Jahrbuch für historische Kommunismusforschung: 1996 [Reprint 2018 ed.] 9783050072654, 9783050029719

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Jahrbuch für historische Kommunismusforschung: 1996 [Reprint 2018 ed.]
 9783050072654, 9783050029719

Table of contents :
Inhalt
Editorial
Abhandlungen und Miszellen
Der erste Erneuerungsimpuls. Eine Betrachtung zum 40. Jahrestag des XX. Parteitages der KPdSU
Der XX. Parteitag der KPdSU
Soziale Konflikte in Polen und die Legitimierung der Macht. Wandlungen im gesellschaftlichen Bewußtsein in den Jahren 1945-1994
Die politischen Aktivitäten der polnischen Kommunisten im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) in den Jahren 1921-1924
"Der politische Gewinn steht in keinem Verhältnis zum Aufwand". Zur Westarbeit des FDGB im Kalten Krieg
Partisanen des Kalten Kriegs. Die Untergrundtruppe der Nationalen Volksarmee 1957 bis 1962 und ihre Übernahme durch die Staatssicherheit
Zwischen stalinistischem Terror und Repression. Staatlicher Zwang und parteipolitische Strafmaßnahmen gegen deutsche Politemigranten in der UdSSR nach dem 22. Juni 1941
Forum
Die Gründung der SED - Alte Kontroversen und neue Positionen um die Zwangsvereinigung 1946
Die Ereignisse von 1953 in der DDR. Anmerkungen zu einer "Retroperspektive zum Stand der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung des 17. Juni 1953"
Dokumentation
Der Fall des "Antikomintern-Blocks" - Ein vierter Moskauer Schauprozeß?
"Im Interesse unserer Sache würde ich empfehlen..." Fritz Große über die Lage der SED in Sachsen, Sommer 1946
"Das Lager Nr. 1 weist eine hohe Sterblichkeitsrate auf." Bericht einer GULAG-Kommission über das NKWD-Speziallager Mühlberg
Subversive Aktionen gegen die DDR: Die amerikanische Reaktion auf den 17. Juni 1953
Biographische Skizzen/Zeitzeugenberichte
Heinrich Brandler - biographische Skizze bis 1924
Erst Chefredakteur, dann "Unperson": Lex Ende und Rudolf Herrnstadt
Oberst Tjulpanow und die Bildungs- und Kulturpolitik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949
Forschungs- und Archivberichte
Das Scheitern der sozialistischen Systemreformation und des konstitutionellen Kommunismus. Ein Forschungsbericht über "Perestrojka" und "Neues Denken" in der Sowjetunion
Genosse "René" und die kommunistische Jugend in Portugal zu Beginn der dreißiger Jahre
Ein weiterer Schlüssel zum Quellenreichtum russischer Archive
Zur Entstehung der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR. Ein Literaturbericht
Tagungsberichte
26. Jahreskonferenz der "International Association of Labour History Institutions" (IALHI) in Moskau
Kommunistische Säuberungen
Nachlese zu einem historischen Datum
Die Russisch-Orthodoxe Kirche und der sowjetische Staat 1917-1991
Sammelrezensionen
Australian Communism
Die Anfänge der SED in Berlin und die Rolle Otto Grotewohls
Literatur zum deutsch-tschechischen Verhältnis
Die Entstehung der Freien Deutschen Jugend vor 50 Jahren. Analysen und Erinnerungen nach der Wende
Ein vorläufiges "Urteil" über die DDR-Geschichte? Die Ergebnisse der Enquete-Kommission des 12. Deutschen Bundestages
Einzelrezensionen
Schräder, Fred. E.: Der Moskauer Prozeß 1936. Zur Sozialgeschichte eines politischen Feindbildes
Naimark, Norman M.: The Russians in Germany. A History of the Soviet Zone of Occupation, 1945-1949
Lesnik, Avgust: Razcep v mednarodnem sozializmu (1914-1923)
Litvän, György; Bäk, Jänos M. (Hg.): Die Ungarische Revolution 1956. Reform - Aufstand - Vergeltung
Kurzanzeigen eingegangener Bücher
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1993–1995

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Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung

Herausgeber: Hermann Weber - Egbert Jahn Günter Braun - Host Dähn Jan Foitzik - Ulrich Mählert Arbeitsbereich IV im Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung der Universität Mannheim

Wissenschaftlicher Beirat: Georg Hermann Hodos (Sherman Oaks/Kalifornien), Narihiko Ito (Tokio), Alexandr N. Jakowlew (Moskau), Richard Lorenz (Kassel), Martin McCauley (London), Vojtech Mencl (Prag), Norman M. Naimark (Stanford), Wolfgang Rüge (Potsdam), Feliks Tych (Warschau)

Redaktion: Franz-Josef Hutter Universität Mannheim MZES - AB IV: JHK Postfach 68131 Mannheim Tel. 06 21/2 92-84 28, Fax 06 21/2 92-84 35

Jahrbuch für

Historische Kommunismusforschung 1996

Akademie Verlag

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jahrbuch für historische Kommunismusforschung . . . - Berlin : Akad. Verl. Erscheint jährl. - Aufnahme nach 1995 ISSN 0944-629X 1993 -

ISBN 3-05-002971-4 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48 - 1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden.

Druck: GAM Media GmbH, Berlin Bindung: Verlagsbuchbinderei Mikolai GmbH, Berlin Printed in the Federal Republic of Germany

Inhalt

Editorial

9

Abhandlungen und Miszellen Vadim V. Zagladin: Der erste Emeuerungsimpuls. Eine Betrachtung zum 40. Jahrestag des XX. Parteitages der KPdSU

11

Juri) Aksjutin: Der XX. Parteitag der KPdSU

36

Jolanta Polakowska-Kujawa: Soziale Konflikte in Polen und die Legitimierung der Macht. Wandlungen im gesellschaftlichen Bewußtsein in den Jahren 1945-1994

69

Pawel Samus~. Die politischen Aktivitäten der polnischen Kommunisten im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) in den Jahren 1921-1924

84

Josef Kaiser: "Der politische Gewinn steht in keinem Verhältnis zum Aufwand". Zur Westarbeit des FDGB im Kalten Krieg

106

Stephan Fingerle und Jens Giesecke: Partisanen des Kalten Kriegs. Die Untergrundtruppe der Nationalen Volksarmee 1957 bis 1962 und ihre Übernahme durch die Staatssicherheit

132

Peter Erler: Zwischen stalinistischem Terror und Repression. Staatlicher Zwang und parteipolitische Strafmaßnahmen gegen deutsche Politemigranten in der UdSSR nach dem 22. Juni 1941

148

Forum Werner Müller: Die Gründung der SED - Alte Kontroversen und neue Positionen um die Zwangsvereinigung 1946 Ilko-Sascha Kowalczuk: Die Ereignisse von 1953 in der DDR. Anmerkungen zu einer "Retrospektive zum Stand der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung des 17. Juni 1953"

163

181

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JHK1996

Inhalt

Dokumentation Reinhard Müller. Der Fall des "Antikomintern-Blocks" Ein vierter Moskauer Schauprozeß?

187

Ulrich Mahlert. "Im Interesse unserer Sache würde ich empfehlen..." Fritz Große über die Lage der SED in Sachsen, Sommer 1946

215

Achim Kilian• "Das Lager Nr. 1 weist eine hohe Sterblichkeitsrate auf." Bericht einer GULAG-Kommission über das NKWD-Speziallager Mühlberg

246

Christian F. Ostermann: Subversive Aktionen gegen die DDR: Die amerikanische Reaktion auf den 17. Juni 1953

266

Biographische Skizzen/Zeitzeugenberichte Jens Becker und Harald Jentsch: Heinrich Brandler biographische Skizze bis 1924

273

Helmut Müller-Enbergs: Erst Chefredakteur, dann "Unperson": Lex Ende und Rudolf Herrnstadt

296

Jurij W. Bassistow: Oberst Tjulpanow und die Bildungs- und Kulturpolitik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949

305

Forschungs- und Archivberichte Egbert Jahn: Das Scheitern der sozialistischen Systemreformation und des konstitutionellen Kommunismus. Ein Forschungsbericht über "Perestrojka" und "Neues Denken" in der Sowjetunion Joäo Arsénio Nunes: Genosse "René" und die kommunistische Jugend in Portugal zu Beginn der dreißiger Jahre Gerlinde Grahn: Ein weiterer Schlüssel zum Quellenreichtum russischer Archive Ruth Kibelka: Zur Entstehung der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR. Ein Literaturbericht

319 337 349 354

Tagungsberichte Berthold Unfried: 26. Jahreskonferenz der "International Association of Labour History Institutions" (IALHI) in Moskau Franz-Josef Hutter: Kommunistische Säuberungen Clemens Burrichter: Nachlese zu einem historischen Datum Robert F. Goeckel: Die Russisch-Orthodoxe Kirche und der sowjetische Staat 1917-1991

361 364 367 368

Inhalt

JHK1996

7

Sammelrezensionen Frank Cain: Australian Communism 371 Franz-Josef Hutter: Die Anfänge der SED in Berlin und die Rolle Otto Grotewohls... 373 Jan Osers: Literatur zum deutsch-tschechischen Verhältnis 379 Kurt Schilde: Die Entstehung der Freien Deutschen Jugend vor 50 Jahren. Analysen und Erinnerungen nach der Wende 383 Gert-Rüdiger Stephan: Ein vorläufiges "Urteil" über die DDR-Geschichte? Die Ergebnisse der Enquete-Kommission des 12. Deutschen Bundestages 390 Einzelrezensionen Schräder, Fred. E.: Der Moskauer Prozeß 1936. Zur Sozialgeschichte eines politischen Feindbildes (Klaus-Georg Riegel) 395 Naimark, Norman M.: The Russians in Germany. A History of the Soviet Zone of Occupation, 1945-1949 (Jan Foitzik) 397 Lesnik, Avgust: Razcep v mednarodnem sozializmu (1914-1923) (Ratimir Britvec) ...399 Litvän, György; Bäk, Jänos M. (Hg.): Die Ungarische Revolution 1956. Reform - Aufstand - Vergeltung (Jan Foitzik) 399 Kurzanzeigen eingegangener Bücher

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Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

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Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1993-1995

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Editorial

Zum vierten Mal erscheint das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung, das nach den revolutionären Umbrüchen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa 1989-91 und dem dadurch eingeleiteten Kollaps der kommunistischen Regime im sowjetischen Herrschaftsbereich sowie auf dem Balkan ins Leben gerufen wurde. Mit diesem Zusammenbruch verbunden war eine (teilweise) Öffnung der Archive in den betroffenen Staaten, die eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der zentralen Themen der historischen Kommunismusforschung ermöglicht. Zur Präsentation der seither gefundenen neuen Ergebnisse, zu ihrer Diskussion, zum Austrag von Forschungskontroversen sowie zur Information aller Interessierten soll das Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung als Publikationsforum dienen. Neben Abhandlungen, Aufsätzen, Miszellen, Dokumentationen, biographischen Skizzen und Zeitzeugenberichten besteht eine eigens zur Diskussion kontroverser Themen eingerichtete Rubrik Forum. Ergänzend hierzu gibt es Forschungs- und Archivberichte, Notizen über relevante wissenschaftliche Tagungen im jeweiligen Jahr sowie Sammelbesprechungen neuerer Literatur zur historischen Kommunismusforschung. Es hat sich allerdings in den vergangenen Jahren gezeigt, daß sich die ursprünglich geplante Besprechung relevanter neuerer Literatur in Form von Einzelrezensionen kaum verwirklichen ließ. Dafür ist einerseits die alljährliche Bücherflut zum Themenkreis verantwortlich, andererseits kann ein Jahrbuch in puncto Aktualität nicht mit Periodika konkurrieren, die in kürzeren Intervallen herauskommen. Deshalb wurde die Rubrik Einzelrezensionen verkleinert und wird sich künftig vor allem auf die Besprechung weniger ausgewählter Titel beschränken. Gedacht ist dabei in erster Linie an fremdsprachige sowie an außerordentlich wichtige Bücher. Die inhaltlichen Schwerpunkte dieses Jahrbuches bilden zwei herausragende Ereignisse der internationalen Kommunismusgeschichte, die sich zum vierzigsten bzw. fünfzigsten Mal gejährt haben. 1956fand der XX. Parteitag der KPdSU statt, der zweifellos eine Zäsur darstellte. Mit diesem Thema beschäftigen sich die Abhandlungen von Vadim V. Zagladin, dem bekannten sowjetischen Politiker und Theoretiker, und von Jurij Aksjutin. Im April 1946 wurde in Berlin die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED) gegründet. Damit befaßt sich der Artikel von Werner Müller. Der für diesen Band angekündigte zweite Teil von Günter Brauns Forschungsbericht über die SBZ wird erst im kommenden Jahrbuch

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JHK1996

Editorial

veröffentlicht werden. Hinweise auf bisher im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung veröffentlichte Beiträge finden sich am Schluß dieses Bandes. Das Ziel der Herausgeber, mit diesem Periodikum das Zusammenwirken der internationalen Kommunismusforschung zu intensivieren, wird maßgeblich von den Mitgliedern des wissenschaftlichen Beirats gefördert, die dieses Jahrbuch mit ihrem kritischen Sachverstand begleiten und unterstützen. Mit tiefer Trauer mußten Herausgeber und wissenschaftlicher Beirat Abschied nehmen von Frau Prof. Dr. Annie Kriegel (Nanterre), herausragende Forscherin über den französischen und internationalen Kommunismus und Mitglied des wissenschaftlichen Beirats seit 1993, die am 26. August 1995 überraschend verstorben ist. Wir werden ihr ein würdiges Andenken bewahren. Mannheim, im Juli 1996

Die Herausgeber

Aus gegebenem Anlaß wird nochmals darauf hingewiesen, daß sich die Redaktion außerstande sieht, ohne eine erhebliche Verzögerung des Erscheinungstermins des Jahrbuches die Schreibweise der Orts- und Personennamen Osteuropas und Asiens sowie die Transkription der Titel und Zitate zu vereinheitlichen.

Abhandlungen und Miszellen

Vadim V. Zagladin (Moskau)

Der erste Erneuerungsimpuls. Eine Betrachtung zum 40. Jahrestag des XX. Parteitages der KPdSU Dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion war kein leichtes, sondern ein unbeständiges, kompliziertes Los beschieden. Die Einschätzungen des Parteitages waren einer Sinuskurve ähnlich, sie schwankten von erstaunlich hohen bis zu den niedrigsten Werten, manchmal geriet dieser Parteitag fast völlig in Vergessenheit. Dies beweist übrigens seine Originalität, Größe und die Relevanz seiner Auswirkungen. Heute, 40 Jahre später, betrachten wir ihn als einen der größten Meilensteine der damaligen Geschichte. Überdies scheint er für uns in eine neue Dimension zu geraten und in ein neues Licht gestellt zu werden. Entscheidend war in diesem Fall, daß in den letzten Jahren viele sowjetische Archive zugänglich wurden und dadurch viele Fakten zur Vorgeschichte und Durchführung dieses Parteiforums sowie der mit ihm in Zusammenhang stehenden dramatischen Ereignisse bekannt geworden sind. Auch etwas anderes ist hier wichtig. Erstens wissen wir heute viel mehr über die Geschehnisse in den seit dem Parteitag vergangenen Jahrzehnten. Es ist klar, daß er den ersten starken Impuls für die immer mächtiger gewordene Entwicklung der neuen Prozesse gab. Diese Prozesse veranlaßten schließlich eine wesentliche (obwohl anscheinend noch nicht endgültige) Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft und später auch postsowjetischer Gesellschaften. Dies geschah vor allem in Rußland, dann aber in allen Nachfolgestaaten der UdSSR sowie in anderen Ländern. Zweitens ist manchmal doch noch das Erbe des seit 1953 so bezeichneten "Personenkults" zu spüren, trotz aller Bedeutung und Tiefe der im postsowjetischen Raum vorgegangenen Veränderungen. Es existieren noch politische und ideologische Kräfte, die danach streben, dieses Erbe nicht nur zu erhalten, sondern auch zu festigen und sich nach ihm zu richten. Diese Kräfte versuchen, die Zukunft gemäß dem nur teilweise korrigierten Vorbild der von der Geschichte abgelehnten Vergangenheit zu schaffen. In diesem Sinn bleibt heute das Erbe des XX. Parteitages zweifellos aktuell. Drittens besteht seine Aktualität auch darin, daß die von ihm gestellten innen- und außenpolitischen Fragen bis heute von größter Bedeutung sind. Sie stehen weiterhin im Fokus der Diskussionen, freilich unter anderen Bedingungen und auf anderem politischen und theoretischen Niveau. Dies wird nicht nur in den Nachfolgestaaten der ehemaligen UdSSR fest-

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Vadim V. Zagladin

gestellt. Auf viele dieser Fragen gibt es bis jetzt keine Antworten, die jener Relevanz adäquat wären. Über die Geschichte des XX. Parteitages, die von ihm angenommen Dokumente und Resolutionen sowie über seine Folgen wurde bereits sehr viel geschrieben, sowohl in der ehemaligen Sowjetunion als auch im heutigen Rußland und im Ausland. Es ist nicht sinnvoll, zu den Einzelheiten der Vergangenheit zurückzukehren, obwohl nicht alles Veröffentlichte genügend genau oder völlig glaubwürdig ist (dies ist auch natürlich, da, wie schon erwähnt, viele authentische Dokumente erst vor kurzem zugänglich geworden sind und einige dagegen noch geheimgehalten werden). Es lohnt sich hier nur einige Aspekte des Kongresses zu erörtern, die meines Erachtens von besonderem Interesse sind. Als Beispiel: Warum hat sich der XX. Parteitag so entwickelt, wie es in Wirklichkeit war? Anders gefragt: Warum wurde ausgerechnet der XX. Parteitag unerläßlich? Manche Gründe sind unverkennbar. Es ist beispielsweise bekannt, daß zu Beginn der fünfziger Jahre der Staat sich in seiner schwierigsten Lage befand. Alles mußte verändert werden: die wirtschaftliche Situation (trotz der unbestreitbaren Erfolge beim Wiederaufbau der infolge des Krieges zerstörten Wirtschaft), der Zustand der Landwirtschaft, die durch das niedrige Lebensniveau verursachte soziale Unzufriedenheit und das unter Repressalien und ideologischen Beschränkungen leidende politische Leben. Viele fuhrende Politiker waren sich über die Notwendigkeit der Veränderungen im klaren; sie konnten aber sehr wenig unternehmen, solange Stalin noch lebte. Der drei Jahre nach Stalins Tod einberufene Parteitag mußte die Richtlinien und Grenzen der akut gewordenen Veränderungen festlegen. Genauso wichtig war er auch für die Außenpolitik. Die eingehaltene, gewissermaßen konsequente Richtlinie führte zu widersprüchlichen und für das Land insgesamt ungünstigen Ergebnissen. Die Beziehungen zum Ausland waren konfliktträchtig. Der Kampf gegen den Westen um den Einfluß auf der internationalen Bühne brachte die Welt einerseits an den Rand eines Krieges und verursachte zunehmend wirtschaftliche und politische Schwierigkeiten innerhalb des Staates, andererseits festigte das unverhohlene Hegemoniestreben Moskaus gegenüber den Alliierten keineswegs die Beziehungen, sondern erzeugte im Gegenteil Mißtrauen. Veränderungen waren auch hier notwendig. War der Parteitag nicht der richtige Platz, um sie anzukündigen? Anscheinend gab es neben diesen offensichtlichen Gründen noch einen bedeutsamen Grund, warum der XX. Parteitag ein Parteitag der Veränderungen werden sollte. Die Geschichte der Sowjetgesellschaft (ich betone - der Gesellschaft, nicht nur des Staates, der Partei usw.) ist bis jetzt nicht ausreichend erforscht. Inzwischen hatten die Geschehnisse, die sich in den Jahren nach der Oktoberrevolution ereigneten, zu beträchtlichen Veränderungen innerhalb dieser Gesellschaft geführt. Die Veränderungen stellten einerseits einen Bruch mit ihrem prärevolutionären Zustand dar, setzten aber andererseits die Evolution dieser Gesellschaft fort, die ihren Anfang in der Vergangenheit hatte. Nach 1917, und noch intensiver seit Anfang der dreißiger Jahre, überwand die Sowjetgesellschaft die vorhandene "Spaltung", die soziale und sogar religiöse "Schichtung", und wurde in gewissem Maße homogener. Trotz aller diesen Prozeß begleitenden Tragödien schuf er die Voraussetzungen für modernere Lebensformen innerhalb des Landes.

Der erste

Emeuerungsimpuls

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Vladimir Pastuchov, der diesen Zeitraum der Sowjetgeschichte erforschte, kam zu folgendem Schluß: "Die bolschewistische Revolution paßt zur Logik der russischen Geschichte. Sie beschließt den jahrhundertelangen Prozeß der Transformation ihrer Kultur, den Prozeß ihres Übergangs von Unbeschränktheit zur Beschränktheit. Diese Revolution beendet eine Reihe von 'kulturellen' Sprüngen, die die Gesellschaft nicht nur einmal in der Geschichte erschütterten. Ihr folgt ein ganz neuer Zyklus in der Entwicklung Rußlands - die 'Entfaltung' der ihr bereits eigenen Kultur." 1 Die früher verbreiteten Behauptungen zur "Einheitlichkeit" der Sowjetgesellschaft in der Stalin-Ära und zur poststalinistischen Zeit sind nicht nur übertrieben, sie verfälschen auch direkt die Realität. Nach außen hin existierte die "Einheitlichkeit". Das war aber die "Einheitlichkeit" der Menschenmenge, die unter dem wachsenden Druck des Repressionsapparates stand. Unter dieser "Schraube" könnte man aber eine vielseitige und vielartige Gesellschaft entdecken, die ihre eigenen Klassen, Schichten oder Interessengruppen besaß. Unterschiede, Widersprüche der Interessen in dieser Gesellschaft wurden von dem Druck von "oben" abgestumpft, ausgeglichen und maskiert. Sie existierten trotzdem und kristallisierten sich mit der Zeit, obwohl nicht immer deutlich genug, heraus. Allerdings bildete sich allmählich eine gewisse privilegierte Schicht heraus, die in der Literatur (M. Voslenskij) die markante, aber nicht ausreichend präzise Benennung "Nomenklatura" bekommen hat. Nicht präzise genug, weil diese Schichten aus gewissen Menschengruppen bestanden (sie könnten auch Schichten genannt werden), die formal nicht zur Nomenklatur, d.h. nicht zu dem ausgewählten und auf entsprechende Weise von den Parteiorganen genehmigten Personenregister gehörten. Die Definition "Elite" wäre hier im Grunde genommen eher angebracht. Die Zusammensetzung der Elite änderte sich. Ihre erste, sehr schmale Schicht war aus den Leuten gebildet worden, die sofort nach der Revolution zur Führung in Moskau und in den Regionen gelangt waren Sie wurden dann teilweise (und zwar ein beträchtlicher Teil von ihnen!) von Stalin liquidiert. Lassen wir uns z.B. an das Schicksal der Delegierten des von Stalin geradezu spöttisch als "Parteitag der Sieger" bezeichneten XVII. Parteitages erinnern. Von 1966 Delegierten - zu 80 Prozent waren es der Partei vor 1920 Beigetretene - wurden später 1108 unter Anklage konterrevolutionärer Tätigkeit vernichtet 2 , die anderen auf unbedeutsame Posten abgedrängt. Seit Beginn der dreißiger Jahre baute sich die zweite, erneuerte Elitenschicht auf. Sie bestand aus jüngeren Leuten, aus neuen führenden Persönlichkeiten der Partei- und Sowjetorganisationen, Staatsbetriebsdirektoren u.ä. Ein Teil dieser Schicht, weniger als früher, wurde Opfer von Repressalien. Viele fielen in den Kriegsjahren an der Front. Die Zusammensetzung des vom XIX. Parteitag im Jahre 1952 gewählten ZK wurde beträchtlich verändert. 3 In die höhere Parteiführung kamen, allerdings nicht auf Dauer, neue Leute. Jedenfalls war diese erneuerte Elite weder mit ihrer Lage noch mit der Lage des Landes zufrieden. Sie brauchte bestimmte Veränderungen, freilich nicht solche, die ihre Macht schmälerten, sondern die sie von der Angst vor der "Axt" der Straforgane oder vor der Un1 Pastuchov, V., Tri Vremeni Rossii, Moskau 1994, S. 20. 2 O kul'te Iicnosti i ego posledstvijach. Doklad Pervogo sekretarja CK KPSS tov. Chrusceva, N. S. XX s"ezd KPSS. in: Izvestija CK KPSS, 3 (1989), S. 137. 3 Devjatnadcatyj s"ezd Vsesojuznoj Kommunisticeskoj partii (bol'sevikov), bjulleten' 4 (1952), S. 68.

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Vadim V. Zagladin

gnade des "Führers" befreien konnten. Die Partei- und Sowjetelite war zu Beginn der fünfziger Jahre noch zu beschränkten Erneuerungen prinzipiell bereit. Sie sollten ihr gewisse Freiheiten gewähren, über ihre eigene Macht disponieren zu können. Übrigens sind in Rußland jetzt, nachdem die Dokumente zugänglich wurden, einige Aufsätze erschienen, die den kontinuierlichen und sehr heftigen Kampf, der selbst in der höchsten "Machtspitze", auf dem "Parteigipfel" Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre geführt wurde, schildern. Es war der Kampf um Macht, zunächst durch Stalins Macht begrenzt, dann auch der Kampf um die Macht nach Stalin. Es ging nicht nur um persönliche Ambitionen, sondern auch um die Kollision verschiedener Interessengruppen.4 Die Zusammensetzung der Elite und ihr Streben nach gewissen staatlich-politischen Veränderungen und die objektiven Notwendigkeit dieser Veränderungen wurden zu einem wesentlichen Faktor, der den Charakter des XX. Parteitages und seiner Beschlüsse bestimmte. Die Führungselite konnte nach Stalins pompöser Beerdigung mit Erneuerungen anfangen. In jener Zeit sickerte ihr innerer Kampf nach außen durch. Er war freilich nicht ganz offen für externe (und selbst für interne) Beobachter zu erkennen und ging in einem engen Kreis vor sich. Man merkte aber trotzdem nach den kärglichen offiziellen Berichten über Verschiebungen und Veränderungen in den führenden Staats- und Parteiorganen, daß der Erneuerungsprozeß begonnen hatte. Obwohl noch nicht alles bekannt ist, kann man heute aus den Peripetien dieses Kampfes außergewöhnliche Schlüsse ziehen. Einerseits ging der Kampf in der Führungselite um die real existierenden Probleme, die zur Lösung anstanden. Alle Teilnehmer des Kampfes strebten danach, etwas zu verändern, sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik. Andererseits schien die Essenz der Veränderungen für sie überhaupt nicht das Wichtigste zu sein. Es ging in erster Linie um Macht und um die Frage, wer diese Macht übernemmen solle. Es ist kennzeichnend, daß einige Zeit später die Sieger im Machtkampf viele von L. P. Berija 1953 angeführte und damals abgelehnte sowie nach seiner Verhaftung, auf dem Plenum des ZK der KPdSU im Juli 1953, stark mißbilligte Ideen umsetzten. Auf dem Plenum wurde z.B. behauptet, daß Berija zur "Erneuerung der Gesetzlichkeit" aufgerufen und Stalins Autorität geschmälert habe sowie die Beziehungen mit Jugoslawien wieder herstellen wollte.5 Berijas Ideen wurden jedoch, wenn auch erst nach seiner Liquidierung, verwirklicht. Vergleichbares geschah auch mit Malenkovs Ideen, die er bereits nach der Entmachtung Berijas geäußert hatte. Seine Aufrufe, mehr Waren für das Volk zu produzieren, die Landwirtschaft zu reorganisieren, seine Äußerung zum Atomkrieg, der die gesamte Zivilisation zu 4

Siehe z. B.: 2ukov, Ju. N., Bor'ba za vlast' v rukovodstve SSSR v 1945-1952 godach, in: Voprosy istorii, 1 (1995); Pichoja, R. G., O vnutripoliticeskoj bor'be v sovetskom rukovodstve. 1945-1958 gg., in: Novaja i novejsaja istorija, 6 (1995). 5 Plenum CK KPSS. Ijul' 1953 goda. Stenograficeskij otcet, in: Izvestija CK KPSS, 1 (1991), S. 143, I45ff. Siehe auch: Chlevnjuk, O. V., Berija: Predely istoriceskoj reabilitacii in: Svobodnaja mysl', 2 (1995). | Vgl. auch: Der Fall Berija. Protokoll einer Abrechnung, Berlin 1993]. Unter Berijas Vorschlägen gab es auch einige vernünftige, aber es ist kaum möglich, der Meinung beizustimmen, daß er auch ein wahrer Reformator hätte werden können. Nach allen vorhandenen Angaben strebte Berija die Durchsetzung seiner Einzelführung an. Dies war sein Hauptziel.

Der erste

Erneuerungsimpuls

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vernichten imstande sei, lehnte das Plenum des ZK der KPdSU Anfang Januar 1955 ab, und es mißbilligte sie entweder sofort oder später. Dies alles wurde dann zu verschiedenen Zeitpunkten realisiert, nachdem Malenkov zuerst abgedrängt und später seines Postens enthoben wurde. 6 Anders gesagt, wurde der Inhalt der vorgeschlagenen oder beabsichtigten Veränderungen zu einer Funktion des Machtkampfes in der Partei und im Staat. Die wichtigsten Abschnitte dieses Kampfes vor dem XX. Parteitag sind jetzt mehr oder weniger bekannt. Unmittelbar nach Stalins Tod wurde der Leitsatz der Rückkehr zu Lenins "Kollektivitätsprinzip" aufgestellt. Das "Trio" - G. M. Malenkov, L. P. Berija und N. S. Chruscev - erwies sich als Verkörperung der kollektiven Führung. Der erste war Vorsitzender des Ministerrates und präsidierte in dieser Funktion und auf Grund der seit Jahren existierenden Tradition auf den Sitzungen des ZK-Präsidiums. Der zweite war dessen Erster Stellvertreter und konzentrierte deswegen die Verwaltung der Straforgane in seinen Händen. Der dritte, N. S. Chruscev, "richtete seine Aufmerksamkeit auf die Arbeit in der Partei", war aber bei weitem nicht "die erste" Person, ungeachtet seiner Wahl zum Ersten Vorsitzender des ZK auf dem Plenum im September 1953. Die anderen Präsidiumsmitglieder - die Vertreter der alten Generation (V. M. Molotov, A. I. Mikojan, K. V. Vorosilov u.a.) sowie jüngere von Stalin vorgeschlagenen Kandidaten (G. M. Pervuchin, M. Z. Saburov u.a.) - bildeten sozusagen den "griechischen Chor" für das "erste Trio". Nach der Liquidierung von L. P. Berija blieb mit G. M. Malenkov und N. S. Chruscev ein "Duett" auf der politischen Bühne. Zwischen ihnen begann ein Kampf, dessen ständige Begleitung die These der Kollektivleitung war. Auf der Basis der vorliegenden Materialien steht zu vermuten, daß auch andere Mitglieder der höheren Parteileitung eigene Absichten hatten, die sie zwar damals nicht realisieren konnten. Dies um so mehr, weil es auch zwischen ihnen ernsthafte Auseinandersetzungen gab. Anfang 1955 wurde G. M. Malenkov seines Amtes im Ministerrat enthoben. Als Vorsitzender wurde N. A. Bulganin ernannt, der Chruscev nicht störte, vielleicht auch Chruscevs Pläne in gewissem Sinne begünstigte, nämlich dank der Tatsache, daß er dem Ersten Vorsitzender des ZK der KPdSU nicht sehr nahe stand und die "andere Gruppe" vertrat. Als Ergebnis genoß Chruscevs Person die höchste Autorität in der Partei- und Staatsführung. Trotz des Kampfes innerhalb der Führung und teilweise infolge dieses Kampfes setzten in den Jahren 1953-1955 reale politische Veränderungen ein. Es wurde vieles unternommen, um die grausamsten Gesetzesverletzungen zu bekämpfen, die Freilassung politischer Häftlinge, und die Teilrehabilitation der von Stalinrepressalien betroffenen prominenten Persönlichkeiten fing an. Den Auftakt bildeten die Erneuerungen in der Landwirtschaft: Die Steuern für die Bauern wurden herabgesetzt und die Steuerschulden abgeschrieben. Die Neulandgewinnung begann. Dies verbesserte allmählich die Lebensmittelversorgung der Bevölkerung. Die Beziehungen mit Jugoslawien wurden wiederhergestellt, der Staatsvertrag mit Österreich abgeschlossen, in Genf fand das erste Gipfeltreffen seit 1945 zwischen den Vertretern der vier Großmächte statt. Man sprach bereits über die Entspannungspolitik und über ihre unentbehrliche Fortsetzung. 6

Siehe z.B.: Zubkova, E. Ju.: Lider i sud'by: "Posadnik" Georgija Malenkova, in: Polis, 1 (1995); dies.: Malenkov i ChruScev: licnyj faktor v politike poslestalinskogo rukovodstva, in: Otecestvennaja istorija, 4 (1995).

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Der sich nähernde Parteitag sollte die politischen Erneuerungen begründen und den neuen strategischen Kurs absegnen. Gleichzeitig sollte er aber die neue Kräftegruppierung in der Führung, die sich nach drei kampfreichen Jahren ergab, sichern. Auch in der jüngsten Literatur wird der XX. Parteitag etwa als "zweistöckiges" Ereignis dargestellt: Dabei scheint die Bestimmung des neuen politischen Kurses das Erdgeschoß und die "Geheimrede" über den Personenkult um Stalin das erste, aber selbständige Stockwerk zu sein. Es gibt aber offenbar keinen Grund für diese Teilung: Tatsächlich geht es um eine einheitliche politische Substanz. Und im Grunde genommen wäre der erste Teil des Parteitages ohne den zweiten unmöglich gewesen. Es gibt unterschiedliche Erklärungen, warum es zu diesem zweiten Teil, nämlich Chruscevs Rede über den Personenkult, überhaupt gekommen ist. Einerseits wird behauptet, daß zu Beginn des Jahres 1956 die Rehabilitierung vieler schuldlos verurteilter oder infolge der stalinistischen Repressalien ums Leben gekommener Politiker und einfacher Staatsbürger bereits angefangen hatte und weit fortgeschritten war7 Die Massen waren sich über das Geschehene im klaren und versuchten, die Ursachen zu verstehen; dies um so mehr, weil die Rehabilitierung häufig geheimgehalten wurde. Die Verwandten der Rehabilitierten erhielten die entsprechenden Dokumente, wurden aber zum Schweigen verpflichtet. Tatsächlich könnte darin ein Beweggrund für die das Geschehene erklärende Rede liegen. Es war aber nicht der einzige und auf keinen Fall der wichtigste. Andererseits wird auch gesagt, daß für N. S. Chruscev dieser Vortrag über die Entlarvung des Personenkults deshalb notwendig war, weil er danach strebte, seine eigene Position in der Führung zu festigen. Zum Beginn des Parteitages ist es ihm bereits gelungen, die neuen bedeutsamen Initiativen in der Innen- und Außenpolitik mit seinem Namen in Zusammenhang zu bringen. Das genügte ihm aber nicht. Die Situation mußte auf solche Weise geändert werden, daß die früher Stalin nahestehenden Kampfgenossen Chruscev nicht verdrängen und seinen politischen Neuanfang nicht umkehren konnten. In diesem Sinne war möglicherweise die Entlarvung des Personenkults und des gesetzwidrigen Handelns Stalins, an dem auch "alte" Politbüromitglieder aktiv beteiligt waren, ein Instrument zur "Zügelung" von Chruscevs potentiellen Gegnern. Allerdings war früher auch er selbst in diese Gesetzwidrigkeiten verwickelt gewesen. Als der Initiator der Entlarvung des Personenkults hoffte er anscheinend, sich allen möglichen Beschuldigungen entziehen zu können. Das war wohl nicht das einzige, worauf er gerechnet hatte. Es gab noch ein sehr ernstes Motiv für Chruscevs Vortrag über den Personenkult und dessen Entlarvung. Die Zielsetzung in der Innen- und Außenpolitik erwies sich als radikal neu gegenüber der vor 1953 betriebenen Politik. Viele Prämissen der alten Politik wurden öffentlich für ungültig erklärt, obwohl nicht in jedem Fall eine offene Gegenüberstellung der alten und der neuen Politik stattfand. Es wurden neue Ideen eingeführt, die den stalinistischen 7

In seinem Vortrag "O kul'te licnosti i e g o posledstvijach" berichtete N. S. Chruscev, daß seit dem Jahresbeginn 1954 7 . 6 7 9 Menschen rehabilitiert worden waren (Izvestija CK KPSS, 3 (1984), S. 143). Diese Zahl betrifft jedoch nur die Opfer der politischen Verfahren und ihre Urteile. 1955 wurden auch mehrere tausend ehemaliger Kriegshäftlinge freigelassen usw. Insgesamt erfaßte die Rehabilitierung bis 1961 mehr als 7 0 0 . 0 0 0 Menschen. Zwischen 1961 und 1987 wurde die Rehabilitation ausgesetzt. Vgl.: Michajlov, N „ Reabilitacija prodolzaetsja?, in: Kommunist, 11 (1991).

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Blick auf die Welt untergruben. Diese Prozesse bedurften einer Erklärung - es mußte zumindest die Grundlage für eine Erklärung geschaffen werden - sowohl für die Bürger der UdSSR als auch für die ganze Welt. Die neue Politik nach Stalins Tod hätte ohne die Mißbilligung des Personenkults weder innerhalb noch außerhalb des Landes legitimiert werden können. Deshalb glaube ich, daß der XX. Parteitag mit der "Geheimrede" eine Einheit darstellte. Ich bin davon überzeugt, daß aus denselben Gründen später diese "Geheimrede" in den Partei-, Gewerkschafts- und Komsomolorganisationen verlesen wurde: Die Legitimität der politischen Veränderung sollte für alle begreiflich sein. Hauptsächlich aus denselben Gründen, obwohl es die "Geheimrede" als Publikation nicht gegeben hatte, erschienen bald nach dem Parteitag der ZK-Beschluß der KPdSU "Über die Überwindung des Personenkultes und seiner Folgen" und eine Reihe von Aufklärungsartikel, veröffentlicht in Form zweier Broschüren mit einer Auflagenhöhe von jeweils einer halben Million.8 Hier aber erhebt sich die Frage: Warum eigentlich konnten die "alten" Mitglieder der Führung und des Präsidiums des ZK, die den Ideen Stalins treu waren, nicht verhindern, daß Chruscev seine Absichten, den Personenkult in einer Rede zu entlarven, verwirklichte? Diese Leute waren mit der Überwindung der stalinschen "Extreme", nicht aber mit allen Neuerungen Chruscevs einverstanden. Derartige Aktionen stimmten nicht mit ihren Ansichten überein und stellten für sie potentiell eine persönliche Gefahr dar. Sie versuchten vergeblich, Chruscev an seinen Plänen zu hindern. Ihm gelang es jedoch, die Unterstützung der "jungen" sowie schwankenden Politbüromitglieder zu gewinnen. Es lohnt sich, daran zu erinnern, daß das Thema des Personenkults zum Zeitpunkt der Einberufung des Parteitages für die Präsidiumsmitglieder sowie für das Gremium des ZK keineswegs neu war. Auf dem Plenum im Juli 1953, das sich Berijas Angelegenheit widmete, wurde die Frage des Personenkults bereits heftig diskutiert. Im Laufe des Plenums versuchten einige Teilnehmer wie A. Andreev oder J. Tevosjan in ihren Reden eine Apologie auf Stalin durchzusetzen. M. G. Malenkov wies in seiner Schlußrede auf folgendes hin: "Es wurde hier auf dem Plenum über den Personenkult gesprochen und falsch gesprochen. [...] Sie sollen es wissen, Genossen, daß der Personenkult um Stalin in der alltäglichen Praxis der Führung krankhaft in Form und Maße zugenommen hat, daß die Methoden der Kollektivarbeit aufgehoben wurden, Kritik und Selbstkritik in unseren Leitungsgremien überhaupt fehlten. Wir haben kein Recht, Ihnen zu verschweigen, daß ein derart abnormer Personenkult kategorisch zu Alleinentscheidungen geführt und der Sache der Partei- und Staatsführung in den letzten Jahren ernsthaft geschadet hat." Femer behauptete er, daß diese Erscheinungen "eine ganze Reihe von Fehlern in der Partei- und Staatsführung zur Folge hatten". Und obgleich Malenkov selbst immer wieder über die "leninistisch-stalinistischen Prinzipien" sowie über die große Marx-Engels-Lenin-StalinLehre sprach, meldete er doch seine zukünftige neue Richtlinie an. 9 Deshalb waren sich die Mitglieder des ZK über die Absichten der Führung im klaren. Diese Frage wurde aber bis zum Beginn des XX. Parteitages nicht mehr öffentlich gestellt. Die Bedeutung der kollektiven Leitung und die Nachteile des Personenkults wurden diskutiert. Der Name Stalins blieb aber ein Tabu. 8 9

K voprosu o kul'te licnosti, K voprosu o preodolenii kul'ta licnosti i ego posledstvij, Moskau 1956. Plenum CK KPSS. Ijul' 1953 goda. Stenograficeskij otcet, in: Izvestija CK KPSS, 2 (1991), S. 195-197, 199.

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Das Plenum des ZK der KPdSU faßte im Juli 1955 den Beschluß, den Parteitag einzuberufen. 10 Zur selben Zeit wurden auch Kommissionen in verschiedenen Bereichen wie Wirtschaft oder politische Probleme gegründet. Am 31. Dezember 1955 traf das Präsidium des ZK die Entscheidung, eine Kommission zu gründen, die die Dokumentation über Massenrepressalien gegenüber den Mitgliedern und Kandidaten des von dem XVII. Parteitag gewählten ZK der Kommunistischen Partei der Bolschewisten und gegenüber den anderen Sowjetbürgern in den Jahren 1935-1940 übernehmen und erforschen sollte. Zu der Kommission gehörten die ZK-Sekretäre P. N. Pospelov und A. B. Aristov, der Vorsitzende des Zentralrats der Sowjetischen Gewerkschaften, N. M. Svernik, und der Stellvertretende Vorsitzende des Komitees der Parteikontrolle beim ZK der KPdSU, P. T. Komarov. 11 Der Gründung der Kommission ging, wie jetzt bekannt ist, eine heftige Diskussion voraus. V. M. Molotov, K. E. Vorosilov, L. M. Kaganovic bezweifelten die Notwendigkeit der Kommission. Chruscev erzählte später, daß ebenso A. J. Mikojan daran gezweifelt hatte. Die anderen Präsidiumsmitglieder unterstützten jedoch den Vorschlag des Ersten Sekretärs. 12 Die Kommission wurde gegründet und führte die ihr aufgetragene Arbeit durch. Daraus ergab sich selbstverständlich die Frage: Wozu sollen die Ergebnisse der Kommission dienen? N. S. Chruscev war der Meinung, daß der Parteitag über diese Ergebnisse informiert werden sollte. Später erläuterte er: "Wir erhoben den Anspruch, daß der Partei die Wahrheit gesagt werden müßte, doch manche Leute, die die beträchtliche Schuld für die gemeinsam mit Stalin begangenen Verbrechen fühlten, fürchteten diese Wahrheit, fürchteten eigene Enthüllungen. [...] einige, die zum Präsidium des ZK gehörten, fragten: Wie wird der Parteitag das verstehen? Wie wird die Partei das verstehen? Wir antworteten: Der Parteitag und die ganze Partei werden das beide richtig verstehen! Wir müssen die Wahrheit über den Personenkult auf eben diesem XX. Parteitag sagen, weil es der erste Parteitag nach Stalins Tod ist [...]. Falls wir die Fehler und Nachteile, die für die Periode des Personenkults charakteristisch waren, nicht bloßlegen und nicht mißbilligen, bedeutet das, daß wir sie für die Zukunft auch legitimieren."13 Manchmal wird in der Literatur spekuliert, daß die Entscheidung zum Vortrag über den Personenkult bereits während des Parteitages nach heftigen Diskussionen in den Tagungspausen getroffen wurde. Jetzt wissen wir: Das Präsidium des ZK der KPdSU hat am 13. Februar 1956, d.h. am Vorabend der Eröffnung des Parteitages, vorgeschlagen, eine nichtöffentliche Tagung des Parteitages mit Chruscevs Vortrag "Über den Personenkult und seine Folgen" abzuhalten. Am selben Tag fand das Plenum des ZK der KPdSU, das diesen Vorschlag akzeptierte, statt. Der Vortrag wurde auf der Morgentagung am 25. Februar 1956 vor der offiziellen Abschlußzeremonie des Parteitages gehalten. 14 N. S. Chruscev selbst berichtet in seinen Memoiren über diese Diskussionen in den Tagungspausen des Parteitages, über seine Gespräche mit V. M. Molotov, K. E. Vorosilov und L. M. Kaganovic. Die Leute, die früher gegen die Gründung der Sonderkommission für die 10 Kommunisticeskaja partija Sovetskogo Sojuza v rezoljucijach i resenijach s"ezda, konferencij i Plenumov CK, t. 8, Moskau 1985, S. 530. 11 Izvestija CK KPSS, 2 (1989), S. 167. 12 Nikita Sergeevic Chruscev. Materialy k biografii, Moskau 1989, S. 32-33. 13 Ebd., S. 8. 14 Izvestija CK KPSS, 3 (1989), S. 166.

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Erforschung der stalinistischen Repressalien Einwendungen erhoben hatten, änderten ihre Meinung anscheinend nicht und versuchten, Chruscev trotz des Plenumsbeschlusses von seinem Vortrag abzuraten. Es gab heftige Auseinandersetzungen. Der Sohn von N. S. Chruscev, S. N. Chruscev, erzählt: "Erst Jahre später gestand der Vater, mit welch quälendem Nachdenken er jene Nacht verbracht hätte [...]. Er wäre sich darüber im klaren, daß es kein Zurück mehr gebe und nur das einzige bleibe - voranzukommen. Der Vater glaubte, daß die in die Enge getriebenen ehemaligen Verbrecher zu allem fähig waren, selbst dazu, ihn unter Arrest zu stellen. Das Telefon schwieg. Er selbst beschloß auch, niemanden anzurufen, wollte keine Schwäche zeigen. Die Nacht verging ereignislos." 15 Diese kleine Skizze schildert am besten die anstrengende Atmosphäre jener Tage und den Mut des Ersten Sekretärs. Chruscev arbeitete viel an seinem Redemanuskript, das die Kommission unter Leitung von P. N. Pospelov vorbereitet hatte. Diese Arbeit wurde noch während des Parteitages fortgesetzt. Einige Abschnitte, die er damals diktierte, sind noch erhalten; sie beweisen, wie ernsthaft er manche Thesen des Vortrags aufstellte. Die von ihm verfaßten und eingefügten Absätze weisen aber auch gewisse Widersprüchlichkeiten auf. Als Beispiel kann folgendes Zitat dienen: "Die Politbüromitglieder nahmen zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Haltungen gegenüber Stalin ein. Am Anfang priesen sie Stalins Größe und Fähigkeiten. Er war einer der effizientesten Marxisten, seine Logik, Kraft und Wille hatten positive Wirkung auf die Partei. Und dann [...]. Nach den Gewaltakten kam die Zeit der völligen, nicht nur der ideologischen, Unterwerfung unter diesen Mann." 16

Chruscevs Berichte Am 14. Februar 1956 hielt N. S. Chruscev seine erste Rede, den "Rechenschaftsbericht des Zentralkomitees der KPdSU gegenüber dem XX. Parteitag". Das Gliederungsschema des Berichtes war traditionell: die internationale Lage und die Außenpolitik der UdSSR, die Innenpolitik (von Wirtschaftsproblemen bis zur Frage der Konsolidierung des Gesellschaftssystems) und die Partei. Es ist aber angebracht, den Bericht unter anderen Gesichtspunkten zu analysieren und zwar mit Rücksicht auf unsere Hauptaufgabe, die vom XX. Parteitag eingeleiteten Erneuerungen zu schildern und diesen ersten Bericht mit dem zweiten, der der Entlarvung des Personenkults gewidmet ist, in Verbindung zu setzen. Als Ausgangspunkt für eine weitere Analyse bieten sich die inhaltlichen Veränderungen in der Innenpolitik in Zusammenhang mit der Überwindung des Stalinregimes und seiner Auswirkungen an. Schon im zweiten Absatz des "Rechenschaftsberichtes" machte N. S. Chruscev folgendermaßen auf die Grundrichtung der vorgeschlagenen Neuerungen aufmerksam: "Unter Berücksichtigung der Allgemeininteressen des Volkes und der Situation in der Landwirtschaft und Industrie hat die Partei mehrere emsthafte Maßnahmen ergriffen, um auf Grund der bereits erzielten Erfolge einen neuen großen Schritt in der sozialistischen Entwicklung des Landes zu machen. Dabei deckte sie mutig die Nachteile in verschiedenen Bereichen der Wirt15 Chruscev, S. N., Nikita Chruscev: krizisy i rakety, Moskau 1994, t. 1, S. 121. 16 Archiv Prezidenta Rossijskoj Federacii, fond 52, opis' 1, delo 134, listy 48-49.

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schafts-, Staats- und Parteitätigkeit auf, brach mit veralteten Vorstellungen und beseitigte alles Überholte, das unsere Vorwärtsbewegung bremste." 17 Hier wurde der Name Stalins und selbst der Terminus "Personenkult" noch nicht erwähnt. Am Ende des Berichtes aber definierte N. S. Chruscev deutlicher, was er unter dem "Überholten" verstand. Er betonte besonders, daß "die Partei sich nicht fürchten sollte, dem Volk die Wahrheit über die Nachteile und Schwierigkeiten unserer Vorwärtsbewegung zu sagen". Weiter bemerkte er: "Das ZK trat entschieden gegen den dem Geist des MarxismusLeninismus fremden Personenkult auf, der diesen oder jenen Menschen in einen Held und Wundertäter verwandelt und zugleich die Rolle der Partei und der Volksmassen abwertet sowie zur Senkung ihrer Kreativität führt. Die Verbreitung des Personenkults schmälerte die Rolle der Kollektivleitung in der Partei und verursachte oft schwere Versäumnisse in unserer Arbeit." 18 Während des Meinungsaustausches wurde das vom Ersten Sekretär erwähnte Problem der Überwindung des Personenkults oftmals nicht direkt berührt, so z.B. in den Reden von A. B. Aristov (Sekretär des ZK), M. A. Suslov, V. M. Molotov, L. M. Kaganovic, A. M. Pankratova (Mitglied des ZK, Historikerin). G. M. Malenkov drückte sich deutlicher aus: "Die Abschwächung und um so mehr die Abschaffung der Kollektivleitung, die entstellte Auffassung der Rolle der Persönlichkeit, selbst der Personenkult - das alles hatte keinen Widerspruch duldende Einzelentscheidungen und Willkür zur Folge und schadete der Partei- und Staatsführung sehr." Schließlich richtete allein A. I. Mikojan seine Kritik auf I. V. Stalin, vor allem jedoch in Zusammenhang mit dessen Aufsatz "Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR". Alle oben erwähnten Thesen über die Verurteilung des Personenkults, über die von ihm verursachten "schweren Versäumnisse in der Arbeit", über die zugelassenen "Verletzungen der sozialistischen Gesetzlichkeit" wurden in verallgemeinerter und verschärfter Form im Beschluß des Parteitages anläßlich des "Rechenschaftsberichts des ZK" vom 24. Februar wiederholt. 19 Schließlich begann N. S. Chruscev seinen Vortrag "Über den Personenkult und seine Folgen" am Morgen des 25. Februar mit dem Vorbehalt, daß er eine ausführliche Bewertung von Stalins Leben und Tätigkeit nicht bezwecke, und wies darauf hin: "Der Personenkult um Stalin [...] ist in einem bestimmten Stadium zur Quelle einer Reihe der größten und schwersten Entstellungen der Parteiprinzipien, der Parteidemokratie und der revolutionären Gesetzlichkeit geworden." 20 Ferner sprach er vor allen Dingen über den autoritären, zur Einzelherrschaft tendierenden Charakter der stalinschen Regierung in Partei und Staat, über die schwersten Gesetzesverletzungen und die Anwendung der antirechtlichen Methoden, über die Verletzungen der Prinzipien der nationalen Politik und einige außenpolitische Probleme. Hier erklärte er eigentlich nichts mehr. Erst am Ende des Vortrages formulierte Chruscev seine Thesen allgemeiner: "Der Personenkult hat dazu beigetragen, daß sich in der Partei- und Wirtschaftstätigkeit unzulängliche Methoden verbreitet haben, schwere Verletzungen der innerparteilichen und sowjetischen Demokratie, bloßes Administrieren, Entstellungen aller Art, 17 XX s"ezd Kommunisticeskoj partii Sovetskogo Sojuza. Stenograficeskij otcet, Moskau 1956, t. 1, S. 9. 18 Ebd., S. 101-102. 19 Ebd., t. 2, S. 424 20 Izvestija CK KPSS, 3 (1989), S. 128.

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Verschweigen von Fehlern, Schönfärberei der Wirklichkeit entstanden sind." 21 (Hervorhebungen V.Z.). Es ist auffällig, daß die Aufmerksamkeit der Zuhörer hauptsächlich auf Stalins Methoden gelenkt wird, ohne die "Wurzeln" der begangenen "Fehler" zu enthüllen. Warum dies so war, wird später erläutert. Jedenfalls verstanden die Parteitagsteilnehmer deutlich genug: Die zur Zeit der stalinschen Regierung verfolgte politische Richtlinie war in vielem fehlerhaft. Aus dem "Rechenschaftsbericht" sowie aus den Diskussionsbeiträgen einiger Präsidiumsmitglieder, besonders, wenn man sie mit den Thesen des vorherigen XIX. Parteitages vergleicht, wird klar, worauf N. S. Chruscev und die Parteileitung zu verzichten gedachten und was sie ändern oder korrigieren wollten. In der Innenpolitik konzentrierte der XX. Parteitag seine Aufmerksamkeit in erster Linie auf die Konsolidierung des Staates, seines Apparats, der Armee, der Straf- und Aufklärungsorgane. Im Mittelpunkt des von G. M. Malenkov erstatteten Berichtes stand der Leitsatz größtmöglicher Festigung der Disziplin. Die nationale Frage wurde auch oft besprochen, jedoch nur aus einem Gesichtswinkel: Es sei notwendig, die Völkerfreundschaft und den multinationalen Sowjetstaat zu festigen. Schließlich faßte er zusammen: "Das strenge Beibehalten der Prinzipien des demokratischen Zentralismus hatte für die Konsolidierung unseres Staates die größte Bedeutung." 22 Der XX. Parteitag hatte eine andere Zielsetzung. Hier z.B. einige Thesen aus dem Beschluß zum "Rechenschaftsbericht des ZK": - Als wichtigste Richtlinie der Parteiarbeit zeichnete der Parteitag Folgendes auf: "weitere Konsolidierung der sowjetischen Gesellschafts- und Staatsordnung, weitere Festigung des Bündnisses der Arbeiter mit den Kolchosbauern, der Freundschaft und der brüderlichen Kooperation aller Völker der UdSSR." 23 - Nach der Revolution wurde immer die These hervorgehoben, daß der Sozialismus "nationale Unterschiede und Besonderheiten nicht beseitigt, sondern im Gegenteil allseitige wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung und Aufschwung aller Nationen und Nationalitäten gewährleistet" und daß diese Besonderheiten sehr sorgfältig berücksichtigt werden sollen. In diesem Zusammenhang wurden die zu ergreifenden Maßnahmen zur Rechtserweiterung der Republiksorgane im Wirtschafts- und Kulturausbau festgelegt, die auch die weitere schöpferische Initiative in den örtlichen Organisationen, die Konsolidierung der Unionsrepubliken und die Festigung der Völkerfreundschaft in der UdSSR förderten 2 4 - Der Parteitag rief zur "weiteren Steigerung der Massenaktivität und -initiative, zur wachsenden Teilnahme seitens der Werktätigen in der Verwaltung des Staates und in seinen organisatorisch-wirtschaftlichen Angelegenheiten" auf. Laut Beschluß sei hier nötig, "die sowjetische Demokratie zu entwickeln, stets die Arbeit aller zentralen und örtlichen Sowjetorgane zu verbessern und ihre Verbindung mit den Massen zu stärken".25 21 22 23 24 25

Ebd., S. 160. Devjatnadcatyj s"ezd VKP(b), bjulleten' 1, S. 81. XX s"ezd KPSS, t. 2, S. 422. Ebd. Ebd., S. 422-423.

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- Schließlich wurde der "Festigung der Sowjetgesetzlichkeit", der strengen Wahrung der von der Sowjetischen Verfassung gewährleisteten Rechte aller Bürger des Staates besondere Beachtung geschenkt. Alle Partei- und Sowjetorgane sollten "wachsam die Gesetzlichkeit beschützen, streng und entschieden allerlei Gesetzwidrigkeit, Willkür und Verletzungen der sozialistischen Rechtsordnung beseitigen". 26 Die Thesen sind: Konsolidierung der Gesellschafts- und Staatsordnung (nicht nur bloß des Staates); Erweiterung der Rechte der Nationalen Republiken; verstärkte Partizipation im politischen Leben und Entwicklung der Sowjetdemokratie; strenge Wahrung der Gesetzlichkeit, Rechtsordnung und Bürgerrechte. Freilich war, wie in vielen anderen Fällen, auch bemerkbar, daß eine bestimmte Distanz zwischen der Verkündung der Prinzipien und deren Realisierung existierte. Die proklamierten Vorsätze unterschieden sich nicht nur von den früher verkündeten und der Praxis - dies gilt besonders in bezug auf die Demokratie und Gesetzlichkeit -, sondern stellten deren völliges Gegenteil dar. Es ging grundsätzlich um die Untergrabung bzw. um die ersten Schritte zur Aufhebung des stalinistischen Repressivregimes und weiter darum, daß Recht und Demokratie als der Grund des politischen staatlichen Lebens wahrgenommen werden sollten. Folgendes ist hier auch erwähnenswert. Bei aller Bedeutung der Aufrufe des XX. Parteitages zur Festigung der Demokratie darf nicht vergessen werden, daß dieser Begriff und dessen Inhalt zu jener Zeit nicht vollständig definiert waren. Dies gilt auch für spätere Zeitperioden. Die Erläuterungen des Begriffs in der Dokumentation des Parteitages waren eher formal als real. Man konnte an gründliche Reformen mit echt demokratischem Charakter damals weder denken noch darüber sprechen. Die Überwindung der früheren Trägheit benötigte viel Zeit. Sie ist selbst jetzt noch spürbar. Die in den Materialien des XX. Parteitages geschilderte Wirtschaftspolitik war eigentlich keine Wirtschaftspolitik, sondern eine Staatspolitik im Bereich der Volkswirtschaft. Die entsprechenden Methoden waren seit langem erprobt und sollten später, zur Zeit der Perestrojka, als "administrative Kommandomethoden" umschrieben werden. Selbstverständlich wurde über die Notwendigkeit der Produktionssteigerung, die Hebung der Arbeitsproduktivität, vor allem durch die Einführung neuer Techniken, über die Steigerung der Erträge und Warenergiebigkeit in der Landwirtschaft und über das Sparsamkeitsregime gesprochen. Um das Ziel zu erreichen, schlug man einzig und allein die Festigung der Disziplin und der Organisation sowie die Verbesserung der Arbeit des administrativen Apparates vor. Die Beschlüsse des XX. Parteitages wiederholten im Grunde genommen dieselben Aufgaben und schlugen dieselben admistrativen Kommandomethoden vor. Der wesentliche Unterschied bestand darin, daß jetzt auch die ökonomischen Instrumente eine größere Rolle spielten. Die auf dem XIX. Parteitag bereits ad acta gelegten Arbeitsverfahren wie die WareGeld-Beziehungen, die Selbstkosten, das Rentabilitätsprinzip wurden rehabilitiert. Sowohl in der Industrie als auch in der Landwirtschaft wurde die Steigerung der Produktionsrentabilität besonders betont. Es war notwendig, das materielle Interesse der Werktätigen an ihrer Arbeit zu erhöhen. Auf dem Parteitag wurde betont, daß es selbst bei einem prioritären Wachstum der Schwerindustrie möglich und wichtig wäre, die Warenproduktion zu beschleunigen, mehr 26 Ebd., S. 423.

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Aufmerksamkeit auf den alltäglichen Bedarf der Bevölkerung zu lenken, die Arbeitszeit zu verkürzen und die Rentenversorgung in Ordnung zu bringen. 27 Dies waren eigentlich nur erste Schritte. Nicht alles, was der Parteitag empfohlen hatte, ging in der praktischen Politik in Erfüllung. Darüber hinaus kam es auch oft zu einem "Zickzackkurs", was manchmal die Anwendung ökonomischer Gesetze und Methoden begünstigte, manchmal aber auch das "bloße Administrieren". Trotz allem waren die vom Parteitag angekündigten Absichten zweifellos fortschrittliche. Es ging um die Abkehr von dem reinen Subjektivismus, um die Berücksichtigung der Bedürfnisse des realen Lebens. In der Außenpolitik reduzierte der Parteitag die Aufgaben auf vier vereinfacht-schematisierte Punkte: den Kampf gegen die Vorbereitung und Anstiftung eines Krieges fortzusetzen; die Politik der internationalen Kooperation und Entwicklung der geschäftlichen Beziehungen mit allen Ländern fortzuführen; die Freundschaftsbeziehungen mit den sozialistischen Ländern zu vertiefen und weiterzuentwickeln sowie stets die Verteidigungsmacht des Landes zu festigen. 28 Als Begründung für diese Aufgaben schlug der Parteitag die seit der Konferenz der Vertreter der Kommunistischen und Arbeitersparteien im Jahre 1947 existierende ZweiLager-Konzeption vor, aus der folgte, daß im Laufe des Kampfes die Positionen des "friedlichen, demokratischen" Lagers sich immer weiter festigen würden und es deshalb Hoffnung gebe, Kriege zu verhindern. Auf dem XX. Parteitag wies Chruscev in seiner Rede über den Personenkult und seine Folgen, wenn auch nur allgemein, darauf hin, daß "Stalins Willkür nicht nur bei der Lösung der innenpolitischen Fragen hervortrat, sondern auch auf dem Gebiet internationaler Beziehungen der Sowjetunion". Als einziges Beispiel wurde der Abbruch der Beziehungen mit Jugoslawien angeführt. Und weiter hieß es: Stalin "verlor völlig das Realitätsgefühl, war mißtrauisch und hochmütig gegenüber einzelnen Personen innerhalb des Landes, sowie gegenüber ganzen Parteien und Länder". 29 Weiterhin kam Chruscev auf die Charakteristik von Stalins willkürlichen Handlungen zurück und betonte: "Während Stalins Regierung wurden unsere friedlichen Beziehungen mit den anderen Ländern nicht selten gefährdet, weil die Einzelentscheidungen zu Komplikationen führen konnten und zu ihnen auch führten." 30 Man kann sagen, daß die die internationalen Beziehungen betreffenden Beschlüsse des Parteitages ebenso radikal waren wie der kategorische Verzicht auf Stalins repressiven Methoden in der Innenpolitik. N. S. Chruscev und seine Mitkämpfer versuchten, indem sie die traditionelle Rhetorik beibehielten, das übermäßige Mißtrauen loszuwerden und die Welt in ihrer Realität und nicht durch eine "dogmatische Brille" zu sehen. Der XX. Parteitag verzichtete auf die seit 1947 existierende Zwei-Lager-These auf der internationalen Bühne. Er hielt jedoch in etwas gemilderter Form am Grundsatz über zwei "gegensätzliche Hauptrichtungen in der Entwicklung der internationalen Ereignisse" fest. Auf dem XIX. Parteitag wurde die Verschärfung des Kampfes zwischen den "zwei Lagern" zum Schwerpunkt gemacht, während der XX. Parteitag betonte, daß "auf Grund des leninistischen Prinzips der friedlichen Koexistenz der Kurs auf die Verbesserung der Beziehungen, 27 28 29 30

Ebd., S. 417-419. Devjatnadcatyj s"ezd VKP(b), bjulleten' 1, S. 41. Izvestija CK KPSS, 3 (1989), S. 154. Ebd., S. 162.

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auf die Festigung des Vertrauens und die Entwicklung der Kooperation mit allen Ländern gesteuert werden sollte". "Fünf bekannte [zum ersten Mal mit China und Indien verkündete; V.Z.] Prinzipien der internationalen Beziehungen" sollten dem zugrundeliegen: "die gegenseitige Achtung der territorialen Integrität und Souveränität, der Verzicht auf Angriffshandlungen, die gegenseitige Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten, die Entwicklung der zwischenstaatlichen Beziehungen auf der Basis der Gleichheit und des gegenseitigen Vorteils; friedliche Koexistenz und wirtschaftliche Kooperation." Und schließlich wurde unterstrichen: "Diese Prinzipien sind momentan die beste Formel der Beziehungen zwischen den Ländern mit unterschiedlicher Gesellschaftsordnung und könnten den dauerhaften friedlichen Beziehungen zwischen allen Ländern der Welt zugrunde gelegt werden."31 In engem Zusammenhang mit der ersten, prinzipiell bedeutungsvollen These stand auch die zweite: die These der möglichen Verhinderung des Krieges in der gegenwärtigen Epoche. Wie erwähnt, nahm der XIX. Parteitag an, daß der Krieg verhindert werden könne. Der XX. Parteitag ging noch einen Schritt weiter und deutete darauf hin, daß selbst die Existenz des Imperialismus nicht zur fatalen Unvermeidlichkeit des Krieges fuhren müsse. Zugleich wurde in sehr allgemeiner Form deklariert, die UdSSR beabsichtige nicht, jemandem den Sozialismus mittels des Krieges aufzuzwingen: "Die Partei", so der Beschluß, "geht von dem unerschütterlichen leninistischen Hinweis aus, daß die Bildung einer neuen Gesellschaftsordnung in diesem oder jenem Land die innere Angelegenheit des Volkes jedes gegebenen Landes ist." 32 Als Schlußfolgerung aus den zwei vorhergehenden Thesen galt: "Es öffnen sich neue Perspektiven für den Übergang vom Kapitalismus zum S o z i a l i s m u s . "33 Die Essenz dieser neuen Perspektive, so geht aus Chruscevs Vortrag und dem Beschluß des Parteitages hervor, bestand darin, daß "die Formen des Übergangs zum Sozialismus in Zukunft zunehmend vielfältiger w e r d e n " . 3 4 Stalin hatte zuerst diese bereits in den vierziger Jahren aufgestellte These vertreten, sie jedoch später abgelehnt. Dieser Übergang sollte dabei nicht unbedingt mit einem Bürgerkrieg verbunden sein, sondern durch den Erwerb der festen Mehrheit der sozialistischen Kräfte im Parlament gewährleistet werden. Schließlich verkündete der XX. Parteitag einhellig die Notwendigkeit, die Spaltung in der internationalen Arbeiterbewegung zu überwinden und offizielle Beziehungen zwischen den Kommunistischen Parteien und den Sozialisten aufzunehmen. Dies war das Gegenteil der These des XIX. Parteitages, der die Sozialdemokratie nicht nur zu Dienern der nationalen Bourgeoisie, sondern auch zur Agentur des amerikanischen Imperialismus erklärt hatte.35 Dieser Standpunkt wurde als eine der wesentlichen Voraussetzungen betrachtet, um Krieg zu verhindern, die nationalen Interessen zu verfechten und für die Demokratie zu kämpfen.36 Zu jener Zeit klang dies wirklich revolutionär. Selbst wenn bei weitem nicht alle realistischen Schlüsse gezogen wurden, wenn nur der erste, in vielem noch unbestimmte Schritt gemacht wurde, so gibt es dennoch keinen Zweifel: Dieser Schritt führte weg von der früheren, 31 32 33 34 35 36

X X s"ezd KPSS, t. 2, S. 412. Ebd., S. 414. Ebd. Ebd., S. 415. Devjatnadcatyj s"ezd VKP(b), bjulleten' 1, S. 31. X X s"ezd KPSS, t. 2, S. 412.

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alle Versuche zur Erneuerung und Entspannung der internationalen Situation blockierenden stalinistischen Politik. Es ist hier wichtig, daß die Thesen und Empfehlungen des XX. Parteitages zum Zeitpunkt seiner Eröffnung bereits ihre Begründung in der Reihe der umfangreichen praktischen Aktionen gefunden hatten. N. S. Chruscev konnte mit gutem Recht seinen Vortrag auf folgende Weise beginnen: "Es eröffneten sich reale Verbesserungsperspektiven auf der internationalen Bühne." 37 Vom heutigen Standpunkt aus gesehen können alle Beschlüsse des XX. Parteitages nur als unbestimmte Maßnahmen oder halber Fortschritt bezeichnet werden. Damals, im Jahre 1956, war das alles jedoch wirklich frisch, neu und vielversprechend. Und man benötigte vor allem Chruscev selbst - großen Mut, Kühnheit sogar, um den innen- und außenpolitischen Kurs eines solchen riesigen Schiffes wie die UdSSR so bemerkbar zu ändern.

Reaktionen auf die Rede Übrigens waren sich auch die Zeitgenossen des XX. Parteitages über die Unbestimmtheit und Unvollendetheit seiner Beschlüsse, insbesondere in der Frage des Personenkults, im klaren. Während des auf Grund des Beschlusses des ZK der KPdSU vom 5. März 1956 organisierten Verlesens des Vortrags stellten in der Sowjetunion die Zuhörer viele Verlegenheitsfragen. Alle Mitglieder und Kandidaten des Präsidiums des ZK, alle Sekretäre des ZK der KPdSU erhielten am 1. März den Vortragstext, nach der stilistischen Redaktionskorrektur und unter Berücksichtigung der Abweichungen des Vortragenden von der vorbereiteten Version der Rede. M. S. Gorbacev, der damals die Komsomolzen in den Vortrag einführte, schildert folgendermaßen seine Eindrücke: "Bei manchen Diskussionsteilnehmern, insbesondere bei der Jugend und Intelligenz oder bei den von Stalins Repressalien betroffenen Menschen, löste das Thema des Kults ein lebhaftes Echo aus. Die anderen wollten den angeführten Tatsachen einfach nicht glauben. Sie weigerten sich kategorisch, die Einschätzung der Tätigkeit und Rolle Stalins zu akzeptieren. Es gab auch solche - und zahlreiche -, die, ohne an dem Wahrheitsgehalt der Angaben zu zweifeln, doch immer wieder fragten: Warum? Warum sollte man öffentlich seine schmutzige Wäsche waschen, über alles offen sprechen und das Volk beunruhigen? Dabei hörte die Führung aller Ebenen auf den ersten dem XX. Parteitag gewidmeten Sitzungen an ihre Adresse gerichtete Frage: Wo waren Sie alle damals?" 38 Die westliche Reaktion, vor allem unter den Kommunisten, war gleichermaßen "gemischt". Die Kommunisten, viele Führer der brüderlichen Parteien begrüßten die Thesen, daß der Krieg nicht unbedingt unvermeidlich sei und vielfaltige Wege zum Sozialismus führten, daß die friedliche Koexistenz auf Grund der fünf Prinzipien eine optimale Form der zwischenstaatlichen Beziehungen ist und die Möglichkeit besteht, mit den Sozialdemokraten zusammenzuarbeiten; die Thesen zur Orientierung auf diese Entwicklung der Demokratie, zur Festigung der Gesetzlichkeit, zur Mißbilligung der von Stalin begangenen Verbrecher. Die Kommunisten stellten - zumeist nicht öffentlich, nur Palmiro Togliatti offen und direkt - die 37 XX s' ezd KPSS, t. I, S. 9. 38 Gorbacev, M. S., Zizn' i reformy, Moskau, t. 1, S. 84-85.

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Frage: "Auf welche Weise und warum konnte die sowjetische Gesellschaft zu den bekannten Erscheinungsformen der Abweichung vom Weg der Demokratie und Gesetzlichkeit kommen? Wie kam sie dazu, und warum zeigten sich in ihr diese Verfallssymptome?" 39 Die kommunistischen Parteien in den sozialistischen Ländern litten auch unter Stalins Willkür. Man erinnere sich hier an die vielen von Moskau aufgezwungenen Prozesse gegen die "Feinde des Volkes" in diesen Ländern, die sich als völlig inszeniert erwiesen. Diese Parteien hatten auch mit anderen Problemen zu tun, die ihre Vergangenheit und ihre Beziehungen zu Moskau betrafen. Für viele Teilnehmer der kommunistischen Bewegung war auch Folgendes sinn- und bedeutungsvoll. Der Personenkult um Stalin lag der weitverbreiteten Überzeugung zugrunde, daß die Autorität der KPdSU und ihre Urteile allgemein anerkannt waren. Nach dem Scheitern dieses Kults mußten viele sich selbst fragen, ob die Autorität der KPdSU wirklich unanfechtbar war. Hat diese Partei jetzt auch recht, nach allen begangenen Fehlern und Verbrechen? Dies alles wurde nicht öffentlich, sondern "im engen Kreis" innerhalb vieler Parteien besprochen, manchmal offen und direkt in freundschaftlichen Diskussionen mit den sowjetischen Kollegen. Eigentlich zielten alle damaligen Gedanken und Zweifel auf die einfache Frage, ob es möglich wäre, die Ursachen und Auswirkungen des Personenkults nur auf die Persönlichkeit Stalins, auf seine privaten Fehler, zu reduzieren, oder auf welche Weise sich das in der UdSSR geschaffene politische System auf alles, was geschehen ist, bezieht. Ausgerechnet zu dieser Zeit begann (genauer gesagt kam wieder auf) die Diskussion über das Wesen des Sozialismus, seinen Inhalts, den Begriff und die Formen, in welchen dieser Inhalt in Erscheinung treten könne, innerhalb und außerhalb der kommunistischen, sozialistischen und sozialdemokratischen Kreise. In dieser Diskussion wurden erst jetzt alle Pünktchen aufs "i" gesetzt. Sie geht jedoch weiter und wird auch weiter gehen. Heute ist vieles, obwohl bei weitem nicht alles, geklärt. Besonders deutlich sind jetzt sowohl die positiven, fortschrittlichen Aspekte der Arbeit des Parteitages und von Chruscev persönlich als auch die Beschränktheit, Unvollständigkeit, in gewissem Sinne sogar die Mangelhaftigkeit dieser Arbeit. Diese Mangelhaftigkeit bedingte zuerst die Inkonsequenz und den "Zickzackkurs" in Chruscevs Politik, später auch die Tatsache, daß der Personenkult, obwohl nicht in derselben groben und unverhohlenen Form, ohne Rückkehr zu den Massenrepressalien, doch teilweise wieder hervortrat. Worin bestand diese Mangelhaftigkeit? Nicht zufällig begann N. S. Chruscev seine Rede "Über den Personenkult und seine Folgen" mit der Erinnerung an den Brief, den V. I. Lenin Ende Dezember, Anfang Januar 1922 diktiert und an den Ordentlichen Parteitag gerichtet hatte. In diesem, in der Literatur oft als "Lenins Testament" bezeichneten Brief schrieb er über Stalins Brutalität, darüber, daß er seines Amtes als Generalsekretär enthoben und durch jemanden anderen ersetzt werden solle. Dieser andere solle "nur einen Vorteil gegenüber Stalin haben, und zwar toleranter, loyaler, höflicher, achtsamer zu den Kollegen, weniger launisch usw. sein". 40 Weiter wies Chruscev darauf hin, daß Stalin zuerst Lenins Bemerkungen berücksichtigte, sie aber später völlig ver39 Nuovi argomenti, 20 (1956). 40 Lenin, V. I., Polnoe sobranie socinenij, t. 45, Moskau 1964, S. 346.

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schmähte. "Die negativen Züge, die zu Lenins Lebenszeit im Embryonalzustand hervortraten, entwickelten sich zu schwerem Machtmißbrauch durch Stalin, was unserer Partei riesigen Schaden zugefügt hat." 41 Darauf lief eigentlich die "Analyse" des Personenkults um Stalin hinaus. Die weitere Darstellung diente nur als Register seiner schweren, in vielem tragischen Verfehlungen und diente der Veranschaulichung der Grundthese. Chruscev stellte freilich die naheliegende Frage: "Was meinten die Politbüromitglieder des ZK dazu, warum wendeten sie sich nicht rechtzeitig gegen den Personenkult und tun dies erst in der letzten Zeit?" In seiner Antwort auf diese Frage verwies Chruscev zuerst auf Stalins Verdienste und sprach dann darüber, daß Stalin seit bestimmter Zeit "die Macht mißbraucht, mit den prominenten Partei- und Staatspersönlichkeiten abgerechnet, seine Terrormethoden gegen die ehrenhaften sowjetischen Bürger verwendet hatte [...]. Alle Versuche, sich gegen den unbegründeten Verdacht und Beschuldigungen zu wenden, führten nur dazu, daß der Protestierende selbst den Repressalien unterzogen wurde [...]. Es ist klar, daß sich in solch einer Situation jedes Politbüromitglied in äußerst schwieriger Lage befand." 42 Mit anderen Worten ist der Charakter Stalins, der ein Einzelherrscher war und alle, einschließlich der Politbüromitglieder, terrorisierte, an allem schuld. Dabei blieb unerwähnt, daß das nach der Revolution geschaffene und in den dreißiger Jahren besonders stabil gewordene sozialpolitische, rechtliche und wirtschaftliche System, das sich auf die absolute Allmacht der Staatspartei, auf die totale Herrschaft des Staatseigentums und auf das unanfechtbare ideologische Parteimonopol gründete, in sich selbst nicht nur Keime, sondern auch alles Nötige für eben solche Politik Stalins enthielt, daß dieses System ohne eine derartige Politik, ohne Repressalien einfach nicht existieren konnte. Hier müssen wir sofort betonen: Das System und das Land, das System und das Volk sind nicht dieselben Phänomene. Das Land und sein Volk lebten im Rahmen dieses Systems. Die Leute glaubten meistens, daß sie wirklich eine neue, bessere Gesellschaft bauten, daß Opfer, Entbehrungen und Leiden um des besseren "Morgens" willen unerläßlich waren. Wir können das nicht als bloße Naivität bezeichnen. Viele von denen, die heute über die Sowjetunion der Stalin-Ära schreiben, berücksichtigen Folgendes nicht: Die Mehrheit des Volkes lebte eben nach den dreißiger Jahren besser als früher. Das Land stand freilich den westlichen Ländern in der Lebensqualität weit nach. Es muß trotzdem eingestanden werden: Viele Probleme wurden in der UdSSR erfolgreich gelöst. Das nicht zu hohe materielle Lebensniveau stieg (mit Außnahme der Kriegszeit) langsam aber stetig. Jeder Werktätige war voller Zuversicht, daß er seine Arbeit nicht verliert seit 1932 gab es keine Arbeitslosigkeit in der UdSSR -, daß seine Kinder lernen und studieren können, daß er selbst für seine Urlaubszeit eine Sanatoriumseinweisung oder einen Ferienplatz in einem Erholungsheim mit einer Ermäßigung bekommt, daß er nach der Vollendung seiner Berufstätigkeit rentenberechtigt ist. Zwar existierte ein Wohnungsmangel, doch wurden Wohnungen allmählich gebaut, und die Mieten waren eher symbolisch. So war es unter Stalin, nach ihm, auch in der Stagnationszeit und vor den Jahren der Perestrojka. Wenn manche Journalisten oder Analytiker sich heute über den Erfolg der Kommunisten bei den Parlamentswahlen am 17. Dezember 1995 wundern, ziehen sie all das nicht in 41 Izvestija CK KPSS, 3 (1989), S. 131. 42 Ebd., S. 162-163.

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Betracht. Die Erinnerung daran ist im Volk noch lebendig, besonders jetzt, zur Zeit der Reformen und des raschen Absinkens des Lebensniveaus. Daher stammen die nostalgischen Erinnerungen an das Verlorene und auch an die damit in Zusammenhang stehenden Leute. All dies ist auf keinen Fall die Rechtfertigung des Personenkults oder des damals existierenden Systems. Das ist eine Erinnerung an die Tatsache, daß die Geschichte noch nirgendwo und nie entweder rein "schwarz" oder rein "weiß" gewesen ist. Sie bleibt immer "bunt", widersprüchlich und vieldeutig, und dies darf nicht vergessen werden. Wie dem auch sei, die Analyse des existierenden Systems, dessen Nach- und Vorteile wurde auf dem XX. Parteitag nicht durchgeführt. Mehr als das, die Diskussionen im ZK-Präsidium des ZK hörten auch nach dem Parteitag nicht auf. Die Leute, nicht nur die Kommunisten, stellten mehr und mehr Fragen, und darauf waren weitere Erklärungen nötig. Am 30. Juni 1956 faßte das ZK der KPdSU den Beschluß "Über die Überwindung des Personenkults und seiner Folgen", mit dem sie versuchte, die Frage "Wie konnte das passieren?" zu kommentieren und zu beantworten. Im Grunde genommen bestand die Hauptidee dieses Beschlusses aber darin, die an Stalins Adresse gerichteten Beschuldigungen nochmals zu wiederholen, ihn aber dabei unter Verweis auf die "objektiven Geschichtsbedingungen", auf die vom Staat erlebten Schwierigkeiten in bestimmtem Sinne reinzuwaschen und in erster Linie alle Vorwürfe gegen das System selbst zurückzuweisen. Deutlich klang dies im Beschluß an: "Es wäre ein grober Fehler, die Schlüsse über irgendwelche Veränderungen in der Gesellschaftsordnung der UdSSR auf Grund des Personenkults zu ziehen oder die Quelle dieses Kults in der Natur der sowjetischen Gesellschaftsordnung zu suchen. Beides ist absolut falsch, weil das mit der Realität nicht übereinstimmt und den Tatsachen widerspricht. Trotz alles Bösen, das der Personenkult um Stalin der Partei und dem Volk zugefügt hat, konnte er die Natur unsere Gesellschaftsordnung nicht ändern und hat sie auch nicht geändert." 43 Allerdings enthielt der Beschluß das Eingeständnis: Der Personenkult "schadete ernsthaft der Entwicklung der sozialistischen Demokratie, dem Aufschwung der Kreativität von Millionen". 44 Und daneben stand: "Unsere Ordnung ist wirklich eine Ordnung der Demokratie und des Volkes." 45 Obwohl die dokumentarischen Beweise dazu noch fehlen, können wir vermuten, daß der Beschluß des ZK der KPdSU "Über die Überwindung des Personenkults und seiner Folgen", der in gewissem Maße eine Abweichung von den Positionen des XX. Parteitages darstellte, ein Kompromiß zwischen den Präsidiumsmitgliedern war. Die Ursachen solch eines Kompromisses lagen darin, daß N. S. Chruscev selbst zur gründlichen Analyse des Systems, zu dessen totaler Reorganisation noch nicht bereit war. Nachdem die Verbrechen Stalins verurteilt und der repressive Charakter des Regimes beseitigt waren, wollte er dieses Regime verbessern, seine inneren, noch unausgeschöpften Möglichkeiten mobilisieren. Folgendes könnte als Bestätigung dazu dienen.

43 KPSS v rezoljucijach i resenijach s"ezdov, konferencij i Plenumov CK, t. 9, Moskau 1986, S. 121. 44 Ebd. 45 Ebd. S. 123.

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Im Grunde genommen waren viele Maßnahmen, die Chruscev und das von ihm geleitete Präsidium des ZK vor und besonders nach dem XX. Parteitag verwirklichten, auf die weitere Festigung der Grundlagen des im Staat geschaffenen Systems gerichtet. Vor allem bemühte sich Chruscev, die Partei gegen mögliche, in Zusammenhang mit Stalin stehende Beschuldigungen zu bewahren und ihre Lage und Rolle als die der vollkommenen Macht im Land beträchtlich zu festigen. In den Jahren 1953-1955 versuchte G. M. Malenkov, die Funktionen der Partei und des Staates zu teilen, in der Tat aber die Partei dem Staat und dem von ihm geleiteten Ministerrat zu unterstellen. Das gelang ihm nicht. N. S. Chruscev als Erster Sekretär des ZK der KPdSU hinderte ihn daran, dies durchzuführen und stellte die Rolle des ZK der Partei als Hauptbestandteil des Systems "Partei-Staat" vollständig wieder her. Bemerkenswert ist, daß die gemeinsamen Beschlüsse der Regierung und des Zentralkomitees bis zum Jahre 1954 mit folgender Unterschrift versehen wurden: "Ministerrat der UdSSR, ZK der KPdSU". Seit 1954 aber herrschte wieder "Ordnung". Von nun an wurden die gemeinsamen Beschlüsse "vom ZK der KPdSU und dem Ministerrat" gefaßt. Kurz danach, seit 1958, wurde Chruscev, der anerkannte Parteiführer, gleichzeitig zum Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR. Es ging hier nicht nur um die Vereinigung der Ämter, sondern auch darum, daß diese Vereinigung später als ein zusätzliches und wesentliches Element zur Festigung der allumfassenden Rolle der Partei (genauer gesagt, ihrer Leitung), der einzigen und allmächtigen Regierung im Land, hervortrat. Eine andere Reihe von Maßnahmen Chruscevs nach dem XX. Parteitag richtete sich auf eine weitere Festigung des "sozialistischen gesellschaftlichen", eher aber staatlichen Eigentums an allen im Land vorhandenen Produktionsmitteln. Nachdem die Kolchosen und Kolchosbauer mehr Freiheit erhalten hatten und ihr materielles Interesse gesteigert worden war, machte Chruscev dieses Prozeß wieder rückgängig durch die Einschränkung der Selbständigkeit der Kolchosen, deren Integration in das staatliche administrative Kommandosystem. Zur selben Zeit verkündete er unter dem Motto, daß die Voraussetzungen für den Aufbau des Kommunismus geschaffen werden sollen, die erhebliche Begrenzung und sogar Verkürzung der individuellen Hauswirtschaft, die Konfiszierung des Viehes der Bauern, das Abholzen der privaten Gärten usw. Die Betriebskooperationen in der Stadt fanden ein Ende. Im Endeffekt dehnte sich der Raum des "sozialistischen Gesellschaftseigentums" aus. Als Resultat verschärften sich aber die Schwierigkeiten in der Landwirtschaft, die Lebensmittel- und Warenlieferungen für die Städte gingen zurück, und die Fleisch- und Milchpreise mußten heraufgesetzt werden. Auf diese Weise stützte man den zweiten "Pfeiler", auf dem das existierende Gesellschaftssystem ruhte, nämlich das "gesellschaftliche" (staatliche) Eigentum an allen Produktionsmitteln ohne Ausnahme. Nichts veränderte sich in bezug auf den dritten und wichtigsten "Pfeiler" des Systems, das Monopol der Partei auf die Ideologie und das geistige Leben der Gesellschaft. In seinem Gespräch mit I. G. Erenburg gestand Chruscev: "In Fragen der Kunst bin ich ein Stalinist." 46 Er war wirklich einer, nicht nur im Bereich der Kunst. Dies mag seltsam erscheinen, weil Chruscev selbst auf dem XX. Parteitag seine Unversöhnlichkeit mit dem repressiven Regime, seine Fähigkeit zur Revision der überholten The46 Nikita Sergeevic Chruscev. Materialy k biografii, S. 135.

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sen und zur Übernahme realistischer Ideen demonstrierte. All das wurde nur der Partei und dem Leiter (selbstverständlich dem Ersten) erlaubt. Was die anderen betraf, blieb das für sie wie früher ein "Tabu". Chruscev brachte auf dem XX. Parteitag die These vor, daß die friedliche Koexistenz der Ideologien unmöglich ist, und schuf damit die Grundlage für die weitere ideologische Verfolgung derer, die auf die "grundlegenden Prinzipien", d.h. auf die ideologische Basis des Systems einen "Anschlag verübten". Das "Tauwetter" in der Kulturpolitik, das bereits vor dem XX. Parteitag begonnen hatte, dauerte nicht lange. Nach der Veröffentlichung einiger Aufsätze, die zur Entlarvung des Personenkults um Stalin beigetragen hatten, einschließlich "Ein Tag im Leben des Iwan Denisowitsch" von A. I. Solsenicyn oder "Terkin in der Hölle" von A. T. Tvardovskij, wurde der Schlagbaum wieder heruntergelassen. Für die "liberalen" Organe war es der Anfang schlechter Zeiten, wie z.B. für die Zeitschrift "Novyj mir". 47 Das war keine richtige und völlige Rückkehr zur Stalin-Ära, und doch zweifellos ein Schritt zurück. Chruscev und seine Mitarbeiter verurteilten Stalins Repressivregime, behielten jedoch seine bestimmenden Grundlagen bei. General J. A. Serov, der während Stalins Repressalienzeit wichtige Ämter ausgeübt hatte, blieb nicht zufällig mehrere Jahre der Vorsitzende des Komitees für Staatsicherheit (KGB). Kein Zufall war auch, daß einige von den zu viele "unbequeme" Fragen stellenden Parteitagsteilnehmern bald nach dem Parteitag unter Arrest gestellt wurden. Später, Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahren, wendete die neue Macht die ähnlichen Methoden an: In Temir-Tau, Alexandrow und Nowotscherkassk z.B. fuhren Panzer gegen Streikende auf. 48 N. S. Cruscev verurteilte also einerseits den Personenkult um Stalin und dessen Methoden, eröffnete anscheinend neue Wege in die Zukunft, tat andererseits alles Mögliche, um die Grundlagen des existierenden Systems und seine "Hauptpfeiler" zu festigen. Wie läßt sich diese Widersprüchlichkeit in Chruscevs Handlungen während des XX. Parteitages und danach erklären? Vor allen Dingen war Chruscev selbst eine ungewöhnliche, hervorragende Persönlichkeit, der "Mensch seiner Zeit". Es ist eine allgemeine, auch von ihm selbst verwendete Bezeichnung. Er war imstande, einige Beschränkungen des Systems zu überwinden und seine Ketten abzuschütteln, von den übrigen aber konnte er sich nicht befreien. Er strebte weder danach noch war er dazu fähig, das ausgeprägte System zu überwinden. Er handelte innerhalb des Systems, wollte es verbessern, modernisieren und ihm neue Dynamik verleihen. Viele der Pläne sind nicht gelungen. Chruscevs vielversprechende Taten verliefen im Sand, sobald sie mit den Grenzen des Systems kollidierten. Chruscev konnte und wollte nicht, fürchtete in gewissem Sinne, diese Grenzen zu überschreiten. Er konnte es nicht, weil er innerlich von der Richtigkeit, der Gerechtigkeit und dem Fortschritt des Systems fest überzeugt war. Er wollte es nicht, weil es seiner Weltanschauung, seinem "Glauben" widerspach, in seinen Erneuerungen zu weit zu gehen. Die47 Lukovceva, T. A., Poisk putej obnovlenija obscestva i sovetskaja literatura v 50-60-ch godach, in: Voprosy istorii KPSS, 1 (1989). 48 Belocerkovskij, B., Vosstanija, o kotorych ne znala strana, in: Novoe Vremja, 15 (1991); Trubin, N., Novocerkassk-62. Kak èto bylo, in: Pravda vom 3. Juni 1991.

