens bezieht sich auf das Fachgebiet der Biologie. Nach Einschätzung fast aller Lehrkräfte besteht das Wissensgebiet der Biotechnologie aus „Fakten“ und „Informationen.“ Biotechnologisches Wissen gilt als „Sachthema“, als „Faktum“ oder als „sachlich“. Begründet wird diese Faktizität mit zwei Argumenten: Zum einen wird die Biotechnologie als per se wertneutrales Verfahren oder Ablauf angesehen. „Das Wissen, das sind ja einfach Fakten. Wie man zum Beispiel klont oder wie man gentechnisch manipulierte Lebensmittel herstellt sind einfach nur bestimmte Vorgänge“ (Interview Blume: 5).

In der Form als Vorgang oder Ablauf sind die biotechnologischen Verfahren schlicht gegeben und können als reine Information ohne Problematisierung oder ein Befragen von Normativität im Unterricht behandelt werden.

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Zum zweiten wird die Annahme der Faktizität des biotechnologischen Wissens mit der experimentellen Genese dieser Information begründet. So beschreibt eine Lehrkraft: „Die Faktenebene ist für mich immer die, wo ich jetzt eigentlich mit Experimenten und Versuchen und Nachweisen zu bestimmten Ergebnissen komme“ (Interview Hahne: 6).

Auch in dieser Perspektive ist es das Verfahren, der Versuch oder das Experiment, das den Status von Neutralität begründet und die Schlussfolgerung zulässt, dass die Neutralität des Verfahrens auch die Neutralität der Ergebnisse garantiere. Hier zeigt sich, dass die Lehrkräfte die Befunde und Ergebnisse der Science Studies nicht kennen, die soziale Einflüsse und das interaktive Setting als Kontexte und konstituierende Faktoren von Experimenten betonen.4 Vielmehr folgen sie einem Verständnis von Naturwissenschaft, das die Fragestellung, den Versuchsaufbau und die Ergebnisse als messbare Größen ansieht, die als „Informationen“ weitergegeben werden. In einem solchen Denken bleiben die Bedingungen und Kontexte der Experimentalforschung unberücksichtigt wie auch die Bedeutung des Wissens, das jenseits von Experimenten generiert wird. Da gerade in der Biologie und der Biotechnologie vielfach mit Modellbildungen und theoriegeleiteten Überlegungen gearbeitet wird,5 stellt diese Perspektive eine sachliche Verkürzung dar. Die ausschließliche Bindung biologischen Wissens an die experimentelle Genese blendet andere Form der Wissensgenese aus. Umgekehrt ermöglicht genau diese Reduktion es, die biologische Wissensbestände auf der Ebene von Faktizität anzusiedeln. Durch die Nicht-Beachtung von Kontexten und Settings der Labore, ihrer Versuche und der theoriegeleiteten Deutungsbemühungen von Experimenten wird das biotechnologische Wissen zu einem „biologischen Fakt“. Im Unterricht schlägt sich die Annahme von „Fakten“ auf zweierlei Weise nieder. Zum einen schafft diese Klarheit im ansonsten recht unbestimmten Feld der Biopolitik. Die Lehrkräfte berichten, dass sie keine Probleme mit der Vermittlung dieser Wissensbestände hätten, schließlich ginge es ja „ausschließlich um die Weitergabe von Informationen“. Allenfalls den ReligionslehrerInnen erscheint das zeitliche Ausmaß einer solchen Weitergabe von „Information“ problematisch, wenn es dazu führt, dass nicht mehr diskutiert werden kann und ethische Probleme nicht mehr angesprochen werden. So klagen einige ReligionslehrerInnen über die fehlende Sachkenntnis der SchülerInnen bei biologischen Abläufen und halten es für notwendig, diese im Rahmen ihres Unterrichts 4 5

Vgl. z.B. Knorr-Cetina 1984; Latour 1998. Vgl. Gill 2004: 21-27.

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nachzuholen. Im Umgang mit den biologischen Grundlagen der Biotechnologie sind die ReligionslehrerInnen dabei selbstbewusst, lediglich zwei Personen merken an, dass sie die naturwissenschaftliche Materie, die sie nun in ihrem Unterricht behandeln, für kompliziert halten. „Es war für mich sehr schwierig. (...) Das ganze Wissen, das es um das Klonen herum gibt. Dieses unterschiedliche therapeutische, dieses reproduktive Klonen und und und. Das mussten wir uns selber anlesen“ (Interview Wald: 1).

Den allermeisten aber erscheint es unproblematisch, sich biologische Abläufe für den Unterricht zu erarbeiten und diese im Unterricht zu vermitteln. Zum zweiten wird den biologischen Wissensbestände aufgrund der ihnen unterstellten Faktizität der Status von Basiswissen zu geschrieben. Sie bilden den Ausgangspunkt, um überhaupt über biotechnologische Entwicklungen und ihre ethischen Implikationen nachdenken zu können. Informationen aus der Biologie bilden eine Art Fixpunkt, an dem das notwendige Wissen festgemacht werden kann. „(...) und trotzdem kann man sich eben nicht ein Urteil bilden, wenn man sich auch fachlich einfach nicht auskennt, wenn kein Wissen da ist, dann kann man eben auch nicht angemessen darüber diskutieren und sich eine Meinung bilden“ (Interview Dom/Frankenberg: 19).

Wissensbestände aus der Biologie gelten somit auch fachfremden Lehrkräften bei der Behandlung biopolitischer Themen als unverzichtbarer „Hintergrund“ oder aber auch als grundlegende „Vorkenntnisse“, um die bioethischen Problematiken erfassen zu können. So wird auch in der Fassung als „Wissensfundament“ von Bioethik der Fakten-Status der naturwissenschaftlichen Abläufe und des biotechnologischen Wissens befestigt. Allerdings wird diese Faktizität biologischen Wissens von zwei Lehrkräften in Frage gestellt und zwar im Hinblick auf die Produktion der Wissensbestände sowie im Hinblick auf die Aussagekraft der Ergebnisse. So äußert eine Lehrkraft ihre Skepsis, ob nicht auch Ergebnisse verfälscht würden und verweist auf das Problem fehlender Möglichkeiten der Einsicht geschweige denn der Kontrolle laufender Forschungsarbeiten. „Da gab es einen Herrn Meier, der hat Mäuse kloniert. Und dafür hat er einen Preis der Universität gekriegt. Und ein Jahr später kam raus, dass er das Ganze fingiert hat. Dass das schlicht wissenschaftlich nicht gestimmt hat. Gut, also man kann den Sachen natürlich nicht immer trauen, da sind alle damals drauf reingefallen“ (Interview Fischer: 6).

Eine andere Lehrkraft bezweifelt die postulierten Erfolge der Biotechnologie und bewertet deren Erfolgsaussichten weitaus geringer, als von der Industrie behauptet. Diese Lehrkräfte haben ein erweitertes Verständnis naturwissen-

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schaftlichen Wissens in dem Sinne, dass sie die Folgen wie auch die Genese und die soziale Konstruktion biotechnologischer Wissensbestände einbeziehen. In der Zusammenschau bilden sie allerdings die Ausnahme, alle anderen Lehrkräfte behandeln biologische Wissensbestände auf der Ebene von unhintergehbaren Fakten. Auch religiöse Wissensbestände können auf dieser Ebene behandelt werden. Einem Teil der Religionslehrer gilt religiöses Wissen ebenfalls als faktisches Wissen im Sinne von feststehenden, normativen Setzungen. So heißt es zum Beispiel: „Wissen Sie, bei all diesen Frage kann man nur biblisch argumentieren. Moralische Standpunkte von der Bibel her begründen. (...) Grundlage jeder Diskussion ist das christliche Menschenbild. Die Menschenrechte. Die zehn Gebote als Freiheitsdeklaration“ (Interview Eichner: 7/10).

Hier begründet die religiöse Orientierung eindeutige Wertmaßstäbe, die den Status von Faktizität durch die Stilisierung von Wissensbeständen als „Grundlage“ erhalten. Für einige wenige ReligionslehrerInnen hingegen ist der Status religiöser Argumente und Quellen nicht ganz so eindeutig. So argumentiert beispielsweise eine Lehrkraft: „Also, da finde ich, da kann man Kirchengeschichte ganz gut nachvollziehen. Das versuche ich auch immer, bei jedem Thema eigentlich. Also, da werden die Fakten schon ein bisschen dünner. Weil ich natürlich relativ wenig weiß darüber. Oder die Kirchegeschichte ist so riesig, da kann man gar nicht alles wissen. Und dann muss man sich auf CDs und Bücher verlassen und denken, die werden schon die richtige Aussage drinnen haben. Und ja so können Sie sich dann eine gewisse Faktengrundlage zulegen. Aber das bleibt immer ein bisschen schwebend. Andere hätten vielleicht ganz andere Texte genommen. Und da ist das Fakten-Wissen auch relativ dünn“ (Interview Hahne: 7).

Wissen wird in dieser Aussage in seiner Bedeutung als faktisch und objektiv relativiert. Als relativierender Faktor wird angeführt, dass Wissen nur über Rezeption zu erlangen ist, nicht per se existiert, sondern ausgewählt, präsentiert und aufgenommen werden muss. Insofern reflektiert diese Aussage Wissen als nicht absolut, sondern als sozial zugeschnitten, kanonisiert, funktionalisiert oder missverstanden. Eine weitere Form, Wissen als Fakt auszuweisen, findet sich im Sprachunterricht. Hier berichten DeutschlehrerInnen, dass Formen der Sprache (z.B. Monolog, Dialog, Gespräch), Techniken der Sprachanalyse oder Verfahren des Schreibens (z.B. das kreative Schreiben) Faktizität erhalten, indem sie als Voraussetzung oder Lernziel definiert werden. Sie zu beherrschen gehört zu den „Grundtechniken“, an denen man nicht vorbei kommt. Vergleichbar mit den

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Aussagen der Biologielehrer, die biotechnologische Verfahren im Sinne basaler Informationen zu vermitteln trachten, steht auch für die Lehrkräfte des Fachs Deutsch die Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit von Techniken im Umgang mit der Sprache nicht zur Debatte und erweist sich in ihrer Praktikabilität. So sollen Schülerinnen und Schüler jenseits von thematischen und inhaltlichen Überlegungen lernen, Techniken anzuwenden, ihre Funktionsfähigkeit zu erproben und mit ihrer Hilfe Ergebnisse zu deuten. Auch im Deutschunterricht gibt es Techniken im Umgang mit Sprache, die als zweckdienliche Instrumente dienen und deren Gebrauch als unproblematisch angesehen wird. Es ist also offenbar ein Charakteristikum schulischen Unterrichts, fachspezifische Setzungen vorzunehmen und einen „Ausgangspunkt“, „Grundlagenwissen“ oder Ähnliches auszuweisen. Die als basal und faktisch definierten Aussagen werden nur in Ausnahmefällen hinterfragt, kritisch beleuchtet und auf ihr Zustandekommen hin befragt. Schulischer Unterricht ist primär Vermittlung und Aneignung von Wissen, weniger deren Reflexion und Diskussion. Für die Ethik, also ein Themenbereich, in dem die Entstehung von Normen, Werten und Bewertungen historisch, prozedural und thematisch disparat verhandelt wird, ist die Ausweisung eines sogenannten basalen, grundständigen Faktenwissens deutlich schwerer vorzunehmen. Die interviewten Lehrkräften geben dem Themenfeld Ethik auf drei Arten eine Form. Eine einzige Lehrkraft versteht Ethik als ein Verfahren zur Urteilsfindung. Die befragte Person hat jüngst an einer Fortbildung im Bereich Ethik teilgenommen und nennt die Vermittlung der Pluralität von Verfahrensweisen der Urteilsfindung als Kern und Basisanliegen ihres Ethik-Unterrichts. „Das heißt also, diese Offenheit, diese anfängliche, auch als Ende ihres Werturteils, als Beschränkung noch zu erfahren und dann über eine Beschränkung des Verfahrens wieder an diese Offenheit zu kommen“ (Interview Albrecht: 11).

Die thematische Auswahl der bioethischen Fragestellungen ist für diese Lehrperson nachgeordnet. Sie ist exemplarisch und soll Aktualität und Brisanz abbilden. Beispielsweise werden in diesem Unterricht im Rahmen einer Einheit zum Thema „Wissenschaft, Technik und Verantwortung“ bioethische Fragen am Beispiel der Stammzellenforschung und Präimplantationsdiagnostik erörtert, nach Einschätzung des Lehrers könnte man verschiedene Wege der ethischen Urteilsfindung aber auch am Beispiel der Atomenergie zeigen. Auch hier sind es also wieder Verfahren und Techniken, die als feststehende Wissensbestände mit basalem Charakter ausgewiesen werden.

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Demgegenüber versteht ein anderer Ethiklehrer unter Ethik vor allem die Kenntnis bestimmter Werte und Tugenden. „Also, ich kann dann zum Beispiel fragen: ‚Welche Werte und welche Tugenden kennst Du?’ Also, wenn wir das behandelt haben im Unterricht, das sind halt zwanzig, müssen dann in so einer Arbeit fünfzehn, sechzehn genannt werden. Oder Tabubrüche. Was ist ein Tabu? Und wo erfolgten Tabubrüche? Dann müssen sie halt immer den Einstein, Leonardo da Vinci oder jetzt hier das Schaf Dolly bringen“ (Interview Blau/Jürgens: 8/9).

Hier liegt ein Verständnis von Ethik als Morallehre vor, die verschiedene Moralvorstellungen zum Gegenstand des Unterrichts macht und diese als historische Fakten und paradigmatische Punkte, eben als Fakten oder Informationen, ausweist. Dabei ist das Themenfeld Bioethik nur insofern relevant, als dass sich hier Tugenden und Moral veranschaulichen lassen. Die Bezeichnung und inhaltliche Beschreibung der Moralbestimmungen ist Gegenstand und Faktum des Unterrichts. Die Frage, warum gerade am Beispiel der Bioethik jüngst so viele moralische Fragen diskutiert werden, ist nicht Gegenstand von Erkenntnis. Eine dritte Perspektive auf Ethik versteht diese als multidimensionales Verstehen und Beurteilen sozialer Probleme. Bei dieser Sichtweise geht es vor allem darum, möglichst viele Ebenen des jeweiligen Themenbereiches anzusprechen und inhaltlich zu füllen. „Mir ist es wichtig, dass die Schüler die Komplexität des Ganzen begreifen, sozusagen sich reindenken und mitdenken“ (Interview Eitel: 1).

Um dieses „Reindenken“ zu ermöglichen, stellt die Lehrperson Wissensbestände aus unterschiedlichen Bereichen zur Verfügung und bemüht Religion, Recht, Biologie und Politik, um die Problematik breit zu veranschaulichen. Als bereichsspezifische „Informationen“ wird auch hier ein „Grund“ gelegt und ein „Ausgangswissen“ gebildet, das dem Status von Faktizität gleichkommt. Um überhaupt arbeiten, argumentieren, das Problem verstehen zu können, müssen „Fakten“ entfaltet werden, zu denen sich nachfolgend positioniert, Problemerkennung und Meinungsbildung betrieben wird. Insofern wird auch in diesem Verständnis von Ethik mit Setzungen aus dem Bereich der Politik, Biologie und Religion gearbeitet. Dies zeigt insgesamt, dass die Behandlung biopolitischer Themenstellungen ohne die Ausweisung von Wissensbeständen als „faktisch“, „basal“ und nicht zu hinterfragen nicht auskommt. Dies gilt durchgängig für Wissensbestände aus der Biologie, zum Teil aber gleichermaßen für grundlegende Annahmen in den Fächern Religion, Deutsch oder Politik. Gleichzeitig aber betont ein Großteil der Lehrkräfte die Notwendigkeit, normative Fragen von dieser Ebene der Fakten abzugrenzen und diese als diskutier- und verhandelbar auszuweisen. Faktizität

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und Normativität werden als zwei getrennte Gegenstandsbereiche konstruiert, die nebeneinander stehen oder aufeinander folgen. „Wichtig war uns, dass das Arbeitsblatt auch diese Zweiteilung zeigt: Zum einen das Wissen und zum anderen das Ethische“ (Interview Dom/Frankenberg: 3).

So bleiben die ursächlichen und inhaltlichen Beziehungen zwischen Faktizität und Normativität als zwei Formen der Bedeutungszuweisung unthematisiert. Stattdessen wird das Themenfeld als eines von getrennten Sphären und Ebenen beschrieben und Normen, Werte und Normativitäten gesondert betrachtet. Im Folgenden soll deshalb betrachtet werden, welche Umgangsweisen mit normativen Fragen sich aus dem empirischen Material herausarbeiten lassen und welche Bereiche der Thematik als ausschließlich normative Themenstellungen angesehen werden.

Normen und Normativität Die interviewten Lehrkräfte vertreten die Einschätzung, dass vor allem die Anwendung der Techniken und deren mögliche Auswirkungen mit normativen Fragen verbunden ist. Demzufolge richten sie Fragen die Normen und Ethik betreffend an die Anwendung von Technik, nicht bereits an deren Entwicklung und Herstellung. „Also, wenn die Fakten klar sind, einigermaßen wenigstens, dann geht es auch um mögliche Risiken. Und da gehört die Ethik mit rein“ (Interview Meier: 3).

Technik setzen die Lehrkräfte als gegeben voraus, sie ist als Tatsache in der Welt und über ihre Auswirkungen, über mögliche Risken ihrer Anwendung, kann und sollte diskutiert werden. Damit richtet sich der Blick der Lehrenden auf einen Teilbereich der Ethik, welcher in den letzten zehn Jahren unter dem Stichwort „Technikfolgenabschätzung“ sowohl politisch als auch ethisch diskutiert wurde. Technikfolgenabschätzung gilt heute als ein komplexes politischethisches Steuerungsinstrument, welches in verschiedenen Modellprojekten unterschiedlich akzentuiert wurde mit dem Ziel, einen möglichst demokratischen Umgang mit Risiken der Technologie zu entwickeln.6 Wesentliche Diskussionspunkte bilden dabei die Definition des Risikobegriffs und seiner Kriterien sowie die Frage nach der Entscheidungsbefugnis, zum Beispiel bei Modellen der Bürgerbeteiligung. Diese Verfahren und Debatten um Technikfolgenabschätzung kommen in den Interviews in unterschiedlicher Art und Weise vor. 6

Vgl. Beer 2004; Schicktanz 2003.

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Als eine Möglichkeit wird genannt, den SchülerInnen möglichst viele Informationen zur Verfügung zu stellen, damit sie normative Einschätzungen unterschiedlicher Genese und Begründung kennen lernen. Auch werden die SchülerInnen aufgefordert, auf der Basis verschiedener Einschätzungen, selbst die Problemstellung und eine Position zu erarbeiten. Des Weiteren werden Verfahren der Urteilsfindung im Unterricht besprochen. Der bereits erwähnten Lehrkraft mit einer Fortbildung zum Thema Ethik ist die Schulung der Reflexionsfähigkeit und das Erlernen systematischer Vorgehensweisen für die Urteilsfindung der Schülerinnen und Schüler besonders wichtig. Er sagt: „Wie gewinne ich in einer Zeit, wo das Wissen sich wandelt und die Anforderungen an Wissen sich verändern und die Forschungen sich verändern, wie gewinne ich als junger Mensch eigentlich die Möglichkeit ein Urteil zu bilden? (...) dass sie Strategien finden, wie sie vorgehen müssen“ (Interview Albrecht: 1).

Normative Fragen werden also von den Befragten entlang verschiedener Verfahren strukturiert. Sie bleiben im Ergebnis offen bzw. sind der Einschätzung der SchülerInnen überlassen. In den meisten Fällen realisiert sich die Bewertung der Techniken im Rahmen eines Austauschs von Meinungen und Positionen. Der Prozess der Normengebung selbst wird nur selten zum Gegenstand der Unterrichtsbetrachtungen gemacht. Trotzdem gilt Normativität als Aufforderung, sich selbst in strittigen Fragen zu positionieren und als sachlich nötig. Das Bewertungs- und Normgebungsverfahren verläuft aber eher unstrukturiert und zufällig. Meinungen bewegen sich auf der Ebene von Standpunkten, Begründungen unterscheiden zumeist nicht zwischen einer subjektiven und einer sozial übergreifenden Perspektive und Fragen einer gesellschaftlichen Regulierung der Technologien, werden, sofern sie überhaupt behandelt werden, als unstrukturierte Diskussionen im Unterricht beschrieben. „Und rund um die praktischen Sachen schließt sich natürlich auch eine Diskussion an, die dann ins Ethische geht“ (Interview Müller: 2).

Ethische Probleme werden „angesprochen“, man „tauscht sich mit den SchülerInnen aus“, man „spricht das ein bisschen durch, man „wirft Fragen auf“, normative Fragen werden in Form eines Meinungsaustausches behandelt. Zur Vorbereitung dieses Meinungsaustausches können dann zwar vereinzelt Materialien zur Verfügung gestellt werden, wie zum Beispiel Berichte von Betroffenen. Wissensbestände der Ethik im Sinne einer strukturierten Vorgehensweise für einen Prozess der Meinungsfindung kommen dagegen nicht vor. Das gezielte Erarbeiten unterschiedlicher Positionen beispielsweise, die Idee eines Überblicks über Geschichte, Funktion und Funktionsweisen der Technikfolgenabschätzung sind nicht erkennbar, es gibt keine Hinweise auf eine systematische

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Erarbeitung normativer Fragen. Vielmehr werden die SchülerInnen dazu aufgefordert eine eigene Meinung zu äußern, ohne dass deutlich wird, aus welchen inhaltlichen Wissensvorräten diese Positionierung sich speisen soll. Dementsprechend betrachtet ein Großteil der interviewten Lehrkräfte die normative Seite der Biotechnologie nicht als inhaltliche Herausforderung, sondern vielmehr als pädagogischen Aufhänger zur Bildung der Persönlichkeit der SchülerInnen. „Ich will die Schüler weiter bringen, sie unterstützen in ihrer IchWerdung“ (Interview Wald: 5) bildet einen häufig formulierten Anspruch ab. Diese Perspektive auf Ethik als Bestandteil von Subjektivierungsprozessen könnte man als eine Art „Personalisierung“ von normativen Fragen bezeichnen, eine Anbindung an die individuelle Persönlichkeit, die unabhängig von inhaltlichen Fragen „gebildet“ werden kann. Für den Umgang mit den normativen Problemstellungen der Biotechnologie und Biomedizin impliziert diese Sichtweise zweierlei: Zum einen wird dem Problem der Gewichtung von Argumenten dadurch entgangen, dass alle Meinungen letztlich als gleichwertig gelten. Sind ethische Positionierungen Ausdruck der individuellen Persönlichkeit, so kann man sie auch schlecht in Frage stellen oder unterschiedlich gewichten, vielmehr ist die Pluralität ethischer Positionen Ergebnis unterschiedlicher Persönlichkeiten. Ein Ringen um fundierte Positionen erscheint damit nicht mehr notwendig, ja sogar unsinnig, da nicht lösbar. Insofern kann man sagen, dass die Lehrkräfte über die Personalisierung normativer Fragen einen pragmatischen Umgang mit der Pluralität ethischer Bewertungen gefunden haben. „Also, wenn man nicht eindeutig sagen kann, was richtig und falsch ist, dann muss man es stehen lassen“ (Interview Hahne: 2). „Aber so insgesamt denke ich, dass ihnen doch klar geworden ist, dass es einfach darum geht, eine persönliche Meinung dazu zu finden“ (Interview Dom/Frankenberg: 5).

Zum zweiten bringt die Personalisierung des Normativen eine inhaltliche Reduzierung von Ethik mit sich. Denn geht es primär darum, sich zu positionieren, dann kommt dies einer Auflösung des ethischen Anliegens, über einen strukturierten Prozess zu begründeten Urteilen zu kommen, gleich. Zwar sollen sich die Schüler und Schülerinnen eine Meinung bilden, doch dieser Meinungsbildungsprozess wird von den Lehrkräften nicht vorbereitet und strukturiert, sondern soll nach individuellem Gutdünken von den SchülerInnen beschritten werden. Beispielsweise stellen zwei Lehrkräfte den SchülerInnen zahlreiche biologische und biotechnologische Unterlagen zur Verfügung und setzen darauf, dass sich für die SchülerInnen die ethischen Diskussionen hieraus automatisch erschließen. Sie gehen davon aus, dass sich ethische Diskussionen „ergeben“, ohne dass sie einer Vorbereitung bedürften. So unterbleibt eine inhaltliche Strukturierung des normativen Möglichkeitsspektrums und Normativität wird ausschließlich in das

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Belieben der Einzelperson gestellt. Dass sich auf diesem Wege für die SchülerInnen gerade nicht erschließt, wie Entscheidungen zustande kommen, argumentativ begründete Regelungsabsprachen getroffen werden und Normativität verhandelt wird, bleibt in den Gesprächen mit den Lehrkräften unthematisiert. Verbindung von Faktizität und Normativität Die befragten Lehrkräfte, das zeigen die Interviews, strukturieren das Themenfeld „Biopolitik“, indem sie zwischen „Fakten“ und „Normen“ zu unterscheiden suchen. Mit dieser in unserem Material dominant feststellbaren Rationalität der Hierarchisierung von basalen, unhinterfragbaren Ausgangsdefinitionen und nachfolgenden Abwägungen und Bewertungen geraten Lehrkräfte zugleich in den Konflikt, dass sie eine der zentralen Herausforderungen biopolitischer Fragestellungen – nämlich die Reflexion biologischer Wissensbestände im Hinblick auf ihre normativen Dimensionen – auf diese Weise vermeiden. Dass die Befragten dies zumindest ahnen oder latent wissen, lässt sich deshalb vermuten, weil immer wieder der Anspruch artikuliert wird, nicht bei der Behandlung von „Fakten“ stehen zu bleiben. Vielfach finden sich Äußerungen, die zum Ausdruck bringen, dass die Biologie heute auch mit Ethik verbunden werden müsse, dass die SchülerInnen heute mit ethischen Entscheidungen konfrontiert seien, auf die sie vorbereitet werden müssten, dass die Technologie weitreichende moralische Veränderungen mit sich bringe und Ähnliches. Die Formulierung des Anspruchs einer Verbindung von Biologie und Ethik wie auch eines Zusammendenkens von Faktizität und Normativität kommt also durchaus vor, während in der Beschreibungen des Unterrichts vor allem die Unterschiedlichkeit der Wissensbestände akzentuiert werden. Diesen Widerspruch erklären die Lehrenden selbst mit dem Verweis auf die schulorganisatorische Struktur. Eine Verbindung von biologischen und ethischen Fragen sei nicht möglich, weil Lehrende aufgrund ihrer fachlichen Ausrichtung und Ausbildung nicht dazu befähigt seien, ethische bzw. biologische Fragestellungen kompetent im Unterricht zu behandeln. So sei den Biologie-LehrerInnen der Umgang mit normativen Fragen fremd, so dass die Behandlung ethischer Fragen in der Biologie eine Überforderung für die betreffenden Lehrkräfte darstelle. Ein Teil der Lehrkräfte geht deshalb von der Notwendigkeit einer fächerspezifischen Umgangsweise mit bioethischen Fragestellungen aus: die Biologie solle die technologischen Abläufe vermitteln und in Religion und Gemeinschaftskunde könnten die ethischen Dimensionen dieser Technikentwicklung thematisiert werden. Zum anderen sei der Lehrplan derart dicht, dass die Zeit für ethische Fragestellungen im Biologie-Unterricht nicht vorhanden sei. Insofern kämen

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ethische Themenfelder schon aufgrund des Zeitmangels im Biologieunterricht zu kurz. Zum dritten fehle für mögliche Kooperationen fächerverbindenden Lernens die geeigneten KollegInnen. „Es sollte aber auch die Ethik mit ins Spiel kommen, aber da hatten wir niemanden, der sich bereit erklärt, da mitzumachen“ (Interview Blume: 1).

Und viertens schließlich seien Lehrkräfte mit ihrer Arbeit so belastet, dass ihnen für mögliche Kooperationsprojekte schlichtweg die Zeit fehle. „Also jetzt in dem Jahr scheitert es auf jeden Fall an den neuen Lehrplänen. Das wird die nächsten zwei Jahre sicher auch noch so sein. Bis das alles steht. Oder bis es mal stehen kann. Dieses Schulcurriculum und solche Dinge da. Ich bin froh, dass die Gentechnik und solche Dinge auch ohne Zusammensitzen funktioniert“ (Interview Stemplewski: 6).

Darüber hinaus wird auf den Mangel an Fortbildungen verwiesen und die Größe der Klassen für die Beschränkung des Unterrichts auf eine Perspektive verantwortlich gemacht. Da die bioethischen Themen „unter die Haut gehen”, sei es nur möglich, diese mit kleinen Klassen zu bearbeiten, was aber nicht der Realität von Schule entspräche. Aufgrund all dieser schulstrukturellen Gegebenheiten halten es die Lehrkräfte für schwierig bis unmöglich, Wissensbestände der Biologie systematisch mit normativen Fragestellungen zu verbinden, wenngleich dieser Anspruch vielerorts formuliert wird. So zeigt sich auch hier die Wirkungsmächtigkeit der angelegten Rationalität einer Aufteilung in „Fakten“ und „Normen“. Einerseits wird die normierende Wirkung der gegebenen schulstrukturellen Organisation beklagt, andererseits werden die als „Fakten“ und „Tatsachen“ dargestellten organisatorischen Realitäten von Schule als unveränderbar und gegeben definiert und erlebt und von der Diskussion und Kritik des Schulalltags getrennt. So wird sich über neue Ansprüche, Erwartungen und Normen von Schule auseinandergesetzt und um die Veränderung von Normativitäten gerungen, ohne dass die zuvor formulierte Einsicht, dass die Organisation der Realität, nicht nur Fakten, sondern auch Normen setzt, ernsthaft und mit den ihr inhärenten Konsequenzen bedacht würde. Damit wird mit Hilfe der Aufteilung in Fakten einerseits und Normen andererseits eine Rationalität des Nicht-Handeln-Müssens und der Delegation begründet, bei der die „Fakten“ als unveränderlich angesehen werden, und die Klage und Kritik versucht, neue Normen zu etablieren.

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2. Evidenz von Erfahrungen Der biopolitische Diskurs ist unter anderem dadurch gekennzeichnet, dass Problemdefinitionen und Vorschläge zum Umgang mit den neuen Technologien seitens der ExpertInnen nicht nur in Form von Fakten vorgestellt werden, sondern auch mit Hilfe von Erzählungen und Erfahrungsberichten transportiert werden.7 So ist zu beobachten, dass sich die Biowissenschaften im öffentlichen Diskurs verstärkt in Form von Erzählungen präsentieren und beispielsweise in Talkshows, auf der Internetseite der Aktion Mensch www.tausend-fragen.de oder auch in den Zeitungen8 häufig über die Erzählung eines Schicksals und einer persönlichen Begebenheit vermittelt werden. Gegenstand dieser verschiedenen Geschichten bildet die Verhandlung der Grenzziehung zwischen Natur und Gesellschaft. Die Produktion kategorialer Uneineindeutigkeiten sowie die zunehmend notwendige Verknüpfung von naturwissenschaftlichen Ergebnissen mit ethischen Fragen bieten einen Anlass für Erzählungen der ganz besonderen Art. Oder anders formuliert: Das, was wir in Kapitel II Relatives Wissen genannt haben, findet seinen öffentlichen Ausdruck in Form von Erzählungen. Da dieses Wissen nur schwer in der Form des Berichts, der Dokumentation oder des Plädoyers zur Sprache gebracht werden kann, muss es andere Wege finden und transportiert sich probeweise über Erzählungen, in denen den naturwissenschaftlichen Ergebnissen über den Prozess der Narrativierung Bedeutungen zugesprochen werden.9 Da Narrationen auch in den Unterrichtskonzepten der befragten Lehrkräfte eine Rolle spielen, widmet sich das folgende Unterkapitel der Frage, welche spezifische Rationalitäten des Umgangs mit biopolitischen Fragestellungen im Medium der erzählten Erfahrung transportiert werden. Dabei arbeiten wir mit einem Begriff von „Erzählungen“ als „kommunikative Vermittlung realer oder fiktiver Vorgänge durch einen Erzähler an einen Rezipienten“10, also einer weit gefassten Definition, um den vielfältigen Wegen und Verästelungen, den Assoziationen und Hinweisen auf Geschichten in den Interviews gerecht zu werden.

7 8 9 10

Vgl. Viehöver u.a. 2004: 255/256. Siehe die von uns vorgenommene Analyse einschlägiger Artikel der Tagespresse, die wir in Kapitel II vorgestellt haben. Vgl. Viehöver 2003a: 260. Zitiert nach Nünning 1998: 133.

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Die Rationalität von Erzählungen Erzählungen folgen selbst einer besonderen Rationalität, die Francois Lyotard anhand von vier Eigenschaften charakterisiert hat:11 Zum ersten definieren und bewerten Erzählungen die Leistungen einer Gesellschaft, indem sie die Erfolge und Misserfolge beschreiben sowie positive und negative Integrationsleistungen vorführen (glückliche / unglückliche ProtagonistInnen, Helden, Gescheiterte etc.). Zum zweiten ermöglichen Erzählungen eine Vielzahl von Sprachspielen, so dass Aussagen auf ganz unterschiedlichen Ebenen getroffen werden können. So gibt es beispielsweise denotative Aussagen, d.h. Aussagen im Sinne einer Bezeichnung, normative Aussagen, interrogative Aussagen oder auch evaluierende Aussagen. Damit zeichnen sich Erzählungen durch ein dichtes Geflecht an unterschiedlichen Aussageformen aus und ermöglichen so eine Pluralität der Perspektiven und auch der Funktion von Erzählungen. Drittens folgen Erzählungen bestimmten, wie Lyotard sagt, „pragmatischen“ Regeln. Hierzu zählt beispielsweise die Verteilung der narrativen Rollen (Sender, Empfänger, Held), die festlegt, wie die Sprechakte ausgeführt werden. Auch tradiert die Erzählung ein ganzes Bündeln an Regeln, welche ihrerseits auch soziale Zusammenhänge herstellen. Viertens folgen Erzählungen einer bestimmten Zeitlichkeit, haben einen eigenen Zeitrhythmus, der querliegen kann zu tatsächlichen Zeitabfolgen. So gesehen sind Erzählungen produktive Generatoren sozialer Zusammenhänge, die sich der Aufteilung in Fakten und Normen, Wahrheit und Interpretation immer wieder entziehen. Besonders das letztgenannte Charakteristikum des Zusammenhangs von Erzählung und Zeit steht im Mittelpunkt der Überlegungen von Paul Ricoeur.12 Nach Ricoeur wird die Zeit durch die Erzählungen strukturiert und Erzählungen geben dem Subjekt die Möglichkeit, sich selbst als historisch wahrzunehmen. Umgekehrt erhält die lineare Zeit erst ihren Sinn, wenn sie in Form der Erzählung als Erfahrung der Subjekte erkennbar wird. Der von Ricoeur postulierte wechselseitige Zusammenhang von Erfahrung, Zeit und Erzählung gibt jeder Erzählung einen zeitlichen Charakter, indem sie menschliche Erfahrungen in einen zeitlichen Zusammenhang stellt und zudem Erfahrungen dadurch Bedeutungen verleiht, dass sie „die Gegenwart der Zukunft, die Gegenwart der Vergangenheit und die Gegenwart der Gegenwart zueinander ins Verhältnis bringt“.13 Gleichzeitig gehört es bei Ricoeur – ebenso wie bei Lyotard – zu den Kennzeichen von Erzählungen, dass sie immer eine ethische Perspektive mit

11 12 13

Vgl. Lyotard 2005: 67ff. Vgl. Ricouer 1988: 87ff. Ricoeur 1988: 99.

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transportieren, es demnach keine wertfreien Erzählungen gibt.14 In Erzählungen werden Handlungen und Figuren immer bewertet, auch dann, wenn sie sich auf reale und scheinbar neutrale Ereignisse beziehen und beispielsweise als historische Erzählung daher kommen. Alle Erzählungen bieten einen symbolischen Rahmen, um menschliche Erfahrungen zu kommunizieren und sie im Akt des Erzählens kommunikabel zu machen.15 Erzählungen kommen demzufolge drei Funktionen zu. Sie transportieren Bewertungen, sie dienen der Subjektivierung, weil sie eine zeitliche Verortung ermöglichen, und sie verleihen menschlicher Erfahrung Ausdruck und machen diese kommunizierbar. Hierin liegt ihre besondere Rationalität, die sich auch die befragten Lehrkräfte zu Nutze machen.

Erzählungen im Hintergrund – Verweise auf „gemeinsame Wissensvorräte“ (A. Schütz) In unseren Interviews gibt es zwei Formen von Erzählungen: die ausformulierte Geschichte und den Verweis auf eine als bekannt vorausgesetzte Erzählung. Bei Verweisen auf Erzählungen wird davon ausgegangen, dass diese Erzählungen zum „allgemeinen Wissensvorrat“16 gehören. Demzufolge wird die Erzählung im Interview nicht entwickelt, sondern hat ihren Ort allein in der Anspielung auf die Erzählung. Als bekannt voraus gesetzt greifen die Individuen darauf ganz selbstverständlich zurück. Lyotard bezeichnet die in diesen Erzählungen transportierten Wissensbestände als „narratives Wissen“, welches „die Frage nach seiner eigenen Legitimierung nicht zur Geltung bringt, es beglaubigt sich selbst durch die Pragmatik seiner Übermittlung, ohne auf Argumentation und Beweisführung zurückzugreifen“.17

Die von uns interviewten Lehrkräfte benutzen solche Erzählungen aus dem Bereich der Religion, der Historie und der Literatur. Die zentrale religiöse Geschichte im biopolitischen Kontext ist die Schöpfungsgeschichte. Für die ReligionslehrerInnen gehört die Schöpfungsgeschichte zunächst einmal zu ihrem fachspezifischen Wissensbestand, den sie den SchülerInnen vermitteln wollen. Sie verweisen ganz selbstverständlich auf diese Geschichte, da die Narrativität

14 15 16 17

Vgl. Ricoeur 1996: 200ff. gl. Weiß 1981. Schütz 1971: 5ff. Schütz bezeichnet damit all das, was Kinder lernen müssen sowie die Tatsache, dass in der Welt, in die man hinein geboren wird, bereits fast alles bezeichnet ist. Lyotard 1994, S. 84.

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grundlegender Bestandteil von Religion und religiöser Tradierung ist.18 Die biblische Erzählung von der Schöpfung als Verweis ist automatisiert, nicht aber ihre Lesart und das Verständnis derselben. Sie kann vielmehr im Hinblick auf mögliche normethische Implikationen ganz unterschiedlich verstanden werden. So äußert eine Religionslehrerin: „In manchen Bereichen konnte man dann auch was zeigen. Zum Beispiel der eine Schüler ist auch überzeugter Christ und der wollte von mir natürlich auch biblisch was wissen. Dann hab ich ihm einfach Moses eben genannt, da soll er nachschauen, Schöpfungsgeschichte. Was kann man eben aus diesen Aussagen ableiten. Mir war wichtig, den Schülern auch klarzumachen, es ist meine persönliche Meinung in bestimmten Bereichen“ (Interview Dom/Frankenberg: 4).

Hier werden die ethischen Aussagen der biblischen Geschichte nicht verabsolutiert, sondern insbesondere durch den nachstehenden Satz der Lehrerin, der Betonung der „persönlichen Meinung“, als offenes Deutungsangebot präsentiert. Die Schöpfungsgeschichte bietet eine Struktur, entlang derer biopolitische Themen besprochen werden können, offen bleibt, welche Aussagen sich aus dieser Struktur ableiten lassen. Demgegenüber heißt es bei einer weiteren Lehrerin: „Im Religionsunterricht, wenn es um Schöpfung geht. Dass wir uns halt angucken, wo es Probleme gibt. Und was der Mensch da eigentlich macht.(..) Also mir ist es wichtig, dass sie diese Ehrfurcht vor dem Leben, die ich halt selber so spüre in mir, dass ich versuche da auch ein Bewusstsein zu schaffen. Dass das, dass man da unheimlich Respekt vor haben muss. So wie das alles entstanden ist und wie das alles nach, nach Plan lebt und gedeiht und sich fortentwickelt“ (Interview Paulus: 1/2).

Für diese Lehrerin bietet die Erzählung der Schöpfung Anlass für die Entwicklung normativer Vorstellungen über dem Umgang mit der Natur, die sie im Verlauf des Interviews zu einer ablehnenden Haltung biotechnologischer Verfahren weiter entwickelt. Sie verwendet die Schöpfungsgeschichte als narrative Grundlage für die Entwicklung ihrer ethischen Position. Verweise auf historische Erzählungen nehmen einige Lehrkräfte vor, indem sie auf die Geschichte der Euthanasie Bezug nehmen. Auch hier wird ein „allgemeiner Wissensvorrat“ unterstellt, der im Unterschied zum Verweis auf die Schöpfungsgeschichte allerdings nicht darauf setzen kann, zum Wissenskanon der von den Interviewten vertretenen Fächer zu gehören. Die NS-Politik wird überwiegend als Bestandteil des Unterrichtsfachs Geschichte angesehen, so dass die Lehrkräfte hier eher Bezug auf ein Element des kollektiven Gedächtnisses denn auf fachspezifische Inhalte nehmen. Dieser erfolgt allerdings in unterschiedlicher Art und Weise. Eine Art des Verweises macht die Euthanasie selbst zum Thema und arbeitet mit konkreten thematischen Erzählungen, die den lokal 18

Vgl. Schröer 1982, S. 227ff.

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gegebenen Bezug zu einer NS-Vernichtungsanstalt auf der Schwäbischen Alb herstellen. Eine andere Art des Verweises begnügt sich mit der Nennung des Themas Euthanasie, bearbeitet es aber nicht weiter, sondern ordnet es dem Geschichtsunterricht zu. Mittels des Verweises wird lediglich angedeutet, dass es hier viel zu erzählen gäbe und dass es Zusammenhänge zum Themenfeld biopolitischer Fragestellungen gibt. Eine konkrete Erzählung oder Bearbeitung erfolgt nicht. „Wir haben kurz Euthanasie im Dritten Reich angesprochen. Da musste ich aber nicht viel machen, weil sie das eh in Geschichte, Gemeinschaftskunde im Moment vor der Prüfung erledigt haben“ (Interview Wald: 5).

Der Bezug auf die Euthanasie ist selbstredend. Die Bedeutung des Themas macht es erforderlich, das Thema auf jeden Fall zu bearbeiten, macht es zu einer Pflicht, die abgehakt und „erledigt“ werden muss. Auch transportiert sich in dem Verweis die vermeintliche Offensichtlichkeit eines Zusammenhangs von Euthanasie zur heutigen Biopolitik. Sie wird in diesem Zitat wie selbstverständlich gesetzt wird, ohne dass der unterstellte Zusammenhang inhaltlich entwickelt würde. Demgegenüber schlägt eine dritte Gruppe von Lehrkräften eine inhaltliche Brücke zwischen der Euthanasie der NS-Zeit und aktueller Biopolitik. So heißt es: „Denn die Fragestellung lautet ja auch, was, wenn es möglich wäre, einen perfekten Menschen zu klonen? Wie sähe denn dieser aus? Was ist denn der perfekte Mensch? Wie müsste der aussehen? Wie würdet ihr euch den vorstellen? Auch parallel zur Geschichte auch dieses Thema mit der Rassenideologie von Hitler. Es gab ja schon mal solche Ansätze, einen perfekten Menschen zu kreieren“ (Interview Bentel: 2).

Der Verweis auf die als kollektiv verfügbare Erinnerung an die Euthanasie im Nationalsozialismus ermöglicht die Konstruktion eines Zusammenhangs der heutigen biowissenschaftlichen Forschungen und Anwendungen mit der historischen Rassenideologie und ihrer Vernichtungspolitik, ohne die Parallelen präzise benennen zu müssen. Es reicht die Andeutung einer Entsprechung mit der historischen Erzählung, um die artikulierten Bedenken gegenüber der Biotechnologie zu legitimieren. Beide, so lautet die angedeutete Gemeinsamkeit, verfolgten die Zielsetzung, einen „perfekten Menschen“ herzustellen, auf welchem Wege auch immer. Durch die Erwähnung des historischen Sinns der Geschichte der Euthanasie wird zugleich eine moralische Aufforderung an die Subjekte heute formuliert. Sie sollen sich des Vergangenen und des zukünftig Möglichen bewusst annehmen und es verantwortungsvoll gestalten.

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Ähnliche Annahmen einer Züchtungsabsicht der heutigen Biotechnologien liegen auch den Erwähnungen anderer Lehrkräfte zugrunde, die sich auf Science-Fiction-Literatur beziehen. Benannt werden hier „1984“ von George Orwell (1949), „Brave new world“ von Alex Huxley (1932) sowie „blueprint“ von Charlotte Kerner (1999). „Dann haben wir die Zukunft der Gentechnik in science fiction Literatur oder Film behandelt. Keimbahntherapie, Postgenomära. Also, was passiert, wenn das menschliche Erbgut mal entschlüsselt ist. Wie wird das ausgenutzt? Wie wird das...?“ (Interview Vogt: 11).

Der Verweis auf kollektiv bekannte Erzählungen als Entwurf kommender Realitäten lässt die Fiktionalität der Geschichte verschwinden und macht sie zu einer gesellschaftlichen Möglichkeit von Entwicklung. Durch die Lektüre von Science-Fiction-Romanen erschließt sich ein Blick in die Zukunft, sie liefert Prognosen, die von der gegenwärtigen Entwicklung „eingeholt werden“. Ältere Science-Fiction-Literatur wird zur Vorhersage von Entwicklungen, die sich heute „bewahrheiten“. Weil die literarischen Erzählungen so bekannt sind, erhalten sie Realitätscharakter, der dann mit Erfahrungen in eins gesetzt wird. „A: Das Thema der Manipulation menschlichen Lebens haben wir ja schon lange“ B: Klonen ist ja auch so. „Schöne neue Welt“, „brave new world.“ A: Also, dass „1984“, das hat uns ja teilweise schon eingeholt“ (Interview Gruppe: 13).

In dieser Sichtweise verschwimmt die Unterscheidung zwischen Fiktionalität und Realität. Diese Vermischung der Zeitebenen kennzeichnet nicht nur die Thematisierung der Lehrenden der Science-Fiction-Literatur, sondern auch alle anderen Verweise auf bekannte Erzählungen, die in den Interviews gemacht werden. Alle Verweise verlassen die innere Zeitlichkeit der Erzählungen. Die Schöpfungsgeschichte als weit zurückliegende Geschichte wird nicht im historischen Kontext betrachtet, sondern dient als ein ethischer Rahmen, als ein ethisches Deutungsangebot für gegenwärtige Fragen. Ebenso erhält die Geschichte der Euthanasie ihre Bedeutung nicht aufgrund ihrer Bewahrung der Erinnerung an eine bestimmte historische Epoche, sondern aufgrund der Annahme einer direkten Verbindungslinie von der NS-Zeit zur heutigen Biopolitik. Die Science-Fiction Literatur schließlich wird als Beschreibung einer realistischen Zukunftsentwicklung heutiger biotechnologischer Forschung und Anwendung genommen. Aufgrund dieser Verschiebung der Zeitebenen werden die Verweise auf Erzählungen als Deutungsrahmen für eine normethische Positionierung gegen die Entwicklung in der Biotechnologie anschlussfähig gemacht. Die Schöpfungsgeschichte mit ihrem Sündenfall, die nationalsozialistische Euthanasie sowie die

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Science-Fiction Beschreibungen zukünftiger Formen von Gewaltherrschaft19 sind Illustrationen eines Kulturpessimismus, der die Geschichte der Menschheit als Verfallsgeschichte begreift. Diese Erzählungen beschreiben, um es mit Lyotard zu formulieren, „die Leistung einer Gesellschaft“ negativ und transportieren eine Ethik der Abschreckung. Sie dienen als Negativfolie für die Bewertung heutiger Entwicklungen. Verweise auf bekannte Erzählungen seitens der Lehrkräfte haben kaum analytisches Potenzial, weil sie in der Regel auf die Beschreibung und Veranschaulichung von Zusammenhängen und Ähnlichkeiten verzichten. Auch ermöglichen sie es, sich der Begründungspflicht von Einschätzungen und Bewertungen zu entledigen, da durch die Bekanntheit der Erzählung auch die Gründe und Argumente der erzählten Geschichte als bekannt vorausgesetzt werden. So transportiert sich durch die Bezugnahme auf Erzählungen ein ethisches Urteil, das als solches zwar erkennbar, aber nicht nachvollziehbar gemacht wird. Erzählungen über Erfahrungen – Fallgeschichten Die Interviewten bedienen sich neben den beschriebenen Verweisen auf bekannte Erzählungen auch so genannter Fallgeschichten. Im Unterschied zu den beschriebenen Formen von Narration stellen Fallgeschichten Erzählungen aus der Gegenwart und der jüngsten Vergangenheit dar. Mit Hilfe von Fallgeschichten wird lebensnah und alltagsweltlich über Erlebtes und Erfahrenes berichtet, diese Erzählungen bilden eine „narrative Behausung menschlicher Erfahrungen“20. Dabei speisen sich diese Erfahrungen aus unterschiedlichen Quellen: Erfahrungen aus der Lebenswelt der Lehrkräfte und der SchülerInnen finden ebenso Erwähnung wie auch Berichte aus der Presse sowie fiktive Geschichten. So gibt es zum einen Erzählungen aus der Lebenswelt der Lehrkräfte. Diese berichten überwiegend von Erlebnissen mit Verwandten oder Personen aus dem Freundeskreis, die entweder von Krankheit und/oder Behinderung betroffen sind. Die Lehrkräfte zeigen sich hier als Personen, die Einblicke in ihre Lebenswelt und in ihre Betroffenheit gewähren. Keine/r der Lehrkräfte erzählt allerdings über Erfahrungen am „eigenen Leib“ oder über Erlebnisse mit bioethischen Fragestellungen, die sich auf eigene Krankheiten oder Behinderungen beziehen. Berichtet wird immer über die Erfahrungen von nahestehenden Personen. Dabei ist die thematische Bandbreite der erzählten Fallgeschichten groß. Eine Lehrkraft berichtet über die MS-Erkrankung der Ehe-Frau, eine andere 19 20

Positive Zukunftsentwürfe im Kontext biotechnologischer Veränderungen dagegen, wie beispielsweise Marge Pearcy’s „Er, Sie, Es“, finden keine Erwähnung. Vgl. Pearcy 1991. Morgenthaler 1999: 93.

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über die lange Pflege der eigenen Mutter und eine weitere Person über die Mucoviscidose- Erkrankung einer Bekannten, um nur einige Beispiele zu nennen. Betrachtet man die thematisch sehr unterschiedlichen Fallgeschichten in der Zusammenschau, so wird allerdings eine gemeinsame Richtung deutlich: alle Erzählungen grenzen sich von biotechnologischen Versprechungen ab. Alle Fallgeschichten präsentieren Beispiele eines kritischen bis ablehnenden Umgangs mit biotechnologischen und biomedizinischen Angeboten. „Und ich weiß auch einen ganz konkreten Fall von einer Frau, die in einer Frauenarztklinik nicht geplant war. Und das vierte Kind hat Trisomie 21, also ist mongoloid. Und da haben viele Leute im Dorf dann bei uns, ‚Wie kann man auch, wenn man so alt ist, ohne eine medizinische Untersuchung’. Dann hat die Frau gesagt, sie hätte es nie abtreiben lassen. Und deswegen hätte sie auch die Untersuchung gar nicht machen lassen. Das sei ein Kind Gottes, sie ist sehr gläubig. Mit aller Konsequenz. Die Tochter ist jetzt, glaub so 15 Jahre alt. Hat natürlich alle Symptome, ist aber sehr...also vergleichsweise…es gibt da ja unterschiedliche Entwicklungen. Es gibt Kinder, die sehr stark behindert sind und da hab ich den Eindruck sie ist sehr stark integriert, in die Familie, ins Leben. Also sie ist nicht weggeschlossen oder weg versteckt, sondern das Kind ist da und die Mutter und alle wissen das“ (Interview Bruhno: 3).