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sen "Glauben" zu zerstören und auf ihn zu verzichten, schien für ihn eine Schändung zu sein. Er fürchtete es, weil er sich der Sprengktaft seiner Handlungen im klaren war. Das "Tauwetter" innerhalb des Landes und der von Chruscev selbst den Leuten gegebene Schluck Freiheit riefen Fragen und Bestrebungen ins Leben, die mit seinem "Glauben" nicht übereinstimmten und die ausgeprägte Ordnung zu untergraben drohten. Die Geschehnisse in Polen und besonders in Ungarn, deren Völker beabsichtigten, nicht nur vom stalinistischen Repressionserbe, sondern auch selbst von den Beschränkungen des Systems frei zu werden und einen entscheidenden Schritt zur wahren Demokratie zu machen, betrachteten N. S. Chruscev und seine engsten Mitarbeiter als unverhüllte Konterrevolution. Selbstverständlich fürchtete er die möglichen Auswirkungen dieser "Konterrevolution" im eigenen Land. Diese Furcht verursachte die blutigen Repressalien in Ungarn. Die Geschehnisse der letzten Monate 1956 zwangen Chruscev nicht zum völligen Rückwärtsgang, bremsten jedoch beträchtlich die Verwirklichung der Beschlüsse des XX. Parteitages. In gewissem Maße wich Chruscev auch von diesen Beschlüssen ab. Ende 1956/Anfang 1957 wurde die Kritik des Personenkults schwächer und hörte später völlig auf. Nach dem Aufsatz über Stalins inkonsequente Position im April 1917 in der Zeitschrift "Voprosy istorii" im April 1957 wurde der Autor, der stellvertretende Chefredakteur E. N. Burdzalov, der Kritik unterzogen und seines Amtes enthoben. 49 Ende desselben Jahres erklärte Chruscev in seiner Rede auf der Festsitzung anläßich des 40. Jahrestages der Oktoberrevolution: "Die Partei übt Kritik an Stalins falschen Handlungen, indem sie gegen alle, die Stalin verleumden, kämpft und kämpfen wird [...]. Als ein treuer Marxist-Leninist und ein aufrechter Revolutionär wird Stalin einen entsprechenden Platz in der Geschichte einnehmen." 50 Etwas später kehrte er zum Thema des Personenkults um Stalin zurück. Auf dem XXII. Parteitag der KPdSU 1961 galt dieses Thema als eines der erstrangigsten und aktuellsten. All dies geschah erst, nachdem Stalins Anhänger aus dem ZK-Präsidium ausgeschlossen worden waren. Innerhalb dieses höchsten Parteigremiums diente ihr heftiger Widerstand der Politik der Destalinisierung und dem Kurs auf die Demokratisierung des Gesellschaftslebens als zweiter Grund der widersprüchlichen Situation in Partei und Land nach dem XX. Parteitag. Zu jener Zeit wurde der Kampf in der Führung noch härter. Die ungarischen Ereignisse, der Krieg um den Suezkanal und die Aktionen der "Liberalen" auch in der UdSSR führten zum aktiveren Widerstand gegen Chruscevs Politik seitens der Mitkämpfer Stalins. Sie bremsten die Durchführung der neuen Politik und wendeten sich gegen die beabsichtigten Maßnahmen zur Erweiterung des Rechts der Unionsrepubliken, zur Reorganisation in der Industrieverwaltung, gegen die Veränderungen in der Landwirtschaft - von der Neulandgewinnung bis zur Erhöhung des materiellen Interesse der Kolchosbauern -, gegen die Aktivierung der internationalen Beziehungen der UdSSR und besonders der westlichen Beziehungen. Am 18. Juni 1957 schlugen V. M. Molotov und G. M. Malenkov auf der Präsidiumssitzung des ZK vor, M. S. Chruscev abzusetzen. Es gelang ihnen, die Mehrheit der Stimmen zu gewinnen. Chruscev, der von der Minderheit der Präsidiumsmitglieder und von der zahlreichen Gruppe der ZK-Mitglieder unterstützt wurde, konnte jedoch das Plenum des Zentral49 Gorodeckij, E. N., 2umal "Voprosy istorii" v seredine 50-ch godov, in: Voprosy istorii, 9 (1989). 50 Chruscev, N. S., Sorok let Velikoj Oktjabr'skoj socialisticeskoj revoljucii, Moskau 1957, S. 31-32.

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komitees einberufen lassen, das den Präsidiumsbeschluß außer Kraft setzte. Nach der langen Diskussion (22. bis 29. Juni) erlitt die Opposition eine völlige Niederlage. Das Plenum faßte den Beschluß "über die parteifeindliche Gruppe von G. M. Malenkov, L. M. Kaganovic, V. M. Molotov". Sie wurde aus dem ZK-Präsidiums und dem ZK ausgeschlossen. Die vorher der Partei unbekannten Auseinandersetzungen kamen mit viel Aufhebens ans Tageslicht. 51 Der Beschluß des Plenums lautete, daß "die parteifeindliche Gruppe sich gegen die Richtlinie der Partei gewendet hätte, daß ihre Mitglieder [...] stets den Widerstand [...] dem von dem XX. Parteitag der KPdSU genehmigten Kurs geleistet hätten", d.h. gegen die Verbesserung der "vom Personenkult verursachten Fehler und Versäumnisse" gewesen wären und sich "heftig den vom ZK und von der Partei durchgeführten Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen des Personenkults entgegensetzt hätten". 52 Außer diesen ziemlich allgemeinen Aussagen wurde über den Personenkult kein Wort mehr gesagt. Stalin selbst überging man mit Schweigen. Jedem der Gruppenteilnehmer wurden konkrete Einwendungen gegen die nach dem Parteitag realisierten Politik vorgeworfen. Der Versuch, zurückzukehren und das Relikt des Stalinismus in seiner anrüchigsten Form zu retten, scheiterte. Jedoch hielt die Aktivität seiner Anhänger in der Parteiführung die Realisierung des Parteikurses merklich zurück. Zugleich benötigte Chruscev auch nach dem Ausschluß der "parteifeindlichen Gruppe" gewisse Vorsicht. Dies um so mehr, weil bald danach, praktisch seit 1959, die Beziehungen der KPdSU mit der Kommunistischen Partei Chinas sich verschlechterten. Die Fragen des Personenkults, der Grundthesen und Richtlinien des XX. Parteitages, einschließlich dem Punkt, daß der Krieg nicht unbedingt unvermeidlich sei, traten als Schwerpunkte ihrer Auseinandersetzung hervor. Wichtig ist auch, daß die wachsende Labilität und Inkonsequenz in Chruscevs Handlungen nach dem Parteitag durch den Widerstand seitens des Systems und seines elitären Kerns geprägt wurden. Im Grunde genommen erwies sich die Poststalin-Ära als die Zeit des Aufbaus der erneuerten Elite der Sowjetgesellschaft. Diese Elite regierte das Land bis zur Perestrojka (in vielem behielt sie eigentlich ihre Positionen während der Perestrojka-Ära und danach bei). Die Periode der Furcht und des häufigen Elitenwechsels ging mit Stalins Tod zu Ende. Die Elite wurde merklich mit den neuen Leuten ergänzt, die sich ins ZK der KPdSU, in den Parteiund größer gewordenen Staatsapparat einreihten. Nach der Beseitigung der "parteifeindlichen Gruppe" beschleunigte sich der Prozeß der Elitenerneuerung. Von Bedeutung ist auch, daß, besonders nach dem XX. Parteitag, die neuen "Spielregeln", die die Lage der Partei- und Staatselite stabilisierten, in Kraft traten. Diese "Spielregeln" bezeichnete man als die Sorge um die Stabilität der Führung. In der Tat ging es um die Sicherung der Immunität der Partei- und Staatsführer. Sie fühlten sich endlich als Herren der Lage in den zentralen und örtlichen Organisationen und betrachteten ihre Macht als ein spezifisches Eigentum, das ihnen erhebliche Privilegien und auch Gewinn brachte. Die Elite tendierte zum Clanprinzip: der zentrale Parteiapparat, die Staatsstrukturen, die Führung in den Republiken, in den örtlichen Organisationen und die großen Industriekomplexe, vor allem der militärisch-industrielle Komplex. 51 Barsukov, N. Proval "antipartijnoj gruppy". Ijun'skij Plenum CK KPSS 1957 goda, in: Kommunist, 8 (1990). 52 KPSS v rezoljucijach i resenijach s"ezdov, konferencij i Plenumov CK, t. 9, S. 185.

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Freilich gab es innerhalb dieser privilegierten Schichten Widersprüche und Auseinandersetzungen, z.B. wie diese oder jene Veränderungen oder Reformen durchzuführen seien. Nicht immer fanden Chruscevs Vorschläge bei allen Teilen der Elite gleiche Unterstützung. Es existierte auch (häufig heimlicher) Widerstand gegen die Verwirklichung der neuen Maßnahmen, z.B. gegen die Gründung der regionalen Volkswirtschaftskomitees, die die Positionen der örtlichen Eliten festigen und die der zentralen schwächen sollten. All dies bestimmte in gewissem Maße die Richtlinien von Chruscev, der auf seine Kollegen und Untergebenen Rücksicht nehmen mußte. Anscheinend merkte Chruscev, wie die obengenannten Prozesse sich entwickelten. Nicht zufällig versuchte er - übrigens erfolglos -, bei der Vorbereitung des XXII. Parteitages der KPdSU die These von der periodischen Ablösung der Kader ins Parteiprogramm und in seine neue Satzung einzufügen. 53 Das von ihm 1962 vorgeschlagene Projekt der Teilung des Parteikomitees in das Komitee für Industrie und das Komitee für Landwirtschaft zielte vielleicht auch darauf, die Allmacht der "Lehnzwergfürsten" zu schwächen. 54 Solch eine Vermutung äußerte M. S. Gorbacev in seinen Memoiren. 55 Wahrscheinlich ist es so. Was aber offenbar ist: Chruscev mußte einerseits die Stimmung der Elite und ihre Interessen berücksichtigen, andererseits aber auch ihren Appetit zügeln und den von ihm geplanten und realisierten Kurs vor ihren maßlosen Ansprüchen schützen. Schließlich wandte sich die Elite infolge Chruscevs radikaler, manchmal vernünftiger, häufig aber improvisierter und unausgewogener Schritte von ihm ab. Als 1964 auf dem Plenum des ZK der KPdSU die Frage nach seinem Rücktritt gestellt wurde, blieb er ohne Anhänger und nahm seinen Abschied. Die noch unerforschten Veränderungen in der Sowjetgesellschaft, in der neuen Elite bremsten die Erneuerungen und bestimmten in gewissem Maße den gesamten Verlauf der Geschehnisse nach dem XX. Parteitag.

Historische Bedeutung Der XX. Parteitag und der Prozeß der Verwirklichung seiner Richtlinien waren offenbar sehr widersprüchlich und vieldeutig. Das im Jahre 1956 als dringend empfundene Bedürfnis nach Veränderungen wurde schließlich nur teilweise befriedigt. Die Basis des herrschenden Systems blieb bestehen. G. Ch. Popov betont die unzweifelhaften Verdienste von N. S. Chruscev und bemerkt: "Chruscev gewährleistete im Grunde genommen den Übergang des Staatssozialismus vom Modell des Personenkults zum Modell des typischen Nomenklatursozialismus." Darin liegt viel Wahrheit. 56 Bei allen nüchternen und kritischen Einschätzungen des Parteitages und des ihm folgenden Zeitabschnittes sollte man das Wichtigste nicht vergessen: Dies waren Ereignisse von hi-

53 54 55 56

Nikita Sergeevic Chruscev. Materialy k biografii, S. 18-19. KPSS v rezoljucijach i resenijach s"ezdov, konferencij i Plenumov CK, t. 10, Moskau 1986, S. 288ff. Gorbacev, M. S„ Reformy i zizn', t. 1, S. 96-97. Popov, G. Ch., Nikita Chruscev - dal'nij rodstvennik "prorabov perestrojki", in: Trud v. 16. April, 1994.

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storischem Maßstab, die erhebliche und insgesamt sehr positive Auswirkung auf die Entwicklung der Sowjetgesellschaft ausübten. In gleichem Maße verdienen die Persönlichkeit Chruscevs und seine rastlose Tätigkeit höchste Achtung und wahrscheinlich auch tiefste Dankbarkeit. Ernst Neizvestnyj hatte wohl recht, als er Chruscevs Denkmal aus weißem und schwarzem Marmor schuf. Anscheinend wollte er damit dessen Widersprüchlichkeit unterstreichen. Ich glaube, das Weiße dominierte doch bei Chruscev, obwohl auch andere Übergangs- und Zwischentöne vorhanden waren. Der XX. Parteitag kann als der Höhepunkt von Chruscevs Schaffen betrachtet werden. Er veranstaltete und führte diesen Parteitag auf seine eigene Art durch, erreichte die Verurteilung des Personenkults und bedeutsame Veränderungen im innen- und außenpolitischen Kurs des Landes, zeigte dabei Kühnheit und außergewöhnlichen Mut. Trotz seines "Zickzackkurses" blieb er im großen und ganzen der vorgegebenen Richtlinie treu und strebte darüber hinaus nach einer dauernden Fortsetzung dieser Linie. Gewiß war Chruscev der "Sohn seiner Zeit". Jeder Staatsmann allerdings bringt die neuen Ansätze mit, ist aber nicht frei von Widersprüchen, Beschränkungen und Fesseln der Vergangenheit. Obwohl Chruscev das System nicht radikal verändern und durch eine wirklich demokratische Ordnung ersetzen wollte, untergrub er es doch wesentlich, vor allem auf dem XX. Parteitag. Das Wichtigste ist, daß er die stalinistische Repressionsmaschinerie vernichtete und das System in eine deutlich "demokratischere" Bahn lenkte. Die Entlarvung des Personenkults und die Überwindung seiner Folgen hinderte zweifellos dessen Wiedergeburt. Es wurde zwar immer wieder versucht, den Personenkult wiederzubeleben, Chruscev selbst wies gewisse autoritäre Züge auf, trotzdem war es schwierig, nach dem XX. und dem XXII. Parteitag zum Stalinismus zurückzukehren. Folgendes ist von größter Bedeutung: die Entlarvung des Personenkults, die Vernichtung des Repressionsregimes, der von dem XX. Parteitag verkündete Kurs der Demokratisierung und der Einhaltung der Gesetze, der besonderen Aufmerksamkeit auf die Probleme der Bürger, der Einzelperson, der Erweckung des Interesses der Werktätigen an den Ergebnissen ihrer Arbeit und die Aktivierung ihrer Kreativität. Seit dem XX. und XXII. Parteitag wurde der Mensch nicht mehr als stimmloses "Schräubchen", sondern als eine Persönlichkeit, als Vollbürger betrachtet. Dies war nur der Anfang des langen Weges. In den fünfziger und sechziger Jahren atmeten die Menschen in der Sowjetunion ein wenig die Luft der Freiheit. Die Entwicklung des freien Denkens im Lande konnte nicht so leicht rückgängig gemacht werden, trotz der einschränkenden Zensur und der Verfolgung "Andersdenkender". Chruscev mit seiner Fragestellung sollte selbst das alternative Denken initiieren. Die "Kinder des XX. Parteitages" setzten die von ihm begonnene Arbeit fort. Ferner initiierte - in äußerst begrenztem Rahmen - der politische Kurs des XX. Parteitags auch die Reformen in der Politik und Wirtschaft. So wurden damals die ersten neuen Ansätze deutlich. Sie erschienen unter dem Einfluß der auf dem XX. Parteitag formulierten Thesen sowohl in der Innen- als auch in der Außenpolitik. Die dogmatische Politik der Systemwahrung wurde damals nicht überwunden, sie geriet aber ins Wanken. Die Möglichkeit der Veränderung wurde verkündet.

Der erste

Erneuerungsimpuls

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Leider unterschätzte man N. S. Chruscev in der UdSSR und unterschätzt ihn auch derzeit in Rußland. Ein Teil der rußländischen kommunistischen Periodika verhängt über ihn ein Verdikt. Seine Anhänger legen aber die Waffen nicht nieder. Im Jahre 1994, anläßlich des 100. Geburtstags von Chruscev, fanden mehrere Treffen und Konferenzen, die diesem ungewöhnlichen, hervorragenden Menschen gewidmet waren, statt. Eine dieser Konferenzen veranstaltete die Internationale Stiftung der sozial-ökonomischen und politologischen Forschung (Gorbacev-Fond). 57 Nikita Sergeevic Chruscev ließ das System einige Zeit anders, auf bessere Weise, funktionieren, obwohl er in vielem dessen Methoden anwandte. 30 Jahre später, ab 1985, begann die neue historische Ära, die Perestrojka-Ära, deren Inhalt schließlich darin bestand, die alte wirtschaftliche, politische und rechtliche Ordnung abzulehnen und den neuen demokratischen, rechtlichen und wirtschaftlich effizienten Weg, der den Bedürfnissen der Zeit und des Landes entsprach, auszuwählen. Die Perestrojka erwies sich als ein komplizierter, widersprüchlicher Zeitabschnitt. Sie und ihr Initiator, Michail Sergeevic Gorbacev, hatten mit dem Widerstand des alten Systems, mit seinen Anhängern sowie mit objektiven Schwierigkeiten zu tun. Es gab manchmal schwere Fehler. Das alte Erbe hielt die Schöpfer des Neuen fest, genauso wie nach dem XX. Parteitag. Jedoch ungeachtet dessen, daß die Perestrojka im Jahre 1991 gewaltsam unterbrochen wurde, setzte sie Chruscevs Werk fort und ging ein beträchtliches Maß über diesen Weg hinaus. Sie berücksichtigte die Lehre des XX. Parteitages und späterer Reformversuche und veränderte das System grundlegend. Für das Land fing die Zeit der realen Befreiung an. Dieser Weg ist noch unvollendet, der wesentliche und schwerste Teil ist aber zurückgelegt. Auf keinen Fall darf man dabei die Wegbereiter, die Sieger im Kampf gegen den Stalinismus auf dem XX. Parteitag, vergessen.

Übersetzung aus dem Russischen von Olga Tscherer (Mannheim).

57 N. S. Chruscev (1894-1971): Materialy naucnoj konferencii, posvjascennoj 100-letiju so dnja rozdenija N. S. Chrusceva, Moskau 1994.

Jurij Aksjutin (Moskau)

Der XX. Parteitag der KPdSU Viele Umstände der Vorbereitung und Durchführung des XX. Parteitages der KPdSU blieben bis zum Ende der Sowjetunion geheim. Die vor kurzem zugänglich gewordenen vertraulichen Archivmaterialien erlauben es, einzelne Aspekte dieses Themas aufzuklären und den Parteitag selbst und seine Folgen in vielem neu zu betrachten. Auf der Grundlage dieser Materialien sowie einer Diskussion zum 40. Jubiläum des Parteitages im Februar 1996, werden im vorliegenden Aufsatz folgende Fragen behandelt: Wie war der Zusammenhang zwischen der geheimen und partiellen Truppenreduzierung und der Beschränkung der Rüstungsaufträge für einige Wirtschaftsbranchen einerseits und zwischen dem Beschluß, das Rentenversorgungssystem radikal zu reformieren andererseits? Wie verhielt es sich mit der Vorbereitung des Vortrags "Über den Personenkult und seine Folgen" sowie die Genehmigung des ZK auf dessen Verlautbarung in einer nichtöffentlichen Sitzung des Parteitages? Wie reagierten die Partei und das Land auf die Aufdeckung der stalinistischen Verbrechen? Was ist die Meinung der gegenwärtigen russischen Wissenschaftler und Politiker über den XX. Parteitag?

Truppenreduzierung und Rentenreform Die westlichen Sowjetologen sind zumeist davon überzeugt, daß die "Friedliche Koexistenz", von der sehr viel auf dem XX. Parteitag die Rede war, dem Wesen der von der poststalinschen Führung betriebenen Außenpolitik widersprach und nur den Kurs auf eine globale Konfrontation mit dem kapitalistischen Westen verhüllte. Seit kurzer Zeit teilen diese Überzeugung auch einige russische Historiker.1 Doch war nicht alles so geradlinig und eindeutig. Malenkovs öffentliche Äußerung vom 12. März 1954, daß das neue Weltgemetzel den Untergang der Weltzivilisation bedeute 2 , wurde von seinen Genossen in der Parteiführung nicht gebilligt. Molotov warf ihm "Prinzipienlosigkeit und Leichtfertigkeit in theoretischen Fragen" vor und deklarierte: "Ein Kommunist muß nicht vom 'Untergang der Weltzivilisation' und nicht vom 'Untergang des menschlichen Geschlechts' reden, sondern davon, wie man alle Kräfte zur Vernichtung der Bourgeoisie vorbereiten und mobilisieren kann." 3 Es ist sehr wahrscheinlich, daß deshalb im Sommer 1954 die quartalsweisen Volkswirtschaftspläne zugunsten der Schwerindustrie korrigiert wurden. Alle bemerkten auch die ein Jahr später eingetretene jähe Wendung zur größtmöglichen Unterstützung der Länder der Dritten Welt, die Annäherungsversuche an Indien, die Waffenlieferungen an Ägypten und Syrien. 1 Siehe z.B. den 1995 vom Institut der allgemeinen Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Sammelband Cholodnaja vojna: novye podchody, novye dokumenty, Red.: M. M. Narinskij. 2 G. M. Malenkovs Rede auf der Sitzung der Wähler des Leningrader Wahlkreises in Moskau am 12.3. 1954, in: Pravda vom 13.3.1954, S. 3. 3 Openkin, L. A., Na istoriceskom pereput'e, in: Voprosy istorii KPSS, 1 (1990), S. 116.

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Chruscev war indessen um den sozialen Preis solch einer Konfrontation besorgt und sich über die Bedeutung der wirtschaftlichen Beziehungen mit den USA und Westeuropa im Klaren. Deswegen hielten er und seine Genossen aus dem ZK-Präsidium die "Friedliche Koexistenz" nicht nur für bloße Rhetorik, die die wirklichen außenpolitischen Ziele verhüllte. Sie sahen deren realen, nicht nur taktischen, sondern auch strategischen Vorteil. Die Hoffnungen auf diesen Vorteil erwiesen sich jedoch oft als äußerst überzogen. Das zeigte sich z.B. auf dem Treffen der Staats- und Regierungschefs der "großen Vier" im Sommer 1955 in Genf. Chruscev und Bulganin waren dermaßen euphorisch, daß selbst Zukovs Warnung über die Notwendigkeit für die UdSSR "ihr Pulver trocken zu halten"4 sie nicht ernüchterte. Die beiden teilten diese Meinung, hielten sie für "gerecht", dachten aber indessen, daß es möglich wäre, die Rüstungslasten etwas zu erleichtern. Allem Anschein nach stimmte Zukov ihnen auch zu. Es wurde beschlossen, das neue Schiffsbauprogramm, das die Errichtung einer großen Kriegsmarine mit Flugzeugträgern als Schwerpunkt hatte, abzulehnen. Der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine (VMF) erhielt im Dezember 1955 seinen Abschied5, weil er das Programm energisch, "schreiend", verteidigte. Das bedeutete natürlich nicht, daß die Sowjetregierung auf ihre Pläne, die Seestreitkräfte umzurüsten, verzichtete, sondern sie beschloß, ihre Macht künftig auf Atomunterseeboote zu gründen. Die U-Boote schienen effektiver und preiswerter als Flugzeugträger zu sein. Die Einstellung der Produktion von einzelnen "Erzeugnissen" sowie die Kürzung der Arbeitskräfte begleiteten die damals begonnene Rekonstruktion der Schiffsbauindustrie. Beispielsweise bildeten Torpedoröhren für Zerstörer, die während zehn Jahren die Haupterzeugnisse des Werks Nr. 709 in Moskau waren, nur einen fünfzehnprozentigen Teil im Plan für 1956. In Zusammenhang mit der Einstellung der Produktion von Radarstationen für Zerstörer im Werk Nr. 256 in Serpuchow trat im ersten Vierteljahr 1956 für etwa 100 Arbeiter ein Stillstand ein. 6 616 Menschen (4,2 Prozent der Gesamtzahl) in 10 Betrieben des Ministeriums für den allgemeinen Maschinenbau in Moskau und im Moskauer Gebiet wurden infolge der Kürzung der Rüstungsaufträge arbeitslos; nur das Versuchswerk beim Wissenschaftlichen Forschungsinstitut Nr. 571 zählte insgesamt 272 überplanmäßige Arbeiter (14,1 Prozent mehr als geplant), sie konnten jedoch infolge des Rohstoffmangels nicht beschäftigt werden. 7 Die Lage verschlechterte sich auch, als 10.178 Arbeiter allein in den Textilfabriken in der Moskauer Umgebung arbeitslos wurden.8 Nach bei weitem nicht vollständigen Milizangaben zählten die Städte der RSFSR zum Januar 1956 etwa 75.000 Arbeitslose. 9 Im November 1955 wendeten sich 1.640 Menschen mit der Bitte um Arbeitsvermittlung an das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR, d.h. in der Regel an die letzte

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Gromyko, A. A.: Pamjatnoe, Buch 2, Moskau 1990, S. 444. Brief von N. G. Kuznecov ans Präsidium des ZK der KPdSU vom 8.11.1957, in: Zentrum für die Aufbewahrung der neueren Dokumentation (ZAND), Fond 5 (ZK KPdSU), Inventarliste 30 (Allgemeine Abteilung), Archivakte 231, Blatt 84. Brief des Ministeriums für Schiffsbauindustrie der UdSSR ans ZK der KPdSU vom 24.1.1956, ZAND, F 5, IL 32 (Abteilung der Parteiorgane in der RSFSR), A 53, Bl. 11. Brief des Ministeriums für allgemeinen Maschinenbau der UdSSR ans ZK der KPdSU vom 28.1.1956, Ebd., Bl. 24. Ebd.,Bl. 26. Ebd., Bl. 43.

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Instanz, im Dezember waren es schon 2.224 und im Januar 1956 2.645. 10 Der Ton mancher Briefe war inzwischen durch Heftigkeit, sogar Erbitterung gekennzeichnet: "Über Amerika wird geschrieben, daß es große Arbeitslosigkeit im Westen gibt, daß man streikt", wunderte sich ein gewisser Voroncov aus Moskau, "warum schreiben jedoch unsere Zeitungen nicht über unseren Staat, wo große Arbeitslosigkeit herrscht?" 11 Indessen wurde dieses Problem bei der Vorbereitung des Entwurfs des Rechenschaftsberichts des ZK gegenüber dem XX. Parteitag völlig ignoriert. Selbst die "Regelung der Rentenversorgung" brachte man nicht damit in Verbindung, daß "dieses Thema die breiten Massen der Werktätigen sehr aufregte", sondern mit den negativen Urteilen der ausländischen Delegationen. "Sie beweisen mit konkreten Beispielen", Chruscev lenkte die Aufmerksamkeit seiner Kollegen darauf, "daß in manchen bürgerlichen Staaten die Rentenversorgung besser organisiert wird, als in der Sowjetunion". 12 Diese Argumente wirkten anscheinend, folgende Vorschläge wurden in den am 12. Dezember 1955 vorgelegten Entwurf des Rechenschaftsberichtes eingefügt: "Die Renten verschiedener Kategorien sollen wir erhöhen. Im Fall, daß 'unser Tempo beim Hausbau für uns nicht befriedigend sein kann', beschleunigen wir es im sechsten Jahrfünft auf das Doppelte". 13 Jedoch wurde das Rentenproblem nicht endgültig gelöst. Jedenfalls gibt es kein Wort darüber in dem am 15. Januar 1955 veröffentlichten Entwurf der Richtlinien des Parteitages zum sechsten Fünfjahrplan. Sechs Tage später berichtete aber der Stellvertretende Minister für Transportmaschinenbau, Ja. Nazarov, vom Arbeitskräfteüberschuß im Kolomensker Lokomotivbauwerk und erwähnte auch, daß es in diesem Betrieb und in anderen ähnlichen Betrieben viele ältere Arbeiter gab. Er schloß daraus, daß die Rentenerhöhung "diesen Leuten das Existenzminimum gewährleisten könnte, sie könnten dann mit der Arbeit aufhören und es hätte die Komplettierung der Arbeitskraft im Werk mit jungen Leuten ermöglicht". 14 Es ist nicht besonders wichtig, ob dieser Vorschlag zufällig in den Gesichtskreis der Mitarbeiter der Abteilung Parteiorgane des ZK der KPdSU in der RSFSR trat, die an der Vorbereitung des Rechenschaftsberichts teilnahmen. Aber die Fassung des Entwurfs, die Chruscev am 25. Januar an alle Mitglieder und Kandidaten des Politbüros, die Mitglieder des ZKPräsidiums sowie an die ZK-Sekretäre verschickte und die sie am 30. Januar erörterten, enthielt den Vorschlag, "die niedrigen Renten beträchtlich zu erhöhen und die unbegründet hohen zu senken". Es wurde auch die Absicht erörtert, dem Parteitag davon zu berichten, "daß das ZK vor kurzem die Entscheidung getroffen hätte, für alle Arbeiter und Angestellten [...] den Übergang zum siebenstündigen Arbeitstag zu gewährleisten".15 10 Auskunft der Abteilung für Briefe des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 18.5.1956, Ebd., Bl. 35. 11 Ebd., Bl. 36. 12 Schreiben von N. S. Chruscev ans Präsidium des ZK der KPdSU vom 25.10.1955, in: ZAND, F 1 (die Parteitage der KPdSU), IL 2 (XX. Parteitag), A 3, Bl. 3. 13 Entwurf des Rechenschaftsberichtes des ZK der KPdSU zum XX. Parteitag vom 28.12.1955, Ebd., Bl. 130f. 14 Brief des Stellvertretenden Ministers für Transportmaschinenbau der UdSSR, Ja. Nazarov, ans ZK der KPdSU vom 25.1.1956, ZAND, F 5, IL 32, A 53, Bl. 22. 15 Entwurf des Rechenschaftsberichtes des ZK der KPdSU zum XX. Parteitag der KPdSU, der an die Mitglieder und Kandidaten des ZK-Präsidiums sowie an die ZK-Sekretäre am 25.1.1956 verschickt wurde, in: ZAND, F 1, IL 2, A 4, Bl. 114u. 117.

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Die Neuerungen blieben im Text erhalten, der unter Berücksichtigung der Vorschläge der Sitzung des ZK-Präsidiums vom 30. Januar überarbeitet wurde. Die Mitglieder des ZK-Präsidiums erhielten ihn am 4./5. Februar. Chruscev verkündete die Neuerungen auf dem Parteitag und Bulganin wiederholte sie in seinem Bericht über den Entwurf der Richtlinien des Parteitages für den sechsten Fünfjahrplan. Im selben Jahr 1956 gewährte das Gesetz über die Staatsrenten den Arbeitern und Angestellten die Altersrente ab 60 Jahren für Männer (bei Mindestdauer der Berufstätigkeit von 25 Jahren) und ab 55 Jahren für Frauen (bei Mindestdauer der Berufstätigkeit von 20 Jahren). Laut diesem Gesetz wurden die Renten wesentlich erhöht (von 100 Prozent des Minimallohns bis maximal 1200 Rubel monatlich). In den Jahren 1956-1960 wurde die Arbeitszeit für alle Arbeiter und Angestellten vom achtstündigen auf den siebenstündigen Arbeitstag bei sechstägiger Arbeitswoche umgestellt.

"Über den Personenkult und seine Folgen" Die Geschichte der Zusammenfassung und Verkündung von Chruscevs entlarvendem Vortrag blieb trotz vieler Bemühungen bis heute unaufgeklärt. Neue Erinnerungen kommen ans Licht, Archivgeheimnisse offenbaren sich. Im ehemaligen Archiv des ZK der KPdSU - jetzt das Zentrum für die Aufbewahrung der neueren Dokumentation - wurden die vertraulichen Materialien des XX. Parteitages zugänglich1^, die die Historiker veranlassen, viele ihrer Vorstellungen zu ändern. Diese Vorstellungen gründen sich oft auf die Erinnerungen einer bestimmten Person, z.B. Chruscevs 17 oder Sepilovs.18 Das erste, worauf wir verzichten müssen, ist der Mythos, daß der geheime Kampf darüber, ob der Vortrag über den Personenkult gehalten werden sollte oder nicht, den ganzen Parteitag über gedauert hätte und im Erholungsraum verlaufen wäre, wo die Mitglieder des ZK-Präsidiums in den Pausen zwischen den Sitzungen zuzammenkamen. Jetzt besteht kein Zweifel daran, daß prinzipielle Entscheidung darüber bereits vor dem Parteitag getroffen wurden. Leider bleiben bis jetzt die Protokolle der Sitzungen des ZK-Präsidiums und deren Materialien geheim, nur sie könnten diese Frage völlig klären. In den oben erwähnten Archivalien des XX. Parteitages gibt es einen Auszug aus dem Protokoll Nr. 188 der Sitzung des ZK-Präsidiums vom 13. Februar 1956: "Über die Eröffnung des ZK-Plenums der KPdSU. Beauftragen den Ersten Sekretär des ZK, Gen. Chruscev, N. S., das ZK-Plenum der KPdSU zu eröffnen. Auf dem Plenum einen Vorschlag drüber einbringen, daß das ZK-Präsidium es für notwendig hält, auf einer Geheimsitzung des Parteitages den Vortrag über den Personenkult zu halten. Gen. Chruscev, N. S., zum Vortragenden bestimmen. "'9 In denselben Akten befindet sich auch das Original (mit Chruscevs Unterschrift) des Protokolls von dem ZK-Plenum, das am selben Tag stattfand. Das Protokoll ist nur vier Schreibmaschinenseiten lang, von denen allein zwei durch die Anwesenheitsliste gebildet werden. 16 F 1, IL 2, Aufbewahrungseinheit 1-90. 17 Siehe Aksjutin, J./Volobujev, O. V.: Der XX. Parteitag der KPdSU: Neuerungen und Dogmen, Moskau 1991. 18 Z.B. in den von N. A. Barsukov verfaßten Kapiteln der zu derselben Zeit herausgegebenen Monographie: Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Geschichtsrealitäten. 19 Auszug aus dem Protokoll Nr. 188 der Sitzung des ZK-Präsidiums der KPdSU vom 13.2.1956, F 1, EL 2, A 1, Bl. 64.

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Bemerkenswert ist, daß darunter auch diejenigen waren, deren Parteikarriere in gewissem Sinne mit Ungnade beendet worden war: der ehemalige Erste Sekretär des Leningrader Gebietskomitees Andrianov, der ehemalige Innenminister Kruglov, der ehemalige Oberbefehlshaber der Kriegsmarine Kuznecov, der ehemalige ZK-Sekretär Satalin und andere. Chruscev eröffnete und leitete das Plenum. Er war auch der einzige, der sprach. Allerdings redete er nicht lange: "Wir sollen uns über den Vortrag einigen, absprechen. Die Tagesordnung wurde zu ihrer Zeit vom Plenum bestimmt, die Vortragenden wurden auch bestimmt - alle diese Fragen sind erledigt. Die anderen mit dem Parteitag zusammenhängenden Fragen werden wir im Rat der Delegationen klären. Wir sollten uns über den Vortrag absprechen. Das Präsidium hat diesen Vortrag erörtert und ihm zugestimmt. Wie sieht es aus bei den Mitgliedern des Plenums? Der Vortrag geht nicht vom Präsidium, sondern vom ZKPlenum aus. Und, wird das Plenum den Vortrag anhören?" Es ging vorerst um den Rechenschaftsbericht, der anscheinend vom ZK diskutiert und gebilligt werden sollte. Alle verstanden jedoch die Andeutung und sofort erschallten die Stimmen: "Billigen! Morgen werden wir anhören!" Chruscev resümierte, als ob er auf diese Zwischenrufe gewartet hätte: "Dann nehmen wir an, daß das Plenum des Zentralkomitees den Vortrag akzeptiere und beauftrage, diesen Vortrag auf dem Parteitag zu halten." Mikojan stimmte zu: "Das Plenum vertraute dem ZK-Präsidium an, den Vortrag zu erörtern." Chruscev setzte fort: "Noch eine weitere Frage sollen wir hier klären. Nach dem vielfachen Meinungsaustausch und Klarstellen der Situation und der Materialien nach dem Tod des Gen. Stalin hält das ZK-Präsidium es für notwendig, auf dem XX. Parteitag, in einer nichtöffentlichen Sitzung den Vortrag über den Personenkult zu halten (offenbar findet das zu der Zeit statt, wenn die Vorträge diskutiert werden und die Kandidaten für die leitenden Organe des Zentralkomitees - die ZK-Mitglieder, die Kandidaten und Mitglieder der Revisionskommission - zur Diskussion gestellt werden, wenn keine Gäste mehr da sind). Wir haben im Präsidium beschlossen, daß ich als Erster Sekretär mit dem Vortrag betraut werde. Gibt es irgendwelche Widersprüche?" Es gab keine Widersprüche und Chruscev erklärte, daß "alle auf dem Plenum zu erledigende Fragen erledigt wären und daß die Sitzung eröffnet wäre". 20 Wovon zeugt das Protokoll dieses fiinfminutigen Plenums? Vor allem davon, daß die Frage über das Halten oder Nichthalten des Vortrags zu jener Zeit positiv beantwortet worden war. Dazu gehörte auch die Entscheidung, daß Chruscev dies selbst macht, jedoch unbedingt in einer nichtöffentlichen Sitzung, während der Diskussion über die Kandidaturen für das ZK der nächsten Legislaturperiode. Das bedeutet eigentlich nicht, daß es auf dem Parteitag im geheimen keine Auseinandersetzungen wegen der anderen, auch sehr wichtigen Fragen gab. Ich wiederhole aber: Das Wesentliche war vorausbestimmt. Dies fiel Chruscev nicht leicht. Er mußte zu allen möglichen Methoden greifen und den ZK-Apparat sachkundig ausnutzen. Bekanntlich begann bereits 1953 die vorsichtige und stichprobenartige Rehabilitierung der Kommunisten, die Repressalien unterzogen worden waren. Lavrentij Berija initiierte diese Rehabilitierung. Die später gegründete Kommission mit Vjaceslav Molotov an der Spitze erwies sich als unfähig, und am 30. Dezember 1955 wurde eine neue Kommission mit dem ZK-Sekretär Petr Pospelov als Vorsitzendem eingesetzt. Ihre Aufgabe war es, die Massen20 Protokoll Nr. 9 der Sitzung des ZK-Plenums der KPdSU vom 13.2.1956, Original, ebd., A 181, Bl. 4f.

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repressalien in den Jahren 1937-1940 zu erforschen. In seinen Memoiren deutet Chruscev an, daß in diesem Fall er persönlich diese Sache initiiert hätte, was Mikojan bestritt und sich selbst als Verdienst anrechnete. Pospelovs Kommission ging tüchtig ans Werk und berichtete dem ZK-Präsidium der KPdSU stets und systematisch über die von ihr eingeholtenen Informationen. Immer öfter erhob sich die Frage: Was sollte man mit diesen schrecklichen, ungeheuerlichen Fakten machen? Am 1. Februar 1956 wurde der ehemalige Untersuchungsleiter für besonders wichtige Angelegenheiten des Ministeriums für Staatssicherheit der UdSSR, B. V. Rodos, aus dem Gefängnis in die Sitzung des ZK-Präsidiums gebracht. Nach seiner Vernehmung bestand kein Zweifel mehr daran, daß Repressionen und Folter nicht eine Folge des bösen Willens von "schlechten" Tschekisten waren, sondern die im voraus von Stalin selbst geplante und geleitete Liquidierung ihm nicht genehmer Menschen. Chruscev stellte an seine Kollegen die heftige und direkte Frage: "Haben wir ausreichend Mut, die Wahrheit zu sagen?" Malenkov hielt es für richtig, die Frage über Stalin aufzuwerfen und die Partei darüber zu informieren. Molotov stimmte ihm anscheinend zu. Er bemerkte jedoch, daß es auch gut wäre, den Parteitag an Stalins Verdienste als großen Führer und würdigen Nachfolger der Sache Lenins zu erinnern. Maxim Saburov entgegnete: "Falls die Tatsachen wahr sind, was für ein Kommunismus ist es? So etwas ist nicht zu verzeihen!" 21 Bereits vor dem 20. Januar 1956 erhielt und verschickte Chruscev an seine Kollegen in der "kollektiven Leitung" den Brief eines Parteimitgliedes seit 1917, des stellvertretenden Leiters des politischen Abteilung von GULAG, A. V. Snegov: "Vom X. bis zum XVII. Parteitag war ich auf allen Parteitagen anwesend. Am XVIII. und dem XIX. Parteitag konnte ich aus Ihnen bekannten Gründen nicht teilnehmen. Ich bitte Sie, mir zu ermöglichen, den XX. Parteitag zu besuchen und mir eine Gasteintrittskarte für dessen Dauer auszustellen." 22 Dieses Schreiben war nicht spontan, sondern erschien als Folge einer bestimmten Vereinbarung, vielleicht auch eines Befehls, was Snegovs Brief vom 1. Februar beweist: "Sehr geehrter Nikita Sergeevic! Wie Sie es für nötig hielten, überlasse ich das Projekt meiner Rede Ihrem Ermessen. Selbstverständlich akzeptiere ich alle Ihre Veränderungen und Verbesserungen. Falls Sie eine grundsätzliche Überarbeitung für nötig halten, bitte ich Sie, diese Anweisungen mir persönlich zu geben." 23 21 Medvedev, RVNaumov, V.: XX s"ezd: tajna zakrytogo zasedanija. Chruscevskij perelom? Net, chruscevskaja legenda, in: Vecernij klub vom 24.2.1996, S. 2. 22 Brief des stellvertretenden Vorsitzenden der politischen Abteilung des GULAGs, A. V. Snegov, an Chruscev vom 20.1.1956, Original, in: ZAND, F 1, IL 2, A 1, Bl. 44f. Sergo Mikojan, der Sohn von Anastas Mikojan meint, daß Snegov und noch eine alte Bolschewistin namens Satunovskaja, die auch mit der Revision der Angelegenheiten der in den dreißiger Jahren den Repressalien unterzogenen Kommunisten beschäftigt worden wäre, den unmittelbaren Kontakt mit Chruscev und Mikojan gehabt und sie überzeugt hätten, unbedingt auf dem XX. Parteitag die Ergebnisse der Tätigkeit der Pospelov-Kommission bekanntzumachen. Wenn das Präsidium eine Zustimmung doch nicht wagte (Kaganovic wendete sich besonders kategorisch dagegen), "fürchteten" sie, daß Snegov und Satunovskaja selbst auf dem Parteitag reden und dabei Gott weiß was reden würden. Erst danach hatte das ZK-Präsidium seine Meinung geändert und Chruscev beauftragt, den entsprechenden Vortrag zu halten. Kaganovic und Molotov bestanden dabei bis zuletzt darauf, daß der Vortrag nach den Wahlen zum ZK verlesen würde, in: Privatarchiv des Autors. 23 Vasilij Stalin za otza otvecat' ne zachotel: Dokumenty CK KPSS, rassekrecennye sorok let spustja, in: Afiani, V.: Obscaja gaseta vom 15.-21.2.1996, S. 9.

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Solch einen verdienten und ungerecht behandelten Menschen abzuweisen, wäre unangebracht gewesen. Das ZK-Präsidium beauftragte am 3. Februar das ZK-Sekretariat, die Gasteintrittskarten zur Teilnahme am Parteitag für "eine Gruppe von Kommunisten, die in der Vergangenheit ungerechterweise aus der Partei ausgeschlossen und zur Zeit des Parteitages wieder in die KPdSU aufgenommen worden waren", zu erstellen.24 Die Listen der rehabilitierten alten Bolschewiki für die Einladung zum Parteitag kamen ans Licht. Die erste bestand aus zwölf, die zweite aus dreizehn Personen.25 Sind die "Zeugen der Anklage" nicht zu zahlreich? Ein neuer Vorschlag entstand, diese Personen mit anderen prominenten Veteranen, die den Repressalien nicht unterzogen worden waren, zu "verdünnen": A m 4. Februar schlug der Leiter der Abteilung Parteiorgane des Z K der KPdSU in den Sowjetrepubliken vor, 25 Gäste zum Parteitag einzuladen und legte die Liste mit den Namen bei. 20 von den Gästen sollten Dauereintrittskarten bekommen, darunter: V. P. Antonov-Saratovskij, S. I. Gopner, S. S. Dzerzinskij, H. M. Krzizanovskij, G. I. Petrovskij, E. B. Stasova, L. A. Fotieva. Aus den ersten zwei Listen sollten nur für fünf Personen (einschließlich Snegov) die einmal gültigen Eintrittskarten ausgestellt werden. 26 Leider verfügen wir bis jetzt nur über den oben zitierten Auszug aus dem Protokoll der offenbar entscheidenden Sitzung der ZK-Präsidiums vom 13. Februar 1956. Die Forscher haben weder das Protokoll selbst, noch die zu ihm gehörenden Materialien gesehen; sie bleiben nach wie vor geheim. 27 Der Historiker N. A . Barsukov, der ehedem im Institut für Marxismus-Leninismus beim Z K der KPdSU an der Vollendung der mehrbändigen offiziellen "Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion" gearbeitet und ein paar Dokumente aus dem ZK-Archiv gesehen hatte, behauptet, daß der ursprüngliche Text des Vortrags "Über den Personenkult und seine Folgen" einen mit dem Bleistift anscheinend in Eile geschriebenen zusammenfassenden Bericht der Pospelov-Kommission über die Angelegenheiten von ZK-Mitgliedern und ZK-Kandidaten dargestellt hatte, die in den späten dreißiger Jahren Repressalien unterzogen worden waren. Später bildete dieser Bericht zwei von sieben Abschnitten der endgültigen Version des Vortrags. Dies konnte durchaus möglich sein. Jedoch scheint es uns heute illegitim, daraus kategorisch zu schließen, daß am Vorabend des Parteitages "allein und ausschließlich Pospelovs Bericht galt", daß "alle Diskussionen nur die in ihm gestellten Fragen betrafen", daß die Fragen, die die neuen Abschnitte in der Schlußversion des Vortrages bildeten, zu jener Zeit weder zur Diskussion gestellt noch erwähnt worden waren. 28 24 Auszug aus dem Protokoll Nr. 186 der Sitzung des ZK-Präsidiums der K P d S U vom 3.2.1956, in: Z A N D , F 1, IL 2, A 1.BI.43. 25 Ebd., Bl. 46-47. 26 Ebd., Bl. 57-58. Auf dem Brief steht Molotovs Vermerk vom 4.2.1956: "An die Mitglieder des ZK-Präsidiums der KPdSU, die Mitgliedskandidaten des ZK-Präsidiums der K P d S U und die ZK-Sekretäre der KPdSU verschicken". 27 Auf diesem Auszug aus dem Protokoll Nr. 188 gibt es folgender Vermerk in Bleistift: "Für die Materialien und weitere Beschlüsse siehe extra Archivakte 'Über den Personenkult und seine Folgen'", in: Z A N D , F 1, IL 2, A 1, Bl. 64. In dem Zentrum für die Aufbewahrung der neueren Dokumentation ist diese Archivakte nicht gefunden worden, die Mitarbeiter des Zentrums glauben, daß sie im Präsidentenarchiv sei. 28 Barsukov, N.: Kak sozdavalsja "zakrytyj doklad" Chrusceva, in: Literaturnaja gaseta vom 21.2.1996, S.

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Ein anderer Historiker, der Stellvertretende Direktor des Zentrums für die Aufbewahrung der neueren Dokumentation, V. Afiani, behauptet mit Bezugnahme auf die Dokumentation seines Archivs das Gegenteil und zwar, daß das ZK-Präsidium am 9. Februar die Delegierten des Parteitags mit "noch nicht veröffentlichten Papieren Lenins" vertraut machen wollte. In erster Linie ging es um Lenins "politisches Testament" mit der Empfehlung, den Generalsekretär Stalin zu ersetzen, sowie um Lenins Schreiben, daß er alle persönlichen Beziehungen mit Stalin zu brechen beabsichtigt, falls der sich bei Lenins Frau für die ihr gegenüber begangene rohe Grobheit nicht entschuldigt.29 Der Leiter der Abteilung für die Angelegenheiten der Opfer der politischen Repressionen bei der Administration des Russischen Präsidenten, V. P. Naumov, der kraft seines Amtes Zugang zu den geheimsten Archivmaterialien hatte, legt mit Bezugnahme auf die "neueröffneten Dokumente" eine ähnliche Version dar. Am 9. Februar, d.h. fünf Tage vor der Eröffnung des Parteitages, nahm das ZK-Präsidium den Bericht der Pospelov-Kommission, der aus 70 maschinengeschriebenen Seiten bestand, entgegen. Bei der Besprechung des Berichts bestätigte Chruscev noch einmal, daß er es für notwendig halte, den Delegierten des Parteitags von allem zu berichten; nicht nur von den Repressionen, sondern auch vom Personenkult. Zugleich wurde Pospelov beauftragt, das Manuskript des Vortrags vorzubereiten. Vier Tage später, am 13. Februar, beschloß man jedoch, die ZK-Mitglieder, die am Plenum teilnahmen, darüber zu informieren, daß auf dem Parteitag der Vortrag zum Personenkult gehalten werde und Chruscev der Vortragende sei. Außer Pospelov sollten auch die anderen ZKSekretäre bei der Arbeit am Vortrag Hilfe leisten. Am 18. Februar wurde Chruscev die erste Version vorgelegt, auf Grund dessen diktierte Chruscev den Stenografinnen seine eigene Version des Vortrags und verschickte ihn an alle Mitglieder und Kandidaten des ZK-Präsidiums. 30

Keine Improvisation Offenbar gab es keine persönliche Improvisation oder irgendwelche Geheimhaltung. Chruscev hielt die festgelegte Kollektivität ein. Wir können deswegen der Behauptung von Barsukov nicht zustimmen, daß die Arbeit am neuen Manuskript des Vortrags, die während des Kongresses flott vonstatten ging, eine "Untergrundarbeit" gewesen sei. Nichts beweist auch die Erzählung des damaligen ZK-Sekretärs D. T. Sepilov, daß Chruscev ihm am 15. Februar, d.h. am zweiten Tag des Parteitags vorschlug, die neuen Materialien für den Vortrag vorzubereiten, und ihn für zwei Tage im Büro am Alten Platz ließ. Die gesamte Arbeit des ZK-Apparates gründete sich auf die Prinzipien der äußersten Geheimhaltung und streng dosierten Information, die die unteren Parteiebenen über ihre eigene Tätigkeit bekamen. In diesem Fall aber wußten mehrere Delegierte und Gäste des Parteitags von der kommenden Sensation; sie wurden darauf allmählich vorbereitet. Bereits auf der Morgensitzung am 16. Februar 1956 sagte das Mitglied des ZK-Präsidiums, der ZK-Sekretär M. A. Suslov: "Die dem Marxismus-Leninismus fremde Theorie und Praxis des Personenkults, die sich vor dem XIX. Parteitag verbreitet hatte, schadete erheb29 Siehe Fußnote 20. 30 Siehe Fußnote 18.

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lieh der Parteiarbeit. Sie setzte die Rolle der Volksmassen und die Rolle der Partei herab, schmälerte die kollektive Leitung, unterdrückte die Aktivität der Parteimitglieder, ihre Initiative und Selbständigkeit, führte zur Aussichtslosigkeit und sogar zur Willkür in der Tätigkeit einzelner Personen [...]. Sie kamen zu einseitigen, manchmal auch fehlerhaften Lösungen der Probleme". 31 Am selben Tag deklarierte auf der Abendsitzung das Mitglied des ZK-Präsidiums, der Erste Stellvertretende Vorsitzende des Ministerrates der UdSSR A. I. Mikojan, daß seit ungefähr 20 Jahren wir in Wirklichkeit keine kollektive Leitung gehabt hätten, daß der bereits von Marx und Lenin verurteilte Personenkult gediehen sei und dies selbstverständlich negativ auf die Lage und Tätigkeit der Partei gewirkt hätte. 32 Er war es, der zum ersten Mal kritisch über Stalin redete: "Bei der Analyse der wirtschaftlichen Lage des modernen Kapitalismus kann Stalins berühmte, die USA, England und Frankreich betreffende Äußerung im Buch 'Die Wirtschaftlichen Probleme des Sozialismus in der UdSSR' uns kaum helfen oder als richtig gelten". Stalin behauptete dort, daß nach der Spaltung des Weltmarktes "sich das Produktionsvolumen in diesen Ländern reduzieren werde". 33 Mikojan bezweifelte, daß diese als "überragend" bezeichnete Arbeit zu den klassischen Werken gehörte, und rief die Historiker dazu auf, viele Fakten und Ereignisse, die in Stalins "Kurzer Geschichte der Kommunistischen Partei der Bolschewiki" dargelegt worden waren, anders zu erläutern. Er verspottete jene Historiker, die versuchten, jedes Abschwenken während der Revolution und des Bürgerkrieges so zu erklären: Schuld an allem war angeblich "die Schädlingstätigkeit der damaligen Parteileiter, die viele Jahren nach den dargestellten Ereignissen falsch als Feinde des Volkes bezeichnet worden waren". Die von diesen Worten betroffenen Delegierten hörten dann die Namen von Antonov-Ovseenko und Kosior, die man dabei "Genossen" nannte, was in der neuen Parteisprache bedeutete, daß sie ab jener Zeit für "falsch verkündende Feinde des Volkes" sollten gehalten werden. 34 In gewissem Maße berührten G. M. Malenkov, der ehemalige Minister für Staatssicherheit S. D. Ignat'ev, das ehemalige Präsidiumsmitglied und Sekretär der Kommunistischen Internationale O. V. Kuusinen sowie auch L. M. Kaganovic und V. M. Molotov das Thema des Personenkults. Letzterer versicherte in seiner langen Rede, daß "das Zentralkomitee sich gegen den dem Marxismus-Leninismus fremden Personenkult, der solch eine negative Rolle im bestimmten Zeitabschnitt gespielt hätte, entscheidend gewendet hätte". Seine keinen Zweifel zulassende Äußerung darüber, daß "der Parteitag dieser Richtlinie völlig zustimmen werde" 35 , fand den Beifall der Delegierten. Der Präsidiumsvorsitzende des Obersten Sowjets der UdSSR, K. E. Vorosilow, war der einzige, der den Personenkult weder erwähnte noch verurteilte, er beschränkte sich auf den Hinweis zur Notwendigkeit, "das leninistische Prinzip der kollektiven Arbeit" zu wahren. 36 Erhalten blieb ein Schreiben vom Ersten Sekretär des Leningrader Gebietskomitees, V. M. Andrianov, das er am 22. Februar, d.h. zum Ende des Parteitages, Chruscev überreichte: 31 32 33 34 35 36

XX s"ezd Kommunisticeskoj partii Sovetskogo Sojuza, Stenograficeskij oteet, V. 1, 1956, S. 277-278. Ebd., S. 302. Ebd., S. 323. Ebd., S. 325-326. Ebd., S. 467. Ebd., S. 553.

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"Nikita Sergeevic! Ich bitte Sie inständig, mir einen Ratschlag zu geben, ob ich auf der nichtöffentlichen Sitzung des Parteitages zu Ihrem Vortrag über den Personenkult reden und dabei [...] von der Leningrader Angelegenheit so, wie ich das Ihnen in meinem Schreiben berichtete und kurz während Ihrer Sprechstunde erläuterte, erzählen darf." 37 Der Text des Konzepts zum Vortrag "Über den Personenkult und seine Folgen" wurde den Forschern zugänglich. Chruscev verschickte ihn den Mitgliedern und Kandidaten des ZK-Präsidiums sowie den ZK-Sekretären am 23. Februar, d.h. ein Tag nach der Sitzung des ZK-Präsidiums, auf der anscheinend die letzten Entscheidungen wegen des Vortrages über den Personenkult getroffen wurden. 38 Die ausführliche Analyse dieses Dokumentes steht noch aus, wir beschränken uns auf die in ihm vorgenommene Korrektur. Sie betrifft keine grundsätzlichen Fragen, ist jedoch umfangreich und vielfältig. Es ist noch schwer zu sagen, wer diese Korrektur vorgenommen hatte. Das an Suslov gesandte Exemplar enthält z.B. in Rot, Blau, Lila und mit normalem Bleistift gemachten Verbesserungen und Hervorhebungen, was dafür spricht, daß es von nicht weniger als vier Menschen gelesen worden war. In diesem Exemplar gibt es neben der Redaktionskorrektur sehr interessante Vermerke. In Blau, Rot und Lila sind Sätze unterstrichen, drei Seiten weiter gibt es eine Randbemerkung: Da haben wir einen "leiblichen Vater". 39 Dort, wo es um den Kriegsanfang geht, steht ein Vermerk in Blau: "Die Lehre für die Zukunft." 40 Auch in Blau wurde der Vermerk vor dem Abschnitt über die Leningrader Angelegenheit gemacht: Die Verletzung der nationalen] Rechte der Völker 1943-44. Karatschaier, Kalmücken, Inguschen und Tschetschenen. 4 ' Der Text hat noch eine Randergänzung (auch in Blau) in einem der Endabschnitte, neben der Warnung, daß "diese Frage nicht außerhalb des Parteitags und auf keinem Fall in der Presse behandelt werden dürfte": "Die Plagen vor den Spießbürgern nicht aufdecken." 42 Das an Sepilov gesandte Exemplar enthält folgende Vorschläge: zu den erwähnten Namen von Rokossovskij und Gorbatov, die im Gefängnis eingesperrt worden waren, auch den Namen von Mereckov beizufügen; zu erwähnen, daß "die Engländer [Churchill] uns im voraus gewarnt hatten + sowjetische] Botschaft [Dekanozov] in Deutschland uns auch vom vorbereiteten Krieg gewarnt hatten"; den Satz, der erklärt, daß nicht Stalin, sondern die gesamte Partei den Sieg im Krieg gewährleistet hätte mit den Worten "über die Rolle der Arb[eiter]klasse, der Bauernschaft], der Intelligenz, der Frauen, der Jugend, des Sow[jet]volks, des Hinterlandes" zu ergänzen. 43 In beiden Exemplaren ist Chruscevs folgende Erinnerung an eine seiner Begegnungen mit Stalin vorhanden: "Jedes Politbüromitglied kann viel über Stalins rücksichts37 In: ZAND, F 1., IL 2, A 14, Bl. 63. Auf dem Schreiben sind die Unterschriften von Chruscev, Vorosilov, Kaganovic, Malenkov, Mikojan, Molotov, Pervuchin, Saburov und Suslov sowie Beljaev. 38 In der Inventarliste 10 der Protokolle der Sitzungen des ZK-Präsidiums der KPdSU steht das Protokoll Nr. 189 der letzten Sitzung des ZK-Präsidiums vom 22.2.1956. Auf dieser Sitzung wurde offenbar entschieden, den Vortrag nicht während der Besprechung der ZK-Kandidaten sondern nach den Wahlen zu verlesen. Wahrscheinlich machte Chruscev noch ein Zugeständnis und versprach, an die alten Angelegenheiten der offenen Prozesse 1936-38 nicht zu erinnern. 39 Entwurf des Rechenschaftsberichtes zum XX. Parteitag "Über den Personenkult und seine Folgen" vom 23.2.1956, in: ZAND, F 1, IL 2, A 16, Bl. 113. 40 Ebd., Bl. 123. 41 Ebd., Bl. 133. 42 Ebd., Bl. 161. 43 Ebd., Bl. 164, 168, 169.

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losen Umgang erzählen. Als Beispiel führe ich Folgendes an. Einmal, kurz vor seinem Tod, ließ Stalin einige Politbüromitglieder zu sich kommen. Wir stellten uns in seinem Landhaus ein und fingen an, irgendwelche Fragen zu besprechen. Zufälligerweise lag auf dem Tisch vor mir ein großer Papierstoß, der mich vor Stalin verdeckte. Stalin rief gereizt: 'Wieso haben Sie sich dorthin gesetzt? Haben Sie Angst, daß ich Sie erschieße? Keine Angst, ich erschieße sie nicht. Setzen Sie sich näher.' Da haben Sie ein Beispiel seiner Behandlung der Politbüromitglieder!1,44 Während die hohe Parteileitung das endgültige Konzept des Vortrags kennenlernte, schlugen einige Delegierte, die erfahren hatten, was hinter dem Euphemismus "Personenkult" steckte, eilig ihre Dienste vor. Am 24. Februar sandte Marschall A. J. Eremenko ein Schreiben: "Falls Sie in Ihrem Vortrag zur besonderen Frage auch über Militärangelegenheiten sprechen werden, und falls Sie auch für notwendig halten, die Stalingrader Schlacht in irgendwelcher Weise zu erwähnen, dann möchte ich zu dieser Frage zusätzliche Angaben mitteilen." Das Wesen der Mitteilung bestand in den Behauptungen, daß Stalins Beschlüsse zu den operativ-organisatorischen Aspekten der Stadtverteidigung "beinahe die Niederlage Stalingrads verursacht hätten" und "wenn Stalins Plan der Niederwerfung von Meinsteins Truppen akzeptiert worden wäre, [...] hätte Meinstein seine Aufgabe zweifellos erfüllen und die Eingekesselten befreien können." 45 In einer der Mappen mit den Texten und Entwürfen der Reden während des Parteitags ist folgendes Dokument vorhanden: "Zum Schluß der Morgensitzung verkünden. Heute hat in diesem Saal der Rat der Vertreter der Delegationen seine Sitzung. Um 6 Uhr findet eine nichtöffentliche Sitzung des Parteitags statt. Auf dieser Sitzung sind die Delegierten mit beschließender und mit beratender Stimme anwesend." 46 Auf diesem Dokument steht kein Datum, anscheinend ist es aber vom 24. Februar. Am Abend genau dieses Tages wurde die nichtöffentliche Sitzung des Parteitags abgehalten, die sich den Wahlen der leitenden Parteiorgane widmete und über deren Stenogramm wir verfügen. Chruscev eröffnete diese Sitzung und erteilte Suslov das Wort, der "im Auftrag der Rates der Delegationen" einen Vorschlag zum Umfang des Zentralkomitees (133 statt 125 Mitglieder und 122 statt 111 Kandidaten) und der Zentralen Revisionskommission (63 statt 37 Mitglieder) einbrachte: "Eine gewisse Erweiterung der Zusammensetzung der ZK-Mitglieder und der Mitglieder der Zentralen Revisionskommission ist notwendig, um die Repräsentation der Sowjetrepubliken und der ganzen Reihe der neuen Gebiete, die bei uns in der Russischen Föderation in der letzten Zeit entstanden, zu verstärken." Chruscev fragte, ob es noch andere Meinungen gibt, und nachdem mehrere Stimmen "Nein" geantwortet hatten, schritt er zur Abstimmung. Der Vorschlag wurde einstimmig akzeptiert. Anschließend verlas Suslov die Liste mit den Kandidaturen der ZK-Mitglieder, ZK-Kandidaten und der Mitglieder der Zentralen Revisionskommission. Chruscev zog eine Zwischenbilanz, begleitet vom Beifall der Anwesenden: "Hier ist die Liste der bestimmten Genossen". (Das Stenogramm hält fest: "stürmischer und dauernder Beifall"). "Werden die ins Zentralkomitee bestimmten Genossen abgelehnt? " Es ertönte aus dem Saal: "Nein!", und weiterer stürmischer Beifall folgte. "Keiner lehnt jemanden ab", stellte Chruscev fest. "Werden zusätzliche Kandidaten zur Abstimmung benannt werden?" Wieder wur44 Ebd., Bl. 130, 171. 45 Schreiben des Marschalls A. I. E r e m e n k o an Chruscev v. 24.2.1956, in: Z A N D , F I, IL 2, A 14, Bl. 64f. 4 6 In: Z A N D . F 1, IL 2. A 14, Bl. 16.

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de aus dem Saal "Nein!" geantwortet. Chruscev fragte pro forma noch einmal: "Wird keiner andere Kandidaten benennen?" Er hörte wieder ein einmütiges "Nein!" und erklärte dann (selbstverständlich vom "stürmischen, dauernden Beifall" begleitet): "Jetzt werden die für die Abstimmung vorgeschlagenen Kandidaten ins Zentralkomitee aufgenommen." 47 Die Zählkommission aus 33 Personen wurde gewählt, indem die Delegierten ihre Mandate hochheben sollten, dann erklärte Chruscev eine zweistündige Tagungspause ("bis 9.30 Uhr") wegen der Vorbereitung des Saals für die Abstimmung. 48 Am selben Abend trat nach der Abstimmung die Zählkommission zusammen. Sie wählte den Leiter der Abteilung Parteiorgane des ZK der KPdSU in den Sowjetrepubliken, E. I. Gromov, als ihren Vorsitzenden und begann, die Wahlscheine der Wahlen der ZK-Mitglieder zu zählen. 1.341 Wahlscheine wurden ausgehändigt, alle wurden in die Wahlurnen eingeworfen und als gültig anerkannt. Jedoch wurden nur in elf von ihnen Kandidaten ausgestrichen. Eine einzige Stimme wurde jeweils gegen den ZK-Sekretär A. B. Aristov, Marschall J. S. Konev, den Ersten Sekretär des Tscheljabinsker Gebietskomitee N. V. Laptev, Marschall R. Ja. Malinovskij, die Erste Sekretärin des Moskauer Stadtkomitees, E. A. Furceva und den Ersten ZK-Sekretär N. S. Chruscev abgegeben. Zwei Stimmen wurden gegen den Verteidigungsminister Marschall G. K. Zukov und drei gegen das ehemalige Regierungshaupt G. M. Malenkov abgegeben. 49 Der "Spickzettel" für den Vorsitzenden auf der folgenden, ebenfalls geschlossenen Sitzung des Parteitages ist sehr kurz: "25. Februar. Morgens. Gen. Bulganin präsidiert. Der Vortrag von N. S. Chruscev." 50 Das Stenogramm dieser Sitzung wurde jedoch den Forschern zugänglich gemacht. Es ist kurz und schließt Bulganins Vorrede, sein Konzept des Beschlusses des Parteitages "Über den Personenkult und seine Folgen" und folgende Erklärung ein: "Es geht darum, daß der Vortrag von Gen. N. S. Chruscev und der vom Parteitag angenommene Beschluß 'Über den Personenkult und seine Folgen' zur Zeit nicht veröffentlicht werden können, diese Materialien werden jedoch an die Parteiorganisationen verschickt." Der Endsatz des Stenogramms lautet: "Der Parteitag nimmt diesen Vorschlag einstimmig an." 51 Vor dem Stenogramm kommt der Text von Chruscevs eigentlichem Vortrag "Über den Personenkult und seine Folgen". Allem Anschein nach ist das das erste Exemplar, das auf der Sitzung verlesen wurde und das der Vortragende nicht unterschrieb. Der Text hat keine Korrekturen oder Vermerke, außer drei Einfügungen, die die Warnung aus Berlin und London vor dem vorbereiteten Krieg, die Deportation von kaukasischen Völker und die Angelegenheit von Voznesenskij und Kuznecov betreffen. Dieser Text ist mit dem identisch, der 1989

47 Stenogramm der 20. nichtöffentlichen Sitzung des XX. Parteitages der KPdSU vom 24.2.1956, ebd., A 37, Bl. 1-2. 48 Ebd., Bl. 9. 49 Protokoll Nr. 2 der Sitzung der Zählkommission des XX. Parteitages der KPdSU vom 24.2.1956, ebd., A 77, Bl. 2-7. 50 Ebd., A 14, Bl. 33. 51 Stenogramm der nichtöffentlichen Sitzung des XX. Parteitages der KPdSU am Morgen des 25.2.1956, ebd., A 17, Bl. 89.

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in "Izvestija CK KPSS" 52 veröffentlicht wurde. Unwahrscheinlich ist aber, daß Chruscev sich sehr streng an ihn hielt, nicht davon abwich und seine Emotionen beherrschen konnte. Das dürfte man ihm nicht zumuten! Was sagte er dann, wenn er "sich hinreißen ließ"? Auf diese Frage könnte nur eine Tonbandaufnahme die Antwort geben. Bestimmt wurde alles aufgenommen. 53 Die Archivare erklären jedoch, daß sie über keine Aufnahme verfügen. Kann man ihnen vertrauen? Einige von ihnen behaupten ja weiter, daß "es kein Stenogramm im Archiv gegeben hätte, weil es auf dem Parteitag nicht geführt worden wäre", daß der maschinengeschriebene Text des am 25. Februar gehaltenen Vortrages "nicht erhalten geblieben sondern verlorengegangen sei" und bis jetzt "nicht gefunden wäre". Sie erzählen auch, daß sie bei der Vorbereitung des Vortrages zur Veröffentlichung im Jahre 1989 eine gedruckte Broschüre mit dem Stempel "zum Druck nicht geeignet" benutzt hätten, die auch nach dem Parteitag in den Partei- und Komsomolversammlungen verlesen worden wäre und den von Chruscev korrigierten und an alle Mitglieder des ZK-Präsidiums am 1. März 1956 verschickten Text dargestellt hätte. 54 Das Eine schließt das Andere nicht aus. Höchst unwahrscheinlich ist, daß die Broschüre den endgültigen Text des Vortrages, den Chruscev am 25. Februar in den Händen gehabt hatte und der von seinen Kollegen am 22. Februar genehmigt worden war, völlig wiederholte. Er hatte nur viele "eigene Zitate" beseitigen müssen. Einige waren doch geblieben. Als Chruscev am 1. März 1956 den Mitgliedern und Kandidaten des ZK-Präsidiums sowie den ZK-Sekretären den redigierten Vortrag zuschickte, teilte er mit, "falls es zum Text keine Vermerke mehr gibt, wird der Text 'in die Parteiorganisationen verschickt werden'". Es gab Vermerke. Die maschinengeschriebenen Einfügungen wurden auf einzelnen Papierzetteln in den Text hineingeklebt. So erschien z.B. in dem Abschnitt über die Arbeit des Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) mit den Verhafteten der Satz: "Solche Niederträchtigkeiten fanden damals statt! (Die Zuhörer sind aufgeregt.)" Es erschienen auch Einfügungen über Stalins Verhalten gegenüber Éukov und über ein Privatgespräch zwischen Chruscev und Bulganin: "Manchmal wird man zu Stalin gerufen, als Freund gerufen. Man sitzt aber bei Stalin und weiß nie, wohin man von Stalin gefahren wird, nach Hause oder ins Gefängnis." Manche Ergänzungen sind in schöner Handschrift mit Tinte oder Bleistift eingetragen. Handgeschrieben ist auch Chruscevs Äußerung, die ihn berühmt gemacht hatte: "Es muß gesagt werden, daß Stalin die Kampfhandlungen auf dem Globus vorbereitet hatte. (Die Zuhörer sind aufgeregt.) Ja, er nahm üblicherweise den Globus und zeigte auf ihm die Frontlinie." Allerdings war nicht die gesamte Korrektur so entlarvend. Es gab 52 Vortrag des Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU, N. S. Chruscev, "Über den Personenkult und seine Folgen" auf der nichtöffentlichen Sitzung des XX. Parteitages der KPdSU, ebd., Bl. 1-88. In einer Nutzungsliste für diese Akte gibt es Vermerke, daß V. Kocetov sie am 20.3.1989 für die "Anmerkungen zur Publikation" benutzte, der Leiter des Archivdienstes der RF, R. G. Pichoja, sie am 17.9.1994 durchlas, sie am 18.1.1995 zugänglich wurde und V. P. Naumov sich mit ihr am 15.11.1995 bekanntmachte. 53 Soweit wir unterrichtet sind, gaben die Mitarbeiter des Apparates des ZK der KPdSU die Tonbandaufnahme von Chruscevs Vortrag den Leitern einiger Bruderparteien, die Russisch konnten. Unter ihnen waren die früher in der Komintern beschäftigten B. Berut, M. Rakosi, W. Ulbricht, P. Togliatti, D. Ibarruri, J. Koplenig. Das Mitglied der chinesischen Delegation Van Sisjan hat in Moskau fünf Jahre lang studiert. M. Thorez war oft dort und wohnte da auch während des Krieges. In: Aksjutin, Ju., V./Volobuev, O. V.: XX s"ezd KPSS. novacii i dogmy, Moskau 1991, S. 205. 54 Michailov, N.: Kuda iscez doklad?, in: Vecernij klub vom 24.2.1996, S. 2.

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auch sozusagen Schutzeinfügungen. Beispielsweise der folgende Vermerk: "Wir müssen Maß halten, die Feinde nicht ernähren, unsere Plagen vor ihnen nicht aufdecken. Ich glaube, die Delegierten des Parteitages werden alle diese Maßnahmen verstehen und zu schätzen wissen. (Stürmischer Beifall.)" 55 Solch ein Vorbehalt war eher Chruscevs Entgegenkommen für seine noch vorsichtigeren und umsichtigeren Kollegen, als seine eigene Meinung: Sonst hätte er einen beträchtlichen Teil seines Vortrags ausstreichen müssen.

Reaktionen der Partei und des Landes Die erste Reaktion auf die Verurteilung des Personenkults um Stalin wurde bereits während des Parteitages bekannt. Die Schreiben von Andrianov und Eremenko haben wir schon erwähnt. Es gab auch andere, die vor der geschlossenen Sitzung an das Präsidium des Parteitages gerichtet worden waren. Am 19. Februar lief ein Telegramm von einem gewissen Jozef Gala aus der tschechoslowakischen Stadt Teplitze ein: "Ich bin mit der Rede des 'rechten' Mikojan nicht einverstanden, sie ist eine Beleidigung von Stalins gutem Andenken, das in den Herzen aller klassenbewußten Arbeiter lebt und das die gesamte Bourgeoisie mit Freude wahrnimmt." 56 Die Leiter der Vierten Internationale (die Trotzkisten) verlangten im Gegenteil - unter Bezugnahme auf "die Erklärungen des Parteitages zur Verfälschung der Tatsachen, die die Revolution und die Partei betreffen" -, "auf Grund dieser Erklärungen das Revisionsverfahren für die Mitglieder des leninistischen Zentralkomitee, für die Führer der Oktoberrevolution, der Partei und der Kommunistischen Internationale, Trozkij, Zinov'ev, Kamenev, Bucharin, Pjatakov, Rykov und für Tausende von Bolschewisten, sowie die Rehabilitierung ihres Andenkens." 57 Am 23. Februar äußerte sich der Gefangene des VladimirskajaGefängnis Vasilij Stalin. Er stimmte Mikojans Beschuldigungen nicht zu, billigte trotzdem sofort selbst die Fragestellung zum Personenkult sowohl im Rechenschaftsbericht, als auch in den anderen Vorträgen der Leiter: "Das ZK mußte sich zu dieser Frage äußern. Schweigen würde der Sache schaden. Ich stimme der Meinung völlig zu, daß die Verbreitung des Personenkults manchmal zu den schweren Versäumnissen in unserer Arbeit geführt hat, ich halte es für richtig, daß das ZK entschlossen gegen den dem Geist des Marxismus-Leninismus fremden Personenkult hervortritt. Was gesagt war, ist richtig, der Schluß ist gerecht. Zu dieser persönlichen Meinung bin ich nicht auf einmal, erst nach langem Nachdenken gekommen. Wie bitter auch die Wahrheit sei, ist sie besser als ein Trugbild." 58 Jene Wahrheit, die Chruscev auf der nichtöffentlichen Sitzung am 25. Februar verkündete, erwies sich jedoch als viel bitterer, die Anwesenden nahmen sie durchaus nicht einhellig wahr. Einer der Delegierten aus Turkmenien, Sazonov, Parteimitglied seit 1915, überreichte dem Präsidium eilig ein mit Bleistift geschriebenes Zettelchen: "Gen. Chruscev. Nach eurem Bericht (Rechtschreibung des Originals, Ju.A.) Ist Stalin wert mit Lenin zusammen lie-

55 Siehe Fußnote 20. 56 Telegramm von J. Gala aus Teplize vom 19.2.1956. Übersetzung aus dem Tschechischen, in: ZAND, F 1,IL2, A 14, Bl. 46. 57 Telegramm des Exekutivkomitees der IV Internationale aus Paris, ebd., Bl. 70. 58 Stalins Brief ans Präsidium des XX. Parteitages der KPdSU vom 23.2.1956, ebd, Bl. 71.

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gen."59 Noch eine Veteranin, L. A. Fotieva, gestand elf Jahre später: "Der XX. Parteitag war eine Katastrophe für uns." Sie war zu ihrer Zeit Lenins Privatsekretärin gewesen und zu Stalin gerannt, um ihm die vom sterbenden Führer diktierten Teile seines politischen Testaments zu überreichen. Sie versuchte, ihre damalige verwerfliche Tat zu rechtfertigen: "Stalin war eine Autorität für uns. Wir liebten Stalin. Er war ein großer Mensch." 60 Wer von fast anderthalbtausend Delegierten und Gästen - der gesamten politischen Eüte jener Zeit - könnte wohl schwören, daß er nicht denunziert und die Kreuzigung nicht verlangt hatte? Deswegen schockierte sie der Vortrag auf der geschlossenen Sitzung am 25. Februar 1956. Nach vielen Aussagen der Augenzeugen hatten alle den Eindruck, als ob Chruscevs Worte in der bedrückten Stille, in der Atmosphäre der Besorgnis und Spannung hängengeblieben wären. Der damalige Mitarbeiter der Abteilung für Propaganda des ZK, A. N. Jakovlev, stellte später diese Atmosphäre der Sitzung so dar: "Wir stiegen vom Balkon hinunter und blickten uns nicht mehr ins Gesicht. Entweder aus Überraschung oder aus Schande und Schock." 61 Zuerst reagierten auch die in Moskau anwesenden Leiter der kommunistischen Parteien in keiner Weise. Weder M. Thorez, noch P. Togliatti informierten z.B. ihre Delegationen über den Vortrag. Der eine verheimlichte das sogar von seinem Stellvertreter J. Duclos. 62 Der andere äußerte sich lakonisch, nachdem ihn die Leute über die geheimnisvollen Besuche der sowjetischen Genossen zu fragen versuchten: "Nichts, einfach Unsinn. Du weißt doch, sie machen aus allem ein Geheimnis." 63 Zweifellos begriff dieser, nicht ohne Grund für den klügsten aller Führer der kommunistischen Parteien gehaltene Mann sofort den subversiven Charakter von Chruscevs nichtöffentlichem Vortrag, wollte die eiligen Schlüsse nicht ziehen und äußerst umsichtig handeln. Die Spanierin D. Ibarruri erinnerte sich an ihre Reaktion auf diesen Vortrag so: "Die sowjetischen Leiter haben uns die Augen auf die bittere und traurige Wirklichkeit, die wir nicht kannten, geöffnet. Sie machte auf uns solch einen schweren Eindruck, daß es vielleicht besser wäre, im Irrtum zu leben." 64 "Es Wäre besser, im Irrtum zu leben!" - dieser Meinung stimmten auch viele auf den bald nach dem Parteitag stattfindenden Versammlungen der Parteiaktivs zu. Sie wurden folgendermaßen durchgeführt: Der Erste Sekretär berichtete vom Parteitag und seinen Schlüssen und dann, nach dem Meinungsaustausch, wurde der Vortrag über den Personenkult verlesen. In der Regel stellte man den Rechenschaftsbericht des ZK dar und kommentierte ihn mit Bezugnahme auf lokale Themen. Die Redner stimmten den vom Parteitag gefaßten Beschlüssen einhellig zu, versuchten aber zugleich, über die brennenden Probleme zu sprechen. So beklagte sich z.B. der Direktor des Werks "Krasnoje Sormovo", Ljapin, darüber, daß das Ministerium für Schiffsbauindustrie sein Werk mit Aufträgen auslastete, die mit dem Schiffsbau 59 Schreiben des Delegierten von Turkmenien Sazonov ans Präsidium des Parteitages, das Manuskript, ebd., Bl. 55. 60 K istorii poslednich leninskich dokumentov. Iz archiva pisatelja A. Beka, in: Moskovskie novosti 17/ 1989, S. 9. 61 Jakovlev, A. N.: Politika interesna v perelomnye momenty, in: Komsomol'skaja pravda v. 5.9.1990, S. 2. 62 Duclos J.: Memoires, V. 4, Paris 1971, S. 100. In den russischen Ausgaben von 1974 und 1985 ist das Kapitel über den XX. Parteitag ausgelassen. 63 Bocca D. Palmiro Togliatti, Roma 1973, S. 602. 64 Ibarruri, D.: Bor'ba i zizn': Vospominanija, Buch 2, Moskau 1988, S. 174.

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nichts zu tun hätten. 65 Der Parteigruppenorganisator des Werks "Briefkasten Nr. 10", Emelin, beschwerte sich darüber, daß das Ministerium für Flugzeugindustrie seinem Werk ein unerfüllbares Programm bestimmt hätte, es mit zusätzlichen Aufträgen ausgelastet und nicht mit Lieferungen von kooperierenden Betrieben versorgt hätte. 66 Der Direktor des Werks "Uralmasch", Glebovskij, schlug vor, in den großen Wirtschaftsregionen durch den Apparat des Gosplans lokale koordinierende Organe zu bilden. 67 Der Sekretär des Batecki Rayonkomitees, Kazyzaev, sprach davon, daß sich in der Landwirtschaft nach dem September 1953 nichts geändert hätte: "Unsere Erwartungen sind nicht in Erfüllung gegangen. Die Rayons durften selbst bei den wichtigsten Entscheidungen über die Entwicklung der Landwirtschaft keine Ratschläge geben. Dies galt besonders für die Fragen der Planung und der Formulierung der nächsten Aufgaben. Im letzten Jahr gelangen uns die Maissaaten nicht, der Stellvertretende Minister für Landwirtschaft der RSFSR, Gen. Grigor'ev, 'half uns, als er uns mit seinem falschen Hinweis, den Mais ungeachtet des Bodenzustands auszusäen, verwirrt hatte (die übliche Saatzeit wurde versäumt)". 68 Da über solche Fragen auf lokaler Ebene nicht entschieden werden durfte und deren Besprechung die Politik der Zentrale unter Zweifel stellen könnte, strebte man danach, über diese Themen weniger zu hören und alle Diskussionen zu beschränken. Deswegen konnte nicht jeder zu Worte kommen. In Gorki z.B. sprachen nur 15 von 31, die sich gemeldet hatten, in Jaroslawl 14 von 27, in Swerdlowsk 19 von 32. Die Debatten wurden immer beschleunigt und der Beschluß rasch gefaßt, in dem unbedingt die Zustimmung zu den vom Parteitag getroffenen Entscheidungen und die Verpflichtungen zu ihrer Durchführung - selbstverständlich in erhöhtem Umfang und in verkürzter Zeit - vorhanden sein sollten. Vor den Kolchosen, Maschinen-und-Traktoren-Stationen und Sowchosen des Moskauer Gebietes stand bereits 1956 die Aufgabe, die Hektarerträge für Kartoffeln von 9,5 auf 15 Tonnen und für Gemüse von 7 auf 17-18 Tonnen zu steigern. 69 Das Parteiaktiv des angrenzenden Gebiets Wladimir stellte die "Kampfaufgabe", den Auftrag des Fünfjahrplans für die Fleisch- und Milchproduktion in zwei Jahren zu erfüllen, die Erträge von Kartoffeln und Gemüse 1956 auf das Dreifache zu steigern, den Staatsplan für Fleischbeschaffung zum 1. Dezember und für Milchbeschaffung zum 1. November zu erfüllen. 70 Anscheinend bewegte sich alles in gewohntem Rahmen, nach dem noch unter Stalin bestimmten Schema. Jedoch begann dieser instand gesetzte Mechanismus unregelmäßig laufen. Auf dem selben Parteiaktiv des Gebiets Wladimir schlug der Vorsitzende des Kolchoses "Put' Lenina", Syromjatnikov, vor, im Beschluß zu er65 Information des Sekretärs des Gebietskomitees der KPdSU in Gorki, I. Birjukov, zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages der KPdSU auf dem Parteiaktiv des Gebiets am 13.3.1956, in: ZAND, F 5, IL 32, A 43, Bl. 47. 66 Information des Gebietskomitee der KPdSU in Jaroslawl über das Parteiaktiv des Gebiets am 19.3.1956, ebd., Bl. 111. 67 Information des Gebietskomitees der KPdSU in Swerdlowsk über das Parteiaktiv des Gebiets am 12.3. 1956, ebd., Bl. 66. 68 Information des Sekretärs des Gebietskomitees der KPdSU in Nowgorod, T. Sokolov, über das Parteiaktiv des Gebiets am 9.3.1956, ebd., Bl. 54. 69 Information des Ersten Sekretärs des Gebietskomitee der KPdSU in Moskau, I. Kapitonov, über das Parteiaktiv des Gebiets am 12.3.1956, ebd., Bl. 27. 70 Information des Ersten Sekretärs des Gebietskomitees der KPdSU in Wladimir, K. Grisin, über das Parteiaktiv des Gebiets am 13.3.1956, ebd., Bl. 21.

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wähnen, daß das ZK sich mit der Verurteilung des Personenkults verspätet hätte. Seiner Meinung nach solle man das ZK bitten, neue Erscheinungen des Personenkults in Zukunft zu verhindern. Sein Vermerk wurde abgelehnt. Einzelne Teilnehmer wiesen darauf hin, daß "die Frage des Personenkults nicht öffentlich diskutiert werden solle, sondern man allmählich und umsichtig die Folgen des Personenkults überwinden müsse." 71 Auf dem Parteiaktiv des Gebiets Stalingrad äußerte der Leiter des Stalin-Kolchoses, Zadaev, seine Gedanken: "Mir ist irgendwie schwer zumute. An Stalins Todestag mußte ich in den Kolchosen die Meetings veranstalten und ich sah, wie die Kolchosbauern mit Tränen in den Augen diesen schmerzlichen Verlust erlebten. Und jetzt werden wir zu den Kolchosbauern gehen und ihnen das Gegenteil sagen. Ich weiß nicht, wer ihnen das zu Bewußtsein bringen könnte." 72 Manche der lokalen Leiter witterten den neuen Wind aus dem Kreml und wollten eilig ihre Segel mit diesem Wind füllen. Auf dem Parteiaktiv des Gebiets Orel erzählte der Vorsitzende des Exekutivkomitees des Gebietssowjets der Arbeiterdeputierten, Filatov, wie Gen. Chruscev auf der geschlossenen Sitzung des Parteitages "allmählich das wahre Gesicht Stalins vor den Delegierten des Parteitages aufgedeckt hätte und dabei die Hunderte und Tausende der unschuldigen Kommunisten und Sowjetbürger erwähnt hatte, die als 'Feinde des Volkes' angeprangert ums Leben gekommen waren". Ferner sagte Filatov: "Die von Stalin zugelassene ungeheuerliche Willkür und Verletzung aller Moralnormen berechtigen uns, an Stalins ideologischem Gehalt und seiner Parteitreue zu zweifeln. Offenbar werden wir annehmen müssen, daß Stalin nicht würdig ist, im Mausoleum neben Lenin zu liegen, und allmählich diese Tatsache der Bevölkerung erklären müssen." Unter stürmischem Beifall schloß er: "Er ist mit zu viel Schmutz und Blut befleckt, um ihm solche Ehre zu erweisen." So eine ungewöhnliche Rede des zweiten Mannes im Gebiet war nicht zufällig, als Beweis dazu diene folgendes: Auf dem selben Parteiaktiv ergriffen auch zwei ehemalige Funktionäre, die den Repressionen unterzogen und später rehabilitiert worden waren, das Wort. Der Vorsitzende des Exekutivkomitees des Mzenski Rayonssowjets der Arbeiterdeputierten, Sopov, erzählte, wie er 22 Monate lang im Gefängnis "gefoltert und entwürdigt worden wäre", und äußerte seine Hoffnung, daß "die furchtbare Zeit sich nie mehr wiederhole." Und der Mitarbeiter des Verbandes der Verbrauchergesellschaften Nusnov, der dafür gemaßregelt worden war, daß er "sich gegen den Kauf des Porträts von Stalin für 54.000 Rubel gewendet hatte", sprach im Gegenteil über "die Möglichkeit, Stalins Porträt auch in Zukunft in den Ämtern zu lassen." 73 Noch weiter ging die Parteiführung in Jakutien. Der Erste Sekretär des Gebietskomitees der KPdSU, S. Z. Borisov, berichtete dem Parteiaktiv der Republik über den Parteitag und erklärte mutig: "Statt der Fahne von Marx-Engels-Lenin-Stalin wird es die Fahne des Leninismus geben." Er zeigte auf die in der Tiefe der Bühne hängende Darstellung der roten Fahne mit vier Basreliefprofilen der Klassiker des "wissenschaftlichen Sozialismus" und gestand: "Solche Bühnendekoration war der Fehler einiger Mitarbeiter des Gebietskomitees." Während der nächsten Tagungspause wurden die Basreliefs durch Lenins Porträt ersetzt. Der-

71 Schreiben des Leiters der Abteilung Parteiorgane des ZK der KPdSU in der RSFSR, V. Curaev, zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages auf den Gebietsparteiaktiven vom 19.3.1956, ebd., Bl. 8f. 72 Ebd., Bl. 9. 73 Information des Ersten Sekretärs des Gebietskomitees der KPdSU in Orlow, V. Markov, über das Parteiaktiv des Gebiets am 13.3.1956, ebd., Bl. 89-91.

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artige Behendigkeit gefiel jedoch bestimmten Personen in Moskau nicht, und die Abteilung Parteiorgane des ZK der KPdSU in der RSFSR "verbesserte Gen. Borisov." 74 Der Vortrag über den Personenkult wurde zum Ende des Parteiaktivs verlesen und nicht zur Diskussion gestellt. Es war jedoch unvermeidlich, daß ins Präsidium Fragezettel einliefen. Auf dem Parteiaktiv des Gebiets Rostow wurde z.B. eine einzige Frage gestellt: "Wann werden die Bezeichnungen der nach Stalin benannten Unternehmen und Kolchose geändert werden?" 75 In Murmansk gab es 19 Fragen. Teilweise betrafen sie das Leben und die Tätigkeit des Führers und seiner Mitkämpfer: "Erzählen Sie bitte, was über Stalins privates Leben nach dem Tod von N. Allilueva bekannt ist. Warum wurde Rokossovskij eingesperrt, nach Stalins Anweisung oder nicht? Ist es wahr, daß Stalins Sohn Vasilij degradiert wurde und was mit ihm später passiert ist? Wo ist jetzt Ezov? Warum wurde der Innenminister Gen. Kruglov ersetzt?" Manche konnten folgendes nicht verstehen: "Warum unternahmen die Mitglieder des ZK-Politbüro nicht rechtzeitig etwas gegen die Propagierung des Personenkults zu Stalins Lebzeiten, als er noch auf die kollektive Leitung Rücksicht nahm? Warum beschloß das ZK der Partei nicht, Stalin seiner Ämter zu entheben, wenn es sich über dessen Tätigkeit im klaren war?" Die Leute interessierte auch, "ob Chruscevs Vortrag über den Personenkult auf dem Parteitag diskutiert wurde und wer dabei sprach?" Die Zuhörer stellten auch rein praktische Fragen: "Werden die Schulen die Anweisung bekommen, die fehlerhafte Auslegung von Stalins Rolle in den Lehrbüchern zu korrigieren? Wie sollen die Propagandisten 'Die Kurze Geschichte der KPdSU (Bolschewiki)' erläutern?" Schließlich wollten die Leute wissen, "ob das Gebietskomitee der KPdSU die Arbeit der Gebietsverwaltung des Komitees für Staatssicherheit betreut und kontrolliert."76 Auf dem Parteiaktiv des Gebiets Nowgorod wurde gefragt: "Wer zwang die Politbüromitglieder, Stalin mündlich und schriftlich zu loben? Warum verschwieg man Stalins Fehler zu seinen Lebzeiten und warum ist es notwendig, jetzt darüber zu reden?" Es gab auch Fragen anderer Art: "Wäre es nicht höchste Zeit, das Mausoleum von Stalin freizumachen?" 77 Auf dem Parteiaktiv des Gebiets Swerdlowsk wollten die Teilnehmer wissen: "Wie sollen wir uns an Stalin erinnern? Was sollen wir mit den Stalin gewidmeten Agitationsmitteln (Wandbilder, Porträts, Büsten, Plakate u.a.)?" 78 Auf dem Parteiaktiv der Republik der Mari wurden nur zwei Fragen gestellt. Eine von ihnen lautete: "Haben sich Delegierte des Partei-

74 Information des Leiters der Abteilung Parteiorgane des ZK der KPdSU in der RSFSR, V. Curaev, zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages der KPdSU auf den Gebietsparteiaktiven vom 19.3. 1956, ebd., Bl. 8. 75 Information des Ersten Sekretärs des Gebietskomitees der KPdSU in Rostow, N. V. Kisilev, über das Parteiaktiv des Gebiets am 10.3.1956 mit dem nichtssagendem Vermerk: "Der Redner gab auf sie [d.h. auf die Frage] eine erschöpfende Antwort", ebd., Bl. 14. 76 Informationsauskunft des Gebietskomitee der KPdSU in Murmansk über die Fragen, die auf dem Parteiaktiv des Gebiets am 12.3.1956 gestellt wurden, ebd., Bl. lOOf. 77 Information des Sekretärs des Gebietskomitees der KPdSU in Nowgorod, T. Sokolov, zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages auf dem Parteiaktiv des Gebiets am 9.3.1956, ebd., Bl. 60. 78 Information des Gebietskomitees der KPdSU in Swerdlowsk zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages auf dem Parteiaktiv des Gebiets am 12.3.1956, ebd., Bl. 32.