Die Motivation, sich für ein behindertes Kind zu entscheiden, wird in diesem Falle mit dem religiösen Glauben der Mutter begründet. In einem anderen Beispiel dagegen sind es eher medizinkritische Argumente, die eine ablehnende Haltung gegenüber den biopolitischen Versprechungen untermauern. „Familiär kommt bei mir hinzu, dass meine Frau MS hat und ich seit Jahren im Kontakt mit Ärzten bin, die das Blaue vom Himmel erzählen, was die neuen Medikamente angeht. Wir als Familienangehörige werden dann immer mit den Hoffnungen konfrontiert, den Versprechungen, den medizinischen Entwicklungen und wie die Ärzte das transportieren. (...) Ärzte haben Angst vor der öffentlichen Kritik, aber was die Behandlung selbst angeht, sind sie ziemlich gnadenlos und sind bereit, alles auszuprobieren“ (Interview Eitel: 3).

Die beiden Beispiele thematisieren zwei verschiedene Ebenen der Erfahrung mit biomedizinischen Angeboten. Während es im ersten Fall darum geht, sich gegen vorgeburtliche Diagnostik zu entscheiden, da eine Abtreibung aus christlichen Gründen abgelehnt wird, löst im anderen Fall der Einsatz von Medikamenten nicht die vorangegangenen ärztlichen Versprechen ein. Im ersten Fall wird der medizinischen Eingriff an sich abgelehnt, während bei der MS-Erkrankung zunächst auf biomedizinische Angebote Bezug genommen wird und erst die Erfahrungen mit dieser Behandlung zu einer kritischen Betrachtung führt. Diese unterschiedlichen Umgangsweisen mit biomedizinischen Angeboten lassen sich zurückführen auf die unterschiedlichen normethischen Begründungen der Protagonisten. Während im ersten Fall eine christliche Sinnorientierung die ablehnende Haltung gegenüber (selektiver) Abtreibung begründet, wird im zweiten Beispiel auf der Basis von individuellen Erfahrungen situationsethisch argumen-

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tiert. Beide Erzählungen transportieren aber im Ergebnis eine ablehnenden Haltung gegenüber biopolitischen Angeboten. Während die Lehrkräfte Erfahrungen mit Krankheit und/oder Behinderung über die Erfahrungen von „anderen“ erzählen, so berichten sie durchaus von eigenen Erfahrungen im Umgang mit genmanipulierten Nahrungsmitteln. Sie erzählen von ihrer Verunsicherung, beispielsweise von einem diffusen Unbehagen beim Kauf genmanipulierter Nahrungsmittel. „Ich war vor zwei Wochen bei Freunden in England und da sind wir beim Einkaufen auf das Thema gekommen, weil sie dort eben in den Supermärkten sehr viel genmanipuliertes Essen kriegen. Und da habe ich mich selber auch ertappt, dass ich wirklich nur Produkte, wo ‚organic’ darauf stand, gekauft habe. Wo ich einfach gedacht habe: ‚Warum kaufe ich jetzt nicht diesen Käse, der weitaus günstiger ist?’ Aber ich sagte ‚Nein, Vorsicht!’ Da habe ich gemerkt, ich habe gewisse Vorbehalte. Nur mal was das Essen anbelangt“ (Interview Bentel: 10).

Mit „gewissen Vorbehalten“ und Unsicherheiten wird die Konfrontation mit gentechnisch manipulierten Lebensmitteln im Alltag beschrieben, ohne dass allerdings dieses Unbehagen genauer begründet würde. Die Erzählung verbleibt auf der Alltagsebene und eine Reflexion über das Für und Wieder von Genmanipulationen bei Pflanzen findet nicht statt. Ebenfalls auf genmanipulierte Pflanzen bezieht sich eine erzählte Erfahrung, die im Zuge der Partizipation am öffentlichen Diskurs über Gentechnologie gemacht wurde: „Ich entsinne mich noch, vor drei, vier Jahren, war das auch ganz aktuell. Da wurde bei meinem Wohnort die Diskussion angeregt und eine große Versammlung veranstaltet, weil dort ein Landwirt gentechnisch gearbeitet, um es vorsichtig zu sagen, Mais anbauen wollte. Und es war ganz groß über die Pharmaindustrie angekündigt, die Schüler haben das mitgekriegt, es gab da auch Diskussionen zu Hause, die haben das mit in den Unterricht hineingetragen. Von großem Interesse. Der Versuch ist dann eigentlich, der Landwirt hat sich zurückgezogen, nachdem er gemerkt hat, dass die Leute sehr große Ängste haben, dafür ist ein anderer ganz heimlich eingestiegen. Zufällig hat ein Schüler das wieder entdeckt im Internet, dass da schon ein Landwirt das ja betreibt. Also, die ganze Aufregung, Diskussion, mit von der Kirche auch angeregt, die war eigentlich unnötig und die standen schon ganz stark drin“ (Interview Gruppe: 3/4).

Die hier beschriebene Erfahrung ist die der Teilhabe an einem öffentlichen Diskurs, der letztlich scheitert. Am Ende wird der Versuch mit genmanipulierten Maispflanzen durchgeführt, trotz kritischer Haltung der Anwohner. Mit diesem Erlebnis erscheint die Diskussion über die Einführung, die öffentliche Debatte um genmanipulierten Mais, als „eigentlich unnötig“, da ohne Relevanz für die Praxis. Über ähnliche Erfahrungen des Scheiterns im öffentlichen Diskurs berichten Lehrkräfte auch im Kontext von Abtreibungsdebatten und Klonen. Ein häufig gezogenes Fazit dieser thematisch unterschiedlichen Erzählungen ist, dass die Stimme der Beteiligten nicht gehört und gentechnologische

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Forschung und Anwendung unabhängig von öffentlichen kritischen Debatten einfach weiter betrieben wird. Implizit wird damit Kritik an der undemokratischen Umsetzung biotechnologischer Anwendungen geübt und so reihen sich auch diese Erzählungen ein in den Kanon der kritischen Narrationen über die biopolitischen Entwicklungen. Fallgeschichten aus der Lebenswelt der SchülerInnen beziehen sich auf Erfahrungen mit Behinderungen oder früher Schwangerschaft. Sie thematisieren zumeist bioethische Fragen des Umgangs mit menschlichem Leben. Berichtet wird von einem Schüler mit einer Behinderung, einer Schülerin, deren Verwandte Down-Syndrom hat sowie von einer Schülerin, die im Alter von 17 Jahren ein Kind bekam. Ebenso wie die zuvor beschriebenen Fallgeschichten aus der Lebenswelt der Lehrkräfte transportieren auch diese Erzählungen eine negative Sichtweise auf biopolitische Veränderungen in der Art, dass sie über positive Erfahrungen mit Behinderung und früher Schwangerschaft berichten. Damit werden mit Hilfe von gelebten positiven Erfahrungen biopolitische Problemdefinitionen in Frage gestellt. So heißt es zum Beispiel: „Also, ich rede jetzt vom Down-Syndrom. Ich habe eine Schülerin, deren Kusine hat Trisomie 21. Dann sagen die anderen Schüler halt, ‚Das muss abgetrieben werden. Dass hat keinen Sinn’ und so. Dann sagt die Schülerin: ‚Aber meine Kusine, die ist glücklich, der geht es doch gut’“ (Interview Stemplewski: 11). „Ich habe eben auch einen Schüler, der behindert ist, also, ein Schüler, dem ein halber Arm fehlt. Und der sagt, das ist eben ein Problem von der Schwangerschaft her gewesen. Der hat dort eindeutig Stellung bezogen, er sei froh, dass er nicht abgetrieben worden ist. Und der kommt auch mit seiner Behinderung gut zurecht“ (Interview Blau/Jürgens: 10).

Hier dienen Anti-Beispiele der Illustration eines guten Lebens mit einer Behinderung. Der Erfahrungsgehalt solcher Erzählungen ermöglicht es, eugenisch motivierte, selektive Abtreibungen in der Fortsetzung der Erzählung abzulehnen und die Erfahrungsberichte zu einer als gehaltvoll und fundiert angesehenen Basis der Positionierung gegen vorgeburtliche Diagnostik werden zu lassen. Es gibt aber auch Erzählungen über die Zustimmung zu biotechnologischen Verfahrensweisen und diese stammen alle aus dem Bereich der Grünen Gentechnologie. Berichtet wird beispielsweise von einigen SchülerInnen, deren Eltern in der Landwirtschaft tätig sind und die den gentechnischen Veränderungen von Nahrungsmitteln durchaus positiv gegenüberstehen.

„Ich habe viele Schüler, die aus der Landwirtschaft kommen. Die Probleme, die so auftreten, wenn das Saatgut erfriert, solche Dinge kennen sie. Und wenn das Saatgut dann eben kälteresistent ist, das ist für sie dann schon was sehr Positives. Dann ist der Ertrag einfach ein anderer. Und damit auch der Verdienst der Familie“ (Interview Stemplewski: 10).

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Die ökonomische Rationalität dieser Erzählung greift lebensweltliche ökonomische Erfahrungen von Schülerinnen und Schülern auf, in das Blickfeld geraten ökonomische Zwänge und Engpässe einzelner Familien. Eine solche narrative Präsentation ökonomischer Erfahrung stellt aber die Ausnahme dar. Der überwiegende Anteil der Erzählungen aus der Lebenswelt der SchülerInnen thematisiert Erfahrungen im Umgang mit menschlichem Leben und transportiert, ebenso wie die Erzählungen aus der Lebenswelt der Lehrkräfte, eine Kritik biopolitischer Entwicklungen. Ein weiterer Typus von Erzählungen, die in unseren Interviews eine wichtige Rolle spielen, bilden Fallgeschichten, die der Presseberichterstattung oder Filmen entnommen wurden. Hier wird zumeist über spektakuläre Fälle der Anwendung von Biotechnologie am Menschen berichtet, sei es, dass eine 56 jährige Frau eine Eizelle für ihre Tochter spendet und somit die genetische Mutter ihres Enkelkindes ist oder dass in den USA die In-Vitro-Fertilisation bei einer 68jährigen vorgenommen wurde. Die Fallgeschichten, die der Presse entlehnt sind, thematisieren immer Tabubrüche. Diese beziehen sich entweder auf die durch die Biotechnologie möglich gewordene Verschiebung von Generationengrenzen, wie sie in den oben genannten Beispielen sichtbar sind, oder um Fragen nach der Zulässigkeit von Manipulationen an der genetischen Ausstattung der kommenden Generation. Eine gern verwendete Erzählung ist in diesem Zusammenhang das Beispiel eines lesbischen, taubstummen Paars, das sich ein taubstummes Kind wünscht, oder auch die folgende Fallgeschichte: „Wir haben dieses Mal einen Film angeschaut von einem Mädchen, die krank war und die Eltern noch ein Kind gezeugt haben, um praktisch einen Knochenmarkspender zu haben. Und das ist halt für die Schüler ganz klar, wenn man sie fragt, ‚Findet Ihr das in Ordnung?’ ‚Natürlich ist es in Ordnung.’ (...) Wenn man dann weitermacht und sagt: ‚Ja, wenn man jetzt dem Kind das Herz genommen hätte oder sonst was?’ Dann sagen die Schüler: ‚Nö, das dürfe man also auf keinen Fall’“(Interview Stemplewski: 4).

Das Beispiel verdeutlicht, dass der in dem Fallbeispiel skandalisierte Tabubruch – die zweckorientierte Zeugung eines Menschen, um das Leben eines anderen Menschen zu retten – den Schülerinnen und Schülern erst dann als ethisch problematisch erscheint, wenn die aus zweckorientiertem Anlass gezeugte Person selbst Schaden erleidet bzw. die Zweckorientierung deren Tod erforderlich macht und sie im Falle der Herzentnahme eben sterben müsste. Hier nutzt die Lehrerin die Erzählung, um die ethischen Grenzen einer solchen Zeugung auszuloten und die Manipulation der nachfolgenden Generationen in Frage zu stellen.

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Auch werden Fallbeispiele aus der Presse bemüht, die mit der Vorstellung einer verlässlichen Wissenschaft brechen. „Das ist zum Beispiel die pränatale Diagnostik. Und da gibt es ja die berühmten Fälle. Aber ich habe da keine Akten gelesen. Ich weiß es von Fernsehsendungen. Aus dem Bayrischen Rundfunk. Ich glaube nicht, dass die im Dritten Programm rumlügen. Ich glaube, dass die seriös sind. Kam zum Beispiel, dass bei pränataler Diagnostik ein Kind als behindert erklärt wurde. Dass die Mutter unter die Pression gestellt wurde, das Kind abzutreiben. Und dass die Mutter sich weigerte. Und dass dann ein kerngesundes Kind zur Welt kam. Dass muss man den Schülerinnen sagen“ (Interview Eichner: 3).

Die interviewte Person betont zunächst einmal die Seriosität und Glaubwürdigkeit ihrer Informationsquelle, bevor sie zu ihrem eigentlichen Thema, der Infragestellung von Pränataldiagnostik kommt. Die Bezugnahme auf eine medial verbreitete Erzählung bedarf der wiederholten Versicherung, dass die hier transportierte Erzählung die Qualität von Wahrhaftigkeit hat. Thematisiert wird eine ärztliche Fehldiagnose und somit die Unzuverlässigkeit moderner biotechnologischer Methoden. Mit Hilfe dieses Fallbeispiels wird eine Infragestellung von als selbstverständlich erachteten Gewissheiten vorgenommen, die angesichts der großen Verbreitung der Pränataldiagnostik auch eine inzwischen als normal geltende Praxis zu erschüttern sucht. Insofern reihen sich auch Erzählungen über ärztliche Fehlentscheidungen in den Tenor der Presse entnommener Geschichten ein, die von Tabubrüchen biopolitischer Veränderungen erzählen. Davon unterscheiden sich fiktive Geschichten, d.h. Fallgeschichten, die die Lehrkräfte zu Veranschaulichungszwecken erfunden haben. Sie transportieren überwiegend moralische Ambivalenzen und ethische Dilemmata. Sie erzählen von den Schwierigkeiten, sich für biotechnologische oder biomedizinische Eingriffe in menschliches Leben zu entscheiden. Themen sind hier zum Beispiel ärztliche Entscheidungskonflikte bei Transplantationen, wie die Zuteilung von lebenswichtigen Organen an PatientInnen oder auch Konflikte über riskante gentechnologische Versuche an Menschen im Falle persönlicher Betroffenheit von Krankheit. Im Mittelpunkt dieser Erzählungen steht jeweils ein spezifisches Dilemma, welches aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet wird. So wird beispielsweise das Thema Abtreibung in den folgenden Szenarien durchgespielt: „Da hatte ich drei Fallbeispiele aufgeschrieben: Ein junges Paar kennt sich seit sechs oder acht Wochen, stellt fest: „Meine Güte, eigentlich mögen wir uns gar nicht so sehr, aber es ist nicht folgenlos geblieben.“ Eine Familie hat zwei Kinder, die Frau hat gerade einen Job, gut situiert, Geld wäre genug da, aber sie weiß, sie hat jetzt eine tolle Halbtagesstelle, wohnortsnah. Und jetzt merkt sie, sie ist schwanger. Was tut sie? Und die dritte Situation: Eine Familie, sozial schwach, hat schon vier Kinder, Vater trinkt. Soll das Kind auf die Welt kommen? (...) Ist das Recht des Kindes, des noch ungeborenen Kindes, das einzig Ausschlaggebende, oder wie in dem Fallbeispiel, Vater Alkoholiker, bereits schon vier Kinder, völlig mit dem Leben überfor-

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dert. Haben auch die anderen vier Kinder und die Eltern, also diese sechs, die schon da sind, auch ein Recht?“ (Interview Vogt: 3/4).

Diese fiktiven Geschichten präsentieren verschiedene Szenarien zu einem Thema. Sie zielen darauf ab, moralische Dilemmata zu veranschaulichen. Im Unterschied zu den bisher beschriebenen Erzählungen bieten die fiktiven Geschichten der Lehrkräfte keine biopolitische Positionierung an, sondern illustrieren Lebenslagen. Sie eröffnen einen Blick in die Verschiedenartigkeit von Lebenssituationen und korrespondierenden Rationalitäten. Sie haben keine Empfehlung oder Vorliebe für eine bestimmte Begründung oder Entscheidung. Am Ende solcher Geschichten steht die offene Frage nach der ethischen Entscheidung. Fiktive Geschichten enden zumeist mit der Frage: „Was würdest Du entscheiden? Was würdest Du raten?“ (Interview Albrecht: 3).

Zur Rationalität der verwendeten Erzählungen Die befragten Lehrkräfte verwenden Erzählungen in recht unterschiedlicher Art und Weise und greifen in den Narrationen eine Vielzahl von Themen auf. Die Erzählungen unterscheiden sich auf der strukturellen Ebene dadurch, dass zum einen die Geschichten in den Interviews entwickelt und erzählt werden, während zum anderen Erzählungen lediglich angedeutet werden und nur als Verweise in Erscheinung treten. Darüber hinaus können die Erzählungen entsprechend der Systematik von Somers21 unterschieden werden in vier Typen der Narration: Meta-Narrationen, ontologische Narrationen, öffentliche Narrationen sowie konzeptionelle Narrationen. Als Meta-Erzählungen gelten die sogenannten „großen Erzählungen“, die eine eigene Kosmologie entwickeln. In den Interviews werden diese Meta-Narrationen selten ausbuchstabiert, es wird zumeist auf sie verwiesen, um den ihnen zugrundeliegenden Kosmologien Geltung zu verschaffen, beispielsweise einer religiösen Kosmologie mit dem Verweis auf die Schöpfungsgeschichte oder spezifischer politischer Kosmologien mit Hilfe des Verweises auf die NS-Euthanasie oder auch mit Hilfe der gesellschaftlichen Modelle, die in der Literatur des Science-Fiction verhandelt werden. Mit Hilfe ontologischer Erzählungen werden Geschichten transportiert, mittels derer sich die Individuen verorten, ihr individuelles Selbst und ihre sozialen Zugehörigkeiten bestimmen. Erzählungen dieser Art bemühen die Lehrkräfte, wenn sie mit Fallgeschichten aus der Erfahrungswelt der Lehrkräfte und auch der SchülerInnen arbeiten. Öffentliche Narrationen als Erzählungen, die einer institutionalisierten Form von Öffentlichkeit entstammen, werden von den Lehrenden ver21

zitiert nach Viehöver 2001: 183/184. Viehöver bezieht sich auf Somers 1992; Somers 1994.

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wendet, wenn sie Erzählungen aus Printmedien und Filmen wiedergeben. Wenn die Lehrkräfte fiktive Fallbeispiele heranziehen, arbeiten sie mit konzeptionellen Narrationen als konstruierte und analytische Modelle spezifischer Sachverhalte. Wie die Interviews zeigen, erfüllen diese vier Typen der Narration auch unterschiedliche Funktionen bei der Unterrichtskonzeption und Unterrichtsgestaltung. So dienen Meta-Geschichten und öffentliche Narrationen vor allem dazu, konkrete ethische Positionen zu vermitteln. Im Anschluss an Lyotard könnte man sagen, dass hier die normative Form der Aussagen überwiegt. Konzeptionelle Narrationen dagegen beleuchten eher verschiedene ethische Perspektiven und sollen vor allem den Problemhorizont biopolitischer Themen deutlich machen. Dementsprechend überwiegen hier evaluative und interrogative Aussageformen. Ontologische Geschichten, die das eigene Erleben der Lehrkräfte thematisieren, treiben demgegenüber vor allem die Selbstvergewisserung der Lehrkräfte im Hinblick auf konkrete ethische Fragestellungen voran. Sie ermöglichen es den Lehrkräften, sich zu Fragen der Anwendung roter Gentechnologie zu positionieren und ihre individuellen Suchbewegungen bei der ethischen Positionierung zu beschreiben. Diese Erzählungen weisen die größte Mischung unterschiedlicher Aussageformen auf, d.h. in ihnen finden sich denotative, normative, interrogative und evaluierende Aussagen. Struktur und Inhalte der Narrationen lassen unschwer erkennen, dass hier ein „Modus der Kommunikation und der Konstitution von Sinn“22 wirksam ist, über den Bewertungen und eine ethische Perspektive zum Ausdruck gebracht werden. Mit der Verwendung von Narrationen werden Rationalitäten wirksam, die – wie auf den vorherigen Seiten zu zeigen versucht wurde – vor allem eine Logik der Erfahrung als Medium der Kritik etablieren. In den Verweisen auf bekannte Erzählungen, in den Erzählungen aus der Lebenswelt der Lehrkräfte und der SchülerInnen ebenso wie in Teilen der Presseberichte und der Filmsequenzen wird von Erfahrungen berichtet, die zur Kritik der biotechnologische und biomedizinische Angebote und Verfahren auffordern. Erzählt wird über die Erfahrung von Leid, von Widerständigkeit, von Selbst-Behauptung, von Kampf, von Verlust und Sieg. Der Stoff für eindrückliche und wiederholt erzählte Geschichten stammt nicht aus dem Gleichklang und der Normalität des Alltags – die mühsame experimentelle Arbeit in einem biotechnologischen Forschungslabor wird selten Gegenstand einer Narration – sondern thematisiert werden Krisen, Auseinandersetzungen und Bewährungsproben. Hier werden die lebensgeschichtlichen Punkte markiert, an denen sich Individuen bewusst zu vorgezeichneten Wegen und Anforderungen verhalten und entscheiden. So ist der narrative Rekurs auf Erfahrungen zumeist ein Hinweis auf eine widerständige Praxis. 22

Viehöver 2001: 181.

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Dessen Begründungslogik weist „gelebte Erfahrung“ als Ausgangspunkt von Autonomie und als Medium der Kritik aus.23 Zudem etablieren viele Erzählungen eine Evidenz des Skandals. Indem sie spektakulären Einzelfällen möglicher, wahrscheinlicher oder auch faktischer Entwicklungen breiten Raum geben, sie ausführlich beschreiben und diskutieren, erhalten diese Fälle Stellvertreterfunktion und repräsentieren das allgemeine Geschehen oder doch zumindest eine Facette davon. Skandalisierungen strukturieren die Gegenwart, indem sie Gestriges auf Heute oder Morgen beziehen oder das aktuelle Geschehen als Meilenstein, Paradigma oder Wendepunkt einer zukünftigen Entwicklung stilisieren. Das Element der Zeitverschiebung ist ein wichtiger Mechanismus für die Evidenz des Skandals, da es zur Bewertung der Gegenwart eines Bezugspunkts bedarf, der nur aus einer zeitlichen Perspektive, also aus der (möglichen) Entwicklungen der Zukunft oder aber durch den Bezug auf ein vergangenes Ereignis, gewonnen werden kann. Auf diese Weise wird das den Erzählungen innewohnende Verhältnis von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, von dem Paul Ricoeur spricht, in besonderer Weise bestimmt. Es wird eine lineare Entwicklung der verschiedenen Zeitebenen konstruiert, deren Richtung von „Verlust“, „Verfall“ oder „Auflösung“ geprägt ist. So werden gegenwärtige Erfahrungen mit Biomedizin und Biotechnologie mittels der Skandal-Erzählung in eine Verfallsgeschichte eingeordnet, die es den Individuen ermöglicht, sich historisch, in kulturpessimistischer Perspektive zu verorten. Mit Hilfe dieser beiden Rationalitäten formen und gestalten die Narrationen die kritische Perspektive auf Entwicklungen der Biopolitik. Aus didaktischer Sicht kommen sie eher einer normethischen Belehrung denn eine Initiierung und Entwicklung von Lernprozessen gleich.24 Demgegenüber transportieren fiktive Geschichten als sogenannte Dilemmageschichten stärker ein offenes Angebot unterschiedlicher ethischer Deutungen und folgen dem Ziel, Lernprozesse in Form offener Fragen in Gang zu setzen. So ließe sich sagen, dass in den Dilemmageschichten eine generelle Haltung des Akzeptierens von Pluralität zum Ausdruck gebracht wird. Ihr besonderes Kennzeichen ist gerade die Verweigerung einer bestimmten ethischen Positionierung. Die Akzeptanz von Pluralität bringt Erzählungen hervor, in denen viele Perspektiven auf eine konkrete biopolitische Entscheidungssituation veranschaulicht werden und die Bandbreite möglicher ethischer Positionierungen verhandelt wird, ohne dass „ethische Grenzen“ formuliert oder eine politisch-ethische Position bevorzugt würde.

23 24

Zur kritischen Perspektive auf eine emphatische Sichtweise auf Erfahrung als „authentisches Korrektiv“ und als Basis für eine widerständige Praxis vgl. Scott 1992. Vgl. Mieth 2002: 29.

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In den Narrationen der Lehrkräfte kommen diese drei Rationalitäten, die wir als „Erfahrungen als Medium der Kritik“, „Evidenz des Skandals“ und als „Akzeptanz von Pluralität“ bezeichnet haben, in unterschiedlicher Ausprägung vor. So dominieren die beiden erst genannten Rationalitäten. Hier wird mit Hilfe von Narrationen eine kritische Perspektive auf biopolitische Entwicklungen eingeführt. Die dritte Rationalität, die wir „Akzeptanz von Pluralität“ genannt haben, spielt in den Narrationen eine eher nachgeordnete Rolle. Wie im Folgenden zu sehen sein wird erfährt sie aber eine besondere Akzentuierung in der Form, dass als Kehrseite von Pluralität das Authentische und die Betroffenheit eine starke Aufwertung erfahren.

3. Authentizität und Betroffenheit Die Pluralisierung von Lebenslagen, Wissensbeständen und Ansichten gilt in soziologischen Analysen und Untersuchungen als ein Charakteristikum unserer Gegenwartsgesellschaft. In Entsprechung zu den Veränderungen der Lebensformen und Lebenswelten wandeln sich auch die Vorstellungen von Identitäten und die Anforderungen bei der Konstruktion von Selbst-Bildern und so ist auch in den Ausführungen der interviewten Lehrkräfte die Thematisierung von Pluralisierung begleitet von einem Nachdenken darüber, wie sie im schulischen Kontext ihren Ausdruck findet und was Pluralisierung für den Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule bedeutet. Die Lehrerinnen und Lehrer halten es in diesem Zusammenhang für nötig, auch angesichts biotechnologischer und biomedizinischer Möglichkeiten und Optionen den Begriff der Identität und der Authentizität zu stärken. Sie vertreten die Ansicht, dass entgegen einer allgemeinen Pluralisierung und Zunahme an Vielfalt der Auflösung von „Identität“ und „Authentizität“ entgegengewirkt werden müsse und dass umgekehrt Identität und Authentizität die Garanten für eine Orientierung und das Zurechtkommen in einer pluralen Welt darstellen. Sie verstehen es deshalb als ihre Aufgabe, die Schülerinnen und Schülern bei der Suche nach einem ihnen gemäßen Ausdruck von Authentizität, Identität und Integrität, der Formulierung eines Glücksanspruchs wie auch dem Ansinnen, individuelle Zufriedenheit zu erreichen, zu unterstützen. Dabei folgen sie einem Begriff von Identität, der Vorstellungen von Authentizität, Wahrhaftigkeit und Ganzheit betont und knüpfen damit an Personenkonzepte aus dem 19. und 20. Jahrhundert an, die Vorstellungen vom Individuum und dessen Individualität an die Ideen von Integrität, Einheit und Kohärenz banden. Dieses Personenkonzept ist im Zuge gesellschaftlicher Veränderungen und angeregt durch postmoderne und poststrukturalistische Kritik immer wieder befragt worden und es sind viele Einwände gegen die Idee des

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handlungsmächtigen, reflektierten, identischen und in der Regel männlichen Subjekts formuliert worden. Unter den Schlagwörtern „vielfältige TeilSelbste“25, „Patchwork-Identität“26, „Identitätsarbeit“27, „Identitätspolitik“28 wie auch dem Postulat vom „Tod des Subjekts“29 werden heute eher Fragmentierungen, Vielfältigkeiten und die Aspekte der interaktiven Herstellung und sozialen Konstruktion von Selbst-Bildern thematisiert. Entgegen dieser neueren Entwicklung machen die befragten Lehrkräfte den Begriff der „Persönlichkeit“ stark. Dieser ist gekennzeichnet durch hohe Integrations- und Konsistenzanforderungen, die Ernst Troeltsch schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts als „Einheit“ und „Geschlossenheit“, „Selbstmächtigkeit“, „strenge Selbstübereinstimmung“ und „Charakterfestigkeit einer zusammenhängenden Lebensgestaltung“ bezeichnet hat und die er in der innerlichen klaren Gewissheit begründet sieht.30 Damit einher geht, so behauptet Klaus Tanner, die Sprachform „des großen Singulars“.31 Je stärker Staat und Gesellschaft auseinander treten und je größer die innergesellschaftlichen Differenzierungen werden, desto geneigter seien die Menschen, durch Bezugnahme auf Prinzipien Einheit zu stiften. Sie sprechen dann zunehmend über das Selbstbewusstsein, die Wirklichkeit, die Subjektivität und die Kultur und berufen sich verstärkt auf Symbole und Konstrukte, die Einheit und Eindeutigkeit transportieren. Dazu eignet sich beispielsweise die Bibel, die Idee vom kohärenten, authentischen Selbst oder auch die Ethik als Werte schaffendes und Leitlinien formulierendes Ansinnen. Diese hier zum Ausdruck gebrachte Vorgehensweise bestimmt auch den Umgang mit den gesellschaftlichen Veränderungen, die sich im Zuge der biotechnologischen Verfahren und ihrer biopolitischen Regulierung vollziehen. So zeigen Untersuchungen, dass mit der Biopolitik eine Individualisierung von Problemlagen und damit ein Rekurs auf das Prinzip „Persönlichkeit“ einhergeht. 25 26

27 28

29 30 31

Bilden 1997: 227. Keupp 1994: 243. Keupp zeigt, dass diese Diskussion bereits alt ist. Schon vor vierhundert Jahren formulierte de Montaigne eine Vorstellung vom dezentrierten Subjekt: „Ich habe von mir selbst nichts Ganzes, Einheitliches und Festes, ohne Verworrenheit und in einem Gusse auszusagen (....) Wir sind alle aus lauter Flicken und Fetzen so kunterbunt unförmlich zusammengesteckt, dass jeder Lappen jeden Augenblick sein eigenes Spiel treibt. Und es findet sich ebensoviel Verschiedenheit zwischen uns und uns selbst wie zwischen uns und anderen“, zitiert nach Keupp 1997: 243. So der gleichlautende Titel eines von Heiner Keupp und Renate Höfer herausgegebenen Sammelbandes. Vgl. Keupp/Höfer 1997. Dieser im angelsächsischen Raum verbreitete Terminus bezeichnet eine Form der Lobbypolitik für soziale Gruppen und Bewegungen, die als Strategien zur Persönlichkeitsentfaltung und Gleichstellung von zum Beispiel Frauen, Schwarzen, Homosexuellen eingesetzt werden. Vgl. z.B. Weeks 1995. Z. B. Kamper 1980: 79 oder auch Welsch 1991: 347. Troeltsch 1925: 217/218. Tanner 1992: 99.

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Diese zeigt sich beispielsweise darin, dass das Leben mit einem möglicherweise behinderten Kind zum individuellen Problem von schwangeren Frauen wird, die auf der Basis individueller Dispositionen eine Berechnung von Krankheitsrisiken für ihr Kind vorgelegt bekommt.32 In der Konsequenz bringt dies eine Verlagerung der Verantwortung für gesellschaftliche Probleme, wie beispielsweise die Integration von Menschen mit Behinderungen, in den Bereich des Privaten mit sich, so dass mit der Biopolitik eine Verschiebung von Zuständigkeiten zu beobachten ist. Aus dieser Perspektive erscheinen biopolitische Veränderungen vor allem als zunehmende Belastung für Individuen, da ihnen mehr Problemverantwortung zugeschrieben wird. Parallel hierzu werden aber auch biopolitischen Entscheidungen in den Bereich des Privaten verlegt, so dass sich hier individuelle Handlungsspielräume vergrößern. So „muss“ heute keine Frau mehr mit einem Down-Syndrom Kind leben und kinderlose Paare können sich ihren Kinderwunsch mit Hilfe der assistierten Reproduktion unter Umständen erfüllen, um nur einige Beispiel zu nennen. Unter dem Stichwort „Selbstbestimmung“ gelten biopolitische Handlungsangebote als individueller Entscheidungsspielraum, der letztlich aus persönlichen Gründen beliebig genutzt werden kann. Insofern kann man sagen, dass mit der Biopolitik den Einzelnen mehr individuelle Verantwortung für die Lösung gesellschaftlicher Probleme übertragen wird, während sich gleichzeitig individuelle Handlungsspielräume erweitern. Dabei sind die Entscheidungen des Individuums jedoch nicht völlig frei und beliebig, sondern werden institutionell strukturiert und verregelt, beispielsweise durch Krankenkassen, Beratungsstellen, Recht oder ähnliches. In den Betrachtungen der befragten Lehrkräfte spielen die ersten beiden Folgen der biopolitischen Individualisierung von Problemlagen – die Zunahme oder Pluralisierung der Verfügungsoptionen und Gestaltungsmöglichkeiten der Einzelnen wie auch die Zunahme der Rolle und Bedeutung des Individuums, das nun mehr entscheiden kann, aber auch zur Entscheidung gezwungen ist – eine wichtige Rolle. Die dritte Folge der mit der Biopolitik verbundenen Individualisierung – dass die den Individuen aufgenötigten Entscheidungen in hohem Maße institutionell strukturiert und verregelt sind – aber bleibt in dem überwiegenden Teil unserer Interviews unerwähnt. Mit dieser Ausblendung entsteht eine Schieflage, weil gesellschaftliche und politische Regulationen als Gegengewicht zum Ideal der autonomen Entscheidungen keine Berücksichtigung finden. Stattdessen werden beim Nachdenken über Biotechnologie und Biopolitik überwiegend die Kompetenzen der Einzelperson samt ihren emotionalen und 32

Wesentliche Studien sind hier Beck-Gernsheim 1996, Waldschmidt 1996 sowie Samerski 2002. Die Verbindung dieser Tendenz zur Individualisierung von Krankheit und Behinderung mit der ökonomischen Entwicklung des Neoliberalismus beschreibt zum Beispiel Bröckling 2004.

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sozialen Zuständen, sprich Empfindlichkeiten und Betroffenheiten, in den Blick genommen, um zu bestimmen, worin sich eine „richtige“ oder eine „gute“ Entscheidung angesichts einer biopolitischen Problemstellung bemisst. In dieser Betrachtungsweise bricht sich eine Form der Rationalität Bahn, die wir als „Logik des Authentischen“ bezeichnen. Im Sinne dieser Logik gelten biopolitische Entscheidungen dann als begründet und nachvollziehbar, wenn sie einer Kohärenz und Charakterlichkeit der Individuen folgen. Die Kriterien dafür, eine Verhaltensweise für angemessen und überzeugend zu halten, folgen der Eigenlogik der „Betroffenen“. Zum Anspruch wird, dass die Entscheidung möglichst „autonom“ und „unabhängig“ gefällt wird. Als ideal gilt eine Entscheidung, die als „authentische“, d.h. selbstbestimmte, autonome, unverfälschte zu überzeugen vermag. Damit geraten Begründungen, die sich aus sozialen Zusammenhängen und gesellschaftlichen Strukturen bestimmen, in den Hintergrund. Sie finden zwar als „Rahmenbedingungen“, die den Entscheidungsspielraum biopolitischer Handlungen, einschränken Erwähnung, werden aber von keinem der Interviewten als Ursache oder relevanter Faktor für die getroffenen Entscheidungen angeführt. Vielmehr wird vielfach der Anspruch an das Individuum formuliert, seine Entscheidungen individuell zu begründen und als authentische Entscheidungen sichtbar zu machen.33 Dieser Anspruch zeigt sich in den Darstellungen des Unterrichts auf zweierlei Weise: Zum einen wird eine individuelle biopolitische Positionierung der SchülerInnen von den Lehrkräften als eines der wichtigsten Unterrichtsziele benannt. Zum anderen entwickeln die Befragten Kriterien für Rationalität von Begründungen und Entscheidungen anhand einer von ihnen unterstellten Bedeutung von Authentizität.

Individuelle Positionsbekundungen Entsprechend dem Lebensraum von Schule werden individuelle biopolitische Entscheidungen im Unterricht als imaginierte Handlungen konzipiert, d.h. in der Schule geht es nicht um reale biopolitische Entscheidungen von jeweils betroffenen Personen, sondern vielmehr um vollständig konstruierte Entscheidungssi33

Dass eine solche „Logik des Authentischen“ nicht nur bei den Befragten, sondern im allgemeinen biopolitischen Diskurs eine wichtige Rolle spielt, zeigt sich u.a. darin, dass soziale Begrenzungen biopolitischer Entscheidungsspielräume häufig mit der Anführung von Einzelfallbeispielen in Frage gestellt werden. So argumentieren beispielsweise Befürworter der Legalisierung von Sterbehilfe immer wieder mit dem individuellen Leiden einzelner Betroffener und versuchen hierüber eine Liberalisierung der gesetzlichen Regelungen zu erreichen. Vgl z.B. Boenisch/Leyendecker 1993; Benzenhöfer 1999; Der „authentische Fall“ dient im biopolitischen Diskurs wie auch bei den uns von Befragten häufig der Infragestellung geltender Regelungen und Normen.

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tuationen. Die Fragestellungen sind dabei im doppelten Sinne fiktiv: sie betreffen zum einen Situationen, mit denen SchülerInnen in Zukunft konfrontiert sein könnten, wie zum Beispiel ein Komazustand in Folge eines schweren Motorradunfalls. Zum anderen werden aber auch Entscheidungssituationen konstruiert, die aufgrund des derzeitigen Forschungsstandes spekulativ respektive fiktiv sind, beispielsweise der gesamte Themenbereich des menschlichen Klonens. Biopolitische Positionierungen im Hinblick auf Fragen dieser Art sind deshalb keine Entscheidungen mit realer Handlungskonsequenz, sondern mehr oder weniger plausibilisierte Verhaltenswahrscheinlichkeiten. Sie werden ausschließlich in der Form einer verbalisierten Meinung und Positionierung zu einem bestimmten biopolitischem Problem zum Ausdruck gebracht und bilden sozusagen das schulische Äquivalent zu den realen biopolitischen Entscheidungen betroffener Personen. Für die befragten Lehrkräfte stellen diese Positionsäußerungen zu biopolitischen Fragen ein wesentliches Lernziel ihres Unterrichts dar. So vertreten nahezu alle Lehrkräfte die Auffassung, dass die „Formulierung einer eigenen Meinung“ seitens der Schüler und Schülerinnen zu den grundlegenden Absichten ihres Unterrichts gehört – auch wenn sie sich in weltanschaulichen oder didaktischen Fragen ansonsten stark unterscheiden. Dieses Ziel motiviert beispielsweise eine politisch-pragmatisch ausgerichtete Lehrerin dazu, die SchülerInnen aufzufordern, ihre Meinung zum Thema Klonen per Abstimmung zum Ausdruck zu bringen und eine christliche Lehrkraft argumentiert: „Also in Reli ist mir wichtig, dass jeder Schüler seine eigene Meinung ausdrücken kann, dass er überhaupt formulieren kann und dass er sich auch eine Meinung bilden kann. (...) Das ist eigentlich mein Ziel“ (Interview Paulus: 6).

Das Lernziel der Formulierung einer „eigenen“ Positionierung seitens der SchülerInnen zieht sich wie ein roter Faden durch die ansonsten unterschiedlichen Interviews. Dabei gilt den befragten Lehrkräften nicht nur die Äußerung einer selbstständigen Meinung als ein wesentliches Lernziel ihres Unterrichts, sondern die Befragten weisen gleichzeitig darauf hin, dass diese biopolitische Meinung letztlich immer eine Frage „persönlicher“ Abwägungen sei. „Mir war nur wichtig, den Schülern auch klarzumachen, es ist meine persönliche Meinung in bestimmten Bereichen, es gibt dann zwar von der Ethikkommission irgendwelche Orientierungen, Aussagen. Aber letztendlich ist es doch so, dass jeder für sich persönlich seine Meinung finden muss“ (Interview Dom/Frankenberg: 4). „Die Entscheidung, was sie dann für richtig oder falsch halten, da müssen sie selber zu einem Urteil kommen“ (Interview Koch: 5).

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In den Zitaten zeigt sich, dass die im Unterricht artikulierten biopolitischen Urteile von den Lehrkräften als individuell getroffene und begründete Entscheidungen verstanden werden, die sich allgemeinen Beurteilungen entziehen. Zwar können bestimmte Informationen zur Verfügung gestellt werden, an denen sich im Zuge der eigenen Meinungsbildung orientiert werden kann. Die Entscheidung über die Deutung dieser Informationen („was sie für richtig oder falsch halten“) aber bleibt letztlich eine Frage persönlicher Gewichtung, so dass persönliche Begründungen als nicht mehr hinterfragbar erscheinen. Die diese Art der Definition von Lernzielen leitende Rationalität, die „Logik des Authentischen“, versagt sich somit die Möglichkeiten einer inhaltlichen Bewertung. Da sie sich allgemeingültigen Kriterien entzieht und nur an das Individuum zurückgebunden ist, wird von einem allgemeinen Maß und existierenden Normen abstrahiert. Sie kommen entweder überhaupt nicht vor oder werden, wie wir im vorangegangenen Kapitel beschrieben haben, durch die Rückbindung an ein Weltbild schlicht gesetzt und damit einer Argumentation und Begründung entzogen. Gleichzeitig aber legen auch die befragten Lehrkräfte an die von ihren Schülerinnen und Schülern kommunizierten Entscheidungen Kriterien an. Zwar ist die Angabe persönlicher Gründe als Entscheidungskriterium gewünscht und anerkannt, sie bedürfen aber dennoch einer Prüfung auf Gültigkeit und Akzeptanz. Im Folgenden soll deshalb beschrieben werden, wann individuelles biopolitisches Argumentieren seitens der SchülerInnen von den Lehrkräften als rational und nachvollziehbar betrachtet wird und welche Kriterien die Lehrkräfte anführen, nach denen sie die persönlichen Meinungsäußerungen von SchülerInnen als in sich schlüssig einstufen.

Kriterien des Authentischen: Individuelle Verantwortung und individuelle Lebenslagen Zunächst einmal führen die Lehrenden die klassischen Kriterien sachlogischen Argumentierens an, wie sie für rationales Abwägen im Allgemeinen gelten. Dazu gehören zum einen formale Fähigkeiten, wie verschiedene Positionen abwägen können, sich ausdrücken können, zuhören können usw. Zudem werden Kenntnisse wissenschaftlich fundierter Wissensbestände als Grundlage für eine persönliche Einschätzung genannt. Darüber hinaus beschreiben die Lehrenden spezifische Anforderungen, die bei der Einschätzung und Bewertung der Äußerungen ihrer Schülerinnen und Schüler eine Rolle spielen und anhand deren sie die Angemessenheit der Aussagen bemessen. So sagt zum Beispiel ein Lehrender:

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„Für mich wäre es ein Ziel, und das ist eigentlich meine Überzeugung, warum ich es auch gerne mache, dass die Menschen, also jetzt hier die jugendliche Generation, die hier irgendwann auch Entscheidungskompetenz hat, für die Zukunft, im Rahmen der Gesellschaft, dass die dahin kommt, dass sie sich bewusst entscheiden“ (Interview Albrecht: 15).

Ziel dieser Lehrperson ist es, den SchülerInnen als diejenigen, die sich zukünftig zu biopolitischen Streitfragen positionieren sollen, eine „bewusste“ Entscheidung zu ermöglichen. Der Maßstab für die „Bewusstheit“ einer Entscheidung misst sich bei vielen der Befragten daran, inwieweit sich bei den Lernenden in der Art und Weise der simulierten Entscheidung ein Verantwortungsbewusstsein zeigt. Sie machen das Ausmaß der Reflexion und Nachdenklichkeit der Schülerinnen und Schüler daran fest, ob diese sich „verantwortlich“ verhalten. Dabei ist das Spektrum dessen, was unter „Verantwortung“ verstanden wird, breit. So stellen einige Interviewte die Verantwortung sich selbst gegenüber heraus, andere betonen eine Verantwortung gegenüber der Natur und dritte sprechen von der Notwendigkeit einer religiösen Verantwortung. Verantwortung gegenüber sich selbst wird zumeist in recht allgemeiner Form zum Ausdruck gebracht: „Ich sage immer: die Ethik wandelt sich, sie ist nicht Starres. Man muss einfach – und das versucht die Religion ihnen, glaub ich, auch klar zu machen – dass jeder für sich eine entsprechende verantwortliche Einstellung entwickeln muss“ (Interview Unger: 4/5).

Referenzpunkt dieser Verantwortung ist das Individuum, welches Entscheidungen treffen muss, die ihm „selbst entsprechen“. Grundlegend ist hier erneut die Vorstellung von der Integrität der Person als Maßstab des Handeln, die sich beispielsweise in Form einer Verantwortung für den eigenen Körper und die eigene Gesundheit zeigt. So heißt es in einem Interview: „Also, das ist eigentlich mein Ziel, dass sie irgendwo versuchen, ihre Gesundheit selbst als ihre eigene Sache zu begreifen“ (Interview Fischer: 8).

Die zweite Fassung dessen, was an Verantwortungserwartungen an die Schülerinnen und Schüler heran getragen wird, macht sich an „der Natur“ fest. Im Sinne eines „respektvollen Umgangs mit der Natur“ argumentiert beispielsweise eine Lehrperson: „Also mir ist es wichtig, dass sie diese Erfurcht vor dem Leben, die ich halt so selber spüre in mir, dass ich versuche da auch ein Bewusstsein zu schaffen. Dass man da unheimlich Respekt vor haben muss. So wie das alles entstanden ist und wie das alles nach Plan lebt und gedeiht und sich fortentwickelt“ (Interview Paulus: 2).

Die Formen des genannten „Respekts“ und die Verhaltensweisen und Entscheidungen zu biopolitischen Streitfragen, die eine „Ehrfurcht vor dem Leben“ aus-

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drückten, werden inhaltlich nicht beschrieben und sind auch hier wieder in die persönliche Entscheidungskompetenz einzelner Individuen verwiesen. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die Bestimmung einer religiösen Verantwortung. Hierzu heißt es beispielsweise bei einer Interviewten: „Wenn dir das passiert und du in ein langes Koma fällst, dann ist es deine Gewissenssache vor dem Angesicht Gottes. Und dann ist es richtig. Was will ich sonst dazu sagen? Der getaufte Christ ist selbstverantwortlich. Und muss sich im Ernstfall von niemandem dreinreden lassen. Auch von keiner Kirche. Der ist frei in seinem Gewissen vor Gott“ (Interview Eichner: 9).

Nach diesem Verständnis sind die Individuen nur ihrem „Gott“ verpflichtet und die Notwendigkeit einer weltlichen Instanz, die diese Entscheidungen persönlichen Gewissens relativieren könnte, wird in Frage gestellt. Das Postulat verantwortlichen Handelns bezieht sich in den vorgestellten Ausführungen somit zwar auf verschiedene Referenzsysteme (Selbst, Natur, Gott), orientiert sich aber in allen Beispielen an der Integrität der Individuen. Unabhängig von der Bezugsinstanz gilt als ausschlaggebend, inwieweit die Individuen ihre Entscheidung in Auseinandersetzung mit der eigenen Biografie und Umgebung treffen sowie im Einverständnis mit den jeweiligen Instanzen handeln. Auf diese Weise wird die jeweils individuelle Deutung des betreffenden Bezugssystems zum Maßstab verantwortlichen Handelns in biopolitischen Entscheidungsfragen. Das dieser Vorstellung zugrunde liegende Verständnis von „Persönlichkeit“ favorisiert Autonomie und spart Intersubjektivität wie auch normative Vorstellungen überindividueller Gültigkeit aus. Die hier wirksame „Logik des Authentischen“ ist gekoppelt an ein abstraktes und idealistisches Konzept des autonomen Subjekts und hat zur Folge, dass Lehrer und Lehrerinnen die im schulischen Unterricht vorgenommenen Äußerungen und Handlungen ihrer Schülerinnen und Schüler als Ausdruck von Autonomie deuten. Eine solche Einschätzung verkennt nicht nur schulische Realität und deren organisatorische Erfordernisse und Zwänge, sondern nimmt auch die Lernenden aus einer abstrakten und damit reduzierten Perspektive wahr. Differenziert und relativiert wird eine solche Sichtweise durch die Betonung der Bedeutung von individuellen Lebenssituationen. Alle Lehrkräfte führen die Lebensbedingungen als gestaltender Faktor und wichtiges Kriterium eines „verantwortungsvollen“, „rationalen“ und „bewussten“ Handelns in biopolitischen Entscheidungsfragen an. Sie machen das Argument stark, dass biopolitische Fragen auf der Grundlage besonderer, individueller Lebenslagen entschieden werden. Als rational gilt allen Befragten biopolitisches Handeln dann, wenn es der jeweiligen Lebenssituation entspricht bzw. aus der individuellen Lebenssituation heraus erklärbar wird. Im Unterricht schlägt sich diese Überzeugung in der

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Form nieder, dass Situationen und Lebenslagen sogenannter „Betroffener“ vielfach herangezogen werden, um biopolitische Fragestellungen zu thematisieren und zu erörtern. Dieser durchgängige Rekurs auf die Alltagswelt sogenannter „Betroffener“ hat zunächst didaktische Gründe. So soll den Jugendlichen anhand konkreter Fallbeispiele die Thematik näher gebracht werden, da davon auszugehen sei, dass sie dann aufmerksamer dem Unterricht folgen.34 „Ich denke, am meisten lernt man immer noch von Leuten. Also, wo auch der emotionale Bezug auch da ist“ (Interview Fischer: 14).

Jenseits didaktischer Motive zeigt sich aber auch in der Einbeziehung der „Betroffenenperspektive“ in den Unterricht erneut das beschriebene Schema der Individualisierung von biopolitischen Problemlagen. Mit der Einführung von so genannten Betroffenen werden zwar auch Lebensumstände und Bedingungen konkreter Lebenssituationen zum Referenzpunkt für biopolitische Entscheidungen gemacht, aber auch hier bildet der Einzelfall den Maßstab. Eine Entscheidung gilt dann als in sich schlüssig, wenn sie aus der spezifischen Lebenssituation einzelner Betroffener heraus plausibel erscheint. Diese Logik hat sowohl schulpraktische Konsequenzen als auch Implikationen für das Verständnis von Wissen. Mit der Rückbindung an „den Betroffenen“ etabliert sich im schulischen Unterricht ein Zirkel, der das schulische Handeln unterläuft, statt es zu begründen und zu erklären. So werden „die Betroffenen“ im Unterricht nicht selten als eine Gruppe von Personen identifiziert, die Entscheidungshoheit in biopolitischen Fragen zugesprochen bekommt. Es entsteht eine Gruppe autorisierter SprecherInnen, die als kompetent und berechtigt gilt und sich deshalb zu der als komplex und kompliziert angesehenen Materie äußern kann. Damit ist die Berechtigung zur Stellungnahme von NichtBetroffenen tendenziell in Frage gestellt und Äußerungen, Positionen und Überlegungen Nicht-Betroffener werden in den Bereich der Spekulation verwiesen. „Ich denke immer, man kann in der Theorie immer sagen, ‚Ich bin dagegen’. Und wenn es einen mal wirklich betrifft, sieht es garantiert ganz anders aus“ (Interview Wald: 3).

Hier wird das Nachdenken über mögliches Verhalten und Handeln, das ja zentraler Gegenstand und Ziel der unterrichtlichen Behandlung biopolitischer Themen ist, als irrelevant für Handeln und Verhalten ausgewiesen. Damit wird zum einen das eigene Vorgehen im Unterricht relativiert und zum anderen die sachrationale, vernünftige Abwägung von Optionen für unnötig erklärt, in den Bereich reiner „Theorie“ verwiesen und von erfahrungs- und betroffenheitsgeleitetem „echten“, realen Handeln unterschieden. Selbst normativ sehr eindeutig 34

Zu den didaktischen Aspekten von Fallbeispielen vgl. Kapitel V.