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tages zum Vortrag des Genossen Chruscev über den Personenkult geäußert und wer war das?" 79 Mitte März 1956 fanden die Stadt- und Rayonsparteiaktive statt. Sie wurden nach dem selben Schema wie die Gebietsparteiaktive geführt. Es gab jedoch jetzt mehr Abweichungen von der vom ZK empfohlenen Richtlinie als vorher, weil einige von den Teilnehmern dieser Versammlungen auf den Gebietsparteiaktiven gewesen waren und dort den Vortrag über den Personenkult angehört hatte. Vielen war auch dessen Inhalt bekannt. Deshalb ging es bei den Debatten über die Beschlüsse des Parteitages hauptsächlich um Stalins Persönlichkeit und seine Taten. Der Vorsitzende der Arbeitsgenossenschaft der invaliden "Produktionsarbeiter" in Orel, Lakeev, teilte mit: "Das Jahr 1937 verlief im Gebiet Orel im Zeichen der Angst: alle Kommunisten fürchteten, daß sie früher oder später als 'Feinde des Volkes' angeprangert werden würden [...]. Der Dritte Sekretär des Stadtkomitees, Dudeckaja, suchte in der Stadt herum und wies an, wer verhaftet werden solle." Lakeev, der als Direktor des Werks mit zehn Ingenieuren und Technikern damals auch verhaftet worden war, erzählte weiter: "Im Gefängnis prügelte man auf uns ein und verlangte, daß wir die von den Untersuchungsführern verfälschten Erklärungen unterschreiben sollten." Der Instrukteur eines der Rayonkomitees, Fedorov, rief das ZK auf, "endlich die logischen Schlüsse aus dem Personenkult um Stalin zu ziehen: Der Name Stalins darf in der Geschichte nicht in einer Reihe mit den Namen von Marx, Engels, Lenin stehen und der blutige und schmutzige Stalin darf nicht neben dem fleckenlosen Lenin liegen!" Er schloß, von Beifall begleitet: "Dies erwarten die Kommunisten, dies erwartet die Partei!" 80 In Wasileostrowski (Bezirk Leningrad) erklärte der wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts für russische Literatur der Akademie der Wissenschaften und Parteimitglied seit 1920, I. A. Alexeev: "Es ist üblich, zu glauben, daß die spanische Inquisition zur größten Schande der Völkergeschichte gereicht hatte. Die spanische Inquisition verblaßt jedoch vor dem, was wir hatten [...]. Unser Ausmaß ist größer. Und wie können wir, Genossen, ruhig sagen, daß wir mit diesem Mann Nachsicht üben, weil er ein prinzipieller Kommunist wäre? Was kann mit der ungeheuerlichen Feudalausbeutung der Stalin-Zeit verglichen werden, wenn die Worte nicht durch die Tat bewiesen werden konnten?" Die Kolchosen waren am Rande des Elends." Alexeev teilte den Zuhörern mit, daß er einen Brief an Chruscev gerichtet und vorgeschlagen hatte, "auf allen Parteiversammlungen die Frage über Stalin folgenderweise zu erörtern: War Stalin ein Staatsverbrecher?" Sein weiterer Vorschlag, "über Stalin Parteigericht zu halten", den er in den Entwurf des Beschlusses der Versammlung einführte, wurde von den anderen Kommunisten nicht unterstützt. Sie hielten ihn für "politisch schädlich und die Partei von der Lösung der aktuellen Aufgaben ablenkend". Jedoch unterstützten ihn bei der Abstimmung vier von 750 Genossen. 81

79 Information des Gebietskomitees der KPdSU der Republik Mari zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages auf dem Parteiaktiv der Republik am 13.3.1956, ebd., Bl. 73. 80 Information des Ersten Sekretärs des Gebietskomitees der KPdSU in Orlow, V. Markov, zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages auf dem Parteiaktiv des Gebiets am 19.3.1956, ebd., A 45, Bl. 50. 81 Information des Ersten Sekretärs des Gebietskomitees der KPdSU in Leningrad, F. Kozlov, zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages auf den Rayonsparteiaktiven, 12.-15.3.1956, ebd., Bl. 25f.

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In Stalinski im Bezirk Molotov (jetzt wieder Perm) beschwerte sich der stellvertretende Sekretär des Parteikomitees des Stalin-Werks, Pavlov, darüber, daß die Bezirks- und Stadtkomitees es nicht erlaubt hatten, ein Meeting des gesamten Werks zu Ehren der Eröffnung des Parteitages abzuhalten. Sie hatten befohlen, darauf zu warten, "bis Moskau mit gutem Beispiel vorangeht", nach einigen Tagen jedoch eine dringende Anweisung geschickt, die Meetings unverzüglich abzuhalten. Pavlov fragte: "Sollte wirklich nur Moskau politische Initiative zeigen?" Er zählte auch weitere anschauliche Beispiele des Hyperzentralismus auf: "Die Präsidien der Versammlungen werden bei uns im Kabinett "gebacken"; die Listen für die Geheimabstimmung während der Wahlen der Parteikomitees auf den Plenartagungen der Konferenzen werden blitzschnell diskutiert; bei der Vorbereitung der Meetings halten wir es für obligatorisch, im Parteiorgan die Redemanuskripte der einfachen Mitglieder zu überprüfen usw. Dies ist widerrechtlich, dies ist keine leninsche Art!" Der Sekretär des Rayonkomitees, Galansin, konnte solch einen Angriff auf die Parteiordnung nicht unbeachtet lassen und stürzte sich in seiner Schlußrede auf Pavlov mit Anklagen wegen aller möglichen Sünden. Mernik, der dann das Wort ergriff, nahm ihn in Schutz und klagte den Sekretär des Rayonkomitees selbst wegen Erstickung der Kritik an. Dies wurde zum Skandal, der dem Büro des Gebietskomitee zu Ohren kam. Seltsamerweise unterstützte der letztere Galansin nicht und schätzte sein Verhalten als "nervös und unrichtig" ein. 82

Wie konnte es geschehen? In Wolshski (Bezirk Saratow) erzählte der Leiter der Stadtverwaltung für Kultur, Kucapin, daß 1949 im Bezirk Balandinski sechs Vorsitzende der Kolchosen verhaftet und zwei von ihnen wegen "Schädlingstätigkeit" verurteilt und vor kurzem rehabilitiert worden waren. Die Leute, die sie verurteilt hatten, bekleiden jedoch weiter ihre Ämter. Er fragte dann: "Wie kann das sein? Warum haben sie sich nicht dafür zu verantworten, daß durch ihre Schuld Sowjetbürger umsonst sechs Jahre lang im Gefängnis saßen?" In dem zitierten Dokument wurde nichts über die Reaktion der Zuhörer auf diese Reden erwähnt. Kennzeichnend war aber, daß der Obermechaniker des Baukombinats "Saratovstroj", Skuratov, in der Tagungspause Stalins Porträt von der Wand in der Vorhalle abzunehmen versuchte; ferner stellte einer der Anwesenden die Frage: "Wozu mußte man diese alte Angelegenheit wiederbeleben? Das ZK und die Leitung hätten ihre Arbeit verbessern und das Volk nicht aufreizen sollen." 83 In Dokuzparinski (Rayon Dagestan) hatte der Vorsitzende des Lenin-Kolchoses, der früher als Leiter der Rayonabteilung des Ministeriums für Staatssicherheit tätig gewesen war, eine völlig andere Meinung. Er hielt es für unrichtig, Stalin des Despotismus, der Launen und Wildheit, der Zulassung der Folter und auch seiner Verwirrung bei Kriegsbeginn anzuklagen: "Diesen Anklagen stimmt niemand zu, das Volk ist empört [...]. Ihn [Stalin] zu entehren, ist

82 Information des Gebietskomitees der KPdSU in Molotow zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages auf den Rayonsparteiaktiven, 14-16.3.1956, ebd., Bl. 66-68. 83 Information des Ersten Sekretärs des Gebietskomitees der KPdSU in Saratow, G. Denisov, zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages auf den Rayonsparteiaktiven, 14.-22.3.1956, ebd., Bl. 60.

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vollkommen unrichtig und unzulässig." 84 Dies öffentlich behaupten durften die Nomenklatura-Stalinisten jedoch nicht. Sie ließen ihrer Unzufriedenheit nur in meist anonymen Schreiben freien Lauf: "Ist es richtig, die positive Rolle von Stalin in den Bürger- und Vaterländischen Kriegen zu leugnen? Bleibt Stalin wie früher der Führer des internationalen Proletariats? Soll man seine Aufsätze benutzen? Aus Ihrem Bericht folgt: Stalin ist ein Feind des Volkes, er ist aber kein Feind des Volks!" 85 Es wurden auch Fragen anderer Art gestellt: "Warum stellte keiner der Mitglieder des ZKPräsidiums der KPdSU Stalins Fehler auf dem XIX. Parteitag zur Diskussion? Wie konnte das alles geschehen? Wer und was trug dazu bei? Warum schwiegen und lobten die Mitglieder des Politbüros selbst Stalin? Sind die Politbüromitglieder in Wirklichkeit feige und war die Partei machtlos, um Stalin zurechtzuweisen? Unrichtig ist, alle der Blindheit anzuklagen, weil der Personenkult von oben stammte. Vielleicht muß man die Ursachen besser aufklären, und nicht nur über die Folgen reden?" 86 - "Wozu erörterte das ZK das Problem des Personenkults? Mit welchem Zweck wurde diese Frage von solch einem Gesichtspunkt aus studiert? Wie läßt sich erklären, daß sich der Vortrag über den Personenkult so verbreitete (für so viele zugänglich wurde)? Wie läßt sich erklären, daß Chruscev nichts passierte? Wie verhielt sich Malenkov, der Berija nahestand und mit ihm (und noch mit Stalin) zusammengearbeitet hatte?" wollten die Leute in Sormowski im Bezirk Gorki (jetzt wieder Nishni Nowgorod) wissen. 87 Noch vielfältiger waren die unterschiedlichen Meinungen in den Grundorganisationen der Partei und des Komsomols. Akademiemitglied A. M. Pankratova hielt vom 20. bis zum 23. März 1956 in Leningrad Vorlesungen und Vorträge zum Thema "Der XX. Parteitag und die Aufgaben der Geschichtswissenschaft". Sie mußte zugleich als ZK-Mitglied der KPdSU auf neun Sitzungen, wo sie redete, die Frage des Personenkults aufklären. "Alle Vorträge und Vorlesungen fanden in überfüllten Sälen statt: etwa 6.000 Vertreter der Intelligenz - Wissenschaftler, Lehrer, Studenten, Propagandisten, Schriftsteller u.ä. - waren anwesend", berichtete sie dem ZK-Präsidium der KPdSU. "Mehr als 800 Schreiben liefen ein, überwiegend mit politischen Fragestellungen [...]. In diesen Schreiben und auch mündlich (es gab keine Debatten) wurde die Rede von Genosse Chruscev gegen den Personenkult auf dem Parteitag gebilligt. Nur einzelne Schreiben enthielten die Meinung, daß der Vortrag von N. S. Chruscev so nicht verbreitet werden dürfe. Viele fragten dabei, ob das ZK-Plenum oder der Parteitag diesen Vortrag diskutiert hatten." 88 Die eingelaufenen Schreiben, die sie nach Themen und Tonart sortiert hatte, übergab sie später Chruscev. Mehrere, die die Frage über die Haltung zu Stalin stellten, verurteilten auch 84 Information des Ersten Sekretärs des Gebietskomitees der KPdSU in Dagestan, A. Danijalov, zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages auf den Rayonsparteiaktiven vom 27.3.1956, ebd., Bl. 87. 85 Information des Gebietskomitees der KPdSU in Molotow zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages auf den Rayonsparteiaktiven, 14.-16.3.1956, ebd., Bl. 70. 86 Ebd. 87 Information des Gebietskomitees der KPdSU in Gorki zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages auf den Rayonsparteiaktiven vom 3.3.1956, ebd., Bl. 149f. 88 Schriftlicher Bericht von A. Pankratova ans Präsidium des ZK der KPdSU, o.D., in: ZAND, F 5, IL 16 (allg. Abteilung), A 46, Bl. 212f. Auf dem Dokument gibt es den Vermerk: "Aus dem Sekretariat von Gen. Chruscev wurde das Schreiben von Gen. Pankratova in die Abteilung Propaganda und Agitation weitergeleitet, Gen. Sepilov hat ihn auch zur Kenntnis genommen. Ins Archiv. 2.6.1956".

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seine Tätigkeit und verlangten, die entsprechenden Schlüsse zu ziehen. "Es ist so im Leben", schrieb M. Koncevoj, "wenn man 'A' sagt, muß man auch 'B' sagen. D.h., wenn wir Stalins negative Eigenschaften bestimmen, sollen wir sofort die nötige Entscheidung treffen, sonst wird es mit 'B' und ohne 'A' bestenfalls nur ein Mißverständnis." In Schreiben anderer Art ging es darum, daß es sinnlos wäre, die Rolle des toten Stalins zu revidieren, und daß manche mit "dem Anprangern und dem Spott über Stalins Namen" unzufrieden wären. Das, was zur Zeit passierte, wurde als "verkehrter Personenkult" bezeichnet. 89 Die meisten Schreiben stellten die Frage über die objektiven Bedingungen für die Entstehung des Personenkults. "Gab es in der russischen Lebensweise sozioökonomische und soziopsychologische Voraussetzungen für den phantastischen Aufschwung des Personenkults? Liegt es tatsächlich daran, daß wir Stalin nicht richtig durchschauten? Welche materielle Basis hat der Personenkult? Vielleicht ist das das Monopol der Industrie und der Landwirtschaft, die ohne Konkurrenz sind und keine äußeren Stimuli zur eigenen Verbesserung haben? Warum erklärt man nicht Stalins Handlung als Spiegelung der Interessen einer bestimmten sozialen Schicht, die auf dem Boden des Sowjetbürokratismus gewachsen war und die Sowjetdemokratie entstellt hatte? Und falls es um einen grundsätzlichen Umschwung (von der Praxis des Personenkults zur innenparteilichen und sowjetischen Demokratie) geht, in welchen realen Maßnahmen gegen die Allmacht dieser Bürokratie macht er sich bemerkbar? Was stellt unser Staat nach mehr als 30 Jahren dar: eine demokratische Republik oder einen totalitären Staat mit unbeschränkter Einzelherrschaft? Was hatten wir von 1934 bis 1956: eine Klassen-, Partei- und ZK-Diktatur oder eine Diktatur einer einzelnen Person? Wenn letzteres stimmt, warum schwieg die Partei und welche Rolle spielte sie in dieser Diktatur? Begünstigen die Einparteienherrschaft und die fast völlige Verschmelzung der Machtund Parteiorgane den Personenkult?" Bemerkenswert ist, daß die so fragenden Leute ihre Schreiben nicht unterzeichneten. 90 "Ungesunde" (nach der Definition von A. M. Pankratova) Stimmungen waren in den Schreiben fühlbar, deren Autoren die Notwendigkeit der Liquidation von Kulaken während der Kollektivierung bezweifelten: "Meinen Sie, daß die gesamte Ausweisung von Kulaken, Einziehung des Besitzes und andere Repressionsmaßnahmen richtig waren? Ist das nicht ein Zeichen von Despotismus?" 91 Besorgniserregende Mitteilungen liefen im ZK auch von anderen Parteifunktionären ein. Auf der Versammlung der kommunistischen Schriftsteller in Leningrad erklärte die Dichterin Olga Berggolz am 21. März 1956, daß es in den Beschlüssen des ZK zur Literatur und Kunst aus den vierziger Jahren "neben richtigen Thesen auch falsche gibt, in denen 'das Rühren des kleinen Fingers' fühlbar ist". Sie meinte damit die in dem geschlossenen Vortrag erwähnte Drohung Stalins, Tito mit einem Rühren des kleinen Fingers zu vernichten. Sie hielt es für unrichtig, daß das Politbüro die Schriftsteller, die gelitten haben, wie z.B. Zoscenko, zum Verlesen des Vortrags nicht eingeladen hatte und sagte: "Wir haben uns daran gewöhnt, daß die anderen für uns dachten, deshalb trauten wir uns selbst nicht und schrieben keine Wahrheit über das Leben." Der verantwortliche Sekretär der Leningrader Abteilung des Schrift89 Ebd., Bl. 214. 90 Ebd., Bl. 217-218. 91 Ebd., Bl. 218.

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stellerverbandes, Alexandr Prokofev, bezeichnete dies in seiner Schlußrede als Äußerung "revisionistischer Tendenzen. " 9 2 Mancherorts war die Parteileitung so verwirrt, daß sie die heftigen Debatten nicht verhindern konnte. Am Gorki-Institut für Literatur erzählte der erste Vorstandssekretär des Schriftstellerverbandes der UdSSR, Alexej Surkov, über die Ergebnisse des Parteitages und gab den Rückstand der Literatur aus "vielfaltigen und komplizierten" Gründen zu, konnte oder wollte diese Gründe aber weder erklären noch auf potentielle Verbesserungsmöglichkeiten hinweisen. Ein tapferer Femstudent, ehemals Matrose der Roten Flotte, äußerte in aller Offenheit die Meinung der unzufriedenen Zuhörer: "Surkovs Vortrag ist zu nichts nütze, nur allgemeine Redensarten. Innerhalb längerer Zeit gab man uns Zucker- und Butterersatz und schrie: 'Es lebe der weise Führer Genosse Stalin!' Uns warf man die Speisereste von Stalins Tisch zu und behandelte uns als Sklaven." Bezeichnend ist, daß manche Anwesende - entweder ehrlich, oder aus Furcht vor solcher Tapferkeit - entrüstet waren. Im Saal wurde laut gerufen: "Genug! So eine Schande!" Nikitin aber fuhr fort: "Die Tatsache, daß mir hier kein Gehör geschenkt wird, zeigt, daß das alte Verfahren in umgekehrter Form heute funktioniert. Ein Partisan erzählte mir einmal: 'Das russische Volk wird belogen, man gibt 250 g Brot für eine Arbeitseinheit.' Ich überhäufte ihn mit patriotischen Phrasen. Alle handelten so in den gleichen Fällen. Eine Freiheit wird gelobt, die andere nicht gestattet [...]. Die Zahl der Wachsoldaten ist in solchem Maß gestiegen, daß man nicht weiß, wohin man sich wenden soll." Er schloß seine Rede von Zwischenrufen begleitet: "Ein Anarchist! Scham- und gewissenlos!"93 Die im ZK zusammengefaßten Materialien beweisen, daß solche Fälle nicht selten waren. Und die Parteispitzen reagierten auf derartige "Abweichungen" in alter Weise. Am 3. April 1956 wurde eine besondere ZK-Verordnung zum Verlauf von Diskussionen über die Ergebnisse des Parteitages angenommen. Sie war nicht öffentlich. Jedoch mißbilligte die "Pravda" bereits am 5. April die Abweichungen und schrieb: "Einzelne verfaulte Elemente versuchen unter dem Deckmantel der Verurteilung des Personenkults, die Richtigkeit der Parteipolitik in Zweifel zu ziehen." 94 Es war aber nicht mehr so leicht, die rollende Lawine zum Stillstand zu bringen. In der Parteischule des Gebiets Tschkalowsk beschlossen die Mitglieder, sich ans ZK mit der Bitte um folgende Anweisungen zu wenden: Stalin aus dem Mausoleum zu entfernen und seine Porträts fortzuschaffen. Die Arbeiter des Leningrader Metallurgiewerks wollten nicht mehr, daß ihr Betrieb Stalins Namen trug. Der Leiter der Abteilung Parteiorgane des ZK der KPdSU in der RSFSR, V. Curaev, teilte das dem ZK-Sekretariat mit und betonte, daß "auf Versammlungen einzelner Parteiorganisationen manche demagogischen und sogar feind-

9 2 Information des Ersten Sekretärs des Gebietskomitees in Leningrad, A. Popov, über die geschlossene Parteiversammlung der Leningrader Abteilung des Schriftstellerverbands der UdSSR vom 26.3.1956, in: Z A N D , F 5, IL 32, A 45, Bl. 53-55. 93 Schreiben des Instrukteurs der Abteilung Kultur des ZK der KPdSU, M. Kaljadin, vom 22.3.1956, in: Z A N D , F 5, IL 16, A 46, Bl. 2f. Auf dem Dokument sind die Unterschriften der ZK-Sekretäre Sepilov, Pospelov, Suslov, Breznev, Beljaev, Aristov und Furceva. 9 4 Die Kommunistische Partei siegt und wird siegen, weil sie dem Leninismus treu ist, in: Pravda vom 5.4. 1956, S. 1.

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liehen Reden stattfinden, die nicht immer eine scharfe Abfuhr oder richtige politische Einschätzungen als Antwort bekommen." 95 Der Literaturwissenschaftler aus dem Gorki-Institut für Literatur der Akademie der Wissenschaften, Bjalik, sprach über die Ursachen der Entstehung des Personenkults: "Ich glaube, es gab aus historischen Gründen im Partei- und Staatsapparat eine Schicht, für die der Personenkult vorteilhaft war und die ihn gut zu gebrauchen verstand. Jetzt reden sie große Worte und denken daran, wie sie in der jetzigen Situation ihre Positionen erhalten können [...]. Manche Leute verursachten den Tod von Tausenden von Menschen und andere sahen das [...]. Wenn sie alle ihre Ämter behalten und ihnen die Verwirklichung der Beschlüsse des XX. Parteitages anvertraut wird, wird es für uns nur Selbstbetrug bedeuten." Derartig "demagogisch" äußerten sich auch Gej und Kuznecov. Ein Parteifunktionär von hohem Rang bemerkte: "Keiner der Kommunisten der Parteiorganisation sagte etwas über diese Reden: Nur der Vortragende, der Chefredakteur der Zeitschrift 'Kommunist', Gen. Rumjancev, unterzog in seiner Schlußrede revisionistische Urteile einer Kritik." Bezeichnend aber ist, daß "seine richtigen Bemerkungen Protestschreie im Saal hervorrufen. Die Versammlung gab dem Auftreten von Bjalik, Gej und Kuznecov keine parteiliche Einschätzung." 96 Der Elektroinstallateur Gaevskij, Parteimitglied seit 1918, "verleumdete" ZK und ZK-Präsidium in seiner Rede an der Leningrader Universität. Er behauptete, der Personenkult wäre die Folge der "ZK-Direktive" und sprach über einen Riß zwischen diesem leitenden Organ (ZK) und der gesamten Partei. "Wir sehen, daß der Riß zur Zeit zugemauert wird, der Zement aber nicht reicht." Was machten denn die einfachen Parteimitglieder? Stürzten sie sich auf den Schmäher? Nichts dergleichen! Der Rektor der Universität, Alexandrov, und der Sekretär des Bezirkskomitees von Wasileostrowski, Zitcenko, mußten selbst die Sache aufgreifen. 97 Im Maslennikow-Werk in Kujbyshew (jetzt wieder Samara) wandte sich der Militär-Abnahmebeauftragte Oberst Makucha gegen die Wahl des Ehrenpräsidiums auf der betrieblichen Parteikonferenz und erklärte in den Debatten: "Es ist schwer, sich vorzustellen, daß ein Mensch seinen Willen sechs Millionen Parteimitgliedern aufzwingen könne [...]. Die falsche Erziehung der Parteimitglieder, Liebedienerei, Lobhudelei und Feigheit ermöglichten dies. In der Partei erschienen sogenannte unkontrollierte Kommunisten - Vorgesetzte, die mehrere Wohnungen, Sommerhäuser und unbegrenzte Lebensmittelversorgung hatten und darüber die Bedürfnisse der Werktätigen völlig vergaßen." Der Sekretär des Stadtkomitees, Bannikov, kritisierte diese Äußerung und bezeichnete sie als "schädlich". Die Konferenz beschloß nach seinem Vorschlag, Makucha die Mißbilligung auszusprechen. Dafür stimmten 365 Delegierte, 97 waren aber mutig genug, um den Vorschlag abzulehnen. Auf der Bürositzung des Gebietskomitees in Kujbyshew wurde Makucha aus der Partei ausgeschlossen. 98

95 Schriftlicher Bericht des Leiters der Abteilung Parteiorgane des ZK der KPdSU in der RSFSR, V. Curaev, zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages der KPdSU vom 16.4.1956, in: ZAND, F 5, IL 32, A 45, Bl. 1. Auf dem Dokument gibt es Sichtvermerke der Sekretäre des ZK Suslov, Aristov, Pospelov, Furceva, Sepilov und Beljaev. 96 Ebd., Bl. 2f. 97 Ebd., Bl. 3f. 98 Ebd., Bl. 3.

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Im Institut für Orientalistik der Akademie der Wissenschaften erklärte der wissenschaftliche Mitarbeiter Mordvinov, daß für die Erschießungen alle Politbüromitglieder einschließlich Chruscev, der "Feigheit zeigte", mitverantwortlich seien. Mordvinov verlangte, daß die Partei eine Diskussion zum Vortrag über den Personenkult anfangen und dann einen außerordentlichen Parteitag einberufen solle. Ihn unterstützte der Aspirant ÄSastitko, der Chruscev vorwarf, daß er die Vortragenden mit Zwischenrufen störe und während der Treffen mit ausländischen Kollegen die Rolle des Regierungshauptes Bulganin schmälere. Er bezeichnete die Deputiertenräte als eine Farce: "Die Sowjets haben keine Bedeutung und sind keine Volksorganisation, viele Deputierte arbeiten einfach nicht. Der Oberste Sowjet ist mit nichts wesentlichem beschäftigt, hat keine Fragen zu lösen." Selbstverständlich blieben solche "partei- und sowjetfeindlichen" Reden nicht unbemerkt, und die weiteren Sprecher mißbilligten sie. Als aber die Sekretärin des Politbüros, Ivanova, diese Mißbilligung in den Entwurf des Beschlusses der Versammlung einfügen wollte, lehnte man ihren Vorschlag ab. Der dort anwesende Erste Sekretär des Gebietskomitees der KPdSU aus Kujbyshew, Ogurcov, unterstützte sie auch nicht. Auf der Sitzung des Parteibüros am 13. April stimmten nur zwei von neun Personen für Mordvinovs Ausschluß aus der Partei und für Sastitkos Ausschluß nur Ivanova selbst. Dies wurde als offene Widersetzlichkeit wahrgenommen, und am 16. April 1956 empfahlen die Leiter der Abteilung Parteiorgane in der RSFSR und der Abteilung administrative Organe ihrer Führung, daß sie das Moskauer Stadtkomitee beauftragen solle, noch eine Parteiversammlung im Institut zu veranstalten, "die parteiwidrigen Angriffe von Mordvinov und Sastitko zu verurteilen, über die Mitgliedschaft der beiden in der Partei zu entscheiden und das Politbüro zu festigen."" Es gab auch Fälle, "wo einzelne Parteiorganisationen politischen Leichtsinn zeigten, der von feindlichen Elementen benutzt wird." Als Beispiel galt folgendes: Der 25jährige Komsomolze Genzerov, der eine unvollendete höhere Ausbildung hatte und als Triebwerktechniker im Elektrowerk der Werchowski-Holzbeschaffungsstelle im Gebiet Archangelsk tätig war, "schlug einen Weg sowjetfeindlicher Handlungen ein." Er verfaßte drei maschinengeschiebene Flugblätter mit dem Aufruf, die KPdSU abzuschaffen und ihr ZK vor Gericht zu stellen, verbreitete diese Flugblätter unter den Arbeiter und propagierte ihren Inhalt auch mündlich. Als Mitarbeiter der Staatssicherheit ihn festnahmen, fanden sie bei ihm nebst der Schreibmaschine und weiteren drei Blättern auch folgenden Brief: "Nikita Sergeevic, wir sind Ihnen dafür dankbar, daß sie so mutig dem Volk die Wahrheit sagten und ihm über die Tatsachen berichteten, die uns Vertrauen zu Ihnen und zur Regierung ermöglichen. Wir glauben, daß wir in der jetzigen Situation so handeln müssen, wie uns Lenin gelehrt hatte: Die ganze Macht den Sowjets, d.h. den lokalen Sowjets der Deputierten der Werktätigen [...]. Falls Ihre Aussage und Ihr Wohlwollen Lenin gegenüber nicht heuchlerisch sind, dann senden Sie uns Ihre Regierungsbürgschaften für unsere Delegierten und Agitatoren, daß die Miliz und Staatssicherheitsorgane sie nicht verhaften. Sonst kann es zu Zwischenfällen und vielleicht zu unnötigem Blutvergießen kommen, wofür Sie die Verantwortung tragen würden." Genze-

99 Schriftlicher Bericht der Leiter der Abteilungen Partei- und Administrativorgane des ZK der KPdSU, V. Curaev und G. Drozdov, über die parteiwidrigen Äußerungen von Mordvinov und Sastitko auf der Parteiversammlung im Institut für Orientalistik bei der Akademie der Wissenschaften vom 16.4.1956., in: ZAND, F 5, IL 16, A 46, Bl. 82, 83, 87.

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rov wollte diesen Brief verschicken, nachdem er auf Arbeiterversammlungen Unterstützung gefunden hätte. 100 Es gab Flugblätter und kam zu Unterschriftensammlungen für regierungsfeindliche Aufrufe zum Kampf für die Wiederherstellung der Sowjetdemokratie. Jedoch erschienen auch andere Flugblätter mit Aufrufen, dem Andenken des Generalissimus treu zu bleiben. Am 11. April wurde im Warenhaus von Wologda ein handgeschriebener Zettel gefunden: "Quatsch! Stalin ist mit uns. WLKSM" (Unionsweiter Leninscher Kommunistischer Jugendverband, kurz: Komsomol). 101 Die Antworten auf die Enthüllung der stalinschen Verbrechen bildeten also eine Palette mit unterschiedlichsten Schattierungen. Welche Stimmung dominierte in der Partei und bei den Volksmassen? Es wurde und wird jetzt angenommen, daß Chruscevs Vortrag über den Personenkult überall Zustimmung fand. 1 0 2 Es ist jedoch schwierig mit dergleichen Behauptungen einverstanden zu sein. Die Atmosphäre der Furcht hatte sich in gewissem Maße in den letzten drei Jahren entspannt, aber nicht genug, als daß die Leute das Jahr 1937 und die "Ezovscina" (Ezov-Zeit) hätten vergessen können. Der Schriftsteller Veniamin Kaverin stellte mit Bedauern fest: "Man darf jetzt schon auf zwei Beinen gehen, doch kriechen noch viele auf allen vieren." 103 A. J. Tarasov, der 1948 für die Gründung der Moskauer Gruppe "Demokratische Partei" verurteilt und sofort nach dem XX. Parteitag freigelassen worden war, fuhr in den Kaukasus und hielt sich kurz bei seinen Eltern in Moskau auf. Später erinnerte er sich an jene Zeit: "Am meisten wunderte mich in Moskau die nostalgische Liebe des Volkes zu Stalin. Alle gedachten seiner pompösen Bestattung und tränenüberströmter Menschen, und waren anscheinend selbst vom tödlichen Gedränge in dieser Menschenmenge begeistert. 'Und die zertrampelten Mitbürgerseelen verflochten sich in einen Trauerkranz', schrieb gerührt einer der Dichter. Seitdem glaube ich nicht mehr an die These, daß die Volksstimme auch die Gottesstimme sei, und begreife, warum jedes Volk seiner Regierung wert ist." 104 Der Kritiker und Prosaiker V. Kardin besann sich auf die allgemeine Verwirrung im Winter 1956 und einzelner Auseinandersetzungen auf den Abendparties, die manchmal mit Handgemenge beendet worden waren, und betonte: "Die Trägheit des 'Kultusdenkens' hielt uns noch im Bann. Problematisch war, ob wir dieses alte Denken behalten oder auf neue Weise denken werden. Diese Frage konnte man nicht durch eine Abstimmung oder einen Beschluß der Gesamtsitzung lösen. Jeder sollte selbständig entscheiden. Für sich allein." 105

100 Schriftlicher Bericht der Leiters der Abteilung Parteiorgane des ZK der KPdSU in der RSFSR, V. Curaev, zur Diskussion über die Schlüsse des XX. Parteitages der KPdSU vom 16.4.1956, in: ZAND, F 5, IL 32, A 45, Bl. 4. 101 Ebd., Bl. 5. 102 Typisch ist in diesem Sinne die Meinung des prominenten Historikers und korrespondierenden Mitgliedes der Akademie der Wissenschaften, Ju. Poljakov: "Stalins Entlarvung auf dem XX. und XXII. Parteitag der KPdSU, die das Volk erschütterte und eine gewisse Splitterung in der Gesellschaft verursachte, wurde letzten Endes von der Mehrheit der Bevölkerung akzeptiert", in: Poljakov, Ju., Nase nepredskazuemoe prosloe. Polemiceskie zametki, Moskau 1995, S. 144. 103 Borev, Ju.: Fariseja: Poslestalinskaja epocha v predanijach i anekdotach, Moskau 1992, S. 37. 104 Tarasov, A.: Vsesojuznaja demokraticeskaja partija, in: Voprosy istorii 7/1995, S. 138. 105 Kardin, V.: Ne zastijat' by na obocine, in: Druzba narodov 2/1989, S. 245.

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Die Ergebnisse der Meinungsumfragen, die Studenten der geschichtswissenschaftlichen Fakultät der Moskauer Pädagogischen Universität durchführten, zeigen, wie schwer diese Wandlung im Bewußtsein der Massen verlaufen war. 1994 wurden 59 Augenzeugen, die vor 40 Jahren alles miterlebt hatten, 1995 136 Augenzeugen befragt. Erstaunlicherweise behauptete etwa die Hälfte von ihnen, daß sie damals gleichgültig oder zweifelnd die Entlarvung des Personenkults wahrgenommen hätten. 18 Menschen sprachen 1994 und 29 Menschen 1995 von Verwirrung und Niedergeschlagenheit, 9 bzw. 36 Befragte sagten, daß sie absolut gleichgültig geblieben wären und keine Aufmerksamkeit darauf gerichtet hätten. Aus der Hälfte, die eine bestimmte Haltung hatte, erklärten 12 bzw. 31, d.h. 20,3 bzw. 22,8 Prozent ihre Zustimmung zum Geschehenen, 19 bzw. 40, d.h. 32,2 bzw. 29,4 Prozent ihr Mißtrauen und ihre Mißbilligung. Freilich scheinen diese Umfrageergebnisse aus dem Gesichtspunkt der Sozialwissenschaft unrepräsentativ zu sein: Zu wenig Teilnehmer. Trotzdem können wir sie als eine erste Annäherung an die Wahrheit, als Arbeishypothese benutzen und ohne irgendwelche Schlüsse zu ziehen wenigstens die Frage stellen: War die Sowjetgesellschaft zur Destalinisierung bereit? Nicht im Sinne eines Verzichts auf Massensäuberungen und Repressionen, auf blutigen Terror, sondern auf totalitäres und imperiales Denken, dessen Ideal "der weise Vater, Lehrer und Freund", "der große Führer aller Zeiten und Völker" geworden war? Falls es eine positive Antwort auf diese Frage gibt, dann wird klar, warum Chruscev plötzlich nicht mehr weiter ging und sich sogar eines anderen besann, trotz seiner Bemühungen, den Vortrag über den Personenkult auf dem XX. Parteitag der KPdSU zu halten und die ganze Partei (mehr als 7 Millionen Mitglieder) und den Komsomol (etwa 18 Millionen Menschen) damit bekannt zu machen. Die Opposition seiner Mitkämpfer, deren Meinung er zunehmend mißachtete, die Ratschläge der chinesischen Genossen, selbst die Besorgnis, daß die Ereignisse in der UdSSR sich nach ungarischem Muster entwickeln würden, spielten in Chruscevs Schwanken keine so entscheidende Rolle wie der "Widerstand des Materials" von einer anderer Art. Der wesentliche Teil der Gesellschaft wurde in solchem Maße mit starken und regelmäßigen Dosen des ideologischen Kultustranks betäubt, daß der Verzicht darauf oder die Einnahme des Gegengifts ein gewisses "Niederreißen" verursachten. Ärzte handeln in diesem Fall unterschiedlich: entweder führen sie die "Schocktherapie" entschlossen und unabänderlich fort, ungeachtet des Risikos, daß der Kranke sterben könnte, oder sie beschränken sich mit homöopathischen Dosen, Pillen und heißen Umschlägen ohne Garantie der Heilung der verschleppten Krankheit. Chruscev wählte bald den einen, bald den anderen Weg, war jedoch nie konsequent genug. 1964 verlor er, nicht nur weil die Verschwörer sich als listiger und wendiger erwiesen haben, sondern auch, weil die "Stimme des Volkes" nicht auf seiner Seite gewesen war. Das Fortschaffen von Stalin aus dem Mausoleum 1961 hatten ihm weder die Nomenklatura-Stalinisten noch die Menschenmenge, die ohne den Gegenstand ihrer Anbetung war, verziehen.

Die gegenwärtige Einschätzung des XX. Parteitags Die russische Gesellschaft und ihre Elite haben bis jetzt unterschiedliche Haltungen zum XX. Parteitag der KPdSU, was sich sehr deutlich im Februar 1996 herausstellte, als sein 40. Jah-

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restag gefeiert wurde. Die Machtstrukturen ignorierten dieses Ereignis, die Massenmedien aller Richtungen und die wissenschaftliche Öffentlichkeit schenkten ihm große Aufmerksamkeit. Besonders heftige Diskussionen fanden auf der linken politischen "Flanke" statt. In der kommunistischen "Pravda" äußerte seine Meinung der Doktor für Philosophie Richard Kosolapov, ehemals Mitglied des ZK der KPdSU und Chefredakteur der Zeitschrift "Kommunist", jetzt Chefideologe der orthodoxen Bolschewisten. Er anerkennt "Stalins Verantwortlichkeit für die zahlreichen Zeichen der Willkür, politischen Fehler und Gesetzesverletzungen", zweifelt aber nicht daran, daß "in den Repressalien, die den Tod vieler unschuldiger Menschen verursacht hatten", die Parteikader der fünfziger und sechziger Jahre, falls sie zu einer ausgewogenen konkret-historischen Analyse fähig gewesen wären, "den komplizierten Klassenkampf' hätten erkennen können. Dies wäre z.B. "das Eindringen in die Sicherheitsorgane der fremden Elemente, die die Sowjetmacht diskreditieren und entkräften wollten und mit dem von ihr anvertrauten Schwert die ihr treuen Menschen geschlagen hätten." Kosolapov meint auch, daß "Stalins gewöhnliche Umsicht in jenem Fall versagt hätte", und er das immer in der KPdSU vorhandene "Virus des Menschewismus" unterschätzt hätte. 106 Kosolapov verweist auf "denkende alte Parteimitglieder" und nennt Malenkov, Berija, Mikojan sowie auch Chruscev unter denen, die "mit dem rechten Fuß hinken". Chruscev schrieb er die Schuld daran zu, daß er seinen Geheimvortrag "Über den Personenkult und seine Folgen" mit einer "engen Personengruppe" vorbereitet und ihn auf dem Parteitag "in höchsteigener Person, ohne kollektiver Zustimmung" gehalten hätte. Dies war nur die formale Seite der Sache. In der Tat ging es "in erster Linie um die Ablenkung der Parteikräfte für die Entthronung von Stalins Autorität, um die in vielem unobjektive oder verleumderische Einschätzung seiner Tätigkeit und des postrevolutionären Weges von Partei und Staat, um die Demoralisierung und die Untergrabung der internationalen kommunistischen Bewegung". Darüber hinaus meint Kosolapov "wurde Chruscevs Kritik indirekt geübt, sie geißelte die Partei insgesamt und jeden einzelnen Kommunisten, traf auch Lenin, die Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Kommunismus, trotz aller ritueller Verbeugungen". "Seitdem wurde das Schreckgespenst des Stalinismus von der Reaktion und Konterrevolution angewendet." 107 Diese Einschätzung des XX. Parteitages rief auch Diskussionen unter den Kommunisten hervor. Während der Debatten zu Kosolapovs Vortrag am 16. Februar in der Gesellschaft "Die russischen Wissenschaftler sozialistischer Orientierung" (RUSO) - eine Art Zentrum für die Ausarbeitung der neuen Ideologie der Kommunistischen Partei der RF (KPRF) mit dem Mitglied seines ZK, Ivan Osadcij, an der Spitze - trat die Mehrheit auf Kosolapovs Seite. "Seit dem XX. Parteitag begann die Entartung der Gesellschaft und ihres Bewußtseins. Während der letzten 40 Jahre haben die 'Zöglinge von Chruscevs Tauwetter' in der Partei eine neue, mit Karrierismus angesteckte Generation großgezogen. Wenn Stalin noch lebte, gäbe es keinen solchen Unfug," klagte das Mitglied des ZK der KPRF Konstantin Nikolajev und rief seine Genossen auf, "eine Richtlinie auszuarbeiten, die eine Rückkehr zu den wahren kommunistischen Prinzipien der Internationale wäre". Auch Viktor Sergeev bezeichnete den XX. Parteitag als Wendepunkt weg vom Kommunismus: "Die Partei bekam was zum Wiederkäuen: 'Kaue und iß dich selbst! ' und der Feind rieb sich die Hände." Der Philosoph Pe106 Kosolapov, R.: Ottepel' dala rasputicu. XX s"ezd KPSS: vzgljad cerez 40 let, in: Pravda v. 15.2.1996, S. 3. 107 Ebd.

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trov aus der "alternativen" Kommunistischen Partei erklärte diese Wende damit, daß die stalinsche Generation während der Zweiten Weltkrieg einen fast neunzigprozentigen Rückgang erlitt, und die Überlebenden zehn Prozent sich als Gelegenheitspolitiker und Zyniker erwiesen. "Hier liegt der Grund, warum sich die Elite von der Partei und letztere vom Volk losgetrennt haben." Der Redner behauptete, daß die Frage der Repressionen "verplaudert wäre", und schlug vor, eine "eigene Kommission zu gründen und zu beauftragen, die Ursachen und Rechtfertigung der Repressalien zu klären und die Rolle der 'in die Organe des Volkskommissariates des Inneren eingedrungenen feindlichen antistalinschen Elemente' festzustellen". Und die Juristin Raja Sapiro erinnerte sich an die Stalin-Zeit als an "den Höhepunkt unserer sozialistischen Ordnung" und erklärte, daß sie "während des Praktikums in einem Arbeitserziehungslager niemals von den Häftlingen etwas über ihre Unschuld gehört hatte". Ihr spricht der Historiker des Generalstabs, Avdeev, nostalgisch nach: "Ja, der XX. Parteitag beendete eine Heldenepoche in der Geschichte der UdSSR!" 108 Unter denen, die Kosolapov widersprachen, war der Leiter des sozialistischen Klubs "Dialog", Alexander Buzgalin. Als positiv in Chruscevs Politik betrachtete er die Tatsache, daß "versucht wurde, das harte bürokratische System umzugestalten", und als negativ, daß das von oben und auch bürokratisch durchgeführt wurde. Er sagte: "Der XX. Parteitag mußte wegen seiner Unentschlossenheit unvermeidlich zur Rückbewegung führen. Diese Rückbewegung fing 1940 an und hat sich 1993 mit neuer Kraft wiederbelebt." Der ehemalige Führer der "Marxistischen Plattform in der KPdSU", Alexej Prigarin, forderte, den XX. Parteitag als "ein Kettenglied der unvermeidlichen und aktuellen Wende" zu betrachten. Die Entlarvung des Personenkults begann sofort nach Stalins Tod, im April 1953. Ihr folgte die Ersetzung der Getreideablieferungspflicht durch die Naturalsteuer, und die Kolchosbauern erhielten Pässe. Die Neulandgewinnung ermöglichte die Verdoppelung der Getreideproduktion. Der Massenbau von Wohnungen fing an. Die Alters- und Invalidenrente reichte jetzt einigermaßen als Existenzminimum. Es gab wenigstens halbkollektive Leitung. Es wurde versucht, die Privilegien des Apparats zu reduzieren und die Machstrukturen unter Kontrolle zu stellen. 8.000 Menschen wurden rehabilitiert. Die internationale Entspannung begann. Dies alles sind Kettenglieder. "Wie kann man sich dessen erwehren, das alles nicht merken, wenn man die Rolle und Bedeutung des XX. Parteitages der KPdSU einschätzen will?" 109 Der Organisator der Diskussion, der Geschichtsprofessor und ehemalige Instrukteur des ZK der KPdSU, Vsevolod Ivanov, lud verschiedene Politiker zum Zuhören und Auftreten ein. Nicht alle kamen, diejenigen aber, die anwesend waren, ergriffen das Wort ungeachtet dessen, ob sie links, rechts oder liberal orientiert waren. Einer der letzteren stimmte der Anfangsthese des Vortrags über die Untergrabung der Macht durch die "bürokratische Entstellung" der Diktatur des Proletariats zu und fragte Kosolapov zugleich: "Ist solche 'Entstellung' nicht jedem Typ der Diktatur eigen? Wer weiß, was Iljics unverwüstliche Gesundheit zerrüttet und seine Jahre verkürzt hat? Vielleicht war es der schreckliche häretische Gedanke, den er zu vertreiben versucht hatte, daß er 1917 eine ungenießbare Suppe eingebrockt hatte. Und erklären sie mir bitte, wann eine 'einfache Arbeiterdemokratie' bei den Bolschewiki existierte? Möglicherweise damals, als sie zur Macht gelangt waren. Jene Demokratie war eher 108 Ebd. 109 Ebd.

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einer Anarchie ähnlich. Nach einem halben Jahr gab es keine Spur mehr von ihr. Jedoch wurden die Erinnerungen an die unerfüllten Hoffnungen, an 'Demokratie' und 'Menschenrechte' sowie der Haß auf die Usurpatoren aus dem Bewußtsein der Menschen nicht verdrängt. Diese Gefühle zeigten sich in Kronstadt in der Hoffnung auf eine rettende Intervention, in einer völlig entstellten Form in der Kollaboration mit den Hitler-Okkupanten (nach dem Prinzip: der Feind meines Feindes ist mein Freund). Die Zeit und der totale Terror ließen sich nichts entgehen. Stalin ist es zum Ende seines Lebens gelungen, einen eindimensionalen, fanatisch jedem seiner Worte glaubenden Menschen zu schaffen. Er hatte jedoch nicht genug Zeit gehabt, um alle zu selbständigem Denken fähigen Menschen ohne Ausnahme in Lagerstaub zu verwandeln. Deswegen ist das, was hier als 'Virus des Menschewismus' bezeichnet wurde, unausgerottet geblieben. Dieses Virus der Freiheit kam heraus und steckte selbst die Oberschicht an. Die Natur gewinnt schließlich über das ihr Fremde und Widersprechende die Oberhand. Und der XX. Parteitag wurde - vielleicht gegen den Willen von Chruscev selbst zur wichtigen Stufe in der Wiedergeburt des menschlichen 'Ich' und in der Zerstörung des totalitären Systems, das seine Unmenschlichkeit mit einem spekulativen (in seinem Mund) 'Wir'verhüllt." HO Als sensationell erwies sich die völlige Nichtübereinstimmung des politischen Beobachters der "Pravda", Boris Slavin, mit Kololapov: "Der XX. Parteitag gab eine positive Antwort auf die Frage, ob Demokratie und Sozialismus vereinbar sind und stellte die demokratische Tendenz des Sozialismus der damals herrschenden bürokratischen Tendenz gegenüber." Skandalös war wahrscheinlich, daß Slavin weder in seiner "Pravda" noch in der Gesellschaft RUSO auftrat, sondern im Gorbacev-Fond. "In der modernen kommunistischen Bewegung", klagte und rechtfertigte sich Slavin, "gewannen die 'schweren' Fraktionen die Oberhand." 111 Noch eine heikle Besonderheit der Sitzung des runden Tisches, die in dieser Organisation am 22. Februar stattfand, war die Tatsache, daß der früher berühmte, fast in Ungnade gefallene Historiker Vladlen Loginov, der seine kommunistischen Sympathien nicht verhehlte, diese Sitzung zusammen mit Gorbacev leitete. Ein Pluralismus stellte sich heraus. Juri Zukov, der wissenschaftliche Mitarbeiter des Instituts der Geschichte bei der Akademie der Wissenschaften, startete die Diskussion mit seinem Vortrag, in dem er einige Meinungen von der Geschichte der UdSSR der vierziger und fünfziger Jahre revidierte. Er behauptete: "Auf dem XX. Parteitag übernahm Chruscev Reformen, die bereits vor Stalins Tod begonnen worden waren." Die friedliche Koexistenz hatte seiner Meinung nach mitten im Korea-Krieg angefangen, als Eisenhauer McArthur seines Amts als Oberbefehlshaber der Kräfte der Vereinten Nationen in Korea enthoben und Stalin das Gleiche mit Malik, dem Mitglied der Vereinten Nationen gemacht hatte. Zum Zeitpunkt des XX. Parteitages verzichtete die Sowjetführung angeblich auf die Entspannungspolitik und wendete die neue Doktrin der nationalen Sicherheit an, die "die Untergrabung des Hinterlandes des Imperialismus betonte und die Möglichkeit des ersten, präventiven Atomschlags vorsah." Auf dem Parteitag selbst betonte der Verteidigungsminister Zukov, daß die Bereitschaft zum möglichen Krieg notwendig wäre und daß dieser Krieg durch die Massenanwendung sowohl von Luftflotte und Raketen als auch von Massenvernichtungswaffen, einschließlich thermonuklearer und biologischer, ge110 Ebd. 111 Ebd.

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prägt wäre. Das Ultimatum, das England und Frankreich 1956 in Zusammenhang mit der Suezkrise gestellt hatten, dient als Nachweis der Entschlossenheit, solche Waffen zum Einsatz zu bringen. In dieser Situation durfte man über den Wohlstand des Volkes überhaupt nicht nachdenken. Alle Neuerangen wurden auf die Neulandgewinnung reduziert, auf die Konversion in der Wirtschaft wurde verzichtet, die neue Richtlinie sah die vorangehende Entwicklung der Gruppe "A" vorher, so die Beschlüsse des Parteitages zur Entwicklung der Volkswirtschaft 1956-1960. "Die in den vierziger Jahren begonnene Tendenz, die Entscheidungen eher im Ministerrat als im ZK zu treffen, ging zurück." Der Parteitag faßte die Ergebnisse der Diskussionen zusammen und definierte die Aufgabe, "die Rolle der Partei mit allen Mitteln zu festigen."! 12 Leider erörterte die Sitzung des runden Tisches im Gorbacev-Fond Zukovs Vortrag nicht. Nur der Mitarbeiter des akademischen Institutes für die USA und Kanada, Vsevolod Zubok, bezweifelte dessen internationalen Gehalt: "Der gefährlichste Zeitabschnitt des 'Kalten Krieges' war Anfang 1953, danach gewann die pragmatischere Einstellung, die Sowjetführer wendeten 1954 keine neue Angriffsstrategie an. Der XX. Parteitag fand eine so große Resonanz, daß die Existenz des kommunistischer Einheitsimperiums mit der Zeit unmöglich wurde." 113 Die anderen Historiker, Nikolaj Barsukov, Sergo Mikojan, Roj Medvedev und Zorja Serebrjakova, mischten sich in diese Debatte nicht ein und sprachen nur von den Einzelheiten und Umständen der Vorbereitung des Vortrags über den Personenkult. Professor Oleg Volobuev versuchte, Chrascevs Motive zur Entlarvung der Geheimnisse der Stalin-Repressionen zu begreifen. Strebte Chruscev danach, "die Wahrheit zu sagen, die niedergetretene Gerechtigkeit wiederherzustellen?" Selbst wenn er das beabsichtigte, war dieses Motiv kaum das entscheidende. Es gab auch keinen Druck von unten. Was motivierte Chruscev? "Der Kampf um Macht, die Notwendigkeit, seine eigene Positionen zu festigen. Die neuen Leiter hatten eine andere Gewichtsklasse als der gestorbene Führer, man mußte auf irgendeine Weise die Heldengestalt des 'Weisen Vaters und Lehrers' schmälern. Die beste Methode dafür war, seine Verbrechen zu entdecken und seine Schuld an der Vernichtung der Parteikader klarzumachen. Damit erreichte man noch ein Ziel: der Nomenklatura zu versichern, daß das Gleiche sich nie mehr wiederholt und auf diese Weise sie auf eigene Seite zu bringen für den Fall, daß es direkte Auseinandersetzungen mit den Kollegen-Rivalen innerhalb der 'kollektiven Leitung' gäbe." 114 Ein weiterer Geschichtswissenschaftler, Professor Alexandr Zevelev, urteilte über den modernen Stalinismus: "Ihm zugunsten wirken: die Abwesenheit verankerter demokratischer Traditionen; der Zerfall der UdSSR und der Machtantritt von Leuten, die keine Ahnung von der Demokratie haben; die Entstehung einer Klasse, die die Macht gegen das Eigentum austauschte; schließlich die Swerdlower Mafia, die Kraftträger und einzelnen sich an die Macht anhängenden Intellektuellen als ein 'kollektiver Rasputin'." 115 Die anderen Redner - Politiker, Philosophen und Soziologen - sprachen meist über die Bedeutung und die Lehre des XX. Parteitags der KPdSU und führten permanent eine Diskus112 Ebd. 113 Ebd. 114 Ebd. 115 Ebd.

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sion mit Kosolapov. Selbst Michail Gorbacev bemerkte, daß dieses Ereignis des Staatslebens längere Zeit von den Machtträgern verschwiegen worden wäre und jetzt auch Gegenstand nicht nur wissenschaftlicher Diskussionen sondern auch politischer Spekulationen wäre. Er äußerte seine Überzeugung, daß "nach dem XX. Parteitag die Wiederherstellung des Stalinismus in seiner früheren Gestalt nicht möglich gewesen wäre." 116 Der Philosoph Vladimir Mezuev ging auf den Zusammenhang des XX. Parteitages mit der Gegenwart ein: "Er ist offenbar: Damals wurde die Frage der Vereinbarkeit von Sozialismus und Stalinismus gestellt; die 'Perestrojka' ging anscheinend weiter, endete aber genauso tragisch, wie das 'Tauwetter'. Die Frage blieb ungelöst. Es existiert noch der Mythos, daß Sozialismus und Stalinismus dasselbe wären. Die Opfer dieses Mythos sind einerseits R. Kosolapov, andererseits A. Jakovlev." Diese beiden Paradigmata - marxistisch-leninistische und liberale - kritisierte auch der Politologe Anatolij Butenko: "Der Marxismus-Leninismus ist Stalins Erfindung. Er hat mit dem Marxismus nichts zu tun, weil im 'Kommunistischen Manifest1 die Aufgabe, das Privateigentum nicht zu vernichten sondern zu überwinden und auf solche Weise das Problem zu lösen, gestellt wurde. Ist unsere Bürokratie in Wirklichkeit nicht der Eigentümer von allem in der UdSSR geworden? Deswegen konnten weder Chruscev noch Gorbacev den Sozialismus erneuern, weil er bei uns einfach nicht existierte." Gennadij Zlobin stimmte ihm zu: "Stalin holte das Letzte aus dem Feudalismus und der Sklavenhaltung heraus und damit modernisierte er das Land. Das ist doch kein Sozialismus." 117 Der Abgeordnete der Staatsduma Viktor Sejnis (Gruppe "Jabloko"), der auf dieser Sitzung des runden Tisches die rechte, liberale Richtung des politischen Denkens vertrat, betonte, daß die Folgen des XX. Parteitages sehr oberflächlich und kurzfristig wären: "Der Rückschritt fing nämlich damals an, als das Volk sich mit dem Vortrag über den Personenkult bekannt machte. Bereits am 5. April war die 'Pravda' gegen die 'verfaulten Elemente' aufgebracht, Ende 1956 machte sich das Staatssicherheitskomitee an die Arbeit. Dasselbe geschah in Osteuropa. Dort starb jedoch das kommunistische Regime nach etwa 40 Jahren unbemerkt. Warum war es bei uns nicht der Fall? Da unsere Gesellschaft auf solch gründliche Veränderungen nicht vorbereitet war, weil der Terror alle Keime der Bürgergesellschaft vernichtet hatte und in der Partei das schwache Unterholz wie Molotov geblieben war. Warum scheiterte die Wende? Weil die Partei, die den Staat verkörperte, überhaupt nicht daran dachte, daß sie sich von ihrem Monopol auf Entscheidungen und von ihrer eisernen Einheitlichkeit trennen könnte. Die auf die Auseinandersetzung mit der ganzen Welt gerichtete Aussenpolitik ließ auch keine Chance, sich zu entspannen. Das Leben erreicht jedoch immer seine Absicht. 1985 gingen die Zersetzung und der Zerfall so weit, daß diejenigen, die Ungläubige ins Gefängnis eingesperrt hatten, selbst an nichts mehr glaubten. Die Partei wurde ideologisch mehrparteilich. Gorbacevs kolossales Verdienst war, daß er den Ballast der außenpolitischen Konfrontation herausgeworfen hatte. Sein großer Fehler mag sein, daß er auf die Spaltung der dazu bereiten Partei verzichtet und einen günstigen Moment für die Bildung einer starken Sozial-Demokratie versäumt hatte." 118 Ein anderer Liberaler, der bekannte Literaturkritiker und Publizist Jurij Karjakin, ging noch weiter im kritischen Umdenken der Ergebnisse und Lehre des XX. Parteitages. "Je 116Ebd. 117 Ebd. 118 Ebd.

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mehr man an den XX. Parteitag denkt, desto deutlicher wird die Tragik der ihm folgenden 40 Jahre", überlegt er auf den Seiten der "Obscaja gazeta" vom 29. Februar. "1956 wurden wir in solchem Maße von der Wahrheit geschlagen, daß wir die ausgeklügelte, bis zum letzten Gramm ausgerechnete Dosierung nicht erblickten [...]. Dieses kleine Stückchen Wahrheit, vertraulich mitgeteilt, war eigentlich dafür vorausbestimmt, die ganze Wahrheit zu verhüllen." Als Resultat "fand in Rußland schon wieder eine oberflächliche, seichte Wandlung in den Köpfen statt, wobei die Seele unberührt blieb." Der Autor sieht hier den Sieg des Bolschewismus und den Grund, warum er "sogar bis jetzt" straffrei ausgegangen ist. Kaijakin lehnt die alltägliche These darüber, daß die "Sestidesjatniki die Kinder des XX. Parteitages" wären, ab und betrachtet als ein echtes Kind die "Perestrojka, deren Führer nicht verstanden, daß unser Raumschiff (d.h. Kommunismus) von Anfang an in die 'FALSCHE RICHTUNG' gestartet worden war. Dieses Raumschiff war auf eine verhängnisvolle Umlaufbahn gebracht worden, und keine Korrekturen können ihm helfen". Bezugnehmend auf die traurigen Worte des Akademiemitgliedes D. S. Lichacev, daß "in Rußland nichts klappt, bis sie alle gestorben sind", erklärt Karjakin: "Unter 'sie' meint man hier alle mehr oder weniger mit der Lüge vergifteten Leute. Diejenigen, die heute an der Macht sind, sind auch 'Kinder des XX. Parteitags'. Sie sollen die Bühne verlassen, wir verlassen sie jedoch mit ihnen zusammen." 119 Es ist klar, daß die skeptische Haltung der Liberalen zum XX. Parteitag der KPdSU in gewissem Sinne seiner völligen Ablehnung seitens der äußersten Linken ähnlich ist. Pietät zu diesem Ereignis empfinden jetzt nur die "Zentristen" und die gemäßigten Linken, die ziemlich zahlreich in unserer, besonders wissenschaftlichen, Intelligenz sind, die aber kaum Einfluß auf die anderen sozialen Schichten und in den Volksmassen haben.

Übersetzung aus dem Russischen von Olga Tscherer

(Mannheim).

119 Kaijakin, Ju.: Iz povinovenija vyjti, in: Obscaja gazeta vom 29.2.-6.3.1996, S. 16.

Jolanta Polakowska-Kujawa (Warschau)

Soziale Konflikte in Polen und die Legitimierung der Macht. Wandlungen im gesellschaftlichen Bewußtsein in den Jahren 1945-1994 Die Analyse sozialer Konflikte in hervorgehobenen geschichtlichen Zeitabschnitten ermöglicht es, die Bedeutung des wirtschaftlichen und politischen Systems und die Wandlungen im gesellschaftlichen Bewußtsein für den Verlauf von Konflikten aufzuzeichnen. In den analysierten Perioden gibt es einige historische Fakten, die auf den Verlauf von sozialen Konflikten in Polen Einfluß ausübten: die Erfahrung der Gewaltanwendung von Seiten der Machthaber, personelle Änderungen in der Kommunistischen Partei, Entstehung der gesellschaftlichen Bewegung "Solidarnosc", Einführung des Kriegszustands und Blockierung der gesellschaftlichen Bestrebungen sowie Umgestaltungen des wirtschaftlichen und politischen Systems - der Übergang vom "realen Sozialismus" zu Marktwirtschaft und Demokratie.

Konflikte in Polen in den Jahren 1945-1979 Trotz der Gefahr ernsthafter gesellschaftlicher und politischer Konsequenzen wurden ökonomische und politische Konflikte von verschiedenen sozialen Gruppen, vor allem aber von Arbeitern initiiert. Ein charakteristisches Merkmal der sozialen Proteste in Polen war die von den Initiatoren nicht beabsichtigte Politisierung ökonomischer Konflikte als Folge der Arroganz der Machthaber oder der zielsicheren Ausnutzung der Konflikte für politische Zwecke. Die Politisierung der Streiks in den Jahren 1945-1979 war mit einer Mißachtung von Forderungen der Streikenden sowie mit Gewaltanwendung verbunden. Ein derartiges Verhalten der Behörden bewirkte eine Eskalation der Streiks und der Forderungen. Die Konflikte kamen in Polen schon sehr früh vor. Streiks wurden bereits in den Jahren 1945-1947 verzeichnet. 1945 gab es 136 Streiks in einigen hundert Betrieben. Das waren Streiks, bei denen es um Löhne und Arbeitsnormen ging. Später (1946-1947) waren auch Beschränkungen, die Arbeiterräten auferlegt wurden, Änderungen in den Direktionen und die Zentralisierung des Leitungsprozesses in den Unternehmen Ursachen von Streiks. Sie brachen in Polen sogar während des Sechsjahresplans aus, obwohl hohe Strafen für die "Untergrabung der sozialistischen Arbeitsdisziplin" drohten.1 In der Nachkriegsgeschichte Polens (bis 1980) war das Jahr 1956 für die sozialen Konflikte von entscheidender Bedeutung. Sowohl der Verlauf der durch die Posener Arbeiter hervorgerufenen Konflikte als auch die politischen Folgen dieser Konflikte sind bis heute im

1 Gilejko, L.: Robotnicy i spoleczenstwo, Warszawa 1995.

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gesellschaftlichen Bewußtsein haften geblieben. Das lag an der Dramaturgie der Ereignisse: Streiks, Demonstrationen, Todesopfer, politische Prozesse.2 Auch die Konflikte des Jahres 1970 waren mit hohen Kosten auf Seiten der Protestierenden verbunden, obwohl sich die Arbeiterproteste in Danzig und Stettin anfangs nur gegen Preiserhöhungen für Nahrungsmittel und gegen niedrige Löhne richteten. Erst die brutale Reaktion der Staatsgewalt verursachte weitere Forderungen. Die große Beunruhigung des Volkes und das irrationale Verhalten der Regierungsvertreter zeigten sich in den Folgen: Todesopfer, viele Verwundete, abgebrannte und zerstörte öffentliche Gebäude, zahlreiche Verhaftungen. Die Konflikte des Jahres 1970 haben beiden Seiten viel gelehrt: Machthabern und Streikenden, insbesondere da der Verlauf der Konflikte 1970 viel dramatischer als 1956 war. 3 Zu den großen sozialen Konflikten in Polen zählen auch die Arbeiterunruhen von 1976 in Radom und Ursus. Das war ebenfalls ein ökonomisch motivierter Konflikt, verursacht durch eine Erhöhung der Lebensmittelpreise. Der Protest äußerte sich in Streiks und Demonstrationen, Massenkundgebungen und Straßenaufmärschen. Die Staatsmacht reagierte weniger repressiv als 1956 und 1970, und so endete dieser Konflikt mit einem Sieg der Streikenden: Die Preiserhöhung wurde rückgängig gemacht. Obwohl die ganze Geschichte des "realen Sozialismus" davon zeugt, daß soziale Konflikte in politische übergehen, in einen Protest gegen die herrschende Macht und deren Privilegien, gegen die Art und Weise, wie Macht ausgeübt wird, und gegen die Irrationalität der Lösungen, so interpretierten die Regierenden diese Proteste mit Hilfe propagandistischer Vereinfachungen. Die Machthaber deuteten die Konflikte als feindliche, externe politische Inspirationen: 1956 definierte die offizielle Propaganda die Inspiratoren der Konflikte als "Gegner des Sozialismus" und als "Imperialisten", 1970 als "Feinde der Arbiterklasse", 1976 als "Aufwiegler" und 1980 als "Experten" und "Gegner des Sozialismus". Die sozialen Konflikte in Polen zwischen 1956 und 1980 können vom Standpunkt der sozialen Unzufriedenheit und der Reaktion der Staatsgewalt auf diese Unzufriedenheit analysiert werden. Das heißt, daß folgendes Analyseschema Anwendung findet: Ökonomische Probleme - Streiks und Proteste - politische Krise - Änderung. P. Marciniak schlägt vor, die Analyse des Verlaufs von Konflikten in Polen auch mit Hilfe eines anderen Mechanismus vorzunehmen, unter Einbeziehung der Bedeutung der wirtschaftlichen Krise und der Konflikte im Machtlager. Die Autorin ist der Meinung, daß wichtige soziale Konflikte im Sozialismus nach folgendem Schema verliefen: Zuspitzung der internen Gegensätze des Systems (ökonomische Schwierigkeiten) - politische Krise - Streiks - politischer und personeller Durchbruch. Die Eignung dieses Schemas für die Analyse der Konflikte bestätigt nach Marciniak die Tatsache, daß fast allen Protestwellen in Polen das Anwachsen politischer Krisen in den regierenden Kreisen voranging: (1953-1956), (1967-1970), (1975-1976), (1978-1980) und daß diese sich bewußt waren, daß die Entwicklung begrenzt und die Verwirklichung der sozialen Erwartungen unmöglich ist. Einige Forscher behaupten sogar, daß die sozialen Explosionen gesteuert waren und, verbunden mit personellen Änderungen im Apparat, als Stabilisierungs2 3

Czubiriski, A.: Poznanski czerwiec 1956. W Przyczyny konfliktöw spolecznych w PRL, Warszawa 1983. Makowska, T. J./Adamczuk, Z.: Robotnicy w sytuacjach konfliktowych, W: Studia Socjologiczne 1983.

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faktor des Systems dienten; dadurch entstanden neue Hoffnungen, die zur weiteren Legitimierung der Macht beitrugen. 4 Kann man mit der Bedeutung dieses Faktors in bezug auf die Ereignisse von 1956, 1968 und 1970 noch übereinstimmen, so sprengt die Entwicklung der Streiksituation in den Jahren 1980/81 diesen analytischen Rahmen. 5 Obwohl zwischen 1956 und 1979 zahlreiche Forschungen über das gesellschaftliche Bewußtsein durchgeführt wurden, ist die Darstellung von Ergebnissen dieser Erhebungen für eine weitere Analyse nicht brauchbar, da die Untersuchungen sich grundsätzlich von denjenigen unterscheiden, die nach 1980 durchgeführt wurden, also nicht vergleichbar sind. In den früheren Erhebungen konnten nicht alle Fragen gestellt werden, die für die Erklärung der sozialen Konflikte von wesentlicher Bedeutung gewesen wären. Das einzig vergleichbare ist der Grad der Akzeptierung gewisser Systemprinzipien: des Egalitarismus und des staatlichen Eigentums sowie das Gefühl der Entmutigung, das aus der Nichtbefriedigung zahlreicher Bedürfnisse entstanden war. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen beweisen in jedem Fall, daß es objektive und subjektive Voraussetzungen der sozialen Konflikte in Polen gegeben hat, daß die Arbeiter trotz Beschäftigungssicherheit eine unterprivilegierte Gruppe waren und das Gefühl hatten, Benachteiligte zu sein; dies zeigte auch ihre Stellung in der sozialen Struktur und der fehlende Zugang zu vielen Gütern. Die ideologischen Losungen wurden von den Arbeitern nicht im Zusammenhang mit der realen Gegenwart betrachtet. Das kritische Bewußtsein des Volkes beinhaltete auch eine negative Beurteilung der staatlichen Bürokratie, der irrationalen wirtschaftlichen Entscheidungen und der Organisation des Wirtschaftslebens. Mitte 1978 beschrieben die Arbeiter ihre Lebens- und Arbeitsverhältnisse als schlecht, sie hatten kein Vertrauen zu den Direktionen der Betriebe, zu gesellschaftlichen Organisationen und zur Staatsverwaltung, sie sahen für sich keine Perspektiven, waren kraftlos und sahen in der Arbeit keinen Sinn. Das erste Mal (Mitte der siebziger Jahre) befragte man die Arbeiter über ihr Verhältnis zum Streik. Die Ergebnisse dieser Untersuchung bewiesen, daß fast 50 Prozent aller Arbeiter mit langer Berufstätigkeit in der staatlichen Industrie und 54,2 Prozent der Fachleute mit mittlerer Reife sich zu den Streiks gegen die Regierung solidarisch verhielten und sie als wirksame Form des Kampfes zugunsten der Interessen der Werktätigen einschätzten. Die vom W. Adamski-Team durchgeführten Untersuchungen "Die Polen 1980" wiesen ebenfalls darauf hin, daß es 1980 gerade die Facharbeiter waren, die die Streikaktionen der "Solidarnosc" und den Generalstreik am stärksten unterstützt hatten. 6 Die verhältnismäßig lange Zeit der sozialen Ruhe - bis 1980 - ergab sich nicht aus der Zufriedenheit des Volkes, sondern aus dem konformen Verhalten der Bevölkerung im Zusammenhang mit der Wirksamkeit und Brutalität des Unterdrückungsapparats.

4 5

6

Bolesta-Kukulka, K.: Gra o wladze a gospodarka. Polska 1944-1991, Warszawa 1992. In den Jahren 1980-1981 haben die personellen Änderungen auf den höchsten Stufen die angespannte politische Situation nicht entladen, und der Spannungszustand sowie der Umfang der Konflikte waren so groß, daß sich die Regierung des Kriegszustands bedienen mußte, um eine wirtschaftliche und politische Stabilität wiederzuerlangen und die weitere Herrschaft zu sichern. Adamski, W. i inni: Polacy 1980, IFiS PAN, Warszawa 1991.

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Konflikte und gesellschaftliches Bewußtsein in den achtziger Jahren Die Zeit von 1980 bis 1989 wird von vielen Forschern als eine Periode der Demontage des "realen Sozialismus" in Polen betrachtet. Dieser Zeitraum war geprägt durch unterschiedliche Konflikttypen mit wechselnder Schärfe und Bandbreite, zudem durch ein hohes Maß an Solidarität. Die Forderungen zielten immer mehr auf gesellschaftlichen Wandel. Die sozialen Konflikte, die 1980 in Polen begannen, wurden u.a. wie folgt gekennzeichnet: Ein bisher nicht anzutreffendes Ausmaß der sozialen Unzufriedenheit, Mißbilligung der herrschenden Macht und ihrer Struktur, des Systems insgesamt; eine früher nicht dagewesene Solidarität verschiedener sozialer Gruppen. In den Konflikten der Jahre 1980-1989 sah das Volk die herrschende Macht als eine Seite im Konflikt, die für die Nichtbefriedigung der materiellen und politischen Bedürfnisse verantwortlich war. Dies wurde durch Proteste, Streiks, Demonstrationen und Resolutionen, die Aggressionsrichtung sowie auch durch empirische Untersuchungen untermauert, die in den achtziger Jahren von vielen Forschungsstellen geführt wurden, insbesondere Untersuchungen aus der Serie "Die Polen", die die Veränderungen im gesellschaftlichen Bewußtsein der polnischen Bevölkerung in den Jahren 1980/81, 1982, 1984, 1986, 1989 registrierten.? Der Verlauf der sozialen Konflikte ab 1980 ließ erkennen, daß die Arbeiter aus den Jahren 1956 und 1970 Schlußfolgerungen gezogen und gelernt hatten, daß man so zu streiken hat, daß die Kosten des Konflikts möglichst gering gehalten werden. Sie fingen an, Sitz- und Solidaritätsstreiks anzuwenden, minimalisierten dagegen die Straßendemonstrationen. Die herrschende Macht, die eine Eskalation des Konflikts befürchtete und zudem ihre Legitimation schwinden sah, nahm mit den Streikenden Verhandlungen auf, obwohl die Liste der Forderungen gegenüber denjenigen in den Jahren 1956-1976 erheblich erweitert war. Ab 1980 wurden soziale Verträge zur Methode einer Entladung von Konflikten. Wenn man Konflikte der Arbeiter mit einer Regierung, die von einer "Arbeiterpartei" getragen wurde, als Erosion des Systems betrachtet, dann unterliegt es keinem Zweifel, daß das Ausmaß dieser Erosion schon in den Jahren 1980/81 enorm groß war. Die Konflikte hatten in dieser Zeit unterschiedlichen Charakter. Verschiedene Formen von Streik wurden angewandt: 1. Streik mit ökonomischem Charakter, 2. Streik, um Einfluß auf die Staatsmacht und die Art ihrer Machtausübung zu gewinnen, 3. Streik um ideologische Werte und das politische System, 4. Generalstreik, der alle Konfliktebenen umfaßt. 8 Ein neues Element der Konflikte ab 1980 bildete die Änderung des gesellschaftlichen Bewußtseins aufgrund der Erkenntnis, daß die Möglichkeit gesellschaftlicher und sozialer Veränderungen ohne wesentliche Modifizierung des Systems illusorisch war. Die Änderung beruhte auch auf einer größeren Aktivität anderer gesellschaftlicher Gruppen, die in früheren Jahren des herrschenden sozialistischen Systems keinen Mut zur Initiierung von Streiks in solchem Ausmaß hatten (zum Beispiel die Lehrer).

7

8

Adamski, W. i inni: Polacy '81. Po strzeganie konfliktu i konsensusu, Warszawa 1992; diess.: Polacy '84. Dynamika spolecznego konfliktu i konsensusu, Warszawa 1986; diess.: Polacy '88. Dynamika konfliktu spolecznego a szanse reform systemowych, Warszawa 1989. Jasiewicz, K.: Od protestu i represji do wolnych wyborow, W: Polacy '90, Warszawa 1991.

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1980 verbanden die an sozialen Konflikten Beteiligten ihre Reformbestrebungen mit der unabhängigen Organisation "Solidarnosc", mit dem gewerkschaftlichen Pluralismus, mit der authentischen wirtschaftlichen Demokratie. Vom gesellschaftlichen Engagement in Konflikten mit der Staatsmacht zeugt auch das Aufkommen eines neuen gesellschaftlichen Faktums - ein sehr kritisches Bewußtsein und das Bestreben, über die Forderung einer bloßen Beseitigung von "Fehlern und Entstellungen" hinauszugehen. Durch die eindeutige Entscheidung der Mehrzahl der Berufstätigen (insbesondere der Arbeiter) für die Opposition mußten die Machthaber es als Tatsache hinnehmen, daß die Arbeiter nicht mehr die gesellschaftliche Basis der (Arbeiter-)Partei darstellten und daß sie sich mit der neuen Organisation, die sie als eine authentisch ihre Interessen vertretende anerkannten, identifizierten. Kennzeichnend für die Periode 1980-1989 war die Unmöglichkeit, den politischen Konflikt "Staatsgewalt-Volk" beizulegen, und zwar infolge der gesellschaftlichen Bestrebungen, die über die bisherigen, vom bestehenden politischen System angebotenen Lösungen hinausgingen. Von deren Stärke zeugt die Tatsache, daß die Bevölkerung bei der ersten Gelegenheit, ihren Willen auszudrücken, sich in der Wahl zugunsten der "Solidarnosc" und gegen die Kommunisten aussprach. Der politische Konflikt der Jahre 1980-1989 war im gesellschaftlichen Bewußtsein so stark, daß die aus Gruppeninteressen hervorgegangenen Konflikte weniger zur Geltung kamen. Die Motive für eine Beteiligung an sozialen Konflikten im Zeitraum 1980/81 waren die Unzufriedenheit über das Niveau der Bedürfnissbefriedigung und die Erkenntnis, daß das System ungerecht und irrational ist. Die soziale Unzufriedenheit erreichte in den Jahren 1980/ 81 ein Niveau, daß über dem der früheren Konflikte (1956, 1970, 1976) lag, die die Staatsgewalt mit Leichtigkeit beherrschen konnte. Die Forscher, die die sozialen Konflikte in Polen in den Jahre 1980-1989 untersucht haben, sind der Meinung, daß die Konflikte der Jahre 1980/81 mit denjenigen der Jahre 19821989 (nach Einführung des Kriegszustands) nicht gleichgesetzt werden sollen. Diese Konflikte unterscheiden sich nicht nur durch die Anzahl und den Grad der Engagiertheit der Teilnehmer, die Spontanität des Verhaltens und die Kraft der Emotionen. 9 Die Konflikte der Jahre 1980/81 hatten revolutionären Charakter auch wegen der Kraftlosigkeit der Staatsgewalt, wovon die Einführung des Kriegszustands zeugt, der die Eskalation der Konflikte und die Destabilisierung des wirtschaftlichen und politischen Lebens aufhalten sollte. Diese Entscheidung war mit Sicherheit durch die Angst vor Machtverlust bedingt gewesen. Die Emotionen der Jahre 1980/81 lebten erst bei den ersten demokratischen Parlamentswahlen wieder auf, trugen dann aber den Charakter eines politischen Wahlkampfs und nicht langanhaltender Streiks. Die Untersuchung der gesellschaftlichen Konflikte der achtziger Jahre brachte die Paradoxie zum Vorschein, daß die Bevölkerung gegen den Staat auftrat, aber gleichzeitig gewisse Werte akzeptierte, die mit diesem Typ des politischen und wirtschaftlichen Systems verbunden waren. Die sozialistischen Lösungen (Staatseigentum, Egalitarismus, Ausbleiben von Arbeitslosigkeit) trafen in den achtziger Jahren auf eine hohe gesellschaftliche Akzeptanz. Die Paradoxie beruhte darauf, daß das Volk Lösungen einführen wollte, die für die soziale Wirk9 Ash, T. G.: Polska rewolucja. "Solidarnosc" 1980-1981, Warszawa 1990.

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lichkeit der westlichen Welt kennzeichnend sind - Freiheit, Pluralismus, Wohlstand -, aber gleichzeitig gewisse Werte und Lösungen beibehalten wollte, die mit der sozialistischen Ideologie verbunden sind - den Sozial-(Fürsorge-)Staat, Arbeitsgarantien, Staatseigentum. Der Legitimationsgrad der kommunistischen Machthaber war u.a. deshalb niedrig, weil das Volk der Ansicht war, daß sie die ideologischen Werte verletzten, auf die sie sich beriefen. Die gesellschaftlichen Konflikte der Jahre 1980-89 werden von vielen Forschern als Konflikt der Werte und nicht Konflikt der Interessen angesehen. 10 Als Argument genannt werden die Bedeutung eines Kampfes um Symbole, der Kampf um Freiheit, Rechts Staatlichkeit, Demokratie und die Tatsache, daß die Konfliktparteien nicht mit einem gegebenen Platz in der gesellschaftlichen Struktur verbunden waren, daß ferner in den Konflikten auf einer Seite Gruppen teilnahmen, die keine gemeinsamen Interessen hatten, und daß unter den Werktätigen die Streikbereitschaft nicht nur zum Zwecke der Realisierung eigener Forderungen, sondern auch zur Unterstützung anderer Gruppen stark ausgeprägt war. (Ein Großteil der Streiks hatte in dieser Zeit den Charakter von Solidaritätsstreiks, es bestand die Bereitschaft, an jedem Konflikt teilzunehmen, wenn auf der anderen Seite die Staatsgewalt stand.) Das Bewußtsein der polnischen Bevölkerung in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre wurde von vielen Soziologen untersucht. Die Forschungen zeigen die Verbindungen zwischen dem gesellschaftlichen Bewußtsein und der Dynamik der Konflikte. Die empirischen Untersuchungen beschreiben das gesellschaftliche Bewußtsein der Polen 1980 mit folgenden Merkmalen: starke Anbindung an Prinzipien der gesellschaftlichen Gerechtigkeit, Benennung der kommunistischen Machthaber als privilegierte Elite, starkes Gefühl der Benachteiligung, Überzeugung, daß es an einer Vertretung der Arbeiterinteressen fehlt, und die Überzeugung, daß es diese Repräsentation geben muß. Die Untersuchungen über die achtziger Jahre zeigen, daß die Arbeiterklasse sich als Gruppe sah, die sich in der schlechtesten Lage befand, daß der "reale Sozialismus" das Arbeiterproblem nicht gelöst hat. Die objektive Situation, bezogen auf die wirtschaftliche Lage der Werktätigen, entsprach den subjektiven Überzeugungen. In den achtziger Jahren sank der Lebensstandard gegenüber dem Ende der siebziger Jahre: Es gab Preiserhöhungen, Inflation, Erfassung der Agrarproduktion durch die Marktwirtschaft. Die Löhne, insbesondere gegen Ende der achtziger Jahre (1988), wurden zu einer der wichtigsten Ursachen der Streiks. Mitte der achtziger Jahre erklärten 50 Prozent der Arbeiter, daß sie am Egalitarismus und am Sozialstaat hängen. Mit einer aktiven Rolle des Staates verknüpften sie die Möglichkeit einer Bewältigung der Krisen in Polen. Die Arbeiter, gefragt nach ihrem Verhältnis zu den Wirtschaftsreformen, erteilten folgende Antworten auf die Frage, welche Entwicklungsvariante für Polen die beste wäre: 1. Variante (wurde von 30,8 Prozent der Arbeiter gewählt): Marktwirtschaft, scharfe Konkurrenz zwischen Menschen und Unternehmen, Gleichgewicht auf dem Markt, Konkurse von unrentablen Unternehmen, Reduzierung der sozialen Funktionen des Staates, große Differenzierung von Löhnen und Einkommen. 2. Variante (gewählt von 50 Prozent der befragten Arbeiter). Diese Wahl bedeutete eine Unterstützung für den Egalitarismus und den Fürsorgestaat als Weg einer weiteren Ent10 Wnuk-Lipiriski, E.: Deprywacje spoleczne a konflikty interesöw i wartosci, W: Adamski u.a.: Polacy '90. Konflikty i zmiana, Warszawa 1991.

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wicklung: Eine Wirtschaft, die den Bedarf des gesamten Volkes decken soll (Vollbeschäftigung, Beseitigung der Armut und Not, Verringerung der Lohndifferenzen, Stärkung der sozialen Funktionen des Staates). 3. Variante (Mischung aus Varianten 1 und 2) wurde von 17,4 Prozent der Arbeiter gewählt. Die im Arbeitermilieu 1986, 1987, 1988 und 1989 durchgeführten Untersuchungen zeigen, daß in der Mentalität der Arbeiter eine Art "kleinbürgerlich-sozialistische" Orientierung vorherrschend war: Ein gemäßigter Egalitarismus, Abneigung gegenüber dem extremen Kapitalismus, Unterstützung für eine industrielle Demokratie und kleines privates Eigentum (an Produktionsmitteln), das Handwerk. Außerdem galt eine starke Unterstützung der Arbeiter folgenden Losungen der "Solidarnosc": Freiheit, Unabhängigkeit, Würde, Toleranz, Ehrlichkeit, Subjektivität, Pluralismus. Alles, was von diesen Erwartungen abwich, konnte zu einer Ursache gesellschaftlicher Konflikte werden. Es ist unmöglich, in einem kurzen Beitrag die Ergebnisse der viele Jahre hindurch von zahlreichen Teams geführten Untersuchungen, darzustellen. In diesem Zusammenhang sollen nur Beispiele angeführt werden, die ein Bild der Umgestaltungen im gesellschaftlichen Bewußtsein geben und es erlauben, die Gründe früherer Konflikte zu verstehen. Eines der charakteristischen Merkmale des Bewußtseins der Polen in den achtziger und auch in den neunziger Jahren ist die Erkenntnis, daß die Gegenwart voller Konflikte ist. Die Ergebnisse von Untersuchungen der Polnischen Akademie der Wissenschaften ("Die Polen...") und von CBOS ("Alte" und "neue" Konflikte) zeigen den Zusammenhang zwischen der Umgestaltung des Systems, der Hoffnung und Enttäuschung einerseits und der Wahrnehmung der Wirklichkeit. Die Ergebnisse sind eine Antwort auf die Frage: Gibt es in Polen Konflikte? Antwort in den Jahren Ja Nein Schwer zu sagen

1984 57% 18% 25%

1987/88 48% 15% 37%

1990 61 % 10% 29%

1994 54% 24% 21 %

Interessant ist es, wie die polnische Bevölkerung die Seiten des Konflikts in verschiedenen geschichtlichen Perioden unter dem Einfluß verschiedener Erfahrungen definierte. Vor 1989 hatte den Konflikt "reiche - arme" Menschen nur ein sehr geringer Teil der Bevölkerung wahrgenommen; von 1992 bis 1994 erhöhte sich diese Wahrnehmung um mehr als das Zweifache. Ein Konflikt, der ab 1989 besonders ins Auge fiel, war der Konflikt in der Machtstruktur. Eine Änderung erfolgte auch in der Wahrnehmung des Konflikts "Staatsmacht Volk". In den achtziger Jahren wiesen auf eine derartige Aufteilung und den Konflikt 20 bis 25 Prozent der Befragten hin. Aber nach der Wende 1990 erwähnten nur noch 4 Prozent diesen Konflikt. Seit 1992 wird dieser Konflikt aber wieder von 20 Prozent der Bevölkerung bemerkt, das heißt, daß ein großer Teil des Volkes sich von der Regierung distanziert. In den achtziger Jahren nahm man den Konflikt als Dichotomie wahr: "Staat - Gesellschaft", "wir - sie", "Staatsmacht - Nation, d.h. die Regierten (Arbeiter, Landwirte, Men-

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sehen)". 11 Wie die Konfliktseiten in den einzelnen Jahren vom Volk wahrgenommen wurden, zeigt die Untersuchung "Die Polen...": Seiten des Konflikts in den Jahren Staatsmacht (Regierung) - Volk Stadt - Land Staatsmacht (alte oder neue) - "Solidarnosc"

1984 24,8 % 6,9% 5,2%

1987/88 22,4 % 0,7% 2,9%

1990 4,2% 9,8% 2,9%

Eine der Hauptursachen für die Beteiligung an sozialen Konflikten ist die Beurteilung der eigenen wirtschaftlichen Lage, die Möglichkeit einer Befriedigung des eigenen Bedarfs. Die Ergebnisse der Untersuchungen von 1984 und 1990 zeigen, wie diese Beurteilungen in der Zeit des realen Sozialismus und nach der Wende, d.h. nach den Erfahrungen der ersten Folgen der Wirtschaftsreform aussahen, die von politischen Eliten der "Solidarnosc" durchgeführt wurden. Aus diesen Untersuchungen geht hervor, daß sowohl 1984 als auch 1990 das Volk das Gefühl einer Verschlechterung der finanziellen Situation hatte; dagegen erhöhte sich die Wahrnehmung negativer Änderungen im Bereich der Beschäftigungssicherheit von 20 Prozent aller Befragten im Jahre 1984 auf 71 Prozent 1990J2 Beurteilung der Bedarfsbefriedigung Finanzielle Bedingungen Beschäftigungssicherheit Bildungsmöglichkeiten für Kinder

Jahr 1984 1990 1984 1990 1984 1990

Verschlechterung 62% 67 % 20% 71 % 17% 30 %

Verbesserung 14% 14 % 13% 4% 15% 15 %

Die in der Serie "Die Polen..." geführten Untersuchungen erfaßten die Umgestaltungen im gesellschaftlichen Bewußtsein der achtziger und neunziger Jahre auch auf anderen Gebieten, z.B. daß die Ursachen der Unzufriedenheit sich geändert hatten. Die erfaßten Unterschiede sind durch die in der Wirklichkeit erfolgten Änderungen voll gerechtfertigt. 13 Probleme zu erledigen Materielle Situation Wohnungen Verbesserung der Versorgung

1981 22,6 % 30,7 % 43,6 %

1984 31,1 % 42,9 % 6,4%

1988 1990 28,6 % 45,4 % 38,9 % 42,1 % 4,4% 0,3%

Vergleichsuntersuchungen zeigen außerdem, daß bis 1990 keine größeren Änderungen im gesellschaftlichen Bewußtsein hinsichtlich des Akzeptanzgrads des Egalitarismus und der Mißbilligung der Arbeitslosigkeit erfolgten. 14

11 Jasiewicz, K.: Od protestu i represji do wolnych wyboröw, W: Polacy '90, Warszawa 1991. 12 Wnuk-Lipinski, E.: Deprywacje spoleczne a konflikty interesöw i wartosci, W: Adamski u.a.: Polacy '90. Konflikty i zmiana, Warszawa 1991. 13 Wnuk-Lipinski, E.: Deprywacje spoleczne a konflikty interesöw i wartosci, W: Adamski u.a.: Polacy '90. Konflikty i zmiana, Warszawa 1991. 14 Kolarska-Bobiriska, L.: Uströj ekonomicznyy a interesy grupowe, W: Polacy '90, Warszawa 1991.