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argumentierende Lehrkräfte halten sich mit dem Verweis auf die Betroffenenperspektive die Möglichkeit einer anderen Entscheidung offen. „Weil ich weiß auch nicht, ob ich dann nicht letztendlich doch irgendwann dafür wäre. Wenn es mich selber betrifft“ (Interview Paulus: 3).

In der Konfrontation mit der Betroffenenperspektive erscheint die schulische Übung, Entscheidungen zu begründen und zu treffen, letztlich leer und formal. Als gehaltvoll und bedeutsam hingegen werden Instanzen und Erfahrungen außerhalb der Schule angesehen. Damit wird die Übung der Reflexion und des vorwegnehmenden Nachdenkens im Nachhinein entwertet. Weil sie nicht „real“ ist, ist sie eigentlich bedeutungslos. Als Spiel, Probe und theoretische Reflexion hat sie keinen Bestand und kann jederzeit durch „authentische Erfahrungen“ revidiert werden. So beinhaltet das Beharren auf der Bedeutsamkeit der Betroffenenperspektive eine Abwertung von Nachdenken, Theorie und Reflexion. Gleichzeitig sind mit der Betonung der Bedeutung von Individualität und Betroffenheit auch Verschiebungen im Verständnis von „Wissen“ verbunden35. Durch die beschriebene Haltung der Lehrkräfte erfährt Erfahrungswissen einen enormen Bedeutungszuwachs und macht das lebensweltliche und auf Erfahrung gründende Wissen von Individuen zur Richtschnur für die Plausibilität von Entscheidungen und zum Maßstab für sinnhaftes Handeln. Erfahrungswissen bleibt unhinterfragt, weil es eben passiert, „echt“, „real“ und „tatsächlich“ ist.

4. Fazit: Rationalitäten und die Grenzen der Plausibilisierung Das Interviewmaterial ist gekennzeichnet von drei Rationalitäten, mit deren Hilfe die neue Thematik von den Lehrenden strukturiert und einer Bearbeitung im Unterricht zugänglich gemacht wird. Alle drei Rationalitäten – „Faktizität und Normativität“ „Evidenz von Erfahrung“ sowie eine „Logik von Authentizität und Betroffenheit“ – stabilisieren Sinn-Konstruktionen und helfen, das Thema anschlussfähig zu machen. Dabei wurde deutlich, dass in allen drei Rationalitäten der Bezug auf Erfahrungen ein wesentliches Element der Plausibilisierungen darstellt. So folgt die Behandlung von Erfahrungen zum einen der Trennung von Faktizität und Normativität, indem die gelebte Erfahrung als etwas unhinterfragbar Gegebenes dargestellt wird. Erfahrungen werden auf der auf der Ebene von Fakten behan35

Dass die Einbeziehung persönlicher Erfahrungen der Lehrkräfte und SchülerInnen auch zu Veränderungen von Handlungsroutinen im schulischen Alltag führt, wird in Kapitel V verdeutlicht.

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delt, während die Ebene des Normativen hiervon deutlich abgetrennt allenfalls als persönliche Meinungsäußerung zum Tragen kommt. Zum zweiten werden Erfahrungen vielfach in Form von Erzählungen präsentiert, die als „narrative Behausung von Erfahrungen“ ihrerseits wiederum spezifischen Rationalitäten folgen. Als wesentlich für die Bearbeitung biopolitischer Themenstellung erwies sich vor allem die den Erzählungen innewohnende Möglichkeit der Konstitution von Sinnzusammenhängen und ethischen Bewertungen. So wurde in unserem Untersuchungsmaterial eine Rationalität wirksam, die Erfahrungen in Form von Erzählungen im Wesentlichen als Medium der Kritik biopolitischer Entwicklung etabliert. Der Bezug auf Erfahrungen verschafft der Kritik ihre Evidenz. Gleichzeitig ermöglicht er aber auch einen spezifischen Umgang mit der Pluralität des Themenfeldes. So zeigt sich drittens eine Rationalität, nach der die Authentizität der Erfahrung zum Bewertungsmaßstab im pluralen Feld ethischer Entscheidungsmöglichkeiten gerät. Mit dieser Heraushebung der Bedeutung von Erfahrung, dies sei hier noch einmal abschließend zusammengefasst, werden erstens andere Wissensformen nachgeordnet – speziell die Wissensform, die sich mittels Reflexion, Nachdenken und Bedenken vollzieht und für welche in der Schule per definitionem ein gesellschaftlicher Raum zur Verfügung steht, wird als spekulativ und nicht real abgewertet. Auch gerät zweitens vollständig aus dem Blick, dass „Erfahrung“ nicht per se gegeben ist, sondern selbst in Diskurse, in die Geschichtlichkeit des Wissens eingebunden ist und lediglich eine Form der Aneignung und Konstruktion von „Wirklichkeit“ bildet.36 Soziales und gesellschaftliches Wissen, also Informationen und Erklärungen zu Bedingungen, Umständen und Kontexten treten so in den Hintergrund. Deshalb kann Erfahrungswissen nur einen undifferenzierten Maßstab von Bewertung und Einschätzung generieren. Da Erfahrungen selbst offen für Deutungen sind, können sie zwar aufgrund ihrer Evidenz beeindrucken, aber schwerlich als Argument für Sachdienlichkeit und Angemessenheit dienen. Die Kriterien dafür sind kulturell und gesellschaftlich grundgelegt und können ohne eine politisch-gesellschaftliche Kontextualisierung von Erfahrung nicht bestimmt werden. Drittens ist mit der hier vorgestellten Vorstellung von Erfahrungswissen eine teleologisches Verständnis von Wissen und Handeln verbunden. Sie ist verbunden mit der Annahme, es bestünde ein direkter Zusammenhang zwischen lebensweltlichen Erfahrungen und

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Der essentialistische Blick auf Erfahrung im Sinne von Authentizität wird seit den 1990er Jahren vor allem in der feministischen Theorie immer wieder in Frage gestellt. Vgl. Scott 1992.

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entsprechenden Handlungen der Individuen.37 Wenn unterstellt wird, dass sich der Sinn und die Angemessenheit von Handlung aus der Erfahrung selbst ergeben, wird die Vielfalt der Entscheidungskriterien nivelliert. So zeigen beispielsweise Arbeiten über Betroffene von Erbkrankheiten wie Mukoviszidose oder Huntington, dass biopolitischen Entscheidungen von den Betroffenen sehr unterschiedlich getroffen werden und dass es auch innerhalb von SelbsthilfeOrganisationen sowohl BefürworterInnen als auch GegnerInnen prädikativer Gentests gibt.38 Es ist also davon auszugehen, dass biopolitische Entscheidungen weit mehr Dimensionen umfassen als lebensweltliche Erfahrungen, so dass der Rekurs auf individuelle Erfahrungen und Betroffenheit die Vielfältigkeit von Entscheidungskriterien auf nur eine Dimension verkürzt. Die ursächlichen und inhaltlich unterschiedlichen Aspekte des neuen Wissens, das Besondere seiner Qualität als Relatives Wissen wie auch die Notwendigkeit, Kritik und Normen neu zu entwickeln, herzuleiten und gesellschaftlich auch zu verankern, bleiben lediglich angedeutet, so dass sich die angewandten Plausibilisierungsversuche letztlich als nicht wirklich tragfähig erweisen.

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So heißt es zum Beispiel in einem Interview im Zusammenhang mit Grüner Gentechnologie: „Ja, gentechnische Insulinproduktion bringt uns etwas, während von der Ernährung her haben wir Europäer es gar nicht nötig was zu verändern. Ich denke, ein Inder denkt über Gentechnik ganz anders nach. Denn für ihn ist es eine Überlebenschance, während wir leben im Überfluss. Also können wir die neue Methode der Pflanzenzucht ablehnen. Wir können weiterhin herkömmlich züchten, das reicht für uns. Aber ich denke für die Dritte Welt bleibt letztlich gar nicht übrig als schneller zu züchten“ (Interview Schmidt: 5). Abgesehen von Konstruktionen des „Inders“ und einer ökonomisch unkritischen Sichtweise folgt dieses Zitat einer Logik, nach der eine bestimmte Form der Betroffenheit (hier der drohende Hunger) eine bestimmte biopolitische Entscheidung mit sich bringt (hier die Befürwortung gentechnischen Anbaus von Nahrungsmitteln). Damit wird Handeln in diesem Beispiel eindimensional allein an Nützlichkeitsüberlegungen gekoppelt (Gentechnik löst das Hungerproblem). Der Rekurs auf Erfahrungen und Betroffenheit führt somit zu einer Reduzierung der Vielfältigkeit von Entscheidungskriterien für bestimmte Handlungsweisen und impliziert ein eindimensionales Verständnis von Lebenslage und Handeln. Auch für den Bereich der Biopolitik ist dieser Zusammenhang in empirischen Arbeiten wiederlegt. So organisierten sich beispielsweise gerade in Indien zahlreiche NGOs gegen die Verbreitung gentechnologischen Saatgutes, während in den USA der Anbau umfangreich vorangetrieben wird. Vgl. Lemke 2004.

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Kapitel V Routinen: Wissen in Aktion

Handeln im Unterricht ist geprägt von einem andauernden Sich-Einlassen auf Unsicherheit und Unerwartetes. Neues und Unbekanntes ist in jeder Unterrichtssituation gegenwärtig, da Personen, Konstellationen, Inhalte und Argumente wie auch Handlungen in Unterrichtssituationen zwar stark reguliert und standardisiert sind, Variationen, Veränderungen und Störungen der standardisierten Handlungsabläufe aber gleichermaßen zum Alltag und gewissermaßen zur Regel gehören. Lehrerinnen und Lehrern brauchen deshalb ein Handlungs- und Verhaltensrepertoire, in dem ein routiniertes Erleben von Neuem genauso vorhanden ist wie Neugier und Interesse an Veränderung und Neuerungen, die zum Durchbrechen von Routinen anregen. Sie benötigen Verfahren, die im Umgang mit neuen Situationen, neuen Personen und neuen Inhalten Handlungsabläufe und Handlungsvollzüge stabilisieren, die Kontinuität gewähren und bei der Gestaltung von anstrengenden Neuanfängen eine Ressource zur Bewältigung von Anforderungen darstellen. In der Diskussion um die Professionalität von Lehrerinnen und Lehrern spielt deshalb das Vermögen, neue Handlungssituationen und Handlungserfordernisse mit Hilfe von Routinen zu meistern, eine wichtige Rolle. Mit Verweis auf ein implizites Wissen der Professionellen wird in dieser Diskussion darauf abgehoben, dass sich Expertentum und Professionalität gerade an einer Art des routinierten Umgangs mit Neuem zeige, den die Akteure teilweise selbst gar nicht explizieren können. Die hier wirksame Form des Wissens wird unterschiedlich bezeichnet: Michel Polanyi spricht von „tacit knowledge“ 1, Gilbert Ryle von „knowing how“2, Donald Schön von „knowing in action“3, Walter Volpert benennt „intuitiv-improvisierende Handlungen“4, Stuart und Hubert Dreyfus verwenden den Terminus „intuitives Handeln“5 und Rainer Bromme und Georg Hans Neuweg

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Polanyi 1966. Ryle 1949. Schön 1983. Volpert 2003. Dreyfus/Dreyfus 1986

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favorisieren den Begriff „implizites Wissen“6. Allen gemeinsam ist die Annahme, dass auch Routinen als automatisierte Handlungen wissensbasiert sind und dass in Routinen Wissen zum Ausdruck und zur Anwendung gebracht wird. Dabei herrscht Uneinigkeit in der Frage, wie Routinen eigentlich zustande kommen und es werden zwei Typen der Herausbildung von Routinen unterschieden. Zum einen können Routinen oder automatisierte Handlungen durch Anpassung oder Nachahmen eines Modells entstehen, ohne dass die dabei vollzogenen Handlungen zum Gegenstand der eigenen Aufmerksamkeit werden. Regeln für die übernommenen Handlungsmuster können dann von den Handelnden nicht oder kaum verbalisiert werden, da die Übernahmen unbewusst vollzogen werden. Zum zweiten können Routinen entstehen, wenn Akteure beim Erwerben eines neuen Handlungsmusters diesem Vorgang Aufmerksamkeit widmen. Sie sind dann in der Lage, die Regeln, nach denen sie vorgegangen sind, zu artikulieren. Aufgrund dieser Zweiteilung ist zu vermuten, dass mit der unterschiedlichen Genese von Routinen auch eine Verschiedenheit in der Ausführung verbunden ist. Routinen, die auf unbewussten Anpassungsleistungen beruhen, sind unbeweglicher und begünstigen Stereotypen im Handeln. Routinen, die reflexiv erworben wurden, enthalten flexible Handlungsmuster, die leichter, aber auch zufällig und willkürlich verändert werden können.7 Dies zeigt, dass bei der Betrachtung von Routinen und routinisierten Handlungsvollzügen der Grad und das Ausmaß der Verbalisierung des eigenen unterrichtlichen Tuns einen wichtigen Indikator für den praktizierten Typus von Routine darstellen. Die Art und Weise, in der Lehrende ihr implizites und intuitives Handeln im Interview und Gespräch zum Ausdruck bringen, kann hier bei der Beschreibung und Erklärung von Routinen und Routinisiertheit hilfreich sein und so soll im Folgenden das Interviewmaterial noch einmal unter dem Aspekt der in den Interviews vorgenommenen Beschreibung von Handlungen, Routinen und Vorgehensweisen betrachtet werden. Dabei zeigen sich zum einen ein an Routinen orientierter Umgang mit den neuen biopolitischen Wissensbeständen, zum anderen die Reflexion und ein In-Frage-Stellen des eigenen Vorgehens und Handlungsrepertoirs.

1. Wissen und Erfahrung Mit der Einbeziehung von Erfahrungswissen in den schulischen Unterricht, so wurde im vorangegangenen Kapitel gezeigt, sind zentrale Legitimationsfiguren und Begründungsmomente der Lehrenden für die Aufnahme und Aneignung des 6 7

Bromme 2004; Neuweg 2000a; 2000b. Damit folgen wir der Unterscheidung von Leontjew 1983: 252ff.

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neuen biopolitischen Wissens verbunden. Gleichzeitig wird die Besprechung und Behandlung von Lebenserfahrungen und Lebensgeschichten im Unterricht aber auch durch methodisch-didaktische Überlegungen abgesichert. Erfahrungen, so lautet eine von den Interviewten durchweg beschriebene Vorgehensweise, seien eine wirkungsvolle Möglichkeit SchülerInnen für Themen des Unterrichts im allgemeinen wie auch für die biopolitische Thematik zu interessieren. Das Aufgreifen von Erfahrungen aus der Lebenswelt der SchülerInnen schaffe Möglichkeiten zur Konkretisierung und Veranschaulichung des Themas, eröffne einen thematischen Zugang und steigere die Motivation und das Interesse am Unterricht. „Wenn die Schüler so niemanden kennen und wenn das nie Thema ist, dann ist es sehr schwer, dass sie dann einen Ansatzpunkt finden. Ich denke, man braucht diese Ansatzpunkte. Eine Anbindung“ (Interview Stemplewski: 11).

Als hilfreich wird zudem die Einbeziehung von Erfahrungen so genannter Betroffener angesehen. Auch wird angenommen, dass Lernende durch eine reale, konkrete Begegnung mit Betroffenen einen „emotionalen Bezug“ zum Thema aufbauen und dass jener Lernprozesse unterstütze. „Ich denke, am meisten lernt man immer noch von, von Leuten. Also, wo auch der emotionale Bezug da ist“ (Interview Fischer: 14). „Wünschen würde ich mir, dass es mehr Kontakt gäbe mit Behinderten zum Beispiel. (...) Weil, über diesen emotionalen Zugang, da ist es möglich, dass man die packt. Woanders nicht“ (Interview Paulus: 13).

Darüber hinaus schätzen die Lehrkräfte auch die Erfahrungen der SchülerInnen, die aus Handlungen im Unterricht resultieren bzw. im Handeln entstehen, als bedeutsam ein. Ausgehend von der lerntheoretischen Annahme, dass Lernen durch Tätigkeit, durch aktives Handeln, unterstützt und vielleicht auch erst initiiert wird, halten sie einen handlungsorientierten Unterricht für wichtig und realisieren einen solchen in ihrem Unterricht in Sachen Biotechnologie und Bioethik vor allem, indem sie biotechnologische Versuche, wie zum Beispiel die Isolierung der DNA bei der Tomate, durchführen. Erst die praktische Umsetzung biotechnologischer Versuche ermögliche, so eine im Realschulkontext durchgängig geäußerte Annahme, den SchülerInnen ein umfassendes und nachhaltiges Begreifen und Verstehen der Thematik. „Ja, aber die müssten es selber machen, nicht mal das Besuchen hätte eigentlich einen Sinn, sie müssten es (=biotechnische Versuche, Anm. Verfass.) selber tun. Und lernen, wenn sie es selber tun. Deshalb, es ist ja so wie mit dem Fernsehen und verschiedenen anderen Dingen, weil das nur das Gehirn blockiert, aber nichts bewirkt und nichts ändert, weil es keine Spuren legt. Spuren legt man, wenn man selber etwas tut“ (Interview Gruppe: 18).

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Das Postulat eines handlungsorientierten Unterrichts spielt in den Unterrichtsroutinen der Schulform „Realschule“ eine wichtige Rolle und ist auch Bestandteil des Selbstverständnisses der Realschulen als Schule des mittleren Ausbildungsweges, die sich gerade durch ihre stärker berufsvorbereitende Ausrichtung von Gymnasien abgrenzt. „Für unsere Schüler ist es immer gut, wenn parallel was Handwerkliches läuft. Reine verkopfte Biologie bringt in dieser Schulart nichts. Da muss was laufen. Nur dann sind sie bereit, sich auch in die Theorie weiter zu vertiefen. Vielleicht hängt die lethargische Haltung manchmal auch von unserem Unterricht ab. Dass wir viel zu wenig handlungsorientiert machen“ (Interview Schmidt: 7).

Demgegenüber ist das Verständnis von Handlungsorientierung, das die interviewten Gymnasiallehrenden vertreten, stärker an kognitiven und verbalen Vorgängen orientiert. Dies ermöglicht es, auch Denken und Sprechen als Formen des Handelns zu begreifen und so beispielsweise auch die Prozesse der Meinungsbildung bei Lernenden als eine Form des „tätigen Lernens“ zu verstehen. Eine dritte Variante, die Bezugnahme auf Erfahrung im Unterricht didaktisch zu begründen, soll dazu dienen, Positionen der SchülerInnen zu erschüttern und zu revidieren. Erfahrungen so genannter Betroffener sollen einen ethischen Perspektivwechsel bei den Lernenden erzeugen. „Ja und ich habe dann auch versucht, immer Gegenfragen zu stellen. „Ihr habt leicht sagen, ich bin gegen das Klonen. Aber stellt euch vor: euer Partner, euer Kind verunglückt. Braucht eine neue Leber, braucht eine Niere. Das ist eine ganz andere Situation.“ So habe ich dann versucht, dass Spektrum ein bisschen weiter zu machen. (..) Das habe ich versucht, ihnen bewusst zu machen. Das man leicht dagegen sein kann, aber wenn es einen selber betrifft, ist es immer schwieriger dann zu beurteilen“ (Interview Wald: 3).

Hier soll die Schilderung zumeist fiktiver Erfahrungen den SchülerInnen die Vielfalt biopolitischer Entscheidung vermitteln. Insgesamt dient die Bezugnahme auf Erfahrung und das mit ihr verbundene Erfahrungswissen auf dreifache Weise der Gestaltung von Unterricht: Sie soll den SchülerInnen einen emotionalen Zugang zu der Thematik eröffnen, eine Verbindung von Handeln und Lernen ermöglichen sowie das Erlernen von Perspektivwechseln bewirken. Verbunden mit dieser methodisch-didaktischen Akzentuierung ist die Veränderung schulischer Routinen sowohl das Verhältnis zu außerschulischen Institutionen betreffend als auch im Hinblick auf die innerschulischen Beziehungen.

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Erfahrungen von ExpertInnen und Betroffenen: Öffnung der Schule Die Einbeziehung von Erfahrungen Betroffener und von ExpertInnen in den Unterricht ist zumeist verbunden mit der Öffnung von Schule. Personen außerhalb des Lehrpersonals werden in den Unterricht eingeladen. Dafür müssen Kundige und Auskunftswillige aus Industrie, Forschung, Verbänden und Interessensgruppen kontaktiert werden, die Motivation und Interesse haben, sich den Fragen der Jugendlichen zu stellen. Die befragten Lehrenden berichten, dass sich der Kontakt zu ExpertInnen aus Industrie und Forschung relativ einfach realisieren lasse. Bestehende Netzwerke wie auch bildungspolitische Aktivitäten stehen hier zur Verfügung. Als Einschränkung wird allerdings genannt, dass die Schulen wenig Ressourcen haben, Honorare für ExpertInnen auf zu bringen. Auch halten einzelne Lehrkräfte die Informationen, welche die Experten aus der biotechnologischen Industrie verbreiten, für tendenziös. Sie würden zwar den Unterricht bereichern, ihr Besuch stelle eine willkommene Abwechselung dar, es erfordere jedoch eine sorgfältige Vor- und Nachbereitung der Begegnung, um den Jugendlichen Kriterien für die Reflexion und Kritik im Umgang mit Informationen an die Hand zu geben. So beschreibt eine Lehrerin: „Ich hatte dieses Jahr eine Firma da, die gentechnisch veränderten Weizen produziert. Und habe den erzählen lassen. Und dann waren die Schüler, fand ich, total beeindruckt. Was der halt aufzeigt, was für Chancen das hat usw., dass die komplett vergessen haben, dass es auch negative Aspekte gibt, die der natürlich nicht erzählt. (...). Wenn ich es das nächste Mal machen würde, dann würde ich konkreter die negativen Aspekte herausstellen. Dass die Schüler das besser im Hinterkopf haben als die Vorteile, die der natürlich versucht zu vermitteln“ (Interview Paulus: 14).

Trotz derartiger Vorbehalte werden ExpertInnen aus Industrie und Forschung häufig in den Unterricht eingeladen. Ebenso geschätzt, aber nicht leicht zu realisieren, ist der Besuch verschiedener externer Labore, zum Beispiel bietet das Landeskriminalamt Laborbesuche an, bei denen das Verfahren der Erstellung eines genetischen Fingerabdrucks erprobt werden kann, und biotechnologische Firmen geben Gruppen die Möglichkeit, die Insulinproduktion selbst auszuprobieren. Im Unterschied zu den Experten aus Industrie und Forschung werden so genannte Betroffene so gut wie nie in den Unterricht eingeladen. Zwar verweisen viele Befragte auf die Bedeutung eines emotionalen Erlebnisses mit der Thematik und sind der Ansicht, dass Berichte und ‚life’ vorgetragene Ansichten von beispielsweise Vertretern von Behindertenverbänden oder Hospizgruppen wichtige Einblicke und Eindrücke vermitteln, aber faktisch gibt es nur eine einzige Lehrkraft, die von einer zwei Jahre zurückliegenden Einladung eines Behinderten berichtet. Darüber hinaus finden außerschulische Kontakte zu Betroffenen im seltenen Fall Erwähnung: Eine Lehrkraft ließ ihre Schülerinnen

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und Schüler Interviews mit Frauenärztinnen durchführen, eine Gruppe von Lernenden sprach mit alten Menschen auf der Straße, und zwei Lehrerinnen berichten von Besuchen ihrer Klasse bei Einrichtungen der Behindertenhilfe. Offenbar fehlt es in diesem Bereich an einer etablierten Angebots- und Kooperationsstruktur als Voraussetzung und Bedingung der Öffnung von Unterricht für Nicht-Lehrpersonen. Sobald diese vorhanden ist, das lassen zumindest Beschreibungen langjährig bestehender Kontakte und Kooperationen mit Einrichtungen der Suchthilfe, der Aidshilfe und einem Projekt, das mit minderjährigen Müttern arbeitet, erahnen, wird die Begegnungen von Schülern und Schülerinnen mit Betroffenen häufiger organisiert. Die politische und ethische Dimension der Thematik betreffend bleibt jedoch die Rede von der Notwendigkeit und Sinnhaftigkeit der Begegnung von Lernenden und Betroffenen bloßes Postulat. Thematisch einschlägige Kooperationen finden keine Erwähnung, neue Wege der Kontaktaufnahme werden nicht beschritten, und etablierte Kontakte werden lediglich genutzt, um eine Brücke bzw. einen Bezug zu biopolitischen Fragesellungen zu bauen und die neuen Wissensbestände anschlussfähig zu machen. Damit wird der Besonderheit der Thematik zumeist kaum Rechnung getragen und die Spezifik biopolitischer Erfahrungen bleibt unreflektiert. Erfahrungen von Schülern und Schülerinnen: Intimisierung von Schule Wenn Erfahrungen aus der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler im Unterricht thematisiert werden, dann intensivieren sich die Beziehungen zwischen den Lehrkräften und SchülerInnen und mehr Persönliches fließt in den Unterricht ein. „Also, besonders war an dem Unterricht, dass jeder ein bisschen was von seinem eigenem Ich preisgeben musste. Sonst kann man sich eher verstecken, denke ich. Aber auch grad in den Diskussionen waren die Schüler auch bereit zu sagen, welche Empfindungen sie haben“ (Interview Wald: 14).

Biopolitische Themenstellungen können also emotionalisierend auf den schulischen Unterricht wirken und dies ist insbesondere für naturwissenschaftlich ausgebildete Lehrkräfte ungewöhnlich, stellt eine Herausforderung dar und ist an Voraussetzungen gebunden. Zum einen, so wird ausgeführt, bedarf es eines Vertrauensverhältnisses zwischen Lehrkräften und SchülerInnen: „Es braucht eine Akzeptanz der Lehrperson. Die Schüler müssen den Lehrer akzeptieren als jemand, dem ich was sagen kann, mit dem ich diskutieren kann und der das nicht abwürgt und

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der dann auch nicht in das Lehrerzimmer geht und alles erzählt. So eine Vertrauensbasis muss da sein“ (Interview Gruppe: 12).

Vertrauen zwischen SchülerInnen und Lehrkräften wird in vielen Interviews als bedeutsame Voraussetzung genannt und häufig mit dem Hinweis versehen, dass schulstrukturelle Probleme, wie große Klassen, wenig Zeit etc. dem Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zu den SchülerInnen im Wege stehen. Deshalb sehen die Befragten kleine Klassen und eine beständige Zusammensetzung der Lerngruppe als eine bedeutsame Voraussetzung für die Thematisierung persönlicher Erfahrungen an. Vertrauensvoll soll nicht nur das Lehrer-SchülerVerhältnis, sondern auch die Beziehungen unter den Schülern und Schülerinnen sein. Wenn sich die Lernenden untereinander fremd sind – beispielsweise weil der Kurs oder die Klasse neu zusammengesetzt sind oder weil die sozialen und kulturellen Unterschiede zwischen den Jugendlichen sehr groß sind oder weil sie eine feindliche Haltung gegeneinander einnehmen – so lautet die einhellige Meinung, werden Erfahrungen aus der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler im Unterricht nicht zum Thema gemacht. Viele der Befragten schildern die Schwierigkeit, in großen Klassen persönliche Dinge zu thematisieren, oder auch umgekehrt, wie produktiv die Bearbeitung biopolitischer Themenstellung in kleinen Klassen ist, in denen sich die Lernenden untereinander sowie die Lehrkräfte die SchülerInnen gut kennen. Die Schilderungen solcher Thematisierung persönlicher Erfahrungen im Unterricht sind überwiegend fokussiert auf Fragen des organisationellen Arrangements (große Klassen, soziale Zusammensetzung). Ein Lehrer spricht demgegenüber einen inhaltlichen Aspekt von Vertraulichkeit an. Er sagt: „Ich habe gelernt, mit Betroffenheit sehr vorsichtig umzugehen. Es ist auf der einen Seite eine Chance. (..) Auf der anderen Seite muss man natürlich sehr, sehr vorsichtig sein. Weil Sie wissen ja nicht, was da im Hintergrund ist. (...) Sie wissen nicht, ob möglicherweise in der Familie Behinderungen da sind. Von Kindern. Das ist auch ein Punkt, warum wir die bioethischen Themen erst in der Dreizehn machen. Wenn sie die Gruppe schon etwas kennen gelernt haben. Man hatte die Möglichkeit, sich langsam heranzutasten“ (Interview Albrecht: 19).

Im weiteren Verlauf des Gesprächs beschreibt er seine Einschätzung, dass Schülerinnen und Schüler nicht gedrängt werden sollen, Erfahrungen zu äußern. Er erwägt die Möglichkeit der Diskriminierung und der Hilflosigkeit, die mit der lediglich punktuellen Thematisierung und Veröffentlichung persönlicher Erlebnisse verbunden sein kann: „Man weiß ja nicht, wohin man die entlässt“ (ebd.: 20), sagt er und verweist damit auf Grenzen des schulischen Unterrichts. Er gibt zu Bedenken, dass Lehrerinnen und Lehrer der Äußerung starker Emotionen im Unterricht nicht ausreichend aufmerksam und sensibel begegnen könnten oder

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dass Mitschüler in der Artikulation von Betroffenheit und Emotion Schwäche sehen und diese missbrauchen könnten. Dieser Einwand macht deutlich, dass die den biopolitischen Themen innewohnende Möglichkeit, Betroffenheit und Emotionalität bei Lernenden zu evozieren, auch die Lehrkräfte herausfordert. Sie müssen sorgfältig und einfühlsam mit den Emotionen der Jugendlichen umgehen und brauchen auch für die Gestaltung dieser intersubjektiven Dimension von Unterricht eine professionelle Haltung. Indem aber die meisten der Befragten diesen Aspekt lediglich im Zusammenhang von Klassengröße und Zusammensetzung der Lerngruppe thematisieren, nehmen sie sich selbst aus der Thematik und lassen das eigene professionelle Tun unreflektiert. So zeigt sich insgesamt, dass auf Erfahrungen im Unterricht mit biopolitischen Themen nur dann eingegangen wird, wenn sie gemäß der etablierten Routinen leicht zu organisieren sind. Erfahrungen finden Eingang in den Unterricht, wenn bestehende außerschulische Kontakte vorhanden sind, oder wenn Schülerinnen und Schüler die Bereitschaft haben, über eigene Betroffenheiten zu sprechen. Weil die allermeisten der Befragten unter „Erfahrung“ nur die Erfahrung von Anderen verstehen – Experten, Betroffene, die Schülerinnen und Schüler – und sich scheuen, eigene Erfahrungen, Betroffenheit und Empfindlichkeiten in den Unterricht einfließen zu lassen, kann auch dieser Aspekt der Thematik die schulischen Handlungen und Aktivitäten nicht wirklich mobilisieren. So wird einerseits postuliert, dass die Einbeziehung von Erfahrungen den Lernenden einen Zugang zu biopolitischen Problemstellungen ermögliche. Andererseits werden die Dimensionen, Qualitäten und Bedeutungen des Erfahrungsbezugs zumeist verkürzt und lediglich als Verweise und Hinweise auf „Echtheit“ und den lebensweltlichen Bezug der Thematik verwendet.

2. Die Aktualisierung von Wissen Aufgrund der regen Forschungstätigkeiten im Feld der Biotechnologie muss auch die unterrichtliche Beschäftigung mit biopolitischen Themen mit steter Veränderung und Neuerungen umgehen. Wenngleich davon auszugehen ist, dass nur ein Bruchteil der Forschungsergebnisse seinen Weg in die Medien und Fachzeitschriften findet, so stellt die notwendige ständige Aktualisierung des Wissens dennoch eine der größten Anforderungen für den Umgang mit biopolitischen Wissensbeständen dar. Für Lehrerinnen und Lehrer bedeutet dies zunächst, sich bei diesem Themenfeld nicht mehr ausschließlich auf kanonisierte Formen des Wissens stützen zu können, wie sie zum Beispiel in Form von Lehrbüchern und Lehrmaterialien

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vorhanden sind. Vielmehr müssen sie, um den Gegenstand sachgerecht zu behandeln, selbst das von ihnen verwendete Material aktualisieren und erweitern. Dies beeinflusst schulische Routinen zweifach: Wenn Inhalte nicht länger als feststehend, sondern als prozesshaft und wandelbar präsentiert werden müssen, kann vermutet werden, dass sich auch die Routinen, Formen und Varianten der Vermittlung und Unterrichtsgestaltung verändern müssen. Verbunden damit ist zweitens ein veränderter Professionsanspruch an die Lehrenden. Wenn sie sich nicht mehr auf bekannte Routinen der Vorbereitung ihres Unterrichts stützen können, müssen sie ihre Kompetenz und Professionalität neu begründen. Unser Interviewmaterial zeigt, dass Lehrende hier unterschiedliche Wege verfolgen und dass die gewählten Strategien im Ungang mit der notwendigen Aktualisierung des Themenfeldes verbunden sind mit dem jeweiligen professionellen Selbstverständnis.

Strategien der Aneignung von neuem Wissen Allen interviewten Lehrkräften ist bewusst, dass biopolitische Wissensbestände derzeit einer permanenten Veränderung unterworfen sind und so bemühen sie sich alle Befragten – wenn auch in sehr unterschiedlicher Intensität – um eine Aktualisierung ihres Unterrichtsmaterials. Die meisten Lehrenden stellen ihr Unterrichtsmaterial selbst zusammen und beziehen Lehrbücher nur punktuell, zum Beispiel in Form einzelner Schaubilder oder Tabellen ein. Es überwiegt die Einschätzung, dass Lehrbücher veraltet und für die Behandlung der Thematik ungeeignet sind. „Das ist das Problem mit den Materialien. Die veralten so schnell oder, wie soll ich sagen, die verfallen so schnell. Dann muss ich den Schülern immer sagen, so und so funktioniert das, aber das macht so keiner mehr. Dann denken die: Wieso erzählst du es dann überhaupt?“ (Interview Hahne: 14).

Diese allgemein geäußerte Einschätzung legt die Frage nahe, aus welchen Quellen die inhaltliche Gestaltung des Unterrichts gespeist wird und welche Wege die Lehrkräfte beschreiten, um ihren Unterricht inhaltlich vorzubereiten. Die einzige Gruppe, die gern und häufig mit Lehrbüchern und didaktischen Materialien zum Thema arbeitet, sind die befragten Deutschlehrerinnen, die im Rahmen der Behandlung des Jugendromans „blueprint“ den 2004 erschienen Materialienband umfassend nutzen. Alle anderen Befragten arbeiten mit einem Pool aus Informationen und Material, den sie selbst erworben und zusammengestellt haben. Im Rahmen von Fort- und Weiterbildungen zu biopolitischen Themen erhalten einige der befragten BiologielehrerInnen Materialien zu technischen

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und technologischen Fragen. Einige ReligionslehrerInnen haben Fortbildungen zu theologisch/ethischen Fragestellungen besucht und nehmen von dort neues Wissen und aktuelle Informationen mit. Insgesamt geben zwei Drittel der Befragten an, Fort- und Weiterbildungen zu nutzen, um sich aktuelle Wissensbestände anzueignen. Erwähnt werden Vorträge an Universitäten, Besuche von Laboren der Pharmaindustrie, kirchliche Fortbildungsinstitute, Veranstaltungen des Oberschulamtes sowie Fortbildungen am Interdisziplinären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen. Diese Aussagen verdeutlichen, dass die Behandlung biotechnologischer und bioethischer Wissensbestände in der Schule den Bedarf an Fortbildung steigert und auf Bildungsangebote der Industrie und Universitäten ausweitet. Allerdings monieren die Befragten einen Mangel an inhaltlich einschlägigen Fortbildungen und beklagen, dass ihnen im Schulalltag häufig keine Zeit für Fort- und Weiterbildung bliebe. Eine weitere Informationsquelle für neue Wissensbestände bieten die Medien. Hier wird an erster Stelle das Internet genannt, das nahezu alle Befragten als Ressource für die inhaltliche Gestaltung ihres Unterrichts angeben. Es biete einen schnellen und unkomplizierten Zugang zu neusten wissenschaftlichen Entwicklungen und helfe so, den Stand der Forschung zu verfolgen. „Aber das Problem ist schon, dass sich da in relativ kurzer Zeit relativ viel ändert. Also, im Prinzip ist es deshalb schon so, sagen wir mal, 70% hole ich aus dem Internet raus“ (Interview Fischer: 5).

Gleichzeitig formulieren die Befragten jedoch Grenzen der Nutzung von Informationen aus dem Internet. So stellen einige der Lehrkräfte den Wahrheitsgehalt der im Internet vorfindlichen Aussagen zu Forschungsergebnissen in Frage, während andere darauf hinweisen, dass die Informationsfülle die gezielte Auswahl relevanter Informationen erschwere. Dementsprechend sehen die Befragten ihre Aufgabe darin, eine Vorauswahl für die Lernenden zu treffen oder diese bei ihrer Recherche zu unterstützen. So gesehen ist das Medium Internet für die befragten Lehrkräften eine ambivalente Quelle neuer Informationen, die sie zwar intensiv nutzen, der sie aber eher kritisch gegenüber stehen. Im Unterschied dazu werden Berichterstattungen aus dem Fernsehen, Fachzeitschriften und der Tagespresse zumeist keiner Quellenkritik unterzogen. So heißt es beispielsweise: „Und dann auch wirklich auf das Material zurückgreifen zu können, das dann tatsächlich wahr ist und stimmt. Das ist nämlich das Problem. Egal, woher ich es hab. Vielleicht gut, in der Zeitung. Da gehe ich mal davon aus, dass das wahr ist“ (Interview Stemplewski: 12). „Ich weiß es von Fernsehsendungen. Aus dem Bayrischen Rundfunk. Ich glaube nicht, dass die im dritten Programm rumlügen. Ich glaube, dass die seriös sind“ (Interview Eichner: 3).

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Die Befragten artikulieren hier das Problem der Verlässlichkeit von Quellen, das sie mittels einer individuellen Präferenz oder Einstellung zu lösen trachten („Ich gehe davon aus“, „Ich glaube“). Dabei vertreten sie die Ansicht, dass die klassischen Medien, wie Zeitung und Fernsehen, als seriös und informativ einzuschätzen sind und das neue Medium Internet mit Skepsis behandelt werden sollte. Dementsprechend gestalten die meisten der Befragten ihren Unterricht mit einem Fundus von gesammelten und zusammengestellten Zeitungsausschnitten und -berichten. „Sobald zu dem Thema was kommt, ist die Schere dabei und das kommt auf den Stapel“ (Interview Koch: 2).

Diese Aktualisierung von Material und Wissen ist den Lehrkräften vertraut und ist Bestandteil ihrer langjährigen schulischen Routine. Auf diese Weise verbinden sich ein routinisierter Umgang mit Medien mit der Zuweisungen von Bedeutung: Erscheint das Medium fremd, so wird auch seinen Inhalten Skepsis entgegengebracht, während die bekannten Medien als Informationsquellen unhinterfragt für tauglich befunden werden. Das, was schließlich als neues Wissen in den Unterricht aufgenommen wird und hier Bedeutung und Bedeutsamkeit erfährt, verdankt sich bestehenden Routinen der Wissensaneignung seitens der Lehrkräfte. Für problematisch erachten die Lehrkräfte allerdings bei allen Medien – Tagespresse, Fachzeitschriften, Fernsehsendungen oder Internet – die Fülle der zur Verfügung gestellten Informationen, die es schier unmöglich mache, immer auf dem neuesten Stand zu bleiben. So könne man im Alltag kaum die Tagespresse ausführlich verfolgen, geschweige denn alle entsprechenden Fachzeitschriften regelmäßig lesen. Dies wird einerseits von der Sache her begründet („in diesem Bereich verändert sich Wissen rasend schnell“ ), andererseits mit dem bereits erwähnten Argument der mangelnde Zeit zur Vorbereitung des Unterrichts versehen. Hier werden Schulstruktur und Schulorganisation als Grund für die Einschränkung der Aneignung neuer Wissensbestände angeführt. Dieses Argument findet gleichermaßen Erwähnung, wenn die Kooperation mit KollegInnen als Möglichkeit für wechselseitige Information zur Sprache kommt. Die Lehrkräfte betonen, dass ein Austausch mit anderen Lehrkräften ihnen die Integration neuer Wissensbestände erleichtern würde, tatsächlich wird das fachfremde Wissen von Kolleginnen und Kollegen aber nur sehr selten herangezogen. Der größte Teil der Lehrkräfte beschreibt den kollegialen Austausch als punktuell und zufällig oder als nicht existent. „Die Kollegen arbeiten in der Regel für sich allein. Jeder Lehrer ist sein eigener Unternehmer quasi, oder Subunternehmer. Da findet ein Austausch mal im Lehrerzimmer statt, aber das ist alles viel zu dünn. Austausch unter uns findet wenig statt“ (Interview Hahne: 9).

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Als Grund für diese Vereinzelung wird vor allem das Argument der mangelnden Zeit angeführt: Man hetze von einer Unterrichtsstunde zur anderen und liefe letztlich immer aneinander vorbei. Zudem beschreibt ein Teil der Interviewten, dass Kollegialität durch Unverständnis und Desinteresse wie auch Trägheit und mangelndes Interesse an Neuem getrübt sei und führt das Fehlen von kollegialer Kooperation darauf zurück. „Die haben ein bestimmtes Konzept schon seit Jahren und das zieht man halt durch und was Neues ist dann halt zuviel Arbeit, also so sehe ich das“ (Interview Blume: 3).

Andere Lehrkräfte wiederum versuchen aus dieser Vereinzelung auszubrechen und zumindest den Versuch einer unterrichtsübergreifenden Kooperation zu unternehmen. So heißt es: „Ich hab eben erfahren, dass das sehr unbefriedigend ist. Bioethik wird halt immer noch so hinten drangehend und weder die Schüler noch die Lehrer sind damit zufrieden. (...) Und aus dieser Not heraus, aus dieser unbefriedigenden Situation für uns beide heraus, haben wir gesagt, komm, lass uns das mal zusammen probieren (Interview Dom/Frankenberg: 1)

Diese Aussagen veranschaulichen erneut, dass schulische Routinen zwischen Stabilisierung und Flexibilisierung von Handlungsabläufen hin und her schwanken. Sie können sowohl als starres Korsett als auch als flexibles Gerüst, in das Neues integriert wird, fungieren. Aktualität als didaktisches Moment Die Aktualität biopolitischer Themen, das illustrieren die vorangegangenen Ausführungen, macht es für Lehrerinnen und Lehrer erforderlich, sich über den Stand von Forschung und Anwendung zu informieren und sich intensiv auf den Unterricht vorzubereiten. Darüber hinaus bringt die mit der Thematik verbundene Aktualität nach Einschätzung der Befragten auch die Chance mit sich, die Schülerinnen und Schüler für ihren Unterricht zu interessieren. Ähnlich wie bei der Bezugnahme auf „Erfahrung“ suchen die befragten Lehrkräfte „Aktualität“ als didaktisches Moment einzusetzen. Aufgrund von „Aktualität“ sollen Lernende Interesse für das Thema entwickeln und zur Mitarbeit angeregt werden. Aktualität, sprich die Gegenwartsbedeutung des Themas, zeigt sich in der Tagespresse und so wählen viele der Befragten einen Pressetext als Einstieg in das Thema. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms oder Stammzellenforschung werden als aktuelle Themen sichtbar, wenn entsprechende Pressetexte über deren Verhandlung im Bundestag oder ähnliches berichten. Mit diesem tagespolitischen Bezug wollen die Lehrkräfte die Aktualität der Thematik pro-

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duktiv nutzen und ihren Unterricht entsprechend als lebensnah und alltagstauglich kennzeichnen. Dies setzt voraus, dass Schülerinnen und Schüler sich für Fragen der Tagespolitik interessieren – eine Voraussetzung, die nicht immer gegeben ist. So berichten einige der Interviewten, dass sich ihre SchülerInnen tatsächlich motiviert und engagiert im Unterricht zeigen, wenn ein Bezug zur Tagespolitik hergestellt ist. Andere hingegen beschreiben die Jugendlichen als politisch desinteressiert, so dass auch die tagespolitische Relevanz der Thematik sie nicht motivieren kann. Entscheidend für die Erzeugung von Interesse bzw. Desinteresse scheint zu sein, ob sich Möglichkeiten bieten, an die Lebenswelt der SchülerInnen anzuknüpfen. So berichten mehrere LehrerInnen: „Und dann ist es natürlich auch das Thema, das in der Gegenwart immer mehr auf uns zukommen wird. Also, das haben sie auch bei den Schülern sehr stark, kauf ich gentechnisch veränderte Produkte oder kauf ich sie nicht? (..) Also, ich denke, diese Gegenwartsbedeutung, die wir eigentlich immer versuchen rein zu bringen, die ist bei dem Thema ja immens“ (Interview Dom/Frankenberg: 11). „Ich hab die Erfahrung gemacht, dass großes Interesse da ist und zwar hängt das auch mit der Aktualität zusammen. Wir haben Schüler, die aus dem landwirtschaftlichen Bereich kommen. Da sind auch Kinder dabei, die sich wohl der Diskussion stellen müssen“ (Interview Gruppe: 3).

Dies macht deutlich, dass „Aktualität“ allein zur Erzeugung und Stimulierung von Interesse und Motivation nicht ausreicht. Vielmehr müssen die aktuellen Entwicklungen und Probleme auch als relevant für den Lebenszusammenhang der Lernenden erfahren und ausgemacht werden können. Routinen und Techniken des Unterrichtens müssen also noch immer belebt, aktiviert, verankert und durch Bezüge und Bezugnahmen gefüllt und gestaltet werden. Da Routinen von Personen ausgeübt werden, die ein personenspezifisches, individuell entwickelt und ausgestaltetes inhaltliches Engagement und pädagogisches Interesse haben, stehen sie im Zusammenhang mit dem Berufsverständnis und dem Selbst- und Menschenbild der Lehrperson.

Aktualität und professionelles Selbst Der überwiegende Teil der Lehrkräfte beschreibt die mit dem Thema zwangsläufig verbundene Aktualisierung des Wissens als positive Herausforderung. Positive Elemente werden zunächst darin gesehen, dass mit den neuen Wissensbeständen bestehende schulische Routinen durchbrochen werden und sich ihnen die Möglichkeit der Partizipation an wichtigen, öffentlichen Debatten eröffne. Vor allem den technologisch-faszinierten Lehrkräften ermöglicht die Behandlung der Thematik einen Zugang zu Universitäten und zur Biotech-Industrie.

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Zugleich verstehen viele der Befragten die Thematik als positive Herausforderung, weil sie in der Aneignung neuen Wissens Möglichkeiten ihrer persönlichen Weiterentwicklung sehen. So heißt es zum Beispiel: „Also, ich finde es sehr interessant, eben weil man einfach nicht stehen bleibt. Und immer noch mal was Neues lernt und was Neues erarbeitet“ (Interview Unger: 11). „Also ich finde die ständige Veränderung des Wissens absolut bereichernd. Nichts langweiliger wie immer das gleiche zu machen“ (Interview Eichner: 10).

In beiden Zitaten werden die Möglichkeiten der Weiterentwicklung der eigenen Person heraus gestellt. Durch die Integration neuen Wissens ergeben sich für diese Lehrkräfte somit positiv konnotierte Erweiterungen von Handlungsmöglichkeiten und intellektueller Weiterentwicklung. Darüber hinaus wirke die andauernde Wissenserweiterung sich auch förderlich auf das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden aus. Viele Befragte vertreten die Ansicht, dass sich die sozialen Beziehungen zwischen diesen beiden Gruppe angleichen: Da die Lehrkräfte nicht in der Lage sind, alle aktuellen Entwicklungen zu verfolgen, müssen sie Fragen der SchülerInnen immer häufiger unbeantwortet lassen. Diese Entwicklung fordere dazu auf, das altertümliche Bild vom allwissenden Lehrer zu revidieren: „Ich meine, das tut mir auch gut, das tut jedem Lehrer ganz gut, wenn er mal erfährt, dass er vielleicht nicht so perfekt ist. Und sich ein bisschen zurücknimmt, so. Mit seinem... mit dem Getue, man weiß alles und so. Das ist glaube ich ganz gut“ (Interview Albrecht: 5). „Und das denke ich, das wird in Zukunft immer mehr kommen, dass wir Lehrer ja auch nicht alles immer hundert Prozent wissen können“ (Interview Dom/Frankenberg: 4).

Hier zeichnet sich ein Selbstverständnis von der Lehrperson als LernbegleiterIn und ModeratorIn von Lernprozessen ab. Diese Veränderungen wirken sich nach Ansicht der zitierten Lehrkräfte insofern positiv auf das Lehrer-SchülerVerhältnis aus, als dieses nun nicht mehr autoritär qua Wissensvorsprung, sondern vielmehr gleichberechtigt gestaltet sei. Hierdurch eröffneten sich neue Wege des Unterrichtens, nach denen die SchülerInnen mehr Verantwortung für ihren Lernprozess übertragen bekämen und deshalb auch aktiver und begeisterter am Unterricht teilnähmen. Diese positiven Aspekte werden allerdings nur von einem Teil der Befragten beschrieben. Andere sehen in der notwendigen Aktualisierung der Wissensbestände vor allem eine Belastung. So formuliert eine Person: „Es geht rasend schnell dieser ständige Wechsel von Informationen, die mit dem Thema präsent sind, was sich da Neues tut, was sich da Neues ergibt. (...) Es hat mich belastet, das Thema“ (Interview Bentel: 6).

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Die Gruppe von Lehrenden, die es als Verunsicherung erleben, ihren Schülern und Schülerinnen nicht alle wichtigen Informationen eines Themenbereichs geben zu können, fühlen sich in ihrer Position geschwächt. Sie sind angestrengt und irritiert, versuchen sich ausreichend zu informieren und haben doch den Eindruck, mit der schnellen Veränderung der Wissensbestände nicht Schritt halten zu können. Sie stehen der Prozesshaftigkeit der Wissensbestände eher resignativ gegenüber, haben das Gefühl den Veränderungen nicht entsprechen zu können und artikulieren ihre Distanz zu einer neuen Zeit, die sie nicht gestalten können und die ihnen fremd ist. „Die Schüler wollten wissen, wie weit eigentlich der Stand der Dinge ist. Aber, aber das kann man ja, kann man ja eigentlich gar nicht klären, nicht sagen“ (Interview Gruppe: 4).

Diese resignierte Umgangsweise mit der Aneignung prozesshafter Wissensbestände ist davon gekennzeichnet, dass die Veränderungen als nicht kommunizierbar, als zu groß und damit unverstehbar angesehen werden. Angesichts dieser Übermacht wird auch die Anforderung, die eigenen Wissensbestände zu aktualisieren für unrealistisch betrachtet und sich dem Druck nach Professionalität entzogen. Insgesamt zeigt sich, dass der Umgang der Befragten mit der Prozesshaftigkeit biopolitischer Wissensbestände zwischen der Geschlossenheit bekannter Routinen und einer Öffnung der routinisierten Handlungspraktiken schwankt. Routinisiert erscheinen zum einen die Formen der Aneignung neuen Wissens: Hier zählen Fortbildungsveranstaltungen und die Medien zu den zentralen Informationsquellen. Zum zweiten knüpft die Verwendung der biopolitischen Wissensbestände als „aktuell“ an Routinen der Motivationserzeugung an. Drittens hält ein Teil der Befragten an einem routinisierten Selbstverständnis fest und verweigert die Suche nach neuen Wegen der Wissensaneignung und Vermittlung. Weniger routinisiert und tendenziell geöffnet hingegen erscheint die neue Verzahnung von Schule, Industrie und Universitäten. Hier werden Fortbildungsangebote genutzt und neue Ressourcen für die Schulen erschlossen. Auch das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden scheint Veränderungen zu unterliegen; beide müssen nach Formen der Wissensaneignung suchen und sich neu orientieren. So zeigt sich eine Öffnung und ein flexibler Umgang mit Routinen vor allem im Kontakt und im Umgang mit Personen und Institutionen. Dies legt nahe, dass nicht nur die Erweiterung der Lerninhalte, sondern auch Einflüsse, Lebenswelten, Meinungen und Kontakte bei der Flexibilisierung und Veränderung von Unterrichtsroutinen hilfreich sind.