Soziale Konflikte in Polen und die Legitimierung

Akzeptanz des Prinzips einer Begrenzung der Löhne 1980 1981 1984 1988 1990

89,6 % 54,1 % 56,1 % 56,5 % 66,9 %

der Macht

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Akzeptanz des Prinzips der Vollbeschäftigung

1980 1981 1984 1988 1990

77,4 % 78,6 % 53,4 % 59,8 % 54,8%15

Mitte der achtziger Jahre flauten die gesellschaftlichen Konflikte ab, aber die Untersuchungen zeigen, daß 1984 ein Teil der Bevölkerung, unabhängig von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lage, die sozialistische Gegenwart ablehnte. Von 1981 bis 1984 stieg im Volke die Akzeptanz des Protestes an, dagegen verringerte sie sich von 1984 bis 1988. 16 Ein Anstieg der Akzeptanz von Protesten erfolgte erneut in den neunziger Jahren als Folge der Wirtschaftsreformen. Die aus der Teilnahme an den Konflikten der Jahre 1980/81 gebildete Denkungsart brachte 1989 Früchte durch entsprechendes Verhalten während der Wahlen, die dazu beigetragen hatten, den Kommunisten die Macht zu nehmen und das System zu ändern. Man sollte jedoch unterstreichen, daß während der Konflikte der achtziger Jahre keine Forderungen aufgekommen waren, das System in ein kapitalistisches umzuwandeln, auch wurde von den Arbeitern keine Marktwirtschaft angestrebt; sie waren jedoch entschlossen, sich für die Idee der wirtschaftlichen Demokratie, für Lösungen zur Hervorhebung der Rolle des Volkes und einer Machtbegrenzung der Kommunistischen Partei einzusetzen. Das starke Engagement betraf auch den Druck auf die Realisierung ökonomischer und sozialer Forderungen. Die Konzentration der Bevölkerung auf derartige Forderungen in den Jahren 1980/81 erklärt, warum nach der Wende 1989 vor allem politische Ziele unterstrichen wurden, warum man in der politischen Rhetorik vor allem den Begriff "soziale Marktwirtschaft" benutzte und warum in der ersten Phase der Systemumgestaltung nicht die Privatisierung und Reprivatisierung sowie die Restrukturisierung der Industrie als wichtigste Ziele der Transformation des Systems hervorgehoben wurden. Von dem Moment an, als derartige Änderungen in der Wirtschaft akzentuiert wurden, als man die Umgestaltungen am eigenen Schicksal zu merken bekam, verloren diejenigen politischen Eliten, die sich für konsequent neoliberale Lösungen aussprachen, an Popularität. Die Umgestaltung des Systems in Polen erleichterte, wie auch in anderen früher "sozialistischen Ländern", der Zweifel an der Rationalität des vorangegangenen Systems. Schlußfolgerungen daraus zog nicht nur die Opposition, sondern auch ein Teil der kommunistischen Eliten, die sich aus verschiedenen Gründen für die Reformierung des politischen und wirtschaftlichen Systems aussprachen. Diese Tatsache hatte eine gewisse Bedeutung hinsichtlich der Polarisierung der Bevölkerung, des Verlaufs der politischen Konflikte - und bedeutete, daß es an Alternativen fehlte. 15 1990 fand die Arbeitslosigkeit bei 46 % der Befragten keine Akzeptanz. 16 Jasiewicz, K.: Od protestu i represji do wolnych wyborow, W: Polacy '90, Warszawa 1991.

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Gesellschaftliches Bewußtsein und soziale Konflikte in den neunziger Jahren Sowohl der Sieg des "Solidarnosc"-Lagers während der Parlamentswahl als auch die anfängliche Euphorie angesichts der ersten nichtkommunistischen Regierung bedeuteten keineswegs eine Unterstützung des Privateigentums, sondern bewiesen ausschließlich die Abneigung zur alten Macht und zeugten von einer Identifizierung mit der Demokratie. Die Losung der "sozialen Marktwirtschaft" war für den polnischen Arbeiter unverständlich, besonders in einer Situation, in der die Resultate eines Rücktritts vom Staatsinterventionismus vor allem Belegschaftsmitglieder staatlicher Betriebe zu spüren bekamen. Die wirklichen Folgen der Reform übertrafen das Vorstellungsvermögen vieler Werktätigen, die vorher die Notwendigkeit der Reformen akzeptiert hatten. Eine Verknüpfung der durch den Sieg des "Solidarnosc"-Lagers hervorgerufenen Umgestaltungen mit deren sozialen Folgen war für die ehemaligen Anhänger der "Solidarnosc" ein - für eine Nachrevolutionszeit typischer - Schock, denn es gab Enttäuschungen bei den Teilnehmern der Revolution durch die Folgen, die aus ihr hervorgingen. Die neunziger Jahre werden durch folgendes gekennzeichnet: Grundsätzliche Änderungen in den politischen Präferenzen des Volkes, Enttäuschung eines Teils der Bevölkerung über die Reformen, eine große Anzahl sozialer Konflikte, das Gefühl einer Bedrohung, Anstieg von Not und Arbeitslosigkeit, Ratlosigkeit im wirtschaftlichen Verhalten. Viele Soziologen, die in den neunziger Jahren Streiks in Polen untersuchten, formulierten die These, daß es in Polen zu einem Übergang von einem für die frühere Epoche charakteristischen Modell eines industriellen Konflikts zu einem neuen Typ kam, der für die Marktwirtschaft charakteristisch ist, wobei Streiks (der achtziger Jahre) mit politischem Charakter durch Konflikte mit ökonomischem Hintergrund ersetzt wurden. Nicht alle Forscher teilen diese Anschauung. K. Kloc ist der Meinung, daß diese These unbegründet ist, eher dürfte sie die Projektion eines Wunschmodells sein, als der Wirklichkeit zu entsprechen. 17 Nach K. Kloc kommt der für die Marktwirtschaft kennzeichnende industrielle Konflikt in Polen erst zum Vorschein. Die in Polen beobachteten Konflikte der Jahre 1990-1992 waren nach Kloc weder typisch für den Sozialismus, noch wurden sie von den Neoliberalen erwartet. Kloc ist der Meinung, daß die Konflikte der neunziger Jahre als charakteristisch für die Übergangsepoche anzusehen sind. Die Änderung, die mit dem Übergang vom Sozialismus zur Marktwirtschaft verbunden war, rief Konflikte hervor, die nicht nur eine Reaktion auf die Kosten der Reformen war, sondern auch auf die Art, wie das vom vergangenen System übrig gebliebene Vermögen aufgeteilt wird. Der Verlauf der Konflikte in der Periode der Transformation wurde durch einige Etappen gekennzeichnet: 1. Etappe der Euphorie und Bereitschaft, die Kosten der Transformation zu tragen, Glauben in ein Umgestaltungsmodell. (In den ersten Monaten der Realisierung des Reformprogramms war die Anzahl der industriellen Konflikte in Polen sehr gering). 17 Kloc. K.: Konllikty przemystowe - dynamika /¡awiisku w latach 1990-1992. W: Gilcjko. L. (Red.): Prazownicy i ich organizaeje wobcc aktuulnych zagrozen i wyzwaii spoteczno-gospodarczych. Warszawa 1 993.

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2. Etappe der Enttäuschung infolge zu hoher Kosten der Reform und der Art, wie diese durchgeführt wurde (Pathologie der Privatisierung, Wirtschaftsaffären), Desintegration der Bevölkerung. Das ist eine Etappe der Definierung der wirtschaftlichen und sozialen Lage verschiedener Volksgruppen hinsichtlich der Arbeitslosigkeit, des Lebensstandards, der Löhne und Gehälter und des Gesundheitsschutzes, die durch die Entschlossenheit des Widerspruchs gekennzeichnet ist. (Enorme Anzahl der Streiks, Proteste und ähnlicher Aktionen). 3. Etappe der Definierung von Interessen durch verschiedene gesellschaftliche Gruppen; eine Etappe der besseren Anpassung an neue soziale und Wirtschaftsrealitäten, in der das Gefühl der Bedrohung herrscht und Kräfte gesucht werden, die fähig wären, die in der Marktwirtschaft bedrohten Gruppen zu repräsentieren. Diese Etappe befindet sich im Anfangsstadium, dabei ist zu bemerken, daß die Gewerkschaften in Polen sich nicht auf die Rolle eines Verteidigers der Interessen von Werktätigen beschränken wollen, da sie politischen Ehrgeiz haben. Vom Gesichtspunkt einer Analyse gesellschaftlicher Unruhen in Polen aus betrachtet, sind besonders die unter Industriearbeitern durchgeführten Untersuchungen von Bedeutung, denn diese Gesellschaftsgruppe war es, die im Zeitraum 1989-1995 die meisten Streiks in die Wege leitete. Zu den weitere Konflikte (Streiks, Blockaden) initiierenden Gesellschaftsgruppen zählten u.a. Ärzte und medizinisches Hilfspersonal, Schullehrer und Landwirte. Hauptursachen der Streikbereitschaft waren: knappe Arbeitslöhne, Einbuße bisheriger Branchenprivilegien, Angst vor den Folgen einer Besitztumsumgestaltung, Mißbilligung konkreter Privatisierungsformen eines bestimmten Unternehmens, auf negativen Erfahrungen basierende zunehmende Abneigung gegen Privatisierung (pathologische Privatisierung), daneben Furcht vor dem Bankrott des Unternehmens, vor Arbeitslosigkeit und vor fremdem Kapital. Diese Ursachen, in Verbindung mit der Überzeugung von der Belastung durch die Kosten der Reform, determinierten die Verhaltensweise der Werktätigen staatseigener Betriebe. Im Zeitraum 1991-1993 nahm unter den polnischen Arbeitern die Billigung nachstehender, die Realitäten des Wirtschaftslebens gestaltender Grundsätze ab: 1. Entlassung von nicht unbedingt im Betrieb notwendigen Belegschaftsmitgliedern - von 71,5 Prozent auf 50,7 Prozent; 2. Arbeitslosigkeit - von 25,6 Prozent auf 16,3 Prozent; 3. Verzicht auf staatlichen Besitz von Unternehmen - von 35,2 Prozent auf 28,7 Prozent; 4. Bestrebung einer Gleichschaltung des Einkommens alle Menschen im Lande - von 49,6 Prozent auf 38,4 Prozent; 5. Bankrott keinen Ertrag bringender Betriebe - von 72,0 Prozent auf 63,7 Prozent. Untersuchungsergebnisse lassen erkennen, daß sich die Billigung anderer Grundsätze kaum nennenswert geändert hat. Dazu gehört z.B.: Verkauf staatseigener Betriebe an fremdes Kapital - von 15,8 Prozent auf 17,9 Prozent; ausschließlich staatseigene Unternehmen, ohne Rücksicht auf deren Größe - von 22,2 Prozent auf 19,6 Prozent. Aufgrund der in Polen vorgenommenen Untersuchungen und ihrer Ergebnisse lassen sich folgende Schlüsse ziehen: In den aufeinenderfolgenden Jahren läßt sich eine Zunahme des Legitimitätsgrads kapitalistischer Wirtschaftsinstitutionen wahrnehmen, zugleich aber wächst auch die Furcht vor den Konsequenzen der Marktwirtschaft. Im Bewußtsein der Bevölkerung offenbart sich ein klar erkennbarer Zwiespalt zwischen Affirmation und Angstgefühl: "Ja" im

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Makromaßstab (was sich aus der Überzeugung von der Unabwendbarkeit der Umgestaltungen und den Wirtschaftserfolgen in Westeuropa ergibt), und "Nein" in dem den einzelnen betreffenden Maßstab, aus Furcht vor Bedrohungen, vor der die Privatisierung begleitenden Pathologie, vor den zu tragenden Transformationskosten.18 Polnische Arbeiter sind bereit, einen "aufrichtigen" und nicht auf Spekulationen basierenden Kapitalismus zu akzeptieren, doch im gesellschaftlichen Bewußtsein existiert anhaltend das Stereotyp einer schädlichen, pathologischen Privatisierung. Es offenbart sich eine sehr große Furcht vor dem Verlust des Arbeitsplatzes im Falle eines Wechsels der Eigentumsform. Im Bewußtsein der Arbeiter macht sich eine Mißbilligung von Fremdkapital und eine Bevorzugung des einheimischen Kapitals bemerkbar, zugleich aber tritt eine Unlust zur Beschäftigung bei einem polnischen Kapitalisten zum Vorschein. Wie im Jahre 1993 läßt auch im Augenblick die Bewußtseinshaltung polnischer Arbeiter keine Konflikte von landumfassendem Ausmaß vermuten, wohl deshalb, weil sie bereits verschiedene Erfahrungen gesammelt haben und das Gefühl der Bedrohung ziemlich stark differenziert ist. Dabei ist die wirtschaftliche Lage der Betriebe recht unterschiedlich, auch wird die Privatisierung etappenweise realisiert und betrifft nicht alle Unternehmen gleichzeitig, zudem sind verschiedene, die Belegschaften mehr oder weniger zufiedenstellende Privatisierungswege und -verfahren vorgesehen. Die bedeutendsten gesellschaftlichen Konflikte betreffen in Polen nicht Mißverständnisse zwischen Anhängern und Gegnern einer Umgestaltung des Wirtschaftssystems. Sie erscheinen vielmehr als Proteste gegen nicht akzeptierte, die Wirtschaft betreffende Entscheidungen, gegen eine "pathologische" Privatisierung, gegen eine Arroganz der Machthaber sowie als Mittel zur Erzwingung von für den Betrieb und die Belegschaft mutmaßlich günstigen Entscheidungen. Trotz der bisweilen stattfindenden, mitunter tiefgreifenden gesellschaftlichen Konflikte, läßt der Zustand des ökonomischen und politischen Bewußtseins der Bevölkerung Polens keine Hemmung der wirtschaftlichen Umgestaltungen und keinen Rückfall in eine vom Staat gesteuerte Wirtschaft vermuten. Konflikte bedeuten vielmehr eine Ablehnung von hohen Transformationskosten, sind Ausdruck der Unzufriedenheit mit der eigenen Lage und drücken die Hoffnung auf eine Korrektur des Umgestaltungsverfahrens der Wirtschaft aus. Negative Erfahrungen im Zeitraum 1990-1995 sind nicht bedrohlich für die Gesellschaftsordnung. Im Zeitraum 1989-1995 ist die Streikdynamik in Polen sowohl von politischen, wie auch von wirtschaftlichen Faktoren beeinflußt worden. Im Laufe der Jahre 1989 und 1990 waren Streiks ganz selten, was auf die Machtübernahme durch das demokratische Lager und damit verbundenen Hoffnungen zurückzuführen ist. Außerdem gab es damals noch keine Gruppenkündigungen, die Arbeitslosigkeit blieb auf einem angemessenen Niveau, die Betriebe unternahmen Versuche einer Umstellung auf die Regeln der Marktwirtschaft (1990 gab es insgesamt nur 250 Streiks). Eine Zunahme der Proteste machte sich während der Jahre 1991 und 1992 bemerkbar, als fast allen klar wurde, daß das abgesteckte Ziel der Reform die Privatisierung und die freie Marktwirtschaft ist und daß mit dieser Umwandlung unvermeidliche Kosten verbunden sind. Es war die Ursache einer sehr starken Abnahme des gesellschaftlichen Optimismus. 18 Gardawski, J.: Swiadomosc ekonomiczna. Dysonans prywatyzacyjny, strajk generalny, Warszawa 1994.

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Nicht ohne bemerkenswerten Einfluß auf die Stimmung der Bevölkerung blieben auch die aufeinanderfolgenden Regierungswechsel, die in der Regel eine Zunahme der Hoffnungen zur Folge hatten. Besonders klar trat dies in den Jahren 1993-1995 zutage. Aus durchgeführten Analysen gesellschaftlicher Unruhen ergibt sich, daß Konflikte in sehr verschiedenen Berufsgruppen und Bereiche auftraten. Kennzeichnendes Merkmal der Streiks war bis 1992 ein Rückgang der Proteste in Handel und Transport bei gleichzeitiger Zunahme in der Industrie. 1992 traten als neue protestierende Gruppe Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes in Erscheinung. Ergebnisse durchgeführter Untersuchungen lassen erkennen, daß sich die Zeitdauer der Streiks ausdehnt, was sich als zunehmende Unnachgiebigkeit der Protestierenden wie der Arbeitgeber, der Betriebsleitungen und der Regierung, interpretieren läßt. 1989 waren die Polen in ihrer Mehrheit Gegner von Streiks, aber 1992 waren schon 46 Prozent für und nurmehr 37 Prozent gegen Streiks. Unter Arbeitern waren 60 Prozent der Befragten Befürworter und nur 23 Prozent Gegner von Streiks. 1993 fand eine weitere Verschlechterung der gesellschaftlichen Stimmung statt, dennoch war die Intensität der Konflikte kleiner als im Vorjahr. In den Industriebetrieben richtete sich die Streikwilligkeit nach der allgemeinen Verfassung des Unternehmens und der Arbeitnehmer, dem Benehmen der Direktion und der Furcht vor Arbeitslosigkeit. Nicht ohne Bedeutung war auch ein gewisser Verlust des Vertrauens zur Regierung und zum Parlament. Im Jahr 1993 organisierte Streiks sind von verschiedenen Gesellschaftsgruppen politisch ausgenützt worden, doch war deren Anzahl trotz der Radikalisierung der Stimmungen und der Politisierung der Konflikte kleiner. Konflikte in der Industrie sind in Polen durch Auflösung des Parlaments (Juni 1993) und durch Wahlen (September 1993) beschwichtigt worden, woraus sich vermutlich die sehr geringe Anzahl von Streiks im dritten und vierten Quartal des Jahres 1993 ergibt. (Für diesen Zeitraum war eine Mißbilligung von Streiks zugunsten einer Förderung von Verhandlungen kennzeichnend.) Besonders interessant sind die Ergebnisse von in Polen durchgeführten Untersuchungen über Verlauf und Ursache von Streiks. Somit verfügt die polnische Soziologie über umfassendes Material zum Thema der Hauptursachen kollektiver Zwiste und Streiks sowie des Verhaltens der Parteien im Verlauf von Konflikten. 1991 und 1992 sind 73 von Werktätigen beschlossene Protestaktionen untersucht worden. Am häufigsten wurden bei Konflikten Lohnforderungen gestellt, was aber keinesfalls bedeutet, daß diese Forderungen die einzigen bzw. die bedeutendsten waren. Fast immer traten außer ihnen noch Postulate in Zusammenhang mit der Umgestaltung der Besitzverhältnisse, organisatorischen Veränderungen, Entlassungen, Liquidationsbestrebungen der Firma oder einer Mißbilligung der Besetzung bestimmter Posten durch gewisse Personen auf. Meistens handelte es sich dabei entweder um einen Verzicht oder um eine Beschleunigung der Privatisierung, um eine Genehmigung der Umgestaltung der Firma in eine Personalgesellschaft oder um einem Protest gegen Kündigungen. War beispielsweise die Besoldung die konfliktbestimmende Forderung, so wurde sie mit Inflation, Preissteigerungen, Lohnsituationen in anderen Branchen oder einer bedeutenden Differenzierung der Löhne innerhalb der betreffenden Branche begründet.

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Eine andere Protestursache war die teilweise und mitunter sogar völlige Lohnverweigerung durch in Schwierigkeiten steckende bzw. zahlungsunfähige Betriebe. In den genannten Fällen waren die Belegschaften sehr entschlossen, ganz besonders in vom Bankrott bedrohten und zur Liquidation vorgesehenen Unternehmen. 19 Hierzu muß gesagt werden, daß eine Beilegung dieser Konflikte meistens nur auf einem Versprechen der Einlösung der Forderungen, keinesfalls aber auf einer Garantie des Weiterbestehens der Firma beruhte. Durch Umstrukturierungsmaßnahmen hervorgerufene Konflikte wurden größtenteils mit der angestrebten Reduktion der Belegschaften begründet. Gelöst wurden sie fast immer durch eine Verzögerung der geplanten Kündigungen auf gewisse Zeit. Konflikte und Streiks als Proteste gegen Besitztumswechsel manifestierten zumeist das Bestreben der Belegschaften, den Vorgang bzw. die Beschleunigung eines Privatisierungsbeschlusses in einem von ihnen akzeptierten Sinn zu kontrollieren. In gewissen Fällen postulierte man eine Änderung der Rechtsform des Unternehmens zwecks Steuerermäßigung oder Lohnerhöhung. Die in Polen im Zeitraum von 1989 bis 1995 aufgetretenen Konflikte und Streiks waren grundsätzlich verschieden von den traditionellen, in Ländern mit hochentwickelter Marktwirtschaft und dominierendem Privateigentum üblichen Konflikten. Unterschiede betreffen beispielsweise die streitführenden Parteien. Direktoren staatlicher Unternehmen wollten nicht als streitführende Partei auftreten, weil ihre Entscheidungsvollmacht durch oktroyierte Bestimmungen und Vorschriften stark eingeschränkt war und sie deshalb kaum in der Lage waren, den Forderungen der Streikenden nachzukommen. Sehr oft erzwang die Befriedigung von Forderungen einen Verzicht auf die Grundsätze der Wirtschaftspolitik der Regierung gegenüber den Unternehmen. Zu den Besonderheiten polnischer Konflikte (1990-1993) in Industriebetrieben zählt u.a. die Tatsache, daß Streiks zuweilen gemeinsam von Belegschaften und Direktoren initiiert wurden. Eine plausible Erklärung von Ursachen der enormen Anzahl von Konflikten in Polen (besonders bis 1993) ist ohne eingehende Analyse des vom Gefühl einer Bedrohung und Benachteiligung beherrschten gesellschaftlichen Bewußtseins nicht möglich. Ergebnisse empirischer Untersuchungen erbrachten den Nachweis, daß die überwiegende Mehrzahl der Befragten ihre wirtschaftliche Situation nach 1989 als schlechter empfand. So lautete 1992 die Meinung von ca. 75 Prozent der Befragten, 15 Prozent bewerteten ihre Lage als ein wenig schlechter, nur 6 Prozent meinten, sie wäre gleichgeblieben.20 Charakteristisches Merkmal des polnischen gesellschaftlichen Bewußtseins bis 1993 war der Mangel an Optimismus und das Gefühl einer Herabwürdigung, das sich aus der Nichtbefriedigung vieler lebenswichtiger Bedürfnisse ergab. Die Werktätigen nannten an erster Stelle die Sicherung stabiler materieller und beruflicher Gegebenheiten (77-80 Prozent). An zweiter Stelle wurde die Besserung von Arbeitsbedingungen und von Verhältnissen im Betrieb genannt, an dritter der Einfluß auf das Schicksal des Unternehmens. Die Teilnahme an Streiks hatte zuweilen den Zweck, die Lösung von den gesamten Industriezweig betreffenden Problemen zu erzwingen. Häufig war beim Beschluß eines Streiks auf Mediationsversuche verzichtet worden, was sich durch einen Vertrauensverlust der Ge19 Kloc, K./Rychtowski, K.: Spory zbiorowe i strajki w przemysle, W: Przeglad Spokczny 1993. 20 Polakowska-Kujawa, J.: Przejawy zagrozenia w swiadomnosci pracowniköw przedsiebiorstw, W: Biuletyn IGS, Nr. 2, 1992.

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werkschaften erklären läßt und dadurch, daß 54 Prozent der streikenden Werktätigen überzeugt waren, daß niemand ihre Interessen verteidigt. Im mangelnden Vertrauen in Institutionen und in die Effektivität der Gewerkschaften gründete die Streiklust der Polen. Kennzeichnend für die im Zeitraum 1990-1993 organisierten Streiks war der Radikalismus von Haltungen und Ansprüchen. Die Mehrzahl der Streiks war illegal. Es gab Streiks im Gesundheitsdienst, im Erziehungswesen, bei der Eisenbahn (etliche Male). Die Forderungen der Streikenden zielten hauptsächlich auf Lohnansprüche und auf eine Vergrößerung der Staatshaushaltsmittel für die betreffenden Einrichtungen oder eine Umstrukturierung der Branche. Die bedeutendsten Konflikte zielten gegen eine Verringerung der Reallöhne. Viele Proteste (1992) in Form von Streiks und Kundgebungen sind im Landesmaßstab durch die sozialwirtschafdiche Politik der Regierung ausgelöst worden, weitere Konflikte offenbarten sich in der Bekleidungsindustrie, in der Kupfermetallurgie, im Kohlenbergbau, in der Metallurgie, im Kraftfahrzeugbau und im Flugzeugbau. Im Fall von ausländischen Investoren protestierten die Belegschaften gegen vertragliche Verkaufsbedingungen staatlicher Betriebe ohne eine Garantie günstiger Arbeits- und Lohnvoraussetzungen. Kennzeichend für die Arbeitproteste waren im Jahr 1993 ihre geringere Intensität und ein Rückgang der innerbetrieblichen, regionalen und landesweiten Konflikte. Im selben Jahr ging die Zahl radikaler Protestformen, z.B. Hungerstreiks, zurück. 21 Im Jahre 1994 erfolgte eine Zuspitzung der Konflikte im oberschlesischen Bergbau, es streikten ausgewählte Regionen und Branchen. Hauptursachen der Konflikte waren in diesem Zeitraum: die Nichterfüllung von in früheren Abkommen vereinbarten Versprechungen und eine Verschlechterung des Lebensstandards. Da 1994/95 die Anzahl der Konflikte zurückging, verbesserte sich auch die wirtschaftliche Situation.

21 Swirska. J.: Protesty pracownicze w Polscc - przeglad wydarzeriw latach 1992-1994, Warszawa 1994.

Pawel Samus (Lodz)

Die politischen Aktivitäten der polnischen Kommunisten im Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) in den Jahren 1921-1924 Die kommunistische Partei in Polen entstand als eine der ersten der Welt; sie wurde in Warschau am 16. Dezember 1918 gegründet.1 Im Gegensatz zu vielen anderen kommunistischen Parteien entstand die KPP nicht als Folge einer Spaltung der sozialdemokratischen Partei, sondern als Ergebnis einer Vereinigung von zwei Parteien mit international-revolutionärem Programm: der Sozialdemokratie des Königreichs Polens und Litauens (Socjaldemokracja Krölestwa Polskiego i Litwy - SDKPiL) und der Sozialistischen Polnischen Partei-Linken (Polska Partia Socjalistyczna-Lewica - PPS-L). Diese beiden Parteien gehörten der II. Internationale an, ihre Vertreter nahmen an der sogenannten Zimmerwald-Konferenz während des Ersten Weltkrieges teil, und später beteiligten sich viele ihrer Funktionäre aktiv an der Oktoberrevolution in Rußland. In der Geschichte der Beziehungen zwischen der KPP und dem EKKI können wir, wie Feliks Tych zurecht aufzeigt 2 , drei Abschnitte unterscheiden. Der erste Abschnitt umfaßt die Jahre 1919-1921, als die Kontakte zwischen der KPP und der Komintern vor allem deklarativen Charakter hatten, die eine Manifestation von einer Art "Glaubensbekenntnis" (wyznanie wiary) vor dem Hintergrund der fehlenden Kommunikationsverbindungen infolge des polnisch-sowjetischen Krieges darstellten. Im zweiten Abschnitt (1921-1924) nahm die KPP an der Arbeit innerhalb der KI teil, behielt aber dennoch eine relativ große Autonomie in programmatischen und taktischen Angelegenheiten sowie in den Entscheidungen über die Besetzung von Führungspositionen in der Partei. Diesem Abschnitt ist der vorliegende Aufsatz gewidmet. Der dritte Abschnitt (1924-1938) begann nach dem 5. Kongreß der KI, als die Eingriffe der Kominternführung in die inneren Angelegenheiten deutlich zunahmen und zeitweise in ein Diktat übergingen, und endete mit der Auflösung der KPP 1938. Die Führung der KPP, die von dem bevorstehenden Ausbruch der sozialistischen Revolution in den europäischen Ländern, vor allem in Deutschland, überzeugt war, deklarierte bereits zu Beginn des Gründungsparteitages ihrer Partei den Beitritt zur III. Internationale, die gerade in einer solchen Situation entstehen sollte.3 1 Auf der Gründungskonferenz wurde ihr die Bezeichnung Kommunistische Arbeiterpartei Polens gegeben. 1925 wurde sie zur Kommunistischen Partei Polens umbenannt (im weiteren KPP - die im Text verwendete Abkürzung gilt für den gesamten Zeitraum ihres Bestehens). 2 Tych, Feliks: Between Moscov and Berlin, The Communist Party of Poland, in: Rojahn, Jürgen (Hrsg.): The Communist International and its National Sections 1919-1943 (i.D.). 3 Swietlikowa, Franciszka: Komunistyczny Partie Robotniczy Polski 1918-1923, Warschau 1968, S. 112; Protokoly kongressov Komunisticheskogo Internacionala, Piervyi Kongress Kominterna, Moskau 1933,

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Auf dem Gründungskongreß der KI in Moskau (2. - 6. März 1919) war der offizielle Delegierte der KPP Jözef Unszlicht. Er unterstützte Lenins Antrag auf eine sofortige Konstituierung der KI. Im weiteren polemisierte er mit dem Delegierten der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), Hugo Eberlein, der die Gründung einer III. Internationale in der damaligen Situation als verfrüht ansah. 4 Unszlicht vertrat genauer genommen nur die polnischen Kommunisten, die sich in der russischen Sowjetunion aufhielten. Er selbst, der bis vor kurzem einer der Führer der SDKPiL gewesen war, erfüllte, ähnlich wie seine anderen Parteigenossen, eine wichtige Funktion in den Organen des sowjetischen Machtapparates. Währenddessen erklärte die KPP in Polen, die durch die Front von Rußland getrennt war, erst im Juni 1919 offiziell ihren Beitritt zur KI. 5 Im Mai 1920 wurde Julian Marchlewski, der sich damals gleichfalls in Rußland aufhielt, der Vertreter der KPP in der KI. Er leitete auch die Arbeiten einer Kommission, die ein Agrarprogramm der Komintern vorbereitete. Gleichzeitig war er auch der einzige offizielle Vertreter der KPP auf dem 2. Kongreß der Komintern (19. Juli - 7. August 1920), da die polnische Partei aufgrund des polnisch-sowjetischen Krieges von der III. Internationale abgeschnitten war. Seit Februar 1921 war Henryk Walecki, der zu jener Zeit als Mitglied der für auswärtige Angelegenheiten zuständigen Führungsgruppe der polnischen Partei in der Emigration lebte, der KPP-Vertreter in der Komintern. In der Vergangenheit hatte er zu den Führern der PPS-L gehört. 6 Erst zum 3. Kongreß der KI (22. Juni - 12. Juli 1921) kam eine große Gruppe polnischer Kommunisten nach Moskau. Sie setzte sich aus 20 Personen zusammen, unter ihnen befanden sich einige Führer und führende Funktionäre der KPP. Auf dem 3. Kongreß der Komintern war das Hauptmotto "die Gewinnung der Massen". Der Kongreß verurteilte radikale Tendenzen in der internationalen kommunistischen Bewegung. In den Diskussionen über die Thesen zur Taktik der Komintern und auch auf den Sitzungen der polnischen Delegierten blieben die KPP-Vertreter nicht bis zum Schluß konsequent. Einige von ihnen (z.B. Walecki, Stefan Krölikowski) waren mehr aus Angst vor einer Spaltung in der Komintern bereit, sich für die Annahme der Thesen auszusprechen; die Mehrheit jedoch forderte eine Überarbeitung der Thesen. So schlug auch Adolf Warski, der in der Diskussion Lenin in seinem Kampf mit den Ultralinken unterstützte, in der Schlußfolgerung seiner Rede im Namen der polnischen Delegation Verbesserungen vor. Ahnlich verfuhr Henryk Lauer, nach dessen Meinung die Gefahr der ultralinken Abweichung überbewertet wurde. Die polnische Delegation (Walecki, Warski, Lauer, Juliusz Rydygier, Waclaw Kwiatkowski) nahm zusammen mit den Vertretern der deutschen, tschechischen, ungarischen und italieniS. 253-256; Degras, Jane (Hrsg.): The Communist International 1991-1943, Documents, Vol. 1, 19191922, London/New York/Toronto 1956, S. 1-5. Außerdem liegen die Protokolle der KI auch in deutscher Sprache vor. 4 Wystapienie przedstawiciela KPRP Jozefa Unszlichta na I kongresie Miedzynarodowki Komunistycznej, in: Z pola walki 1969, Nr. 2, S. 125-129. 5 Swietlikowa, Franciszka: Komunistyczny Partie Robotniczy Polski 1918-1923, Warschau 1968, S. 112. 6 Dejatalnost' Ispolnitelnego Komiteta i Prezidiuma IK Kommunisticheskogo Internacionala ot 13 ijula 1921 goda do 1 fevrala 1922 goga, Petrograd 1922, S. 5-6; Kancewicz, Jan (Hrsg.): Maksymilian Horwitz-Henryk Walecki, Biobibliografia, in: Z pola walki 1958, Nr. 4, S. 253; Tych, Feliks/Schumacher, Horst: Julian Marchlewski, Warschau 1966, S. 319-324.

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sehen Delegationen (11. Juli) an einem Treffen mit Lenin teil, auf dem Lenin die Opponenten von der Notwendigkeit der Annahme der elastischen und behutsamen Taktik durch die Komintern überzeugte. Letztendlich sprachen sich die polnischen Kommunisten grundsätzlich für die taktische Linie aus, die vom 3. Kongreß der KI beschlossen wurde. 7 Der 3. Kongreß verabschiedete auch die Forderungen nach einer Reorganisation der Führungspositionen in der Komintern und nach der Erweiterung ihrer Zusammensetzung. Diese Veränderungen kamen den KPP-Funktionären entgegen, die nach der Isolationsphase von der Komintern einen Ausbau der Kontakte und eine Intensivierung der Verbindungen mit ihr anstrebten. Bekanntlich wurde die Organisationsstruktur der III. Internationalen auf ihrem Gründungskongreß nicht bestimmt, es wurde lediglich das sogenannte Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationalen (EKKI) gebildet. Dieses Organ setzte sich aus den Vertretern derjenigen Parteien zusammen, die am Gründungskongreß teilgenommen hatten. Auf dem 2. Kongreß wurden hingegen die ideologischen und organisatorischen Grundsätze für die kommunistischen Parteien sowie die Bedingungen ihrer Zugehörigkeit zur Komintern (die sogenannten 21 Bedingungen) beschlossen. Auf ihm wurde auch das Statut der KI angenommen, das die Organisationsstruktur der KI gemäß dem Grundsatz des Zentralismus festlegte. Aus dem Dokument geht hervor, daß die Komintern eine "einheitliche, die ganze Welt umspannende kommunistische Partei" sein sollte, "deren einzelne Sektionen die in jedem Land tätigen Parteien sind". 8 Dennoch sollte es sich um eine Organisation handeln, die im Vergleich mit der II. Internationale auf anderen Grundsätzen aufgebaut sein und nach anderen Mechanismen funktionieren sollte. Der Aufbauprozeß solcher Strukturen und Funktionsmechanismen dieser revolutionären und zentralisierten Organisation von globalem Ausmaß dauerte jedoch noch einige Jahre. Nahezu von Anfang an erregten einige Aufbaugrundsätze und taktische Richtlinien Vorbehalte bei den Funktionären der westeuropäischen Parteien, die der Komintern beitraten. Bereits auf dem 2. Kongreß lösten jene Punkte der "21 Bedingungen" eine heftige Polemik aus, in denen von der notwendigen Anerkennung der Formel von der Diktatur des Proletariats als dem programmatischen Kardinalgrundsatz und von der fernung der Reformisten und Zentristen aus den Führungspositionen in der Arbeiterbewegung durch die Mitgliederparteien die Rede war. Im Statut erkannte die Komintern den Weltkongreß der Mitgliederparteien als die wichtigste Instanz an. Zwischen den Kongressen sollte das EKKI das Führungsorgan sein, das auf dem Kongreß gewählt wurde und ihm verantwortlich war. Anfänglich delegierten jedoch die einzelnen Parteien ihre Vertreter in das EKKI, formale Wahlen fanden erst 1922 statt. Die zahlenmäßige Zusammensetzung dieses Komitees wechselte häufig. Auf dem 2. Kongreß wurde das EKKI aus den Vertretern der 20 Parteien und Mitgliederorganisationen gebildet. Auf dem folgenden 3. Kongreß wurde der Beschluß gefaßt, die zahlenmäßige Zusammensetzung des EKKI zu erweitern und in ihm die Vertreter aller vereinigten Parteien und Organisationen aufzunehmen. Weitere Veränderungen erfolgten auf dem 4. Kongreß (1922), als der 7

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Tretij vsemimyj kongress Kommunisticheskogo Internacionala. Stenograficheskij otehet, Petrograd 1922, S. 111-112, 246, 275; Nevolina, Velmira: "III kongress Komintema i Kommunisticheskaja Rabochaja Partia Polshi" in: Tretij kongress Komintema, Razvitie kongressom politicheskoj linii kommunisticheskogo dvizhenia, Moskau 1975, S. 512-520. Protokoly kongressov Kommunisticheskogo Internacionala, Vtoroj kongress Komintema VII-VIII 1920, Moskau 1934, S. 536.

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Vorsitzende des EKKI, die 24 Mitglieder und ihre 10 Stellvertreter gewählt wurden. In den folgenden Jahren vergrößerte sich das EKKI erheblich.9 Zu den Pflichten dieses Organs gehörte die gesamte Führung der Kominternaktivitäten und die Koordinierung der Tätigkeiten der einzelnen Sektionen. Das EKKI besaß gemäß dem Statut Kontrollfunktionen gegenüber den Mitgliederparteien bezüglich der Organisationsdisziplin und hinsichtlich der Verwirklichung der vom Kongreß festgelegten taktischen Linie. Die Kontrollkompetenzen und die Zentralisierungsrolle des EKKI gegenüber den kommunistischen Parteien vergrößerten sich mit der Zeit, was seinen Niederschlag in den auf dem 5. (1924) und 6. (1928) Kongreß der KI angenommenen Statuten fand. Gemäß der Resolution des 3. Kongresses stellte der sogenannte Grundsatz von der Versetzung der Funktionäre, d.h. der Austausch von Führungskadern zwischen den Sektionen, eine spezifische Regel in der Kominternpraxis dar. Das EKKI war in Übereinstimmung mit dem Statut zur Entsendung ihrer Vertreter zu den einzelnen kommunistischen Parteien befugt. Von Anfang an wurde davon auch Gebrauch gemacht. Die Bevollmächtigten des EKKI wurden zwar einerseits zur engen Zusammenarbeit mit den Zentralkomitees der Parteien verpflichtet, andererseits konnten sie nur von der Kominternführung zur Rechenschaft gezogen werden. Jene Gesandte, unter ihnen auch einige polnische Kommunisten, die in viele Länder delegiert wurden, spielten dort eine große Rolle beim Aufbau von kommunistischen Parteien und ihren Aktivitäten, wobei sie hin und wieder mit den Führern der einzelnen kommunistischen Organisationen in Konflikt gerieten. 10 Die Struktur der Komintern und ihre Funktionsgrundsätze stützten sich auf das Modell der Kommunistischen Partei Rußlands (KPR). Von Anfang an spielten auch russische Funktionäre in den Führungspositionen der Komintern - selbst in den einzelnen Bezeichnungen spiegelte sich das Vorbild der bolschewistischen Partei wieder - eine dominierende Rolle. Dies war teilweise durch die großen Kaderprobleme der neuen Internationale selbst bedingt, die eine bestimmte Zeit lang von der Welt durch die Blockade und durch den Bürgerkrieg abgeschnitten war. Der Hauptgrund liegt jedoch vor allem im sogenannten konsequenten Bolschewisierungsprozeß der Komintern. 11 In der III. Internationale gewann immer mehr eine Tendenz an Boden, die Erfahrungen der größten Sektion, d.h. der KPR, und ihre politischen und organisatorischen Konzepte als für die gesamte internationale kommunistische Bewegung gültige Lösungen anzuerkennen. Für viele schien dies die natürliche Konsequenz der bestehenden Situation gewesen zu sein, da nämlich bis zu jener Zeit lediglich die Bolschewiki Erfolge aufweisen konnten, während gleichzeitig alle Versuche revolutionärer Auftritte im Westen mit Niederlagen endeten. Der Erfolg der Bolschewiki im November 1917 und der Aufbau 9 Biulleten IV kongressa Kommunisticheskogo Internacionala, 1922, Nr. 32, S. 32; Fourth Congress of the Communist International, Abridged Report of Meetings held at Petrograd and Moscov Nov. 7 - Dec. 3 1922, London 1923, S. 295; Dejatelnost' Ispolnitelnogo Komiteta, S. 5-7; Degras, Jane (Hrsg.): The Communist International, Bd. 1, S. 436-442; Kahan, Vilem: The Communist International 1919-1943, The personnel of its highest bodies, in: International Review of Social History, 1976, Nr. 2, S. 151-169. 10 Tezisy i rezolucii III kongressa Kommunisticheskogo Internacionala, Moskau 1921, S. 55; V Vsemimyj kongress Kominterna, Stenograficheskij otchet, Bd. 2, Moskau/Leningrad 1925, S. 91-92; VI kongress Kominterna, Stenograficheskij otchet, Bd. 6, Moskau/Leningrad 1929, S. 164-165. 11 Vgl. Lazitch, Branko/Drachkovitch, Milorad M.: Lenin and the Comintem, Bd. I, Stanford 1972, S. 140-144; Gruber, Helmut: International Communism in the Era of Lenin. A documentary history, Ithaca, N.Y. 1967, S. 13-15,277-279.

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eines sowjetischen Staates wurde als Argument anerkannt, das die Richtigkeit der Thesen Lenins von der führenden Rolle einer zentralistischen kommunistischen Partei bei der Erlangung und der Aufrechterhaltung der Macht bestätigte. Um die Nachteile und die Schwächen der II. Internationale zu vermeiden, vor allem ihre Unfähigkeit zum erfolgreichen Handeln, wurde die Struktur der Komintern nach dem Modell der zentralistischen bolschewistischen Partei geschaffen. Deswegen wurde auch das EKKI als eine Art Kommandostab der Weltrevolution ins Leben gerufen, das mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet war, über einen Apparat von Berufsrevolutionären und über finanzielle Mittel verfügte, die für die revolutionäre Tätigkeit bestimmt waren. Der Hegemonieausbau der KPR-Funktionäre in der Komintern führte zur Einrichtung ihrer Zentrale in Moskau. Die Konsequenz einer solchen Situation war einerseits die mit der Zeit fortschreitende, auch materielle Abhängigkeit von der KPR und vom sowjetischen Staat - besonders jener Parteifunktionäre, wie die der polnischen Partei, die in ihrer Heimat nicht legal tätig sein konnten - und andererseits auch die Gefahr einer direkten Einflußnahme auf die Komintern nicht nur infolge von Führungswechseln in der bolschewistischen Partei, sondern auch infolge von Veränderungen in den politischen Richtlinien dieser Partei. Die Funktionäre der westeuropäischen kommunistischen Parteien hatten gegenüber der Kominternführung gewisse Vorbehalte sowohl bezüglich der Art und Weise als auch des Tempos bei der Realisierung des Grundsatzes vom "demokratischen Zentralismus" und ferner hinsichtlich der Interpretation dieses Grundsatzes allein im Geiste des Bolschewismus. Sie protestierten gegen die großen Kontrollkompetenzen des EKKI und ihrer Bevollmächtigten gegenüber den nationalen Sektionen der Komintern, d.h. gegen Kompetenzen, die in der Praxis die offene Einmischung in innere Angelegenheiten der einzelnen Parteien förderten. Sie protestierten auch gegen die Ignoranz seitens der Komintern bezüglich der Traditionen und spezifischen historischen Bedingungen in den einzelnen Ländern. Dies waren auch die Gründe, die z.B. zum Konflikt zwischen dem EKKI und der norwegischen Arbeiterpartei in den Jahren 1922/23 und letztendlich zum Bruch der Mehrheit dieser Partei mit der Komintern führten. 12 Schon bald kam es auch zu Konflikten zwischen dem EKKI und der Führung der polnischen Partei. Davon konnte jedoch unmittelbar nach dem 3. Kongreß der KI noch keine Rede sein. Im Gegenteil, damals strebten die polnischen Funktionäre eine Erweiterung und Intensivierung der Kontakte mit der Komintern an, von der sie vorher abgeschnitten waren. Anfänglich vertraute die KPP-Führung ihr Mandat im EKKI Stefan Krolikowski an. Er verblieb jedoch nicht lange auf diesem Posten, schon bald übertrug die polnische Kongreßdelegation diese Funktion Edward Pröchniak. 13 Die endgültige Entscheidung über die Vergabe des Vertretermandats der Partei im EKKI mußte das ZK der KPP nach der Rückkehr der KPP-Delegation nach Polen fällen. 14 12 Ispolnitelnyj Komitet Kommunisticheskogo Internationala, Plenum VI 1923, Otchet, Moskau 1923, passim; Lorenz, Einhart: Norwegische Arbeiterbewegung und Kommunistische Internationale 1919-1930, Untersuchung zur Politik der norwegischen Sektion der Kommunistischen Internationale, Oslo 1978. 13 Vgl. Lazitch, Branko/Drachkovitch, Milorad M.: Biographical Dictionary of the Comintern, Stanford 1973. 14 Nevolina, Velmira: Miedzynarodöwka Komunistyczna i revolucyjna wsölpraca RKP(b) z Komunistyczna Paria Robotnicza Polski (1918-1923), in: Polska-ZSRR, Bd. 1, Warschau 1977, S. 408-409.

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Edward Pröchniak begann unverzüglich nach seiner Nominierung mit der Wahrnehmung der ihm übertragenen Verpflichtungen. Bereits ab dem 27. Juli nahm er an den Sitzungen des EKKI teil und repräsentierte am 4. August zusammen mit Henryk Lauer die polnische Partei in den Sitzungen des Exekutivbüros der Roten Internationalen der Gewerkschaften. Im August bereitete er für das EKKI den ersten Tätigkeitsbericht der KPP in Polen vor. 15 Gleichzeitig begann er auch mit der Organisierung der Parteivertretung im EKKI. Die Struktur und die Funktionen dieses Organs bildeten sich erst allmählich. Sein Apparat setzte sich zusammen aus einer Führungszelle ("Sektion"), die ihren Sitz in Moskau hatte sowie aus drei Zellen, die in der Nähe der polnisch-sowjetischen Grenze verteilt waren. Zu den Aufgaben der Parteivertretung gehörte zum einen die systematische Versorgung der Kominternführungsinstanzen mit Informationen über die revolutionäre Bewegung und über die gesellschaftlich-politische Situation in Polen sowie die Übermittlung eines bestimmten Teils des InformationsService an die russische Presse und zum anderen die Wahrnehmung der Verbindungs- und Übermittlungsfunktion für Informationen und Ratschläge des EKKI an das ZK der KPP. Der Parteivertretung beim EKKI unterstand auch die Verwaltung der finanziellen Angelegenheiten.16 Das Statut der Komintern verpflichtete zwar die einzelnen Sektionen zur Zahlung von Mitgliedsbeiträgen an die KI, doch in der Praxis sah es ganz anders aus, vor allem wenn es um illegale Parteien ging. Solche Parteien, zu denen auch die KPP gehörte, benötigten selbst finanzielle Hilfe. Aus diesem Grunde überwies das EKKI, das vorwiegend durch die russische Partei finanziell unterstützt wurde, entsprechende Mittel über die Parteivertretung an die jeweiligen Parteiführungen, in diesem Fall der polnischen Partei, zu ihrer Disposition. Zwangsläufig bildete sich mit der Zeit auch in diesem Bereich ein Abhängigkeitsverhältnis der einzelnen Parteien, vor allem der in ihrer Heimat illegal tätigen, von der Komintemführung und somit auch mittelbar von der KPR heraus. Auf ihrer Sitzung vom 5. September 1921 nominierte das ZK der KPP offiziell Henryk Walecki als Parteivertreter beim EKKI und Edward Pröchniak als seinen Stellvertreter. Auf der selben Sitzung wurde auch der Beschluß gefaßt, daß in Waleckis Abwesenheit Pröchniak die polnische Partei mit bindendem Stimm- und Unterzeichnungsrecht im EKKI vertreten wird. 17 Walecki war auch tatsächlich mit der Arbeit in vielen Kommissionen des EKKI betraut; so wurde er auch in die internationale Kontrollkommission und später ins Präsidium des EKKI (März 1922) gewählt. Er reiste zudem oft als Bevollmächtigter des EKKI zu westlichen kommunistischen Parteien - im Oktober 1921 zum Parteitag der italienischen sozialistischen Partei nach Mailand, im Dezember nach Marseille zum Parteitag der Kommunistischen Partei Frankreichs, und im Sommer 1922 begab er sich für längere Zeit nach Nordamerika mit der Absicht, die Spaltung der kommunistischen Partei zu verhindern. 18 In dieser Situation nahm Pröchniak fast von Anfang an die faktische Funktion des polnischen Parteivertreters beim EKKI ein und wurde zwangsläufig gemäß Beschluß vom 3. Kongreß der Komintern auch Mitglied dieser Instanz. 15 Archiwum Akt Nowych w Warszawie (weiter AAN), Miedzynarodowka Komunistyczna (weiter MK) 151/VÜ-l/l, S. 5-11, 151/VII-4/1, S. 3; Dejatelnost' Ispolnitelnogo Komiteta, S. 9, 39. 16 AAN, Komunistyczna Partia Polski (weiter KPP), Mikrofilm 1/1; Nevolina, Velmira: Miedzynarodowka Komunistyczna, S. 408. 17 AAN, KPP Mikrofilm 1/1, Der Brief vom ZK der KPP an das EKKI vom 6.9.1922. 18 Kancewicz, Jan (Hrsg.): Maksymilian Horwitz, S. 253-255.

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Pröchniak und Walecki sammelten, ähnlich wie die Vertreter der bolschewistischen Partei vor 1917, revolutionäre Erfahrungen in den Reihen der Organisationen, die im zaristischen Staat im Untergrund tätig waren, wobei sich diese Erfahrungen wesentlich von denjenigen unterschieden, welche die Funktionäre legaler sozialdemokratischer Parteien in den westlichen Ländern aufweisen konnten. Unter den Mitgliedern des damaligen EKKI stellten die Vertreter der polnischen Partei zusammen mit einigen Kommunisten aus anderen Ländern eine kleine Gruppe nichtrussischer Funktionäre dar, die praktische Erfahrungen aus den zwei russischen Revolutionen von 1905 und 1917 einbrachten. Zu der Gruppe, die an den Ereignissen von 1917 teilnahm, gehörten neben den polnischen Funktionären unter anderem Belä Kun und Mätyas Räkosi (ungarische Partei) und Alois Muna (tschechische Partei). Darüber hinaus gehörte Pröchniak zu einer Gruppe von Funktionären (z.B. Kun, Jänos Lekai, Räkosi in der ungarischen Regierung, Otto Kuusinen, Kullervo Manner und Yrjö Sirola in der finnischen, Hans Pögelmann in der estnischen, Peter Stuczka in der lettischen und Zigmas Angaretis in der litauischen), die in revolutionären Regierungen saßen, die für kurze Zeit in Ländern Ostmitteleuropas in den Jahren 1918-1920 existierten. Unter den Mitgliedern der führenden Kominterninstanzen überwogen in der hier in Frage kommenden Zeit die Vertreter der sogenannten Intelligentsia. In der Regel waren es Leute mit Abitur, mit Universitätsabschlüssen, einige mit Fachhochschulabschlüssen oder abgebrochenem Hochschulstudium, einige besaßen auch einen akademischen Doktorgrad (z.B. Sima Markovic, Ernst Meyer, Walecki). Unter ihnen befanden sich Ökonomen, Juristen, Ingenieure, Journalisten, Lehrer, ein ehemaliger protestantischer Pastor (Jules Humbert-Droz), Maler und Beamte. Im Gegensatz dazu gehörte Pröchniak, der zweite Vertreter der polnischen Partei, einer einige Dutzend zählenden Gruppe von Funktionären mit proletarischer Herkunft an, die als Arbeiter oder in ähnlichen Berufen gearbeitet hatten, bevor sie sich ganz der revolutionären Tätigkeit widmeten. Ähnlich wie er waren auch die anderen Autodidakten (z.B. Thomas Bell, Heinrich Brandler, Fritz Heckert, Karl Kilbom, Arthur MacManus, Robert Stewart), die führende Positionen in ihren Parteien innehatten und manchmal sogar typisch "intellektuelle" Funktionen ausübten, wie z.B. Redakteure der Parteipresse. 19 Das am 13. Juli 1921 konstituierte EKKI trat gewöhnlich ein paar Mal im Monat zusammen. Die Vertreter der KPP beteiligten sich aktiv in dieser Instanz. Ab dem 11. Juni 1922 nahm Pröchniak an 17 Sitzungen sowie an einem Präsidiumstreffen des EKKI teil. Im Gegensatz dazu war Walecki, der oft in Missionen zu westlichen kommunistischen Parteien unterwegs war, bei vier Sitzungen des EKKI und an sieben Präsidiumstreffen anwesend. 20 Eine wichtige Rolle innerhalb der Komintern spielten die erweiterten Plenen des EKKI, die zwischen den Kongressen zur Beschlußfassung in besonders wichtigen Fragen einberufen wurden. Außer den Mitgliedern des EKKI nahmen an ihnen auch Delegierte der einzelnen kommunistischen Parteien teil. Auf dem 1. Erweiterten Plenum des EKKI (21. Februar - 4. 19 Lazitch, Branko/Drachkovitch, Milorad M.: Biographical Dictionary of the Comintern, Stanford 1973; Kahan, Vilem: The Communist International 1919-1943, S. 151-169; 5 let Kominterna v reshenijach i cifrach, sostavil A. Tivel, Moskau 1924, S. 42-45.; 10 let Kominterna v resheniach i cifrach, sostavil A. Tivel, M. Cheimo, Moskau 1929, S. 307. 20 Dejatelnost' Ispolitelnogo Komiteta, passim: Bericht über die Tätigkeit des Präsidiums und der Exekutive der Kommunistischen Internationalen für die Zeit vom 6. März bis 11. Juni 1922, Hamburg 1922.

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März 1922) wurde die polnische Partei von Pröchniak und Walecki, Adam Landy und Julian Brun repräseniert. Auf den ersten Plenarsitzungen wurden einige Problemkommissionen gebildet, darunter auch die Kommission "Polen". Sie setzte sich aus den beiden Antragstellern, Grigorij Sinowjew und Karl Radek, den Mitgliedern der polnischen Delegation sowie Vertretern anderer Parteien zusammen. Sinowjew und Radek versuchten erfolglos, die polnischen Delegierten davon zu überzeugen, daß in den Plenarsitzungen die dogmatische Linie des KPP-Programms in nationalen und Agrarfragen diskutiert werden sollte, um dadurch die Programmänderungen im Geiste der leninistischen Formel zu beschleunigen. Die KPP, die in ihrem Streben nach einer internationalen sozialistischen Revolution von Anfang an den wiederentstandenen polnischen Staat nicht akzeptierte, erkannte die bürgerliche Staatlichkeit als ein Hindernis auf dem Weg zum Umsturz, sie verwarf auch Postulate, die von indirekten Kampfphasen und Kampfformen bei demokratischen Veränderungen im politischen und sozialen Bereich in Polen ausgingen. Die KPP hielt auch am traditionellen Programm der SDKPiL in der Agrarfrage fest, indem sie lediglich an dem landwirtschaftlichen Proletariat Interesse zeigte und die Vergesellschaftung der gesamten Landwirtschaft forderte. Die polnischen Delegierten nahmen weder die Bildung einer solchen Kommission noch den Vorschlag, über diese Probleme auf der Plenarsitzung zu diskutieren, mit Begeisterung auf. Sie sahen diese Schritte als verfrüht an, weil die Angelegenheit, die strittig war, ihrer Meinung nach erst in der KPP selbst vorbereitet werden müßte.

Einheitsfront Das wichtigste Thema auf dem 1. Erweiterten Plenum des EKKI war die Frage nach der Einheitsfront in der internationalen Arbeiterbewegung. In den von dieser Instanz vorgelegten Thesen war die Rede von einer möglichen Verständigung zwischen den Kommunisten auf der einen und den Führern der sozialdemokratischen Parteien und den Gewerkschaften, die in der Amsterdamer Internationale vereinigt waren, auf der anderen Seite hinsichtlich einer Zusammenarbeit in der Einheitsfront im Kampf des Proletariats gegen die Kapitalisten. Die polnische Delegation verwies auf die spezifischen polnischen Bedingungen und die Schwierigkeiten bei der Realisierung dieser Taktik, dennoch sprach sie sich für die Annahme der vom EKKI diesbezüglich vorgeschlagenen Resolution aus. Trotz des Einspruchs der ultralinken Funktionäre (italienische, spanische und Teile der französischen Delegation) nahm das Plenum einen diese Thesen bestätigenden Beschluß mit Stimmenmehrheit an. Es wurde auch die Entscheidung getroffen, an der geplanten Konferenz der drei Internationalen (III.; II 1/2. und III.) teilzunehmen, wobei auch vorgeschlagen wurde, die Vertreter aller Gewerkschaften der Welt sowie ihre internationale Vereinigung zu diesem Treffen einzuladen. 21 Auf dem 2. Erweiterten Plenum des EKKI (7.-11. Juni 1922) war Pröchniak der KPP-Repräsentant. Auf der Sitzung wurden die mit der Berliner Konferenz der drei Internationalen zusammenhängenden Probleme besprochen. Daneben kamen aber auch Angelegenheiten anderer Parteien zur Sprache, wobei sehr viel Aufmerksamkeit der Situation in der Kommunistischen Partei Frankreichs und der Krise gewidmet wurde, die in dem Verhältnis zwischen 21 AAN, MK 151/VÜ-4/2, S. 13-14; KPP Mikrofilm 1/2-3, Die Briefe von Pröchniak und Walecki an das ZK der KPP in der Zeit Januar-März 1922.

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dieser Partei und der Komintern bestand. Das Vorgehen der Komintern-Delegation auf dem Berliner Treffen wurde genehmigt. Ferner wurde entschieden, die Politik der Einheitsfront fortzusetzen. Kritik erfuhren, vor allem von Sinowjew und Radek, die sektiererischen und ultralinken Ansichten, die von Funktionären der italienischen, französischen und tschechischen KP hinsichtlich der Einheitsfront formuliert wurden. Wie Pröchniak in seinem Plenumsbericht unterstrich, dominierte nicht nur in den Auftritten der beiden oben erwähnten Redner, sondern während der gesamten Plenarsitzung die Ansicht, daß der Schwerpunkt der Einheitsfront nicht in dem geplanten globalen Arbeiterkongreß zu sehen sei, sondern in konkreten Aktionen des Proletariats in den jeweiligen Ländern. 22 Nach Abschluß der Plenarsitzung tagte noch das Präsidium des EKKI, um über die Aufnahme des Kombund (Jüdischer kommunistischer Arbeiterverband in Polen) in die Komintern zu entscheiden. Diese Organisation entstand nach der Spaltung des Bund (Januar 1922), und in Anbetracht der programmatischen Übereinstimmung mit der KPP schloß der Kombund mit der KPP ein Abkommen über Zusammenarbeit und über die Möglichkeit einer in der Zukunft vorzunehmenden Vereinigung. Einstweilen stellte der Kombund den Antrag auf Aufnahme in die Komintern, wobei gleichzeitig der Wunsch nach Beibehaltung einer eigenen, von der KPP unabhängigen Organisationsstruktur geäußert wurde. Das Präsidium des EKKI nahm den Antrag an. Am selben Tag gab Pröchniak im Namen der polnischen Partei eine Erklärung ab, in der er gegen die Entscheidung der Kominternführung protestierte. Er verwies in diesem Dokument darauf, daß die gleichzeitige Existenz von Kombund und KPP unbegründet und für die kommunistische Bewegung unnötig sei. Er war der Meinung, daß die polnische Partei als einheitliche Organisation mit Erfolg den Kampf des gesamten Proletariats in Polen, und somit auch des jüdischen Teils, führen könnte. Sinowjew verteidigte aber noch eine Zeit lang die organisatorische Eigenart des Kombund bei gleichzeitiger Zusammenarbeit mit der KPP, was zur Ausweitung des kommunistischen Einflusses auf die jüdischen Arbeiter beitragen sollte. Letztendlich folgte das EKKI der Einstellung von Pröchniak mit der Annahme einer Resolution über die Notwendigkeit einer Vereinigung des Kombund mit der KPP im September 1922. 23 Pröchniak nahm anfänglich an den Tagungen der Agrarkommission des EKKI teil (Juli/ August 1922). Hier trat er als offizieller Vertreter der KPP auf, später jedoch schlug er dem ZK der KPP vor, diese Funktion gleichzeitig auch Julian Marchlewski anzuvertrauen, der als hervorragender Kenner der Agrarproblematik eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung des Agrarprogramms der Komintern spielen könne. Pröchniak unterstrich aber in seiner Korrespondenz, daß er andere Ansichten in der Agrarfrage habe als Marchlewski. Marchlewski hatte nämlich seine früheren Ansichten, in denen er die Vergesellschaftung der Landwirtschaft als Hauptziel der Revolution verteidigte, nicht geändert. Als einzige Abweichung von dieser Orientierung ließ Marchlewski lediglich das Postulat zu, den Großgrundbesitz unter die landlosen und mittleren Bauern aufzuteilen. Letztlich wurde Marchlewski Vorsitzender der Agrarkommission. Pröchniak selbst nahm an der Arbeit in dieser Kommission nur während der Debatten über die Thesen der italienischen, französischen, deutschen und polni22 AAN, MK 151/VII-4/2, S. 42-43; Bericht über die Tätigkeit des Präsidiums und der Exekutive der Kommunistischen Internationalen, S. 76-77; Degras, Jane (Hrsg.): The Communist International, Bd. 1, London 1955, S. 353-359. 23 AAN, MK 151/III/1, S. 1, 151/VII-4/2, S. 4, 12ff, 24ff; 154/VII-4/27, S. 15f, KPP Mikrofilm 1/2, 30.

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sehen Parteien teil. Auf der Basis einer umfangreichen Dokumentation erarbeitete Pröchniak für diese Kommission einen Bericht über die Agrarfrage in Polen und widmete auch der Haltung der KPP in dieser Angelegenheit viel Platz. Er war ein großer Fürsprecher der von Maria Koszutska ausgearbeiteten "Agrarthesen", die er an die Mitglieder der Agrarkommission weiterleitete. 24 Die Autorin dieser Thesen, eine hervorragende Funktionärin und Publizistin der späteren PPS, entwickelte sich zur Führungsfigur und Theoretikerin der KPP. Sie gehörte zu den entschiedenen Befürwortern einer Veränderung in der programmatischen und taktischen Linie der Partei. 25 Koszutska legte ein Programmprojekt zur Agrarfrage auf dem 3. Kongreß der KPP (10.-13. April 1922) vor. Sie unterstrich in diesem Dokument, daß das Schicksal der sozialistischen Revolution in Polen von der Einstellung der Bauern abhinge, wie in anderen Ländern mit einer ähnlichen Agrarstruktur. Aus diesem Grund formulierte sie auch die Forderung nach der Enteignung der Großgrundbesitzer und der Landaufteilung unter die Bauern, um sie als Verbündete der Arbeiterklasse zu gewinnen. Die Thesen wurden durch die Konferenz aufgrund des Widerstandes der dogmatischen Opposition nicht angenommen, aber sie initiierten innerhalb der Partei eine Diskussion darüber. Auf diesem Forum wurde jedoch die Resolution über die Anwendung der Taktik der Einheitsfront durch die Partei angenommen. Der Konferenzverlauf signalisierte deutlich den Beginn eines programmatischen Evolutionsprozesses in der KPP. Am 5. November 1922 wurden die Sitzungen des 4. Kongresses der KI in Petrograd feierlich eröffnet und dann einen ganzen Monat lang in Moskau fortgesetzt. An diesem Kongreß nahmen 408 Delegierte teil, die 66 Parteien und Organisationen repräsentierten. Die KPPDelegation setzte sich aus 20 Vertretern zusammen, die über ein Stimmrecht verfügten. Darüber hinaus nahmen an den Sitzungen des Kongresses und an den Aktivitäten der polnischen Delegation als Gäste ein paar Dutzend polnischer Kommunisten teil, die entweder aus Polen anreisten oder sich in Moskau aufhielten. Während der Diskussion über den Tätigkeitsbericht des EKKI, den Sinowjew referierte, trat im Namen der KPP Adolf Warski auf, einer der ältesten und hervorragendsten Funktionäre in der Führung der polnischen Partei. Warski knüpfte an die Meinung des Referenten an, daß die polnische Partei mit Erfolg legale und illegale Kampfformen verbinde und erklärte, wie die illegale Partei in Polen eine spezielle legale Organisation geschaffen habe, um an den Parlamentswahlen (November 1922) teilnehmen zu können. Er richtete auch die Aufmerksamkeit auf die in der KPP existierenden Meinungsverschiedenheiten über die Taktik der Einheitsfront. Dabei unterstrich er, daß die ultralinke Orientierung, die seiner Meinung nach die gleiche Einstellung wie die der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands repräsentierte, jene Taktik entschieden ablehne. In den Diskussionen polemisierte gegen ihn ein anderer KPP-Vertreter, Henry Stein-Domski, der darauf bestand, daß die linke Opposition in der polnischen Partei den Charakter einer kommunistischen Linken habe und sich einer bedeutenden Unterstützung in den Parteireihen erfreue. Als Aktionsrichtung für die nahe Zukunft wurde vom 4. Kongreß der Komintern der Kampf um die alltäglichen Interessen der arbeitenden Massen herausgestellt. Die Beschlüsse 24 AAN, MK 151/III/11, S. 1-50, 151/VII-4/3, S. 1-10; KPP Mikrofilm 443; Der Brief von Pröchniak an das ZK der KPP vom 4. Juli 1922. 25 Über Koszutska vgl. Kasprzakowa, Janina: Maria Koszutska, Warschau 1988.

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wurden mit Stimmenmehrheit angenommen, obwohl die Gruppe der ultralinken Delegierten, wie Amadeo Bordiga (italienische Partei), Jean Duret (französische Partei), Ruth Fischer (deutsche Partei) und Stein-Domski (polnische Partei), die Taktik der Zusammenarbeit mit den sozialdemokratischen Führern im Rahmen der Politik der Einheitsfront und des Slogans von der Arbeiterregierung scharf kritisierten. Die polnischen Kommunisten Koszutska und Marchlewski spielten eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung des Agrarprogramms, wobei beide Mitglieder der entsprechenden Kommission waren und Koszutska als eine der Referenten in dieser Angelegenheit in der Plenarsitzung zu Wort kam. In diesem Zusammenhang forderte sie auch die Aufnahme von wissenschaftlichen Untersuchungen darüber. Der Kongreß nahm das landwirtschaftliche Aktionsprogramm, in dem die Thesen vdes 2. Kongresses weiter ausgebaut wurden, an. In diesem Programm wurde das revolutionäre Konzept zur Lösung der Agrarfrage auf dem Wege der Konfiszierung des Großgrundbesitzes ohne Entschädigungszahlungen und seine Aufteilung an die Bauern vorgestellt. Dies war auch eines der wichtigsten Elemente, neben der Forderung nach der Organisation einer einheitlichen antiimperialistischen Front durch die Arbeiterbewegung, welche in den Beschlüssen des 4. Kongresses im Kampfprogramm um die nationale Befreiung und um die demokratische Revolution in den Kolonien und halbkolonialen Gebieten entworfen wurde. 26 Die KPP-Delegierten waren noch in einigen anderen Kommissionen auf dem Kongreß tätig, z.B. in der Programmkommission (Warski, Franciszek Fiedler), in der Kommission für Gewerkschaftsfragen (Saul Amsterdam-Henrykowski, Landy Jan Paszyn, Pröchniak), in der Kommission für Reorganisation des EKKI (Pröchniak) und in der Kommission zur Schaffung einer internationalen Organisation zur Unterstützung von Revolutionären (Felix Kon, Marchlewski, Pröchniak), in der französischen Kommission (Koszutska, Walecki), in der italienischen Kommission (Walecki, Warski) und in der jugoslawischen Kommission (Pröchniak). Innerhalb der KPP-Delegation entflammte ein Streit über die programmatische Linie der eigenen Partei. Die Position der Befürworter einer ultralinken Orientierung repräsentierte ihr Führer Wladyslaw Kowalski. Bereits früher hatte er die Taktik von der Einheitsfront kritisiert und der Führung der polnischen Partei vorgeworfen, daß sie im Gefolge der Komintern auf das Niveau des Opportunismus herabsinke. Die Komintern sei selbst auf diese Bahn durch die Führer der bolschewistischen Partei, der Neuen Ökonomischen Politik sowie der sowjetischen Diplomatie geraten, die seiner Meinung nach eine Verständigung mit der internationalen Bourgeoisie vermittels der rechten Führer der Sozialdemokratie anstrebe. Die Ansichten von Kowalski, die nicht ganz zu unrecht die kritische Bewertung der Folgen einer Unterordnung der Komintern unter die Interessen des sowjetischen Staates ausdrückten, wurden von der Mehrheit der Delegierten auf der April-Konferenz der KPP verworfen. Kowalski konnte sich jedoch nicht damit abfinden und trug sein Referat über die Aufgaben und die Taktik der KPP auf dem 4. Kongreß der KI (26. November) in Gegenwart der aus anderen Parteien geladenen Gäste vor. Kowalski kritisierte die Taktik der Einheitsfront, das neue Konzept des Parteiprogramms hinsichtlich der Agrar- und Nationalfrage, warf der KPP-Führung Opportunismus vor und bewertete kritisch die Art und Weise der Teilnahme und das 26 Der vierte Kongreß der Kommunistischen Internationalen, Protokoll Bd. 1 u. 2, Hamburg 1923, passim; Degras, Jane (Hrsg.): The Communist International, Bd. 1, S. 374-446.

Politische Aktivitäten

der polnischen

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kommunistische Programm bei den kürzlich stattgefundenen Parlamentswahlen in Polen. Dies interpretierte er als ein sichtbares Zeichen für die Bestrebung, die kommunistische Partei zu legalisieren, und somit als Zeichen für eine Tendenz, sie liquidieren zu wollen. Auf diesem Treffen der polnischen Delegierten polemisierten gegen ihn Warski und Radek. Zur Untersuchung der von Kowalski vorgebrachten Vorwürfe berief das Präsidium des 4. Kongresses der KI eine polnische Kommission ein. Sie setzte sich zusammen aus: Christo Kabakchiev (Vorsitzender), Eugen Varga, Kuusinen, Radek und Unszlicht. Diese Kommission beriet zwei Tage lang (1./2. Dezember). Dabei hörte sie sich sowohl die Argumente von Kowalski und seinen Anhängern, unter denen ihn Stein-Domski am stärksten unterstützte, als auch die Verteidiger der aktuellen Parteipolitik an, in deren Namen Koszutska eine besonders wichtige Rede hielt. Die Kommission erklärte in ihrem Beschluß die Vorwürfe von Kowalski als unbegründet. Sie bewertete seine Ansichten als ultralinks und in Widerspruch zu den verabschiedeten Programmen auf den letzten beiden Kongressen der Komintern; sie verurteilte die sektiererische Haltung der Ultralinken als schädlich für die Partei und benannte die Linie der KPP-Führung als übereinstimmend mit der der Komintern. Diese Entscheidung wurde im Brief des EKKI an die KPP bestätigt. 27 Das Mandat der polnischen Partei im EKKI vertraute die KPP-Delegation für die nächste Zeit Pröchniak an, dessen Stellvertreterin Koszutska wurde. Am letzten Sitzungstag des Kongresses (5. Dezember) wurde Pröchniak in das EKKI gewählt. 28 Einige Wochen lang teilten sich Pröchniak und Koszutska die Verpflichtungen, die sich aus ihren Funktionen ergaben. Ende Februar 1923 verließ Pröchniak für einige Monate Moskau, weil ihn die Parteiführung zur Arbeit in einem ausländischen Zentrum der KPP, in Sopot bei Danzig, delegierte. Nach seiner Abreise repräsentierte Koszutska die polnische Partei im EKKI. In der umfangreichen Korrespondenz, die Koszutska mit dem ZK der polnischen Partei führte, nahmen die Fragen der internationalen kommunistischen Bewegung viel Platz ein. Besonders viel Aufmerksamkeit widmete sie den Informationen und Analysen über die Situation in der russischen Partei, an deren Parteitag sie im April (1923) teilnahm, und der deutschen Partei im Zusammenhang mit dem seit Frühjahr 1923 anwachsenden Konflikt zwischen der KPD-Führung und der linken Opposition. In ihren Briefen können wir eine bestimmte Distanz bzw. einen gewissen Zweifel hinsichtlich einiger Entscheidungen des EKKI und eine kritische Einstellung gegenüber den Anzeichen von Willkür im Vorgehen ihrer Funktionäre erkennen. Letztendlich blieb die Autorin aber dem EKKI gegenüber loyal. Im EKKI suchte sie Unterstützung für organisatorische Probleme der polnischen Partei und wandte sich an das EKKI zwecks Beseitigung von Mißverständnissen, die sich im Zusammenhang mit dem Aufenthalt einer Gruppe von polnischen Kommunisten ergaben. Im weiteren bemühte sie sich um die Unterstützung in ihrem Streit mit Henryk Stein-Domski, der ultralinke Ansichten vertrat. 29

27 Feder, Teodora: Delegacja KPRP na IV kongresie Miedzynarodowki Komunistycznej, W: Z pola walki 1976, Nr. 3, S. 165-171. 28 Pravda v. 6.12.1922, S. 2; Der vierte Kongreß der Kommunistischen Internationale, S. 295. 29 Feder, Teodora (Hrsg.): Nie znane listy Marii Koszutskiej z lat 1921-1924, in: Archiwum Ruchu Robotniczego, Bd. 1, Warschau 1973, S. 103-127; Zatorski, Aleksander u.a. (Hrsg.): Korespondencja polityczna Marii Koszutskiej z lat 1922-1929, in: Z pola walki 1965, Nr. 3, S. 129ff; 1965, Nr. 4, S. 130ff.

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Auf den Sitzungen des 3. Erweiterten Plenums des EKKI (12./13. August 1923), an dem 26 Vertreter kommunistischer Parteien teilnahmen, wurde die KPP von Koszutska, Wladyslaw Stein-Krajewski, Szczepan Rybacki, Lauer und Warski vertreten. In den Diskussionen im Anschluß an das Referat von Radek über die politische Situation meldete sich ein Vertreter der KPP, Lauer, zu Wort. In seiner Rede bewertete er die Innenund Außenpolitik der polnischen Regierung kritisch, gleichzeitig unterstützte er die Losung von der Arbeiter- und Bauernregierung, die vom Plenum als bindend für alle kommunistischen Parteien angenommen wurde. Etwas früher, während der Debatte über das von Sinowjew gehaltene Referat, hielt Stein-Krajewski eine Rede. Er knüpfte an die kritischen Hinweise aus dem Referat über das weiterhin in der KPP gültige alte Parteikonzept zur Agrarfrage an und überzeugte die Zuhörer davon, daß die KPP-Führung den Widerstand der Anhänger jener alten Formel gebrochen habe und daß die Partei eine in Übereinstimmung mit der Linie der Komintern stehende Position einnahm. 30 Im Entwicklungsprozeß der KPP-Programmatik hatte der 2. Parteitag eine bahnbrechende Bedeutung, der infolge der Illegalität der kommunistischen Organisation in Polen in Bolszewa bei Moskau stattfand (19. September - 2. Oktober 1923). Daran nahmen 69 Delegierte, Vertreter der Kominternführung (Sinowjew, Radek) und des Profintern, Vertreter der französischen und deutschen kommunistischen Partei sowie andere geladene Gäste teil. Die Teilnehmer dieses Parteitages standen unter dem Eindruck, den die Informationen über die anwachsenden revolutionären Spannungen in Deutschland hervorriefen. In den Referaten, Diskussionen und Beschlüssen wurde die Überzeugung vom baldigen Sieg der deutschen Revolution geäußert, die Hoffnung bei den Teilnehmern des Parteitages auf einen baldigen sozialen Umsturz in Polen weckten, der eine Art Brückenfunktion zwischen der russischen und deutschen Revolution erfüllen sollte. Eine ähnliche Stimmung herrschte damals auch in den anderen kommunistischen Parteien. Der Parteitag nahm nach kontroversen Diskussionen die neuen Programmrichtlinien mit Stimmenmehrheit an, was zweifelsohne auch in gewissem Grade infolge der Argumentation der beiden Kominternvertreter zustande kam. Das neue Konzept berücksichtigte in hohem Maße die tatsächlich bestehenden Bedingungen in Polen und die reellen Möglichkeiten der KPP, obwohl es auch in diesem Programm nicht an Forderungen und Beurteilungen fehlte, die seitens der revolutionären Avantgarde geäußert wurden. Auf dem Parteitag wurde das Motto vom Kampf um eine Arbeiter- und Bauemregierung formuliert. Die Aufgabe dieser Regierung sollte darin bestehen, grundlegende politische und gesellschaftliche Reformen durchzuführen, um den Weg zum Sozialismus zu ebnen. Es wurde ein Projekt von Koszutska mit Thesen zum Landwirtschaftssektor angenommen und das Motto "Land für die Bauern" vorgebracht. Darüber hinaus wurde das Arbeiter- und Bauernbündnis als eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen erfolgreichen sozialen Umsturz in Polen formuliert. Die Parteitagsbeschlüsse erkannten zum ersten Mal in der Geschichte der KPP den unabhängigen polnischen Staat als positiv für die Arbeiterklasse an. Ihre Aufgabe als Sprecher und als führende Kraft der Nation sollte unter Führung der Kommunisten die Verwirklichung der vollen und beständigen Unabhängigkeit nach dem Sieg der sozialen 30 Rasshyrenny plenum Ispolitelnogo Komiteta Kommunisticheskogo Internacionala 12-23 ijunia 1923 g., Moskau 1923, S. 35,81,135-136.

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Revolution und die Bildung einer europäischen Föderation von sozialistischen Republiken sein. Der Parteitag erkannte das Recht auf Selbstbestimmung sowohl der polnischen Nation als auch der nationalen Minderheiten an, die in den Grenzen des polnischen Staates wohnten, wobei bezüglich der Weißruthenen und Ukrainer dies als Recht zur Vereinigung mit Weißrußland und der sowjetischen Ukraine verstanden wurde. Der Befreiungskampf dieser nationalen Minderheiten wurde als eine von vielen Antriebskräften der polnischen Revolution betrachtet. 31 Der 2. Parteitag stellte einen Schritt auf dem Weg aus der Isolation der Partei in Polen dar. Diese war jedoch nur eine kurze Wende in der Geschichte der Kommunistischen Partei. Nach dem Parteitag kehrte Pröchniak in das EKKI zurück, um dort die Funktion des Parteivertreters wahrzunehmen. Sein Stellvertreter wurde Henryk Lauer, Doktor der Mathematik, Gelehrter und Polyglotte, einer der fähigsten Funktionäre und Theoretiker der KPP. Obwohl beide nicht Mitglieder des ZK ihrer Partei waren, spielten sie doch eine außerordenüich wichtige Rolle in der Parteiführung. Sie gehörten zusammen mit Koszutska, Walecki und Warski, die sich auch in Moskau aufhielten, zur Auslandsabteilung des Politbüros des ZK der KPP. Im Herbst 1923 wurde die KPP von einer vierköpfigen Gruppe geführt, die die eigentlichen Schöpfer der neuen Programm- und taktischen Linie der Partei waren. Diese Gruppe wurde hin und wieder als die "4 W" bezeichnet, weil sie sich aus Koszutska (Pseudonym Wera), Walecki, Warski und Pröchniak (Pseudonym Weber) zusammensetzte. In der Zwischenzeit wandelte sich Ende November 1923 in Polen die von Arbeitern und anderen Berufsgruppen initiierte wirtschaftspolitische Streikwelle in einen allgemeinen Streik der Eisenbahner. In Krakau kam es am 6. November zum Kampf zwischen dem bewaffneten Proletariat und Polizei und Militär sowie zu Zusammenstößen mit Ordnungskräften in anderen Städten. Die Gruppe "4 W" war der Meinung, daß die rechtszentristische Regierung von Ministerpräsident Wincenty Witos in verhältnismäßig kurzer Zeit gestürzt werden könne. Diese Regierung konnte sich jedoch zunächst halten und trat erst im Dezember zurück, nachdem die rechtszentristische Koalition im Parlament auseinandergefallen war. Die illegale kommunistische Partei, die zusätzlich durch die kurz zuvor gegen sie durchgeführten Repressionen geschwächt war, sah sich nicht in der Lage, die Aktivitäten zu steuern. Die Führung wurde vor allem durch die Krakauer Ereignisse überrascht. Die räumliche Entfernung der Gruppe "4 W" von Polen wirkte sich in Anbetracht der blitzartigen Entwicklung der Ereignisse auf die von ihren Vertretern geäußerten Ansichten und Bewertungen bezüglich der Richtigkeit und Aktualität aus. Unmittelbar nach Beendigung der stürmischen Ereignisse in Polen bewerteten sie die Situation jedoch wieder recht realistisch. Ihrer Meinung nach konnten lediglich gewisse Anzeichen eines Anstiegs revolutionärer Spannungen konstatiert werden, von einer vorrevolutionären Phase konnte keine Rede sein; deswegen schlugen sie vor, die Taktik der Einheitsfront fortzusetzen. 32 Im Gegensatz dazu kritisierten die Führer der 31 áwietlikowa, Franciszka: Komunistyczny Partía Robotnicza Polski, S. 279-306; Iwañski, Gereon u.a. (Hrsg.): II Zjazd Komunistycznej Partii Robotniczej Polski (19 IX-2 X 1923), Protokoly obrad i chwaty, Warschau 1968, passim. 32 AAN, MK 151/VII-4/6, S. 1-6, 9-20; Feder, Teodora (Hrsg.): Adolf Warski, Korespondencja polityczna z lat 1920-1926, Teil 2, in: Z pola walki 1971, Nr. 2, S. 156-158; Zatorski, Aleksander u.a. (Hrsg.): Korespondencja polityczna Marii Koszutskiej, Teil 2, in: Z pola walki 1965, Nr. 3, S. 149-162.

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Opposition in der KPP (Stein-Domski, Julian Leszczyriski-Leriski) diese Taktik als opportunistisch und bewerteten die polnischen Ereignisse vom Herbst 1923 als Anzeichen einer heranreifenden Revolution. Ähnlichen Täuschungen unterlagen viele andere Kommunisten, dabei stellten die Krakauer Ereignisse im europäischen Maßstab bereits die letzten Anzeichen einer revolutionären Belebung dar, die vor sechs Jahren durch die russische Revolution begonnen hatte. Der bewaffnete Aufstand in Bulgarien, der durch Kommunisten und linksorientierte Bauernführern organisiert worden war, wurde blutig niedergeschlagen. Mit einer Niederlage endete auch der revolutionäre Versuch der Kommunisten in Deutschland im Oktober 1923. Die gesamte Komintern verband zweifelsohne mit der deutschen Revolution gewisse Hoffnungen. Das EKKI gewährte der deutschen Partei Unterstützung, und auf der im September 1923 einberufenen Sitzung, an der die Vertreter der russischen, französischen, tschechischen und deutschen Partei teilnahmen, wurde orientierungsweise sogar ein Datum ins Auge gefaßt, an dem der bewaffnete Aufstand in Deutschland beginnen sollte. Auch das September-Plenum des ZK der bolschewistischen Partei kam zum Schluß, daß die Bedingungen für eine siegreiche Revolution in Deutschland gereift seien. Nach der Niederlage begann in der KPD und in der Komintern eine heiße Diskussion über die Bewertung der Ereignisse und über die Ursachen der Niederlage. 33 Die Vertreter der KPP nahmen damals nicht an den Arbeiten in der Deutschland-Kommission teil, die vom EKKI eingerichtet wurde, aber sie verfolgten aufmerksam den Diskussionsverlauf. Prochniak, Koszutska und Lauer nahmen kritisch Stellung zum Inhalt des vom Präsidium des EKKI an die KPD gerichteten Briefes, in dem die Rolle der Partei in den Ereignissen und die Ursachen ihrer Niederlage bewertet wurden. Sie waren der Meinung, daß das Organ der Komintern für die von den deutschen Kommunisten begangenen Fehler mitverantwortlich sei. Das Urteil der Gruppe "4 W" wurde einerseits durch die von der Kominternführung vertretene falsche Meinung, die revolutionäre Situation in Deutschland sei nur zum Schein aufrechterhalten worden 34 , andererseits durch den Vorschlag, die Taktik der Einheitsfront ändern zu wollen, durch den Abbruch der Verhandlungen mit der sozialdemokratischen Partei sowie durch die Bekämpfung ihres linken Flügels getragen. 35 Auf dem Plenum des ZK der KPP (Dezember 1923) dominierten jene Angelegenheiten, die mit der Situation in der Komintern und in der russischen und deutschen Partei zusammenhingen. In dieser Sache wurde eine zweifelsohne von der Gruppe "4-W" inspirierte Entscheidung getroffen. Es wurde ein Beschluß über die Lage in der russischen und deutschen Partei gefaßt, der in Form eines vertraulichen Briefes mit Datum vom 23. Dezember 1923 an das Präsidium des EKKI und an das Politbüro des ZK der KPR geschickt wurde.

33 Vgl. dazu "Tov. Brandler o polozenii v Germanii", in: Pravda v. 22.9.1923, S. 3; Dva goda borby i raboty, Obzor dejatelnosti Ispolkoma i sekcij Kommunisticheskogo Internacionala za period s IV po V kongressy, Moskau 1924, S. 18-20; Gruda, Helena: Niektöre zagadnienia miedzynarodowego ruchu komunistycznego w okresie pomiedzy IV a V kongresem MK (1922-1924), in: Z pola walki 1965, Nr. 4, S. 35-37; Gruber, Helmut: International Communism in the Era of Lenin, S. 434-470. 34 Vgl. Zinoviev, Grigori: Vtoraja volna mezhdunarodnoj revolucii, in: Pravda v. 1.12.1923, S. 1. 35 Zatorski, Aleksander u.a. (Hrsg.): Korespondencja polityczna Marii Koszutskiej, Teil 2, in: Z pola walki 1965, Nr. 3, S. 154.

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In diesem Brief wurde im die deutsche Situation betreffenden Teil sowohl der Führung der KPD als auch der Komintern, die die Situation falsch bewertet und letztendlich einen ungeeigneten Aktionsplan ausgearbeitet hatten, für die Niederlage des Proletariats in Deutschland eine Mitschuld zugesprochen. Der Komintemführung wurde die falsche Anwendung von Organisationsmethoden gegenüber der KPD vorgeworfen, d.h. ständige Berufungen ihrer Führer nach Moskau und ihre Belehrungen, was zur Schwächung ihrer Autorität und ihres Verantwortungsbewußtseins führte. Femer wurde die Politik des Lavierens hinsichtlich der Fraktionskämpfe innerhalb der deutschen Partei kritisiert. Die Autoren des Briefes bewerteten die Aufgabe der bisherigen Taktik einer Einheitsfront durch das EKKI und die Annahme der neuen Formel: Einheitsfront von unten sowie die Anerkennung des Mottos von der Arbeiterund Bauernregierung als Synonym für die Diktatur des Proletariats als schädlich für die internationale kommunistische Bewegung. Im Teil über die Situation in der KPR brachten sie ihre Sorge über den sich ausweitenden Streit innerhalb der russischen Partei und über die von ihrer Führung, eigentlich von dem in ihr dominierenden Triumvirat Stalin, Sinowjew und Kamenew angewandten Methoden bei der Bekämpfung der Opposition, an deren Spitze Leo Trotzki stand, zum Ausdruck. Die Autoren des Briefes bezogen keine Position hinsichtlich des Streitgegenstandes, sie schlugen jedoch im Namen der die polnische und russische Partei einigenden Bande und auch aus der Befürchtung einer drohenden Spaltung in der KPR und in der Komintern vor, daß sich das nächste Plenum des EKKI mit diesem Konflikt befassen solle. Sie forderten vom ZK der KPR eine Erklärung darüber, daß der sich um die Revolution verdient gemacht habende Trotzki nicht aus der Führung dieser Partei und der Komintern ausgeschlossen werde. 36

Fraktionen Das Vorgehen der KPP-Führung rief schon bald ein erstes Echo hervor. Im Zusammenhang mit dem Dezember-Brief sprach Stalin vor der Präsidiumssitzung des EKKI mit Lauer, Sinowjew mit Pröchniak (5. Januar 1924). Sinowjew schlug dem KPP-Vertreter eine gemeinsame Klärung der aufgetretenen Meinungsverschiedenheiten und ein Bündnisabkommen mit der Führung der polnischen Partei vor, gleichzeitig sprach er die Warnung aus, daß andernfalls eine scharfe Antwort auf den Dezember-Brief erfolgen werde. Pröchniak hielt die in diesem Brief geäußerten Ansichten aufrecht und erklärte, daß die KPP-Führung nicht bereit sei, irgendeine Fraktion innerhalb der russischen Partei zu unterstützen, sondern die Auffassung der Mehrheit des ZK der KPR in organisatorischen Angelegenheiten akzeptieren werde. Wie aus der Korrespondenz mit den KPP-Funktionären in Warschau hervorgeht, vertraten auch Koszutska und Lauer eine ähnliche Meinung. Obwohl sie die Ansichten von Trotzki kritisch bewerteten, sprachen sie sich dafür aus, daß der Streit in eine sachliche Diskussion umgewandelt werden sollte. Trotz des Drucks blieben Pröchniak und Lauer bei ihrer Einstellung. Auf der Präsidiumssitzung des EKKI nahmen sie dann die Haltung ein, die im Dezember-Brief formuliert worden war. Die polnischen Funktionäre wurden, wie sie selbst

36 Nowy Przeglad 1924-1925, Neue Auflage, Warschau 1959, S. 238-242; Gruda, Helena: Niektöre zagadnienia miedzynarodowego ruchu komunistycznego, S. 44.

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vorhersahen, von Sinowjew attackiert, der den Brief als ein Zeichen der fraktionellen Unterstützung für Trotzki ansah. 37 Auf den stürmischen Sitzungen des EKKI (8.-19. Januar), die den deutschen Angelegenheiten gewidmet waren, repräsentierten Pröchniak und Lauer die KPP. Abgesehen von den Mitgliedern des EKKI nahmen auch Vertreter der bulgarischen Partei und Vertreter von drei Orientierungen in der KPD an den Sitzungen teil. Sinowjew unterstützte die Spitzenfunktionärin der Ultralinken in der deutschen Partei, Ruth Fischer, die die Ursachen für die Herbstniederlage 1923 in den fehlerhaften Einstellungen der "rechtsorientierten" KPD-Führung und in der Taktik der Einheitsfront ausmachte. Der Vorsitzende des EKKI vertrat gleichfalls die These, daß die Sozialdemokratie in Deutschland ein "Flügel des Faschismus" und der Hauptfeind der Kommunisten ist, die bekämpft werden muß, und daß die Einheitsfront "von unten" realisiert werden muß. In diesem Geiste wurde dann eine Resolution verabschiedet, für die auch Pröchniak und Warski stimmten, obwohl sich beide bewußt waren, daß in der Komintern ultralinke und dogmatische Kräfte gewonnen hatten. Vermutlich haben sich beide zu diesem Schritt entschieden, um die Situation nicht zu verschärfen und um eine Isolation zu vermeiden. Schließlich kapitulierte auch die sog. Rechte in der KPD (Heinrich Brandler, Clara Zetkin, Jacob Walcher, Wilhelm Pieck). 38 In Anbetracht der Angriffe von Sinowjew auf die KPP-Führer im Zusammenhang mit ihrem Dezember-Brief gab Pröchniak im EKKI (25. Januar) eine Erklärung im Namen der polnischen Delegation ab. In dieser Erklärung unterstützte er zwar die erwähnte Resolution des führenden Organs der Komintern, gleichzeitig aber bekräftigte er die im Dezember-Brief formulierte Haltung des ZK der KPP. Darüber hinaus wies er die von Radek vorgebrachten Anschuldigungen des Opportunismus als unrichtig und für die Autorität der Komintern schädlich zurück. 39 In der Zwischenzeit, d.h. nach dem 13. Kongreß der KPR, die die Haltung von Trotzki und seiner Anhänger als kleinbürgerliche Abweichung bewertete, ging die Anwort des ZK der russischen Partei auf den Dezember-Brief der KPP-Führung ein. Das vom 4. Februar 1924 datierte Dokument hatte der Generalsekretär der KPR, Stalin, unterschrieben. In diesem Schreiben warf er den polnischen Funktionären vor, den geplanten Schritt nicht vorher angekündigt zu haben, und wies ihre Kritik an der Haltung des EKKI in der deutschen Angelegenheit ab. Die polnischen Befürchtungen einer Spaltung innerhalb der KPR bewertete er als übertrieben. Stalin belehrte die KPP-Führer über die Rolle der Einzelperson in der Geschichte und warf ihnen zum Schluß vor, daß der Dezember-Brief eine Unterstützung der fraktionellen Tätigkeit Trotzkis darstelle. 40 Die Vertreter der Gruppe "4 W" waren anfäng37 AAN, KPP Mikrofilm 7281, Der Brief von Pröchniak an das ZK der KPP vom 18.1.1924; Firsov, Fridrich/Jazborovska, Inessa: Miedzynarodöwka Komunistyczna a Komunistyczna Partia Polski, in: Maciszewski, Jarema (Hrsg.): Tragedia Komunistycznej Partii Polski, Warschau 1989, S. 19-21. 38 Die Lehren der deutschen Ereignisse. Das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationalen zur deutschen Frage, Januar 1924, Hamburg 1924; Gruda, Helena: Niektöre zagadnienia miedzynarodowego ruchu komunistycznego, S. 38ff; Volkov, S.: Borba Kominterna protiv trockizma v period diskussi 1923/1924 v RKP (b), in: Vestnik Moskovskogo Universiteta 1975, Nr. 4, S. 5-10. 39 Nowy Przglad 1924-1925, Neuauflage, S. 250-252; Dva goda borba i raboty, Obzor dejatelnosti Ispolkoma, S. 55-56. 40 Ebenda, S. 242-246.

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lieh der Meinung, daß auf den Brief von Stalin sofort geantwortet und ihre bisherige Haltung bestätigt werden sollte. Doch es trat ein Ereignis ein, das sie zur Verschiebung ihres Vorhabens bewegte. Anfang Februar 1924 veröffentlichten vier KPP-Funktionäre (Stein-Domski, LeszczyriskiLeriski, Zofia Unszlicht-Osihska und Ludwik Prentki), die sich in Berlin aufhielten, in der deutschen kommunistischen Presse politische Thesen, in denen sie die Führung der polnischen Partei angriffen. Die Autoren der Thesen, die als die "Berliner Vier" bezeichnet wurden, klagten die KPP-Führung des Opportunismus an und kritisierten die Beschlüsse des 2. Parteitages, besonders bezüglich der nationalen Frage und der Bauernfrage, sowie die Parteitaktik. Sie forderten die Einsetzung einer neuen KPP-Führung, deren Kern ausschließlich ehemalige SDKPiL-Funktionäre sein sollten. Die "Berliner Vier" sahen im Dezember-Brief des ZK der polnischen Partei den Beweis für die Unterstützung Trotzkis und für die "Rechte" in der KPD. 41 Doch bereits im März verurteilte das Plenum des ZK der KPP die Thesen der "Berliner Vier", indem sie sie als Anzeichen von sektiererischen Tendenzen bewertete. Das Plenum bestätigte die Aktualität der Beschlüsse des 2. Parteitages als Handlungsrichtlinien und nahm auch zu Stalins Brief Stellung, wobei grundsätzlich die frühere Einstellung der KPP-Führung in der russischen und deutschen Angelegenheit aufrechterhalten wurde. Gleichzeitig wurde jedoch auch eingestanden, daß der Dezember-Brief gewisse Fehler beinhaltete. Darüber hinaus wurden die Auffassungen von Trotzki in organisatorischen Angelegenheiten kritisiert und seine Tätigkeit als fraktionell bewertet. 42 Diese Beschlüsse unterstützte eine entschiedene Mehrheit der Kreiskomitees der KPP in Polen. Die Oppositionellen gaben jedoch noch nicht auf. Sie mobilisierten ihre Anhänger unter den einflußreichen polnischen Kommunisten, die sich um das Polnische Büro beim ZK der KPR in Moskau scharten. Bereits seit über einem Jahr bestanden zwischen dieser Gruppe und der KPP-Führung gegensätzliche Meinungen bei der Interpretation der Programm- und taktischen Linie der Partei. Anfang Mai 1924 fordertete sie den Rücktritt der "4 W" und ihrer Anhänger, weil sie über die Pläne von Sinowjew gut informiert waren, der das Führungsproblem in der polnischen Partei auf dem bevorstehenden Kominternkongreß zu thematisieren beabsichtigte. Einige von ihnen sagten sogar eine "chirurgische Operation auf dem Kominternkongreß" mit dem Ziel einer Veränderung der KPP-Führung voraus. 43 Die Opposition in der Partei verlagerte den internen Streit auf das Kominternforum, und die Atmosphäre in der Komintern, in der die ultralinken Tendenzen gesiegt hatten, begünstigte das Bestreben der "Berliner Vier". Die Führung des EKKI veränderte, während sie ihre umfangreichen Statutkompetenzen nutzte, noch vor dem neuen Kongreß den Kurs der Komintern, indem sie von den auf dem letzten Kongreß beschlossenen Richtlinien abwich. Es erfolgte eine weitere Verstärkung zentralistischer Tendenzen und eine Verschärfung der eigentümlich interpretierten Organisationsdisziplin in der Komintern, obwohl bereits früher die Funktionäre einiger kommunistischer Parteien dagegen protestiert hatten. Die ultralinke Wende in der Kominterntaktik und ihre Gleichschaltung erfolgten unter dem Druck von Si41 Glos Komunistyczny v. 26.6.1924, S. 1-5; Kolebacz, Bogdan: Komunistyczna Partia Polski 1923-1929, Problemy ideologiczne, Warschau 1984, S. 36-37. 42 Nowy Przglad 1924-1925, Neuauflage, S. 246-249. 43 AAN, MK 151/VII-4/7, S. 42-43.

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nowjew und von Stalin, der in dieser Zeit einen Kampf um die politische Nachfolge Lenins in der bolschewistischen Partei und im russischen Staat führte. Die polnischen Funktionäre aus der Gruppe "4 W", die mit der Kritik an autoritären Führungsmethoden in der russischen Partei durch Stalin und Sinowjew in der Komintern auftraten, erregten bei beiden Widerwillen, was aber nicht dazu führte, daß sie sich soweit einschüchtern ließen, ihre Ansichten in Diskussionen und in der Presse nicht mehr zu vertreten. 44 Inzwischen wurde in der Kominternführung bereits jede Kritik an den Ansichten Stalins und Sinowjews sowie an der Haltung des EKKI als Zeichen der Feindseligkeit gegenüber der bolschewistischen Partei, gegenüber dem russischen Staat und gegenüber der Komintern behandelt. Auch in anderen kommunistischen Parteien begannen ultralinke Funktionäre die Führung zu übernehmen. 45 Alles deutete also darauf hin, daß nun auch die KPP an der Reihe war, ihre Führung ändern zu müssen. Zwischen dem 17. Juni und dem 8. August 1924 fand in Moskau der V. Kongreß der Komintern statt. An ihm nahmen 504 Delegierte teil, die 60 Parteien und Organisationen repräsentierten. Die KPP-Delegation zählte 20 Personen. Polen waren in den wichtigsten Kongreßkommissionen vertreten, z.B. politische Kommission (Walecki, Warski), Programmkommission (Warski, Koszutska, Lauer), Organisationskommission (Pröchniak) und Agrarkommission (Koszutska, Walecki). Die Kongreßbeschlüsse sahen einen baldigen Untergang des Kapitalismus voraus und bestimmten den Kurs der kommunistischen Bewegung für den unmittelbaren Kampf um die proletarische Diktatur. Auf Antrag von Sinowjew, der durch die Ultralinke mit Ruth Fischer und Amadeo Bordiga an der Spitze unterstützt wurde, aber entgegen den Vorbehalten, die von Clara Zetkin, Karl Radek und John T. Murphy angemeldet wurden, vollzog der Kongreß eine sektiererische Revision der bisherigen Politik der Einheitsfront. Dabei wurde die Möglichkeit ihrer Realisierung "von oben" ausgeschlossen und die Sozialdemokratie als linker Flügel des Faschismus benannt. Die Losung einer Arbeiter- und Bauernregierung wurde synonym für die Diktatur des Proletariats verwendet. Einen wichtigen Platz in den Diskussionen nahm die "Bolschewisierung" der kommunistischen Partei sowie die inneren Probleme einiger kommunistischer Parteien (italienische, schwedische, irische und vor allem polnische) ein. 46 Von Anfang an zeichnete sich auf dem Kongreß die Trennlinie in der KPP-Delegation ab: auf der einen Seite die Gruppe "4 W", d.h. Koszutska, Walecki, Warski und Pröchniak, und auf der anderen Seite die "Berliner Vier" mit Leriski an der Spitze, der formell der französischen Delegation angehörte, weil er das Kongreßmandat von der französischen Partei erhielt. Zu einer dritten Gruppe, zahlenmäßig die stärkste, gehörten vorwiegend Delegierte, die aus Polen kamen. Anfänglich unterstützten diese Delegierten die Gruppe "4 W", obwohl einige von ihnen, wie Franciszek Grzelszczak und Stanislaw Mertens, bereits früher Kontakt mit den "Berliner Vier" aufgenommen hatten und auf dem Kongreß offen auf die andere Seite übergingen. Im Verlauf der Sitzungen folgte ihnen dann auch die Mehrheit der aus Polen 44 Vgl. Koszutska, Maria: Pisma i przemowienia, Bd. 2, Warschau 1961, S. 263-284. 45 Gruda, Helena: Niektöre zagadnienia miedzynarodowego ruchu komunistycznego, S. 39-55; Gruber, Helmut: Soviet Russia Masters the Comintern, International communism in the era of Stalin's ascendancy, Garden City, N.Y. 1974, S. 10-13. 46 V Vsemirnyj kongress Kominterna, Stenograiczeskij otchet, Bd. 1-2, passim.

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kommenden Delegierten, wobei sie dem Druck der "Berliner Vier", den Vertretern des EKKI und der russischen Partei erlagen. Im einzelnen wurden sie zu diesem Schritt von Unszlicht, Dzierzynski und auch von Stalin selbst bewogen. Auf diese Weise sahen sich die Vertreter der Gruppe "4 W", an deren Adresse bereits von Beginn an Unwillensbekundungen seitens der ultralinken Delegierten aus der französischen und deutschen Partei erfolgten, isoliert. Auf den Plenarsitzungen des Kongresses kritisierte Sinowjew die Politik der KPP-Führer sowie ihre Haltung in den russischen und deutschen Angelegenheiten. Hierbei unterstrich er, daß die Fehler der Spitzen im ZK der polnischen Partei korrigiert werden müssen. Auf der Sitzung vom 24. Juni polemisierte Wladyslaw Stein-Krajewski, ein KPP-Delegierter aus Polen, gegen diese Einschätzung. Er sah die gefällten Urteile gegen die polnische Partei und ihre Führung als übertrieben kritisch und ungerecht an. Im Gegensatz dazu bewertete der Führer der "Berliner Vier", Lenski, in seiner Rede die Tätigkeit der KPP-Führung als opportunistisch und verlangte ihre Umbildung mit dem Ziel, den "gesunden Kern einer bolschewistischen und revolutionären Führung" in der Partei zu schaffen. Die Vertreter der Gruppe "4 W" meldeten sich während der Plenarsitzungen nicht zu Wort. Erst am 26. Juni gaben sie eine Erklärung ab, in der sie die Linie des von Sinowjew gehaltenen Referats annahmen, aber gleichzeitig gegen die Angriffe von Lenski auf die polnischen kommunistischen Abgeordneten hinsichtlich ihres vermeintlichen Opportunismus protestierten. In dieser Erklärung kündigten sie dann auch Wortmeldungen zu den strittigen Punkten auf dem Forum der geplanten Spezialkommission an. Zwei Tage später gab die Mehrheit der polnischen Delegation, zweifelsohne als Folge des erwähnten Drucks, eine Gegenerklärung ab, in der sie die Gruppe "4 W" wegen fraktioneller Tätigkeit sowie wegen Verweigerung einer Stellungnahme in der deutschen und russischen Angelegenheit anklagten. Auf Antrag der politischen Kommission nahm der Kongreß einen Beschluß an, in dem, trotz der positiven Errungenschaften des 2. Parteitages der KPP, die Führung der polnischen Partei für ihren Mangel an revolutionärer Tätigkeit sowie für die Unterstützung der Rechten kritisiert wurde. 47 Auf dem Kongreß wurde auch eine polnische Kommission zur Untersuchung der Situation in der KPP gebildet. Der Vorsitzende dieser Kommission war Stalin, sein Stellvertreter Wjaczeslaw Molotow. Darüber hinaus gehörten dieser Kommission noch Felix Dzierzynski, Dimitri Manuilski sowie als ihre Stellvertreter die Vertreter einiger anderer Parteien als Mitglieder an. Zwischen dem 1. und 3. Juli fanden drei Sitzungen der polnischen Kommission statt. Lenski, der mit seinem Referat im Namen der "Berliner Vier" auftrat, stellte sich als Vertreter der bolschewistischen Opposition in der KPP dar. Er warf Koszutska, Walecki und Warski die Realisierung einer rechten und opportunistischen Politik vor und forderte ihre Entfernung aus der Parteiführung. Mertens klagte im Namen der Delegierten aus Polen die angesprochenen Führer wegen der von ihnen begangenen Fehler an, widersetzte sich aber ihrer Entfernung aus dem ZK der Partei. Warski erklärte in seinem Referat, daß der Grund für den Dezember-Brief das Bestreben war, die Einheit der russischen Partei aufrecht zu erhalten. Den Vorwurf einer Unterstützung Trotzkis durch die "4 W" wies er als falsch zurück und entblößte die schwachen Seiten der Phraseologie von Lenski. Auch Koszutska wehrte sich ge47 Gruda, Helena: Sprawa polska na V kongresie Miedzynarodöwki Komunistycznej, in: Z pola walki 1962, Nr. 4, S. 40-53.

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Pawel Samus

gen die Attacken seitens der "Berliner Vier", sie kritisierte auch die vom EKKI angewandten Methoden bei Führungsumbildungen innerhalb der einzelnen Parteien. Walecki unterzog die Haltung der polnischen Delegationsmitglieder einer Kritik, die auf dem Kongreß dem Druck unterlagen und ihre Haltung geändert hatten. Überaus kritisch beurteilte er das Programm und die Aktivitäten der ultralinken Opposition. Pröchniak wurde zunächst von den Oppositionellen verschont, scheinbar mit der Absicht, ihn von den anderen Führungsmitgliedern zu isolieren. Als aber auch er eine unveränderte Position bezog, wurden er und die gesamte Gruppe "4 W" durch die Ultralinken aus der polnischen, französischen und der deutschen Partei scharf angegriffen. Stalin führte in seiner Rede Beweise an, daß die revolutionäre Gesinnung jeder kommunistischen Partei an ihrer Haltung gegenüber dem ersten soziaüstischen Staat, der Hochburg der Weltrevolution, sowie gegenüber den internen Problemen der russischen Partei gemessen wird. Er warf den KPP-Führern vor, daß sie "opportunistische Sünden" begangen und in ihrer Partei eine Filiale des Trotskismus und Brandlerismus geschaffen hatten. Er belehrte sie, worin das Wesen der Führung einer kommunistischen Partei liege, und letztendlich deutete er Veränderungen im ZK der polnischen Partei auf ihrem nächsten Parteitag oder auf der nächsten Konferenz an. Etwas später forderte er die sofortige Führungsumbildung. Koszutska räumte in ihrer Abschlußrede zwar Mängel in der Tätigkeit der KPP-Führung ein, die infolge der räumlichenTrennung von Polen entstanden waren, aber sie wies die Vorwürfe Stalins als unbegründet zurück, indem sie grundsätzlich die früheren kritischen Ansichten hinsichtlich der Methoden beim Kampf mit der Opposition in der russischen Partei und hinsichtlich der Fehler wiederholte, die das EKKI in der deutschen Angelegenheit beging. Sie erinnerte daran, daß in der Antwort auf den kritischen Auftritt der "4 W" im Zusammenhang mit der Entscheidung des EKKI Sinowjew ihnen gedroht habe, daß "wir euch die Knochen brechen werden, wenn ihr versuchen werdet, gegen uns aufzutreten". 48 Koszutska erklärte zwar ihre Loyalität gegenüber den Disziplingrundsätzen, die in der Komintern herrschten, aber sie warnte davor, daß die größte Gefahr für die Kommunistische Internationale nicht die Meinungsverschiedenheiten unter den Funktionären seien, sondern der Bruch mit den Grundsätzen von der gedanklichen Selbständigkeit und vom Souveränitätsrecht der einzelnen Parteien. Ihre leidenschaftliche Rede konnte aber das Urteil der Kommission nicht ändern, bestätigte es im Gegenteil noch. Die polnische Kommission nahm eine Resolution an, die im folgenden vom Plenum des EKKI (12. luli) bestätigt wurde. In diesem Beschluß wurde die Linie der KPP-Führung verurteilt, der Opportunismus in der russischen und deutschen Angelegenheit vorgeworfen wurde. Noch vor Abschluß der Sitzungen des 5. Kongresses fand eine Sitzung der polnischen Delegation (5. Juli) statt, auf der gemäß der Forderung Stalins ein sogenanntes Außerordentliches Organisationsbüro geschaffen wurde, d.h. ein Provisorium des ZK der polnischen Partei. Dies war eine Art kommissarische KPP-Führung, in die zwar die Funktionäre der ultralinken "Berliner Vier" nicht aufgenommen wurden, in der aber Stein-Domski und Lenski eine wichtige Rolle spielten. 49

48 Koszutska, Maria: Pisma i przemöwienia, Bd. 2, S. 296. 49 Vgl. Gruda, Helena: Sprawa polska na V kongresie Miedzynarodöwki Komunistycznej, S. 47-59.

Politische Aktivitäten der polnischen Kommunisten im

EKKI1921-1924

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Koszutska, Walecki, Warski, Pröchniak und Lauer wurden aus der Führung der polnischen Partei entfernt. Ihnen wurde auch eine Parteitätigkeit in Polen verboten. Am letzten Tag der Sitzungen (8. Juli) wurde zwar Pröchniak in die internationale Kontrollkommission der KI gewählt, aber in der eingetretenen Situation hatte dies bereits keine große Bedeutung mehr. Er wurde nämlich schon vorher zur Rücknahme seiner Kandidatur bei den Wahlen zum EKKI gezwungen. An seiner Stelle wählte die polnische Partei Franciszek GrzelszczakGrzegorzewski als Parteivertreter. Sein Stellvertreter wurde Wactaw Bogucki. 50 Die Haltung der polnischen Funktionäre in der Führung der KPP, die das Recht zur Diskussion und die Grundsätze der Souveränität einzelner Parteien in der Komintern verteidigten, wurde von Stalin und Sinowjew als Herausforderung ihrer hegemonialen Position in der internationalen kommunistischen Bewegung angesehen. Zur Abrechnung mit der Gruppe "4 W" nutzten Stalin und Sinowjew die Fassade der Kommissionen der KI. Der oben geschilderte Fall war nicht der erste drastische Eingriff in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedsparteien seitens der Komintern und auch nicht der letzte; schon bald sollten weitere Eingriffe folgen. Auch in der polnischen Partei kam es dazu. Die KPP wurde, ähnlich wie die anderen kommunistischen Parteien, einem immer ausgeprägteren Diktat seitens der Komintern-Führung ausgesetzt.

Übersetzung aus dem Polnischen von Peter Tokarski

(Mannheim).

50 AAN, MK 151/111/12, S. 23; Kahan, Vilem: The Communist International 1919-1943, S. 165-166.

Josef Kaiser (Mannheim)

"Der politische Gewinn steht in keinem Verhältnis zum Aufwand". Zur Westarbeit des FDGB im Kalten Krieg In den fünfziger Jahren erschienen in der Bundesrepublik eine Vielzahl kleiner Beiträge und Broschüren zum Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) der DDR. Vor allem der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) widmete dem Verband im anderen Teil Deutschlands große Aufmerksamkeit.1 Der DGB wurde nicht müde, vor der Gefahr kommunistischer Unterwanderung, die vom FDGB ausgehe, zu warnen. Quellen, die über Art, Umfang und Wirksamkeit der Aktivitäten des FDGB zur Einflußnahme auf die westdeutschen Gewerkschaften Aufschluß geben, standen bis 1989 jedoch kaum zur Verfügung. Deshalb blieb die Westarbeit des FDGB auch bei der Erforschung der Deutschlandpolitik der DDR und ihrer Staatspartei SED außen vor. 2 Die jetzt zugänglichen Akten des FDGB-Bundesvorstandes 3 erlauben eine differenzierte Betrachtung der Ursprünge, organisatorischen Voraussetzungen, konzeptionellen Grundlagen und Strategien sowie Reichweite der Westarbeit des FDGB.

Gewerkschaftsaufbau nach 1945 in den Westzonen und der SBZ Der Aufbau der Gewerkschaften in Deutschland nach dem Ende der NS-Diktatur war abhängig von der jeweiligen Politik der Alliierten in den Besatzungszonen. Zwar kam es in allen vier Besatzungsgebieten schon im Frühjahr und Sommer 1945 auf der lokalen Ebene zur Gründung von Gewerkschaften. Der Zusammenschluß auf regionaler und Zonenebene fand jedoch mit großer zeitlicher Verzögerung statt. Während in den westlichen Besatzungszonen erst im August 1946 der überregionale Zusammenschluß auf Länderebene begann 4 , erreichte

1 Vgl. z.B. DGB-FDGB. Unabhängige Gewerkschaften oder Staats-"Gewerkschaften"? O.O.u.J. (1955); Ist der FDGB ein freier Gewerkschaftsbund? Die Wahrheit über die Staatsgewerkschaft in der Zone, hrsg. vom DGB-Bundesvorstand, Düsseldorf o.J. (1956). 2 Vgl. Tessmer, Carsten: Zur Deutschlandpolitik und Westarbeit der DDR/UdSSR, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (im folgenden: JHK) 1995, S. 371-390, hier S. 372. Hartmut Zimmermann spricht pauschal davon, daß der FDGB bei seinen Einflußversuchen auf die westdeutschen Gewerkschaften keine größeren Erfolge erzielen konnte; vgl. ders.: Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB), in: DDR-Handbuch. Bd. 1, 3. Aufl., Köln 1985, S. 459-473, hier S. 471. 3 Herangezogen wurden vor allem die leider lückenhaft überlieferten Akten des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit des FDGB-Bundesvorstandes in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin (im folgenden: SAPMO-BA), Best. DY 34 FDGB-Buvo. Für wichtige Hinweise auf die zum Zeitpunkt der Auswertung noch vielfach unerschlossenen Archivalien danke ich dem Bearbeiter des Bestandes, Herrn Heinz Braun. 4 Vgl. Mielke, Siegfried: Die Neugründung der Gewerkschaften in den westlichen Besatzungszonen 19451949, in: Hemmer, Hans-Otto/Schmitz, Kurt Thomas (Hrsg.): Geschichte der Gewerkschaften in der

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in der sowjetisch besetzten Z o n e der zonale Aufbau schon im Februar 1946 mit d e m Gründungskongreß des F D G B 5 eine erste wichtige Etappe. Der Wiederaufbau der Gewerkschaften 1945 stand überall unter dem Postulat, die Spaltung der Gewerkschaften in unterschiedliche politisch-weltanschauliche Richtungen zu überwinden. D i e Initiativen gingen von ehemals sozialdemokratisch, christlich und kommunistisch orientierten Gewerkschaftern aus. Entsprechend der organisatorischen Stärke in der Weimarer Republik dominierten in den westlichen Besatzungszonen Sozialdemokraten. Christliche Gewerkschafter hatten ebenfalls wichtige Funktionen, während Kommunisten in den Leitungsgremien auf regionaler und überregionaler Ebene kaum vertreten waren und bald völlig zurückgedrängt wurden. 6 D i e Gewerkschaften fanden damit den Beifall der amerikanischen Besatzungsmacht, in deren Demokratisierungskonzept die Zurückdrängung des kommunistischen Einflusses eine wichtige Rolle spielte. 7 Schon im Sommer 1949 konstatierte ein amerikanischer Autor, daß die Ausschaltung der Kommunisten aus den westdeutschen Gewerkschaften ein B e w e i s dafür sei, daß "the faith of the Western Allies in the democratic character o f free German trade-unions has not been misplaced". 8 In der S B Z folgte die Entwicklung neuen Mustern. Hier gelang es der KPD, die in ihren Exilplanungen vorgedachte führende R o l l e 9 zu verwirklichen. Scheiterte die Bildung einer einheitlichen gesamtdeutschen Gewerkschaftsbewegung zunächst am Antizentralismus der Franzosen 1 0 , wurde durch den seit 1948 forcierten und 1950 abgeschlossenen Prozeß der

Bundesrepublik Deutschland. Von den Anfängen bis heute, Köln 1990, S. 19-83, mit zahlreichen Literaturhinweisen. 5 Zur Entstehung des FDGB vgl. Müller, Werner: Zur Entwicklung des FDGB in der sowjetischen Besatzungszone nach 1945, in: Matthias, Erich/Schönhoven, Klaus (Hrsg.): Solidarität und Menschenwürde. Etappen der deutschen Gewerkschaftsgeschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bonn 1984, S. 325-347; Gill, Ulrich: Der Freie Deutsche Gewerkschaftsbund (FDGB). Theorie-Geschichte-Organisation-Funktion-Kritik, Leverkusen 1989; aus Sicht der DDR-Historiographie vgl. Geschichte des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes, hrsg. vom FDGB-Bundesvorstand, Berlin 1982. 6 Vgl. Staritz, Dietrich: Die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD), in: Stöss, Richard (Hrsg.): Parteienhandbuch. Die Parteien der Bundesrepublik Deutschland 1945-1980, Bd. II, Opladen 1983, S. 1663 -1809, hier S. 1697. Ein bekanntes Beispiel ist Willi Bleicher, der 1950 aus der KPD austrat, aber trotzdem nicht mehr als Mitglied des IG Metall-Vorstandes nominiert wurde; vgl. Abmayr, Hermann G.: Wir brauchen kein Denkmal. Willi Bleicher: Der Arbeiterführer und seine Erben, Stuttgart 1992, S. 72-81. 7 Vgl. Rupieper, Hermann-Josef: Die Wurzeln der westdeutschen Nachkriegsdemokratie. Der amerikanische Beitrag 1945-1952, Opladen 1993, S. 276-280. Als Beispiel für zeitgenössisch-antikommunistische publizistische Maßnahmen vgl. die Broschüre mit zwei Reden von Reuther, Walter/Dubinsky, David: Gewerkschaftler und Kommunisten. Hrsg. "Die Neue Zeitung", München 1948. 8 Kelly, Matthew A.: Communists in German Labor Organization, in: The Journal of Political Economy, LVII (1949), Nr. 3, S. 213-226, Zitat S. 226. 9 Vgl. Laude, Horst/Wilke, Manfred: Die Pläne der Moskauer KPD-Führung für den Wiederaufbau der Gewerkschaften, in: Schroeder, Klaus (Hrsg.): Geschichte und Transformation des SED-Staates. Beiträge und Analysen, Berlin 1994, S. 27-51. Dieser Beitrag bezieht sich auf die einschlägigen Dokumente in Erler, Peter/Laude, Horst/Wilke, Manfred (Hrsg.): "Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1945/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994. 10 Vgl. Mai, Gunther: Der Alliierte Kontrollrat in Deutschland 1945-1948. Alliierte Einheit - deutsche Teilung? München 1985, S. 119-128; zur französischen Haltung Lattard, Alain: Gewerkschaften und Arbeitgeber in Rheinland-Pfalz unter französischer Besatzung 1945-1949, Mainz 1988, S. 111-117.

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"Transformation des FDGB in ein Transmissionsorgan"11 der Staatspartei SED die Herstellung der deutschen Gewerkschaftseinheit vollends unmöglich. 12 Kontakte zwischen den Gewerkschaftsfunktionären der westlichen Besatzungszonen und der SBZ gab es seit den ersten Initiativen zum Aufbau der Gewerkschaften 1945. Die Erfahrungen mit der Gewerkschaftspolitik der KPD in der Weimarer Republik 13 machte die nichtkommunistischen Funktionäre jedoch mißtrauisch. August Schmidt, bis 1933 Zweiter Vorsitzender des Deutschen Bergarbeiter-Verbandes und ab 1948 an der Spitze der IG Bergbau, äußerte im Juni 1946 Zweifel an der Aufrichtigkeit der kommunistischen Gewerkschafter: "Soweit die parteipolitische Seite [der Einheitsgewerkschaft] in Frage kommt, ist es m.E. notwendig, daß diejenige politische Partei, die früher den Standpunkt der Diktatur vertrat, zunächst den Nachweis erbringen muß, daß sie nunmehr auch wirklich die Zukunft Deutschlands auf demokratischer Grundlage aufbauen will." 14 Aus Sicht der führenden Gewerkschafter im Westen erbrachte sie diesen Beweis nicht. Aus dem anfänglichen Mißtrauen erwuchs die Überzeugung, in der SBZ/DDR sind "unter dem Tarnmantel demokratischer Gewerkschaftsbünde zentralistisch geleitete gewerkschaftliche Machtapparaturen als Werkzeuge sowjetischer Besatzungspolitik" entstanden. 15 Der im Kalten Krieg virulent gewordene Ost-West-Konflikt und die damit verbundene Spaltung Deutschlands sowie die Entwicklung der SBZ allgemein und des FDGB insbesondere zerstörten die Basis der gewerkschaftlichen Interzonenkonferenzen, zu denen zwischen Juli 1946 und August 1948 Vertreter der Gewerkschaften aller vier Besatzungszonen zusammenkamen. 16 Die Interzonenkonferenzen waren der Versuch, zu einer gesamtdeutschen Gewerkschaftspolitik zu gelangen. Ziel war die Errichtung einer Gewerkschaftsorganisation für ganz Deutschland. In Berlin hatte sich innerhalb des FDGB eine Oppositionsgruppe gebildet, die sich 1948 vom FDGB löste und im April 1949 als freie, demokratische Gewerkschaft der drei Westzonen Berlins mit dem Namen Unabhängige Gewerkschafts-Organisation (UGO) konstituier11 Helf, Klaus: Von der Interessenvertretung zur Transmission. Die Wandlung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) (1945-1950), in: Weber, Hermann (Hrsg.): Parteiensystem zwischen Demokratie und Volksdemokratie. Dokumente und Materialien zum Funktionswandel der Parteien und Massenorganisationen in der SBZ/DDR 1945-1950, Köln 1982, S. 339-386, Zitat S. 344. 12 Vgl. Schlegelmilch, Arthur: Hauptstadt im Zonendeutschland. Die Entstehung der Berliner Nachkriegsdemokratie 1945-1949, Berlin 1993, S. 257. 13 Vgl. Müller, Werner: Lohnkampf, Massenstreik, Sowjetmacht. Ziele und Grenzen der "Revolutionären Gewerkschafts-Opposition" (RGO) in Deutschland 1928 bis 1933, Köln 1988. 14 Archiv der IG Bergbau und Energie, Bochum, A (Org) 14, Mappe 12: August Schmidt an Hermann Schlimme, FDGB-Berlin, vom 21.6.1946. Schlimme war bis 1933 Sekretär des Bundesvorstandes des Allgemeinen Deutschen Gewerkschafts-Bundes; 1946 wurde er Mitglied des Bundesvorstandes des FDGB, bis 1951 war er Zweiter Vorsitzender. 15 Geschäftsbericht des Bundesvorstandes des Deutschen Gewerkschaftsbundes 1950-1951, Düsseldorf o.J. (1950), S. 35. 16 Vgl. aus Sicht des DGB: Versprochen - gebrochen. Die Interzonenkonferenzen der deutschen Gewerkschaften 1946-1948, hrsg. vom DGB-Bundesvorstand, Düsseldorf o.J. (1961); aus Sicht der DDR-Historiographie Behrendt, Albert: Die Interzonenkonferenzen der deutschen Gewerkschaften, Berlin 1955, 4. Aufl. 1963. Eine Edition der Protokolle ist als Bd. 9 der Reihe "Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert" angekündigt. Zur Genese des Kalten Krieges vgl. Loth, Wilfried: Die Teilung der Welt. Geschichte des Kalten Krieges 1941-1955, München 1980 u.ö.

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te. 17 Auf der 9. Interzonenkonferenz im August 1948 lehnten die Delegierten des FDGB die Zulassung von UGO-Vertretern ab, die Konferenz wurde vertagt, aber nicht fortgesetzt. Der Streit über die Teilnahme der Berliner Oppositionsvertreter war jedoch nur der Anlaß, nicht die Ursache des Scheiterns der Interzonenkonferenzen. Zwischen dem FDGB und den Gewerkschaften in den Westzonen war längst ein ideologischer Graben aufgebrochen, der nicht mehr zu überwinden war. Die ideologischen Divergenzen zwischen dem FDGB und der überwiegenden Mehrheit der Gewerkschaftsführungen im Westen belegen auch die Ausführungen des Vorstands- und späteren ZK-Mitglieds der SED Helmut Lehmann. Noch im September 1948 forderte der frühere Sozialdemokrat, daß die Interzonenkonferenzen als Verbindung in den Westen "unter allen Umständen aufrechterhalten werden" müßten. 18 Zur Begründung fügte er später dazu, daß zwar die "alten Herren" in den Führungen der Gewerkschaften in den Westzonen nicht mehr von der notwendigen Rolle der Gewerkschaften gegenüber dem "Monopolkapitalismus" überzeugt werden könnten. Aber die "breiten Massen" seien den "neuen Gedanken" durchaus zugänglich. Deshalb sei eine "größere Aktivität des FDGB" notwendig, "um die Arbeiterschaft des Westens mit Klassenbewußtsein zu erfüllen und damit gleichzeitig die Rolle der Gewerkschaften als Massenbasis der Partei d u r c h z u f ü h r e n " . 1 9 Trotz dieses unverhohlenen Aufrufes zur Unterwanderung und Instrumentalisierung der westdeutschen Gewerkschaften durch die SED hatten aus Sicht des FDGB nur die "maßgeblichein) Gewerkschaftsführer" aus den Westzonen durch ihre "imperialistische Restaurations- und Spaltungspolitik" die Schaffung einer einheitlichen deutschen Gewerkschaftsorganisation verhindert. 20 Allein ihnen wurde die Schuld am Scheitern der Interzonenkonferenzen angelastet.

Grundsätze und Ziele der Westarbeit des FDGB Der FDGB verfolgte nicht erst seit 1950 einen gesamtdeutschen Auftrag. 21 Schon vorher wandte sich der FDGB auch an die Arbeiter und Gewerkschafter in den Westzonen und warb für die Wiedervereinigung. Dort wurden die Motive jedoch von Anfang an durchschaut und als Propagandaaktionen im Auftrag der sowjetischen Besatzungsmacht zurückgewiesen. 22 17 Vgl. Berliner Gewerkschaftsgeschichte von 1945 bis 1950. FDGB-UGO-DGB, hrsg. vom DGB-Landesbezirk Berlin, Berlin 1971. 18 Vgl. Friedrich, Thomas u.a. (Hrsg.): Entscheidungen der SED 1948. Aus den Stenographischen Niederschriften der 10. bis 15. Tagung des Parteivorstandes der SED, Berlin 1995, S. 303. 19 Ebenda, S. 309f. 20 Geschichte des FDGB (Anm. 5), S. 281. 21 Vgl. Wilke, Manfred/Hertie, Hans-Hermann: Das Genossen-Kartell. Die SED und die IG Druck und Papier/IG Medien, Dokumente, Frankfurt a.M./Berlin 1992, S. 76-79. Zur Kritik an diesem Band vgl. meine Rezension in: JHK 1993, S. 514. 22 So in einem Schreiben von August Schmidt an den Vorsitzenden der IG Bergbau im FDGB, Paul Lähne, v. 15.3.1948. Schmidt reagierte darin auf einen Aufruf der ostzonalen Bergbaugewerkschaft, in: "Der Bergarbeiter". Mitteilungsblatt der IG Bergbau im FDGB, 2 (1948), Nr. 2, und griff die Rolle des FDGB scharf an; vgl. Archiv der IG Bergbau und Energie, Bochum, A (Org) 14, Mappe 12.

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Der FDGB gab seine Bemühungen zur Beeinflussung und Unterwanderung der westdeutschen Gewerkschaften auch nach dem Scheitern der Interzonenkonferenzen nicht auf. Der Bundesvorstand mußte aber 1950 "selbstkritisch" feststellen, daß man zu wenig darauf geachtet habe, "feste Verbindungen mit den Kollegen der westdeutschen Betriebe herzustellen und mit ihnen gemeinsam das Kampfbündnis für die deutsche Gewerkschaftseinheit herzustellen". 23 Diese Einsicht war von Erfahrungen geprägt, die der FDGB vor allem seit dem Ende der interzonalen Beratungen gemacht hatte. Inzwischen waren mit der Gründung der Bundesrepublik und der DDR nicht nur zwei deutsche Staaten entstanden. Durch die Konstituierung des DGB als Dachverband der westlichen Besatzungszonen im Oktober 1949 24 hatte die Reorganisation der Gewerkschaften in der Bundesrepublik ihren Abschluß gefunden. Und mit der Spaltung des 1945 geschaffenen Weltgewerkschaftsbundes, dem der FDGB angehörte, und der Gründung des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften 25 , dem sich der DGB anschloß, formierten sich auch im internationalen Maßstab einander entgegengesetzte gewerkschaftliche Lager. Der FDGB wandte sich mit einer Grußadresse und einer Entschließung an den DGBGründungskongreß im Oktober 1949, in denen noch einmal die Wiederaufnahme der Verhandlungen auf Interzonenebene gefordert wurde. Hans Böckler, der zum ersten Vorsitzenden des neu gegründeten Dachverbandes gewählt wurde, erwähnte die beiden Dokumente in seiner Eröffnungsrede nur mit einem kurzen Hinweis. 26 Er folgte damit der Empfehlung des Sekretärs des Gewerkschaftsrates, Georg Reuter, der zu dem Schreiben des FDGB notierte: "Wir sollten darauf eine klare und eindeutige Antwort geben, die von unseren Mitgliedern und von unseren Anhängern in Berlin und der Ostzone verstanden wird." 27 Eine solche Antwort wurde zwar nicht gegeben. Der DGB-Bundesvorstand behandelte aber alle Versuche der Kontaktaufnahme des FDGB dilatorisch.28 Unter den veränderten Bedingungen mußte der FDGB Grundsätze zur Fortsetzung und zum Ausbau seiner Westarbeit formulieren. Bei der Arbeitstagung des Bundesvorstandes Anfang November 1949 wurden die Ziele der gesamtdeutschen Arbeit des FDGB festgelegt. "Unser Streben nach Herstellung der deutschen Gewerkschaftseinheit, nach Herstellung der 23 Vgl. Aus der Arbeit des FDGB 1947-1949, Berlin 1950, S. 71-83, Zitat S. 73. 24 Vgl. Kaiser, Josef (Bearbeiter): Der Deutsche Gewerkschaftsbund 1949 bis 1956. Quellen zur Geschichte der deutschen Gewerkschaftsbewegung im 20. Jahrhundert, Band 11, hrsg. von Klaus Schönhoven und Hermann Weber, Köln 1996. 25 Vgl. Lademacher, Horst u.a.: Der Weltgewerkschaftsbund im Spannungsfeld des Ost-West-Konfliktes. Zur Gründung, Tätigkeit und Spaltung der Gewerkschaftsinternationale, in: Archiv für Sozialgeschichte, 19 (1978), S. 119-215; Pfeifer, Sylvia: Gewerkschaften und Kalter Krieg 1945-1949. Die Interzonenkonferenzen der deutschen Gewerkschaftsbünde, die Entwicklung des Weltgewerkschaftsbundes und der Ost-West-Konflikt, Köln 1980; aus Sicht der DDR-Historiographie Hanneberger, Hans-Eberhard: Die Gründung des Internationalen Bundes Freier Gewerkschaften im Jahre 1949, seine Ziel- und Aufgabenstellung und seine Politik bis zum Jahre 1954, unter besonderer Berücksichtigung seines Verhaltens zum Weltgewerkschaftsbund, Diss., Berlin 1973. 26 Protokoll. Gründungskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes, München, 12.-14. Oktober 1949, Köln 1950, S. 9; Reprint unter dem Titel: "Mittelpunkt ist der arbeitende Mensch", Köln 1989. 27 DGB-Archiv, Best. 24.1, Nr. 1405: FDGB-Bundesvorstand an das Präsidium und die Delegierten vom 3.10.1949 und an das Präsidium des DGB-Gründungskongresses vom 6.10.1949; Reuters Vorschlag mit dem Vermerk "Koll. Hans Böckler" vom 11.10.1949 findet sich auf dem zweiten Schreiben. 28 Vgl. Aus der Arbeit des FDGB (Anm. 23), S. lOOff.

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Aktionseinheit der deutschen Arbeiter und Angestellten gegen die Adenauer-Reaktion", hieß es in dem Beschluß, muß "verstärkt und zu einer Hauptaufgabe aller Einheiten des FDGB und aller Industriegewerkschaften werden." Als Zielgruppen dieses Programms im Westen wurden "die Vorstände und Funktionäre der westdeutschen Gewerkschaften und die Millionen ihrer Mitglieder" genannt.29 Doch an Kontakte auf zentraler Ebene war angesichts der Haltung der westdeutschen Gewerkschaftsführer nicht zu denken. Schon wenige Tage später forderte die SED-Westkommission die "Berücksichtigung der neuen Lage [nach Gründung der Bundesrepublik und des DGB] in Westdeutschland hinsichtlich der Einwirkung des FDGB und seiner Verbände auf die Gewerkschaften". 30 Die Westkommission 3 ! bestimmte in allen Phasen die Westarbeit des FDGB und stellte so sicher, daß er dem deutschlandpolitischen Kurs der Staatspartei folgte. Die neue Marschrichtung bestätigte der FDGB-Bundesvorstand in einer Entschließung Ende Januar 1950. Darin hieß es, zur Abwendung eines Krieges, den der "USA-Imperialismus" vorbereite, müsse "im schärfsten Kampf gegen reaktionäre Führer die Spaltung überwunden und die Einheit von unten entwickelt werden". 32 Dementsprechend wurde in einem Arbeitsplan des für die Westarbeit zuständigen Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit vom 28. Januar 1950 die "Notwendigkeit" betont, daß "das Schwergewicht unserer Arbeit nach Westdeutschland zur Herstellung der Aktionseinheit der Arbeit in ganz Deutschland und zur Verwirklichung der deutschen Gewerkschaftseinheit auf die unteren Organe der westdeutschen Gewerkschaften, besonders auf die Betriebe gelegt werden muß. Das heißt, die Entwicklung dieser Bewegung muß von unten erfolgen." 33 Die Bemühungen des FDGB sollten sich auf "die Massen der einfachen westdeutschen Gewerkschaftsmitglieder" richten.34 Der FDGB folgte damit dem Kurs der "Nationalen Front". Der Nationalrat, höchstes Gremium des im Oktober 1949 parallel zur DDR-Gründung erfolgten Zusammenschlusses der Parteien und Organisationen der DDR in der "Nationalen Front" 35 , faßte im Februar 1950 einen Beschluß, der zur "Schaffung eines einheitlichen, demokratischen, friedlichen und un-

29 Zitiert nach ebenda, S. 432f. 30 SAPMO-BA, N Y 4182 NL Ulbricht, Nr. 867, Bl. 148ff.: Protokoll Nr. 23 der Sitzung der Westkommission der SED vom 11.11.1949. 31 Organisation und Funktion der Westkommission der SED sind ein Desiderat der Forschung. Sie wurde im Februar 1949 gegründet; vgl. Entscheidungen der SED 1948 (Anm. 18), S. 23. Im Februar 1951 sei die Westkommission als Abteilung des ZK der SED aufgelöst, faktisch jedoch durch die Einsetzung von Referenten in allen Abteilungen erweitert worden. An ihre Stelle sei im November 1951 das Büro für gesamtdeutsche Arbeit getreten, das bis 1957 die Westarbeit der einzelnen Abteilungen und der Massenorganisationen koordiniert habe; Major, Patrick: The German Communist Party (KPD) in the Western Zones and in Western Germany 1945-1956. Diss., Oxford 1993, S. 48. 32 SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 6807: Entschließung zur Verteidigung des Friedens und zur Nationalen Front des demokratischen Deutschlands des FDGB-Bundesvorstandes am 25./26.1.1950. 33 SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 3675. Vgl. dazu auch die Ausführungen des Büroleiters Franz Dietrich bei der Sitzung einer Kommission für Westarbeit am 12.7.1950, in: SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 26/-/277. Zur Organisation und den Aufgaben des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit vgl. den folgenden Abschnitt. 34 Aus der Arbeit des FDGB (Anm. 23), S. 94. 35 Vgl. Grasemann, Hans-Jürgen: Das Blocksystem und die Nationale Front im Verfassungsrecht der DDR. Diss., Göttingen 1973, S. 112-116.

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abhängigen Deutschlands" aufrief. 36 Die Aktionseinheit der Arbeiterklasse wurde als "entscheidende Stoßkraft der Nationalen Front" angesehen. Bei dieser Feststellung hob der damalige Leiter des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit, Franz Dietrich, zugleich aber auch hervor, daß über den Begriff "Aktionseinheit der Arbeiterklasse" noch "eine große Unklarheit vorhanden" sei. "Der Begriff ist noch etwas Leeres, und demzufolge ist die Aktivität der Arbeit in dieser Richtung noch mit einer ganzen Reihe von Schwächen [...] verbunden." Unklarheit herrsche über die Themen und Anlässe, für die sich Arbeiter in der Bundesrepublik und der DDR gemeinsam engagieren könnten. Dietrich nannte als zentrale Bereiche die Friedenspolitik, die Einheit Deutschlands, die Verbesserung des Lebensstandards, die Solidarität mit westdeutschen Arbeitern bei Lohnkämpfen und die Gewerkschaftseinheit. Um auf diesen Feldern Fortschritte zu erzielen, forderte Dietrich einen Wandel der Westarbeit durch Konzentration der Aktivitäten auf Betriebsebene und Anstrengungen, um eine "feste Verbindung nach Westdeutschland zu schaffen". 37 Der "Hauptkampf', so hob der FDGB-Vorsitzende Herbert Warnke hervor, sollte sich fortan "gegen die anglo-amerikanischen Imperialisten, Adenauer und Böckler richten". Deshalb müsse man "den Arbeitern drüben sagen: Verteidigt Eure Gewerkschaften auch gegen Böckler! Seht zu, daß ihre eine andere Führung bekommt!" 38 Diese Wende nachzuvollziehen fiel vor allem jenen FDGB-Funktionären nicht leicht, die bis 1933 mit den Führern des DGB und der westdeutschen Gewerkschaften zusammengearbeitet hatten. So wies die Redaktion der FDGB-Zeitung "Tribüne" im März 1950 einen Beitrag Hermann Schlimmes zurück mit der Begründung, daß der "Artikel noch nicht genug die inzwischen beschlossene neue Linie des FDGB widerspiegelt, die darin besteht, sich an die Mitglieder und Funktionäre zu wenden und sie zum Kampf gegen Böcklers Spalterpolitik aufzurufen". 39 Das Ziel der Aktionseinheit von unten und die gleichzeitige Forderung an die westdeutschen Gewerkschafter, ihre Führung abzulösen, barg einen offensichtlichen Widerspruch; denn der Vorstand des DGB und die Leitungen der Gewerkschaften waren in der Regel mit großen Mehrheiten gewählt worden. In seinem Referat beim FDGB-Kongreß 1950 konnte Warnke jedoch nur mit dem vagen Hinweis aufwarten, man darf "die Reden der Führer, man darf selbst die Resultate politischer Wahlen nicht mit der Stimmung der Massen verwechseln". 40 Als Aufgabe der "gesamtdeutschen Politik" des FDGB formulierte Warnke zusammenfassend die Auseinandersetzung mit der Politik der westdeutschen Gewerkschaftsführer, die Herstellung von Kontakten zur Unterstützung von "fortschrittlichen Gewerkschaftern und der Arbeiterschaft Westdeutschlands" und ein verstärktes Engagement zur Gewinnung der Massen in der Bundesrepublik. 41 36 Abgedr. in: Programmatische Dokumente der Nationalen Front des demokratischen Deutschlands. Hrsg. u. eingel. v. Helmut Neef, Berlin 1967, S. 102-118, Zitat S. 102. 37 SAPMO-BA, D Y 34, vorl. Nr. 261-1211: Aktennotiz über die Kommissionssitzung des Büros für deutsche Gewerkschaftsarbeit am 15.4.1950 vom 19.4.1950. 38 Ebenda: Bericht über die Besprechung mit den Vertretern der Schwerpunkt-Industriegewerkschaften des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit am 20.3.1950 vom 21.3.1950. 39 SAPMO-BA, NY 4016 NL Schlimme, Nr. 25: Redaktion "Tribüne" an Schlimme vom 30.3.1950. 40 Protokoll des 3. Kongresses des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes vom 30. August bis 3. September 1950, Berlin, Werner Seelenbinder-Halle, Berlin 1950, S.51. 41 Ebenda, S. 55.

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Das "Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit" des FDGB Am 1. November 1948 wurde das Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit beim FDGB-Bundesvorstand gebildet. "Die Lage, die für diesen Beschluß bestimmend war, braucht nach dem bisher Gesagten nicht noch einmal analysiert zu werden" 42 , lautete die lapidare Begründung. Das Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit war eine Abteilung des FDGB-Bundesv o r s t a n d e s . 4 3 Seine eigentliche Arbeit begann erst Ende 1949. Den Impuls gab die Westkommission der SED. 44 Auch bei den FDGB-Gewerkschaften wurden Abteilungen für Westarbeit aufgebaut, die vom Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit angeleitet und kontrolliert wurden. Sie sollten sich "in allen möglichen Formen" beteiligen. 45 Besonderes Gewicht sollte auf die Branchen "Bergbau, Metall, Eisenbahn, Transport (Hafen)" gelegt werden. 46 Den für diese Wirtschaftszweige zuständigen Verbänden des FDGB sollte deshalb spezielle Bedeutung bei der Westarbeit zukommen ("Schwerpunktgewerkschaften"). Die besondere Aufmerksamkeit gerade für diese Sektoren kam nicht von ungefähr. Zwar dürfte eine Rolle gespielt haben, daß im Bergbau und in der Metallindustrie in der Bundesrepublik die Kommunisten mehr Resonanz fanden als in anderen Bereichen. Der Hauptgrund für das Augenmerk der FDGB-Westarbeit war aber, daß es sich um Schlüsselindustrien und im Falle von Eisenbahn und Transport um sabotageanfällige und strategisch wichtige Branchen handelte, deren Kontrolle als besonders wichtig angesehen wurde. Die Analyse der organisatorischen Strukturen der FDGB-Westarbeit ist unvollständig, wenn der Blick allein den Binnenverhältnissen gilt. Von Bedeutung sind auch die Außenbeziehungen, wobei besonders die Gewerkschaftspolitik der KPD in der Bundesrepublik zu berücksichtigen ist. Der Versuch, das Verhältais zwischen der Staatspartei (und -gewerkschaft) in der DDR und der kommunistischen Partei (und ihrer Gewerkschaftsarbeit) in Westdeutschland genauer zu erläutern, würde jedoch den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Deshalb sollen hier nur einige Aspekte angesprochen werden. Die KPD mit ihren Gliederungen und Funktionären in Gewerkschaften und Betrieben war eine wichtige organisatorische Stütze der Aktivitäten des FDGB in der Bundesrepublik. Viele Maßnahmen des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit setzten die Kooperation der KPD auf allen Ebenen als Anlauf-, Vermittlungs- und Verteilungsstelle sowie Organisationsund Koordinationszentrale voraus. Der FDGB sah in der KPD eine willfährige Hilfstruppe für die Westarbeit. Deshalb reisten seine Vertreter immer wieder zu Absprachen zum Parteivorstand nach Frankfurt am Main. 47 42 Aus der Arbeit des FDGB (Anm. 23), S. 97. In der Berliner Gewerkschaftsgeschichte (Anm. 17), S. 109, wird als Gründungsdatum des Büros Mai 1948 genannt. 43 Vgl. dagegen Gill, FDGB (Anm. 5), S. 428, Anm. 199, der das Büro als Koordinationsstelle charakterisiert. 44 Vgl. SAPMO-BA, NY 4182 NL Ulbricht, Nr. 867, Bl. 145f.: Protokoll Nr. 21 der Sitzung der Westkommission der SED vom 2.11.1949. 45 So der FDGB-Vorsitzende Warnke, wie Anm. 38. 46 SAPMO-BA, DY 34, vor. Nr. 26/-/277: Aktennotiz über eine Unterredung mit Franz Dahlem, Frühjahr 1950. Die Urheberschaft konnte nicht ermittelt werden; die Datierung ergibt sich aus dem Inhalt. 47 Vgl. z.B. SAPMO-BA, DY 43, FDGB-Buvo, Nr. A 3675: Bericht über die Reise nach Westdeutschland vom 7. bis 14.12.1949 vom 27.12.1949.

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Aber die Unterstützung durch die westdeutschen Kommunisten funktionierte nicht so reibungslos, wie man in der Ostberliner Gewerkschaftszentrale erwartete. Im Juni 1950 wurde von der SED-Westkommission die "Notwendigkeit radikaler Maßnahmen zur Verbesserung der Gewerkschaftspolitik der KPD" unterstrichen.48 Deutlicher wurde das Sekretariat des FDGB-Bundesvorstandes in einem Beschluß vom August 1950. Nun wurde die Entsendung eines Vertreters veranlaßt, der auf die Durchführung der Beschlüsse des FDGB durch die zuständige Abteilung Arbeit und Soziales des KPD-Vorstandes achten sollte. 49 Konkret verwies FDGB-BundesVorstandsmitglied Friedel Malter auf die Schwächen der KPD, indem sie feststellte, daß bei einem großen Teil der KPD "starke sektiererische Tendenzen vorhanden" seien. Sie würden den Zusammenhang zwischen "Gewerkschaftskampf und nationalem Widerstand" nicht erkennen. 50 Der Unwillen vieler westdeutscher Kommunisten, den Vorgaben des FDGB-Vorstandes zu folgen, hatte seine Ursache auch in dem radikalen Kurs, der von dort vorgegeben wurde. Als der KPD-Parteivorstand im März 1950 eine umfassende Resolution zur Gewerkschaftspolitik verabschiedete, die vorher in Ostberlin beraten worden war 51 , kam es zu Auseinandersetzungen über die Gewerkschaftsarbeit. Hermann Nuding, im westdeutschen Parteivorstand für die Gewerkschaften zuständig, "hatte Bedenken gegen die angeschlagene und überzogene Polemik. Vor allem stellte er sich gegen unrealistische Forderungen und wandte sich gegen das Sektierertum in der Gewerkschaftspolitik, mit der sich die KPD weiter zu isolieren drohte". 52 Nuding wurde abgesetzt. Der schließlich ein Jahr später gefaßte Beschluß des FDGB, die "Arbeit nach Westdeutschland politisch und organisatorisch unabhängig von der KPD" durchzuführen 53 , bezog sich wohl mehr auf die Autonomie des FDGB gegenüber der KPD als umgekehrt. Es kann kein Zweifel bestehen, daß die Gewerkschaftsarbeit der KPD, so wie ihre Politik überhaupt, den Vorgaben aus dem Osten, in diesem Fall des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit, folgte.

48 Vgl. SAPMO-BA, N Y 4182 NL Ulbricht, Nr. 867, Bl. 258ff.: Notizen von Franz Dahlem zum Protokoll Nr. 52 der Sekretariatssitzung der Westkommission der SED am 7.6.1950 vom 19.6.1950. Ein kritisches Resümee zog auch Herbert Warnke nach einer Reise in die Bundesrepublik; SAPMO-BA, D Y 34, Nr. 3675: Herbert Wamke, Bericht über meine Reise nach Hannover und Hamburg am 1. und 2. Juli 1950 v. 3.7.1950. Ähnlich auch Karl Fugger; vgl. ebenda: Karl Fugger an den FDGB-Bundesvorstand, Herbert Warnke, und das Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit, Franz Dietrich, vom 5.8.1950. 49 SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 4062: Beschluß S 514/40 des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes v. 10.8.1950. 50 SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 3675: Protokoll über die Arbeitstagung des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit in der Zentralschule der Industriegewerkschaft Metall vom 25. bis 28.9.1950 in Lanke vom 4.10.1950, S. 2. 51 Die Gewerkschaftsbewegung und die Kommunisten. Resolution der 15. Tagung des Parteivorstandes der KPD am 6. und 7. März 1950. Sonderbeilage zu Wissen und Tat. Theoretische Zeitschrift des Parteivorstandes der KPD, 5 (1950), Heft 2. Der Entwurf der Resolution lag der Westkommission der SED vor; SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 3675: "Die Gewerkschaften und die Kommunisten", Abschrift, 27.1.1950. 52 Mayer, Herbert: Durchsetzt von Parteifeinden, Agenten, Verbrechern...? Zu den Parteisäuberungen in der KPD (1948-1952) unter Mitwirkung der SED, Berlin 1995, S. 29. 53 SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 25/-/808: "Vertrauliche Verschlußsache", Beschluß des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes am 12.5.1951 vom 17.5.1951.

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D i e Leitung des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit, das später Büro für nationale Gewerkschaftsarbeit und dann Büro für Arbeiterfragen in Westdeutschland h i e ß 5 4 , hatte bis Anfang 1950 Hans Slawsky, dann Franz Dietrich i n n e . 5 5 Ihm folgte 1954 Paul Geisler 5 6 . V o n Oktober 1955 bis 1963 stand Josef (Jupp) Steidl 5 7 an der Spitze der Westabteilung beim FDGB-Bundesvorstand. Bis Ende 1949 bestand das Personal des Büros nur aus dem Sekretär und z w e i Bürokräften. "Die Arbeit beschränkte sich deshalb auf die Erstellung von Analysen über die Lage in Westdeutschland und ihre Verwertung für Referate und für die Presse." Im Januar 1 9 5 0 wurde die Abteilung auf fünf "politische" und drei "technische Kräfte" s o w i e drei Mitarbeiter, die in den Ländern Sachsen-Anhalt, Thüringen und Mecklenburg tätig waren, erweitert. 5 8 D i e Westkommission der S E D beschloß im Juni 1950, die Abteilung zu reorganisieren und personell auszubauen. 5 9 Leider erlauben die vorliegenden Materialien kein genaues Bild über die Größe des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit, und die in den ausgewerteten Akten überlieferten Berichte enthalten nach 1950 keine Angaben mehr zur personellen Stärke der Abteilung. Im Laufe der Jahre sei sie die größte im FDGB-Bundesvorstand g e w o r d e n 6 0 , man schätzte sie schon 1953 auf insgesamt 2 0 0 Mitarbeiter 6 1 , und Geld habe "überhaupt keine Rolle" gespielt. 6 2 1959 wurde das Personal des Büros auf 3 0 0 0 bis 4 0 0 0 Personen beziffert, und der Etat der

54 Der FDGB als Erfüllungsgehilfe der SED. Hrsg. vom DGB-Bundesvorstand, 3. Aufl., Düsseldorf 1964, S. 69. 55 Slawsky (geb. 1906) war bis März 1950 Leiter des Büros für deutsche Gewerkschaftsarbeit. Er wurde wegen einer aus Sicht des FDGB-Bundesvorstandes politisch bedenklichen Umfrageaktion über Kündigungen von Arbeitnehmern in der SBZ/DDR entlassen. Dietrich (geb. 1905) wurde später Verwaltungsdirektor an der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft "Walter Ulbricht". Für diese Hinweise danke ich Dr. Ulrich Mählert, Universität Mannheim. 56 Geisler (1895-1971) wurde dann Leiter der Abteilung Kader und Organisation und 1958 Sekretär im Zentralvorstand der IG Metall im FDGB. 57 Steidl (1919-1986) war 1949-1954 Vorsitzender des FDGB-Landesvorstandes Brandenburg bzw. Bezirksvorstandes Potsdam der IG Transport und leitete von 1954 bis Oktober 1955 den Sektor Information des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit. Ab 1962 war er im ZK der SED zuständig für Gewerkschaften und Sozialpolitik, von 1965 bis 1985 für die nachrichtendienstliche Abteilung "Verkehr". 58 SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 3675: Bericht über die Arbeit der Abteilung "Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit" vom 22.3.1950, S. 1. 59 SAPMO-BA, NY 4182 NL Ulbricht, Nr. 867, Bl. 227-231: Protokoll Nr. 52 der Sekretariatssitzung der Westkommission der SED vom 7. 6.1950. 60 Haas, Gerhard: Der FDGB 1954. Hrsg. vom Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen, Bonn 1954, S. 46; Feinde der Demokratie. Presseschau, Kommentare und Informationen aus gewerkschaftlicher Sicht, hrsg. vom DGB-Landesbezirksvorstand Niedersachsen, Sonderheft: Die "Gesamtdeutsche Arbeit" des FDGB, VII. Jg., Juni 1958, S. 4. 61 Laut "einer Verschlußsache des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes", zitiert in: Archiv der sozialen Demokratie, Bonn (im folgenden: AdsD), Best. Ostbüro, Nr. 0386c/03127: Bericht über die Abteilung Deutsche Gewerkschaftseinheit beim Bundesvorstand des FDGB vom 3.3.1955. Weiteres Material zur Westarbeit des FDGB in den fünfziger Jahren findet sich in folgenden Akten dieses Best.: 0386c/ 03125f., 0351k/02928 und 02930. 62 Art. "Die Gewerkschafts-Einheit der SED", in: Der Arbeitgeber, Düsseldorf, H. 11 vom 5.6.1955, S. 387ff„ Zitat S. 389.

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Abteilung habe 130 bis 150 Millionen DDR-Mark umfaßt. 63 Auf den ersten Blick mögen diese Zahlen westlicher Quellen zu hoch erscheinen. Sieht man sich jedoch Zielsetzung sowie Art und Umfang der Aktivitäten des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit an, sind sie in ihrer Tendenz durchaus plausibel.

Formen und Methoden der Westarbeit des FDGB Das Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit hatte eine Reihe von Aufgaben, die als Grundlagen der Westarbeit angesehen wurden. Dazu zählten u.a. die Sammlung von Material und die Ausarbeitung von z.T. sehr umfangreichen "Analysen" über die Gewerkschaften in der Bundesrepublik. 64 Mit großem Aufwand wurde aber auch die Entwicklung der Situation der Arbeitnehmer insgesamt und in einzelnen Branchen beobachtet. 65 Seit Juni 1951 gab das Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit auch interne "Informationsberichte" heraus, die über die Stimmung in Betrieben und Gewerkschaften in der Bundesrepublik Auskunft geben sollten. 66 Neben der Beschaffung und Sammlung von Informationen verfolgten die Westabteilungen des FDGB und der Gewerkschaften direkte Maßnahmen, mit denen sie ihre Ziele in der westdeutschen Gewerkschaftsbewegung forcieren zu können glaubten. Die Verbreitung von Materialien in der Bundesrepublik betrieb der FDGB mit großem Aufwand. Im Juli 1951 wurde eigens eine "Versandabteilung" beim Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit geschaffen. Die Menge der allein in der zweiten Jahreshälfte 1951 von dort in die Bundesrepublik verschickten Drucksachen ist bemerkenswert. In diesem Zeitraum wurden über 225.000 Postsendungen, Briefe und Päckchen auf den Weg gebracht. Von April bis Dezember 1951 wurden - nach Angaben des FDGB - Klebezettel, Flugblätter, Zeitschriften und Broschüren mit einer Gesamtauflage von über drei Millionen in die Bundesrepublik verschickt. 67 Speziell für die Agitation in der Bundesrepublik sollte ein monatliches "Bulletin" herausgegeben werden. Es verblüfft, daß dieses Vorhaben 1950 mit der Begründung verschoben werden mußte, daß "ein journalistisch befähigter Kollege für die Durchführung dieser Aufgabe" im Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit "noch nicht vorhanden" war. 68 Erst ab August 1951 erschien dann zweimal im Monat die "Deutsche Gewerkschafts-Zeitung". Ende 1951 wurde einerseits konstatiert, daß die Zeitung "in Westdeutschland unter den Werktätigen einen guten Anklang" fände, andererseits aber "noch nicht die genügende Breitenbasis"

63 Friedberg, Harry: Die Westarbeit des FDGB, in: SBZ-Archiv, 10 (1959), S. 49-53, hier S. 52. Vgl. auch: Der Gewerkschaftsapparat der SED. Organisation, Hauptaufgaben und politische Entwicklung der Pseudo-Gewerkschaft in der Sowjetzone. Von Gerhard Haas, neu bearb. v. Julian Lehnecke, hrsg. v. Bundesministerium für Gesamtdeutsche Fragen, Bonn/Berlin 1963, S. 17. 64 Vgl. z.B. die "Analyse" von Juni 1954, in: SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 0267. 65 Vgl. z.B. ebenda, Nr. A 0266. 66 Vgl. ebenda, ab Nr. A 2692. 67 Eigene Berechnungen nach den Angaben in: SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 26/90/1899: Jahresbericht für das Jahr 1951 des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit, S. 15ff. 68 SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 3675: Bericht über die Arbeit der Abteilung "Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit" in den Monaten April und Mai 1950 vom 2.6.1950.

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habe. 69 Daran änderte sich auch nichts, schon im Februar 1952 wurde das Erscheinen wieder eingestellt. Für viele der westdeutschen Arbeiter waren Inhalt und Diktion des FDGB-Materials nicht nachzuvollziehen. Die Drucksachen, so gab Dietrich die Meinung westdeutscher Gewerkschafter wieder, würden "eine viel zu ungenügende politisch-ideologische Auseinandersetzung mit der Politik und Theorie der rechten Gewerkschaftsführer darstellen", "nur schimpfen, schlagwortartige Feststellungen machen". 70 Eine Teilnehmerin an einer Arbeitstagung des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit schrieb dem FDGB ins Stammbuch: "Wir bekommen Euer Material, Ihr habt aber vergessen, daß die fünf Jahre Eurer Entwicklung auch schon eine Entwicklung der Sprache mit sich gebracht haben, der die westdeutschen Gewerkschafter nur schwer folgen können." 71 Besonderes Gewicht legte der FDGB bei der Westarbeit auf die Herstellung persönlicher Kontakte zu westdeutschen Arbeitern und Gewerkschaftern durch Einladungen und Delegationen. Eine große Gruppe der westdeutschen Gewerkschafter, die in die DDR reisten, waren Teilnehmer an Ferienaufenthalten in FDGB-Heimen. Ursprünglich war nur beabsichtigt, solche westdeutschen Arbeiter einzuladen, "die vielleicht Opfer des Demontagekampfes oder Opfer beim Kampf der Aktionseinheit oder im Kampf für die Gewerkschaftseinheit geworden sind". 72 Diese Einschränkung wurde aufgegeben. Erstmals seien 1950 200 westdeutsche Gewerkschafter in FDGB-Ferienheimen zu Gast gewesen. 73 Umfang und Betreuung der westdeutschen Urlaubergruppen wurden ab Juli 1950 in Richtlinien detailliert geregelt. Die FDGB-eigenen Ferienheime sollten zu 60 Prozent mit Gästen aus der Bundesrepublik und zu 40 Prozent mit "politisch bewußten Kollegen aus der DDR" belegt werden. 74 In den Regularien wurde auch die genaue Auswertung der Aktionen am Ende einer Reiseperiode vorgeschrieben, so daß diese Berichte Aufschluß über Umfang und Ergebnisse dieses Teils der FDGB-Westarbeit geben. So hält beispielsweise eine "Analyse" der Delegationen von Januar bis Oktober 1952 fest 75 , daß in den ersten zehn Monaten jenes Jahres 4093 Urlauber aus dem Westen betreut worden seien. 1299 davon gehörten der KPD an, 72 der SPD, der Rest war parteilos, und "nur" 290 übten gewerkschaftliche Funktionen aus. Zur eigentlichen Intention der Ferienaktion, Verbindungen in den Westen aufzubauen, ist in dem Bericht zusammenfassend vermerkt: Von den Urlaubern wurden "gewonnen: 112 als Anlaufstellen, 109 die Quartiere zur Verfügung stellen, 825 zu denen von Instrukteuren Verbindung aufgenommen werden kann. 1345 die mit Material beliefert werden. 1702 sind für die Arbeit nicht zu verwenden. Hierbei handelt es sich um ca. 350 Kollegen, die von unseren Betreuern als absolut 69 Jahresbericht 1951 (Anm. 67), S. 13. 70 SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 26/-/277: Bericht der Kommissionssitzung des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit am 3.6.1950 vom 5.6.1950. 71 SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 3675: Bericht über die Arbeitstagung des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit mit westdeutschen Kollegen am 26.7.1950. 72 SAPMO-BA, D Y 34, Nr. A 4030: Entwurf, Grundsätze für eine gesamtdeutsche Gewerkschaftsarbeit des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit vom 29.11.1949, S. 20. 73 Aus der Arbeit des FDGB (Anm. 23), S. 99. 74 SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 26/6/276: Richtlinien für die politische und kulturelle Betreuung der westdeutschen Kollegen in den Ferienheimen des FDGB vom 31.7.1950. 75 Dieser und weitere Berichte aus den Jahren 1952/53 finden sich in: SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 26/102/2067.

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negative Elemente charakterisiert werden, um Kinder und um Hausfrauen." Die Gesamtbilanz lautete: "Der politische Gewinn der Urlauber-Aktion steht in keinem Verhältnis zu dem betriebenen Aufwand." Ein so negatives Fazit war nicht die Ausnahme. Kritisiert wurde, daß an den Ferienaufenthalten zu viele KPD- und zu wenige SPD- und Mitglieder anderer Parteien teilnahmen und der Erfolg in Form des Aufbaues dauernder Kontakte zu gering war. 76 Bezeichnend für das mangelnde politische Interesse des größten Teils der Westurlauber ist ein Gedicht in der zum Abschluß eines Ferienaufenthaltes herausgegebenen "Bierzeitung" vom Sommer 1953. Ironisch heißt es darin zum Schluß: "Und komm ich nach Hause, so werden sie fragen / Was ich gesehen und ich muß dann sagen: / Ich hab gut getrunken und hab gut gegessen, / Den Kampf um die Einheit, den hab ich vergessen." 77 Neben den Urlauberdelegationen luden der FDGB und die Einzelgewerkschaften zu unterschiedlichen Anlässen, etwa zu den 1. Mai-Feiern78, Gruppen aus dem Westen in die DDR ein. In einer ersten Bilanz im Oktober 1950 hieß es: "Delegationen wurden von uns in großer Zahl eingeladen und die Erfolge waren nicht schlecht, die dabei erzielt wurden. Aber jetzt kommt es darauf an, mehr Wert auf die Qualität zu legen, d.h. also, wir müssen Delegationen einladen, die für uns einen Wert haben, z.B. Funktionäre, Sozialdemokraten, Parteilose, die sich im Kampf in Westdeutschland bemerkbar gemacht haben." 79 Von Oktober 1953 bis Februar 1956 registrierte der FDGB insgesamt 139.663 Besucher aus der Bundesrepublik. 80 Neben den Urlaubern hatten davon Betriebsdelegationen und Reisegruppen zur Leipziger Frühjahrs- und Herbstmesse 8 ! den größten Anteil. Auch zu diesen enthielt der bereits zitierte Bericht vom Oktober 1950 keine positive Rückschau. 82 Zu den Betriebsdelegationen wurde festgestellt: "Die Delegationsteilnehmer verpflichteten sich, in Westdeutschland die Wahrheit über die DDR zu verbreiten und Agitationsmaterial zu empfangen und zu verteilen. Festgestellt werden muß, daß die Delegationsmitglieder nur in einzelnen Fällen ihren abgelegten Verpflichtungen nachgekommen sind." Und mit Blick auf die Leipziger Messe wurde angemerkt: "Es muß erreicht werden, daß in Zukunft mehr parteilose Arbeiter, mehr SPD-Funktionäre (soweit sie positiv sind) eingeladen werden, die ihre Erfahrungen auswerten. Die Delegationen von Ehefrauen ohne Funktionen und ohne politische Tätigkeit sowie von Kindern muß weitgehendst [!] eingeschränkt werden." 76 Zahlreiche Berichte und Material dazu sind überliefert in: SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 26/103/2067; 26/104/2067; 26/105/2067; 26/106/2067; 26/92/1899; 26/57/1892; 26/61/1892; 26/58/1892. 77 SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 26/104/2067: "Bierzeitung des FDGB-Heim Glückauf', "Durchgang 1.14.6.1953". 78 Vgl. z.B. anläßlich des 1. Mai 1954 SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 26/83/1896. 79 Wie Anm. 50, S. 6. 80 SAPMO-BA, DY 34, Nr. 3643: Hausmitteilung des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit an Herbert Warnke vom 13.2.1956. 81 Zu Delegationen zu den Leipziger Messen 1953 und 1954 vgl. SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 26/94/ 1899; 26/59/1892. Zu den umfassenden Vorbereitungen für die Delegationen zur Herbstmesse 1955 vgl. SAPMO-BA, DY 34, Nr. A. 6033: Beschluß P 58/55 des Präsidiums des FDGB-Bundesvorstandes vom 28.7.1955. Im folgenden unberücksichtigt bleiben die Delegationen zu den von 1954 bis 1971 in Leipzig stattfindenden sogenannten "Gesamtdeutschen Arbeiterkonferenzen". Zu den Protokollen und den im Zusammenhang dieser Konferenzen erschienenen Periodika und Veröffentlichungen vgl. den von der Bibliothek des SAPMO-BA hrsg. Bibliotheksbrief, Ausgabe 10/94. 82 Wie Anm. 50.

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Zur Herstellung persönlicher Kontakte zu westdeutschen Gewerkschaftern entsandte der FDGB auch sogenannte "Instrukteure" in die Bundesrepublik. Sie sollten Kontakte zu Gewerkschaftern in den Betrieben herstellen, sich bei Arbeitskämpfen engagieren, durch Urlaubs* und Delegationsreisen in die DDR entstandene Verbindungen aufrechterhalten und ausbauen sowie Informationen über die Entwicklung der westdeutschen Gewerkschaften liefern. Welche Schwierigkeiten die in die Bundesrepublik entsandten FDGB-Instrukteure hatten, zeigte sich bei einer Konferenz im Oktober 1951: Die Kontaktaufnahme im Westen war schwierig, es fehlte an Anleitung und Informationen und mit der Ankunft in der Bundesrepublik bestand keine Verbindung mehr nach Ostberlin. 83 Probleme ergaben sich auch bei der Rekrutierung der FDGB-Emissäre durch die Gewerkschaften, weil diese bei der Auswahl "nachlässig" arbeiteten. Während sich das Büro für deutsche Gewerkschaftsarbeit um Konspiration bemühte, wurde bei einer Überprüfung im Juni 1951 festgestellt, daß die meisten der eingeladenen 60 Kandidaten bereits vorher über den Zweck des Gesprächs informiert worden waren. Außerdem kam nur ein Teil der Anwärter überhaupt in Frage: "Einige Industriegewerkschaften schlugen Kollegen vor, die sie selbst aufgrund mangelnder Qualifikation nicht gebrauchen" konnten. Schließlich meldeten sie "Schwerbeschädigte von 40-70 Prozent". Daraus wurde in dem Bericht gefolgert, "daß die Industriegewerkschaften die politische Bedeutung der Instrukteurarbeit in Westdeutschland nicht erkannt haben". 84 Die Jahresbilanz 1951 war insgesamt negativ. Von 611 überprüften Kandidaten kamen 280 als Instrukteure zum Einsatz, davon "fielen" weitere 70 aus, die "gegen die Disziplin verstoßen haben, denen Unehrlichkeit nachgewiesen wurde oder die verhaftet wurden." 85 Wegen der Gefahr, in die Mühlen der bundesrepublikanischen Justiz zu geraten, die in den fünfziger Jahren auf der Grundlage des politischen Strafrechts gegen alles vorging, was im Verdacht des Kommunismus stand 86 , mußten die Instrukteure verdeckt operieren. Günter Guillaume schildert in seinen Erinnerungen, wie sich 1954 eine Instrukteurgruppe seiner Gewerkschaft anläßlich des Streiks in der bayerischen Metallindustrie87 auf den Weg in den Westen machte. Kurz vor der deutsch-deutschen Grenze wurden die über den Zug verteilten Instrukteure zum Aussteigen aufgefordert, weil die westdeutschen Behörden von der Aktion Kenntnis bekommen hatten und man mit der Verhaftung der Gruppe rechnete. (Der spätere Kanzleramtsspion Guillaume freilich mißachtete nach seinen eigenen Angaben den Rückzugsbefehl und machte so sein "Probestück als politischer Aufklärer"). 88

83 SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 25/-/808: "Vertrauliche Verschlußsache", Bericht über die auf Beschluß des Sekretariats des Bundesvorstandes des FDGB stattgefundene Beratung mit den Instrukteuren, die in Westdeutschland eingesetzt sind am 24.10.1951. Der Bericht mit selbem Datum beinhaltet ein Wortprotokoll der umfangreichen Diskussion. 84 Jahresbericht 1951 (Anm. 67), S. 6. 85 Ebenda, S. 15. 86 Vgl. allgemein von Brünneck, Alexander: Politische Justiz gegen Kommunisten in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968, Frankfurt (Main) 1978, zur Verfolgung von FDGB-Instrukteuren in der Bundesrepublik S. 148 und 205; außerdem die Beispiele bei Posser, Diether: Anwalt im Kalten Krieg. Ein Stück deutscher Geschichte in politischen Prozessen 1951-1968, München 1991, S. 207 und S. 266-277. 87 Vgl. Schmidt, Rudi: Der Streik in der bayerischen Metallindustrie von 1954. Lehrstück eines sozialen Konflikts, Köln 1995. 88 Guillaume, Günter: Die Aussage. Protokolliert von Günter Karau, Berlin 1988, Zitat S. 35.

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Verlauf und konzeptioneller Wandel der FDGB-Westarbeit bis 1956 Mit der fortschreitenden politischen und wirtschaftlichen Integration in das westeuropäische Staatensystem und der Diskussion um die Wiederbewaffnung 89 der Bundesrepublik erfuhr die Westarbeit des FDGB eine Konkretisierung. Damit wurde den Vorgaben der Vormacht Sowjetunion gegenüber der SED Rechnung getragen, das Engagement in der Bundesrepublik zu verstärken, um die Wiederbewaffnung und Westintegration des westdeutschen Staates zu verhindern. 90 Diesen Weisungen hatten natürlich auch die Massenorganisationen und mit ihnen der FDGB zu folgen. Im Mai 1951 beschloß das Sekretariat des FDGB-Bundesvorstandes, daß nun "der Kampf um den Frieden gegen die Remilitarisierung Deutschlands [...] im Vordergrund der Gewerkschaftsarbeit in Westdeutschland" stehe. Die gesamtdeutsche Politik des FDGB müsse darauf ausgerichtet sein, "die Gewerkschafter Westdeutschlands im Kampf gegen die Remilitarisierung und für die Durchführung der Volksbefragung sowie bei der Herstellung der Aktionseinheit aller westdeutschen Arbeiter zu unterstützen und die rechte Gewerkschaftsführung zu entlarven".91 Die Volksbefragung sollte in der Bundesrepublik durch die KPD von Ausschüssen organisiert werden, die aber vom Bundes- und den Länderinnenministern verboten wurden. 92 So konnte die Befragung nur in der DDR stattfinden. Wie nicht anders zu erwarten, stimmten dort über 95 Prozent gegen die "Remilitarisierung" der Bundesrepublik. 93 Der FDGB wollte die westdeutschen Gewerkschaften zu einer Stellungnahme zur Wiederbewaffnung nötigen. Deshalb sollten über einzelne DGB-Kreisausschüsse Anträge lanciert werden, um die Tagesordnung des außerordentlichen DGB-Bundeskongresses 1951 entsprechend zu erweitern. 94 Tatsächlich lagen der Ende Juni 1951 tagenden Konferenz mehrere solche, inhaltlich identische Anträge vor, von denen einer zur Abstimmung kam und abgelehnt wurde. Der Sitzungsvorsitzende Georg Reuter kommentierte den Antrag: "Wir möchten uns unser Geschehen auf einem freien Gewerkschaftskongreß nicht von außen her vorschreiben lassen. (Lebhafter, langanhaltender Beifall.) [...] Jawohl, wir müssen nach dem Frieden streben und müssen alle Kräfte gegen den Krieg wenden. Das haben wir getan, das werden wir tun. Aber Beauftragte einer fremden Macht, die bis an die Zähne gerüstet ist, sollten in unserem Lande nicht verlangen, daß wir uns eines guten Tages wehrlos der Abschlachtung durch sie preisgeben." 95 Damit wurde offenkundig, daß die Anstrengungen des FDGB, auf die westdeutsche Gewerkschaftsbewegung Einfluß zu nehmen, dort leicht durchschaut wurden und deshalb chancenlos waren.

89 Vgl. die Beiträge in: Anfänge westdeutscher Sicherheitspolitik 1945-1956. Bd. 2: Die EVG-Phase, München 1990. 90 Staritz, Dietrich: Geschichte der DDR. Erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a.M. 1996, S. 85. 91 Wie Anm. 53. 92 Vgl. von Brünneck, Politische Justiz (Anm. 86), S. 64ff. 93 Geschichte des FDGB. Chronik 1945-1986, Berlin 1986, S. 65. 94 Wie Anm. 53. 95 Protokoll. Außerordentlicher Bundeskongreß des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Essen, 22. und 23. Juni 1951, Köln 1951, S. 29f., Zitat S. 29. Der FDGB führte diese Niederlage auf die mangelnde Unterstützung schon bei der Verabschiedung der Anträge in den Gliederungen und mangelnde "Mobilisierung" beim Kongreß selbst zurück; Jahresbericht 1951 (Anm. 67), S. 8f.

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Der FDGB ließ sich von diesen Niederlagen nicht beirren. Zwei Wochen nach dem DGBKongreß diskutierte der Bundesvorstand in Ostberlin "Die Ergebnisse der Volksbefragung und unsere nächsten Aufgaben" 96 . In einer Entschließung wurde festgestellt, daß die DGBFührung die Wiederentstehung des deutschen Imperialismus als Verbündeter des US-Imperialismus unterstütze. Die Westarbeit wurde deshalb als "die entscheidende Aufgabenstellung überhaupt" hervorgehoben, von der die Schaffung der "Aktionseinheit der Arbeiterklasse" als Basis "für die Erhaltung des Friedens" abhänge. 97 Als sich im Frühjahr 1952 mit den Plänen zur Gründung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) und dem Abschluß des Deutschlandvertrages die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik abzeichnete, forcierte der FDGB seine Kampagne. Man müsse "den Werktätigen Westdeutschlands Orientierung und Führung geben", und dazu sei "die Herausgabe einer zentralen Losung notwendig". Sie lautete: "Für den Friedensvertrag - gegen den Generalkriegsvertrag".98 Unter diesem Motto stand die Westarbeit des FDGB auch in den folgenden Jahren. 99 In ihrer Arbeit für "die Aktionseinheit aller deutschen Gewerkschafter gegen Militarismus und EVG-Politik" 100 sah sich die DDR-Staatsgewerkschaft durch den Beschluß des DGB-Bundeskongresses 1954, der "jeden Wehrbeitrag" ablehnte, "solange die Einheit Deutschlands nicht wieder hergestellt ist" 101 , bestätigt 102 . Trotz der 1949/50 erfolgten Verlagerung des Schwerpunkts der Westarbeit "in die Betriebe und unteren Gewerkschaftseinheiten" setzte der FDGB weiterhin auch auf den "Kontakt zwischen führenden Gewerkschaftsfunktionären". 103 Allerdings verliefen die Westreisen von FDGB- und Gewerkschaftsfunktionären aus der DDR wenig erfolgreich. Nur selten wurden sie überhaupt empfangen und wenn, verliefen die meist kurzen Gespräche, selbst wenn sich die Partner aus der Zeit vor 1933 kannten, in frostiger Atmosphäre. 104 Dennoch wurde ab 96 So der Titel eines Referates von Rudolf Kirchner; vgl. Die Lehren der Volksbefragung und die nächsten Aufgaben der Gewerkschaften. Referat des Kollegen Rudolf Kirchner, stellv. Vorsitzender des FDGB, gehalten in der Sitzung des FDGB-Bundesvorstandes am 4. Juli 1951, hrsg. vom FDGB-Bundesvorstand, Berlin o.J. (1951). 97 SAPMO-BA, D Y 34, Nr. A 6811: Beschlußprotokoll der 5. Sitzung des FDGB-Bundesvorstandes am 4./5.7.1951. 98 SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 4154: Beschluß S 405/52 des Sekretariats des FDGB-Bundesvorstandes v. 27.5.1952. 99 Vgl. SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 6005: Beschluß P 25/53 des Präsidiums des FDGB-Bundesvorstandes v. 25.3.1953. 100 So abschließend in einem Beschluß des FDGB-Bundesvorstandes vom März 1954; SAPMO-BA, DY 43 FDGB-Buvo, Nr. A 6028: Entschließung für die Aktionseinheit aller deutschen Gewerkschafter gegen Militarismus und EVG, für ein einheitliches, demokratisches Deutschland der 16. Tagung des FDGB-Bundesvorstandes vom 9.-11.3.1954. 101 Protokoll. 3. Ordentlicher Bundeskongreß, Frankfurt a.M., 4. bis 9. Oktober 1954. Hrsg. vom DGBBundesvorstand, Düsseldorf o.J., S. 811. Allerdings wurde dieser Beschluß innerhalb der DGB-Führungsgremien nicht so eindeutig rezipiert; vgl. Quellen 11 (Anm. 24), Dok. 77, TOP 5e, S. 624-629. 102 SAPMO-BA, D Y 34, Nr. A 0270: Sekretariatsvorlage betr. Einschätzung des Verlaufes und der Ergebnisse des 3. DGB-Bundeskongresses vom 4.11.1954. 103 SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 4030: Entwurf von Grundsätzen für eine gesamtdeutsche Gewerkschaftsarbeit des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit vom 29.11.1949, S. 20. 104 Vgl. dazu den umfangreichen Bericht von Richard Barth, der 1951 zehn Tage in der Bundesrepublik reiste und sich um Gespräche mit Vertretern der IG Druck und Papier bemühte; SAPMO-BA, NY 4416

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1953 die "Orientierung auf direkte Fühlungnahme zu hauptamtlichen und ehrenamtlichen Funktionären in den leitenden Gewerkschaftsorganen" 105 , "die Organisierung persönlicher Verbindungen von FDGB-Funktionären (ZV [Zentralvorstände] und Bezirksvorstände) zu bestimmten DGB-Funktionären" 106 in der Planung der Westarbeit wiederholt hervorgehoben. Die Delegationsreisen waren aber weitgehend erfolglos. Von 14 Reisegruppen, die sich von März bis Mai 1954 um Gespräche bei Vorständen bemühten, wurden überhaupt nur sechs empfangen. Und über die daraufhin stattgefundenen Gespräche konnten die Delegationen nichts Positives berichten. Wo nicht höfliche Zurückhaltung der Gastgeber gegenüber den Gästen herrschte, mußten sich die DDR-Gewerkschafter Vorwürfe anhören. 107 Aus Sicht der FDGB-Vertreter kamen die Westfunktionäre immer wieder mit "alten 'Kamellen', wie Freilassung einiger politisch Inhaftierter sowie Proklamierung des Koalitions- und Streikrechts". 108 Wenn es tatsächlich einmal zu einer Begegnung zwischen führenden Gewerkschaftern kam, wie im Januar 1955 zwischen dem Vorsitzenden der IG Chemie-PapierKeramik, Wilhelm Gefeller, und dem Vorsitzenden der IG Chemie in der DDR, Horst Willim, wurde darüber sofort und ausführlich nach ganz oben berichtet. Alle dem Bericht zu entnehmenden Hinweise, die auf Bereitschaft zur Kooperation Gefellers hinweisen, beziehen sich jedoch auf Willims Interpretion. Zum Schluß heißt es zusammenfassend: "Gefeller erklärte sich zu weiteren Unterhaltungen bereit, wenn er auch nicht danach drängte. Nur dürfte nichts davon in die Presse kommen und eine Zusammenarbeit sei zur Zeit noch nicht möglich." 109 Daran änderte sich auch in der folgenden Zeit nichts. Die ablehnende Haltung westdeutscher Gewerkschaftsführer, Vertreter des FDGB und der DDR-Gewerkschaften zu Gesprächen zu empfangen, hatte neben ideologischen auch persönliche Gründe; denn in der Bundesrepublik wurde natürlich registriert, welche Meinung im FDGB-Vorstand über die Funktionäre des DGB und seiner Verbände vorherrschte. Am deutlichsten wurde dies in entsprechenden Dossiers. Der Stuttgarter IG Metall-Bezirksleiter Sigmund Löwi galt in Ostberlin als "nicht direkt DDR-feindlich eingestellt". 110 Solche Zurückhaltung war jedoch die Ausnahme. Der rheinland-pfälzische DGB-Landesbezirksvorsitzenden Adolf Ludwig wurde als "Kommunisten-

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NL Schlimme, Nr. 14. Dieser Bericht ist zugleich auch ein gutes Beispiel dafür, wie interne Materialien des FDGB im Westen zirkulierten; vgl. die Fassung in: DGB-Archiv, Best. 24.1, Nr. 1: Anlage zum Schreiben des SPD-Partei Vorstands, Referat Betriebsorganisation, an Christian Fette vom 21.1.1952. SAPMO-BA, D Y 34, Nr. 4195: Kurt Kühn, Operativplan für die gesamtdeutsche Gewerkschaftsarbeit bis zum 1. Mai 1953 vom 27.2.1953. SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 4232: Sekretariatsvorlage zur Veränderung der Tätigkeit der Büros für deutsche Gewerkschaftsarbeit beim FDGB-Bundesvorstand und den Industriegewerkschaften und Gewerkschaften und der Arbeit nach Westdeutschland vom 31.10.1953. SAPMO-BA, D Y 34, vorl. Nr. 26/77/1896: Mitteilung über den Stand der Delegationsbesuche der Bezirksvorstände des FDGB bei gleichgelagerten Leitungen des DGB in Westdeutschland des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit vom 19.5.1954. Vgl. auch ebenda, Nr. A 3967: Büro für deutsche Gewerkschaftsarbeit an Warnke vom 8.3.1954. So Jupp Steidl über ein Gespräch mit Ludwig Linsert und Max Wönner von der DGB-Landesbezirksleitung Bayern; ebenda: Bericht über die Reise vom 13.2.-18.2.1955 vom 22.2.1955. SAPMO-BA, D Y 34, Nr. A 3967: Warnke an Ulbricht u. Verner, SED-Zentralkomitee vom 24.1.1955. SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 25/-/808: Nicht näher bezeichnete Aktennotiz zu verschiedenen Mitgliedern von Vorständen regionaler und lokaler DGB- und Gewerkschaftsgliederungen. Urheberschaft und Datierung konnten nicht ermittelt werden.