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194 3. Wissen und Meinung

Biopolitische Themen im Unterricht machen auch die Reflexion der Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Normen erforderlich. Dies ist, so illustrieren die Interviews, für die Lehrkräfte mit Schwierigkeiten verbunden. Da schulisches Wissen in seiner kanonisierten Form auf der Annahme gründet, dass hier „Fakten“ vermittelt werden, fällt es den Lehrenden schwer, die politischen und ethischen Dimensionen der neuen technischen Entwicklung in einer Zusammenschau von Faktizität und Normativität zusammenzubringen. Wie im voran gegangenen Kapitel gezeigt wurde, begegnen die Befragten dieser Anforderung, indem sie das biopolitische Wissen weiterhin in „Fakten“ und „Normen“ zu unterteilen suchen. Sie strukturieren biopolitische Fragen entlang eines Ordnungssystems, in dem biologische Wissensbestände als „Fakten“ und normative Fragen als „Meinungen“ klassifiziert werden. Dies stabilisiert die schulische Routine der „Faktenvermittlung“ und zugleich ermöglicht die Behandlung normativer Aspekte als „Meinungen“ es, sie zum Beispiel im Biologieunterricht, überhaupt ansprechen zu können. Damit beabsichtigen die Lehrenden der Bewertung und Einschätzung der mit der Biotechnologie verbundenen Veränderungen Rechnung zu tragen. Mit dem Lernziel der Formulierung einer eigenen Meinung entwickeln sie dabei neue Formen unterrichtlichen Handelns. Dieses Ansinnen ist jedoch nicht gesellschaftlich oder politisch fundiert, sondern wird zumeist als eine Frage persönlicher Vorlieben und Entscheidungen verstanden. „Also, mir ist es wichtig, dass jeder Schüler seine Meinung ausdrücken kann, dass er überhaupt formulieren kann und dass er sich auch eine Meinung bildet. Wie auch immer die dann ausfällt. Das ist mir eigentlich egal“ (Interview Paulus: 6).

Wenn jedoch ethische und normative Einschätzungen und Positionierungen zu biopolitischen Fragen zu persönlichen Meinungen gemacht werden, werden sie einer allgemeinen Beurteilung entzogen. Allgemein ist dann nur noch die Forderung, dass alle Personen, jeder für sich, „seine Meinung“ finden möge. Damit verbunden ist auch eine Veränderung des Maßstabs für die Beurteilung schulischer Lerninhalte: Während „Fakten“ den Anspruch allgemein nachvollziehbarer, objektivierbarer, sachlogischer Wissensbestände in sich tragen, verweisen „Meinungen“ auf individuelle Begrünungslogiken. Dies hat Auswirkungen auf die Art und Weise der Leistungskontrollen wie auch erneut auf das Selbst- und Professionsverständnis der Lehrkräfte.

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Der Umgang mit Leistungskontrollen Wenn ethische Urteile als Ausdruck einer individuellen Meinung angesehen werden, sind sie mit den gängigen Kriterien der Leistungsbemessung nicht mehr durch die Lehrenden zu beurteilen. „Im Bereich Ethik ist es ein ganz großes und schweres Thema die Lernkontrolle. Wie kontrolliere ich denn Wissen, wenn es um meine persönliche Meinung geht oder um eigene Vorstellungen?“ (Interview Bentel: 8).

Das hier beschriebene Dilemma wird von allen Befragten gleichermaßen anerkannt, aber unterschiedlich behandelt. Einige vervielfältigen die Formen, Leistungen zu präsentieren. Sie lassen keine Klausuren schreiben, sondern Referate halten, Verlaufsprotokolle von Diskussionen anfertigen, Begleitbögen zu einzelnen Arbeitsschritten erstellen, Mindmaps oder Markstände anfertigen. So wird die Fähigkeit der Lernenden sichtbar, möglichst viele Argumente und Wissensbestände der jeweiligen Problematik zu berücksichtigen. Andere fragen eine mehr oder weniger ausdifferenzierte, begründete Positionierung der Lernenden ab, indem sie im Rahmen von Tests und Klausuren eine Stellungnahme der Schülerinnen und Schüler verlangen. Sie stellen die Formulierung eines ethischen Urteils in das Zentrum der Leistungskontrolle und lassen allerdings offen, nach welchen Kriterien die Bewertung erfolgt. „Wo es mir eigentlich genau darum geht, dass sie ihre Meinung sagen, dass sie über ihre Meinung nachdenken, dass sie versuchen, sich dann auch ein Bild zu machen und das sollen sie dann auch kurz in der Arbeit machen. Also, nicht Fakten abfragen. Dass sie sich Gedanken machen, dass sie sich einfach überlegen“ (Interview Gruppe: 11).

Andere Lehrkräfte wiederum konzentrieren die Leistungserwartungen auf die Formulierungen von Pro- und Kontra-Argumenten und deren Begründungen. Hier steht die Darstellung konträrer Positionen im Mittelpunkt und zum Gegenstand der Bewertung wird es, möglichst viele Positionen zu kennen und veranschaulichen zu können und ein Spektrum von Meinungen zu präsentieren. Die meisten Befragten aber lehnen jede Form der Lernkontrolle ab, wenn es um die Formulierung von ethischen Urteilen sowie politischen Positionierungen und „Meinungen“ geht. Sie unterziehen nur solches Wissen einer Prüfung, von dessen faktischer Qualität sie überzeugt sind. So heißt es zum Beispiel: „Also, für mich ist das abfragbare Wissen auf jeden Fall diese technischen Dinge. Vorsichtsmaßnahmen, diese Dinge, die wirklich dann auch irgendwo feststehen, greifbar sind. Also Einstellungen, Werte und so was werde ich nicht abfragen. Das kann ich auch nicht“ (Interview Stemplewski: 4).

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„Also, die ganzen biologischen Abläufe, die frag ich dann auch ab. Weil das ist Wissen. Aber darüber hinaus stelle ich keine Fragen. Also im ethischen Bereich nicht. Auch keine Wertungsfragen“ (Interview Blau: 8).

Diese Aussagen machen deutlich, dass die Lehrenden keine Kriterien – und auch kein Zutrauen – haben, Positionen, Meinungen und Urteile zu bewerten und einer Notengebung zugänglich zu machen. Daraus resultiert ein doppeltes Dilemma: Erstens bleibt unbewertet, was immer wieder als „das eigentliche Lernziel des Unterrichts“ – die Meinungsbildung – artikuliert wird. Zweitens wird aufgrund einer solchen Kriterien- und Kritiklosigkeit auch die eigene Positionierung tendenziell verdächtigt und erscheint im Unterricht lediglich als „persönliche“, nicht aber sachdienliche und argumentativ abgesicherte Aussage. Damit verbunden sind dann eine ganze Reihe von Befürchtungen und Ängsten vor Manipulation, Einflussnahme und Anpassung. „Aber bei den ethischen Fragestellungen ist die Gefahr, ob es stimmt oder nicht, ist völlig egal. Aber dass man als Schüler oder Schülerin halt a) meint, man müsste das schreiben, was der Lehrer gern hört. Und glaubt zu wissen, was er gern hört. Was gar nicht stimmen muss. Und dass man sich dann, wenn die Note nicht die ist, die man sich erhofft hat, als Schüler sagt: „Jetzt hab ich die Note nicht, weil ich ne andere Meinung vertreten habe“ (Interview Koch: 9) „Also, offene Fragen bewerten, das ist sehr, sehr, sehr gefährlich. (..) Das geht ja dann praktisch: Deckt es sich mit meiner Meinung, dann wenn man versucht, vielleicht einen Punkt mehr zu geben als wenn es vielleicht die konträre Position war. Da lass ich dann lieber die Finger weg“ (Interview Jürgens: 9).

Die Zitate veranschaulichen, welche Unsicherheiten Raum erhalten, wenn Meinungen, Haltungen und Positionen als lediglich individuell und als jenseits einer allgemeinen Norm und Moral angesehen werden. Deklariert als ent-objektiviert, als Aussagen ohne Basis, ohne Fakten-Bezug verursacht genau jene „eigene Meinung“ Unbehagen, die als Selbstbestimmung und Autonomie angestrebt wird. Aufgrund dieses Zirkelschlusses und wegen des Fehlens jeglicher Kriterien und Maßstäbe scheint die Verfolgung des Lernziels „Meinungsäußerung“ nur halbherzig. Denn: Warum sollten sich Schülerinnen und Schüler positionieren, wenn das, worum es geht, nicht so wichtig ist, dass es zum Gegenstand einer Beurteilung und Bewertung durch die schulischen Autoritäten gemacht wird?

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Die „eigene Meinung“ der Lehrenden. Oder: eine Profession und ihre Angst vor der „Indoktrination“8 Zum Umgang mit ethischen Fragen sind auch die Lehrenden selbst aufgefordert, wenn sie Themen aus dem biopolitischen Bereich unterrichten. Viele der befragten Lehrenden haben im Interview darüber nachgedacht, ob sie sich mit ihrer Position in den Unterricht einbringen sollen und dürfen. Die Schwierigkeit bringt eine Lehrkraft wie folgt zum Ausdruck: „Für mich ist es oftmals schon eine Zwickmühle, in der ich mich selber auch befinde, denn ich höre die Argumente und möchte und muss ja neutral bleiben, da ich die Schüler ja nicht manipulieren möchte oder ihnen meine Meinung aufoktroieren will. Das ist sehr schwer im Unterricht, dort eben auch die Neutralität zu wahren. (..) Meine Neutralitätspflicht, die auch oftmals Spannungen aufwirft, muss man ganz klar sagen, ja“ (Interview Bentel: 5).

Das in dieser Aussage zum Ausdruck gebrachte Postulat der Neutralität wird von allen Befragten unserer Untersuchung als ein Bezugspunkt ihres Handelns als Lehrperson genannt. Angesichts der im Unterricht so verbreiteten Praxis einer Trennung und Aufteilung in „neutrale Fakten“ und „individuelle Meinungen“ aber wird das Gebot der Neutralität lediglich im Rahmen von Meinungsäußerung kritisch reflektiert. Die als „Fakten“ deklarierten biologischen und technologischen Informationen und Verfahren werden davon ausgenommen und gelten per definitionem als sachlich, und damit eben als „neutral“. Dadurch wird lediglich ein Spannungsverhältnis zwischen Neutralitätsanspruch und individuellen Begründungslogiken, die sich bei der Artikulation einer „eigenen Meinung“ zeigen, zum Thema gemacht. Ein Teil der Befragten vertritt in dieser Frage die Ansicht, Lehrkräfte sollten sich grundsätzlich jeglicher Äußerung einer persönlichen Meinung enthalten. So sagt beispielsweise ein Lehrer: „Und dann auch bei der Behandlung der Trisomie 21, das Down-Syndrom, da waren die Meinungen dann sehr geteilt. Ich lasse das dann natürlich auch als Lehrer offen“ (Interview Blau: 6).

Hier wird ein Selbstverständnis zum Ausdruck gebracht, das die Aufgabe von Lehrkräften in der Moderation des Meinungsaustauschs sieht und auf die aus-

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Vom Vorwurf der „Indoktrination“ war in der 1970er Jahren eine ganze Generation von Lehrenden betroffen, deren Versuche einer gesellschaftskritischen und politischen Unterrichtsgestaltung als einseitig und nicht wertneutral kritisiert und zum Teil mit Berufsverboten geahndet wurden. Eine wichtige Vertreterin der These von der Indoktrination war die konservative Erziehungsberaterin Christa Meves, die in einer Vielzahl ihrer Bücher die Thematik aufgreift. Vgl. z.B. Meves 2003.

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gleichende Moderatorenrolle zu verpflichten sucht. Neutralität wird gebunden an den Verzicht der Artikulation einer eigenen Meinung. Ein anderer Teil der Lehrkräfte hält eine individuelle Meinungsäußerung von Lehrenden für sinnvoll und knüpft sie an die Bedingung der deutlichen Kennzeichnung als persönliche Meinung. Biopolitische Positionen von Lehrkräften müssen nach dieser Logik als individuell, persönlich und relativierbar erscheinen. „Ich bin einfach ehrlich den Schülern gegenüber. Ich kann nur sagen, in manchen Bereichen ist es einfach eine Gewissensfrage und ich habe dann einfach meine Meinung dazu gesagt. (...) Mir war nur wichtig, den Schülern auch klarzumachen, es ist meine persönliche Meinung“ (Interview Dom/Frankenberg: 4).

Die Sinnhaftigkeit solcher Meinungsäußerungen von Lehrenden wird durch zwei Begründungen abgesichert: Zum einen wird die Meinung der Lehrkräfte als eine Art Deutungsangebot gesehen. Sie biete eine Möglichkeit für die SchülerInnen sich hieran abzuarbeiten und eine eigene Position zu entwickeln. „Ich habe immer eine Meinung zu den technischen Entwicklungen und ich halte damit auch nicht hinterm Berg. Manchmal wähle ich auch bewusst eine andere Position. Ich mache also immer ein Deutungsangebot zu einem umstrittenen Thema. Dann können die Schüler sich überlegen, wie sie sich eigentlich dazu verhalten“ (Interview Dietz: 3).

In dieser Äußerung wird die persönliche Meinungsäußerung zum didaktischen Kunstgriff. Es geht nicht darum, die SchülerInnen von einer bestimmten Meinung zu überzeugen, sondern vielmehr darum, ihnen einen Rahmen zu bieten, in dem Positionen und Begründungen entwickelt werden können. Die zweite Begründung führt an, dass Schülerinnen und Schüler die Formulierung einer ethischen Einschätzung technologischer Entwicklungen von ihren Lehrerinnen und Lehrern einfordern, verlangen und wünschen. Aufgrund eines reziproken Verständnisses der Lehr-Lern-Beziehung artikulieren die Lehrenden sich, weil sie dies auch von ihren Schülerinnen und Schülern erwarten. „Und ich würde auch ganz klar Stellung beziehen. Das mache ich sowieso. Weil ich denke, die Schüler, die haben da ein Anrecht drauf“ (Interview Wald: 5). „Aber ich denke, das nehmen sie dann eigentlich auch gerne an, die Schüler, das erwarten sie dann eigentlich auch, dass man selber auch seine Meinung dann dazu sagt“ (Interview Gruppe: 9).

Hier wird die Meinungsäußerung der Lehrkräfte nicht didaktisch begründet, sondern gerät zum Recht der SchülerInnen. Das Neutralitätsgebot wird umgangen, indem die Lehrenden die Frage der persönlichen Meinungsäußerung zu einer Frage sozialen Verhaltens umgestalten. Die Positionierung wird zu einer

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Frage von Höflichkeit, zu einer für alle gleichermaßen geltenden Regel oder auch zu einer Frage von Anstand und Selbstverpflichtung: „Ich erhebe den Anspruch, dass sie was tun, um sich ein Urteil zu ermöglichen. Dass sie am Ende ein Urteil haben. Und dieses Urteil verlange ich dann auch von mir“ (Interview Albrecht: 6).

Eine andere Lehrerin formuliert, sie wolle sich nicht vor der Positionierung „drücken“ und ein weiterer Lehrer empört sich über den Vorwurf, er wolle eine eigene Urteilsbekundung im Unterricht vermeiden. In solchen Äußerungen wird die Neutralitätspflicht im Professionsverständnis abgelöst durch eine Aufforderung zur Meinungsäußerung. Meinungsäußerung gerät im Zuge biopolitischer Fragen im Unterricht zur sozialen Erwartung. Sie wird zu einer Norm, der sich die Lehrkräfte nur schwer entziehen können. Dass diese Vorgehensweise nicht als Verletzung der Neutralitätspflicht, sondern als notwendiger Bestandteil von Unterricht angesehen wird, ist der erwähnten Aufteilung der Wissensbestände in „Wissen“ und in „Meinung“ geschuldet: Da die Personalisierung von „Meinung“ verbunden ist mit einem Verständnis von Meinungsäußerungen als die Explikation individueller Begründungslogiken, verschwindet der Anspruch auf Allgemeingültigkeit. Das, was die Lehrkraft äußert, soll nicht notwendig auch für die Schüler gelten und kann deshalb frei geäußert werden. Mit der Anforderung der Meinungsäußerung verändern sich auch die sozialen Beziehungen im Unterrichtsgeschehen und Lehrkräfte werden jenseits ihrer Rolle als Individuen sichtbar: „Und die müssen wissen, wir sind nicht nur Lehrpersonen, wir sind auch Menschen und wir haben unsere eigenen Ideen und Gedanken“ (Interview Wald: 5).

Hier wird die Ausübung der Lehr-Tätigkeit gebunden an die Unterscheidung zwischen Rolle und Person. Ein „Als-Person-Sichtbar-Werden“ wird als funktional und hilfreich für die Erfüllung der Rolle deklariert. Ein solches Professionsverständnis stößt jedoch nicht bei allen Befragten auf Zustimmung: Während die einen davon ausgehen, dass sie sich schon immer persönlich in den Unterricht einbringen, so empfinden andere diese Anforderung einer persönlichen Positionierung als eine neue, belastende Herausforderung. Bei diesen Lehrkräften führt die Anforderung der Meinungsäußerung dazu, dass sie sich gerade hier gezielt vorbereiten: „Dass ich mir noch mal ganz bewusst mache: was ist eigentlich genau meine Meinung? Dass ich nicht in die Stunde gehe und nicht genau weiß, wie ich zu dem Thema stehe. Sondern ganz klar weiß, die Position habe ich und die vertrete ich da auch. Das ist mir wichtig“ (Interview Paulus: 9).

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4. Implizites Wissen, relatives Wissen und die Notwendigkeit neuer Handlungsformen In diesem Kapitel sind die Routinen des Unterrichtens in ihren produktiven wie auch in ihren begrenzenden Dimensionen betrachtet worden. Als ein „Wissen in Aktion“, das sich implizit und intuitiv realisiert, zeigen Routinen Wirkungen, die ihnen zunächst aufgrund ihres Charakters von eingeschliffenen, automatisierten Handlungen weder von außen zugestanden noch von den Handelnden selbst bewusst zugeschrieben werden. So haben wir gezeigt, dass schulische Routinen zum einen den Inhalt und Gegenstand selbst verändern, indem sie zum Beispiel die Aufteilung des biopolitischen Wissens in „Fakten“ auf der einen Seite und „Meinungen“ auf der anderen Seite breit etablieren. Dadurch differenziert sich beispielsweise die Routine der Leistungskontrolle und es entstehen neue Überlegungen zum professionellen Selbstverständnis, insbesondere das Verhältnis von Lehrenden und Lernenden betreffend. Diese produktive Seite von Routinen und Routinisierungen wird jedoch durch jene Besonderheit des Gegenstandes gebremst, die wir in Kapitel I als Relativität des Wissens bezeichnet haben. Die mit den biopolitischen Wissensbeständen verbundene Pluralisierung von Bedeutung wird, das veranschaulicht das empirische Material auf vielen Ebenen, sobald sie in den schulischen Kontext gelangt, vereindeutigt, angeglichen und in vorhandene Wissensbestände integriert. So wird das Neue, Ambivalente und Unsichere der biotechnologischen und bioethischen Wissensbestände ausgeglichen und kann nicht mehr zum Gegenstand von Bildung und Lernen werden. Stattdessen werden Anforderungen an ein zu entwickelndes Wahrnehmungs- und Handlungsrepertoire von und mit der neuen Technologie postuliert, die eine neue Eindeutigkeit und Klarheit erkennen lassen sollen, damit keine Verunsicherung im Unterricht sichtbar und spürbar werden kann. Dem von allen Lehrkräften immer wieder angeführten Lernziel der Artikulationen einer „eigenen Meinung“ kommt in diesem Prozess der Vereindeutigung eine Schlüsselrolle zu. Hier zeigt sich „implizites Wissen“, ein handlungsleitendes Deutungsmuster „in Aktion“, das der Reflexion des Gegenstands wie auch der des eigenen Tuns entgegen wirkt. Die „eigene Meinung“ als „echt“, überzeugend und authentisch-stimmig soll transportieren, was doch von allen Beteiligten im Umgang mit der neuen Technologie und den neuen Wissensformen erst entstehen soll und entwickelt werden muss: ein Bewusstsein einer Identität oder Individualität, die ein Wissen um die Möglichkeiten ihrer Veränderung durch die Bio-Technologie beinhaltet. Da die neuen Bio- und Medizintechnologien auf den menschlichen Körper und seine Reproduktionsmöglichkeiten zielen, ist ihre Einschätzung und Bewertung für Kinder und Jugendliche, die

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sich ihrer Identität und Individualität erst vergewissern müssen, keine leichte Aufgabe. Wie sich Individualität und Identität angesichts biomedizinischer und biotechnologischer Entwicklungen entwickeln und stabilisieren kann, ist eine Frage, die mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht durch die rhetorische Präsentation und Darstellung einer „Meinung“ zu einem hochkomplexen Sachverhalt, in den die eigene Körperlichkeit, die eigene Identität und Vorstellungen vom Leben überhaupt verwickelt sind, beantwortet werden kann. Wenn aber, wie das empirische Material so häufig zeigt, der schulische Umgang darauf gerichtet ist, die Ambivalenz und Unsicherheit der Thematik abzukürzen und still zu stellen, kann die Anforderung, eine „eigene Meinung“ zum biopolitischen Themen zu entwickeln, nur als Aufforderung verstanden werden, sich mit der Identitäts- und Authentizitätserwartung vertraut zu machen, sie als Norm, soziale Erwartung und Normalität zu erlernen. Dann zielen schulische Praktiken auf die Einübung, Einprägung und Präsentation einer ritualisierten Selbst-Inszenierung, bei der das Wissen, das die Personen brauchen, um andere von dem Sinn und Zweck ihres Tuns zu überzeugen, umso evidenter wird je selbstverständlicher es sich zeigt. Das, was Bourdieu als „Inkorporiertheit von Wissen“ bezeichnet und was sich als habituelle, also in weiten Teilen verselbstständigte Praxis zeigt, ist Ausdruck von Prägung und Einprägung, in der Bekanntes, Vertrautes und Tradiertes eingeübt werden. Hier ist für Neues, Relatives und Unsicheres wenig Platz. Für die Thematisierung des neuen Inhalts Biotechnologie/Bioethik und den Umgang, den die Lehrkräfte praktizieren, zeigt dies, dass auch „die eigene Meinung“ zur Routine werden kann: Sowohl die Präsentation einer solchen wie auch die Entstehung derselben vollzieht sich durch Bezugnahme auf Bekanntes, Sicheres und Gewohntes. Weil die Routinen und Meinungen der jeweiligen Einzelnen rückgebunden an soziale Strukturen und damit durch soziale Ungleichheiten und gesellschaftliche Zuschreibungen gekennzeichnet sind, wiederholt sich hier, was durch schulisches Lernen dem Anspruch nach eigentlich erweitert und überwunden werden soll: die Reproduktion dessen, was man sowieso schon sicher wusste und glaubte. Aber erst wenn es den artikulierten Haltungen und Meinungen gelingt, Situationen, Kontexte und Wissensformen zu gestalten und mit zu bestimmen, kann aus der routinisierten und kanonischen Forderung nach „eigener Meinung“ eine produktive Angelegenheit werden.