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fresser sondersgleichen" und "Hohlkopf' charakterisiert.111 Und über den ÖTV-Bezirksleiter Edwin Will ist im gleichen Zusammenhang knapp zu lesen: "charakterlich ein Lump". Anfang 1956 wurden in einem Entwurf für ein Strategiepapier führende westdeutsche Gewerkschafter als "Unternehmerkommissare" bezeichnet, die zu "offenen Agenten der deutschen und amerikanischen Imperialisten" geworden seien. 112 Diese Einschätzungen stammen aus internen FDGB-Papieren. Aber auch in öffentlichen Äußerungen gab es genügend Diffamierungen führender Westgewerkschafter. Trotzdem hatte der FDGB seit 1950 den DGB-Vorstand in Briefen, die propagandistisch vermarktet wurden 1 1 3 , immer wieder zu gemeinsamen Beratungen aufgefordert. 114 Er hatte damit jedoch genausowenig Erfolg wie mit Briefaktionen an Gewerkschaftsmitglieder in der Bundesrepublik. 115 Der DGB-Bundesvorstand sendete nur zweimal Antworten nach Ostberlin. Im Dezember 1950 hatte der FDGB eine gemeinsame Erklärung der beiden Gewerkschafts verbände zur Bildung eines konstituierenden gesamtdeutschen Rates - einem Vorschlag des DDR-Ministerpräsidenten Grotewohl1 16 - gefordert. Die DDR-Gewerkschaft beteiligte sich damit am allgemeinen "West-Aktionismus", mit dem die Initiative "Deutsche an einen Tisch" im und vom Osten aus begleitet wurde. 117 Der DGB verwies in einem kurzen Antwortschreiben an den FDGB auf die Kompetenz der "demokratisch gebildeten, politischen Körperschaften der Bundesrepublik" in dieser Frage. 118 Das zweite Mal reagierte die DGB-Führung drei Jahre später auf eine Zuschrift des FDGB. Am 30. Januar 1954 überbrachte eine Delegation ein Schreiben, das in den FDGB111 Ebenda: Zwischenbericht über die Positionen in der Gewerkschaft des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit vom 2.8.1951. 112 SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 3643: Entwurf eines Offensivplanes des FDGB zur Verstärkung der ideologischen und politischen Arbeit in Westdeutschland, S. 4. Die Urheberschaft konnte nicht ermittelt werden; die Datierung ergibt sich aus dem Inhalt. 113 Vgl. z.B. SAPMO-BA, DY 34, Nr. 3675: Bericht des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit über durchgeführte Maßnahmen des Böckler-Briefes 1 und 2 vom 22.6.1950. 114 Die Schreiben sind überliefert in DGB-Archiv, Best. 24.1, Nr. 1405. Vgl. dazu aus Sicht des FDGB auch Geschäftsbericht des Bundesvorstandes des FDGB zum 4. FDGB-Kongreß 1950-1954. Berlin 1955, S. 24-40. 115 Hermann Schlimme stellte 1953 fest, daß die Anweisung des DGB-Vorstandes, "jede Verbindung mit dem Osten abzubrechen [...], anscheinend überall beachtet" wurde, da er auf 4.000 in den Westen abgeschickte Briefe keine Antwort erhalten habe; vgl. SAPMO-BA, NY 4016 NL Schlimme, Nr. 14: Schlimme an Jaucke vom 28.3.1952. 116 Grotewohl schlug dies in einem Schreiben an Adenauer am 30.11.1950 vor; vgl. Weber, Petra (Bearbeiterin): Die SPD-Fraktion im Deutschen Bundestag. Sitzungsprotokolle 1949-1957, Erster Halbbd., Dok. 84 und 86, S. 221 und 226. 117 Vgl. Loth, Wilfried: Stalins ungeliebtes Kind. Warum Moskau die DDR nicht wollte, Berlin 1994, S. 168-175, ZitatS. 170. 118 DGB-Archiv, Best. 24.1, Nr. 1405: FDGB-Bundesvorstand an DGB-Bundesvorstand vom 6.12.1950; DGB-Bundesvorstand an FDGB-Bundesvorstand vom 15.1.1951. Das Schreiben des FDGB liegt ebenda in einer inhaltlich identischen Ausfertigung vom 5.1.1951 vor, die einige Tage später per Boten nach Düsseldorf gebracht wurde. Der FDGB nahm nämlich an, das erste Schreiben sei - wie vorgeblich auch in anderen Fällen - durch die Bundespost nicht befördert worden; vgl. ebd.: FDGB-Bundesvorstand an DGB-Bundesvorstand vom 8.1.1951. Vgl. auch DGB-Geschäftsbericht 1950-1951 (Anm. 15), S. 30.

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Gremien gründlich beraten worden war 119 , zum DGB nach Düsseldorf. Darin wurde u.a. eine gemeinsame Erklärung gegen die Wiederbewaffnung vorgeschlagen. Die Delegation wurde nicht empfangen, aber noch am selben Tag antwortete der DGB-Vorsitzende Walter Freitag im Namen des Bundesvorstandes. Freitag ging auf die Entwicklung in der SBZ/DDR seit 1945 ein. Er verwies darauf, "daß im sowjetischen Besatzungsgebiet nach wie vor Konzentrationslager und ein Zwangsarbeitssystem existieren". Zu dem Brief des FDGB bemerkte Freitag, es sei unverkennbar, daß er "auf taktische und propagandistische Erwägungen zurückgeht. Beweis dafür ist: Die gewählten Funktionäre des Deutschen Gewerkschaftsbundes sind bis in die letzten Tage hinein vom FDGB wider besseres Wissen als 'Verräter' und 'Handlanger des Monopolkapitalismus' bezeichnet worden."! 20 Freitags Antwort war eine schallende Ohrfeige für den FDGB. 121 Vorerst zog der FDGB aus der schroffen Zurückweisung seiner Gesprächs- und Kooperationsofferten aber noch keine Konsequenzen. Auch als mit dem Beitritt der DDR zum Warschauer Pakt und der Bundesrepublik zur NATO 1955 die beiden deutschen Staaten in gegensätzliche militärische Bündnisse eingebunden wurden, propagierte der FDGB noch die "Herstellung der brüderlichen Aktionseinheit der ganzen deutschen Arbeiterklasse" 122 , um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik zu verhindern und die Wiedervereinigung Deutschlands zu erreichen. Erst nach der Verkündung der Zwei-Staaten-Theorie durch Chruschtschow 123 wenige Wochen nach dem FDGB-Kongreß 1955 und nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 änderte sich auch die Zielsetzung der Westarbeit des FDGB. Selbstkritisch hielt ein Papier der DDR-Gewerkschaft im Frühjahr 1956 fest: "Eine andere Frage, die uns bei der Herstellung der Verständigung und Zusammenarbeit bisher hinderte, war auch unser eigenes Auftreten [...]. Die Durchsicht früher gehaltener Reden und verschiedener Artikel zeigt einen schroffen Gegensatz zu unseren offiziellen Angeboten. Während letzte im wesentlichen den richtigen Ton besitzen, sind viele Reden und Artikel in der Form so gehalten gewesen, daß sie der Verständigung und Zusammenarbeit Hindernisse in den Weg legten. Formulierungen wie Verräter usw. müssen in Zukunft vermieden werden." 124 So bestimmten versöhnliche Töne die Neuorientierung der Westarbeit des FDGB, die Rudi Kirchner 125 bei der 22. Tagung des Bundesvorstandes im Mai 1956 unter dem konzilian119 Vgl. SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 6015: Beschluß P 6/54 des Präsidiums des FDGB-Bundesvorstandes v. 29.1.1954. 120 Das Schreiben des FDGB und der Brief Freitags in Durchschrift sowie eine Aktennotiz über die Vorspräche der Delegation finden sich in: DGB-Archiv, Best. 24.1, Nr. 1405. Zur Überlieferung des FDGB vgl. SAPMO-BA, D Y 34, Nr. A 3721. 121 Der Leiter des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit, Paul Geisler, bezeichnete Freitags Antwort als "Pamphlet übelster Machart"; vgl. SAPMO-BA, DY 34, Nr. 6827: Protokoll der 16. Bundesvorstandssitzung des FDGB vom 9.-11.3.1954, S. 21. 122 Protokoll der Verhandlungen des 4. FDGB-Kongresses vom 15. bis 20. Juni 1955 in der Wemer-Seelenbinder-Halle zu Berlin. Berlin o.J., S. 442. 123 Vgl. Weber, Hermann: Geschichte der DDR, München 1985, S. 257f. 124 Ebenda, Nr. A 3643: Schlußfolgerung aus den Lehren des XX. Parteitages der KPdSU für die gesamtdeutsche Arbeit des FDGB, S. 9. Die Urheberschaft konnte nicht ermittelt werden; die Datierung ergibt sich aus dem Inhalt. 125 Rudolf (Rudi) Kirchner (1919-1984) war 1950-67 Mitglied des Bundesvorstandes und des Sekretariats, ab 1952 auch Mitglied des Präsidiums des FDGB und u.a. zuständig für gesamtdeutsche Arbeit.

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ten Titel: "Für die Verständigung und brüderliche Zusammenarbeit der deutschen Gewerkschafter" vortrug. 126 Im Mittelpunkt der Bemühungen standen nun nicht mehr die "Massen der einfachen westdeutschen Gewerkschaftsmitglieder", sondern der DGB und seine Repräsentanten. Kirchner appellierte an den Geist der Interzonenkonferenzen zwischen 1946 und 1948, betonte die unterschiedlichen Wege, die die Gewerkschaften in Ost und West gegangen seien, und unterstrich ihre - aus seiner Sicht - gemeinsamen Ziele. Davon ausgehend, so Kirchner, "richtet der FDGB alle seine Bestrebungen darauf: a) eine Verbesserung, Normalisierung und die Herstellung brüderlicher Beziehungen zwischen dem FDGB und DGB zu erreichen; b) vorhandene Mißverständnisse und Spannungen zwischen den beiden deutschen Gewerkschaftsorganisationen systematisch abzubauen und ungeachtet unterschiedlicher ideologischer Auffassungen eine Atmosphäre allseitigen und persönlichen, gegenseitigen Vertrauens herzustellen; eine umfassende Erweiterung der Kontakte und Verbindungen zwischen beiden großen Gewerkschaftsorganisationen auf allen Gebieten zu erreichen." 127 Im Anschluß an Kirchners Referat verabschiedete der FDGB-Bundesvorstand einen Brief an den DGB-Bundesvorstand. Aber trotz oder gerade wegen der neuerlichen Änderung des Kurses der FDGB-Westarbeit blieb eine Reaktion des DGB aus. 1 2 8 In den folgenden Wochen gab es außerdem Versuche von Zentralvorständen der FDGB-Gewerkschaften, Kontakte mit Gewerkschaften in der Bundesrepublik aufzunehmen. Das Fazit dieser Bemühungen war für den FDGB ebenso ernüchternd wie das früherer Aktivitäten. In einem Bericht hieß es, das "Echo [...] ist bis jetzt noch schwach". 129

Defizite und Reichweite der FDGB-Westarbeit In Berichten und Beratungen des FDGB-Westbüros wurde immer wieder festgestellt, daß die Arbeit in der Bundesrepublik, insgesamt oder in Teilbereichen, nicht den gewünschten Erfolg habe. Die interne Kritik erreichte ihren Höhepunkt Ende Oktober 1953. In einer von Abteilungsleiter Paul Geisler unterzeichneten Sekretariatsvorlage hieß es: "Die bisherige Tätigkeit [...] hat trotz großen Aufwandes an Kräften und Mitteln keine grundlegende Wendung zu einer gesamtdeutschen Politik und Arbeit herbeizuführen vermocht." 130 Und auch zwei Jahre später konnte Geisler keine positive Bilanz ziehen. 131 Ein zentraler Punkt der Kritik war die Westarbeit der FDGB-Gewerkschaften. Schon im April 1950 hieß es mit Blick auf deren mangelnde gesamtdeutsche Aktivitäten: "Wir müssen, 126 SAPMO-BA, DY 34, Nr. 6836: Rudi Kirchner, Referat zur 22. Tagung des FDGB-Bundesvorstandes (am 24./25.5.1956), handschriftliche Paginierung S. 9. 127 Ebenda, handschriftliche Paginierung S. 8f. 128 Ein Beschluß des Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes, das Schreiben im Gesamtvorstand zu behandeln, wurde nicht realisiert; vgl. Protokoll v. 11.6.56, in: DGB-Archiv, Best. 23.1, Nr. 4, Bl. 170. 129 SAPMO-BA, D Y 34, Nr. 3643: Bericht über die bisherigen Auswirkungen der 22. FDGB-Bundesvorstandssitzung in Westdeutschland - die Entsendung hauptamtlicher Delegationen der Zentralvorstände der IG/Gew. und der Bezirksvorstände des FDGB nach Westdeutschland. Datierung und Urheberschaft konnte nicht ermittelt werden. 130 Wie Anm. 106. 131 SAPMO-BA, NY 4408 NL Geisler, Nr. 57: Paul Geisler, Material über die Hebung des Niveaus der gesamtdeutschen Arbeit vom 1.8.1955.

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sofern eine Verbesserung der Arbeit eintreten soll, den Finger an die Wunde legen, um den Heilungsprozeß fördern zu können." 132 Die "Schwächen" der Westarbeit wurden zunächst noch als Folgen der Interzonenkonferenzen erklärt, durch die Kontakte "zu den Betrieben und unteren Einheiten der Gewerkschaften in Westdeutschland [...] vernachlässigt" worden seien, so daß nach dem Ende der Interzonenkonferenzen "auch die Verbindungen der meisten Industriegewerkschaften nach Westdeutschland aufhörten". Deshalb wurde an die Gewerkschaften appelliert, "die gesamtdeutsche Gewerkschaftsarbeit wesentlich zu verstärken, in einem Arbeitsplan konkrete Maßnahmen in dieser Richtung festzulegen und die gesamte Organisation auf ihre Verwirklichung einzustellen". 133 Aber auch noch im Tätigkeitsbericht 1953 wurde Kritik geübt: "Die bisher durchgeführten Überprüfungen ergaben, daß die Sekretariate der ZV [Zentralvorstände] die gesamtdeutsche Gewerkschaftsarbeit unterschätzen. Mit Ausnahme des Sekretariates der IG Eisenbahn haben alle anderen Sekretariate der ZV sich ungenügend oder überhaupt nicht mit gesamtdeutschen Fragen grundsätzlich beschäftigt." 134 Es wird zu prüfen sein, ob dieser Umstand auch darauf zurückzuführen ist, daß die Arbeit der Gewerkschaften in der DDR doch stärker von den praktischen Erfordernissen in den Betrieben geprägt war, als ihre formale Rolle als abhängige Fach- und Branchenverbände des FDGB impliziert. 135 Bei der Betrachtung der organisatorischen Defizite der FDGB-Westarbeit muß auch der ausufernde bürokratische Aufwand beachtet werden. Der FDGB-Vorsitzende Herbert Warnke hatte schon 1950 beim FDGB-Kongreß die Anekdote erzählt, ein aus dem Tierpark ausgebrochener Löwe habe sechs Wochen lang im FDGB-Haus jeden Tag einen Sekretär gefressen, ehe man gemerkt habe, daß jemand fehle. 136 Dies war jedoch nur der Auftakt der immer wiederkehrenden, aber erfolglosen Kampagnen, des Bürokratismus Herr zu werden. Als Warnke im Oktober 1956 "an einem einzigen Tag einen solchen Haufen von Material" erhielt, das "zusammen 158 hektographierte Schreibmaschinenseiten" umfaßte, schrieb er an die Verantwortlichen des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit: "Mit einem solchen Haufen Material mache ich nur eins: Ich lege es, ohne auch nur eine Seite davon zu lesen, in den Papierkorb. [...] Ich bitte zu überlegen, ob diese Arbeit, die doch Gehalt, Papier und alles mögliche kostet, wirklich in einem richtigen Verhältnis zu dem Ergebnis steht." 137 Als weiterer Hemmschuh für die Effektivität des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit ist der geheimniskrämerische Charakter der Westarbeit anzusehen. Zwar wurde der "Vorwurf, daß die Tätigkeit [...] in der konspirativen Arbeit erstickt", als ungerechtfertigt zurückgewiesen. 138 Auch die zeitgenössische Einschätzung im Westen, das Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit sei "gegen alle anderen Abteilungen des FDGB sorgfältig abgeschirmt" 132 Wie Anm. 37, S. 5; vgl. auch den in Anm. 68 zitierten Bericht. 133 Wie Anm. 58, S. 10. 134 SAPMO-BA, N Y 4408 NL Geisler, Nr. 56: Bericht über die Tätigkeit des Büros für deutsche Gewerkschaftseinheit beim FDGB-Bundesvorstand für die Zeit von Januar bis September 1953, S. 3; ähnlich auch ebenda, S. 25. 135 Leider versäumt Peter Hübner auf diesen Aspekt näher einzugehen; vgl. ders.: Konsens, Konflikt und Kompromiß. Soziale Arbeiterinteressen und Sozialpolitik in der SBZ/DDR 1945-1970, Berlin 1995. 136 Protokoll des 3. FDGB-Kongresses (Anm. 40), S. 105. 137 SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 3643: Hausmitteilung von Warnke an Rudi Kirchner und Jupp Steidl vom 12.10.1956. 138 Wie Anm. 134, S. 25.

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gewesen und die Mitarbeiter hätten Decknamen getragen 139 , war übertrieben. Aber die Beachtung eines Mindestmaßes konspirativer Maßnahmen war schon deshalb nötig 140 , um die Aktionen zur Einflußnahme auf die westdeutschen Gewerkschaften nicht publik werden zu lassen. Denn für einige Aktivitäten drohte in der Bundesrepublik strafrechtliche Verfolgung.

Reaktionen und Abwehrmaßnahmen in der Bundesrepublik Bei der internen Kritik des FDGB an der Erfolglosigkeit seiner Westarbeit blieben die Maßnahmen des DGB und der Gewerkschaften in der Bundesrepublik, mit denen die kommunistischen Infiltrationsversuche paralysiert werden sollten, unberücksichtigt. Bei diesen wurde nicht zwischen KPD und ihrer Gewerkschaftspolitik 141 und kommunistischen Organisationen in der Bundesrepublik und dem FDGB der DDR differenziert. Die Abwehraktionen richteten sich gleichermaßen gegen alle tatsächlichen und vermeintlichen kommunistischen Unterwanderungstendenzen. In der Hauptabteilung Organisation des DGB-Bundesvorstandes wurde eine umfangreiche Materialsammlung angelegt. 142 Darin finden sich auch Informationen staatlicher Provenienz, wie zum Beispiel des nordrhein-westfälischen Innenministeriums. 143 Der DGB und die Gewerkschaften teilten die Aufmerksamkeit für die kommunistischen Aktivitäten mit staatlichen Stellen, Wirtschaftsverbänden und Parteien, die gegen die "kommunistische Wühlarbeit" durch Aufklärung vorzugehen versuchten. 144 Auch diese Informationsarbeit war Teil des in den fünfziger Jahren, aus heutiger Sicht fast hysterischen, Antikommunismus der Adenauer-Ära. 145 Die Mehrheit der Mitglieder und Funktionäre der westdeutschen Gewerkschaften hatte ein doppeltes Motiv, sich von den Kommunisten abzugrenzen. Während bei den Anhängern der früheren christlichen Gewerkschaften traditionell politisch ein ablehnendes Verhältnis zum Kommunismus bestand 146 , distanzierten sich die sozialdemokratischen Gewerkschafter, 139 Der FDGB 1954 (Anm. 60), S. 17. 140 Vgl. SAPMO-BA, DY 34, vorl. Nr. 26/69/1895: "Plan der Wachsamkeit für das Büro für deutsche Gewerkschaftsarbeit beim Zentralvorstand der IG Transport" vom 28.8.1952. Dafür spricht auch, daß das Büro für deutsche Gewerkschaftseinheit in der Übersicht der Abteilungen des Bundesvorstandes im Geschäftsbericht von 1955 nicht mehr genannt wird; vgl. Geschäftsbericht des FDGB 1950-1954 (Anm. 114),S. 252. 141 Zur Gewerkschaftspolitik der KPD allgemein vgl. Staritz, KPD (Anm. 6), S. 1726-1733; Major, German Communist Party (Anm. 31), S. 157-197. 142 Vgl. dazu das Findbuch des Best. 24.4, bes. die Untergruppen 24.4.89.2.1 und 2, wo rund 30 einschlägige Akten verzeichnet sind. 143 Vgl. die diesbezügl. Korrespondenz in: DGB-Archiv, Best. 24.4, Nr. 1320. 144 Vgl. z.B. die im Verlag des Deutschen Industrieinstituts erschienene Veröffentlichung Kommunistische Betriebszeitungen. Stand und Taktik der kommunistischen Betriebszeitungsarbeit und die rechtlichen Möglichkeiten ihrer Abwehr, Köln 1956. Der DGB-Landesbezirksvorsitzende von Nordrhein-Westfalen, Wemer Hansen, meinte in der Sitzung des DGB-Bundesvorstandes am 18.9.1953 sogar, dem "DGB allein sei es zu verdanken, daß der Kommunismus in Westdeutschland vernichtet wurde". Vgl. Quellen 11 (Anm. 24), Dok. 62, Zitat S. 450. 145 Vgl. Kleßmann, Christoph: Die doppelte Staatsgründung. Deutsche Geschichte 1945-1955, 5., Überarb. u. erw. Auflage, Bonn (zugleich Göttingen) 1991, S. 254-257. 146 Vgl. Schroeder, Wolfgang: Katholizismus und Einheitsgewerkschaft. Der Streit um den DGB und der Niedergang des Sozialkatholizismus in der Bundesrepublik bis 1960, Bonn 1992, S. 89-92.

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weil sie im kommunistischen System der Sowjetunion, seinen Epigonen in der DDR und deren Gefolgsleuten in der westdeutschen KP die Grundwerte der Arbeiterbewegung pervertiert sahen. So ist der, in der Praxis freilich nicht konsequent eingehaltene Beschluß des geschäftsführenden DGB-Bundesvorstandes vom September 1950 zu verstehen, "in Zukunft in allen mündlichen und schriftlichen Äußerungen das Wort 'Kommunismus' durch das richtigere und zutreffendere Wort 'Bolschewismus'" zu e r s e t z e n . ' 4 7 Aufgrund der gemeinsamen historischen Wurzeln in der Arbeiterbewegung mußten die Gewerkschaften aber nicht nur das eigene Bedürfnis nach Abgrenzung befriedigen. Sie waren außerdem immer wieder gezwungen, ihren demokratischen Charakter und ihre staatsloyale Haltung unter Beweis zu stellen, um nicht selbst Opfer antikommunistischer Denunziation zu werden; denn anders als Parteien und Verbände sahen die Gewerkschaften den "Gegner in den eigenen Reihen" 148 , wobei bei fairer Betrachtung hinzugefügt werden mußte, daß die "Einsicht, daß, wer sich zur Demokratie bekennt, diese auch in den eigenen Reihen verteidigen muß [...] in den [bundesdeutschen] Gewerkschaften stärker als das Bedauern über diese notwendige Auseinandersetzung" war. 1 4 9 Besonderes Engagement beim Vorgehen gegen Kommunisten innerhalb der westdeutschen Gewerkschaften legte eine Gruppe mittlerer Funktionäre an den Tag, die früher selbst KPD-Mitglieder waren, dann der innerparteilichen Opposition angehörten und sich schließlich der SPD anschlössen. An ihrer Spitze standen der Leiter des Betriebsgruppenreferates beim SPD-Parteivorstand, Siegmund (Siggi) Neumann, und der Pressereferent des DGB-Landesbezirks Niedersachsen, Eduard (Edu) Wald. Er war 1948 aus der KPD aus- und 1950 der SPD beigetreten 150 und entwickelte sich bald - wie es sein Freund Siggi Neumann in einer launischen, polemisch überzogenen Formulierung ausdrückte - zu einem "niedersächsischen McCarthy im Taschenformat". 151 Neumann, der mit der Betriebsgruppenarbeit der SPD v.a. den Zweck verfolgte, die Einflußversuche des FDGB und der KPD auf die Gewerkschaften zu konterkarieren 152 , mahnte mehrfach bei DGB-Vorstandsmitglied Albin Karl eine "Generalreinigung" der Gewerkschaften an. 153 Edu Wald sammelte unermüdlich Material über kommunistische Aktivitäten. Daraus entwickelte sich im Laufe der Zeit ein wahres 147 DGB-Archiv, Best. 23.1, Nr. 93: Protokoll der 34. Sitzung des geschäftsführenden Vorstandes am 4.9.1950. 148 So Günter Triesch, Gewerkschaftsfachmann im Deutschen Industrieinstitut; ders.: Die Macht der Funktionäre. Macht und Verantwortung der Gewerkschaften, Düsseldorf 1956, S. 364. 149 Ebenda. 150 Vgl. den Beitrag zum Eintritt Walds in die SPD, der auch sein Austrittsschreiben an die KPD beinhaltet; Art. "Einheit in der SPD verwirklicht", in: "Neuer Vorwärts", Nr. 31 vom 4.8.1950. Vgl. die vielfach unrichtigen Angaben zu Wald bei Wilke, Manfred/Müller, Hans-Peter: SED-Politik gegen die Realitäten. Verlauf und Funktion der Diskussion über die westdeutschen Gewerkschaften in SED und KPD/ DKP 1961-1972, Köln 1990, S. 242f. 151 AdsD, NL Neumann, Mappe 19: Neumann an Wald vom 30.9.1955. 152 Vgl. die zahlreichen Beiträge in: "Arbeit und Freiheit". Informationsblätter der SPD, hg. vom Betriebsgruppensekretariat beim Parteivorstand, ab 1949, hier Nr. 1/2, Januar/Februar 1952, S. 9. Unter Neumanns Regie entstand wohl auch die Broschüre: Kampf den Spaltern. Hrsg. von der SPD, Bonn o.J. 153 AdsD, Best. Parteivorstand, Nr. 02048: Neumann an Karl vom 19.4.1951. Vgl. auch die weiteren Schreiben vom 4.7 und 25.7.1951, ebenda. Karl teilte zwar Neumanns Forderung, nicht aber sein Vorgehen; ebenda: Karl an Neumann vom 19.12.1951.

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Informationszentrum "Feinde der Demokratie" 154 , das vom DGB und den Gewerkschaften auch als solches genutzt wurde, um über kommunistische Gewerkschafter und Organisationen aufzuklären und gegen sie vorzugehen. Im März 1950 beschäftigte sich der DGB-Bundesausschuß, das formal höchste Organ zwischen den Bundeskongressen, in einer außerordentlichen Sitzung mit "gewerkschaftsfeindlichen Bestrebungen". Anlaß für diese Sondersitzung waren zwar die Ereignisse um den Bundestagsabgeordneten Wolfgang Hedler, der mit rechtsradikalen Äußerungen auf sich aufmerksam gemacht hatte. In der Debatte ging es aber allgemein um "die sich verstärkenden Versuche rechts- und linksradikaler Elemente", die Arbeit die Gewerkschaften zu unterwandern. 155 Beim Abdruck der verabschiedeten Resolution im DGB-Pressedienst wurde folgender Absatz hinzugefügt: "Der Bundesausschuß des DGB beschäftigte sich auch eingehend mit dem gewerkschaftszerstörenden Treiben der Kommunistischen Partei. Die Gewerkschaften sind entschlossen, entsprechende Abwehrmaßnahmen zu treffen." 156 In der Tat war diese Entschließung die Ouvertüre für jene "Abwehrmaßnahmen", die in der folgenden Zeit "ohne viel Aufsehens in die Tat umgesetzt wurden". 157 Dazu gehörte u.a. der Abbruch der Beziehungen der Gewerkschaftsjugend zur Freien Deutschen Jugend der DDR 1 5 8 und die Verbreitung von Informationen über die von Ostberlin und dem FDGB ausgehenden Methoden der "Störungs- und Zersetzungsarbeit". 159 Dies waren jedoch nur Vorboten drastischer Maßnahmen. Als sich der DGB-Bundesausschuß im September 1950 mit der von der Bundesregierung beschlossenen "Entfernung demokratisch nicht zuverlässiger Personen aus dem öffentlichen Dienst" beschäftigte, vermerkte das Protokoll die "Notwendigkeit einer Reinigung im innergewerkschaftlichen Räume". 160 Dies war der Startschuß für eine Entlassungswelle, in deren Verlauf in den einzelnen Gewerkschaften mit unterschiedlicher Intensität der KPD angehörige Funktionäre ihre Anstellung verloren. Ihren Höhepunkt erreichte diese Säuberung, als die KPD mit der beim Parteitag im März 1951 verabschiedeten These 37 alle Mitglieder offen

154 Vgl. DGB-Archiv, Best. 102 Sammlung "Feinde der Demokratie". Darauf basierte auch die von Wald redegierte gleichnamige Zeitschrift, die in verschiedenen Fassungen von den Landesbezirken NordrheinWestfalen (1951-1957), Niedersachsen (1951-1959) und Nordmark (1952-1959) herausgegeben wurde. Sie erschien ab 1959 bis 1965, ebenfalls unter Walds Redaktion, hrsg. vom DGB-Bundesvorstand, unter dem Titel "Für die Demokratie". 155 Quellen 11 (Anm. 24), Dok. 6, S. 50-53. 156 Ebenda, S. 53, bes. Anm. 11. 157 So DGB-Geschäftsbericht 1950-1951 (Anm. 15), S. 29. 158 Vgl. Quellen 11 (Anm. 24), Dok. 7, TOP 6a, S. 59f. 159 DGB-Archiv, Best. 24.1, Nr. 10: DGB-Bundesvorstand an die Landesbezirksvorstände und Vorstände der Gewerkschaften vom 17.8.1950. Das Schreiben enthält in der Anlage eine Liste mit 26 "kommunistischen oder getarnt kommunistischen Organisationen". Abgedr. in: Die Auseinandersetzungen mit dem politischen Extremismus von links und rechts im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik. Chronologische Darstellung am Beispiel der "Fuldaer Beschlüsse" der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik, hrsg. von der IG Chemie-Papier-Keramik, 1987. Die Parlamentarische Verbindungsstelle des DGB in Bonn legte 1953 eine Liste vor, die 143 "KP-Tarnorganisationen in Westdeutschland" enthielt; DGB-Archiv, Best. 24.1, Nr. 772: Parlamentarische Verbindungsstelle an den DGB-Bundesvorstand und die Landesbezirksvorstände v. 5.6.1953. 160 Quellen 11 (Anm. 24), Dok. 13, TOP 4, S. 109ff„ Zitat S. 110.

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zur Unterminierung der Gewerkschaften aufrief. 161 Die Gewerkschaften reagierten darauf, indem sie von den betroffenen Funktionären die Unterschrift eines Reverses verlangten, in dem sie sich zur Mißachtung der Parteiforderungen verpflichteten. Wer die Unterzeichnung verweigerte, wurde - oft auch gegen den Widerstand vor Ort 1 6 2 - entlassen. Bis 1955 wurden 654 Funktionäre wegen gewerkschaftsschädigenden Verhaltens aufgrund ihrer KPDMitgliedschaft ausgeschlossen, davon allein 349 aus der IG Metall. 163 Einen letzten Höhepunkt erreichte die Ausschlußwelle mit den Maßnahmen der IG Bau-Steine-Erden im Januar 1956, als der Beirat den Bezirksvorstand Nordrhein und neun Verwaltungsstellen wegen kommunistischer Unterwanderung auflöste. 164 Durch dieses Vorgehen wurden die Möglichkeiten für die Westarbeit des FDGB in doppelter Weise eingeschränkt. Einerseits gingen einflußreiche Positionen im hauptamtlichen Apparat der westdeutschen Gewerkschaften verloren. Andererseits wirkten die Entlassungen, die für die betroffenen Funktionäre Arbeitsplatzverlust und dadurch auch materielle Einbußen bedeuteten, abschreckend auf die noch verbliebenen kommunistischen Funktionäre. Durch das scharfe Vorgehen der westdeutschen Gewerkschaftsvorstände verstärkte sich außerdem das negative Image der kommunistischen Gewerkschaftsarbeit; denn die Maßnahmen gegen Kommunisten wurden aufgrund des Selbstverständnisses der Mehrheit der westdeutschen Gewerkschaftsmitglieder als Antwort auf einen groben Verstoß gegen das Gebot gewerkschaftlicher Solidarität interpretiert. Der FDGB nahm das Vorgehen des DGB und der Gewerkschaften natürlich wahr. Schon der erste offizielle Beschluß des DGB-Bundesvorstandes vom März 1950 wurde als Ausdruck der "Angst vor der Aktionseinheit der deutschen Arbeiter" gedeutet. 165 In Ostberlin erkannte man aber auch, daß sich die Gewerkschaftsvorstände durch diese Angst nicht einschüchtern ließen. Das "Ziel der Reformisten ist", stellte Dietrich im Frühjahr 1950 nach Gesprächen in den Bundesrepublik fest, "alle Kommunisten aus den Gewerkschaftspositionen zu entfernen." 166 Soweit dies dem DGB und den Gewerkschaften nicht durch die eigenen Maßnahmen gelang, versetzte das KPD-Verbot 1956 der FDGB-Westarbeit einen weiteren Schlag, weil Kontakte mit FDGB-Angehörigen als Tatbestände des politischen Strafrechts geahndet werden konnten. 167 Die politischen Vorbehalte der Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder in der Bundesrepublik gegenüber den Kommunisten, die Aufklärungsarbeit über kommunistische Infiltrationsversuche und das Vorgehen des DGB und der Gewerkschaftsfuhrungen gegen Funktionäre, 161 Vgl. Staritz, KPD (Anm. 6), S. 1712f.; dazu und zum folgenden auch Schönhoven, Klaus: Kalter Krieg in den Gewerkschaften. Zur Gewerkschaftspolitik von KPD und SPD nach 1945, in: Schönhoven, Klaus/Staritz, Dietrich: Sozialismus und Kommunismus im Wandel. Hermann Weber zum 65. Geburtstag, Köln 1993, S. 261-280, hier S. 274ff. 162 Vgl. als Beispiel aus der IG Metall Kaiser, Josef (Bearbeiter): Jetzt erst recht! Dokumente zur Geschichte der Arbeiterbewegung in Mannheim 1945-1990, Mannheim 1993, Dok. 23a-b, S. 91-95. 163 Kalbitz, Rainer: Gewerkschaftsausschlüsse in den 50er Jahren, in: Kritisches Gewerkschaftsjahrbuch 1977/78, Berlin 1978, S. 159-165, hier S. 162. 164 Vgl. Quellen 11 (Anm. 24), Dok. 105, TOP 2, S. 834ff. 165 Aus der Arbeit des FDGB (Anm. 23), S. 85. 166 SAPMO-BA, DY 34, Nr. A 3675: Franz Dietrich, Bericht über Besprechungen in Westdeutschland in der Zeit vom 4.-8.4.1950 vom 11.4.1950. 167 Vgl. von Brünneck, Politische Justiz (Anm. 86), S. 207f.

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die der KPD angehörten, waren denkbar schlechte Voraussetzungen für die Westarbeit des FDGB. Die im Westen vorherrschende ablehnende Grundhaltung ermöglichte es, die Mitglieder weitgehend gegen die ideologische Unterwanderung durch den FDGB zu immunisieren. Die plumpe Propaganda der DDR-Staatsgewerkschaft arbeitete den westdeutschen Gewerkschaftsvorständen in die Hände, weil sie die Akzeptanz für die Abwehrmaßnahmen bei den Mitgliedern steigerte und sogar eine Verstärkung provozierte. Im Westen neigte man dazu, die Reichweite der FDGB-Westarbeit zu überschätzen. Das bedeutet aber nicht, daß deshalb die ergriffenen Maßnahmen überzogen oder gar unnötig waren. Sie dienten zumindest dazu, mögliche Erfolge der FDGB-Westarbeit schon im Keime zu ersticken. Trotz enormer Steigerung der auf Westdeutschland zielenden Aktivitäten des FDGB seit Anfang der fünfziger Jahre gelang es ihm auch in den folgenden Jahren nicht, Erfolge zu erzielen. Die in Einzelfällen übertriebene Sorge und die dadurch motivierten Forderungen nach weitergehenderen Abwehrmaßnahmen im Westen dürfen über diese Tatsache nicht hinwegtäuschen.168 Die Frage "Kontakte mit dem FDGB?" 169 , die in der Bundesrepublik Mitte der fünfziger Jahre eine Minderheit in den Gewerkschaften stellte und positiv beantwortete, stieß bei der Mehrheit auf eindeutige Ablehnung. Sie manifestierte sich in den Reaktionen im Westen auf die Agitation des FDGB und begrenzte die Reichweite seiner Westarbeit.

168 Vgl. Wilke/MüMer, SED-Politik gegen die Realitäten (Anm. 150), S. 243f. nennen zwei diesbezügl Memoranden von Edu Wald aus dem Jahr 1959. Wald hatte schon in einer Denkschrift an den geschäTts^ ^ « r ^ V ° m „ 2 8 ' 9 - 1 9 5 5 V O r Aufweichungstendenzen der ablehnenden Haltung 2 nuber des FDGB in den Gewerkschaften gewarnt; ein Exemplar des in hektographierter Form v e r b r i e ten 14 Seiten umfassenden Schreibens befindet sich im Besitz des Verfassers 169 So die Überschrift eines Art. in: Die andere Zeitung, Nr. 12 vom 28.7.1955 S 5 Vgl auch die Be

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Stephan Fingerle (Mannheim) und Jens Giesecke (Berlin)

Partisanen des Kalten Kriegs. Die Untergrundtruppe der Nationalen Volksarmee 1957 bis 1962 und ihre Übernahme durch die Staatssicherheit! Im Januar 1990, wenige Wochen nach dem Fall der SED-Herrschaft, sorgte das Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" für neue Aufregung in der bewegten Zeit. Es wußte auf der Basis von Aussagen beteiligter westdeutscher Kommunisten zu berichten, daß die westdeutsche Bruderpartei der DDR-Einheitssozialisten, die Deutsche Kommunistische Partei (DKP), eine geheime "Militärorganisation" unterhalte, deren mehrere hundert Mitglieder in Krisenfällen als "Partisanenarmee" in Westdeutschland Sabotageakte verüben sollten. Die Angehörigen der illegalen Truppe seien in der DDR von MfS- und NVA-Spezialeinheiten in mehrwöchigen Kursen für ihren künftigen Untergrundeinsatz ausgebildet worden. DKP-Parteiführer Herbert Mies dementierte - und auch der westdeutsche Verfassungsschutz mochte kaum glauben, daß ihm entgangen war, was nun in zahlreichen Details nach und nach an Hintergründen zu Tage gefördert wurde. So richtig ernst nehmen wollte den Aufgabenkatalog, wie er beschrieben wurde, offenbar niemand: Von der "Abwehr von Neonazis", der "Befreiung festgesetzter Genossen", "Sabotageaktefn] gegen Züge und Fernmeldeeinrichtungen" sowie "Anschläge[n] auf ausgesuchte Personen" war die Rede - mithin ein komplettes Szenario für den Bürgerkrieg, das sich nicht in das herrschende Bild deutsch-deutscher Beziehungen fügen wollte. Offenbar hatte die Untergrundtruppe schon eine längere Geschichte, ihre Einrichtung basiere, so wurde berichtet, auf einer mündlichen Vereinbarung zwischen Walter Ulbricht und dem westdeutschen KPD-Vorsitzenden Max Reimann. 2 Die Ermittlungsbehörden begannen nun mit eigenen Recherchen, die schließlich mit Prozessen gegen die wenigen zu ermittelnden DKP-Partisanen endeten. Im November 1995 wurden vom Landgericht Frankfurt am Main 14 Angehörige der Militärorganisation wegen "Vorbereitung von Sabotagehandlungen" und Agententätigkeit zu Sabotagezwecken" zu Geldbußen verurteilt. Damit wurde ein justizieller Schlußstrich unter die Geschichte der Partisanentruppe gezogen, die nach wie vor als "vermeintlicher Agentenkrimi" und "deutschdeutsches Abenteuerspiel" bestaunt wurde. 3 Trotz aller zutage geförderter Details ließen die Presserecherchen nur eine Momentaufnahme dieses unheimlichen - in vielerlei Hinsicht be1 Dieser Aufsatz erscheint zusammen mit einer Dokumentation der zugrundeliegenden Quellen auch in der von der Abteilung Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen herausgegebenen Reihe BF informiert. 2 "Schüsse am Scharmützelsee", in: Der Spiegel 1/1990, S: 65-70, hier S. 65. Bis zum Juni 1991 berichtete das Magazin mehrmals über neue Erkenntnisse im Zusammenhang mit der Militärorganisation. So in den Heften 2/1990 (S. 61-63), 4/1990 (S. 89-90), 11/1990 (S. 10-12), 36/1990 (S. 94-95) und 27/1991 (S. 82-83). 3 Vgl. den Beitrag "Fiktiver Angriff', in: Der Spiegel, Nr. 46/1995, S. 38; vgl. auch: Frankfurter Rundschau vom 30.10.1995, S. 13.

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drohlichen - Aspekts deutsch-deutscher Geschichte zu. Wieviele DKP-Angehörige der "Militärorganisation" angehörten, wurde ebensowenig bekannt wie der tatsächliche Umfang ihrer Aktivitäten und die Rolle, welche die Verantwortlichen in der DDR ihren westdeutschen "Kämpfern" letztlich beimaßen. Auch die Prozesse schufen hier keine Klarheit. Aktenfunde in den Beständen der Ministerien für Nationale Verteidigung und für Staatssicherheit lassen nun weitere Einblicke in die Hintergründe dieser Aktivitäten zu, die bereits seit den frühen fünfziger Jahren betrieben wurden. Tatsächlich gab es mindestens seit 1953 im Ministerium für Staatssicherheit Diensteinheiten, die eine solche "Partisanentätigkeit" vorbereiten sollten, und auch die Nationale Volksarmee unternahm - einmalig unter den Armeen der Warschauer Vertragsstaaten - von 1957 bis 1962 Anstrengungen zum Aufbau entsprechender Strukturen. Im folgenden wird die Arbeit dieser NVA-Truppe im Mittelpunkt stehen. Sie wurde zunächst unter der Tarnbezeichnung "Dienststelle R." (für Röbelen) aufgebaut und von 1959 bis 1962 als "Verwaltung 15" des Ministeriums für nationale Verteidigung geführt. Externen Stellen gegenüber nannte man sie "Verwaltung patriotische Erziehung". Im einzelnen geht es vor allem um die nähere Bestimmung des Ausmaßes und Charakters ihrer Aktivitäten, ihrer personellen und logistischen Ausstattung sowie um die Konflikte, die mit der Bildung, Tätigkeit und schließlichen Überführung in den Verantwortungsbereich des Ministers für Staatssicherheit verbunden waren. Nur ganz wenige Hinweise, dies sei vorangestellt, konnten zur wohl brisantesten Frage, der Ausbildung von Westdeutschen zu "Untergrundkämpfern" ermittelt werden, und auch zur tatsächlichen operativen Arbeit in der Bundesrepublik gibt es nur sporadische Angaben. Das liegt an der über übliche militärische und nachrichtendienstliche Geheimhaltungsregeln weit hinausgehenden Konspiration der damit befaßten Apparate. Aus dem für die Jahre 1957 bis 1962 vorliegenden Material ist jedoch deutlich zu erkennen, daß es sich bei der "Verwaltung 15" um die Vorläuferin der 1990 publik gewordenen Untergrundorganisation handelte.4

Dienststelle R. Der früheste - und in den Akten dieses Gremiums einzige - Beleg für die Existenz dieser Einheit enthält das Protokoll der 14. Sitzung der Sicherheitskommission des SED-Politbüros vom 25. Februar 1957: Hier wurde zum Tagesordnungspunkt 1 - Bericht des "Gen. Wolf' über die Arbeit der Hauptverwaltung Aufklärung (HV A) - beschlossen, eine Vorlage des MfS über die Aufgaben der Abteilung III der HV A im Zusammenhang mit einem Vorschlag über die Aufgaben einer entsprechenden Abteilung des MfNV der nächsten Sitzung der

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Wichtigste Grundlage des vorliegenden Beitrags sind zwei Akten aus dem Bestand des Ministeriums für Nationale Verteidigung (MfNV) der DDR, der Akte "Übergabe/Übernahme der 15. Verwaltung an MfS" aus dem Bestand "Sekretariat des Ministers" [für nationale Verteidigung]; in: Bundesarchiv, Militärisches Zwischenarchiv Potsdam (BA-MZA), Strausberg AZN-32702 (die später hinzugefügte Anlage 16 [Schriftverkehr 1979, Umfang 3 Blatt] ist in der Akte nicht mehr enthalten), sowie der "Abschlußbericht über die kadermäßige Abwicklung der Reorganisation der 15. Verwaltung des MfNV" der Kaderverwaltung des MfNV von 1963; in: BA-MZA, VA-01/17217.

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Kommission erneut vorzulegen.5 Zu den Aufgaben der HV A-Abteilung III gehörte unter anderem die Vorbereitung von Sabotageaktionen in Westdeutschland. Im MfNV war für das Entstehen dieser Einheit eine Schlüsselfigur der Militär- und Sicherheitspolitik der frühen DDR zuständig: Gustav Röbelen. 6 KPD-Mitglied seit 1929 und Spanienkämpfer, nach 1941 in der Sowjetunion Offizier des NKWD und der Roten Armee, führte er schon während des Zweiten Weltkrieges Geheimdienstaufträge sowie Partisaneneinsätze aus. Nach dem Krieg war er in verschiedenen Funktionen bei der Verwaltung für Sequestrierung und Beschlagnahme tätig, später bei der Deutschen Wirtschaftskommission und der Zentralen Kommission für Staatliche Kontrolle. Seit Anfang der fünfziger Jahre leitete er die für den Sicherheitsapparat der DDR verantwortliche Abteilung des Zentralkomitees, bis man ihn 1956 in der Folge einer Untersuchung der Zentralen Revisionskommission wegen erheblicher Fehler in der Organisationsarbeit aus dieser Position entließ.7 Röbelen wurde "zur weiteren Verwendung" dem gerade gebildeten Ministerium für Nationale Verteidigung überstellt und bekam den Auftrag, dort seine vielfältigen Bürgerkriegs-, Partisanen- und Geheimdiensterfahrungen für den Aufbau einer Truppe zu nutzen, die, wie es 1959 in einem internen Bericht an die Sicherheitskommission hieß, "mit der Aufgabe betraut ist, bei Angriffshandlungen der Bundeswehr auf die DDR im Hinterland des Feindes eine wirksame Partisanentätigkeit zu entfalten". 8 In zwei Jahren baute Röbelen einen umfangreichen Apparat auf, der allerdings - wie später bemängelt wurde - den besonderen Sicherheitsanforderungen nicht entsprach. Im Jahre 1959 deckte eine Kontrollgruppe der NVA-Kaderverwaltung ernste Mängel auf. Sie rügte in erster Linie die ungenügende fachliche und politische Qualifikation des Personals und den zu weitläufig aufgebauten Apparat. 9 Hinzu kam, daß die Einheit trotz ihres Status als Verwaltung des MfNV bis zu diesem Zeitpunkt unter der konspirativen Bezeichnung "Dienststelle R." oder auch "Dienststelle Röbelen" geführt wurde und losgelöst von den regulären Verwaltungsverfahren des Ministeriums arbeitete, etwa bei der Kaderrekrutierung und -Überprüfung. Dieser Zustand ging offenbar primär auf den Arbeitsstil ihres Leiters zurück, dessen mangelnde organisatorische Fähigkeiten ihn schon um seine ZK-Position gebracht hatten. Röbelen genoß, wie Generalmajor Köhn 10 in einem Bericht der Verwaltung Kader feststellte, bei

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Die Vorlage selbst ist nicht überliefert; vgl. BA-MZA, VA-01/39556, Bl. lf. Zur Biographie Röbelen (1905-1967): Barth, Bernd-Rainer/Links, Christoph/Müller-Enbergs, Helmut/ Wielgohs, Jan (Hrsg.): Wer war wer in der DDR. Ein biographisches Handbuch, Frankfurt 1995, S. 608; zu den Vorgängen 1956: Bericht über die Überprüfung der Abteilung S vom 22.-26.5.1956 durch die Zentrale Revisionskommission, [o.D., O.A.] SAPMO-BArch, DY 30 IV 2/12/1, Bl. 2-11; Protokoll Nr. 58/56 der außerordentlichen Sitzung des Politbüros des Zentralkomitees, 10.11.1956, ebd. J IV 2/2/512, Bl. 6. Den Hinweis auf diese Materialien verdanken wir Silke Schumann. 7 Vgl. Anm 6: Bericht über die Überprüfung der Abteilung S vom 22.-26.5.1956. 8 Vgl. GVS-Nr. 516/59, Beschlußvorlage für die Sicherheitskommission des ZK der SED (künftig: Beschlußvorlage) mit einem Bericht über die bisherige Arbeit der Verwaltung 15; BA-MZA, Strausberg AZN-32702, Bl. 2. 9 Ebenda. 10 Fritz Köhn (1901-1981), zuletzt Generalmajor, 1949-52 Leiter der Personalabteilung im Stab der Hauptverwaltung Ausbildung des Mdl, 1952-53 Stellvertreter des Chefs der Verwaltung Kader im Mdl, 195361 stellvertretender Leiter der Verwaltung Kader der KVP bzw. des MfNV, 1961 pensioniert. 1958, auf

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seinen Untergebenen aufgrund seiner früheren Aktivitäten und seiner Stellung als ehemaliger ZK-Funktionär zwar absolute Autorität und wurde von ihnen als "Idol" bewundert, und besonders seine "gewisse romantische Linie" habe die Mitarbeiter beeindruckt. 11 Offenbar aber hatte er große Schwierigkeiten, sich auf die bürokratischen und sicherheitstechnischen Erfordernisse des zu diesem Zeitpunkt schon recht umfänglichen Sicherheitsapparats einzustellen. Im Ministerium für Staatssicherheit, dessen Hauptabteilung I die Dienststelle R. überwachte, häuften sich Berichte über Röbelens willkürliche Entscheidungen und ständige Kompentenzüberschreitungen, etwa im Umgang mit Geld. Als er schließlich einen getarnt eingesetzten MfS-Verbindungsoffizier per Dienstanweisung dekonspirierte, seine Mitarbeiter anhielt, diesem künftig keine Informationen mehr zu geben, und außerdem versuchte, seine Dienststelle gegenüber dem MfS (z.B. durch die Enttarnung weiterer inoffizieller Stasi-Mitarbeiter) abzuschotten, betrieb die Staatssicherheit seine Absetzung. 12 Als besonders gravierend erschienen den Kontrolleuren die Mängel im Personalbereich. Die Sicherheitsüberprüfung bei Neueinstellungen des hauptamtlichen Personals wurde als sehr oberflächlich beschrieben, und etwa 60 Mitarbeiter waren sogar ohne vorherige Überprüfung und ohne Wissen der zuständigen NVA-Kaderabteilung eingestellt worden, oft auf direkte Anweisung Röbelens, der sich auch bei Versetzungen und Entlassungen nicht an den Dienstweg hielt. 13 Häufig auch wartete Röbelen die Sicherheitsüberprüfung des MfS nicht ab, und so kamen, wurde berichtet, Personen in seine "Verwaltung", die während des Krieges in westlicher Emigration bzw. Kriegsgefangenschaft gewesen waren, in der jugoslawischen oder englischen Armee gedient oder Väter hatten, die Mitglieder der NSDAP gewesen waren. 14 Zudem seien viele mit engen persönlichen Bindungen zu Verwandten im Westen eingestellt worden. Allein 6 der 14 Bezirksbeauftragten für Kaderwerbung wurden im Gefolge der Untersuchung entlassen. Ein Beauftragter - ein ehemaliger Spanienkämpfer war zunächst nach Frankreich emigriert und hatte dann von 1942 bis 1946 in Madrid gelebt, wo er angeblich von einem amerikanischen Hilfskomitee unterstützt worden war. Ein anderer war kurzzeitig NSDAP-Mitglied, dann Interbrigadist gewesen und hatte sich schließlich freiwillig zur tschechischen Auslandarmee in England gemeldet. Ein weiterer Mitarbeiter, einst NSDAP-Anwärter (Vater Pg.) und mit engen Kontakt nach Westdeutschland, war 1953 aus diesen Gründen aus der Volkspolizei-See entlassen worden, doch unter Röbelen zum Schulleiter aufgestiegen. Auch zahlreiche Lehrkräfte hatten enge verwandtschaftliche Bindungen dem V. Parteitag der SED, wurde Köhn in die Zentrale Revisionskommission der Partei gewählt. Für die Zusammenstellung der biographischen Angaben danken wir Dr. Rüdiger Wenzke (MGFA). 11 Vgl. MfNV, Verwaltung Kader, Bericht der Kontrollgruppe der Verwaltung Kader über die Arbeit der "Dienststelle R." vom 13.4.1959 (künftig: Bericht vom 13.4.1959); BA-MZA, VA-01/17217, Bl. 50-55. 12 Hauptabteilung I, Bericht über den Leiter der Abteilung Patriotische Erziehung des Ministeriums für Nationale Verteidigung [an Minister Mielke]; 28.11.1958; Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) , Zentralarachiv (ZA), AP 4698/60, Bl. 28-40; Bericht über den Leiter der Abteilung "patriotische Erziehung" - Gen. Oberst Röbelen [an Minister Mielke], 18.2.1959; ebd. Bl. 91-95. 13 Vgl. MfNV, Verwaltung Kader, Bericht vom 13.4.1959; BA-MZA, VA-01/17217, Bl. 50. 14 Die folgenden Beispiele sind zwei Aufstellungen der vorläufigen Überprüfungsergebnisse von Mitarbeitern und Schüler der Dienststelle Röbelen entnommen. Die Aufstellungen selbst sind nicht datiert, das Begleitschreiben Generalmajor Köhns an Verteidigungsminister Stoph trägt das Datum vom 12.5.1959; BA-MZA, VA-01/17217, Bl. 56-65.

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in die Bundesrepublik bzw. zu ehemaligen NSDAP-Mitgliedern. Einer war 1948 sogar wegen "Beihilfe zum illegalen Grenzübertritt" aus der Grenzpolizei entfernt worden. Einen anderen - einen "Streber" aus "kleinbürgerlicher Familie" -, der 1957 schon einmal in die Dienststelle eingestellt und wieder entlassen worden war, hatte man später dennoch als Lehrer für Nachrichtenwesen geworben. Ein weiterer war 1949 aus der SED ausgetreten (weil ihm "die Partei keine Unterstützung im Amateurfunk" gewährt hatte) und erst 1955 wieder eingetreten. Karrieren wie diese, hieß es, hätten schon in weit weniger geheimhaltungsbedürftigen Bereichen eine Rekrutierung absolut ausgeschlossen.15 Bei den Lehrgangsteilnehmern war die Lage ähnlich. Im Gegensatz zu den hauptamtlichen Kräften der Verwaltung wurden sie nur zu einer sechsmonatigen Ausbildung zusammengezogen und dann an ihre alten Arbeitsstellen zurückgeschickt. Zum Teil wurde dann ihre Schleusung nach Westdeutschland vorbereitet. Von einigen existierten keine Personalunterlagen, viele waren in westlicher Kriegsgefangenschaft gewesen oder für die Ausbildung zu jung. Andere mußten wegen moralischer Verfehlungen - Trunkenheit, uneheliche Kinder, Widerstand gegen die Staatsgewalt - entlassen werden. Ein Schüler war sogar republikflüchtig geworden. Diese Bilanz trug dazu bei, einen Großteil der Kader - 119 Hauptamtliche und 114 Schüler 16 - im Laufe des Jahres 1959 zu entlassen. Die organisatorischen Regeln der DDR-Sicherheitsbürokratie hatte Röbelen ebenfalls weitgehend ignoriert. Nach dem Urteil der Überprüfungskommission gab es keine "feste innere Ordnung", Stellen- und Strukturpläne fehlten ebenso wie verbindliche Dienstvorschriften. Vieles sei "über den Daumen gepeilt" worden, und auch die Parteiarbeit "lief nur so nebenher". Röbelen hatte Offiziersdienstgrade nach eigenem Ermessen vergeben und Gehälter willkürlich und unabhängig von Funktion oder Dienstgrad festgesetzt. Ein Major zum Beispiel konnte höhere Zulagen erhalten als ein Oberst, die Schüler bekamen üppige Stipendien (800 Mark monatlich) und verschiedene Sonderzulagen.17 Auch die operative Arbeit zeigte viele Schwächen, insbesondere bei der Handhabung der "konspirativen Arbeitsmethoden". 18 Generalmajor Köhn resümierte, daß "in dieser Dienststelle keinerlei Gewähr für die Sicherheit" gegeben sei. Im Zuge der Überprüfung wurde auch die Rekrutierung von Westdeutschen analysiert. Ihr Muster wies weitgehende Parallelen zu dem auf, was Angehörige der DKP-Militärorganisa15 Vgl. zu den Einstellungsrichtlinien der NVA: MfNV, Verwaltung Kader: Die Entwicklung der Werbung, Auswahl und Heranbildung des Offiziersnachwuchses der Nationalen Volksarmee 1956-1966; BA-MZA, VA-01/5679, Bl. 108-131; zu denen des MfS: Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit (Anatomie der Staatssicherheit, Geschichte, Struktur, Methoden. MfSHandbuch. Hrsg. von Klaus-Dietmar Henke, Siegfried Suckut, Clemens Vollnhals, Walter Süß, Roger Engelmann; Teil IV/1), BStU, Berlin 1995, S. 11-14. 16 Die Akten enthalten sehr unterschiedliche Zahlenangaben zum Personalbestand: Die Beschlußvorlage gibt eine Gesamtzahl von 157 Schülern an, davon 23 aus Westdeutschland; BA-MZA, Strausberg AZN32702, Bl. 3. Der Bericht der Kaderverwaltung vom 13.4.1959 zählt 185 Schüler; BA-MZA, VA-01/ 17217, Bl. 50. Angaben zum Bestand an hauptamtlichen Mitarbeitern sind nicht enthalten. Die entlassenen Hauptamtlichen sollen aber etwa 50 Prozent ausmachen, von den entlassenen Schülern waren 93 aus der DDR; vgl. Bericht über die Kaderarbeit in der 15. Verwaltung vom 10.2.1960, BA-MZA, VA-01/ 17217, Bl. 69-70, hierBl. 69. 17 Vgl. MfNV, Verwaltung Kader, Bericht vom 13.4.1959; BA-MZA, VA-01/17217, Bl. 51f. 18 Vgl. Beschlußvorlage, Bl. 4.

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tion später über ihre Anwerbung aussagten. In Westdeutschland wählten Verbindungsleute, alles "alte KPD-Genossen", aus ihrem Bekanntenkreis geeignete Kandidaten aus. Sie wurden zu einem ersten, allgemeinen Gespräch in die DDR eingeladen. Erst bei einem weiteren Treffen bekamen sie konkretere Informationen über ihre beabsichtigte Verwendung. War der Kandidat bereit, mußte er von einem Genossen im ZK bestätigt werden. Geschah dies, mußte der Schüler nur noch einen Parteifragebogen ausfüllen und seinen Lebenslauf beifügen, danach wurde er für die Lehrgangsteilnahme bestätigt. 19 In der Ära Röbelen war es, angeblich aufgrund eines ZK-Beschlusses, selbst dem MfS verwehrt, Personalien der westdeutschen Teilnehmer zu erfahren. 20 Aufgrund dieser Eigenmächtigkeiten und Versäumnisse wurde Röbelen noch während der laufenden Untersuchung der Überprüfungskonimission beurlaubt und schließlich seiner Funktion - offenbar auch auf Betreiben des Ministeriums für Staatssicherheit - enthoben. Sein mehr als zwanzigjähriger Dienst als Untergrundkämpfer war beendet. Er wurde Leiter der Schulverwaltung des Ministeriums für Verkehrswesen. Als Nachfolger bestellte man den bisherigen Leiter der Abteilung Schulung, Oberstleutnant Ernst Haberland. 21

Verwaltung 15 des Ministeriums für Nationale Verteidigung Die von der Kontrollgruppe aufgezeigten Mängel machten eine grundlegende organisatorische und personelle Umstrukturierung der Dienststelle erforderlich. Nach Abschluß dieser Reorganisation umfaßte die nun als "Verwaltung 15" bezeichnete Einheit in ihrem Kern drei Abteilungen (Operativ, Ausbildung/Schulung, Kader) sowie den Rückwärtigen Dienst. Sie bildete außerdem eine eigene Parteiorganisation. Mit Ausnahme der Schulen und einer Unterabteilung Funk in Biesenthal bei Bernau ("Objekt Else") sowie einiger kleinerer Einrichtungen im Kreis Königs Wusterhausen ("Besprechungsobjekte K1-K3") befanden sich offenbar alle Dienststellen in Berlin. Die operative Abteilung gliederte sich nach den sechs Wehrbereichen der Bundeswehr. Jedem Wehrbereich war ein Leiter zugeordnet, der die Einsatzkräfte führen sollte. Ihnen fiel die Aufgabe zu, im Falle einer kriegerischen Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik "wichtige militärische Objekte des Feindes zu zerstören und seine Kampffähigkeit zu behindern". 22 Der Begriff "Objekte" umfaßte die ganze Palette kriegswichtiger ziviler und militärischer Einrichtungen, aber auch Personen "mit langjähriger Spezialausbildung wie das Perso19 Vgl. MfNV, Verwaltung Kader, Bericht vom 13.4.1959; BA-MZA, VA-01/17217, Bl. 55. 20 Schreiben des MfS-Verbindungsoffiziers Reimann an den Leiter der HA I, Oberst Kleinjung: Betr.: Schwierigkeiten in meiner operativen Arbeit innerhalb der Abtlg. "Patriotische Erziehung"; BStU, ZA, AP 4698/60; Bl. 5-7, hier Bl. 6-7. 21 Ernst Haberland (1903-1992), zuletzt Oberst, seit 1928 KPD, Buchenwald-Häftling. 1945 zunächst in Westdeutschland, 1952 Übersiedlung in die DDR, Mitglied des GST-Zentralvorstandes und seines Sekretariats, 1959-62 Leiter der Verwaltung 15, danach in der Verwaltung Ausbildung des MfNV mitverantwortlich für den Aufbau des Armeemuseums in Potsdam, später dessen Direktor. Vgl. Baumgartner, Gabriele/Hebig, Dieter (Hrsg.): Biographisches Handbuch der SBZ/DDR 1945-1990, München u.a. 1996, Bd. 1, S. 276; Herbst, Andreas/Ranke, Winfried/Winkler, Jürgen: So funktionierte die DDR, Bd. 3, S. 123, Reinbeck 1994; Autorenkollektiv: Armee für Frieden und Sozialismus, Berlin 1987, S. 340. 22 Vgl. Beschlußvorlage, Bl. 5.

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nal von Raketeneinheiten und die Piloten von Düsenmaschinen". Anschläge auf sie wurden mit "Ausschalten bzw. Behinderung der Tätigkeit höherer feindlicher Stäbe" umschrieben. 23 Um diesen Auftrag erfüllen zu können, sollte in der Bundesrepublik unter "Berücksichtigung der militärischen Schwerpunkte und der konspirativen Arbeitsmethoden" ein "dezentralisiertes Organisationsnetz" aufgebaut werden. Die "Kämpfer" waren in Gruppen bis zu fünf Mitglieder zusammenzufassen, zwei bis drei Gruppen einem "Residenten" zu unterstellen; zu den Aufgaben zählte ferner, Geld-, Waffen- und Materialdepots anzulegen und Unterkünfte vorzubereiten. Bis Ende 1959 hatte man 49 Mitarbeiter in der Bundesrepublik angeworben und drei Stützpunkte angelegt. Ferner waren mindestens fünf Angehörige der Verwaltung nach Westdeutschland "eingeschleust" worden. Mit der "systematischen Überführung der ausgebildeten Kräfte nach Westdeutschland" sollte aber erst 1960 begonnen werden. 24 Den Kern der Verwaltung bildete die Abteilung Ausbildung und Schulung. In ihr waren 29 Offiziere - die Hälfte des gesamten Offiziersbestandes - tätig. Sie war für die Aus- und Weiterbildung potentieller "Partisanen" zuständig und unterhielt dafür drei Schulen mit einer Lehrgangskapazität von jeweils 25 bis 30 Schülern (vor der Reorganisation waren es fünf Schulen mit 40 bis 50 Schülern gewesen, die Reduzierung geschah aus Sicherheitsgründen). Wie alle anderen Objekte der Verwaltung wurden auch die Schulen unter Decknamen geführt: Die in Wartin (Bezirk Frankfurt/Oder) hieß "Wally", die Schule in Roßlau (Anhalt) "Rosa", und Schloß Struvenberg (bei Görtzke) führte den Namen "Maria". Zur Konspiration gehörte auch, beim hauptamtlichen Personal der Schulen ausschließlich die Vornamen zu verwenden und die Lehrgangsteilnehmer mit Decknamen auszustatten. 25 Die Ausbildungsziele waren anspruchsvoll. Der bereits zitierte Bericht an die Sicherheitskommission beschreibt sie wie folgt: "Die Genossen werden zur Treue zur Partei, zu Mut, Kühnheit, körperlicher Härte und hoher Einsatzbereitschaft erzogen. Fachlich erhalten sie eine militärische Grundausbildung, eine Waffen- und Schießausbildung, eine Ausbildung in der Partisanentaktik, im Funken, im Bau von Sende- und Empfangsgeräten, im Chiffrieren, in der Herstellung und Anwendung von Spreng- und Brandstoffen sowie aller Arten von Zündern, in der Handhabung eines Fernsprenggerätes, im Fotografieren und eine Kraftfahrerausbildung". 26 Die Kurse dauerten 15 Monate, 27 ab 1961 wurden auch kurze Reservistenlehrgänge durchgeführt. Die Kaderabteilung der Verwaltung war territorial gegliedert. In jedem DDR-Bezirk arbeitete ein Beauftragter für die Kaderwerbung, die Betreuung der Reservisten und der Familienangehörigen der Lehrgangsteilnehmer. 1959 wurde die Zahl der Bezirksbeauftragten von 14 auf 7 herabgesetzt 28 und ebenfalls der Rückwärtige Dienst deutlich verkleinert. Das ursprünglich von der Verwaltung unterhaltene Kinderheim (mit Internatscharakter), in dem die Kinder verheirateter Schüler während der Ausbildung ihrer Eltern untergebracht waren, ging 1959 in die Trägerschaft des Bezirkes Dresden über, verbunden mit der Auflage, fünfzig Plätze für die Belange der Verwaltung bereitzuhalten. 23 24 25 26 27 28

Ebenda. Vgl. ebenda, Bl. 4 und 6. Vgl. die Personalakten der Lehrgangsteilnehmer; BStU, ZA, Gh 31/66. Vgl. Beschlußvorlage, Bl. 2. Ebenda. Ebenda.

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Die Parteiorganisation erhielt den Status einer Kreisorganisation und trug die SED-interne Bezeichnung VII m. 2 9 Sie war der Politverwaltung des MfNV direkt unterstellt. Aufgrund der besonderen Sicherheitsanforderungen galten für ihre Arbeit zahlreiche Sonderregelungen. So wurde die Kreisleitung unmittelbar von der Politverwaltung eingesetzt, und die Kreisleitung bestimmte wiederum die Leitungen der Grundorganisationen. Parteiwahlen fanden nicht statt. Das Um- und Anmelden der Mitglieder und Kandidaten hatte bei der "Abteilung Einheitliches Mitgliedsbuch" des ZK zu erfolgen. 30 Ebenso wurden Parteistrafen nicht in das Grundbuch, sondern in eine "Wamkartei" beim ZK eingetragen. Höhere Parteistrafen mußten dem Leiter der ZPKK, Hermann Matern, persönlich gemeldet und von ihm bestätigt werden. Auch Einsprüche gegen Parteistrafen waren an ihn zu richten. 31 Die Parteidokumente der Lehrgangsteilnehmer und der in Westdeutschland eingesetzten Genossen wurden von der Kreisleitung verwahrt. 32 Während die Organisationsprobleme mit der Verabschiedung eines verbindlichen Strukturplanes durch die Sicherheitskommission 1959 offenbar gemeistert wurden, hielten die personellen Probleme an. Zunächst wurden die Dienstverhältnisse der von Röbelen unbefugt ernannten Offiziere legalisiert.33 Für die Arbeit mit den Kadern galten nun die Richtlinien der NVA, d.h. die Beförderung, Versetzung und Entlassung von Offizieren erfolgte nach den Vorgaben der Dienstlaufbahnordnung. Die Offiziere mußten politisch aktiv sein (Mitgliedschaft in FDJ/SED), durften keine Westkontakte haben und hatten die erforderliche fachliche Qualifikation nachzuweisen. Die "sozialpolitische" Zusammensetzung des Offiziersbestands wurde verbessert, die überwiegende Mehrheit der Offiziere hatte nun vor Eintritt in die NVA Funktionen in der Partei inne oder hatte in den bewaffneten Kräften gedient (u.a. 5 ZK-Mitarbeiter, 9 Mitarbeiter der Kreis- bzw. Bezirksleitungen, 16 Angehörige der VP), daneben gab es einige ehemalige FDJ-Instrukteure und Mitarbeiter staatlicher Verwaltungen. 34 Die geforderte Veijüngung des Offiziersbestandes kam dagegen nur langsam voran. Ende 1960 waren noch immer 40 Prozent über fünfzig, lediglich 13 Prozent unter dreißig Jahre alt. Durch das Einsetzen von Politoffizieren an den Schulen und Dienststellen bekam die Parteiarbeit den als notwendig angesehenen Stellenwert, wenngleich nicht alle Planstellen bis zur Übernahme durch das MfS besetzt werden konnten. Die angestrebte Sollzahl von 58 Offizieren wurde nicht erreicht, zum Übergabezeitpunkt verfügte die Verwaltung über 54 und daneben über 97 Zivilangestellte.35 Die Auswahl der Schüler erfolgte nun ausschließlich nach 29 Mit der Ziffer VII wurden die Parteiorganisationen im Sicherheitsapparat bezeichnet, der Buchstabe stand dabei für das einzelne Organ, zum Beispiel "c" für die Volkspolizei, "i" für die Bereitschaftspolizei. 30 Gemeint ist hier wahrscheinlich der Sektor einheitliches Mitgliedsbuch und Statistik der Organisationsabteilung des ZK, eine ZK-Abteilung dieses Namens existierte nicht. 31 Die Statistiken der ZPKK über beschlossene Parteistrafen innerhalb der bewaffneten Organe weisen von 1957-62 keine Kreisleitung VII m aus; vgl. SAPMO-BArch, DY 3 0 I V 2/4/178 bis 195. 32 Vgl. Beschlußvorlage, Bl. 8f. 33 Vgl. MfNV, Verwaltung Kader, Bericht über die Arbeit in der 15. Verwaltung vom 20.12.1961 (künftig: Bericht vom 20.12.1961); BA-MZA, VA-01/17217, Bl. 66. 34 Vgl. die Rubrik "Tätigkeit vor Eintritt in die NVA" der Aufstellung über die zum Zeitpunkt der Übergabe in der Verwaltung 15 tätigen Offiziere; BA-MZA, VA-01/17217, Bl. 33-39. 35 Vgl. Anlage 1 zur Gkdos Nr. IA-1003/62: Protokoll über die Verhandlungen zur Verwendung der attestierten Offiziere und Zivilangestellten der 15. Verwaltung des MfNV; BA-MZA, Strausberg AZN32702, Bl. 22-26.

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den von der Kontrollgruppe festgelegten Kriterien. Alle Anwärter mußten von der Verwaltung 2000 (HA I des MfS) überprüft und bestätigt werden. Trotz der reduzierten Ausbildungskapazität wurden in den drei Jahren bis zur Übergabe an das MfS mehrere hundert "Partisanen" geschult. Es fanden sechs Lehrgänge statt, von ihnen sollte einer im Oktober 1962 (30 Schüler), ein zweiter im März 1963 (23 Schüler) enden und am 1.4.1962 ein weiterer beginnen. 36 1962 existierte eine "operative Kaderreserve" von 191 Absolventen, die in der DDR bzw. Ostberlin wohnten, 74 Schüler waren noch in der Ausbildung. Für den überwiegenden Teil der operativen Kaderreserve, die Schüler sowie für das Stammpersonal der Verwaltung wurden gefälschte bundesdeutsche Personalausweise, die auf ihre Decknamen ausgestellt waren, bereitgehalten.37 Neben diesen Kräften gehörten zur Verwaltung 36 inoffizielle Mitarbeiter. Sie unterhielten in Ost-Berlin (bzw. in vier Fällen in der DDR) konspirative Wohnungen und Postadressen, die als Anlaufpunkte für die im Westen agierenden Kräfte dienten. 38 Zwar hatte man 1962 die angestrebte operative Struktur im Westen noch nicht geschaffen, doch die "systematische Überführung der Kräfte nach Westdeutschland" war vorangetrieben worden. In der Bundesrepublik arbeiteten 86 und in West-Berlin zwei inoffizielle Mitarbeiter, darunter fünf Gebietsleiter (in Kiel, Köln, Nürnberg, Landsberg und dem Saargebiet) und drei Gruppenleiter (in Bremen, Ludwigshafen-Oppau und Worms). Geplant waren 1959 zwei bis drei Gruppen pro "Resident". Sie bauten dort Stützpunkte mit Funkern, Kurieren, "Ermittlern" und Gelddepots auf. Das Netz reichte von Sylt bis in den Schwarzwald 39 und sollte offenbar den im Einsatzfall aus der DDR eingeschleusten eigentlichen Untergrundeinsatzkräften als logistische Basis dienen sowie potentielle Zielobjekte auskundschaften. Für den Aufbau des Mitarbeiterbestandes und den Unterhalt ihres Apparates standen der Verwaltung umfangreiche Mittel zu Verfügung. Für den NVA-Haushalt weist das Übergabeprotokoll zwar lediglich die Gelder aus, die an das MfS überschrieben wurden (für die Zeit vom 1. Juli bis 31. Dezember 1962 1.611.700 Ost- und 60.000 Westmark 40 ). Daneben enthält es aber eine detaillierte Aufstellung der "operativen Finanzmittel".41 Hinter diesem Begriff verbergen sich die DM-Beträge, die zum Aufbau der konspirativen Strukturen in Westdeutschland aufgewendet wurden. Die genaue Höhe scheint selbst den zuständigen Offizieren der Verwaltung nicht bekannt gewesen zu sein; eine ordnungsgemäße Verbuchung war erst seit Mai 1958 üblich. Von diesem Zeitpunkt bis zur Eingliederung in das MfS wurden insgesamt für "operative Zwecke" 1.024.229,78 DM benötigt. Davon lagerten fast 220.000 36 Vgl. MfNV, Verwaltung Kader, Bericht vom 20.12.1961; BA-MZA, VA-01/17217, Bl. 67f. 37 Während der Lehrgänge wurde den Teilnehmern ihr Personalausweis ausgehändigt und diente auch als interne Legendierung ihrer Identität. Vgl. Anlage Nr. 3: Protokoll über den aktenmäßig nachgewiesenen Bestand der operativen Kaderreserve (Lehrgangsabsolventen) sowie über den Schülerbestand [...]; BAMZA, Strausberg AZN-32702, Bl. 30-32; siehe auch: BStU, ZA, Gh 31/66. 38 Anlage Nr. 4: Protokoll über den aktenmäßig nachgewiesenen Bestand der inoffiziellen Mitarbeiter der 15. Verwaltung des MfNV, ebd. Bl. 33-39, hier Bl. 37. 39 Neben den Leitern unterhielten 38 inoffizielle Mitarbeiter "Stützpunkte", 6 waren Funker, 13 Kuriere, 5 "Ermittler" und 13 "Helfer", 3 betreuten Gelddepots. 40 Vgl. Gkdos IA-1003/62: Protokoll der Übergabe- Übernahme-Verhandlung vom Juli 1962 (künftig: Protokoll); BA-MZA, Strausberg AZN-32702,Bl. 18-21, hierBl. 20. 41 Vgl. Anlage Nr. 5: Protokoll der operativen Finanzmittel (Währung Bank deutscher Länder) im Bereich der Verwaltung 15 des MfNV; BA-MZA, Strausberg AZN-32702,Bl. 40-43.

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DM in den westdeutschen "Gelddepots". Mit rund 52.000 DM wurden die Bestände in den dortigen Materiallagern beziffert, und 239.680 DM waren für "sonstige Anlagen" verwendet worden, das heißt für den Ausbau geeigneter Objekte, den Kauf von Fahrzeugen und den Aufbau von Tarnexistenzen der IM. Beträchtliche Kosten verursachten auch das "Fahrgeld WD" (135.843,89 DM), das "Arbeitsgeld WD" (78.101,64 DM) sowie das "Entgelt", wahrscheinlich die Zuwendungen an westdeutsche Mitarbeiter in Höhe von 151.112 DM. Dem Protokoll liegen außerdem die Inventarlisten der an das MfS übergebenen "Objekte" bei. Genannt werden die "Objekte" "Berta", "Garage", "Else", "Walli", "Rosa" und "Maria", außerdem die "Besprechungsobjekte" K 1 bis K 3. 4 2 Lediglich das "Objekt 'S'" in Grünheide bei Erkner wurde weiterhin vom Verteidigungsministerium genutzt. Auch die Waffenbestände wurden erfaßt. Der Verwaltung 15 stand ein umfangreiches Arsenal an "partisanen"typischen leichten Waffen zur Verfügung: 614 Pistolen, 70 Karabiner, 67 Maschinenpistolen, 17 Maschinengewehre, 177 Kleinkaliber-, Jagd- und Sportwaffen sowie 1.645 Handgranaten und mehrere hunderttausend Schuß Munition. 43

Die Übernahme durch das Ministerium für Staatssicherheit Am 11. April 1962 kamen der Minister für Nationale Verteidigung, Armeegeneral Heinz Hoffmann, und sein für die Staatssicherheit zuständiger Amtskollege, Generaloberst Erich Mielke, überein, die Funktionen der 15. Verwaltung des MfNV an das MfS zu übertragen. Am 30. Mai bestätigte der Nationale Verteidigungsrat die Übernahme zum 1. Juli. 44 Das geschah in der Phase, in der die nach dem Amtsantritt Mielkes (1958) betriebene innere organisatorische Konsolidierung des MfS zum Abschluß kam und geheimdienstliche Zweige (wie die "operative Grenzaufklärung", der Geheimdienst der Grenzpolizei) aus anderen Sicherheitsorganen in das MfS überführt wurden. 45 In der internen Begründung wurde darauf verwiesen, daß es in den beiden Ministerien "strukturelle Einrichtungen mit gleichlautenden operativen Aufgaben und gleicher Zielsetzung" gebe und die Aufgabenstellung wie die Arbeit der 15. Verwaltung der NVA "wesensfremd" seien. In keiner Armee des sozialistischen Lagers gebe es eine solche Einheit. Die "Durchführung bestimmter operativer Aufgaben" in "Friedenszeiten", gemeint war offenbar der Aufbau des logistischen Netzes sowie das Aus42 Hierzu ist anzumerken, daß die Liste nicht den Angaben einer früheren Vereinbarung der Ministerien vom 11. April entspricht. Weder das Objekt "Garage" noch die "Besprechungsobjekte K1-K3" sind in der Vereinbarung erwähnt. Letztere dürften jedoch den drei dort aufgeführten Liegenschaften im Kreis Königs Wusterhausen (Objekte "Prieros", "Schwerin" und "Senzig") entsprechen; vgl. Gkdos 2/62: Vereinbarung zwischen dem MfNV und dem MfS bezüglich der Übertragung der Funktionen der 15. Verwaltung an die Staatssicherheit vom 11.4.1962; BA-MZA, Strausberg AZN-32702,B1. 11-17, hier Bl. 12 und: Protokoll; ebd. Bl. 21, sowie die Anlagen 8-14 des Protokolls. 43 Neben den Waffen- und Munitionsbeständen der Schulen gab es einen "Lagerbestand", der sich möglicherweise in Depots in der Bundesrepublik befand. Vgl. Anlage ld: Waffenbestand, Stand vom 5.6.1962 und Munitionsbestand, Stand von 5.6.1962; BA-MZA, Strausberg AZN-32702, Bl. 114-115. 44 Vgl. Protokoll der 11. Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates vom 30.5.1962; BA- MZA, VA-01/ 39468, Bl. 4. 45 Vgl. Siebenmorgen, Peter: "Staatssicherheit" der DDR. Der Westen im Fadenkreuz der Stasi, Bonn 1993, S. 158; Kalender für die tschekistische Traditionspflege 1986-1990. Historische Daten und Persönlichkeiten, BStU, ZA, BF-Dokumentation, S. 6.

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spähen potentieller Angriffsziele, könne nur durch das MfS erfolgen. Daher war aus Gründen der "maximalen Ausnutzung der vorhandenen Kräfte und Mittel" die NVA-Dienststelle mit der "zuständigen Linie" des MfS zusammenzulegen und der Leitung Mielkes zu unterstellen. Auch im Kriegsfall sollte die Verantwortung beim MfS bleiben, das dann die Untergrundaktivitäten allerdings mit der obersten Armeeführung zu koordinieren hatte. 46 Zum Zeitpunkt der Übernahme der NVA-Verwaltung 15 durch das Ministerium für Staatssicherheit war dort den Übemahmevereinbarungen zufolge in eigenen Struktureinheiten eine parallele Aufgabenstellung verfolgt worden. Verglichen mit anderen Zweigen des MfS, ist der Überlieferungs- und Kenntnisstand zu diesem Zweig jedoch gering. Das geht zum einen auf die besondere Geheimhaltung zurück und liegt zum anderen daran, daß diese Unterlagen (sofern sie nicht zum ohnehin nicht überlieferten HV A-Bestand gehörten) 1989/90 zerstört wurden, möglicherweise auch dem Zugriff von anderer Seite anheim fielen. 47 Eine auf quellengestützte Untersuchung der MfS-Aktivitäten zur Vorbereitung von Sabotageakten im "Operationsgebiet", also vor allem in der Bundesrepublik Deutschland, wie sie in den eingangs erwähnten Presseveröffentlichungen in Umrissen zutage treten, kann daher nicht geleistet werden. Hier sollen lediglich einige Hinweise zur Orientierung gegeben werden. 48 Federführend für die Übernahmeverhandlungen war beim MfS die Hauptabteilung I des Ministeriums, die Diensteinheit also, in deren Händen die geheimdienstliche Überwachung der Nationalen Volksarmee und bis dahin auch der Verwaltung 15 gelegen hatte. Sie war in der NVA als "Verwaltung 2000" bekannt. Als Unterzeichner der Übernahmeprotokolle fungierte Major Otto Geisler 49 , der zu diesem Zeitpunkt Abteilungsleiter für Sonderaufgaben in der Hauptabteilung I war. Von der Hauptabteilung I/Verwaltung 2000 waren vor der Übernahme auch die Ergebnisse der Kaderüberprüfung übermittelt worden. Die Vorbereitung von Sabotageakten im "Operationsgebiet" durch das MfS lag 1962 in der Zuständigkeit einer anderen Diensteinheit, der selbständigen Abteilung IV des MfS. Schon in den fünfziger Jahre hatte es entsprechende Aufgabenstellungen gegeben. Sie waren auf Vorschlag der sowjetischen Berater ab 1953 der Abteilung z.b.V. (zur besonderen Verwendung) unter Leitung von Generalmajor Josef Gutsche zugewiesen worden. Gutsche war wohl der einzige MfS-Mann, der noch an der Oktoberrevolution teilgenommen hatte und verfügte, wie Röbelen, über langjährige Erfahrungen als NKWD-Agent und Partisan im Zweiten Weltkrieg. 50 1955 wurde die Abteilung z.b.V. dem Stellvertreter des Ministers Markus Wolf unterstellt und ab 1956 als Abteilung III der Hauptverwaltung Aufklärung weitergeführt. Im 46 Vgl. Anlage Nr. 3 zur Gkdos 2/62: Begründung zur Vereinbarung zwischen dem MfNV und dem MfS; BA-MZA, Strausberg AZN-32702, Bl. 17. 47 Als Indiz der besonderen Geheimhaltung mag gelten, daß auch die - ansonsten über den Aufbau des Ministeriums gut orientierte - westliche Literatur über das MfS lange Zeit keine Kenntnis von diesen Diensteinheiten hatte. Erst Karl Wilhelm Fricke geht auf die entsprechende Aufgabenstellung ein, weist sie aber einer falschen Diensteinheit zu: Die DDR-Staatssicherheit, Köln 1982, S. 54, 181-183. 48 Zu weitergehenden Informationen vergleiche zukünftig: Auerbach, Thomas: Arbeitsgruppe des Ministers, (MfS-Handbuch, m / 1 ) , BStU, Berlin (in Vorbereitung). 49 Otto Geisler (*1930), zuletzt Generalleutnant; 1962-66 Abteilungsleiter für Sonderaufgaben in der Hauptabteilung I (NVA); 1966-80 stellvertretender Leiter der Arbeitsgruppe des Ministers (AGM), 1980-87 Leiter der AGM. Zu den im folgenden erwähnten biographischen Angaben der MfS-Leitungskader; vgl. Kurzbiographien. Bearbeitet von Jens Gieseke (MfS-Handbuch V/4), Berlin 1996 (i.E.). 50 Vgl. Befehl Nr. 371/53, BStU, ZA, Dst 100076, S. 1.

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Zuge eines größeren Revirements der MfS-Auslandsspionage wurde diese Aufgabe 1959 von der neu geschaffenen selbständigen Abteilung IV übernommen, die dem Leiter der Arbeitsgruppe des Ministers (AGM), dem späteren stellvertretenden Minister Alfred Scholz 51 , zugeordnet wurde. 52 Die AGM war das "zentrale Mobilmachungsorgan" des Ministeriums. Hier lag die Verantwortung für die Vorbereitung des MfS auf den Verteidigungs-, aber auch auf den inneren Spannungsfall. 53 1962 übernahm die Staatssicherheit von den 54 Offizieren 34. Zu ihnen gehörten drei der vier Abteilungsleiter, unter ihnen als ranghöchster Kader der 1. stellvertretende Leiter der Verwaltung 15 und Leiter der operativen Abteilung, der MfS-Offizier im besonderen Einsatz (OibE) Oberstleutnant Werner Kukelski (der auch das Übergabe-Protokoll abzeichnete). 54 Der Leiter der Verwaltung 15, Oberstleutnant Ernst Haberland, verblieb hingegen zur weiteren Verwendung in der Verwaltung Ausbildung des Verteidigungsministeriums. Ebenfalls nicht transferiert wurde der Chef der Abteilung Ausbildung/Schulung, der zum Leiter eines Wehrkreiskommandos gemacht wurde. Die dem MfS überstellten Offiziere kamen zum größten Teil aus den beiden Kernabteilungen der Verwaltung, aus der Ausbildungsabteilung mit ihren drei Schulen sowie aus der von Kukelski geleiteten Abteilung für operative Arbeit. Von den sieben Bezirksbeauftragten für Kaderrekrutierung, die den Stamm der Abteilung Kader stellten, waren es hingegen nur zwei. Offenbar beabsichtigte die Staatssicherheit nicht, sich weiterhin auf das bisherige System des Anwerbens von Lehrgangsteilnehmern zu stützen. Von den 97 Zivilangestellten übernahm sie 70. 55 Mehr als zwei Drittel der NVA-Offiziere wurden der Abteilung IV zugeteilt. 56 Sie hatte Ende 1961 einen Bestand von 26 hauptamtlichen Mitarbeitern, erfuhr durch die NVA-Leute also eine kräftige personelle Aufstockung. Im Referat IV/2, offenbar die Ausbildungseinheit der Abteilung, wurden insbesondere die vormals an den drei NVA-Schulen lehrenden Offiziere eingesetzt. Drei NVA-Leute behielt die HA I, ein weiterer wurde zunächst zur Pioniereinheit des MfS-Wachregiments versetzt, kam aber 1966 ebenfalls zur Abt. IV/2. Kukelski wurde Leiter dieser Struktureinheit. Er behielt diese Position (bzw. die entsprechende in den Nachfolgediensteinheiten) bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1977. Einige der jüngeren

51 Alfred Scholz (1921-1978); 1950-56 Leiter der HA IX; 1956-58 Leiter der HA II der HV A; 1958-66 Leiter der AGM; 1966-78 stellvertretender Minister. 52 Vgl. Siebenmorgen: "Staatssicherheit", S. 254. 53 Zu den Mobilmachungsvorbereitungen des MfS, besonders hinsichtlich ihrer innenpolitischen Dimension, vgl. Auerbach, Thomas: Vorbereitungen auf den Tag X. Die geplanten Isolierungslager des MfS, BStU, Abt. Bildung und Forschung (Analysen und Berichte 1/95), Berlin 1995. 54 Er war 1950-56 Leiter der Gegenspionage des MfS gewesen. Nach einer disziplinarischen Degradierung kam er dann als Referatsleiter in die Hauptabteilung I und wurde von dort 1959 als Offizier im besonderen Einsatz zur Verwaltung 15 der N V A versetzt. 55 Acht abgelehnte Offiziere dienten weiterhin im MfNV, fünf weitere wurden in die Reserve versetzt und kamen in andere staatliche Institutionen (Zollverwaltung, Mdl, MfAA), einer wurde Agronom. Sechs Offiziere wurden physischer Dienstuntauglichkeit wegen bzw. aus Altersgründen entlassen; vgl. MfNV, Verwaltung Kader, Abschlußvermerk über die kadermäßige Abwicklung bei der Reorganisation der 15. Verwaltung des Ministeriums für Nationale Verteidigung; BA-MZA, VA-01/17217, Bl. 1-8. 56 Die folgenden Informationen basieren, soweit nicht anders vermerkt, auf einer Auswertung der Kaderunterlagen der Mitarbeiter; BStU, ZA.

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übernommenen NVA-Partisanenausbilder dienten im MfS bis zu seiner Auflösung 1989 in verantwortlichen Positionen ihres speziellen "Fach"gebietes.57 1964, zwei Jahre nach der Übernahme der NVA-Verwaltung 15 wurde im Bereich der MfS-Abteilung IV, vermutlich aus dem Referat IV/2, eine eigene Struktureinheit, die "Arbeitsrichtung 'S'" geschaffen. Das "S" stand für den Namen ihres langjährigen Leiters, Heinz Stöcker 58 , der bereits zuvor in der Hauptabteilung Kader und Schulung mit der militärischen Ausbildung der MfS-Kader betraut war. 59 1978 wurde die Verbindung von Abteilung IV und Arbeitsrichtung "S" gelockert: Als AGM/S galt die Stöcker-Einheit fortan als relativ selbständiger Teil der Arbeitsgruppe des Ministers. 1988 wurde sie in die selbständige Abteilung XXIII umgewandelt, 60 und ein Jahr später, im Januar 1989, dann mit der Abteilung XXII zur Hauptabteilung XXII vereinigt.61 Die Abteilung IV wiederum wurde zum 1. Januar 1987 in die neugebildete HV A-Abteilung XVIII eingegliedert, die daneben mit der Aufklärung westlicher Zivilschutzeinrichtungen beauftragt war. 62 Allerdings kooperierten beide Zweige auch nach ihrer organisatorischen Trennung eng und verfügten bis zum Schluß über einen gemeinsamen Dienstsitz in Hoppegarten. Zu den Aufgaben der Arbeitsrichtung "S" gehörte unter anderem die Ausbildung und gegebenenfalls der Einsatz einer militärischen Spezialtruppe, der sogenannten "spezifischen Kräfte". Mielke formulierte in seinem Gründungsbefehl 1964 das Ziel, "unter allen Bedingungen der Lage bereit" zu sein, "aktive Maßnahmen gegen den Feind und sein Hinterland erfolgreich durchführen zu können". 63 Das heißt, wie der AGM-Leiter Scholz 1972 ausführte, gegen "neuralgische Punkte [...] erfolgreiche Aktionen zu führen". 64 Hierunter fielen "Diversionsakte", "Methoden der Gefangennahme", "aktive physische Maßnahmen gegen bestimmte Personen", die "Beschaffung von technischen Exponaten des Feindes", die "Unterstützung antiimperialistischer Bewegungen" und die "Unterstützung bei physischer Auflehnung gegen die Staatsstruktur des Kriegsgegners". Hauptziele waren politische und administrative Führungszentren, Geheimdienstzentralen und ökonomische Knotenpunkte (u.a. Eisenbahn- und Energieversorgungsnetze). Mit dem Ausbau zur AGM/S Ende der siebziger Jahre wurden dieser Kampftruppe zudem auch verstärkt Aufgaben im Innern der DDR vor allem bei der Bekämpfung von Terrorakten zugewiesen, was schließlich 1989 zur Vereinigung mit der Abt. XXII (Terrorabwehr) führte. Spätestens seit Anfang der achtziger Jahre waren für die AGM/S auch explizit Einsätze unter "relativ normalen, friedlichen Bedingun-

57 Zu nennen ist hier der Leiter des Bereichs Kampfkräfte HA XXII, Günter Rosenow, der Leiter der Abt. 5 der AGM, Heinz Siebenhüner und der Sektorenleiter in der Fachschule der HA XXII, Peter Rehm. 58 Heinz Stöcker (*1929); 1958-62 Referatsleiter für militärische Ausbildung der HA KuSch; 1962-64 AGM; 1964-88 Leiter der Abt. IV/2 (1978 in AGM/S, 1988 in Abt. XXIII umbenannt). 59 Zur militärischen Ausbildung im Rahmen der allgemeinen Mitarbeiterschulung vgl. Gieseke, Jens: Die hauptamtlichen Mitarbeiter, S. 32. 60 Vgl. Befehl des Ministers 4/88, BStU, ZA, Dst 103471. 61 Vgl. Befehl des Ministers 3/89, BStU, ZA, Dst 103551. Vgl. hierzu auch: Wunschik, Tobias: Hauptabteilung XXII "Terrorabwehr" (MfS-Handbuch III/16), BStU, Berlin 1995. 62 Vgl. Organisationsstruktur des MfS 1989 (MfS-Handbuch V/1), BStU, Berlin 1995, S. 369. 63 Vgl. Befehl des Ministers 107/64; BStU, ZA, DSt 100405, S.l. 64 Zitiert nach: BStU, ZA, GVS MfS 046-58/80/S, S. 10.

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gen" geplant, etwa die Liquidierung oder Entführung von MfS-Überläufern und Anschläge auf führende Kräfte von gegen die DDR agierenden Terrororganisationen.65 Aus dem Befehl von 1964 geht hervor, daß das MfS damals hauptamtliche Mitarbeiter verschiedener Diensteinheiten für den Einsatz im Operationsgebiet ausbilden wollte. Der erste sechsmonatige Lehrgang (1964) sollte 25 Teilnehmer zusammenfassen. Darüber hinaus war vorgesehen, im selben Jahr 30 Angehörige der Grenztruppen der DDR, die als inoffizielle Mitarbeiter der Hauptabteilung I verpflichtet worden waren, entsprechend zu schulen, ohne daß für sie im Ausbildungsprogramm "Beziehungen zum Ministerium für Staatssicherheit erkennbar" würden. Alle Teilnehmer waren nach den Lehrgängen wieder in ihre Diensteinheiten bzw. Truppenteile einzugliedern und sollten offenbar erst im Einsatzfall aktiviert werden. Welche Rolle die Kräfte im Westen bzw. MfS-Bedienstete, die in die Bundesrepublik geschleust wurden, über den Auf- und Ausbau einer logistischen Basis und das Auskundschaften von Zielen hinaus spielen sollten, blieb ebenso unerwähnt 66 wie die Modalitäten der - ausweislich der eingangs zitierten Presseberichte - offenbar weitergeführten bzw. später wieder aufgenommenen Partisanenausbildung Westdeutscher in der DDR.

Zusammenfassung und Ausblick Die Verwaltung 15 der NVA war als Untergrundtruppe konzipiert worden, die im Falle einer militärischen Auseinandersetzung mit dem Westen hinter den feindlichen Linien Sabotageakte gegen die Infrastruktur sowie Angriffe gegen maßgebliches Personal des Gegners ausführen sollten und - sollte es dazu kommen - eine Erhebung der Westdeutschen gegen ihren Staat zu unterstützen hatte. Das MfS plante darüber hinaus auch Aktionen in Friedenszeiten. Zu diesem Zweck wurde ein arbeitsteiliges System von Kräften in der DDR sowie im "Operationsgebiet" aufgebaut, dessen wichtigste Säulen das hauptamtliche Personal der Einheiten, die in der DDR verfügbare Kaderreserve aus entsprechend geschulten Lehrgangsteilnehmern sowie das inoffizielle Spionage- und Unterstützungsnetz im Westen waren. Mit Hilfe dieses Systems sollten möglichst umfangreiche und detaillierte Kenmisse über potentielle Angriffsziele geschaffen, die technischen Vorbereitungen für Einsätze gegen diese Ziele getroffen und Kader für diesen "Partisanenkampf' (später war nüchtern von "Sabotageakten im Operationsgebiet" die Rede) ausgewählt und ausgebildet werden. Unterbleiben muß hier die Gegenüberstellung dieser Planungen mit den zuweilen ins Feld geführten 67 Erwägungen und Vorbereitungen für den Einsatz von Sabotageeinheiten, die von

65 Vgl. Hauke, Frank: Enthüllt: Kriegspläne der "Friedensmacht DDR", in: Welt am Sonntag v. 5.5.1996, S. 5. 66 Die einzige bislang aufgefundene Akte eines West-IM-Paares deutet daraufhin, daß das Aufgabenspektrum im wesentlichen gleich blieb. Sie sollten unter anderem Umspannwerke im Ruhrgebiet photographieren; BStU, ZA, AIM 12433/81. 67 Vgl. zum Beispiel die Argumentation des letzten Leiters der MfS-Bezirksverwaltung Berlin und Chefs des Amtes für Nationale Sicherheit, Wolfgang Schwanitz: "Vorbereitung auf den Tag X"- Die geplanten Isolierungslager des MfS [Kommentar zu der zitierten Arbeit von Thomas Auerbach], in: Zwiegespräch. Beiträge zum Umgang mit der Staatssicherheitsvergangenheit, Nr. 31 (1996), S. 12-21, hier S. 17. Schwanitz spricht von "gesicherten Kenntnissen" des MfS, "wonach durch den potentiellen Kriegsgegner

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westlichen Streitkräften und Geheimdiensten betrieben wurden. Über sie ist kaum etwas bekannt. Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung zu entsprechenden Aktivitäten sind rar, und sie beziehen sich im wesentlichen auf die fünfziger Jahre. 68 Untersucht wurden vor allem der "Bund deutscher Jugend/Technischer Dienst" (BDJ/TD) 69 und die "Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit"(KgU)70, denen es aber infolge der Verfolgung durch das MfS nie gelang, dauerhaft personelle Strukturen auf dem Gebiet der DDR aufzubauen. Hinter diesen Organisationen stand ein US-amerikanischer Geheimdienst (welcher, ist nicht ganz klar), der in Westeuropa ein Netzwerk sogenannter "stay-behind-Organisationen" errichtete, die den Auftrag hatten, im Falle einer sowjetischen Invasion in den besetzten Gebieten den Partisanenkampf zu organisieren. Diese Strukturen wurden der Öffentlichkeit Ende der achtziger Jahre unter ihrem italienischen Decknamen "Gladio" bekannt. 71 Der Technische Dienst des BDJ kann wohl als erster Versuch gewertet werden, einen westdeutschen Ableger dieses Netzwerkes zu schaffen. 72 Später bildete der Bundesnachrichtendienst deutsche Gladio-Einheiten, die nach dem Bekanntwerden dieser Verbände allerdings aufgelöst wurden. Ihrem Auftrag gemäß sollten sie nur auf dem Gebiet der Bundesrepublik operieren. Es gibt jedoch vereinzelte Hinweise darauf, daß die Aktivitäten im Kriegsfall auch auf das Territorium der DDR ausgedehnt werden konnten, zum Beispiel zu Aufklärungszwecken. Ohne nähere Kenntnis des seit den fünfziger Jahren aufgebauten Apparates und seines geheimen Westnetzes können die Aktivitäten der NVA und des MfS nicht abschließend bewertet werden. Insbesondere bleibt es trotz der offensichtlichen Kontinuitäten in der Rekrutierungsstrategie offen, welche Rolle der DKP im Zusammenspiel der verschiedenen Akteure zugedacht worden war. Tatsächlich gingen die Verantwortlichen aufgrund der intensiven Beobachtung der westdeutschen Kommunisten durch den Verfassungsschutz ein nicht unerhebliches Risiko ein. Ein Aufdecken ihrer Mitwirkung an Bürgerkriegsvorbereitungen wäre immerhin mit weitreichendem politischen Schaden für die offizielle Politik der DDR verbunden

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bereits im Vorfeld eines möglichen Krieges [...], und im Krieg selbst, vorbereitete Aufklärungskräfte mit Führungsaufgaben auf dem Gebiet der DDR eingesetzt werden sollten." Vgl. Höhne, Heinz: Der Krieg im Dunkeln, München, 1978, S. 512-515 (mit weiterer Literatur). Siehe auch: Reese, Mary Ellen: Organisation Gehlen, Berlin 1992, S. 184-186. Zum BDJ vgl. die umfassende Darstellung in: Dudek, Peter/Jaschke, Hans-Gerd: Entstehung und Entwicklung des Rechtsextremismus in der Bundesrepublik, 2 Bde., Opladen 1984: Bd. 1, S. 356-388 (zum Technischen Dienst S. 377-380), Bd. 2, S. 163-194 (zum TD die Dokumente 68-70); außerdem liegen die Erinnerungen eines Angehörigen des Technischen Dienstes vor: von Glahn, Dieter: Patriot und Partisan für Freiheit und Einheit, Tübingen 1995, S. 41-97. Zur Geschichte der KgU vgl. Merz, Kai-Uwe: Kalter Krieg als antikommunistischer Widerstand. Die Kampfgruppe gegen Unmenschlichkeit 1948-1959, München 1987; Die Aktionen der Staatssicherheit gegen die KgU beschreibt auch Höhne: Der Krieg im Dunkeln, S. 516-518. Vgl. Müller, Theo A.: Gladio - das Erbe des Kalten Krieges, Reinbek bei Hamburg 1991; zu den GladioStrukturen innerhalb des B N D Vgl. Schmidt-Eenboom, Erich: Schnüffler ohne Nase. Der B N D - die unheimliche Macht im Staate, Düsseldorf 1993, S. 365-378. Zum Zusammenhang zwischen TD und Gladio vgl. Müller: Gladio, S. 72-154. Daß es dabei offenbar gängige Praxis der Geheimdienste war, nichtstaatliche Organisationen als Deckmantel für den Aufbau antikommunistischer Widerstandsgruppen zu verwenden, zeigen die Enthüllungen über geheime Waffenlager in Österreich und dem in Zusammenhang damit genannten "Wander-, Sport- und Geselligkeitsverein"; vgl. Süddeutsche Zeitung Nr. 17 vom 22.1.1996, S.7, Nr. 23 vom 29.1.1996, S. 5 und Nr. 24 vom 30.1.1996, S. 7.

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gewesen und hätte die Glaubwürdigkeit der bundesrepublikanischen SED-Bruderpartei, die sich ja als Teil der Friedensbewegung im Westen verstand, in kaum abzuschätzendem Maße beschädigt. Die Probe auf das hier skizzierte Exempel, auf die Frage, ob NVA und MfS mit ihren Untergrundeinheiten entschlossen den Emstfall vorbereiteten oder nur einer revolutionären "Partisanenromantik" frönten, sich einem "deutsch-deutschen Abenteuerspiel" hingaben, ist allen Beteiligten erspart geblieben. Es bleibt der weiteren Forschung vorbehalten, das ganze Ausmaß dieser sorgsam (und erfolgreich) geheimgehaltenen Aktivitäten zu ergründen und vor allem das politische Kalkül zu beleuchten, daß ihnen zugrunde lag. Eines zeigen die zur Verfügung stehenden Informationen ganz gewiß: Waren es nur Planspiele, dann wurden sie jedenfalls mit hohem Aufwand betrieben, und die Planer gaben sich entschlossen, aus ihnen bitteren Ernst werden zu lassen, sofern es ihrer politischen Führung erforderlich erschien.

Peter Erler (Berlin)

Zwischen stalinistischem Terror und Repression. Staatlicher Zwang und parteipolitische Strafmaßnahmen gegen deutsche Politemigranten in der UdSSR nach dem 22. Juni 1941 Seit 1989/90 konnte über den stalinistischen Terror und die Repressalien gegen deutsche Emigranten in der Sowjetunion ein bedeutender Erkenntniszuwachs erzielt werden. Das betraf insbesondere die qualitative und quantitative Dimension dieser Ereignisse, deren politische Ursachen und Hintergründe sowie die Biographien der Betroffenen. Die Auswertung der vorliegenden wissenschaftlichen und biographischen Literatur erlaubt es nun auch, eine erste, vorläufige Periodisierung des Forschungsthemas vorzunehmen: Die erste Periode umfaßt den Zeitraum der zwanziger und die erste Hälfte der dreißiger Jahre. Bis zum Anfang des Jahres 1936 waren nur einzelne deutsche Emigranten von politisch motivierten Verfolgungen betroffen. Den Rahmen für die zweite Periode bilden die Festnahmen im Vorfeld des ersten großen Schauprozesses im Mai 1936 und die Einstellung des Massenterrors Mitte 1938. In diesem Zeitraum gerieten weit über 1.000 deutsche Emigranten in die Fänge des NKWD. Eine dritte Periode, die am 22. Juni 1941 endet, wird durch vereinzelte Festnahmen, die Übergabe von Emigranten durch sowjetische Behörden an die Gestapo und die Entlassung von über 60 verhafteten deutschen Politemigranten aus dem Gewahrsam des NKWD charakterisiert. Die vierte Periode umfaßt den Zeitraum vom Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 bis zur Überprüfung der stalinistischen Unrechtsurteile ab 1954 in der Sowjetunion. Innerhalb dieser Periode stellt die Beendigung des Zweiten Weltkriegs in Europa im Mai 1945 eine wichtige Zäsur dar. In der Geschichtswissenschaft wurde bisher der zweiten Periode die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Bei der Beschreibung und Analyse der drei übrigen Etappen gibt es dagegen große Defizite. Mit dem folgenden Beitrag möchte der Autor zur Schließung dieser Forschungslücke beitragen.

Deutsche Emigranten und die Aktivitäten des NKWD Gleich zu Beginn des "Großen Vaterländischen Krieges" entstand in der politischen Führung der UdSSR und speziell bei Stalin ein starkes Mißtrauen gegenüber der deutschstämmigen Bevölkerung des Landes, unter der man Tausende von Spionen und Diversanten vermutete. Von diesen Verdächtigungen waren auch die deutschen Emigranten, insbesondere diejenigen, die nicht in der Komintern und in zentralen staatlichen Einrichtungen arbeiteten, betroffen. Darüber hinaus wurden die deutschen Kommunisten und ihre Familienmitglieder in der Sowjetunion mit Vorwürfen konfrontiert, die für sie eine schwere moralische Belastung darstellten.

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Die deutschen Politemigranten waren Angehörige der Nation, die sich von ihren Machthabern zum Werkzeug eines grausamen Vernichtungsfeldzugs gegen die Völker der Sowjetunion machen ließ, der nicht allein das Ziel verfolgte, den Sowjetstaat zu zerschlagen, sondern die UdSSR von der Landkarte zu tilgen, die eroberten Territorien zu annektieren und einen Teil der Bevölkerung auszurotten, um "Lebensraum" für die deutsche "Herrenrasse" zu schaffen. Die sowjetische Führung und die Offiziere wie Soldaten der Roten Armee mußten auf dem Schlachtfeld erfahren, daß die übergroße Mehrheit des deutschen Volkes und der deutschen Arbeiterklasse die von den Nationalsozialisten angestrebte Vernichtung des "Vaterlandes aller Werktätigen", wie die Sowjetunion in der Propaganda der KPD umschrieben wurde, aktiv mitbetrieben. Offenbar war der Einfluß kommunistischer Überzeugungen auf das Denken und Handeln der Bevölkerung im Reich nur noch von marginaler Bedeutung. Mit dem 22. Juni wurde auch endgültig die weit verbreitete illusorische Vorstellung widerlegt, daß das nationalsozialistische Regime allein die Diktatur einer verbrecherischen Minderheit ohne soziale Massenbasis sei und der Großteil des deutschen Volkes nur auf den Tag der Befreiung zum Losschlagen gegen die Unterdrücker wartete. Die Kommunisten und alle anderen Gegner der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland hatten die deutsche Kriegsmaschinerie nicht ernstlich behindern, geschweige denn aufhalten können. Von den erneuten massenhaften Festnahmen, die das NKWD nach dem Überfall auf die Sowjetunion in einer Kriegs- und Spionagepsychose schwerpunktmäßig unter Rußlanddeutschen durchführte, blieben auch diesmal die deutschen Emigranten nicht verschont. Für den Zeitraum von Juni bis Oktober 1941 konnten bisher die Namen von 43 verschleppten deutschen Emigranten - viele von ihnen waren Mitglieder der KPD - ermittelt werden: 1 Ernst Baum 2 Robert Becker (Barnitzki)3, Peter Bergmann4, Gertrud Braun 5 , Arthur Döhring6, Erich Dollwetzel (Wolf) 7 , Erich Fieck8, Erika Gerschinski9, Heinrich Giesberts 10 , Maria 1 Vgl. Russisches Zentrum zur Aufbewahrung und Erforschung der Dokumente der neuesten Zeit (RCChlDNI), 495/175/118, Bl. 91; In den Fängen des NKWD. Deutsche Opfer des stalinistischen Terrors in der UdSSR. Hrsg. vom Institut für Geschichte der Arbeiterbewegung, Berlin 1990. Möglicherweise wurden einige dieser Personen in den asiatischen Teil der UdSSR deportiert und später in die Arbeitsarmee eingegliedert. Im folgenden werden biographische Angaben nur beigebracht, wenn die betreffende Person in keinem Standardnachschlagwerk aufgeführt ist oder die dort vorhandenen Fakten berichtigt und ergänzt werden können. 2 Geb. 1912, 1933 KPD, kam 1934 in die UdSSR, lebte als Emigrant in Moskau, war dort 1940 für die Kassierung der KPD-Mitgliedsbeiträge in der 7. Druckerei verantwortlich, wurde am 11.9.1941 verhaftet. 3 Geb. am 12.1.1899 in Droscheydau, Autoschlosser, 1925 KPD, kam im Nov. 1933 als Politemigrant in die UdSSR, ab Sept. 1936 Einsatz in Spanien, am 29.6.1941 in Moskau verhaftet. 4 Sohn von Franziska Rubens, besuchte in Moskau die "Karl-Liebknecht-Schule", am 11.9.1941 verhaftet. 5 Am 15.9.1941 verhaftet, nach der Haft in der Nähe von Karaganda verbannt. Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O. (Anm. 1), S. 42f. 6 Geb. am 12.4.1902 in Weilig, Automechaniker, 1924 KPD, kam 1931 als Spezialist in die UdSSR, war 1937 bis 1939 in Spanien, arbeitete dann als Schlosser in Moskau, wurde am 11.9.1941 verhaftet, verstarb am 7.5.1943 in einem Zwangsarbeitslager. 7 Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 59. 8 Geb. 1898, parteilos, kam 1936 als Politemigrant in die UdSSR, am 11.9.1941 in Moskau verhaftet. 9 Geb. am 20.10.1916 in Berlin, parteilos, wurde am 11.9.1941 verhaftet. 10 KPD, am 30.6.1941 in Moskau verhaftet.

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Greßhöner (Maria Osten)1 Robert Grundmann12, Hedwig Gutmann13, Erich Hinz 14 , Franz Käuffert 15 , Max Kemper 16 , Rosa Klutschkowski 17 , Margrit Knippschild 18 , Theodor Kollmeier 19 , Richard König (Graf) 20 , Willi Koska (Rudolf Rischauk) 21 , Georg Lukacs 22 , Max Maddalena 23 , Erna Morawitz 24 , Edwin Morgner 25 , Käthe Otto 26 , Luise Rang-Sabelin 27 , Richard Rathke 28 , Ida Reiber 29 , Walter Rüge 30 , Magnus Satzger 31 , Hildegard-Charlotte

11 Vgl. Weber, Hermann: „Weiße Flecken" in der Geschichte. Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung, akt. Fassung d. 2. Aufl., Berlin 1990, S. 106; Medowoi, Boris: Michail i Maria. Powest o korotkoj shisni, stschastliwoj ljubwi i tragitscheskoj gibeli Michaila Kolzowa i Maria Osten, Moskwa 1991. 12 Geb. 1907, 1926 KPD, kam 1933 in die UdSSR, am 10.9.1941 in Moskau verhaftet. 13 Geb. am 25.3.1898 in Wien, Lehrerin, 1930 KPD, kam 1932 in die UdSSR und arbeitete zunächst als Rundfunkredakteurin, 1935 bis 1938 Redakteurin in einem Verlag, bis zu ihrer Verhaftung am 25.6.1941 Mitarbeiterin am Fremdspracheninstitut in Moskau, 1942 zu 10 Jahren Zwangsarbeit verurteilt, lebte vor ihrer Rückkehr aus der UdSSR 1957 im Krasnojarsker Gebiet, verstarb im April 1973. 14 KPD, am 29.6.1941 in Moskau verhaftet. 15 KPD, kam Ende 1935 in die Sowjetunion, am 24.6.1941 in Moskau verhaftet. 16 Agronom, 1924 KPD, 1928 Doktordissertation, Referent des EKKI in Deutschland, Aug. 1930 bis 1933 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Internationalen Agrarinstitut in Moskau, 1931 KPdSU(B), Mitarbeiter in in der Staatlichen Zentralbibliothek für Internationale Literatur, war vor seiner Verhaftung am 23.6.1941 als Lehrer für deutsche Sprache tätig. Vgl. Weber, „Weiße Flecken", a.a.O. (Anm. 11), S. 95. 17 Hausfrau, parteilos, wurde am 11.9.1941 verhaftet, verstarb in der Haft. 18 Emigrierte im Aug. 1934 in die Sowjetunion, ging im Jan. 1939 zu ihrem Vater nach Kalinin, Mai 1939 Komsomol, lernt seit Sept. 1940 im II. Staatlichen Pädagogischen Institut für Fremdsprachen in Moskau. Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 118. 19 Ab 1935 in der Sowjetunion, im Juni 1941 in Noworossisk erneut inhaftiert. Vgl. In den Fängen des NKWD, a. a. O., S. 121. 20 Am 12.9.1941 in Moskau verhaftet. Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 122. 21 Febr. 1940 Werkzeugdreher in einem Moskauer Betrieb. Vgl. Weber, „Weiße Flecken", a.a.O., S. 97. 22 Befand sich von 29.6.1941 bis 26.8.1941 in Untersuchungshaft. 23 1934-1938 Schlosserlehre, 1934-1938 Komsomol, war vom 23.3.1938 bis zum 16.5.1939 verhaftet, arbeitete dann bis Sommer 1940 in Moskauer Betrieben, wollte nach dem Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion nicht als Fallschirmspringer ausgebildet werden, wurde am 14.9.1941 erneut inhaftiert. Sohn des bekannten KPD-Führers Max Maddalena; zum Vater vgl. Weber, Hermann: Die Wandlung des deutschen Kommunismus, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1969, S. 212. 24 KPD, arbeitete zeitweise beim Moskauer Rundfunk, wurde am 19.9.1941 in Moskau verhaftet. 25 1902 SPD, ab 1921 Abnahmebeamter für Werkzeugmaschinen in der Russischen Handelsvertretung in Berlin, März 1932 Kommandierung durch die Handelsvertretung nach Moskau, wurde am 11.9.1941 verhaftet. Vgl. Weber, „Weiße Flecken", a.a.O. (Anm. 11), S. 103. 26 Geb. am 3.6.1910 in Przymuszala, Arbeiterin, 1930 KPD in Hartmannsdorf, kam im Jan. 1931 in die Sowjetunion, Mitarbeiterin im Kominternapparat, wurde am 10.9.1941 in Moskau verhaftet, nach der Lagerhaft nach Kasachstan verbannt, kehrte Anfang 1959 aus der UdSSR zurück. 27 Kam 1934 in die Sowjetunion. Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 179. 28 KPD, Emigration in die UdSSR, ab September 1937 Einsatz in Spanien, lebte Ende 1940 in Noworossisk, wurde im Juni 1941 verhaftet. 29 Geb. am 7.8.1903, Metallarbeiterin, 1927 KPD, wurde am 12.9.1941 in Moskau verhaftet, kehrte 1956 aus der UdSSR zurück, arbeitete als Putzfrau im ZK der SED. 30 Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 192f. 31 Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 196.

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Schmidt 3 2 , Schröder 3 3 , Schwarzmüller, Franz-Xaver (Franz Huber) 3 4 , Otto Seiferheld 3 5 , Jankel Szapira 3 6 , Ruth Thiersfelder 3 7 , Hermann T s c h ä g e 3 8 , U r b a n 3 9 , Anna W a g s c h a l 4 0 , Else Weber ( D i e t r o w ) 4 1 , Erich W u n d e r s e e 4 2 , Albert Zwicker (Klein) 4 3 . Aus der Sicht des Volkskommissariats für Inneres stellte diese Personengruppe offenbar ein unberechenbares Sicherheitsrisiko dar. Einige von ihnen waren bereits in den Jahren 1937/38 in den Fängen des N K W D g e w e s e n . 4 4 Bei einer Gruppe von Frauen mag bei der Verhaftung von Bedeutung g e w e s e n sein, daß sie als Ehepartner von in der zweiten Hälfte der 30er Jahre verurteilten "Volksfeinden" stigmatisiert w a r e n . 4 5 Nur von Georg Lukacs ist bekannt, daß er nach kurzfristiger Haft die Freiheit wiedererlangte. 4 6 Bis Mai 1945 erfolgten mindestens acht weitere Festnahmen durch den sowjetischen Sicherheitsdienst. 4 7 Der ehemalige Redakteur kommunistischer Zeitungen und Sekretär der kommunistischen Reichstagsfraktion, Julius Klepper, wurde am 23. Februar 1 9 4 2 verhaftet. 4 8 Über z w e i Jahre befand er sich ohne Gerichtsentscheidung in Haft. A m 25. Mai 1944 verurteilte ihn eine Sonderberatung, nach Kleppers Interpretation als ehemaligen Bürger eines Staates, welcher sich mit der Sowjetunion in Kriegszustand befand, zu 5 Jahren Zwangsarbeit. Bei Gerhard Margies, M a x Hahn und Alfred Kassler handelt es sich um par32 Geb. am 5.6.1902 in Berlin, KPD, kam im Mai 1931 in die UdSSR, wurde am 12.9.1941 in Moskau verhaftet, verstarb am 8.2.1942 in Frunse. 33 Arbeiterin, parteilos, wurde Ende Juni 1941 in Moskau verhaftet. 34 Chauffeur, 1926 KPD, kam im Okt. 1933 in die Sowjetunion, besuchte bis 1935 die Leninschule, am 11.9.1941 in Moskau verhaftet, verstarb am 5.6.1942 oder 1943 im Gefängnis von Tschistopol. Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 102. 35 Geb. am 21.1.1904 in Naumburg, kaufmännischer Angestellter, 1923-1930 KPD, ab 1922 Mitarbeiter der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin, kam 1930 in die Sowjetunion, Aug. 1930 KPdSU(B), wurde am 19.9.1941 verhaftet, 1942 verstorben. 36 Geb. in der Westukraine, KPD, nach 1933 inhaftiert, kam im Juli 1933 in die UdSSR, wurde am 30.6.1941 in Moskau verhaftet. 37 Parteilos, kam aus Berlin in die Sowjetunion, wurde am 23.6.1941 verhaftet, lebte 1955 in der Nähe von Krasnojarsk. 38 KPD, arbeitete bei der Moskauer Flußschiffahrtsgesellschaft, wurde am 23.6.1941 verhaftet. 39 Parteilos, Lehrer an einem Institut in Moskau, wurde am 26.6.1941 verhaftet. 40 Geb. am 28.11.1902 in Stanislau, parteilos, wurde am 8.7.1941 verhaftet. 41 Parteilos, wurde am 25.6.1941 verhaftet. Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 250. 42 1920 VKPD, bis 1936 in einer Kl-Schule in Potlipki in der Nähe von Moskau, arbeitete vor seiner Verhaftung am 23.6.1941 als Mechaniker im Kreis Kaluga, Febr. 1942 im Gefängnis in Barnaul zu 8 Jahren Zwangsarbeit verurteilt. Vgl. Weber, „Weiße Flecken", a.a.O., S. 132. 43 Geb. am 25.9.1922 in Stuttgart, kam mit seiner Mutter im Febr. 1933 in die Sowjetunion, Okt. 1938 bis Apr. 1940 Elektromonteurlehre, wurde am 12.9.1941 in Moskau verhaftet. 44 Z.B. Erich Dollwetzel, Max Maddalena, Magnus Satzger und Theodor Kollmeier. Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O. 45 Z.B. Erika Gerschinski, Rosa Klutschkowski und Hildegard-Charlotte Schmidt. 46 Vgl. Zinner, Hedda: Selbstbefragung, Berlin 1989, S. 130, 132. 47 In der Dokumentation "In den Fängen des NKWD" werden irrtümlich 20 Verhaftungen für 1942 angegeben. Diese Angaben aus einer Zusammenstellung der KPD-Führung von Anfang 1942 beziehen sich auf das Jahr 1941. Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 354. 48 SAPMO-BArch ZPA, NL 287/1; Die Dokumentation "In den Fängen des NKWD" enthält fehlerhafte Angaben zur Verhaftung von J. Klepper. Vgl. Weber, Wandlung, a.a.O. (Anm. 23), S. 127.

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teilose Jugendliche, die sich unmittelbar nach dem 22. Juni 1941 zur Verteidigung der Sowjetunion freiwillig an die Front gemeldet hatten. G. Margies 49 wurde nicht angenommen. Seine Verhaftung erfolgte 1942. M. Hahn 50 und A. Kassler 51 dienten bis zu ihrer Demobilisierung in der Roten Armee. Beide arrestierte das NKWD Anfang 1943. 5 2 Antonie Satzger, die bereits ab Dezember 1942 zur Arbeit in einem Werk in Kasan zwangsmobilisiert war, verhaftete der Staatssicherheitsdienst der Tatarischen Sowjetrepublik am 31. Januar 1944. Nach über fünf Monaten Untersuchungshaft wurde sie von einer Sonderberatung zu 8 Jahren Zwangsarbeit verurteilt.53 Die Brüder Hermann 54 und Max Bading 55 kehrten im Oktober 1944 aus Teheran zurück, wo sie im Auftrag des militärischen Geheimdienstes der Roten Armee gewirkt hatten. Nachdem sie von ihren Auftraggebern nach Moskau zurückbeordert worden waren, erlitten sie das gleiche Schicksal wie später ihre bekannteren Berufskollegen Sandor Rado 5 6 und Leopold Trepper. 57 Am 5. Dezember 1944 wurden beide verhaftet und zu mehrjähriger Lagerhaft verurteilt.58 Von den acht nach 1942 erfolgten Verhaftungen läßt allein der Fall "Dröll" einen konkreten Bezug zu KPD-Parteistrafverfahren und internen Auseinandersetzungen im Apparat der Komintern vermuten. 59 Einschneidende, teilweise die physische Existenz beeinflussende Auswirkungen hatte die militärische Auseinandersetzung zwischen Deutschland und der Sowjetunion auf das Schicksal derjenigen deutschen Emigranten, die bereits in der zweiten Hälfte der 30er Jahre vom NKWD verhaftet und in die GULags eingeliefert worden waren. 60 Mit dem schnellen Vormarsch der Wehrmacht 1941/42 mußten 27 Zwangsarbeitslager und 210 -kolonien mit einer 49 Geb. am 21.9.1921 in Tilsit, Sohn des bekannten Altkommunisten Rudolf Margies und seiner Frau Greta, kam im Feb. 1934 von Lettland mit seiner Mutter in die UdSSR, trug dort den Decknamen Stenzel, 1938-1940 Schlosserlehre. Vgl. Weber, „Weiße Flecken", a.a.O., S. 102. 50 Geb. am 8.7.1920, Sohn des bekannten Kommunisten Sepp Hahn (vgl. Weber, Wandlung, 2, a.a.O., Anm. 23, S. 148f.), kam im März 1932 mit seiner Mutter in die UdSSR, trug dort den Decknamen Becker, 1936-1938 Schlosserlehre, 1938-1941 Angestellter im ZK der MOPR, bis Okt. 1941 beim Stab der Westfront für besondere Verwendung, wegen Krankheit demobilisiert, in Tomsk verhaftet, befand sich im März 1948 in Kasachstan. 51 Sohn des Parteifunktionärs Georg Kassler (vgl. Weber, Wandlung, 2, a.a.O., S. 176f.), kam 1934 über Prag nach Moskau, arbeitete dort als Werkzeugschlosser, im Febr. 1943 verhaftet. Vgl.: In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 108. 52 Das Schicksal von Margies, Hahn und Kassler unmittelbar nach der Verhaftung konnte nicht nachvollzogen werden. Offenbar wurden sie in die Arbeitsarmee zwangsrekrutiert. 53 SAPMO-BArch ZPA, 2/11/v. 5108, Bl. 79; vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 195f. 54 Parteilos, zu 5 Jahren verurteilt, Sept. 1947 Entlassung aus dem Lager, kehrte am 1.11.1956 aus der UdSSR zurück, ab 1.1.1957 SED. 55 Geb. am 9.12.1897, Autoschlosser, 1921 KPD, wohnte bis Ende 1955 in Nowosibirsk, kehrte 1956 aus der UdSSR zurück. 56 Siehe Rado, Sandor: Deckname Dora, Stuttgart 1971. 57 Siehe Trepper, Leopold: Die Wahrheit. Autobiographie, München 1975. 58 SAPMO-Barch ZPA, IV 2/11/v. 4788. 59 Hierzu siehe konkret die Darstellung im Abschnitt "Verdammung und Repressalien durch innerparteiliche Inquisition". 60 Zu Beginn des Krieges gegen die UdSSR befanden sich in deren Zwangsarbeitslager und -kolonien 2,3 Millionen Menschen. Vgl. Kokurin, A.I.: GULAG v gody vojny. Doklad natschalnika GULAGa NKVD SSSR W. G. Nasedkina. Avgust 1944, in: Istoritscheskij Archiv 3/1994, S. 64.

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Gesamtbelegung von 750.000 Personen im europäischen Teil der UdSSR evakuiert werden. 61 Mit der Begründung, die Häftlinge dem Zugriff der deutschen Truppen entziehen zu wollen, fanden in diesem Zusammenhang auch Massenexekutionen statt. 62 So wurden am 11. September 1941 wegen angeblicher defätistischer Agitation und Vorbereitung eines Ausbruchs 157 Strafgefangene des Gefängnisses Orlow in einem Wald in der Nähe der Stadt erschossen. Unter den Opfern befanden sich neben ehemaligen Sowjetfunktionären und Vertretern der russischen revolutionären Bewegung, wie dem Bulgaren Christian Rakowski und der Sozialrevolutionärin Maria Spiridonowa, mehrere Personen mit deutschen Namen. Aus dieser Gruppe konnten Erich Birkenhauer63, August Creutzburg64, Fritz Eichenwald (Schmitz, Josef) 65 , Josef Erdmann66, Franz Faustmann67, Wilhelm Ferner68, Friedrich Lidtke 69 , Edit Maack 70 Fritz Nöther 71 , Rika Ortmann72, Julius Trosin 73 und Gustav Zippereck 74 als Politemigranten aus Deutschland identifiziert werden. Sie alle waren in der Sonderfahndungsliste "UdSSR Band I" der Gestapo erfaßt. 75 Nach Kriegsbeginn wurden in den Zwangsarbeitslagern die Haftbedingungen für Gefangene deutscher Nationalität verschärft.76 Oft waren sie seitens der Lageradministration den verschiedensten Drangsalierungen und Schikanen ausgesetzt. Deutsche Emigranten, die wegen vermeintlicher "Konterrevolutionärer Verbrechen" verurteilt worden waren und deren Strafzeit während des Krieges ablief, kamen auf Grund einer Direktive des Volkskommissars 61 Vgl. Ebenda. 62 Vgl. B. Jakovlev pri ycastii A. Burcov: Koncentracionnye Lageri SSSR, München 1955, S. 36; Rossi, Jak: Sprawotschnik po GULAGy. W dwuch tschastjach, Tschast 1: Isdanie wtoroe dopolnennoe, Tekst proweren Natalej Gorbanewskoj, Moskwa 1991, S. 213; Pinkus, Benjamin/Fleischhauer, Ingeborg: Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert. Bearb. und hrsg. von Karl-Heinz Ruffmann, Baden Baden 1987, S. 332. 63 Vgl. Weber, „Weiße Flecken", a.a.O. (Anm. 11), S. 78. 64 Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 50; Weber, „Weiße Flecken", S. 82. 65 Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 64. 66 Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 66. 67 Geb. am 25.2.1909 in Spital, Bergmann, lebte vor seiner Verhaftung in Prokopjewsk. 68 Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O., S. 69. 69 Geb. am 20. März 1896 in Danzig, Schiffsheizer. 70 Geb. am 28.3.1897 in Leipzig, lebte vor ihrer Verhaftung in Leningrad. 71 Jüdischer Herkunft, Professor für Mathematik an der Technischen Hochschule in Breslau, Sept. 1933 Entlassung aus dem Staatsdienst, Emigration in die Sowjetunion, lebte u.a. in Tomsk, 1938 Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit, im Dez. 1939 wurde eine Übernahme durch deutsche Stellen abgelehnt. Vgl. Weber, „Weiße Flecken", a.a.O., S. 105. 72 Geb. 1886, 1937 verhaftet. 73 Geb. 15.1.1896 in Stettin, Seemann, nach seiner Verhaftung in Moskau in die "Lubjanka" eingeliefert. 74 Geb. am 15.7.1902 in Groß-Kolpacken, Schuhmacher, lebte vor seiner Verhaftung in Moskau. 75 Vgl.: Röder, Werner: Sonderfahndungsliste UdSSR, Erlangen 1977. 76 Helmut Damerius wurde z.B. mit der Begründung "Deutsche dürfen nur schwere Waldarbeit leisten" aus einer "Kulturbrigade" entfernt; vgl. Damerius, Helmut: Unter falscher Anschuldigung. 18 Jahre in Taiga und Steppe, Berlin/Weimar 1990, S. 192. Gustav Herling berichtet in seinen Erinnerungen, daß ein deutscher Techniker, Kommunist, am 23.6.1941 aus dem Lagerlazarett geworfen und mit anderen Deutschen, die man ihrer Stellungen in der Verwaltung enthoben hatte, in ein Straflager geschickt wurde; vgl. Herling, Gustav: Welt ohne Erbarmen, Köln 1953, S. 113; zu dieser Thematik siehe auch: Ginsburg, Jewgenia: Gratwanderung, München 1984, S. 50f.

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für Innere Angelegenheiten und des Staatsanwaltes der Sowjetunion vom 22. Juni 1941 nicht zur Entlassung. Im April 1942 kam es zu einer Verschärfung dieser Bestimmung. Ab diesem Zeitpunkt betraf sie prinzipiell alle inhaftierten Angehörigen von Nationalitäten, die sich mit der UdSSR im Kriegszustand befanden. 77 Die betreffenden Personen wurden aus sicherheitspolitischen Erwägungen ohne juristische Entscheidung in den Lagern zurückbehalten oder mit fadenscheinigen Begründungen, oft wegen antisowjetischer Agitation, erneut zu langjähriger Zwangsarbeit verurteilt. 78 Am 28. Juli 1941 beschloß der Oberste Sowjet der UdSSR die Auflösung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik (ASSR) der Wolgadeutschen und die Zwangsumsiedlung der deutschen Bevölkerung nach Mittelasien und Sibirien. Analoge Befehle des NKWD betrafen in der Folgezeit alle Gebiete des europäischen Teils der Sowjetunion.7^ Mit den Rußlanddeutschen wurden dabei auch die deutschen Emigranten, die keine Mitarbeiter der KI oder wichtiger staatlicher Dienststellen waren, "verschickt". Die Weisung zur "Säuberung" Moskaus und des Moskauer Gebietes von der deutschen Bevölkerung erfolgte am 8. September 1941. Schätzungsweise wurden aus der sowjetischen Hauptstadt 150 bis 200 deutsche Politemigranten und ihre Familienmitglieder nach Kasachstan deportiert. 80 Nach der Verschickung waren die Deutschen von weiteren Zwangsmaßnahmen betroffen, die praktisch die Aufhebung ihrer Bürgerrechte bedeuteten. 81 Am Bestimmungsort unterstanden sie der Sonderaufsicht durch die Organe des Innenministeriums. Ihnen wurde untersagt, das ihnen zugewiesene Gebiet zu verlassen, und sie mußten sich zweimal monatlich bei der Miliz melden. 82 Viele deutsche Emigranten überlebten das ungewohnte Klima und die harten Lebensbedingungen im asiatischen Teil der UdSSR nicht. Stellvertretend für diesen Personenkreis soll hier der Maler Heinrich Vogeler genannt werden, der am 14. Juni 1942 in Kasachstan umkam. 83 77 Insgesamt betraf diese Maßnahme 17.000 Personen. Die Beschränkungen für die Entlassungen wurden durch einen gemeinsamen Befehl des Ministeriums für innere Angelegenheiten, des Ministeriums für Staatssicherheit und des Generalstaatsanwaltes der UdSSSR am 24.6.1946 aufgehoben. Vgl. Kokurin , a.a.O. (Anm. 60), S. 78. Siehe auch Rossi, a.a.O. (Anm. 62), S. 137. 78 Z.B. Josef Berger, Helmut Damerius, Berta Daniel, Alwin Dietz, Anna Christina Kjossewa. Biographische Angaben In den Fängen des NKWD, a.a.O. Vgl. auch Herling, a.a.O. (Anm. 76), S. 184f., 256f. 79 Vgl. Josif Stalin-Lawrentiju Berii: "Ich nado deportirowatch". Dokumenty, Fakty, Kommentarii. Moskwa 1992; zur Deportation und Verbannung der Rußlanddeutschen sowie zu ihrer Mobilisierung in die Arbeitsarmee siehe Pinkus/Fleischhauer, a.a.O. (Anm. 62), S. 303ff. 80 Ende Juni 1941 lebten in Moskau und im Umkreis der sowjetischen Hauptstadt 373 Mitglieder der KPD und 20 deutsche Emigranten, die der KPdSU(B) angehörten. Über die Zahl der parteilosen deutschen Emigranten in Moskau gibt es keine Angaben. Zur Zwangsevakuierung aus Moskau siehe Ohne Scham. Lebensbericht der Nelly Held. Erfragt und hrsg. von Marianne Krumrey, Berlin 1990, S. 142f.; Leonhard, Wolfgang: Die Revolution entläßt ihre Kinder, Leipzig 1990, S. 144ff. 81 In diesem Zusammenhang muß berücksichtigt werden, daß während des Krieges auch die sowieso schon schmale rechtliche Basis für alle Sowjetbürger durch Sonderbefehle und Ausnahmegesetze noch weiter eingeengt wurde. 82 Diese Beschränkungen wurden erst am 13.12.1955 durch einen Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR aufgehoben. Vgl.: Schippan, Michael/Striegnitz, Sonja: Wolgadeutsche. Geschichte und Gegenwart, Berlin 1992, S. 189. 83 Angeblich setzte sich W. Pieck dafür ein, Vogeler aus einem Deportationszug wieder herauszubekommen. Vgl. Ohne Scham, a.a.O. (Anm. 80), S. 143f.

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Eine unbekannte Zahl von Opfern forderte der Dienst in der sogenannten Arbeitsarmee (Trudowaja Armija). 84 Einen entsprechenden Befehl zur Mobilisierung von Personen deutscher Nationalität, der auch weibliche Emigranten betraf, erließ das Staatliche Verteidigungskomitee der UdSSR am 10. Januar 1942. 85 Die verschiedenen Baubataillone gehörten zwar formal zur Armee, wurden jedoch vom NKWD organisiert und kontrolliert.8^ Die Arbeits- und Lebensbedingungen auf den verschiedenen Bauobjekten der Metallurgie, Eisenbahn und in den Bergwerken ähnelten dem des GULag-Systems. Bis Ende 1941 wurden bis auf wenige Ausnahmen auch jene deutschen Emigranten, die ihre reguläre Zeit in der Roten Armee abdienten oder sich freiwillig an die Front gemeldet hatten, von der kämpfenden Truppe zurückgezogen und mehrheitlich in die Arbeitsarmee überführt. Teilweise waren die Betroffenen bis 1946/47 den Bedingungen der "Trudarmija" unterworfen. 87 In den vom Autor eingesehenen Quellen gibt es nur spärliche Hinweise darauf, wie die Parteiführung der KPD auf Verhaftungen deutscher Emigranten nach dem 22. Juni 1941 reagiert hat. 88 Durch die sich überstürzenden Ereignisse nach dem Überfall auf die Sowjetunion, durch die Deportation und Evakuierung blieb ihr die eigentliche Größenordnung der Festnahmen unbekannt. Darüber hinaus hielt sie es offenbar nicht für geraten, mit einem eventuellen Engagement für Personen, die unter Bedingungen des Krieges als Sowjetfeinde, Agenten und Spione verurteilt worden waren, zusätzliches Mißtrauen sowjetischer Dienststellen hervorzurufen. 89 Nur in wenigen Ausnahmen setzte sich die Parteiführung bei Georgi Dimitroff und beim Kaderchef der KI, Georgi Parvanov Damjanov, für einzelne Betroffene ein. Am 3. März 1943 vereinbarte das Gremium, an Dimitroff mit der Bitte heranzutreten, das KPD-Mitglied ungarischer Nationalität Sandor Ek aus dem Arbeitslager zu entlassen. 90 Auf einer Sitzung am 20. Februar 1943 beschlossen Wilhelm Pieck, Wilhelm Florin, Walter Ulbricht und Anton Ackermann in der Angelegenheit "Max Hahn", den "Leiter der Kaderabteilung zu ersuchen, bei den Sowjetorganen Informationen einzuziehen, was der Anlaß 84 Neben Deutschen betraf die Rekrutierung in die Arbeitsarmee auch Finnen und Rumänen. Bis 1944 wurden 400.000 Personen "mobilisiert". Vgl. Kokurin, a.a.O. (Anm. 60), S. 71. 85 Nach diesem Befehl konnten sowjetdeutsche Frauen und Männer im Alter von 17 bis 50 Jahren zur Arbeitsarmee eingezogen werden. Vgl. Schippan/Striegnitz, a.a.O. (Anm. 82), S. 187. Die Rekrutierung der entsprechenden Personen nahmen die örtlichen Militärkommandanturen vor. Vgl. Staatliches Archiv der Russischen Föderation (GARF), 9401/12/127, Bl. 78. 86 Der Befehl des NKWD mit dem Titel "Über die Organisierung von Abteilungen aus mobilisierten Deutschen bei den Lagern des NKWD" stammt vom 12.1.1942. 87 Bisher konnte der Autor die Namen von 32 deutschen Emigranten ermitteln, die für die Arbeitsarmee mobilisiert worden waren. 88 Wie das Bngagement für Roberta Gropper und Max Stölzel zeigt, trat die KPD-Führung im behandelten Zeitraum auch für die juristische Rehabilitierung von Personen ein, die bereits während der "kleinen Tauwetterperiode" 1939/40 aus den Haftanstalten des NKWD enlassen worden waren. Vgl. SAPMO-BArch ZPA,NL 36/517, Bl. 25. 89 Darüber hinaus wurde auch, wie im Fall von Erika Jenz und Gertrud Morgner, deren Männer in der zweiten Hälfte der 30er Jahre oder 1941 verhaftet worden waren, die Wiederaufnahme in die KPD bzw. die Aktivierung der ruhenden Parteimitgliedschaft abgelehnt. Vgl. ebenda, 16/10/71, Bl. 102/103. 90 Ebenda, 3/1/313, Bl. 82. Über eine Verhaftung von Sandor Ek liegen dem Autor keine Informationen vor. Ek befand sich wahrscheinlich in einem Lager der Arbeitsarmee.

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zur Verhaftung war". 91 Am 14. März 1944 fragte Pieck in einem Gespräch Damjanov, ob dieser sich nicht beim NKWD über das Schicksal von Max Hahn und Alfred Kassler erkundigen und sich für eine eventuelle Rückkehr von Julius Klepper nach Moskau einsetzen könnte. 92 Letzterer schilderte Pieck in mehreren Briefen seine Situation in einem Lager bei Kasan. Am 5. Mai 1944 schrieb er, daß im Vergleich zu der Festungshaft in Deutschland, zu der er wegen der Verteidigung der "Interessen der Arbeiterklasse und des Kommunismus" verurteilt worden war, das Ertragen des Arrests "im Zusammenhang mit den komplizierten Kriegsbedingungen" und die "sowjetische Isolierung" als Unschuldiger "wirklichen Heroismus" erfordert. 93 Die "Sache Klepper" sprach Pieck nochmals am 9. August 1944 in einer Beratung mit Dimitroff an. 94 Aber auch dieser Vorstoß hatte für Klepper keine Verbesserung seiner Situation zur Folge. Nachdem Anfang 1942 der Aufenthaltsort vieler Evakuierter und Deportierter festgestellt worden war, setzte sich Pieck bei Dimitroff für die Verbesserung der sozialen Lage der Betroffenen ein und betrieb die Rückkehr einzelner Kader nach Moskau. Die Führung der KPD versuchte auch, das Schicksal der in die "Arbeitsarmee" Mobilisierten zu erleichtern. Sie äußerte gegenüber der Kl-Spitze ihr Unverständnis darüber, daß deutsche Parteimitglieder und Jugendliche bei der Arbeit "mit den sowjetfeindlichen Elementen gleichgestellt werden" 95 , und schlug vor, all diejenigen, "gegen die nichts vorliegt", durch das NKWD in andere Kommandos überführen zu lassen. Mit Hinweis auf den Kadermangel im propagandistischen Bereich oder auf wichtige Schulungsmaßnahmen konnte über Dimitroff die Demobilisierung einzelner Betroffener erreicht werden. 96

Verdammung und Repressalien durch innerparteiliche Inquisition Die eingangs geschilderte spezifische Situation der deutschen Emigranten nach dem Überfall Deutschlands auf die UdSSR äußerte sich auch im Verhalten der Mitarbeiter und Funktionäre im Apparat der Komintern gegenüber ihren deutschen Kollegen und wirkte sich sichtbar auf Aktivitäten und Entscheidungen der KPD-Gruppe aus. Durch den angeblichen Verrat des ZK-Mitglieds Herbert Wehner Anfang 1942 in Schweden 97 und die anhaltenden Mißerfolge bei der Organisierung einer massenhaften und wirkungsvollen antifaschistischen Widerstands- und Friedensbewegung bei gleichzeitigem erfolgreichen Vormarsch der deutschen Truppen im Sommer 1942 in Richtung Wolga und Kaukasus standen die deutschen Politemigranten in der UdSSR unter großem moralischem Druck. Ihre Äußerungen und Handlungen wurden von den sowjetischen und KI-Funktionären besonders kritisch bewertet und ausgelegt. In dieser Situation führten Vorwürfe und An-

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Ebenda, 16/10/71, Bl. 88 Ebenda, NL 36/499, Bl. 96/97. Ebenda, NL 287/1, Bl. 120. Ebenda, NL 36/545, Bl. 39. Ebenda, 3/1/313, Bl. 71. Z.B. Heinz Abraham, Stefan Doernberg, Otto Fischer, Arthur Hofmann, Hans Klering. Auf Beschluß des EKKI vom 11.6.1942 wurden die anderen Kl-Parteien über den Vorfall um Wehner informiert. Vgl. Ebenda, I 6/10/50, Bl. 36; vgl. auch Müller, Reinhard: Die Akte Wehner. Moskau 1937 bis 1941, Berlin 1993.

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schuldigungen erneut zu ungerechtfertigten Straf- und Disziplinierungsmaßnahmen gegen deutsche Kommunisten. Im Nachlaß von Pieck wird u.a. der "Fall Hedeler" dokumentiert. Aus den Überlieferungen geht hervor, daß der Mitarbeiter des Deutschen Volkssenders (DVS) Walter Hedeler 98 der Verbreitung feindlicher Gerüchte und Äußerungen bezichtigt wurde. Was war wirklich geschehen? Die Frau Hedelers, eine sowjetische Ärztin, erzählte ihrem Mann über die Erlebnisse von Kindern, die nach der Schlacht von Moskau aus befreiten Gebieten zur Betreuung ins Hinterland gebracht werden konnten. Die Schilderungen entsprachen in vielen Fällen nicht dem von der sowjetischen Propaganda verbreiteten Klischee vom barbarischen Mörder und Vergewaltiger in deutscher Uniform. Über das Gehörte sprach Hedeler in der Redaktion des DVS mit Karl Dröll und mit Fritz Apelt." Beide Kollegen sahen sich nicht veranlaßt, wegen der Äußerungen von W. Hedeler irgendwelche Maßnahmen bei entsprechenden Parteiinstanzen vorzunehmen. Erst die Berichterstattung der Österreicherin Ruth Fischer über die "profaschistischen Gespräche" bei sowjetischen und KI-Funktionären zwang die KPDFührung, eine Untersuchung der Angelegenheit einzuleiten. Nach zwei Sitzungen beschloß das ZK nach "sehr ernsthafter Prüfung" 100 , daß das Verhalten von W. Hedeler "unvereinbar ist mit dem weiteren Verbleib in der KPD und daß er dementsprechend auch aus der Arbeit im Kominternapparat entfernt werden muß". 101 Daß die KPD-Spitze in dieser Entscheidung nicht frei von Zwängen war, belegt das Eintreten Piecks für Hedeler. In einem Schreiben vom 17. Oktober 1942 wies er Dimitroff daraufhin, "daß Hedeler nicht in schlechter Absicht solche Gerüchte weiterverbreitet hat", und bat ihn, kraft seiner Funktion "den Ausschlußbeschluß in irgendeiner Form abzuändern". 102 Dies war allerdings nicht mehr möglich, da der "Fall Hedeler" von einigen Kominternfunktionären zum Anlaß genommen wurde, über das Verhalten und die Arbeit der KPD-Emigranten und ihrer Führung eine prinzipielle politische Auseinandersetzung zu führen. Massive Anschuldigungen brachten auf drei Versammlungen der Parteiorganisation der Presseabteilung 103 insbesondere Ernst Fischer, Boris Ponomarjow und Ja. Mirow vor. Die KPD-Mitglieder wurden erneut 104 mit dem Vorwurf kon98 Geb. am 17.11.1911, KJVD 1929, KPD 1930, ab 1933 illegale Arbeit in Stuttgart, 1935-37 Leninschule, bis Mitte 1939 Redakteur an der DVZ, danach Mitarbeiter in der Informationsabteilung des EKKI, Okt. 1941 Evakuierung nach Ufa, ab Jan. 1942 Sprecher und Redakteur am DVS, im Okt. 1942 Ausschluß aus der KPD, wurde nach seiner Rückkehr aus der UdSSR durch die ZPKK am 9. Nov. 1955 politisch rehabilitiert, verstarb am 11.5.1994. 99 Dröll war Drogist, Lehrer, Freiwilliger im I. Weltkrieg, 1930 Mitglied der Unterbezirksleitung "Zentrum" der KPD in Berlin, ab Sept. 1941 Sprecher und Redakteur am DVS, Okt. 1941 Evakuierung nach Ufa, am 31.10.1942 Ausschluß aus der KPD, vom NKWD 1943 inhaftiert, lebte nach seiner Ausreise aus der UdSSR 1955 in Berlin, Mitarbeiter im Archiv der Hochschule "Fritz Heckert" des FDGB in Bernau. Vgl. In den Fängen des NKWD, a.a.O.; zu Apelt vgl. Weber, Wandlung, a.a.O. (Anm. 23), S. 62. 100 SAPMO-BArch ZPA, NL 36/539, Bl. 78. 101 Ebenda. 102 Ebenda. Auch ein Brief Hedelers Anfang 1943 an Stalin führte nicht zur Wiederherstellung seiner "Parteiehre". Vgl. Ebenda, NL 36/516, Bl. 20. 103 Diese Parteiveranstaltungen fanden am 27., 28. und 29. Okt. 1942 statt. 104 Diese Anschuldigung wurde bereits in Diskussionen über Sinn und Zweck der Arbeit unter den Kriegsgefangenen und über die Bombardierung deutscher Städte durch angloamerikanische Bomber laut. Vgl. Erler, Peter/Laude, Horst/Wilke, Manfred: "Nach Hitler kommen wir". Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Berlin 1994, S. 42,113f.

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frontiert, daß sie in erster Linie als Deutsche dachten und fühlten und als Kommunisten den Faschismus nicht genügend haßten und nicht konsequent "mit dem Kampf des Sowjetvolkes gegen die fasch. Okkupanten" 105 verbunden waren. Ein weiterer Kritikpunkt betraf die "Überheblichkeit und Abgeschlossenheit der deutschen Genossen gegenüber den Genossen der Bruderparteien". 106 Die Führung der KPD wertete die nach dieser emotional aufgeladenen Diskussion einstimmig beschlossene Resolution devot als "eine wertvolle Hilfe zur Überwindung der im Zusammenhang mit dem Fall Hedeler zutage getretenen Mängel und Fehler der Parteileitung" 107 und "begrüßte" die Vorschläge einer KI-Kommission, die "Maßnahmen für die Arbeit unter den deutschen Genossen" 108 festlegen sollte. Unter diesem Druck sah sich das ZK nun auch dazu veranlaßt, weitere Parteistrafen zu verhängen. "Weil er der verbrecherischen Verbreitung von profaschistischen Gerüchten durch Hedeler nicht" entgegentrat 109 , wurde Dröll am 31. Oktober 1942 aus der KPD ausgeschlossen. Mit der gleichen Begründung erhielt Apelt "wegen mangelnder Parteiwachsamkeit eine strenge Rüge, mit ernster Verwarnung". 110 Ende Dezember 1942 beschäftigte sich das EKKI nochmals mit dem Vorfall im DVS und mit den Angelegenheiten um Wehner. In einem von einer speziellen Kommission erarbeiteten Beschluß vom 15. Dezember 1942 kritisierte die KI-Führung die Haltung "der führenden deutschen Genossen" und verpflichtete sie zum Kampf "gegen die Erscheinungen einer politischen und moralischen Zersetzung 111 innerhalb der Parteiemigration in der SU und in anderen Ländern". 112 Daß die KPD-Führung gewillt war, diesen Auflagen nachzukommen, zeigen eine Reihe von weiteren Parteistrafverfahren und -Untersuchungen. Bei Paul Jäkel führte die Tatsache, daß er vertrauliche Korrespondenzen verloren hatte, noch zu einer relativ harmlosen Maßregelung. Ihm wurde am 19. Dezember 1942 eine Rüge ausgesprochen. 113 Folgenlos blieb 105 106 107 108

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SAPMO-BArch ZPA, NL 36/497, Bl. 92. Ebenda, Bl. 92,99f. Ebenda, 3/1/313, Bl. 74. Ebenda, NL 36/517, Bl. 39; 3/1/313, Bl. 74. U.a. empfahl die Kommission, die im März 1942 abgebrochene Praxis der monatlichen Zusammenkünfte der KPD-Mitglieder wieder aufzunehmen. Der erste "Informationsabend" für die deutschen KI-Mitarbeiter fand am 18.11. und der für die KPD-Mitglieder aus anderen Bereichen am 19.11.1942 statt. Einziges Thema dieser Veranstaltungen waren die Angelegenheiten "Funk" und "Hedeler". Vgl. ebenda, NL 36/497, Bl. 91f. Ebenda, 3/1/313, Bl. 74. Ebenda, Bl. 74. Gleichzeitig sollte Apelt nur noch für eine Übergangszeit im DVS arbeiten. Am 20.2. 1943 schätzte die Parteiführung der KPD allerdings ein, daß sich Apelt in der Arbeit bewährt und aus der Kritik gelernt hätte. Sie beschloß die Kaderabteilung des EKKI zu ersuchen, die Entscheidung hinsichtlich des DVS aufzuheben; ebenda, I 6/10/71, Bl. 87. In Folge ihres Parteiausschlusses verloren Dröll und Hedeler ihre Arbeit im DVS. Damit verbunden war der Verlust der Brotkarte und der Lebensmittelzuteilung. Da sie als Deutsche nicht mehr unter dem Schutz der KI standen, mußten beide Anfang 1943 Ufa verlassen; ebenda, NL 36/516, Bl. 20. Die bedrückende Situation in den Evakuierungs- und Deportationsorten und die erfolgreiche Sommeroffensive der deutschen Truppen führten teilweise zu resignativen Haltungen und riefen unterschiedliche Diskussionen unter den deutschen Emigranten hervor. Johannes R. Becher unternahm Mitte 1942 einen Selbstmordversuch. Mit ähnlichen Gedanken trug sich auch Theodor Plivier. Ebenda, NL 36/542, Bl. 70. Vgl. ebenda, 3/1/313, Bl. 78; zu Jäkel vgl. Weber, Wandlung, a.a.O. (Anm. 23), S. 170.

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offensichtlich auch die auf Veranlassung der Kaderabteilung des EKKI von Florin und Ulbricht im Februar 1943 praktizierte Untersuchung über das Verhalten von Martha Arendsee während ihrer Haft im Berliner Frauengefängnis von April bis Ende September 1933. 114 Bei Edmund Benthin führten dagegen kritische Äußerungen über die Realitäten in der UdSSR, die als "antisowjetische und parteifeindliche Gespräche" gewertet wurden, am 3. März 1943 zum Ausschluß aus der KPD. 1 1 5 Ein im doppelten Wortsinn lächerlicher Anlaß zog bei Nelly Held und Erwin Kramer, beide Mitarbeiter beim Auslandsdienst des Moskauer Rundfunks (Inoradio), strenge Strafen nach sich. In den Erinnerungen von Nelly Held wird der Vorgang folgendermaßen dargestellt: "Ich las das Kommunique von Casablanca 116 . [...] Ich las, wie immer, den ersten Absatz, machte eine ganz kleine Pause, um zu dem zweiten zu kommen, da knallte es, ein Riesenknall mitten in der Stille. Ich stellte sofort das Mikrofon ab, sah einen hochroten Kopf, der gehörte zu Erwin Kramer. Er hatte einen gehen lassen, wir bekamen damals sehr viel Kohlsuppe und Kohl zu essen, also klar. [...] Es war schon eine merkwürdige, verrückte Atmosphäre im Studio nach dem Knall, aber ich behaupte, daß ich tapfer das Kommunique zu Ende gelesen habe. Ich habe öfter an- und abgeschaltet, was ich sonst nicht machte, [...] aber ich habe nicht geräuschvoll gelacht." 117 Durch eine Denunziation von Hanna Wolf, die im "Abhörbüro" des Inoradios arbeitete, wurde "der Pup in den Äther" 118 zu einem "Fall" aufgebauscht. Die Folge davon war, daß N. Held sofort aus dem Sender entlassen wurde. 119 Auf Antrag von Fred Oelsner, dem Parteisekretär der deutschen Gruppe im Inoradio, erteilte ihr die KPD-Führung mit der Begründung, "die Genossin hat beim Verlesen eines Communiques über ein Zusammentreffen Roosevelt-Churchill bei der Stelle, wo von Verhandlungen zwischen Giraud und de Gaulle die Rede ist, vernehmbar ins Mikrophon gelacht", am 8. Mai 1943 "eine scharfe Rüge und Verwarnung". 120 Die Bestrafung von E. Krämer beeinflußte noch ein zusätzlicher Sachverhalt. Er hatte ihm nicht zustehende Lebensmittelkarten für seine beiden Kinder, die sich in einem Kinderheim befanden, bezogen und diese auf dem Markt von Kuibyschew gegen Lebensmittel eingetauscht. Dieser Umstand und sein Verhalten während der erwähnten Sendung dienten zur Begründung für seine Entlassung aus dem Inoradio und für seinen Rauswurf aus der Gewerkschaft. Daraufhin schloß ihn die Leitung der KPD am 8. Mai 1943 aus der Partei aus. 121 114 Ebenda, 16/10/71, Bl. 87; 16/10/93, Bl. 26. 115 Vgl. ebenda, Bl. 82. Mit dem gleichen Vorwurf wurde bereits am 2.10.1942 die Schauspielerin Ida Bastineller aus der KPD ausgeschlossen. Vgl. ebenda, Bl. 71. 116 Auf der Konferenz von Casablanca (14.-26.1.1943) wurde von den USA und Großbritannien die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation Deutschlands als gemeinsames Kriegsziel beschlossen. 117 Ohne Scham, a.a.O. (Anm. 80), S. 155f. 118 Ebenda, S. 154. 119 Durch die Fürsprache von sowjetischen Kommunisten wurde Held bald wieder im Inoradio eingestellt. 120 SAPMO-BArch ZPA, 16/10/71, Bl. 102. 121 Ebenda. Mit dem Hinweis, daß er Spanienkämpfer war, sollte allerdings die MOPR ersucht werden, ihn bei der Arbeitssuche in einem Betrieb zu unterstützen. Die Bestrafung bei geringfügigen Anlässen hatte im Inoradio offensichtlich Tradition. Für einen Zwischenfall bei der Verlesung einer Rede Molotows Ende der 30er Jahre wurde Maxim Vallentin schuldlos eine strenge Parteirüge erteilt und Lotte Löbinger fristlos aus der Redaktion entlassen. Vgl. Hay, Julius: Geboren 1900. Erinnerungen, Hamburg 1971, S. 222.

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Für ein ähnlich geringfügiges Vorkommnis wie im Inoradio mußte sich im September 1943 Lea Große im Deutschen Volkssender verantworten. Auch sie wurde - auf Veranlassung des für die im Institut 205 vereinten nationalen Sender verantwortlichen tschechischen Kommunisten Bedrich Geminder - aus der Arbeit entlassen. Diese schwerwiegende Entscheidung konnte sie nicht verkraften. Sie erlitt einen Nervenzusammenbrach und mußte für längere Zeit in ein Krankenhaus eingeliefert werden. 122 Die Aktivitäten der Parteigerichtsbarkeit erfaßte auch einige deutsche Teilnehmer des zweiten Lehrgangs der Kominternschule in Kuschnarenkowo. 123 Zu dem Kursus waren von der Parteiführung hauptsächlich Jugendliche delegiert worden, die noch keine KPD-Mitglieder waren. Auf Grund dieser Tatsache schrieb Paul Wandel, Leiter des deutschen Sektors der Schule, am 8. Oktober 1942 an Pieck, daß für diesen Lehrgang "vor allem die Parteierziehungsarbeit als wichtigste Arbeit steht". 124 Strenge Verhaltensregeln und Verbote sollten bei den Schulungsteilnehmem wichtige Eigenschaften für den Widerstandskampf, wie Selbstdisziplin, konspirative Verschwiegenheit und Wachsamkeit (eigentlich Mißtrauen), ausprägen. Für dieses Erziehungsziel wurde vom Lehrkörper neben der stalinistischen Methode der Kritik und Selbstkritik auch die exemplarische Bestrafung von Verstößen gegen das Schulregime und von angeblich schwerwiegenden politischen Vergehen angewandt. 125 Victor Leist, Mitglied der KPD seit 1932, erfahren in militärischen Einsätzen, widersetzte sich der strengen Disziplin an der Schule. An dem schlecht gefühlten Militärunterricht wollte er nicht teilnehmen. 126 Nachdem er wegen unerwiderter Liebe einen Selbstmord fingiert hatte, mußte er Kuschnarenkowo verlassen. Von der Parteileitung in Moskau erhielt er am 20. Februar 1943 eine strenge Rüge. Gleichzeitig ersuchte sie allerdings die Kaderabteilung des EKKI, "Leist zu helfen, Arbeit in einem Betrieb bei Ufa zu bekommen". Exemplarisch für stalinistische Parteistrafverfahren und deren Ausnutzung für die "Erziehung" junger Kader steht der Ausschluß Willi Radenslebens von der Kominternschule durch die Kaderabteilung des EKKI. Den Anlaß für das inquisitorische Parteiverfahren und dessen Ablauf schilderte Wolfgang Leonhard eindrucksvoll in seinen Erinnerungen. 127 In einem Se122 Vgl. ebenda, NL 35/499, Bl. 123ff. In ihren in der DDR erschienenen Erinnerungen erwähnt Lea Große ihre Entlassung und den darauf folgenden Krankenhausaufenthalt nicht. Vgl. Große, Lea: Eine Inventur, Berlin 1982, S. 214f. 123 Aus dem ersten Kurs der Schule in Kuschnarenkowo wurde wegen "Verletzung der Konspiration" Ende 1941 Richard Staimer entfernt. Da "er seine Fehler und Schwächen" anerkannte, sah die Parteiführung der KPD bei der Untersuchung seiner Angelegenheit am 9.2.1942 von einer Parteistrafe ab. Am 8. 5.1943 beschloß das gleiche Gremium, ihn wieder zur politischen Arbeit heranzuziehen; ebenda, I 6/10/ 71, Bl. 102; NL 36/517, Bl. 43; NL 36/544, Bl. 4. Mit der gleichen Begründung wie bei Staimer mußte 1941 auch Robert Biehl die Kominternschule verlassen. Er wurde Anfang 1942 aus der KPD ausgeschlossen und im März desselben Jahres zur Arbeitsarmee eingezogen; vgl. ebenda, NL 36/517, Bl. 43; IV 2/4/455. 124 Ebenda, NL 36/529, Bl. 8b RS. 125 Neben den im folgenden Abschnitt erwähnten Personen mußten auch Reinhold Greiner ("p.[olitisch] schwach entwickelt") und Hans Schwarz ("Schwächling") den zweiten Lehrgang der Kominternschule in Kuschnarenkowo verlassen; vgl. ebenda, NL 36/517, Bl. 43. 126 Ebenda, NL 36/529, Bl. 17ff. 127 Leonhard, Revolution, a.a.O. (Anm. 80); zur Biographie von Willi Radensieben siehe Sassning, Ronald: Verdammung und Verbannung. Der Ausschluß des Genossen Willi - Ein Nachtrag zum Schicksal eines deutschen Kommunisten im sowjetischen Exil, in: Neues Deutschland v. 27./28.2.1993.

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minar, in dem über das Verhalten während eines möglichen Einsatzes in Wehrmachtsuniform gesprochen wurde, meinte Radensieben nach einer zielgerichteten Frage von Paul Wandel, daß man sich im Interesse des illegalen Auftrages auch dem Befehl, Zivilisten zu erschießen, nicht verweigern dürfe. Diese Äußerungen bewerteten die deutschen und ausländischen Kursteilnehmer unter Druck der Schulleitung als "Beihilfe zum Faschismus" und "Propagierung der Passivität im Kampf gegen Hitler". 128 Nachdem Wandel die Führungsgruppe der KPD in Moskau über diesen Zwischenfall informiert hatte, schloß diese Radensieben mit der Begründung, daß er "völlig zersetzt" sei und einen "faschistischen Standpunkt" vertrete, als "Parteifeind" aus der KPD aus. '29 Auf der Grundlage des hier offengelegten Quellenmaterials lassen sich folgende typische Grundzüge des stalinistischen Terrors und der Repressalien gegen deutsche Politemigranten in der UdSSR im Zeitraum 1941 bis 1945 belegen: Außer den allgemein wirkenden stalinistischen Repressionsmechanismen wurden viele staatliche und politische Zwangsmaßnahmen, die auch Emigranten aus Deutschland erfaßten, von der militärischen Auseinandersetzung zwischen Deutschland und der Sowjetunion geprägt oder von der Ausnahmesituation des Krieges beeinflußt. Ein Großteil der staatlichen Nötigung und der Repression (Deportation und Dienst in der Arbeitsarmee) waren gegenüber der betreffenden Person nicht in der vermeintlichen politischen Gegnerschaft begründet, sondern ist der Tatsache zuzuschreiben, daß die deutschen Emigranten aus einem Staat kamen, der gegen die Sowjetunion einen Vernichtungsfeldzug führte.

128 Leonhard, Revolution, a.a.O., S. 273. 129 SAPMO-BArch ZPA, I 6/10/71, Bl. 92.

Forum

Werner Müller (Rostock)

Die Gründung der SED - Alte Kontroversen und neue Positionen um die Zwangsvereinigung 1946 Zwangsvereinigung, die Besatzungsmächte und die Demokratie Der Streit um den Begriff "Zwangsvereinigung" ist so alt wie die SED selbst. So weit sichtbar, prägte ihn einer der unmittelbar Beteiligten: Gustav Dahrendorf. Er war nach Kriegsende zunächst ein glühender Verfechter einer Einheitspartei, wurde jedoch schnell anderen Sinnes und legte auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen im Februar 1946 seine Funktionen in der Berliner SPD-Führung nieder.1 Die fünfzigste Wiederkehr des Gründungsdatums der SED hat die kontroversen Bewertungen dieses folgenschweren Einschnitts in die deutsche Nachkriegs-Parteienlandschafit wieder einmal deudich gemacht, wenn auch mit veränderten Konstellationen. So ging Rolf Badstübner hart mit der SED-Historiographie ins Gericht: "Geht es doch um die radikale Überwindung einseitiger Positionen und auch direkt falscher Sichtweisen; denn offensichtlich sind im Hinblick auf diesen Vorgang von der SED-Führung Leitbilder und Sichtweisen vorgegeben und auch direkt in die geschichtswissenschaftliche Arbeit hineingetragen worden, die nicht der Realität entsprachen..."2 Kein geringerer als Wolfgang Leonhard relativierte dagegen das "Zwangsvereinigungs"-Verdikt, indem er den Kompromiß-Charakter der Einheitspartei unmittelbar nach ihrer Gründung hervorhob, aber Druck, Zwang und Gewalt nicht in Abrede stellte.3 Die alte Position der SED - eines freiwilligen Zusammenschlusses- wird im wissenschaftlichen Bereich kaum noch vertreten, wohl aber aus journalistischer Sicht: Friedrich-Wilhelm Schlomann4 lehnt den Begriff "Zwangs-

1 Vgl.: Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Landesorganisation Hamburg: Die Zwangsvereinigung der Kommunistischen und Sozialdemokratischen Partei in der russischen Zone, Als Manuskript gedruckt, o.O. o.J.; mit geringen Textveränderungen wiederabgedruckt in Dahrendorf, Gustav: Der Mensch, das Maß aller Dinge, Hrsg. von Ralf Dahrendorf, Hamburg 1955. 2 Badstübner, Rolf: Gründung der SED. Zur Selbstzerstörung einer Legende, in: Utopie kreativ, Nr. 65, März 1996, S. 17. 3 Ostsee-Zeitung, Rostock, 30.11.1995. 4 Der Journalist Schlomann ist selbst Zeitzeuge. Vgl. Schlomann, Friedrich-Wilhelm: Mit soviel Hoffnung fingen wir an 1945-1950, München 1991. Schlomanns Erinnerungen (er lebte damals in Mecklenburg) enthalten jedoch zu der hier behandelten Problematik keine eigenen Berichte.

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Vereinigung" ab - weil er um den Nachweis bemüht ist, der überwiegende Teil der Sozialdemokratie habe der SED aus freien Stücken zugestimmt.5 Günter Benser attestierte für die Historische Kommission der PDS dem Modell "Einheitspartei" sogar überregionale und phasenübergreifende Gültigkeit: "Das politische Projekt einer Einheitspartei der Arbeiterklasse und des gesamten werktätigen Volkes war keine ostdeutsche Einmaligkeit und keine bloße Drapierung eines Führungs- und Machtanspruchs der KPD." Aber "Zwänge" und "Druck", "Androhungen von Gewaltmaßnahmen", auch "Inhaftierungen und Aburteilungen durch Militärgerichte" werden ebenfalls eingeräumt. Für Benser und die PDS stand "1945/46 eine Entscheidung über die Einheit oder Spaltung der Arbeiterbewegung auf der Tagesordnung", hingegen wird die letzte Entscheidungs-Instanz den vier Alliierten zugewiesen: "Bei einer das politische Kräfteverhältnis so nachhaltig verändernden Frage wie Einheit oder Spaltung der Arbeiterbewegung war und ist Neutralität der Besatzungsmächte undenkbar." 6 In der Tat sind hier eine Reihe von Momenten benannt, die im Zusammenhang mit der Frage nach einer "Zwangs"-Vereinigung7 zu neuen Aufschlüssen führen könnten. Leonhard wie Benser streiten Einflußnahmen auf die beteiligten Sozialdemokraten bis hin zu Gewaltakten nicht ab. Die Frage läge nahe, in welchem Ausmaß und in welchen Formen Zwang, Druck und Gewalt historisch vorzufinden sein müssen, um von einer "Zwangsvereinigung" zu sprechen. Das würde die Beurteilung dieses historischen Prozesses letztlich auf die semantische Ebene verlagern - und dieses Problem in einem vermutlich fruchtlosen Streit um Worte enden lassen. Ob aber die "Einheit der Arbeiterklasse" 1945/46 "auf der Tagesordnung" stand, kann nur unter einem ganz anderen Blickwinkel von entscheidender Bedeutung sein: wenn die beteiligten Parteien und Gruppen sie in einem demokratischen Prozeß oder als Resultat eines Konsenses als solche ansehen. Mithin ist also die Frage der Demokratie das Schlüsselproblem. Vordergründig betrachtet, bekannten sich alle vier Besatzungsmächte zur Demokratie, ebenso alle politischen Kräfte, zumindestens die von den Besatzungsmächten zugelassenen Parteirichtungen im Nachkriegsdeutschland. Im Unterschied zu den Jahren nach 1918 schien nach dem Ende der Nazi-Diktatur offenkundig jede Art der Diktatur von Grund auf diskreditiert, auch die "Diktatur des Proletariats". Diesem allgemeinen Sog zum "Prinzip Demokratie" konnte sich auch die Sowjetunion 8 und in ihrer Folge auch die KPD nicht verschließen. Demokratische Grundsätze wurden offenkundig überall als ausschließliche Basis eines politischen Neubeginns nach 1945 angesehen. 5

"Einheitsdrang oder Zwangsvereinigung?" Vor 50 Jahren wurde die SED gegründet. DW Dokumentation, Deutsche Welle, Köln, Hauptabt. Monitor, Herausgeber Günter Ingo Bill, März 1996 - Schlomann stützt sich vorwiegend auf Erinnerungen. Es spricht für sich, daß er keine Archivalien heranzieht. Selbst die bislang umfangreichste Dokumentation von Andreas Malycha wird nur gelegentlich zitiert. S. Malycha, Andreas: Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ. Eine Quellenedition, Bonn 1995. 6 Neues Deutschland, Berlin, 18.12.1995. 7 Zu den Grundzügen der Entwicklung vgl. Müller, Werner: Die Gründung der SED. Zwangsvereinigung, Demokratieprinzip und gesamtdeutscher Anspruch, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 16-17/96, 14.4.1996, S. 12-21. 8 Verwiesen sei hier nur auf die zweimalige Zustimmung der Sowjetunion zu den Grundsätzen der "Atlantik-Charta".

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Neben dem zentralen Problem der Demokratie verdient Bensers Hinweis auf die Rolle der Besatzungsmächte Aufmerksamkeit. Die oberste Gewalt lag selbstverständlich bei ihnen; ob daraus a priori bereits ein Demokratie-Defizit ableitbar ist, wie Benser das tut, ist indes anzweifelbar.

Die KPD - Demokratieverständnis und Parteiaufbau Die Strategie der KPD zielte auf Hegemonie: politisch, ideologisch und organisatorisch. Das bildete den Inhalt ihres Verständnisses von "antifaschistischer Demokratie". Nachdrücklich und wiederholt bekannte sich die KPD-Führung vom Moment ihres legalen Auftretens in Deutschland an zur Demokratie. Vielzitiert sind die Sätze aus ihrem Gründungsaufruf vom 11. Juni 1945: sie propagierte "den Weg der Aufrichtung eines antifaschistischen, demokratischen Regimes einer parlamentarisch-demokratischen Republik mit allen demokratischen Rechten und Freiheiten für das Volk". 9 Hingegen war die Distanzierung vom "Sowjetsystem" nur ein temporäres Phänomen, "denn dieser Weg entspricht nicht den gegenwärtigen Entwicklungsbedingungen für Deutschland". Das Bekenntnis zur parlamentarischen Demokratie galt hier also klar nicht dem Prinzip, sondern nur für ein historisches Stadium. In der letzten Phase des Krieges, seit dem Frühjahr des Jahres 1944 hatte die KPD-Führung im Moskauer Exil bereits programmatische und konzeptionelle Planungen für ihr Wirken im Nachkriegsdeutschland betreiben können. Die KPD strebte danach ungeschminkt eine "führende Rolle" an; der Aufbau der Partei "von oben nach unten" besaß große Priorität. Wilhelm Pieck formulierte diesen Anspruch bereits im Oktober 1944: Alle Weimarer Parteien und politischen Richtungen wurden verurteilt; lediglich die KPD wurde als "die einzige wahrhaft nationale Volkspartei" von diesem Verdikt ausgenommen, "auf Grund ihrer von Anfang an konsequent durchgeführten antiimperialistischen, antimilitaristischen Friedenspolitik und der Freundschaft mit der SU". 10 Das bedeutete in aller Deutlichkeit eine Rehabilitierung der gesamten Parteipolitik - einschließlich des "ultralinken" Kurses vor 1935. Die Konzeption der KPD-Führung ging von der Erwartung der "Einschränkung der freien politischen Betätigung" im Nachkriegsdeutschland aus: "vorläufig keine Wahlen, kein Parlament, keine Regierung." Daher sah sie ihre dringendste Aufgabe in der "Eroberung der Massen": "Im Vordergrunde wird dabei stehen die Einigung des deutschen Volkes für den gemeinsamen Kampf für eine wahrhaft kämpferische Demokratie, die Garantien schafft gegen den Parteienstreit und für die breiteste Anteilnahme des werktätigen Volkes an allen Maßnahmen des Staates, der Wirtschaft und der Innen- und Außenpolitik."11 Für einen Parteienwettbewerb war hier kein Platz, statt dessen sah sie feste Bindungen der Parteien vor, selbstverständlich auf dem Boden der KPD-Bündniskonzeption: "So muß und wird die KPD in den Volksmassen als die große einigende nationale Kraft wirken und durch ihren Einfluß die anderen Parteien zwingen, entweder in diesem Block mitzuwirken oder sich den Volksmassen entgegenzustellen und sich damit von ihnen zu isolieren. [...] Natürlich gilt 9 Erstmals veröffentlicht in: Deutsche Volkszeitung, Berlin, 13.6.1945. 10 "Nach Hitler kommen wir!" Dokumente zur Programmatik der Moskauer KPD-Führung 1944/45 für Nachkriegsdeutschland, Hrsg. von Peter Erler, Horst Laude und Manfred Wilke, Berlin 1994, S. 274. 11 Ebenda, S. 272.

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das ganz besonders gegenüber der SPD." Aus der so skizzierten tragenden Rolle der KPD ergab "sich die dringende Notwendigkeit, so schnell wie möglich die Partei zu schaffen und sie in ihrem Aufbau, ihrer Kadererziehung, ihrer Massenagitation und operativen Arbeit unter den Massen zur Erfüllung dieser Aufgabe zu befähigen und sie zur Führerin dieser Massenbewegung für die demokratische, antiimperialistische Umwälzung in Deutschland zu machen. Für diese Gestaltung der KPD ist uns die Partei Lenins-Stalins die einzige und beste Lehrmeisterin", fügte Wilhelm Pieck an. Die bolschewistischen Organisationsprinzipien, ein Wahrheits- und Organisationsmonopol, die Absicherung der eigenen Partei vor Einwirkungen von außen und der Wille zum "Hineinregieren" in die anderen Parteien, vor allem die SPD, und ein umfassender Führungsanspruch bestimmten die Konzeption der KPD-Führung 1944/45. Vom Demokratie-Verständnis der übrigen Parteien war man damit weit entfernt. Es bestand lediglich in der Freiheit, dem KPD-Programm zuzustimmen und an seiner Realisierung mitzuwirken. Pluralismus, Parteienwettbewerb und die Chance des Wechsels von Mehrheit zu Minderheit fehlten. Ein Kooperationsangebot der KPD für eine unkündbare Zusammenarbeit in einem "Block" der Parteien und darüberhinaus einer "Aktionseinheit" mit den Sozialdemokraten sollte diese korporative Struktur mit einer KPD als aktivem Kern sichern: es schloß Mehrheits- und Koalitionsbildungen ohne oder gegen die KPD aus. Hermann Matern, enger Vertrauter Walter Ulbrichts, sprach das vor sächsischen Funktionären offen aus: "Für den Zustand, den wir haben, tragen wir nicht die Verantwortung. Wenn das Volk uns gefolgt wäre, dann wäre das alles nicht. Aber es soll jetzt begreifen, daß es uns folgen muß, sonst wird es noch s c h l i m m e r " . 1 2 Er schloß seine Rede mit der Formel, "wir wollen das ganze Volk zur wirklichen Demokratie führen!" Ein knappes halbes Jahr später illustrierte das ZK-Mitglied Matern am Beispiel der sächsischen Landesverwaltung, wie sich der demokratische Prozeß auf die Zustimmung zur KPD reduzierte: "Um demokratische Methoden in der Verwaltung anzuwenden, haben wir seit längerer Zeit die Einrichtung, daß der Block der 4 antifaschistisch-demokratischen Parteien jede Woche einmal mit dem Präsidium der Landesverwaltung alle Fragen der Verwaltung durchspricht, berät und entscheidet, d.h. der Block hat nicht etwa ein Entscheidungsrecht, aber wir nehmen gemeinsam zu den Fragen Stellung und haben bisher alle Maßnahmen einstimmig gebilligt, angefangen von der Bodenreform bis zu allen anderen Verordnungen." 13 Neben diesem Demokratie-Verständnis wies die Parteikonzeption der KPD eine Sonderrolle zu. Pieck formulierte im Oktober 1944 "als oberstes Gesetz für die Partei, das unter keinen Umständen verletzt werden darf: Es müssen Garantien dafür geschaffen, daß die Partei in ihrem ganzen Wesen, ihrer Organisation, ihrer Politik den ehernen revolutionären Grundsätzen entspricht, die von Lenin u. Stalin für eine kommunistische Partei aufgestellt und die in der KPdSU(B) verwirklicht wurden". 14 Diese KPD sollte zwar zu "einer breiten Massenpartei des werktätigen Volkes werden", zu einer Volkspartei "im wahrsten Sinne des Wor-

12 Der Weg unserer Partei. Rede des Gen. Hermann Matern vor Funktionären der KPD am 1. Juli 1945, o.O. o.J., S. 28. 13 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO BArch), I 2/2/17, 88. 14 Erler/Laude/Wilke, a.a.O., S. 279.

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tes" (so ihr "Kaderchef' Franz Dahlem)^, aber selbstverständlich eine "Klassenpartei" bleiben, aufgebaut nach den Prinzipien des "demokratischen Zentralismus". Der Führungs- und Gestaltungsanspruch des ZK wurde nicht infrage gestellt, die beanspruchten "Massen" sollten nach und nach mit der Lehre des Marxismus-Leninismus vertraut gemacht werden. Es blieb also eine hierarchische Partei mit einer internen Erziehungsdiktatur. "Der neu aufzubauende Parteiapparat arbeitete unter Besatzungsrecht, was Fragen nach innerparteilicher Demokratie von vornherein verbot. Gerade dieser Arbeitsstil der Weisungen von oben entsprach Ulbrichts Naturell in idealer Weise. Ein Zusammenschluß von Kommunisten und Sozialdemokraten aber stellte vieles davon wieder zur Disposition", betont und entschuldigt eine neue Biographie Ubrichts Bemühungen um den Wideraufbau der stalinistischen Strukturen. 16 Sichtbar wurde das auch an dem umworbenen Personenkreis: die "Sammlungspartei" war an einem Punkte nicht offen: die früheren "Abweichler" der Jahre vor 1933 durften vorerst nicht wieder aufgenommen werden 17 , dagegen solche "Antifaschisten", die "sich noch bewähren" - die also ihre Umorientierung noch zu belegen hatten. Daß zugleich die Sicherung der "Einheit und Reinheit" der Partei als vordringliches Problem angesehen wurde, liegt auf der Hand. Eine "gewöhnliche sozialdemokratische Partei westeuropäischen Typus" durfte die KPD genausowenig werden wie auf ihren Positionen ("Sektierertum") von vor 1933 beharren. Sie mußte also von Gründung an auf den Kurs des ZK eingeschworen werden. "Es gibt Kommunisten, die der Meinung sind, daß der Aufruf des ZK für alle anderen geschrieben ist, nur nicht für die Mitglieder der KPD", beklagte sich für viele der Magdeburger Parteisekretär Ernst Brandt im Juli 1945. 18 "Instrukteure" hatten in den Bezirken möglichst schnell die Politik des ZK durchzusetzen: im Juni 1945 waren für die Bezirksleitungen Berlin 5, für Sachsen 8 und für Thüringen immerhin noch drei vorgesehen. 19 Dem neuen Selbstverständnis des ZK als staatstragender Partei entsprechend, wurde auch der Organisationsaufbau dem der öffentlichen Verwaltung angepaßt. Schon zur Wiedergründung, im Juni 1945, waren die Chancen für die Parteien in der sowjetischen Besatzungszone bereits ungleich verteilt. Das zeigt auch die Praxis der "führenden Rolle" der KPD, über Demokratie- und Parteikonzeption hinaus, eine große Zahl von Funktionären sammeln und für ihren Einsatz in Deutschland vorbereiten zu können. Dies nicht nur unter emigrierten Kommunisten, sondern vor allem auch unter deutschen Kriegsgefangenen, die mit sowjetischer Hilfe nach deren Interessen "geschult" und in den Folgejahren in der Regel ein großes und zugleich loyales Personal-Reservoir darstellten. Mit der Tätigkeit der drei "Initiativgruppen" des ZK der KPD, der "Gruppen Ulbricht" 20 , "Sobottka" und "Ackermann" waren die führenden Kommunisten gegenüber allen anderen Parteivertretern vor und zu Kriegsende besonders privilegiert. Niemand sonst besaß vergleichbare Ar15 Deutsche Volkszeitung, Berlin, 27.7.1945 - Das sei, so Pieck im Oktober 1944, die Weimarer KPD im Grunde bereits gewesen! 16 Podewin, Norbert: Walter Ulbricht. Eine neue Biographie, Berlin 1995, S. 188 f. 17 SAPMO BArch, NL 36/631, 62-63. 18 SAPMO BArch, NL 182/855, 33-35. 19 SAPMO BArch, NL 36/661, 38. 20 Vgl. die umfassende Dokumentation: "Gruppe Ulbricht" in Berlin. April bis Juni 1945. Von den Vorbereitungen im Sommer 1944 bis zur Wiedergründung der KPD im Juni 1945. Eine Dokumentation. Hrsg. und eingeleitet von Gerhard Keiderling, Berlin 1993.