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Fazit Wandel und Innovation als Aufgabe. Die Gestaltung von Bildungsinhalten zwischen Beliebigkeit, Ökonomisierung und gesellschaftspolitischer Positionierung

Die vorliegende Studie hat am Beispiel biopolitischer Themenstellungen veranschaulicht, wie im Zuge der schulischen Vermittlung neue Inhalte dem schulischen Kontext angepasst werden. Die befragten Lehrerinnen und Lehrer betreten mit und in diesem Prozess der Aneignung von naturwissenschaftlichem, technischem und politischem Wissen in schulisches Wissen thematisches wie auch professionelles Neuland. Zum Zeitpunkt der empirischen Erhebung in den Jahren 2003 und 2004 waren biopolitische Themen in den Bildungsplänen des Bundeslandes Baden Württemberg zwar als Optionen erwähnt, auch gab es Unterrichtsmaterialien und Broschüren zu dem Thema, und das eine oder andere Fort- und Weiterbildungsinstitut widmete sich dieser Thematik, die befragten Lehrkräfte beschreiben aber, dass sie sich bei der Konstruktion des schulischen Wissens in dem neuen Themenfeld weitgehend selbst überlassen waren. Das Untersuchungsmaterial macht deutlich, dass diejenigen, die das neue Wissen in ihrem Unterricht überhaupt aufnehmen und bearbeiten, Pioniere sind, die aufgrund persönlicher Interessen oder durch zufällige Konstellationen beginnen, sich für biopolitische Fragen zu interessieren und dann eigenes Material sammeln, Daten selbst zusammenstellen und die auftretenden pädagogischen und didaktischen Fragen in eigener Regie und Überlegung in Angriff nehmen. Es ist genau diese Pioniersituation, die es ermöglicht, den Prozess der Aneignung jenseits von Vorgaben und institutioneller Verregelung überhaupt in den Blick zu bekommen. Im laufenden Prozess einer Planung, Einführung und Aufnahme des neuen Wissensgebiets durch die Bildungsbürokratie wird die Thematik bereits von interessierten Lehrkräften zum Unterrichtsinhalt gemacht. Alle Befragten sind mit dem neuen Wissensgebiet im Rahmen ihrer Ausbildung nicht und, mit einer Ausnahme, auch nicht im Rahmen von Fortbildungen konfrontiert worden, sondern eignen es sich autodidaktisch an. Da der schulische Alltag die Lehrenden stark fordert und einbindet, und nur ein Bruchteil der Befragten neue fachdidaktische Erscheinungen und Zeitschriften regelmäßig zur Kenntnis nimmt, unterliegt der Zugang zu dem neuen Wissensgebiet der eigenen

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Regie. Er ist handgestrickt im vielfachen Sinn des Begriffs: einzigartig und situationsspezifisch, ungeübt und unregelmäßig, nach bestem Können und Wissen und niemals aktuell. Die Befragten schildern, wie das neue Wissen sie herausfordert und verunsichert, wie es sie zu neuen Wegen und dem Beschreiten alter Pfade veranlasst, und sie dazu auffordert, über ihre Rolle als Lehrende, Erziehende und Wissensvermittelnde nachzudenken. Diesen Prozess der Integration neuer, hoch aktueller und gesellschaftlich brisanter Wissensbestände gestalten und realisieren die Befragten weitgehend für sich. Einige tun sich mit einem Kollegen oder einer Kollegin zusammen und organisieren die Neuerung zu zweit, und wenige andere holen sich Unterstützung von der Universität oder Netzwerken der biotechnologischen Industrie. Die meisten der Befragten aber organisieren ihren Arbeitsalltag allein und nähern sich dem neuen Gegenstand und seiner Bearbeitung im Unterricht versuchsweise, tastend und unter Hinzuziehung bewährter und bekannter Vogehensweisen bei der Vorbereitung und Durchführung von Unterricht. Dies veranschaulicht die relative Isolation der Lehrenden, aber auch ihre Autonomie und Gestaltungsräume. Das Untersuchungsmaterial illustriert, wie stark die befragten Lehrkräfte von gesellschaftlichen Diskursen und Auseinandersetzungen abgetrennt sind. Weitgehend ungebunden von politischen, administrativen oder professionspolitischen Debatten und Einflüssen experimentieren sie den Umgang mit neuen Inhalten, für deren systematische Aneignung und Durchdringung sie keine rechte Zeit haben, und auch der herkömmliche Organisationsrahmen von Unterricht ungeeignet scheint. Dieses Moment des Unzureichenden findet sich wieder in der Bagatellisierung der eigenen Tätigkeit wie auch der Abwertung der Institution und ihrer Akteure. Äußerungen, in denen desinteressierte Lernende, strukturelle Organisationsbarrieren oder die eigene Wirkungslosigkeit beklagt werden, sind häufig. In dieser besonderen, kaum routinisierten, wenig kontrollierten und unterstützten Ausgangssituation bringt die Integration neuer Wissensbestände, so unsere abschließende These, eine spezifische Wissensform, eine Art transformiertes Bildungswissen des Themenfelds Biotechnologie/Biopolitik mit sich. Ein Verständnis von Aneignung im herkömmlichen Sinne eines bereichs- und funktionsspezifischen Zuschnitts des so genannten Expertenwissens greift somit zu kurz. Vielmehr gibt es in dem empirischen Material eine Reihe von Anhaltspunkten dafür, dass hier weniger „Expertenwissen“ aufgenommen und für die schulische Bearbeitung didaktisch reduziert, komprimiert und vereinfacht wird, als dass hier selbst eine Form von spezifischem Wissen hervorgebracht und hergestellt wird.

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Diese neue Wissensform ist maßgeblich davon gekennzeichnet, dass die Komplexität des biotechnologischen und biopolitischen Expertenwissens im Prozess der Transformation zu einem Bildungsinhalt durch verschiedene Mechanismen einer institutionenspezifischen Vereindeutigung handhabbar gemacht wird. Dabei wird das im Rahmen der Expertenkulturen hervorgebrachte biotechnologische und biopolitische Wissen, das selbst hochgradig unabgeschlossen, prozessual und widersprüchlich ist und deshalb von uns als relatives Wissen charakterisiert wurde, im Prozess seiner Aufnahme in Lehr-/Lernprozesse an Weltbilder, Rationalitäten und methodisch-didaktische Gepflogenheiten bzw. Unterrichtsroutinen angepasst und derart umfassend transformiert, dass es nunmehr als ein eigener, besonderer Wissenstypus in Erscheinung tritt. Bereinigt um die spezifische Qualität der Veränderung des Natur-Kultur-Verhältnisses, die den neuen Biotechnologien eigen ist, der Aufklärungs- und Bildungsfunktion von Unterricht entledigt, präsentiert sich das schulische Wissen zum Thema Biopolitik stattdessen als eine Normalisierung der neuen technikspezifischen Wissensformen.

Transformationen I: Normalisierungen Der Umgang der Befragten mit dem neuen Thema Biotechnologie/Biopolitik ist stark von Setzungen, Vereindeutigungen und Normativierungen bestimmt, die die Befragten durch Weltbilder, Rationalitäten und Routinen plausibilisieren und legitimieren. Die Behandlung der neuen, unsicheren, pluralen Wissensthematik im Unterricht erfolgt als Dreischritt: durch übergreifende, gesamtgesellschaftliche Bezüge (Weltbilder), auf der Ebene sachlogischer Sinnkonstruktion (Rationalitäten) wie auch durch didaktisch-methodische Zugänge (Routinen). Dies kann als Hinweis darauf verstanden werden, dass die schulische Bearbeitung neuen Wissens keinesfalls, wie landläufig üblich, auf didaktischmethodische Aspekte reduziert werden kann, sondern dass eine sachlich angemessene Durchdringung des Gegenstands gleichermaßen der politischgesellschaftlichen Einordnung und dem sachlogisch-rationalen Zuschnitt der Thematik bedarf. Da, wie das Untersuchungsmaterial zeigt, die Lehrkräfte bei der Strukturierung und Aufbereitung des neuen Themenfelds besonders hinsichtlich der beiden letztgenannten Aspekte kaum produktive Bezüge und sachlich angemessene Formen der Problematisierungen herstellen können, zeigen sich just hier unreflektierte, alltagsweltliche und wenig fundierte und argumentativ abgesicherte Deutungen.

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Dies bewirkt insgesamt, dass im Prozess der Aneignung biopolitischen Wissens in der Schule relatives Wissen zu einer relativierenden Verhaltensaufforderung transformiert wird. Viele Beschreibungen, Erzählungen und Ausführungen sind von der Ausgangsannahme bestimmt, dass angesichts von Pluralität und Vielfalt der biotechnologischen Möglichkeiten nur noch die Einzelperson bedenken und entscheiden kann und soll, was sie für angemessen und richtig hält. Ein allgemeiner Maßstab wird der Besonderheit der jeweiligen Situation geopfert. Die Relativität des Wissens wird zu einer Relativität der Normen und Verhaltenscodices. Eine solche Ausblendung politisch-gesellschaftlicher wie auch logischrationaler Dimensionen der Thematik und die damit verbundene individualisierende Betrachtungsweise wird durch ein methodisches Instrumentarium der Unterrichtsgestaltung bestärkt: die weit verbreitete Praxis, mittels Fallbeispielen nach dem Motto „Wir würden sie entscheiden, wenn...?“ Entscheidungsszenarien zu entwickeln. Mittels solcher Szenen wird ein Zustand, in den man sich einfühlen soll, vorweggenommen und unterstellt, dass es vorsorglich ratsam sei, im Hinblick auf das Beispiel bereits schon jetzt Entscheidungen zu formulieren. Ein Unterricht, der mit Hilfe von Fallbeispielen ethische „Dilemmata“ durchspielt, präsentiert eine Art Entscheidungszumutung, die auf der Basis einer oder mehrerer wählbarer, rationaler Optionen getroffen werden soll. Durch diese Art der Anwendung, der spielerischen Übung, dem Herstellen eines Alltagsbezugs, objektiviert sich, was bislang lediglich eine technologische Möglichkeit, eine potenzielle Option oder Wahrscheinlichkeit darstellt. Der biotechnologische Ausgangspunkt der bioethischen Diskussion gerät hier zur bloßen Information oder gar zum Faktum, dessen Machbarkeit gar nicht mehr betrachtet und dessen Wahrhaftigkeit nicht mehr kritisch in den Blick genommen wird. Da die hier durchgespielten Optionen von Verhalten und Entscheidungen zum Thema Abtreibung, Sterbehilfe, Erzeugung gentechnologisch hergestellter Medikamente, Einsatz von In-vitro-Fertilisation oder der Klonierungstechnik in der Regel nicht auf Erfahrungen eigenen Leids oder selbst durchlebter Probleme der Lernenden basieren, geht es im Unterricht, der mit solchen Fallbeispielen arbeitet, offensichtlich nicht um das Auffinden konkreter Problemlösungen. Stattdessen rückt die vorwegnehmende Einfühlung in mögliche Problemhorizonte in den Mittelpunkt des Unterrichts. Es geht vor allem darum, Selbstentwürfe und Selbstfestlegungen zu üben, und sich mit Standard-Perspektiven auseinander zu setzen. In der Vorwegnahme von bislang Unsagbarem und Undefiniertem, wie es in den Formulierungen von „unerträglichen Schmerzen“, „Koma“, „würdeloser Zustand im Alter“ oder Ähnlichem zum Ausdruck kommt, vollzieht sich eine Normalisierung. Indem thematisiert wird, dass diese Horizonte zukünftig zum Regulativ von Subjektivität gehören, praktizieren die Schülerinnen und Schüler

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eine Vorbereitung auf das Mögliche, das Wahrscheinliche, eine Gewöhnung und Einübung auf etwas, was erst durch die Versprechen der neuen Technologie zu einem Bereich von menschlicher Entscheidung geworden ist. Statt das qualitativ neue Moment der Veränderung durch die Technologien zu begreifen, zu benennen und in seinem Ausmaß zu charakterisieren, wird das Ziel von Unterricht auf die Einübung von Entscheidungen ausgerichtet. Dies antizipiert und favorisiert eine neue Normalität, ohne dass ein Abwägen, eine kritische Distanzierung oder auch Zustimmung zu der neuen Technologie erfolgt. Auf diese Weise wird durch das schulisches Wissen zu biopolitischen Themen eine utilitaristische Logik und Rationalität stabilisiert, nach der das wissenschaftliche oder technisch Neue keine Beweislast für den sozialen Sinn seiner selbst zu erbringen braucht. Das Neue muss sein Erscheinen nicht begründen, da es für potenzielles Wachstum steht, und weil Märkte per se Möglichkeiten transportieren und als zukunftsoffen gelten. Wer sich gegen das bloße Angebot der biotechnologischen Möglichkeiten sperrt, so lautet die liberale und utilitaristische Grundüberzeugung, die im Unterricht der Befragten dominiert, kann ja individuell verzichten. Wer nicht mit Gefahren, Skandalen und neuer Eugenik argumentieren kann, hat gegen den Wandel wenig in der Hand, und so findet sich im Unterricht der technikskeptischen Lehrkräfte eine Tendenz zur Dramatisierung und Skandalisierung. Auf diese Weise bleibt aber der gesellschaftliche und politische Zusammenhang samt der Frage unreflektiert, dass und warum der prinzipiell gewollte Charakter der biotechnologischen und biomedizinischen Forschung schon aufgrund seiner bloßen Existenz politisch verbürgt zu sein scheint, und warum denjenigen, die Forschung und Technikentwicklung beschränken wollen, eine Beweispflicht auferlegt wird.

Transformationen II : Neukontextualisierung Die Breite und Varianz der Umgangsformen mit dem neuen Wissen aus Biotechnologie und Biopolitik illustriert, dass Wissen seinen sozialen Wert und seine Bedeutung hauptsächlich durch die Art und Weise erhält, in der es von Menschen in den jeweiligen Kontexten benutzt wird. Die Herausforderung des Prozesses der schulischen Wissenskonstruktion durch die Lehrkräfte liegt deshalb zum einen darin, neue Fakten, Theorien und rationale Heuristiken in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler zu verankern. Zum anderen müssen sie Kontexte herstellen, in denen Wert und Bedeutung der Wissensfelder möglichst breit erfasst werden können. Beispielsweise gab es Lehrkräfte, die explizit Einblicke in biotechnologische Verfahren und Arbeitsweisen als ein mögliches Berufsfeld für Schülerinnen und Schüler geben wollten. Solche Lehrkräfte ar-

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beiteten an einem Gymnasium, unterrichteten Biologie und kooperierten in Netzwerken mit der biotechnologischen Industrie und Universität. Andere Lehrkräfte wiederum wählten biomedizinische und bioethische Inhalte ganz bewusst und systematisch aus, weil sie die Lernenden mit einem Werkzeug versehen wollten, sich demokratisch zu äußern und zu positionieren, und mit ihnen Visionen und Grenzen zukünftiger Gemeinschaften diskutieren wollten. Diese Lehrkräfte arbeiteten zumeist an einer Realschule, unterrichteten Deutsch, Religion oder Ethik, und favorisierten in ihrem Unterricht die Konfrontation mit aktuellen, öffentlich bedeutsamen Problemlagen. Darüber hinaus sind wir hin und wieder auf Bemühungen von Lehrerinnen und Lehrern gestoßen, die die disziplinären Grenzen des Wissens aufzubrechen und neu zugestalten beabsichtigten. In fächerübergreifender kollegialer Kooperation arbeiteten diese Lehrerinnen und Lehrer entsprechend der Erfahrung, dass disziplinäre bzw. fachspezifische Wissensabgrenzungen dem umfassenden Verständnis der Thematik nicht unbedingt hilfreich sind. Vielmehr befestigen diese Abgrenzungen Sichtweisen, die den Bedingungen der eigenen Disziplin und deren Traditionen folgen, und die vornehmlich für diejenigen nützlich sind, die ihr Selbstverständnis als Lehrkraft aus dem Bezug zu einer Fachdisziplin herleiten; eine Orientierung, die die erwähnten Lehrkräfte angesichts der aktuellen Anforderungen und Herausforderung von Schule, Bildung und Unterricht für zunehmend irrelevant halten. In diesem Prozess notwendiger Bedeutungszuweisungen und Umgestaltungen des Wissens bieten herkömmliche Vorgaben, wie beispielweise Curricula, den interessierten Lehrerinnen und Lehrern wenig explizite Anknüpfungspunkte. Da die formale Aufnahme der neuen Thematik in Lehr- und Bildungspläne mit einer Reihe von anderen thematischen Neuerungen und gesellschaftlichen Relevanzen konkurriert und der Abstimmungsprozess verschiedener Abteilungen und Arbeitsstellen innerhalb der staatlichen Schul- und Bildungsbürokratie zeitaufwändig ist, bieten Lehr- und Bildungspläne lediglich allgemeine Formulierungen, an die auf verschiedene Weise angeknüpft werden kann, oder eben auch nicht. Die Frage, wie die neuen Wissensbestände in den Bildungskanon integriert werden, gehört in den Gestaltungsfreiraum der einzelnen Lehrpersonen. In diesem Freiraum nun wird ein Moment sichtbar, das im ersten Kapitel dieses Buches als Charakteristikum der modernen Wissensgesellschaft beschrieben wurde: der Bedeutungsschwund der herkömmlichen Agenturen der Produktion und Verwaltung von Wissen: der Wissenschaft, der staatlichen Bildungseinrichtungen und der zertifizierten Bildungsabschlüsse. Die im Rahmen eines wissenschaftlichen Studiums ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich angesichts der Vielfalt und Dynamik neuen Wissens zunehmend weniger kompetent bei der Wissensvermittlung und öffnen ihren Unterricht für Einrichtungen, Zusammenschlüsse und Netzwerke, die von der Pharma- und Biotech-

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Industrie personell, inhaltlich und finanziell ausgestattet werden und die der Anwendung und Nutzenorientierung von Wissen, dem Gedanken von Bildung hingegen weniger verpflichtet sind. Die Bildungsbürokratie unterstützt diese Form ihrer eigenen Entmachtung, weil sie sich durch die Kooperation mit der Industrie finanzielle Unterstützung und neue Formen der gesellschaftlichen Anerkennung verspricht. Andere Lobbygruppen, wie beispielsweise Nichtregierungsorganisationen, die mit der Thematik befasst sind, oder auch Vereine der Behindertenarbeit, haben zwar ihrerseits Materialien für den schulischen Unterricht entwickelt, sind im Schulkontext jedoch weniger sichtbar und seltener nachgefragt. Diesen Organisationen fehlt eine umfassende finanzielle und personelle Ausstattung, sie liegen derzeit nicht im gesellschaftspolitischen mainstream, und ihr Kontakt zu Schule und Unterricht gestaltet sich eher zufällig durch Empfehlungen und aufgrund des persönlichen Interesses einzelner Lehrerinnen und Lehrer. Diese kontextuellen Veränderungen deuten darauf hin, dass es im Prozess der Erzeugung und sozialen Konstruktion von schulischem Wissen eine neue Qualität gibt. Diese besteht darin, dass in zunehmendem Maße privatwirtschaftliche Wissensproduzenten eine spezifisch erzeugte und hervorgebrachte Form von Wissen an die Schulen herantragen. Dieses Wissen hat den Charakter einer Ware, die auf teurer Geräte- und Laborausstattung basiert und der Schule angeboten wird. Das bildungspolitische Postulat von der „Öffnung der Schulen“ öffnet hier den Bereich von Schule, Bildung und Unterricht für die Logik von Markt, Konkurrenz, Angebot und Nachfrage. Sie trägt bei zur sukzessiven Verbreitung der Vorstellung eines „Markts schulischen Wissens“, der Idee, dass konkurrierende Wissensbestände eingekauft werden können und dass diese Form der Wissenspluralität besser sei als die bisherige Trägheit der staatlichen Bildungsbürokratie.

Schulisches Wissen als Interaktions- und Anwendungswissen – die Chance des Neuen Das für Schulen produzierte und auf einem liberalisierten Wissensmarkt feilgebotene Wissen unterscheidet sich von den universitär entwickelten didaktischen Modellen und Unterrichtsentwürfen. Dieses neue schulische Wissen ist keine didaktisch reduzierte Form des wissenschaftlichen Wissens, kann nicht als eine Variante dessen verstanden werden, was wir in Kapitel I in Anlehnung an die Wissenschaftssoziologen Gibbons, Nowotny und Scott „Mode 1-Wissen“ genannt haben. Vielmehr legt die beschriebene neue Qualität in der Produktion von schulischem Wissen ein Verständnis von Wissen im Sinne eines „Mode 2-

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Wissens“ nahe, einer Anwender orientierten Herstellung von Wissen. Wissen im „Mode 2“, so wurde im ersten Kapitel dieses Buches argumentiert, entsteht im Rahmen von Interaktionen als eine gemeinsame Arbeit von Produzenten und Anwendern. Dies zeigt sich in dem empirischen Material, das dieser Studie zugrunde liegt, vor allem dadurch, dass Biotechnologie und Biopolitik als schulisches Wissen durch die Teilnahme an Unterrichtsgesprächen um die Bedeutung des Wissens konstruiert wird. Der Lernstoff, der Bildungs- und Wissensinhalt, wird hier nicht vollständig vorab festgelegt, sondern wird stärker als es bei vielen anderen Bildungsinhalte der Fall ist, ausgehandelt, in einem Prozess gemeinsamer Arbeit von Produzenten und Anwendern entwickelt. Dies gilt für den Dialog zwischen Lehrkräften und den BiologInnen, die in dem fahrenden BioLab beschäftigt sind, genauso wie für das Unterrichtsgespräch, in dem Schülerinnen und Schüler miteinander und mit ihrer Lehrerinnen und Lehrern um eine bioethische Position streiten. Ein solcher interaktiver Produktions- und Anwendungsprozess von Wissen ist nicht per se besser, aktueller und innovationsfreundlicher. Vielmehr zeigt das empirische Material dieser Studie, dass die hier beschriebenen Produktions- und Anwendungsprozesse von neuem Wissen zwischen Wiederholung und Neuinterpretation, Tradition und Wandel sowie Bewahrung und Veränderung pendeln. In diesen Prozessen haben Wandel und Neuerungen eine prinzipielle, aber keine absolute Chance, sich Geltung zu verschaffen. Die Erzählungen und Berichte der Befragten stellen die Chancen für die Realisierung von Neuem in die Abhängigkeit der konkreten sozialen Situation von schulischer Praxis: Der Kontext von Praktiken kann dazu führen, dass die Praktik misslingt oder gewechselt wird. Der situative und kontextuelle Einfluss geht aber selten so weit, dass Praktiken vollständig strukturiert sind; sie beinhalten zumeist mehrere Möglichkeiten ihrer Ausführung und es kann an die verschiedenen Logiken unterschiedlicher Kontexte angeknüpft werden („Betroffene“, „Wissensproduzenten“, Politiker). Darüber hinaus illustriert das empirische Material, dass der Unterricht von einem Akteur ausgeführt wird, der/die selbst vielschichtig und widersprüchlich ist und die Unterrichtspraktiken in und durch seine/ihre individuellen Eigenschaften ausführt. Auch dies macht Variabilität wahrscheinlich. Die verschiedenen Facetten sozialer Situiertheit schulischer Praxis bewirken, dass das neue Wissen teilweise angepasst, eingeebnet und in gängige Routinen integriert wird, anderen Teils seinerseits die Routinen und Praktiken verändert und selbst als Moment von Gestaltung, Transformation und Wandel wirksam wird. Welche Facette des Neuen sich auf welche Art und Weise in der Unterrichtspraxis Geltung verschafft, unterliegt, das zeigen die Interviews mit den Befragten deutlich, nicht der Kontrolle der Lehrenden. Die allermeisten Befragten haben kein Bewusstsein davon, warum sie sich so oder anders verhalten.

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Sie haben, anders formuliert, keine professionelle Haltung zu Fragen des Wandels von Unterricht und der Transformation von Bildungsinhalten. Die vielfältigen, schnellen und umfassenden gesellschaftlichen Veränderungen aber lassen erwarten, dass die Notwendigkeit für Lehrerinnen und Lehrer, sich neue Wissensinhalte anzueignen und in ihren Unterricht einzubringen und zu integrieren, bestehen bleibt und ggf. gar zunehmen wird. Lehrende brauchen deshalb Orte und Räume, in denen sie schulische Akteure und ihre Praktiken institutionell und systematisch betrachten, reflektieren und verstehen können. Zu dem professionellen Umgang mit Neuem gehört ein grundlegendes Verständnis dessen, was in der vorliegenden Studie schulisches Wissen genannt wurde. Schulisches Wissen und seine korrespondierende schulische Praxis können Neues nur dann angemessen aufnehmen und aneignen, wenn die Handelnden ein Bewusstsein des pragmatischen Gehalts des Wissens und ihrer eigenen Handlungen haben, sprich: sie sollten die diversen Handlungsfunktionen benennen können. Zweitens müssten Handelnde die Erkenntnisfunktion ihrer Tätigkeiten kennen und ihre theoriebildenden Anteile und die Orientierung an bestimmten Konstruktionen und Diskursen artikulieren können. Zudem sollten sie sich über den kommunikativen Gehalt ihrer Praxis, der von der Wahrnehmung und Reflexion aller Beteiligten abhängig ist, im Klaren sein. Die Befragten, das illustriert das Material, haben alle drei Ebenen der Aneignung des neuen Wissens im Blick, schränken jedoch die Breite und die Variabilität ihrer Handlungen wie auch deren Reflexion immer wieder ein. Dies ist für die Aufrechterhaltung von alltäglicher Handlungsfähigkeit unzweifelhaft nötig. Für den Umgang mit neuem Wissen ist routiniertes Verhalten aber insofern problematisch, als dass es tendenziell banalisiert und bagatellisiert und so das Ausmaß, die Qualität und das Besondere der Veränderungen, die mit den neuen Technologien und den neuen Wissensbeständen verbunden sind, nicht angemessen aufzunehmen und zu thematisieren vermag. Die Entlastung alltäglicher Handlungsnotwendigkeiten für Lehrerinnen und Lehrer, zum Beispiel in Form von Freistellung für eine reflektierende Fort- und Weiterbildung, ist angesichts der beschriebenen Veränderungen nicht länger eine bloße Standardforderung der Lehrerbildung. Vielmehr ist in der „Wissensgesellschaft“ und im Prozess der Öffnung von Schule die Schaffung eines Ortes für eine systematische Reflexion der Voraussetzungen, Kontexte und Vollzüge der eigenen Praxis eine Bedingung für den Erhalt der Institution Schule und der Idee von Bildung. Erst wenn die Erfahrungen von Isolation, Verunsicherung und Sprachlosigkeit, die sich bei allen Befragten zeigten, einen Ort haben, an dem sie verhandelt, angeeignet und bewältig werden können, kann die Entfaltung von Wissen mehr Raum bekommen.

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Übersicht über die Interviewpartnerinnen/-partner Name Herr Albrecht Herr Bentel

Schulart Gymnasium Hauptschule Realschule

Herr Blau Herr Jürgens Frau Blume Herr Bruhno Herr Dietz Frau Dom Frau Frankenberg Herr Eichner

Realschule

Gymnasium

Herr Eitel Frau Fischer Gruppe

Realschule Gymnasium Realschule

Herr Hahne

Gymnasium

Herr Koch

Gymnasium

Herr Meier Herr Müller Herr Wieland Frau Paulus

Gymnasium Gymnasium

Realschule Realschule Gymnasium Realschule

Hauptschule Realschule Herr Schmidt Realschule Frau Stemplewski Realschule Frau Unger Frau Vogt Frau Wald Frau Wild

Gymnasium Hauptschule Realschule Realschule

Fach Ethik/Geschichte Ethik Deutsch Geschichte Katholische Religion Biologie/Chemie Deutsch/Geschichte/Ethik Chemie/Biologie Biologie Biologie/Chemie/Ethik Biologie Evangelische Religion Katholische Religion Deutsch Evangelische Religion Biologie Evangelische Religion Katholische Religion Biologie Deutsch Biologie Evangelische Religion Biologie Katholische Religion Biologie Biologie Evangelische Religion Biologie Katholische Religion Biologie Biologie Evangelische Religion Biologie/Chemie Katholische Religion Deutsch Deutsch

Ort Kleinstadt Kleinstadt

Kleinstadt Großstadt Kleinstadt Mittelgroße Stadt Kleinstadt Kleinstadt Kleinstadt Großstadt Kleinstadt

Kleinstadt Mittelgroße Stadt Mittelgroße Stadt Großstadt Kleinstadt Mittelgroße Stadt Kleinstadt Großstadt Kleinstadt Kleinstadt Großstadt