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beitsmöglichkeiten im Exil und die Chance, im Prozeß der militärischen Besetzung eine Vielzahl von Positionen zu besetzen. Keine Exilgruppe verfügte über ein nur annähernd gleich großes Funktionärs-Potential. Diese personalpolitische Überlegenheit und die genutzte Chance, Schlüsselpositionen in Verwaltung und Wirtschaft zu besetzen, verschaffte der KPD einen Vorteil, der nie egalisiert, geschweige denn, eingeholt werden konnte - er wurde 1946 lediglich durch die Bildung der SED völlig verdeckt. Die KPD trat als aktive Wiederaufbau- und Staatspartei auf, welche die "führende Rolle" nicht einforderte, sondern nach eigenem Anspruch realisierte. Matern formulierte das vor sächsischen KPD-Funktionären: "Jetzt tun wir alles, um die Führer des Volkes zu sein, ohne es zu sagen: Durch unsere Politik, durch unsere Arbeit und durch unseren Kampf." 21 Klagen der Sozialdemokratie, aber auch der beiden anderen Parteien, über die Bevorzugung von Kommunisten und ihrer Vertrauensleute, gehörten in den folgenden Monaten zum politischen Alltag. Matern räumte das implizit im Januar 1946 ein, indem er umgekehrt den Sozialdemokraten vorwarf, sich in der Umbruchphase passiv verhalten zu haben. "Allerdings sitzen in einer Anzahl führender Positionen Kommunisten. Warum? Weil sie im Mai aktiv waren, und gerade die Leute, die am meisten schreien, daß sie nicht genügend berücksichtigt seien, haben ja bis in den Oktober/November hinein eine Politik gemacht, daß sie sich von öffentlichen Funktionen zurückgezogen haben, daß sie keine Ämter übernommen haben, um die Kommunisten abwirtschaften zu lassen." 22 Diese Partei ging von der Erwartung aus, aus eigener Kraft die bedeutendste Organisation im Nachkriegsdeutschland zu werden, dabei die umworbenen "Bündnispartner" fest an sich binden zu können, und deren Aktionsradius, vor allem den der Sozialdemokratie, bestimmen zu können. Zugleich konnten Auf- und Umbau der KPD nach Maximen des ZK, vor allem der rigide Zentralismus gesichert werden. Eine vereinigte Partei hätte dieses komplexe Programm nur gestört. Die Einheitspartei konnte zu diesem Zeitpunkt also weder aus machtpolitischen Erwägungen noch im Interesse des innerparteilichen Regiments im Interesse des ZK liegen.

Zwischen Tradition und Reform: Der Neuaufbau der SPD Die KPD-Führung beanspruchte, "aus der Geschichte gelernt" und den Kurs der Partei seit 1935 gewandelt zu haben. Ihre Politik 1944/45 zeigte indes, daß sie letztlich die alten Parteitraditionen faktisch rehabilitierte, einen Machtwillen ohne demokratische Spielregeln an den Tag legte und die stalinistischen Parteistrukturen reaktivierte. Die Sozialdemokratie im sowjetischen Besatzungsgebiet bot in der Griindungsphase in großen Zügen das genau konträre Bild: sie verurteilte die als falsch empfundene Politik der Partei vor 1933 - und setzte in der Tat die zögerliche, auf Legalität bedachte und auf dem Bewußtsein einer Minderheitensituation beruhende Politik fort. Selbstverständlich war sie dem sozialistischen Endziel verpflichtet, zugleich stand die parlamentarische Demokratie nicht und nirgends zur Disposition. Im Gegenteil: mit dem Bekenntnis der Kommunisten zur Demokratie schienen die Grunddifferenzen beseitigt. Noch im August formulierte Otto Grotewohl das in aller Deutlichkeit: 21 Der Weg unserer Partei, a.a.O., S. 30. 22 SAPMO BArch, 12/2/17, 86 (Rede auf der ersten "Reichskonferenz" der KPD am 879.1.1946).

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er sah damit die Gegensätze zwischen SPD und KPD entfallen, das "Kriegsbeil" begraben, das "seit der Weimarer Republik offen auf der Straße lag". 23 Zudem darf nicht übersehen werden, daß sich der Neuaufbau der Sozialdemokratie aus regionalen Zentren heraus vollzog. Die früheren Bezirksorganisationen wurden geradezu zum "Motor" des Neuaufbaus. Das gilt auch für das personelle Reservoir der SPD. Es dominierten Funktionäre, die das Ende der Weimarer Republik als Politiker auf Landes- oder Bezirksebene erlebt hatten. Lediglich Carl Litke im Berliner Zentralausschuß der SPD hatte vor 1933 dem Parteivorstand angehört. Die Sozialdemokratie besaß, anders als die KPD, somit keine schon im Exil geschaffenenen Voraussetzungen für längerfristige programmatische und strategische Arbeiten. Von einer zielgerichteten Personalplanung oder gar "Schulung" konnte keine Rede sein. Eine Remigration führender Sozialdemokraten in die sowjetische Besatzungszone gab es nur in geringer Zahl. Die sich wieder formierende Sozialdemokratie war also personell und konzeptionell auf Improvisation und zufällig vorhandene Ressourcen angewiesen. Aus diesem Regionalismus folgten auch - in beschränktem Maße - unterschiedliche Konzeptionen. Die bedeutsamste davon geht auf Hermann Brill in Thüringen zurück: er verfocht (mit anfänglich beachtlicher Resonanz) den Aufbau eines "Bundes demokratischer Sozialisten" mit stark basisdemokratischer Ausrichtung jenseits der "alten" Parteien SPD und KPD. 24 Eine sozialdemokratische Gründergruppe in Berlin erwog die Bildung einer deutschen Labour Party. Ansonsten dominierte in den traditionellen Zentren der SPD unumstritten das Konzept des Wiederaufbaus der Sozialdemokratie, allenfalls stand das Ausmaß ihrer Erneuerung zur Debatte. Das galt insbesondere für die meisten Großstädte des sowjetischen Besatzungsgebietes wie Rostock, Magdeburg, Dessau, Halle, Chemnitz oder Leipzig. Gerade hier standen sich Sozialdemokraten und Kommunisten lange Zeit ausgesprochen feindlich gegenüber. Es bedurfte Interventionen aus Berlin und Dresden auf sozialdemokratischer und eines Führungswechsels von Fritz Selbmann zu Ernst Lohagen auf kommunistischer Seite, um ein einigermaßen reibungsloses Nebeneinander beider Parteien zu gewährleisten. 25 Für die vielzitierte (und letztlich überzeichnete) Neigung der Sozialdemokratie 1945 zur Bildung einer Einheitspartei gibt es Belegstellen auf unterschiedlichen Ebenen. Teile der sich formierenden Berliner Führung im Zentralausschuß der SPD, voran Gustav Dahrendorf und Otto Grotewohl, griffen das aus Überzeugung auf - Grotewohl honorierte, wie genannt, das Bekenntnis der KPD zur Demokratie. Für Dahrendorf gilt ähnliches: er war aber von Politik und Praxis der KPD rasch desillusioniert und zog schließlich im Februar 1946 die Konsequenzen, legte seine Funktionen nieder und wechselte nach Hamburg. In den früheren Zentren der Sozialdemokratie gab es nur wenige Fälle, wo sich die Wiedergründer für eine einheitliche Arbeiterpartei aussprachen, wie in Dresden und Görlitz. Für Dresden waren Isolation und Orientierungslosigkeit bezeichnend: den Funktionären lag dort nicht einmal der Aufruf des Berliner Zentralausschusses vom 15. Juni 1945 im Wortlaut vor, 23 SAPMO BArch, NL 72/167, 52. 24 Overesch, Manfred: Hermann Brill in Thüringen 1895-1946. Ein Kämpfer gegen Hitler und Ulbricht, Bonn 1992. 25 Im Detail: Bericht über meinen Besuch in Leipzig, in: Archiv der sozialen Demokratie (AdsD), Bonn, NL Gniffke, 32; insges. Müller, Werner: Sozialdemokratie und Einheitspartei. Eine Fallstudie zur Nachkriegsentwicklung in Leipzig; in: Staritz, Dietrich/Weber, Hermann (Hrsg.): Einheitsfront - Einheitspartei. Kommunisten und Sozialdemokraten in Ost- und Westeuropa 1944-1948, Köln 1989, S. 129-166.

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dafür aber der der KPD. 26 Wie an manchen anderen Orten auch, wurde der Wiederaufbau der SPD anfangs "nebenamtlich" betrieben; die meisten Gründer besetzten Positionen in Verwaltungen, Behörden oder im Bildungsbereich. Auch das unterschied die SPD von der KPD: hier ein professioneller, hauptamtlicher Apparat, dort das Überwiegen ehrenamtlicher Tätigkeit. Den Dresdner Sozialdemokraten mußte daher ein ehemaliger Reichstagsabgeordneter wie Otto Buchwitz, der in Dresden über keine besondere Bindungen verfügte, willkommen sein. Daß Buchwitz dank der Gunst der Militärregierung und der KPD-Landesleitung in die SPD-Parteiführung gekommen war und der Politik der KPD und der SMAD verpflichtet war, blieb ihnen zunächst verborgen. 27 Entsprechend problematisch verlief der Parteiaufbau auf dem flachen Lande. Zu kleineren Städten und mehr noch zu Landgemeinden konnten die Sozialdemokraten erst nach und nach Verbindungen aufnehmen - anders als die KPD. 28 Insofern ist nicht verwunderlich, wenn hier aus der Perspektive der Unterlegenheit gegenüber der in der Regel von der SMAD besonders geförderten KPD 2 9 die Neigungen zu einer Einheitspartei eher vorzufinden waren. Das änderte sich jedoch rasch. Als sich vom August 1945 an zeigte, daß nicht die KPD, trotz der besonderen Förderung durch die Besatzungsmacht und trotz der von ihr besetzten Führungsfunktionen 30 , sondern die SPD zur zahlenmäßig stärksten Partei im sowjetischen Besatzungsgebiet zu werden versprach, kehrten sich die Fronten um. Es zeigte sich, daß die "Einheits"-Frage eine Forderung war, die auf beiden Seiten der "Linken" aus der Position der Schwäche heraus erhoben wurde. Otto Grotewohl, der ein besonderes Gespür für Machtverhältnisse und Kräftekonstellationen besaß, rückte schon im August 1945 von seinen Bekenntnissen zur Einheitspartei ab. Als sich die ersten Tendenzen im Mitgliederzustrom verfestigten und sich zeigte, daß die Sozialdemokratie trotz Abwanderungsbewegungen zur KPD nicht zur Minderheitenbewegung oder Randerscheinung auf der parteipolitischen Linken (wie im KPD-Konzept intendiert) zu werden drohte, demonstrierte Grotewohl sowohl Selbstbewußtsein wie sozialdemokratische Eigenständigkeit. Ende August 1945, auf dem ersten "Bezirkstag" der Leipziger SPD, kritisierte er die Bevorzugung der KPD durch die Besatzungsmacht und verwies auf die Überlegenheit der Sozialdemokratie am Beispiel der Betriebsratswahlen in den Leuna-Werken. 31 26 Gründung der SPD im Bundesland Sachsen, AdsD, NL Gniffke, 7/2. 27 Fritz Zimmermann: Otto Buchwitz. Ein Lebensbild, Berlin (Ost) 1984. 28 So für Mecklenburg die Erinnerungen von Albert Schulz, des späteren Oberbürgermeisters von Rostock. Erinnerungen eines Sozialdemokraten, Manuskript, AdsD. 29 Es gab auch Ausnahmen, so in der Provinz Brandenburg, SAPMO BArch, NL 182/853, 141. 30 Zweifellos wirkte sich für die KPD auch negativ aus, daß im Zuge der breiten Mitgliederwerbung eine große Zahl von Karrieristen und Konjunkturrittern in die Partei strömte. Dahlem resümierte nach wenigen Monaten: "Es ist klar, mit dem starken Wachstum der Partei wachsen auch die Gefahren. In der sowjetisch besetzten Zone sind, wie es sich jetzt jeden Tag mehr erweist, am Anfang bei der Neubildung der Parteien damals, als sie sich konstituierten und die Leitung noch über keine Kontrollmöglichkeiten verfügte, eine Menge zweifelhafter und schlechter Elemente in die Partei hineingekommen: Abenteurer, sogar zum Teil Kriminelle, Verbrecher. Das äußert sich jetzt in zahlreichen Klagen aus den verschiedensten Bezirken über die Korruption von Bürgermeistern, zum Teil sogar von Landräten. Es kommen Klagen über Verbürokratisierung, Hochmut, Entartung von Kommunisten in bestimmten Verwaltungen." SAPMO BArch, I 2/2/17, 33. 31 1. Bezirkstag der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands Bezirk Leipzig, AdsD, Ostbüro, 0394, S.lf.

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Parallel zum eigentlichen "Wunder der Organisationen" im Sommer 1945, als die Sozialdemokratie entgegen allen Erwartungen zur stärksten Partei der sowjetischen Zone wurde, verflog die noch vorhandene Neigung zu einer Vereinigung mit den Kommunisten - und eine Kooperation wurde als immer schwieriger angesehen. Wiederum Otto Grotewohl setzte mit seiner Rede am 14. September 1945 in einer Massenversammlung ein deutliches Signal: Er forderte für die SPD die Führungsrolle beim Neuaufbau der deutschen Demokratie und bestand daher auf ihrer Unabhängigkeit. 32 Das war zugleich eine Kampfansage an den Führungsanspruch der KPD wie auch an ein einseitiges Bündnis mit dieser Partei. 33 Dies spiegelte aber eindeutig die Mehrheitsmeinung der sozialdemokratischen Funktionäre wider. Der gleichfalls anwesende KPD-Vorsitzende Wilhelm Pieck reagierte "aufgebracht" (so ZK-Abteilungsleiter Richard Gyptner) 34 , die Rede "war ein Angriff gegen die Kommunisten auf der ganzen Linie". 35 Piecks - offenbar improvisierte - Antwort gipfelte in der Forderung nach einer Verstärkung der Zusammenarbeit und der "Aufforderung, eine einheitliche Partei zu schaffen". In dieser sozialdemokratischen Versammlung leistete Pieck sich einen schwerwiegenden Mißgriff, indem er noch auf die "Notwendigkeit der Anwendung des MarxismusLeninismus" verwies und damit einen Tumult auslöste, der ihn zeitweise am Weitersprechen hinderte. 36 Er hatte damit die Position der KPD ins Gegenteil verkehrt. Mit Piecks Rede war die neue Position seiner Partei zugleich fixiert. Alternativen wurden offenbar nicht erörtert. 37

Die "gewendete" Einheitsfrage Die KPD-Führung traf die Wendung der SPD offenbar unvorbereitet. Ihr Parteiapparat war noch in der Konsolidierungsphase und mit der Bodenreform-Kampagne ausgelastet. Auch die SMAD-Vertreter hatten in Gesprächen mit der KPD dieses Thema noch nicht aufgegriffen. Das geschah erstmals im Dezember und im Januar 1946. 38 Noch Ende September forderte 32 Wolfgang Leonhard verlegt diese Wendung Grotewohls in den November 1945. Mit der Rede anläßlich des Jahrestages der Novemberrevolution habe Grotewohl eine "mittlere Position" zwischen den Westmächten und der Sowjetunion skizzert, zugleich sich für "eine bedeutsame, wirklich unabhängige Rolle der SPD" ausgesprochen. Landtag Mecklenburg-Vorpommern: Leben in der DDR, Leben nach 1989 Aufarbeitung und Versöhnung. Einsetzung im Landtag. Zwischenbericht an Landtag. Anhörung zur Situation der Opfer. Veranstaltung "Eigenstaatlichkeit der DDR in ihrer Herausbildung von 1945-1949 im damaligen Mecklenburg-Vorpommern". Zur Arbeit der Enquete-Kommission, Anträge, Debatten, Berichte, Bd. l , o . O . o.J., S. 183. 33 Die Rede konnte - wenn auch zensiert - noch publiziert werden: Wo stehen wir - Wohin gehen wir? Der historische Auftrag der SPD, Berlin o.J. 34 SAPMO BArch EA 0331, 136. 35 So ein KPD-Beobachter (und Stenograf), SAPMO BArch, NL 72/167, 66. 36 Podewin, Walter Ulbricht, a.a.O., S. 185. 37 Das räumt auch Günter Benser ein: "Es ist damals nicht darüber nachgedacht worden, ob nicht vielleicht auch andere Organisationsformen möglich, vielleicht optimaler gewesen wären, sagen wir eine Bündelung der Kräfte bei organisatorischer Selbständigkeit oder eine pluralistische Natur dieser Einheitspartei". Zum Zusammenschluß KPD-SPD. Interview mit Prof. Günter Benser zur Erklärung zum 50. Jahrestag des Zusammenschlusses von KPD und SPD, in: Disput Nr. 24/1995, S. 2. 38 Badstübner, Rolf/Loth, Wilfried (Hrsg.): Wilhelm Pieck - Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 19451953, Berlin 1994, S. 54 ff.

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ZK-Sekretär Anton Ackermann "eine neue Offensive in der Frage der Einheit zwischen SPD und KPD". 39 Walter Ulbricht stellte zugleich seiner Partei die Aufgabe, die Mitgliederzahl in kurzer Zeit zu verdoppeln. Unübersehbar war die Distanz zwischen beiden Parteien, nicht etwa eine Annäherung. Im Berliner Zentralausschuß wurden Zweifel geäußert, ob sich die kommunistische "Bruderpartei" zur "Demokratie im klassischen Sinne" durchgerungen habe. 40 Inspektionsreisen in die Parteibezirke brachten ein klares Bild. Gustav Dahrendorf bilanzierte im September 1945: "Es fehlen heute weit mehr die Voraussetzungen für eine Vereinigung der Arbeiterparteien als sie im Juni gegeben waren". 41 Erich Gniffke kam Anfang Oktober 1945 nach einer Rundreise durch das sowjetische Besatzungsgebiet zu dem Schluß, "daß die Zusammenarbeit der SPD und KPD-Funktionäre noch viel zu wünschen übrig lässt." 42 Klagen gab es unter anderem aus den Städten Halle, Leipzig, Dresden, Magdeburg, Erfurt und Rostock. Die gemeinsamen Ausschüsse arbeiteten offenbar außerhalb Berlins nur sehr sporadisch: Hermann Brill hielt für Thüringen fest, sie hätten "bis Mitte Oktober eine Art Dornröschenschlaf gehalten. 43 Schon zuvor hatte er in einem Rundschreiben formuliert: "In der letzten Zeit können wir diese "Einheitsfronttaktik" der KPD, die auf eine Zerstörung unserer Partei hinausläuft, genau verfolgen." 44 Sie begann mit Versammlungen von Pieck und Ackermann in Thüringen; es war also kein Alleingang thüringischer Kommunisten. Zwischen dem September und November 1945 erlebte die Sozialdemokratie in der sowjetischen Zone den Zenit ihrer Autonomie, zugleich konnte sie ihre Organisation konsolidieren. Aber das war ein Zustand trügerischer Ruhe: die KPD entfesselte eine Kampagne zur Vereinigung, die im November voll entbrannt war. Die Auseinandersetzungen begannen nicht in Berlin, sondern in den Ländern, so in Thüringen und in Sachsen, namentlich in Leipzig und Chemnitz. 45 Der Kurs auf Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Sozialdemokratie, in dieser Phase maßgeblich von Grotewohl getragen, wurde jedoch schon frühzeitig gefährdet. Der Bruch zwischen der Sozialdemokratie des Westens und der sowjetischen Zone zwischen Oktober und Dezember 1945 lieferte die ostdeutsche SPD dem Zugriff von KPD und SMAD aus, ohne daß sie bei ihren westdeutschen Gesinnungsfreunden Rückhalt finden konnte. Die KPD-Führung bemühte sich verstärkt, Organisationsgrundsätze der Sozialdemokratie zu unterlaufen. Sie versuchte nicht nur, auf die Personalauswahl der SPD Einfluß zu nehmen. 46 39 Dokumente zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland. Reihe 1945/46, Bd. 2: Protokolle der erweiterten Sitzungen des Sekretariats des Zentralkomitees der KPD, Juli 1945 bis Februar 1946. Bearb. v. Günter Benser u. Hans-Joachim Krusch, München u.a. 1994, S. 136. 40 AdsD, NL Gniffke, 2/2. 41 AdsD, NL Gniffke, 4/1. 42 AdsD, NL Gniffke, 11/1. 43 Sitzung des Gesamtvorstandes des Landesverbandes Thüringen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands in Weimar, am Montag, den 26. November 1945, in: AdsD, NL Brill 1, S. 3. 44 Jetzt veröffentlicht in Malycha: Auf dem Weg zur SED, a.a.O., S. 187. 45 Bericht über Chemnitz, AdsD, Büro Schumacher, J 29. 46 Ein drastisches Beispiel stellte eine Notiz an Pieck und Ulbricht vom 7.2.46 dar, mit dem Ziel, den späteren Berliner Oberbürgermeister Dr. Otto Ostrowski "ständig überwachen zu lassen", da er als "einer der fanatischsten Gegner der Sowjetunion und der Kommunisten" angesehen wurde. SAPMO BArch, NL 36/631, 139-140.

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So hatte schon im Gründungsprozeß das ZK-Mitglied Hermann Matern gegen die Rückkehr ihm besonders mißliebiger Funktionäre aus der Weimarer Zeit polemisiert, 47 sie förderte aktiv die Bildung sozialdemokratischer Betriebsgruppen48, die einen Fremdkörper im SPD-Parteiaufbau darstellten. Diese wurden in den folgenden Monaten auf sozialdemokratischer Seite häufig zu aktiven Befürwortern der Vereinigung. Durch ihre enge Kooperation bis hin zu gemeinsamen Mitgliederversammlungen mit ihren kommunistischen Partnern 49 wurden hier schon frühzeitig die Grenzen zwischen beiden Parteien verwischt. 50 Desgleichen drängte die KPD-Führung immer offener auf gemeinsame "Schulungen" für Funktionäre beider Parteien auf allen Ebenen - auch das war eine Domäne der Kommunisten, der die SPD kaum etwas entgegenzusetzen hatte. Allerdings versuchten sozialdemokratische Gliederungen das zu unterlaufen. 51 Den Höhepunkt der Eigenständigkeits-Bemühungen der SPD-Führung stellte Grotewohls Rede vom 11. November 1945 zum Gedenken der Novemberrevolution dar, in der er den "Einheits"-Bestrebungen der KPD erneut eine Absage erteilte. Die Vereinigung, so Grotewohl, könne kein Beschluß von Instanzen, auch "nicht im geringsten, das Ergebnis eines äusseren Drucks oder indirekten Zwanges" sein. 52 Er sah die "Einigung der deutschen Arbeiterbewegung" nur möglich als "Ergebnis des sozialistischen und demokratischen Aufbaus". Gegenüber der nun voll entfalteten Vereinigungs-Kampagne der KPD bemühte sich der Zentralausschuß der SPD, mit einer Strategie der gesamtdeutschen Rücksichtnahme Zeit zu gewinnen. Schon Grotewohl hatte auf "die schnellste Schaffung einheitlicher Reichsparteien" verwiesen. Mit der ersten "Sechziger-Konferenz" am 21. und 22. Dezember 1945 geriet die SPDFührung langsam ins Wanken, wenn sie auch zunächst ihre Vorbehalte noch wahren konnte. Anfänglich konnte Grotewohl noch undemokratische Praktiken der Kommunisten und deren Bevorzugung durch die Militärregierung beklagen, doch nach einer nächtlichen "Beratung" führender Sozialdemokraten mit der SMAD stimmten sie im Grundsatz dem KPD-Anliegen zu. Durch Streichung aus dem KPD-Resolutionsentwurf hatten die SPD-Vertreter drei Vorbehalte gewahrt: Vereinigung nur nach einem gesamtdeutschen Parteitag, nur für alle Zonen und zuvor nur Wahlen nach getrennten Parteilisten. Die drei Punkte markierten letztlich nichts anders als die Absage an die "Einheit" nach KPD-Vorstellungen: unmittelbar und auf paritätischer Grundlage. Wilhelm Pieck räumte nach der Konferenz in einer ZK-Sitzung auch ein, seine Partei habe zumindestens in der Frage gemeinsamer Wahllisten eine Niederlage erlitten. 53 47 Der Weg unserer Partei, a.a.O., S. 29 f. 48 So gab der brandenburgische KPD-Landesleiter Sägebrecht an, in mindestens sechs Kreisen des Landes Brandenburg habe man den sozialdemokratischen "Genossen geholfen, ihrerseits Betriebsgruppen aufzubauen". SAPMO BArch, 12/2/17, 102. 49 Die alte These der SED-Historiographie einer Annäherung von KPD und SPD in der praktischen Arbeit wird heute von Siegfried Kuntsche für Mecklenburg vertreten. Vgl. disput Nr. 4/96, S. 5. Das wird behauptet für den Kreis Malchin - also ebenfalls außerhalb früherer "Hochburgen" der Sozialdemokratie. 50 So zahlreiche Beispiele von "Einheits-Resolutionen" in SAPMO BArch, NL 36/634, 57-70. 51 In Dessau verwiesen SPD-Mitglieder auf eine entsprechende "Weisung" ihres Bezirksvorstandes. SAPMO BArch, NL 36/634, 20-21. 52 Text in AdsD, NL Brill 1. Text mit einer ausführlichen KPD-Kritik in SAPMO BArch, NL 72/167. 53 Dokumente zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland, Bd. 2, a.a.O., S. 365.

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Wie auch die Wendung Grotewohls am 14. September 1945 bleiben für den Verlauf der "Sechziger-Konferenz" noch eine Reihe von Fragen offen. Ihr Zustandekommen war Resultat einer "Überrumpelungstaktik".54 Aber in erster Linie gilt das selbstverständlich fiir die Nacht zwischen den beiden Sitzungstagen. Laut Protokoll begannen die Verhandlungen am zweiten Konferenztag um 10.55 Uhr. Stanislaw Trabalski, SPD-Bezirksvorsitzender von Leipzig und Teilnehmer der Tagung, gab an, daß die Zentralausschuß-Mitglieder abends zur SMAD bestellt wurden. Daher konnte die Konferenz nicht wie geplant, am zweiten Tag morgens, sondern erst mittags fortgesetzt werden. 55 Für die Zustimmung der SPD-Führung stellt Rolf Badstübner heute apodiktisch fest: "Diese Entscheidung des Zentralausschusses ist nicht unter freien Stücken und mit einer echten Diskussion zustandegekommen." 56 Für die SPD war der Konferenz-Ausgang jedoch bestenfalls ein Pyrrhus-Sieg. Da sie aus dem KPD-Resolutionsentwurf nur die ihr nicht genehmen Passagen gestrichen und anschliessend der Vorlage zugestimmt hatte 57 , entstand außerhalb Berlins vielfach der Eindruck, die SPD habe der KPD-Konzeption zugestimmt. Später suchte der Zentralausschuß das in Rundschreiben und Presseverlautbarungen noch zu korrigieren. 58 Zu dieser Zeit wurde der Kurs auf die Fusion offenbar noch deutlich abgelehnt. Am klarsten kam das naturgemäß in Berlin zum Ausdruck. 59 Dahlem polemisierte im Stil der Jahre vor 1933 gegen die sozialdemokratische Funktionärsschicht, die er als Gegner der Fusion im Auge hatte: "Berlin ist in der Frage der Einheitsfront der Bezirk, der am rückständigsten ist. Er hat objektiv Schwierigkeiten. Hier gibt es Tausende von ehemaligen Bonzen und Bönzchen aus den Genossenschaften, der Sozialversicherung, den Gewerkschaften usw., die Widerstand leisten, einen ziemlich großen mittleren Funktionärstab, der innerlich von der Notwendigkeit der Vereinigung nicht überzeugt ist und mit Angst an die Frage herangeht." 60 Noch Ende Januar 1946 attestierte ein Bericht des KPD-ZK der Mehrheit der Berliner Führer und Funktionäre der SPD einen "die Einheit sabotierenden reaktionären Kurs". 61 Gleiches gilt für Thüringen nach dem Vorstandswechsel von Hermann Brill zu Heinrich Hoffmann 62 und für Leipzig. 63 Die Forderung nach einer Urabstimmung, am 6.1.1946 in Rostock erhoben und mehrfach aufgegriffen, war ein letzter, aber angesichts der Haltung der SMAD vergeblicher Versuch, mehrheitsdemokratische Entscheidungen durchzusetzen. Bis Ende Januar konnte der SPD54 55 56 57

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So zutreffend Rolf Badstübner, in:Gründung der SED, a.a.O., S. 21. AdsD, Interview Trabalski, 22.11.1973, S. 11; Mitteilung v. St. Trabalski an den Verfasser, 29.11.1982. Einheitswille und Zwang, in: Disput Nr. 4/1996, S. 3. Für Schlomann ist das kein schwerwiegender taktischer Fehler, sondern Beleg für die Kontinuität sozialdemokratischen Vereinigungswillens. "Einheitsdrang oder Zwangsvereingung?", DW-Dokumentation, a. a.O„ S. 9 (Anm.5). So An die Landesausschüsse und Bezirksverbände der SPD, 12.1.1946, in: AdsD, NL Brill, 1. So Gustav Dahrendorf in einer Unterredung mit Martin Schmidt, SAPMO BArch, NL 36/631, 107-108; eine Vielzahl von Berichten aus SPD-Gremien in Berlin, SAPMO BArch, BPA 1/2/044, vom SPD-Bezirksparteitag Berlin im November 1945, SAPMO BArch, BPA 1/2/034. Auch Anton Ackermann in der KPD-Führung räumte das ein. SAPMO BArch, 1/2/5/40, 82-84 und 95-96. SAPMO Barch, 12/2/17, 22. SAPMO BArch, NL 36/634, 121. Brief von Franz Lepinski an Erich Gniffke, 14.6.1963, AdsD, NL Gniffke 11/1. Meine Eindrücke über die Vorbereitungsarbeite der KPD zur Bildung einer S.E.D. an der Ruhr und Vorschläge für unsere Gegenmaßnahmen, AdsD, Büro Schumacher J 114.

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Zentralausschuß die drei in der ersten "Sechziger-Konferenz" mühsam durchgesetzten Vorbehalte wahren. Am 26. Januar mußte die SPD-Führung dann einlenken und dem Druck aus vier Richtungen zugunsten der KPD-Forderungen nachgeben. Erstens den Besatzungsbehörden, zweitens der KPD-Führung und der von ihr entfesselten Kampagnen, drittens den Fusionswilligen in den eigenen Reihen, so vor allem um die drei Landesvorsitzenden Buchwitz (Dresden), Moltmann (Schwerin) und Hoffmann (Weimar) und viertens den SPD-Betriebsgruppen, bei denen, wie genannt, die Grenzen zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten dank des Wirkens der KPD von Gründung an fließend waren.

Die trügerische Hoffnung auf einen tragfähigen Kompromiß Ende Januar hatten die SPD-Führungen in der sowjetischen Zone sowie in den Ländern und Bezirken ihre Handlungsfreiheit völlig verloren, sofern sie sich nicht für die Fusion einsetzten. Erich W. Gniffke schrieb am 10.2.1946: "In den letzten Tagen waren Genossen aus Dresden, Leipzig, Halle und aus vielen Provinzorten Mecklenburgs, Provinz Sachsen, Land Sachsen, Brandenburgs und Thüringen hier. Unabhängig brachten sie folgendes Übereinstimmung [sie] zum Ausdruck: a) überall wird von den sowjetischen Kommandanten auf sofortige Verschmelzung gedrängt, b) Erklärungen, wonach die Genossen sich an die Weisungen des Zentralausschusses gebunden fühlen, werden beiseite geschoben. c) Überall vermißt man das Eingreifen des Zentralausschusses, hofft aber noch darauf. Fasse ich die Schilderungen zusammen, so ergibt sich eine ähnliche Situation, wie ich sie unter den Nazis im März 1933 im Lande Braunschweig erlebt habe, als überall unsere Genossen 'freiwillig' aus ihren Ämtern und Stellungen schieden." 64 Selbst die letzte Entscheidung des Zentralausschusses und des Parteiausschusses der SPD, die Zustimmung zu Art und Termin der Vereinigung am 11. Februar 1946, fiel in einer chaotischen Situation. Zunächst fanden die Fusionsgegner in einer Abstimmung eine Mehrheit. Danach drohten die drei Landesvorsitzenden Buchwitz, Hoffmann und Moltmann, sich vom Zentralausschuß loszusagen und den Zusammenschluß mit der KPD regional zu vollziehen. Das erst änderte die Mehrheiten.6^ Dem Zentralausschuß blieben nur noch zwei Alternativen: Die SPD in der sowjetischen Zone aufzulösen (was Kurt Schumacher am 8.2.1946 gegenüber Grotewohl und Dahrendorf vorgeschlagen hatte) oder zu versuchen, in der nun sichtlich unvermeidlichen Einheitspartei die sozialdemokratische "Infrastruktur" zu erhalten. Grotewohl war der Meinung, mit dem Erhalt der Organisation den Mitgliedern noch eine gewisse Schutzfunktion gegenüber dem Zugriff von SMAD und KPD bieten zu können. 66 Der scheinbare Programm- und Strukturkompromiß für die zukünftige SED, im Februar 1946 in einer "Studienkommission" ausgehandelt, begünstigte diese Auffassung. Es gab zwei Konzessionen an die Sozialdemokratie. Zum ersten auf programmatischer Ebene: So schien 64 Schreiben Erich W. Gniffke an den geschäftsführenden Vorstand der SPD, 10.2.1946, AdsD, NL Gniffke, 31. 65 Vgl. die instruktive Schilderung bei Frank Moraw: Die Parole der "Einheit" und die Sozialdemokratie, 2. akt. Aufl., Bonn 1990, S. 152 ff. 66 Zusammenkunft in Braunschweig, 8.2.1946, in: AdsD, Büro Schumacher, J 114.

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mit Anton Ackermanns Theorie eines "besonderen deutschen Weges zum Sozialismus" vielen Sozialdemokraten die Perspektive einer autonomen, nicht am sowjetischen Modell orientierten, Entwicklung möglich. Sie wußten nicht, daß die Strategie der "nationalen Wege" der gültigen Generallinie der kommunistischen Weltbewegung entsprach. Darüber hinaus schien das Gründungsprogramm der SED, ihre "Grundsätze und Ziele", auch eine wichtige Konzession an das Prinzip Demokratie zu versprechen: "Die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands erstrebt den demokratischen Weg zum Sozialismus; sie wird aber zu revolutionären Mitteln greifen, wenn die kapitalistische Klasse den Boden der Demokratie verläßt". 67 Zum zweiten ein organisatorisches Moment: Ohne Parallele in den späteren Vereinigungen osteuropäischer Parteien enthielt das Statut der SED das Prinzip der "Parität", alle Vorsitzenden-Funktionen von der Ortsebene an aufwärts mußten doppelt besetzt werden, mit je einem früheren Kommunisten und Sozialdemokraten. Das erschien manchen Sozialdemokraten geradezu als institutionelle Garantie ihres Einflusses in der ungeliebten, weil ungewollten Einheitspartei und suggerierte noch erträgliche Arbeitsmöglichkeiten. Diese Konzessionen erwiesen sich in gleicher Weise als trügerisch wie die vom Dezember 1945: Sie hatten nicht lange Bestand. Noch vor dem Vereinigungsparteitag, auf einer Parteikonferenz der KPD im März 1946, hatte der KPD-Vorsitzende Wilhelm Pieck sie im Grunde wieder aufgekündigt und zugleich das Hegemoniestreben der Kommunisten offengelegt. Er bezeichnete den "konsequenten Marxismus-Leninismus" als "das granitene Fundament" der Einheitspartei, forderte den "demokratischen Zentralismus und die eiserne Disziplin ihrer Mitglieder". Daher erachtete er auch "eine intensive Schulungsarbeit unter den Mitgliedern und vor allem unter den Funktionären" für vorrangig. Das wurde zugleich als Domäne der Kommunisten genannt. Es stand für Pieck außer Frage, daß "die Partei nur dann erfolgreich wird arbeiten können, wenn an der Spitze eine vom Marxismus-Leninismus vollkommen durchdrungene Funktionärkörperschaft steht und die Mitglieder, gestützt auf diese Lehren, die großen Aufgaben erkennen, die die Partei zu lösen hat." 68 Fred Oelssner verdeutlichte kurz darauf das kommunistische Verständnis von innerparteilicher Demokratie in der neuen Einheitspartei: Das "ist gar nicht so sehr die Frage der Wahl der Parteiinstanzen, der Abstimmung über Parteibeschlüsse, sondern das ist vielmehr die Kunst der demokratischen Führung der Partei. Da hapert es in unserer Partei noch gewaltig. Wir haben eine Partei von außerordentlich straffer Disziplin, und wir sind stolz darauf und hoffen und erwarten, dass in der neuen Partei recht viel von dieser Disziplin da sein wird." 69 Das Fehlen von Alternativen zur Vereinigung, da die Besatzungsmacht und die KPD die bloße Fortexistenz der SPD nicht hinnehmen wollten und die Hoffnung auf die Tragfähigkeit der Kompromisse des Februar 1946 bildeten den Rahmen für das Handeln sozialdemokratischer Funktionäre. Natürlich wanderten manche in den Westen ab, manche leisteten Widerstand, viele verharrten zwischen Opposition und Passivität. Einige nutzen die Chance auf eine Karriere, manche paßten sich den neuen Verhältnissen an. Ein Dilemma der Sozialdemokratie lag in der Uneinheitlichkeit ihres Verhaltens nach Bildung der SED. Letztlich 67 Protokoll des Vereinigungsparteitages der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) am 21. und 22. April 1946 in der Staatsoper "Admiralspalast" in Berlin, Berlin 1946, S. 179. 68 Pieck, Wilhelm: Probleme der Vereinigung von KPD und SPD, Berlin 1946, S. 24 ff. 69 Fred Oelssner in einem Schulungskurs der KPD, 8.3.1946, SAPMO BArch, I 2/2/27, 221.

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war die Vorstellung, in der eigentlich ungewollten Einheitspartei den Zusammenhalt des sozialdemokratischen Lagers zu wahren, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Denn es hatte bereits zuvor deutliche Risse gezeigt. So konnten von den "Einheits"-Anhängern Mitglieder und Gliederungen der Sozialdemokratie, in erster Linie aus den Betriebsgruppen, gegen die Parteigremien mobilisiert werden. Noch wichtiger aber war, daß drei Landesvorsitzende in Interessenübereinstimmung mit den jeweiligen KPD-Führungen und den SMA-Chefs notfalls auch zu Abspaltungen und "Alleingängen" in Sachen Parteienfusion bereit waren, auch wenn die Gesamtpartei ihnen nicht folgen wollte. Sie genossen das besondere Vertrauen der Besatzungsmacht. Buchwitz sah sich selbst als "Apostel für die Vereinigung"70, fand sich in seinem Landesvorstand häufiger in der Minderheit und war auch nicht bereit, eine Mehrheitsentscheidung über die Vereinigung zu akzeptieren. 71 Hoffmann, auf sowjetisches Votum hin gegen den Willen des Landesvorstandes zum SPD-Landesvorsitzenden bestellt, ging noch darüber hinaus. Er war im Grunde einer der wenigen Exponenten einer "freiwilligen Unterwerfung" (Manfred Wilke). Hoffmann, Ende Februar 1946 von Gustav Brack und Curt Böhme wegen seines Kurses attakkiert, wandte ein, die Russen hätten die Einigung befohlen. Es sei nun ihre Aufgabe, das als freie Willensentscheidung auszugeben. 72 In der Tat scheint eine nur verschwindende Minderheit in der SPD die Sache der Vereinigung zu ihrer gemacht zu haben - in der KPD gab es offenbare Brüche dank der stalinistischen Strukturen und Traditionen sowieso nicht. Beachtlich ist das weithin sichtbare Faktum, daß ein Großteil der sozialdemokratischen Mitglieder und Funktionäre mit hinhaltendem Widerstand und Verzögerungstaktik auch noch zu einer Zeit reagierten, als die Entscheidung längst gefallen war - und zwar durch die SMAD und die KPD-Führung. Die Hoffnungen und Erwartungen, eine gesamtdeutsche Perspektive würde ihren Positionen letztlich zum Sieg verhelfen, muß aus der Sicht des Jahres 1946 nicht von vornherein als illusionär erscheinen. Letztlich war es nichts anderes als das Vertrauen in eine Mehrheits-Entscheidung, die von allen Alliierten respektiert würde. Bensers Urteil, die Mehrheit sei bereit gewesen, ihren Führungen zu vertrauen 73 , stellt damit letztlich den historischen Prozeß auf den Kopf: KPD und SMAD suchten mit allen Mitteln die Zustimmung der Führer zu erreichen und eine Artikulation der Mehrheits-Meinung der Mitglieder, eben Abstimmungen, zu verhindern.

Die Rolle der Besatzungsmächte Bekanntlich haben sich alle vier Alliierten zum Prinzip "Demokratie" für Deutschland bekannt. Daß die Besatzungsmächte nicht "neutral" gegenüber den Fusionsbestrebungen der politischen Linken gewesen sind, ist demnach unter den jeweiligen Prämissen von Demokratisierung zu prüfen. Bensers Einwand suggeriert eine Gleichbehandlung mit unterschiedlichen Vorzeichen: Was die einen gefördert haben, verhinderten die anderen. Die historische Realität zeigt ein 70 71 72 73

Otto Buchwitz an Franz Neumann, 7.5.1946, AdsD, Ostbüro, 0301 II. SAPMO BArch, NL 95/56, 5. Franz Lepinski, 14.6.1963, a.a.O. (Anm. 50). Vgl. oben Anm. 2.

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anderes Bild. Keine der Westmächte förderte eine politische Richtung zu Lasten einer anderen in dem Maße wie die SMAD die Kommunisten. Massive Eingriffe in die innere Autonomie der Parteien wie im Vorfeld der Zwangsvereinigung in der sowjetischen Zone hat es in den Westzonen nicht gegeben. Gniffkes Feststellung, schon im Oktober und November 1945 versuchten die sowjetischen Kommandanten den Zusammenschluß "notfalls auch gegen den Willen des Zentralausschusses" der SPD zu erreichen 74 , findet auf westlicher Seite keine Parallele. Auf Weisung der SMAD "schalteten sich Orts- und Kreiskommandanten [...] in den Verschmelzungsprozeß ein, erzeugten von unten nach oben den Druck für die Bereitwilligkeit einer nahen Vereinigung auf Orts-, Kreis- und Länderebene." Immerhin wurden, als die Entscheidung längst gefallen war, Zeitpunkt und Verfahren der SED-Bildung von Stalin gebilligt. 75 Natürlich waren die Westmächte demgegenüber in einer besonderen Situation. Sie brauchten nicht zu Verboten zu greifen 76 - vor allem, weil sie kein analoges Interesse zur Umgestaltung des deutschen Parteienwesens besaßen. Schließlich war es die KPD selbst, die die Vereinigung unter Bruch von Vereinbarungen "zunächst" für die sowjetische Zone allein rigoros durchsetzte und damit die gesamtdeutsche Perspektive durchbrach. Der Verweis auf die Besatzungsmächte, und erst recht auf alle vier, taugt letztlich wenig zur Erklärung der Sonderentwicklung der Parteienlandschaft in der sowjetischen Zone. Die KPD-Führung initiierte die Vereinigungskampagne, wie gezeigt, im September 1945, damit weit früher als in den übrigen Staaten der sowjetischen Hegemonialsphäre. Die sowjetische Besatzungsmacht zeigte sich bekanntlich aufgrund ihrer vorrangigen Reparationsinteressen im Frühjahr 1947 noch flexibel in der Frage der Einheitspartei - sie war also bereit, Fehler zu korrigieren. Das verkleinert ihre Rolle in den Jahren 1945/46 nicht. Zurück zur eingangs genannten Problematik. Der historische Verlauf zeigt, daß massive Einwirkung, Druck und Gewalt konstitutive Elemente der SED-Gründung darstellen. Insofern ist der Begriff "Zwangsvereinigung" angemessen, entgegen der Position von Wolfgang Leonhard. Auch die "freiwillige Unterwerfung" geht an der Sache vorbei. Ebenso unhaltbar erscheint Schlomanns Fazit: "Ohne das Verhalten der Besatzungsmacht unterschätzen zu wollen, so erscheint der Begriff der "Zwangsvereinigung" doch historisch nicht haltbar: er beschreibt nur die eine Hälfte der Wahrheit und verschweigt dabei, daß der Zusammenschluß sehr wohl auf der echten Zustimmung keineswegs weniger Sozialdemokraten beruhte - auch wenn diese oftmals auf Selbstüberschätzung und Wunschvorstellung beruhte." 77 Dieses Urteil blendet den historischen Prozeß aus: der Beschluß zur Bildung einer Einheitspartei war von KPD und SMAD zu einer Zeit gefaßt worden, als sich auf breiter Front gerade eine Ablehnung herauskristallisierte. Schlomann unterschlägt das offenkundige Faktum, daß es eine Entscheidungs-Alternative nie gab, sondern nur die Zustimmung erwünscht und erlaubt war. Nicht von ungefähr konzentriert sich seine Darstellung auf die Zeit vom Dezember 1945 an, als es allenfalls noch um das "Wie" gehen durfte. Das Verhalten der Sozialdemokratie im Fusionskampf und später in der SED wäre indes noch gesondert zu untersuchen. Die Auffassung von Günter Benser und der Historischen Kommission der PDS erscheint ebenfalls problematisch. Erstens: Wenn die "Einheit der Arbeiterbewegung" auf der Tages74 75 76 77

AdsD, NL Gniffke, 9/3. Badstübner/Loth, Wilhelm Pieck..., a.a.O., S. 63. Im einzelnen Müller, Werner: Die KPD und die "Einheit der Arbeiterklasse", Frankfurt/New York 1979. "Einheitsdrang oder Zwangsvereinigung?", DW-Dokumentation, a.a.O., S. 27 (Anm. 5).

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Ordnung der Geschichte stand, warum, wenn nicht aus parteistrategischen Überlegungen, "schaltete" die KPD dann im September 1945 vom Kurs der "Aktionseinheit" zur "Einheitspartei" um? Zweitens: Wichtiger als "Agenda"-Fragen ist die Frage der Demokratie. Mit SPD und KPD wurden zwei Parteien völlig unterschiedlicher Strukturen und Traditionen vereinigt - eine Zwangslage, die vielleicht noch größer ist als die in der Vorgeschichte der SED sichtbaren Zwänge. Bensers Argument zum Juni 1945 "Noch nie waren sie sich programmatisch so nahe" 78 , überdeckt den fundamentalen Gegensatz zwischen einer demokratischen Partei, deren Traditionen später in der SED als "Wahlverein" abgetan wurden, und einer marxistisch-leninistischen Partei der "Diktatur des Proletariats". Schon hier zeigen sich die Unterschiede von Demokratie und Diktatur, die den zeitgenössischen Akteuren vor dem Hintergrund des kommunistischen Bekenntnisses zur Demokratie verborgen bleiben mußten. Zum dritten geht Bensers faktische Gleichsetzung der vier Alliierten an der historischen Realität vorbei. Der Vorwurf des Demokratie-Defizits an alle verschleiert das einmalige Ausmaß der Parteinahme der SMAD zugunsten der deutschen Kommunisten und zugunsten der Etablierung der zweiten deutschen Diktatur. Die "Einheits"-Forderung war 1945/46 genau das, was Benser in Abrede stellte: eine blosse Drapierung eines Führungs- und Machtanspruchs der KPD. Daß manchen Zeitgenossen, auch vielen Sozialdemokraten, die Perspektive einer linken "Einheit" tatsächlich als historisch notwendig erschien, steht dem nicht entgegen. Immerhin beanspruchte die KPD-Führung auch hier, ihre Vorstellungen und Strukturen von Einheit rigoros durchsetzen zu können. Eine gleichberechtigte Kooperation, die auch die innere Autonomie der Sozialdemokratie wahrte, lehnte sie immer, offen sichtbar seit September 1945 ab. Genau diese sozialdemokratische Option aber unterstrich das Ergebnis der von Benser als Sonderproblem behandelten Urabstimmung in den Westsektoren Berlins: ein (wohlgemerkt: demokratisch zustande gekommenes) Doppel-Votum für die Eigenständigkeit der Sozialdemokratie und zugleich für eine gleichberechtigte Kooperation. Aber genau das wollte die KPD-Führung eben nicht (mehr). Badstübner hingegen kennzeichnet ihre spezifische Rolle: "Die KPD-Führung - nicht die ganze KPD, nicht die neuen Mitglieder - die Führung und speziell die von Moskau geprägten Kader waren eigentlich nicht vereinigungsfähig."79 Das ließe sich noch zuspitzen: diese Parteielite war auch unfähig und unwillig zur Demokratie, zu der sie sich in der Propaganda bekannten. Daher geht auch Norbert Podewins Argument ins Leere, unter sowjetischer Besatzung konnte es in der KPD keine innerparteiliche Demokratie geben. 80 Die Stabilisierung der Partei in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre hatte das auf Dauer ausgeschlossen. Die SED trug 1946 auch nur äußerlich den "Charakter einer linken sozialistischen Volkspartei". 81 Die (natürlich nicht zu Ende geführten) Auseinandersetzungen vor der Fusion setzten sich als interne Differenzen um Linie und Charakter der SED fort. Schon nach dem zweiten Parteitag war einigen führenden Sozialdemokraten in der SED die völlige Veränderung der Lage und damit das Scheitern ihrer Politik bewußt. Auf der Sitzung des Parteivorstandes am 25. September 1947 hielt Erich Gniffke resigniert fest, man habe den Kampf verloren. 78 79 80 81

Ein hoffnungsvoller Auftakt, in: Neues Deutschland, 10711. Juni 1945. Disput Nr. 4/96, S. 3. Podewin, a.a.O., S. 188 f. - Vgl. oben Anm. 15. Zum 50. Jahrestag des Zusammenschlusses von KPD und SPD, a.a.O., Neues Deutschland, 18.12.1995.

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Karl Litke meinte, der gerade vergangene zweite Parteitag gebe nicht die Massenstimmung in der SED wieder. Otto Meier äußerte, die Sozialdemokraten seien auf dem Parteitag überfahren worden; die SED sei jetzt nur noch eine kommunistische Partei. 82 Das Bild einer "demokratischen" Frühphase der SED zwischen Gründung und ihrer Stalinisierung von 1948 an gehört angesichts der Umstände der Fusion in das Reich der Legende. 83 Im Gegenteil: im Frühjahr 1946 bestand offenkundig letztmalig die Chance, den kommunistischen Machtanspruch gegenüber der Sozialdemokratie durchzusetzten und zugleich als demokratisch zu drapieren. Kein geringerer als Wilhelm Pieck räumte das im Nachhinein ein. Zu Beginn der Stalinisierung der SED führte er im Oktober 1948 aus: "Die Dringlichkeit der Vereinigung ergab sich aus dem schnellen Anwachsen der Reaktion und der Notwendigkeit, ihr eine einheitliche Führung der Arbeiterklasse entgegenzustellen. Diese beschleunigte Vereinigung ließ nicht die Zeit zu einer gründlichen Vorbereitung im Geiste des Marxismus-Leninismus und eines ersten Kampfes gegen die revisionistischen und opportunistischen Auffassungen, deren Vertreter mit in die vereinigte Partei übernommen wurden." 84

82 So in den Notizen von Wilhelm Pieck von der 1. (15.) Tagung des Parteivorstandes am 25 9 1947 SAPMO BArch, NL 36/656, 1-3. 83 Dazu grundsätzlich Weber, Hermann: Gab es eine demokratische Vorgeschichte der DDR? in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Nr. 4/5-1992, S. 272 ff. 84 Pieck, Wilhelm: Die ideologische Festigung der Partei, in: Reden und Aufsätze. Auswahl aus den Jahren 1908-1950, Bd. II, Berlin (Ost) 1950, S. 191.

Ilko-Sascha Kowalczuk (Berlin)

Die Ereignisse von 1953 in der DDR. Anmerkungen zu einer "Retroperspektive zum Stand der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung des 17. Juni 1953" Die zusammenfassenden Berichte der Abteilung "Leitende Organe der Partei und der Massenorganisationen" beim Zentralkomitee der SED wiesen ab dem Juli 1953 immer wieder auf ein Gerücht hin, das in weiten Teilen der Bevölkerung verbreitet war, und als Drohung gegenüber der Staatsmacht kolportiert wurde: "Ein Gerücht, das immer wieder auftaucht, ist das von 'einem neuen bevorstehenden Tag X'."1 Im August befürchteten die Staatssicherheit und die SED-Führung sogar eine Demonstration in Berlin, an der bis zu einer halben Million Menschen teilnehmen würde. 2 Noch Jahre und Jahrzehnte später verschärften die Staatsorgane im Juni die Sicherheitsvorkehrungen und waren besonders aufmerksam, wenn Arbeitsbrigaden um den 17. Juni herum Betriebsausflüge planten. Die mittlerweile berühmte Dampferfahrt einiger Berliner Bauarbeiter am 13. Juni 1953 hatte die SED-Führung nicht vergessen. 3 Vor allem vor dem Mauerbau war es den Stimmungsberichten der erwähnten ZK-Abteilung zufolge ein weitverbreitetes Verhalten, mit einem neuen 17. Juni zu drohen. Die Motivation war dabei eindeutig politischer Natur. In verschiedenen Variationen tauchte stets ein Argument auf: "Führt bei uns freie Wahlen durch, und ihr werdet sehen, wo die SED bleibt."4 Die meisten DDR-Bürger zweifelten nicht daran, daß freie Wahlen das Ende der SED-Herrschaft bedeuten würden. Unterschiedlich waren allerdings die Prognosen, ob die SPD oder die (West-)CDU freie Wahlen in der DDR gewinnen würde. Allerdings sprechen verschiedene, hier nicht ausgeführte Indizien dafür, daß die CDU in der Person von Konrad Adenauer den eigentlichen Hoffnungsträger für die ostdeutschen Bürger in ihren Reihen hatte - eine Tendenz, die sich zumindest in den erwähnten Akten von 1952 bis 1961 nachweisen läßt. Von entscheidender Bedeutung in der Geschichte der DDR waren die Ereignisse im Juni und Juli 1953. Der DDR-Bevölkerung war eindringlich vor Augen geführt worden, in wie starkem Maße die SED-Diktatur von den Bajonetten der sowjetischen Besatzungsmacht abhing. Den Machthabern wiederum war ein Szenarium vorgeführt worden, das es in Zukunft schon im Ansatz zu vereiteln galt. 1 ZK-Abteilung Leitende Organe der Partei und der Massenorganisationen, Informationsbericht Nr. 2, 2.9.1953. SAPMO B-Arch, DY 30/IV 2/5/563, Bl. 161. 2 Mehrere Berichte in: SAPMO B-Arch, DY 30/IV 2/5/563. 3 Vgl. Beier, Gerhard: Wir wollen freie Menschen sein - Der 17. Juni 1953: Bauleute gingen voran. Köln 1993; Mitter, Armin: Dampferfahrt in die Revolution. Wie es zum 16. und 17. Juni 1953 kam, in: Der 17. Juni 1953. Bilder und Texte einer Ausstellung der Friedrich-Ebert-Stiftung und der IG Bau-SteineErden, Bonn 1993, S. 23 - 26. 4 ZK-Abteilung Leitende Organe der Partei und der Massenorganisationen, Informationsbericht Nr. 2, 2.9.1953. SAPMO B-Arch, DY 30/IV 2/5/563, Bl. 158.

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Vor diesem Hintergrund ist es überraschend, daß Torsten Diedrich in einem Beitrag mit dem Untertitel Retroperspektive zum Stand der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung des 17. Juni 19535 im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1994 mehrmals konstatiert, daß sich unmittelbar nach dem 17. Juni 1953 "ein großer Teil der Arbeiter von den politischen Forderungen distanzierte"6 und lediglich "an den sozialen Ansprüchen" festhielt. Er kann diese These allerdings weder anhand eigener Forschungen noch durch die vorliegende Literatur tatsächlich belegen. Selbst seine eigenen Untersuchungen und die von ihm dabei ausgewerteten Unterlagen legen einen anderen Schluß nahe.7 Wenig plausibel erscheint in diesem Zusammenhang zum Beispiel Diedrichs Feststellung, es sei hinlänglich erwiesen, daß die Streiks und Demonstrationen am 16. Juni als soziale Bewegung begonnen hätten. 8 Der nächste Schritt lautet unter Berufung auf den als Historiker bislang eher unbekannten Egon Bahr: "Der Befund ist eindeutig: Viele der politischen Forderungen waren der ostdeutschen Massenbewegung implantiert."9 Von dieser Behauptung ist es nicht mehr weit bis zu einer weiteren, noch weniger belegbaren These, die suggerieren möchte, den Demonstranten sei es "mehrheitlich um die Wiederherstellung basisdemokratischer Verhältnisse in der DDR" gegangen und für sie sei das "Modell Bundesrepublik [...] nicht das erstrebenswerte Ziel" gewesen. 10 Diedrich hat die Forschungsliteratur nur sehr selektiv ausgewertet. Die drei erwähnten Thesen waren bereits umstritten, als Diedrich seinen Beitrag verfaßte. Schon 1993 gab es auf einer breiten empirischen Basis fußende Interpretationen und Auffassungen, die die Thesen von Diedrich geradezu konterkarieren.11 Diese bleiben jedoch in der "Retroperspektive" über den Forschungsstand weitgehend unberücksichtigt. Vielmehr stellt sich beim Lesen von Diedrichs Aufsatz der Eindruck ein, als schreibe er permanent gegen Thesen und Interpretationen an, ohne diese jedoch vorzustellen und zu würdigen. Bis 1989 herrschte in der bundesrepublikanischen Forschung die Meinung vor, daß die Ereignisse Mitte 1953 in der DDR soziale Ursachen gehabt hätten, wobei die Normenerhöhung stets als zentraler Punkt behandelt worden ist. 12 Diese "administrative Maßnahme" hätte Unmutsäußerungen hervorgerufen und einen Teil der Bevölkerung radikalisiert und schließlich kurzzeitig zu politischen Forderungen, verbunden mit Streiks, Massendemonstrationen und einigen Ausschreitungen geführt. Nach der Öffnung der DDR-Archive setzte sich allerdings mehr und mehr die Ansicht durch, daß man "den" 17. Juni in einem größeren zeitlichen Rahmen betrachten müsse. Die Krisenerscheinungen zeigten sich bereits im Herbst 1952 in offenen Unmutsäußerungen der Bevölkerung, was im Winter 1952 und im Frühjahr 5 6 7 8 9 10 11

12

Vgl. Diedrich, Torsten: Zwischen Arbeitererhebung und gescheiterter Revolution in der DDR. Retrospektive zum Stand der zeitgeschichtlichen Aufarbeitung des 17. Juni 1953, in: JHK 1994, S. 288-305. Ebenda, S. 288, auch S. 300. Vgl. z.B. Diedrich, Torsten: Der 17. Juni in der DDR - bewaffnete Gewalt gegen das Volk. Berlin 1991. Ders.: Zwischen Arbeitererhebung und gescheiterter Revolution in der DDR, S. 298. Ebenda, S. 299. Ebenda, S. 300 (Hervorhebung vom Verf.). Die wichtigste alte und neue Forschungsliteratur (bis Ende 1995) findet sich, in: Kowalczuk, Ilko-Sascha/Mitter, ArminAVolle, Stefan (Hrsg.): Der Tag X - 17. Juni 1953. Die "Innere Staatsgründung" der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, 2. durchges. Aufl., Berlin 1996, S. 344-350. Den besten Überblick über den Forschungsstand Ende der achtziger Jahre vermittelt: Fricke, Karl Wilhelm/Spittmann, Ilse (Hrsg.): 17. Juni - Arbeiteraufstand in der DDR, 2. Aufl., Köln 1988.

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1953 zu ersten Streikwellen führte. Außerdem läßt sich anhand der Akten nachweisen, daß die Unzufriedenheit alle sozialen Schichten betraf, also weit über die Arbeiter hinausging. Gerade die Bauern hatten unter der Kollektivierungspolitik im Anschluß an die II. Parteikonferenz im Juli 1952 zu leiden, wobei sie mannigfaltig aufbegehrten und opponierten. Ganze soziale Gruppen, wie zum Beispiel die mittelständischen Unternehmer, die sogenannten "Großbauern" oder die "bürgerliche" Intelligenz, sollten ihrer Lebensgrundlage in der DDR beraubt werden. Schließlich war die gesamte Bevölkerung von der Mangelwirtschaft, von einschneidenden sozialen Rückwärtsentwicklungen und von der diktatorischen Machtausübung betroffen. Als nun am 9. bzw. 11. Juni 1953 die SED einräumte, Fehler gemacht zu haben und einige wenige politische Kurskorrekturen ankündigte, hat die Mehrheit der Bevölkerung dies als eine totale Bankrotterklärung der SED-Regierung aufgefaßt. 1 3 Die daraufhin einsetzenden offenen, teilweise eruptiven Demonstrationen, Streiks und andere Aktionen waren von Beginn an gegen das SED-Regime gerichtet gewesen. Wir haben heute eine Fülle von Informationen zur Verfügung, die besagen, daß es schon zwischen dem 10. und 15. Juni zu einer Vielzahl von Streiks und sogar zu einigen Demonstrationen bzw. Kundgebungen gekommen war, die eindeutig einen politischen Charakter trugen. Als Hauptforderungen standen dabei zumeist im Mittelpunkt: "Freie Wahlen" und "Rücktritt der Regierung". Freilich darf nicht übersehen werden, daß die Protestierenden an ihre politischen Forderungen auch soziale knüpften. Diese unmittelbare Vorphase der offenen Auseinandersetzungen findet bei Diedrich überhaupt keine Beachtung, obwohl in der Literatur ausführlich darauf eingegangen worden ist, sogar in Schriften, die er zumindest in seiner Retroperspektive erwähnt. 14 Auch in der Phase der offenen Konfrontation zwischen dem 16. Juni und etwa dem 21. Juni 1953 änderte sich daran prinzipiell nichts. Politische Forderangen überwogen deutlich. Auffällig ist zudem, daß die Forderungen in allen Regionen und von allen sozialen Schichten der DDR - wenn auch in unterschiedlichem Maße - gestellt wurden. Das ist deshalb nicht verwunderlich, weil sich die meisten Forderungen schon Monate und teilweise Jahre zuvor in den Berichten der SED, der Blockparteien, der Massenorganisationen und des Ministeriums für Staatssicherheit finden. Die Protestierenden erhoben "lediglich" Forderungen, die direkt ihrer Lebenswirklichkeit entsprangen. Mit Sicherheit bedurfte es aber nicht des RIAS, dem Diedrich in seinem Beitrag eine Funktion und Bedeutung zuweist, die diesen zwar ehren könnte, ihm aber nicht gerecht wird. Der Sender tat lediglich das, wofür Medien in demokratischen Ländern vorhanden sind: zu informieren, Hintergründe zu beleuchten und auf Mißstände hinzuweisen. Ein solcher Sender wirkte inmitten der DDR auf West-Berliner Territorium natürlich wie ein Stachel im Fleisch. Doch daraus wiederum kann man nicht, wie es schon früher versucht wurde, dem RIAS Führungsfunktionen im Kampf gegen die SED-Diktatur zuschreiben. Dieser amerikanische Radiosender aus West-Berlin bemühte sich zudem in den kritischen Tagen um den 17. Juni 1953, die Demonstrierenden eher zu beschwichtigen

13 Vgl. nähere Belege, auch aus der Forschungsliteratur, in: Kowalczuk/Mitter/Wolle (Hrsg.): Der Tag X (Anm. 11). 14 Das trifft etwa zu auf: Mitter, Armin/Wolle, Stefan: Untergang auf Raten. Unbekannte Kapitel der DDRGeschichte, München 1993.

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als zum Aufstand gegen die SED aufzurufen. 15 Diedrich behauptet zwar, die "politischen Forderungen waren der ostdeutschen Massenbewegung implantiert" worden, aber er bleibt jeglichen Beweis dafür schuldig. Ähnliche Behauptungen wie Diedrich hatten schon die SED-Führer und ihre Historiker verfochten. Übrigens mußte selbst die Staatssicherheit Ende 1953 eingestehen, daß es nicht gelungen sei, die westdeutschen Inspiratoren des Aufstands festzustellen. 16 Schließlich bleibt Diedrich jeden Beweis für seine Behauptung in Bezug auf das Verhalten der DDR-Bevölkerung nach dem 21. Juni 1953 schuldig. Mit den Akten jedenfalls ließe sich kaum zeigen, daß die Mehrheit von den politischen Forderungen Abstand genommen hätte. Freilich wurden diese fortan nicht mehr so vorgetragen wie im Juni 1953. Aber den Stimmungsberichten zufolge war den meisten ostdeutschen Bürgern bewußt, daß eine Veränderung der sozialen Lage nur über eine Veränderung der politischen Lage erreicht werden könne. Deshalb zählte die Forderung nach freien Wahlen zu denjenigen, die Massencharakter trugen. Wenn Diedrich nun schreibt, die Protestierenden hätten die Wiedervereinigung nicht angestrebt und auch das Modell Bundesrepublik nicht als erstrebenswert angesehen, müßte er schon genauer sagen, was sie denn eigentlich wollten. Daß sie "die Wiederherstellung basisdemokratischer Verhältnisse" angestrebt haben sollen, ist absurd. 17 Das würde ja bedeuten, daß die Menschen solche Verhältnisse, wenn auch nur kurze Zeit, kennengelernt haben müßten, um diese wiederherstellen zu können. Es fragt sich nur wann: vor 1933, zwischen 1933 und 1945 oder nach 1945? Vielmehr, und das zeigen auch die archivalischen Überlieferungen, hat acht Jahre nach der Zerschlagung der Hitlerdiktatur und der damit verbundenen Teilung Deutschlands die absolute Mehrheit der Ostdeutschen am Ziel eines vereinten Deutschlands festgehalten. Ein geteiltes Deutschland auf Jahrzehnte hinaus war 1953 noch lange kein Bestandteil der Vorstellungswelt der Menschen. Und die massenhafte Forderung nach freien Wahlen deutet an, was die Mehrheit offenbar anstrebte: die Abdankung der SED und ein demokratisches Parteiensystem nach westdeutschem Muster in einem wiedervereinigten Deutschland. Neben unbewiesenen Behauptungen beinhaltet die "Retroperspektive" von Diedrich auch Fehler, die weder einer gewissen Oberflächlichkeit noch Zufälligkeit geschuldet zu sein scheinen. So unterstellt er, daß Armin Mitter "erstmals prononciert auf die zweite Unruhewelle im Juli 1953 aufmerksam" (S. 292) gemacht hätte. Mitter hat zwar diese zweite Welle tatsächlich systematisch und umfassend untersucht, aber "prononciert" darauf hingewiesen hatte bereits Stefan Brant 1954 in seiner materialreichen Studie. 18 Ebenso kann folgende Behauptung von Diedrich kaum auf wissenschaftlichen Überlegungen beruhen: "In ihrer Publikation zu sogenannten 'unbekannten Kapiteln'19 der DDR-Geschichte bieten die Berliner Historiker A. Mitter und St. Wolle zum 17. Juni ein durch SED-Akten ergänztes Konglomerat 15 Vgl. Rexin, Manfred: Der 16. und 17. Juni 1953 in West-Berlin, in: Deutschland Archiv 26 (1993), S. 985-994. 16 Vgl. Mitter/Wolle: Untergang auf Raten (Anm. 14), S. 153-154. 17 Soweit ich sehe, behauptet das auch außer Diedrich kein anderer Historiker. 18 Vgl. Brant, Stefan: Der Aufstand. Vorgeschichte, Geschichte und Deutung des 17. Juni 1953, 2. Aufl., Stuttgart 1954. 19 Diedrich meint: Mitter/Wolle: Untergang auf Raten (Anm. 14).

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aus ihren zuvor publizierten Arbeiten über das MfS und die Kirche sowie über den 17. Juni an." (S. 294) Sachlich falsch daran ist, daß Mitter und Wolle bis zum heutigen Tage keinen Aufsatz über das MfS und die Kirche veröffentlicht oder geschrieben haben und der Beitrag über den 17. Juni in dem erwähnten Buch weit über das hinausgeht, was Mitter bis 1993 dazu veröffentlicht hatte. 20 Offensichtlich wollte Diedrich die vorhandene Forschungsliteratur für die eigenen Thesen zurechtbiegen. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang seine Behauptung, daß sowohl er als auch Manfred Hagen von einer Arbeitererhebung sprechen würden (S. 295). Auf Diedrich trifft dies zu. Hagen dagegen nennt seine Monographie zum 17. Juni schon im Untertitel "Der erste Volksaufstand im Stalinismus" und schreibt ausdrücklich: "Wollen wir nicht einen Kunstbegriff prägen, so läßt sich der Kern des Geschehens und das Handeln der großen Mehrzahl am besten bezeichnen als Volkserhebung."21 Diedrichs Beitrag zum Stand der Forschung über den 17. Juni liefert weder die notwendige Analyse der bisherigen Forschungsergebnisse noch können seine Ausführungen als Ausgangspunkt weiterer Forschungen dienlich sein. Der Ansatz für einen solchen Aufsatz scheint aus einer Zeit zu stammen, die durch die Ereignisse von 1989/90 überholt ist. Auffällig bemüht sich Diedrich zudem darum, die Thesen einiger westdeutscher Kollegen aus der Zeit bis 1989 mit dem neuen Material zu beweisen bzw. leicht zu modifizieren. Und es fällt auf, daß er in die Arbeiten seiner ehemaligen SED-Kollegen "Erkenntnisgewinne" hineinliest, die bei näherer Betrachtung keineswegs gegeben sind. So ist Diedrich beispielsweise der Ansicht, daß wir erheblich Neues über die Teilnahme von Gewerkschaftsfunktionären und SED-Mitgliedern an der Volkserhebung wüßten (S. 302). Diedrichs Kronzeugen - Jochen Cerny, Angelika Klein und Heidi Roth - haben sich in ihren Arbeiten dazu zwar auch geäußert, aber in diesem Punkt keineswegs auf eine Art und Weise, die wissenschaftlich nachvollziehbar ist. 22 Es handelt sich dabei lediglich um unbewiesene Vermutungen. Die Forschungen zum 17. Juni 1953 befinden sich wie fast alle Forschungen zur Geschichte der SBZ/DDR erst am Anfang. Damit sollen keineswegs die erbrachten Ergebnisse der westdeutschen DDR-Forschung bis 1989 negiert werden. Aber durch die völlig veränderte Forschungssituation seit 1990 sind nicht nur neue Erkenntnise, sondern zudem neue Fragestellungen überhaupt erst möglich geworden. Das macht nicht die alten Ergebnisse obsolet, aber durchaus alte Fragestellungen, die den engen methodischen Möglichkeiten angepaßt

20 Vgl. v.a. Mitter, Armin: Die Ereignisse im Juni und Juli 1953 in der DDR. Aus den Akten des Ministeriums für Staatssicherheit, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 5/1991, S. 31-42. 21 Hagen, Manfred: DDR Juni '53. Die erste Volkserhebung im Stalinismus, Stuttgart 1992, S. 206; vgl. auch: Protokoll der 42. Sitzung: Der Volksaufstand am 17. Juni 1953, in: Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, Baden-Baden 1995, Band II/l, S. 746802. An dieser Podiumsdiskussion nahmen u.a. Hagen und Diedrich teil, wobei Hagen dort prononciert seinen zitierten Standpunkt vertrat. 22 Vgl. z.B.: Das unverstandene Menetekel - Der 17. Juni 1953. Materialien einer Tagung, Potsdam 1993; Klein, Angelika: Die Arbeiterrevolte im Bezirk Halle, Potsdam 1993; Roth, Heidi: Der 17. Juni 1953 im damaligen Bezirk Leipzig - aus den Akten des PDS-Archivs in Leipzig, in: Deutschland Archiv 22 (1991), S. 573-584.

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waren. Es ist heute dringend geboten, an die vielfältigen Materialien auch neue Fragen heranzutragen und auch aus dem Material heraus neue Fragestellungen zu entwickeln. Der 17. Juni sollte in einem breiteren zeiüichen Rahmen eingeordnet und erforscht werden. Neben regionalen und vergleichend-regionalen Untersuchungen sind noch stärker als bisher die einzelnen sozialen Schichten zu erforschen. Einen wichtigen Themenkomplex bieten die SED, die Blockparteien, die Massenorganisationen und staatlichen Einrichtungen, allesamt Themen, die sich erst jüngst der Aufmerksamkeit einiger Forscher erfreuen. Der 17. Juni als prägendes Ereignis in der DDR-Geschichte ist darüber hinaus in seiner weitreichenden Wirkung einzuordnen, wobei hier mit der These von der "inneren Staatsgründung" ein erstes Angebot für die Diskussion vorliegt. 23 Demnach sind im Prozeß der "inneren Staatsgründung" diejenigen Strukturen gefestigt bzw. überhaupt erst angelegt worden, die prägend für die SED-Herrschaft sein sollten. Im Mittelpunkt stand dabei der Ausbau des die gesamte Gesellschaft umfassenden Disziplinierungs-, Überwachungs- und Machtapparates. Hinzu kommt als ein wesentlicher Punkt, daß nach dem Tod von Stalin im März 1953 und vor allem nach dem Wahlsieg von Adenauer im September desselben Jahres die KPdSUFührung darauf bedacht war, der DDR mehr staatliche Souveränität und Autorität einzuräumen. Es ging nun um die Stärkung der DDR nach innen wie nach außen. 24 Das Ziel dieser sowjetischen Bemühungen bestand aus zwei eng miteinander verflochtenen Punkten. Am 25. März 1954 hatte Moskau der DDR förmlich die Souveränitätsrechte übertragen, ein Akt, der im September 1955 auch juristisch verankert wurde. Die DDR blieb zwar politisch, ökonomisch und militärisch abhängig von der UdSSR, konnte jedoch außenpolitisch gegenüber der Bundesrepublik als angeblicher Souverän auftreten. Dadurch erhoffte man sich zum zweiten gleichzeitig, daß die DDR-Regierung im eigenen Land selbst eine größere Autorität beanspruchen könnte und nicht mehr nur als Satrape der Sowjets angesehen würde. Die Mehrheit der Bevölkerung ließ sich davon allerdings nicht irritieren. Die ablehnende Haltung gegenüber der SED-Diktatur hielt unvermindert an, auch wenn sich die Form der Ablehnung, wie sie sich im Juni 1953 gezeigt hatte, nicht wiederholte. Dieser Ansatz würde auch nahelegen, die Debatten über den Charakter der Ereignisse, ob sie nun als "Arbeitererhebung", "Volksaufstand" oder etwa "gescheiterte Revolution" zu bezeichnen seien, in einen größeren Kontext zu stellen. Schließlich ist der 17. Juni im osteuropäischen Kontext zu betrachten. Eine solche vergleichende Sicht könnte grundlegende Erkenntnisse über das kommunistische System in Europa nach 1945 liefern. Vergleichsmöglichkeiten gäbe es genügend. Vom ersten Aufstand im Frühjahr 1953 im tschechischen Plzen bis zum Sturz der kommunistischen Regimes 1989 stehen ganz unterschiedliche Ereignisse und Prozesse für einen solchen komparativen Ansatz zur Verfügung. Der "17. Juni" dürfte also auch in Zukunft ein wichtiges Forschungsfeld bleiben. Man muß nur alte Schablonen überwinden und vor allem, anders als Torsten Diedrich, die Forschungsergebnisse auch in ihrer gesamten Breite zur Kenntnis nehmen und sich mit ihnen auseinandersetzen.

23 Vgl. Kowalczuk/Mitter/Wolle (Hrsg.): Der Tag X (Anm. 11). 24 Vgl. v.a. Wettig, Gerhard: Die beginnende Umorientierung der sowjetischen Deutschland-Politik im Frühjahr und Sommer 1953, in: Deutschland Archiv 28 (1995), S. 495-507.

Dokumentation

Reinhard Müller (Hamburg)

Der Fall des "Antikomintern-Blocks" Ein vierter Moskauer Schauprozeß? N a c h der zumindest teilweisen Öffnung der Moskauer Archive konnten in ersten Analysen der Verlauf und die politischen Intentionen von innerparteilichen "Säuberungen" beschrieben werden. Erst mit der weiteren Erschließung von "Kaderakten" im Moskauer Komintern-Archiv 1 , von "Strafakten" im "KGB-Archiv" 2 , von "Aufsichtsakten" der Opfer und von Verhörprotokollen der N K W D - T ä t e r 3 im Archiv der Moskauer Militärstaatsanwaltschaft werden neue Facetten der Selektions- und Disziplinierungsmechanismen innerhalb der Komintern 4 und bisher verstellte Segmente des NKWD-Terrorapparates sichtbar. Durch eine komplexere Nutzung der Moskauer Archive 5 können nicht zuletzt weitere Daten und Dokumente zu den Biographien der Opfer erschlossen werden. Es wird aber dadurch auch j e n e 1 Inzwischen (1996) ist im Moskauer "Russischen Zentrum für die Aufbewahrung und Erforschung der Dokumente der Neuesten Zeit" (im folgenden: RCCHIDNI) auch die Nutzung der "gesäuberten" "Kaderakten" nur mehr eingeschränkt möglich. Vgl. auch Studer, Brigitte: Verschleierungstaktik als Herrschaftspraxis. Über den Prozeß historischer Erkenntnis am Beispiel des Komintemarchivs, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1995, S. 306-321. 2 Die umfangreichen elf Bände der Strafakten zum Fall Nr.9871 befinden sich im Archiv der Moskauer Gebietsverwaltung des NKWD. 3 Z.B. von A. Lanfang, A. Postelj, A. Osmolowski, G. Jakubowitsch. Auch Lew M. Poljatschek, Abteilungsleiter der 3. Abteilung der Hauptverwaltung für Staatssicherheit des NKWD, Adressat zahlreicher Mitteilungen aus der Komintern, wurde am 17.10.1938 verhaftet und am 2.2.1940 als "Teilnehmer einer antisowjetischen Verschwörung in den NKWD-Organen" und als "polnischer Spion" durch das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR zum Tod verurteilt. Gegen die Mitarbeiter Jeshows wurden nun unter Beijia dieselben verqueren Schuldkonstrukte verwendet. 4 Zum bisherigen, allenfalls auf ausgewählten Beständen des Moskauer Komintern-Archivs beruhenden Forschungsstand vgl. McDermott, Kevin: Stalinist Terror in the Comintem: New Perspectives, in: The International Newsletter of Historical Studies on Comintern, Communism and Stalinsism (im folgenden: Newsletter), Vol. 30 (1995), S. 111-130. Vgl. auch Babicenko, Leonid: Die Moskvin-Kommission. Neue Einzelheiten zur politisch-organisatorischen Struktur der Komintern in der Repressionsphase, in: Newsletter, Vol. II, 1994/95, No. 5/6, S. 35-39. 5 Fred Schräder benutzte für seine "vollständige Darstellung" des Moskauer Prozesses (1936) keinerlei Moskauer Archive. Seine Selbstdarstellung (1992), daß "nunmehr die letzten Quellenlücken geschlossen werden" konnten, beruht auf einer inzwischen hinfalligen Ferndiagnose. Vgl. Schräder, Fred: Der Moskauer Prozeß. Zur Sozialgeschichte eines politischen Feindbildes, Frankfurt a.M. 1995.

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die Komintern- und KPD-Instanzen w i e einzelne Funktionäre entlastende Metapher dementiert, die die Opfer des stalinistischen Terrors allenfalls "in den Fängen des N K W D " ausmacht. Mit der hier dokumentierten Anklageschrift aus d e m "Fall" Nr. 9 8 7 1 und den einleitenden Thesen können weder die Chronologie noch die Verfolgungslogik einer Serie von Einzelprozessen und Sammelverfahren, die das N K W D seit 1937 g e g e n einen fiktiven "Antikomintern-Block" in der Kommunistischen Internationale, in der K P D und in der KP Polens durchführte, u m f a s s e n d 6 nachgezeichnet werden. D a s verzweigte Konstrukt eines "Antikomintern-Blockes" w i e auch die Auswahl der Opfer liefern m.E. weitere Indizien für die von Friedrich Firsow 7 und Boris Starkow 8 formulierte Hypothese, daß neben den drei großen Schauprozessen in zahllosen Folterverhören im "Inneren Gefängnis" der Lubjanka, im Taganka-, Lefortowo- und Butyrka-Gefängnis ein weiterer Schauprozeß gegen ehemalige führende Funktionäre der Komintern, den Apparat der Komintern und Funktionäre von einzelnen KPs vorbereitet wurde. In den Einzelverfahren g e g e n die 1935 abgelösten Sekretäre des EKKI Jossip Pjatnitzki, Wilhelm Knorin und Bela Kun w i e in den zahlreichen Anklageschriften gegen Funktionäre der K P D , der KP Polens 9 , der KP Ungarns und sogar der KP Dänemarks 1 0 wird seit 1937 die Existenz einer "Antikomintern-Organisation in der Komintern" stereotyp wiederholt. D i e Vorwürfe der v o m Staatsanwalt Wyschinski bestätigten Anklageschrift ( 2 7 . 7 . 1 9 3 8 ) gegen Pjatntizki 1 1 machen deutlich, daß mit den fiktiven Beschuldigungen g e g e n die "faschistische und Spionageorganisation in der Komintern" fehlende oder noch zu nutzende 6 Weitergehende Verweise und Analysen finden sich in einer geplanten Publikation zum "Anti-Kominternblock" und in verschieden Fallstudien (z.B. zu Maria Osten, Heinz Neumann, Hermann Remmele, Herwarth Waiden, Ernst Ottwalt, Traute Nicolas, Werner Hirsch, Karl Schmückle), die im Rahmen eines Forschungsprojekts des Hamburger Instituts für Sozialforschung erscheinen werden. Vgl. z.B. Müller, Reinhard: Zenzl Mühsam und die stalinistische Inquisition, in: Schriften der Erich-Mühsam-Gesellschaft. Heft 11, Lübeck 1996, S. 29-84. 7 Firsow, Friedrich: Leben und Tod eines Bolschewiken, unveröffentl. Manuskript (1992). 8 Starkow, Boris: The Trial that was not held, in: Europe-Asia Studies. Vol 46 (1994), S.1297-1315; ders.: Letzter Kampf eines Kominternsekretärs. Osip A. Pjatnickij und der Moskauer Prozeß gegen die Komintern, in: Newsletter, Vol. 1 (1993/94), No. 3/4, S. 41-43. Manche Vermutungen Starkows sind immer noch von den Rastern sowjetischer Verschwörungstheorie geprägt: "Nicht ausszuschließen ist in der Tat, daß die Organisatoren der Provokation gegen Pjatnickij mit Hitlers Geheimdienst in Verbindung standen. Auch eine Teilnahme von Emigrantenorganisationen, über deren Kampf gegen die Komintern dokumentarische Materialien vorliegen, kann nicht von der Hand gewiesen werden" (ebd., S. 43). 9 Die Verhaftungen von polnischen Kommunisten in Moskau setzen schon 1933 (J. Czeszejko-Cohacki, W. Wrublewski, T. Zarski, L. Purmann) ein. Der Vorwurf der "Verbindung" zur "Polnischen Militärorganisation" (POW) wird auch in Artikeln der "Kommunistischen Internationale" wiederholt und richtet sich in zahlreichen NKWD-Verfahren gegen Vertreter der "Mehrheit" und der "Minderheit". Die ZKMitglieder und Theoretiker (A. Warski, M. Horwitz, M. Koszutska, E. Prochniak) bis hin zum Generalsekretär J. Leszyinski (Lenski) wurden wie nahezu alle der in die UdSSR emigrierten Mitglieder der KP Polens (über 5000 Personen) verhaftet und als "polnische Spione" und als fiktive Mitglieder der "POW" zum Tode verurteilt. 10 Sohn, Ole: Fra Folketinget til celle 290. Arne Munch-Petersens skaebne, Kopenhagen 1992. 11 Am nächsten Tag (28. 7.1938) wird Pjatnitzki vom Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR nach einer zwanzigminütigen Sitzung um 18 Uhr zum Tode verurteilt. Am selben Tag legte Jeshow Stalin eine Liste der zu Erschießenden vor, auf der u.a. Pjatnitzki und Knorin vermerkt sind.

Der Fall des „Antikomintem-Blocks"

- ein vierter Moskauer

Schauprozeß?

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"Verbindungen" zu den Angeklagten der drei großen Schauprozesse hergestellt wurden. Pjatnitzki wird in der offensichtlich schnell fabrizierten Anklageschrift beschuldigt, sowohl im Auftrag der Angeklagten des "Zentrums des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks" (1. Schauprozeß) gehandelt, wie zu Radek (2. Schauprozeß) und zu Bucharin (3. Schauprozeß) "verbrecherische Verbindung" unterhalten zu haben. Jeshow und seinen NKWD-Untersuchungsführern Lanfang und Poljatschek erschien der jahrelang für die Anleitung der westeuropäischen Parteien und für deren Finanzierung zuständige Komintern-Funktionär Pjatnitzki als "missing link" für bisherige Prozesse wie als Hauptangeklagter für einen weiteren Prozeß geeignet. Pjatnitzki wie auch die beiden anderen Hauptangeklagten Knorin und Kun sollten in diesem Verschwörungskonstrukt den bereits verurteilten Radek angeleitet und die "Verbindung" zu Trotzki und dessen "Finanzierung" durch den Leiter der "Abteilung für internationale Verbindung" Abramow-Mirow durchgeführt haben. Wie in den drei Moskauer Schauprozessen (1936, 1937, 1938) und in zahllosen anderen Geheimverfahren wurde die "Verbindung" zu Trotzki und der behauptete Erhalt von "Weisungen" Trotzkis zum fiktionalen "Kern" der "Anklageschrift" gegen Pjatnitzki. Durch den "Verräter" Trotzki wurde in den NKWD-Verschwörungsphantasien die "Verbindung" zu den Regierungen Japans, Deutschlands, Englands hergestellt, der "trotzkistische Gestapo-Agent" und der "deutsch-japanische terroristische Spion" konnten als Amalgam des inneren und äußeren Feindes 12 präsentiert werden. Neben dem üblichen Spionage- und Terrorkonstrukt begegnet in der "Anklageschrift" aber auch der ideologisch-politische Vorwurf der "Desorganisation" von Komintern und kommunistischen Parteien, der Vereitelung der öffentlich inszenierten, aber auch durch den "Großen Terror" längst dementierten "Einheits- und Volksfront". Wie auch in der vorauseilenden Parteifeme einzelner und in den Dossiers der Kaderabteilung13 werden "rechte" und "linke" Häretiker zu einer angeblich 1932 in der Komintern von "Trotzkisten und Rechten" gegründeten "faschistischen und Spionageorganisation" zusammengebracht: "1937 wurde vom 3. Referat der 1. Hauptverwaltung des NKWD eine faschistische und Spionageorganisation der Trotzkisten und Rechten in der Komintern entdeckt und liquidiert. [...] Im Verlauf der Untersuchung wurde festgestellt, daß einer der Leiter dieser antisowjetischen Organisation PJATNITZKI Jossif Aronowitsch war. Durch die persönlichen Aussagen PJATNITZKIS sowie durch eine Reihe der Aussagen anderer Mitglieder der Organisation ließ sich folgendes feststellen: Die faschistische und Spionageorganisation der Trotzkisten und Rechten in der Komintern ist 1932 entstanden und hat ihre antisowjetische Arbeit entsprechend den Anweisungen des Zentrums des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks betrieben. Im Auftrage dieses Zentrums leitete die antisowjetische Organisation in der Komintern tagtäglich RADEK an, mit dem PJATNITZKI mit Hilfe von ABRAMOW-MIROW /ehem. Leiter des EKKl-Nach12 Die Verknüpfung des "inneren" und des "äußeren" Feindes zu einem Amalgam gehörte seit Robespierre zum ideologischen Instrumentarium des Terrors, der als "Emanation der Tugend" gerechtfertigt wird. 13 Sowohl in den "sprawkas" der Kaderabteilung wie auch in "Mitteilungen" einzelner begegnet dieses Konstrukt eines "parteifeindlichen" Rechts-Links-Blocks. Als Matrix für diese Konstrukte, die aus persönlichen Freundschaften von ehemaligen "Abweichlern" Verschwörungen machten, dienten auch die von den Kadern internalisierten Reden Stalins. Vgl. z.B. Politischer Rechenschaftsbericht an den XVI. Parteitag, in: J. W. Stalin. Werke, Berlin 1954, Bd. 12, S. 312-316.

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richtendienstes/einer der Leiter der antisowjetischen Organisation in der Komintern/ verbunden war. Außerdem war PJATNITZKIpersönlich und mit Hilfe RADEKS mit TROTZKI verbunden, den er aus den Mitteln der Komintern finanzierte, ihm ganz geheime Information über die Arbeit des EKK1 und der Bruderparteien übergab und mit Hilfe RADEKS Richtlinien über die Zersetzungsarbeit innerhalb des EKKI erhielt. PJATNITZKI hat eingestanden, gewußt zu haben, daß TROTZKI die von ihm erhaltene Information über die Tätigkeit der Komintern an die Regierungen Japans, Deutschlands, Englands und anderer Länder weitergab. Außer der Verbindung mit dem Zentrum des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks hielt PJATNITZKI ständige verbrecherische Verbindung mit BUCHARIN, von dem er Information über die Tätigkeit des Zentrums der Rechten zur Vorbereitung des Aufstandes gegen die Sowjetregierung sowie darüber erhielt, daß TROTZKI mit den Regierungen Deutschlands und Japans über die bewaffnete Unterstützung der Verschwörer zum Zeitpunkt des beabsichtigten Aufstandes Verhandlungen führt. PJATNITZKI hat seinerseits BUCHARIN über die Arbeit der antisowjetischen Organisation im EKKI informiert. Die faschistische und Spionageorganisation der Trotzkisten und Rechten innerhalb der Komintern betrieb in ihrer alltäglichen Arbeit Spionage zugunsten ausländischer Nachrichtendienste, die Vorbereitung von Terrorakten gegen die Führer der Partei und der Sowjetregierung und desorganisierte die Arbeit der kommunistischen Bruderparteien und der internationalen proletarischen Organisationen, um die Einheits- und Volksfront gegen Faschismus und Kriegsgefahr zu vereiteln. PJATNITZKI hat zusammen mit einem anderen Mitglied der Organisation WASSILJEW den Terrorakt gegen den ZK-Sekretär der KPdSU(B) und den Volkskommissar für Verkehrswesen der UdSSR L. M. KAGANOWITSCH ausgearbeitet und versucht, ihn zu verüben." Auch in einzelnen NKWD-Anklageschriften wie in der gegen Hermann Remmele (15.2. 1939) findet sich die immer wiederkehrende Formel, die von der NKWD-Hauptverwaltung, der Moskauer Gebietsverwaltung des NKWD, vom Militärkollegium wie von NKWD-Troikas als "Matrix" in den Verhören, Anklageschriften und Urteilen benutzt wurde: "Durch die Hauptverwaltung für Staatssicherheit wurde die im System der Komintern existierende, von PJATNITZKI, KNORIN und Bela KUN geleitete antisowjetische Spionage- und trotzkistische Organisation liquidiert, die sich den Kampf gegen die Führung der Komintern und des ZK der KPdSU(B) zur Aufgabe gestellt hatte. Durch die Untersuchung wurde festgestellt, daß einer der aktiven Mitglieder der Spionage- und trotzkistischen Organisation REMMELE Hermann Petrowitsch ist." Zur Inszenierung eines weiteren Schauprozesses, für die Fabrikation eines "international" agierenden "Netzes" von fiktiven "trotzkistischen Konterrevolutionären", "faschistischen Spionen", von "Terroristen", "Diversanten" und "Schädlingen" mußten den NKWD-Untersuchungsführern die ehemaligen Komintem-und KPD-Funktionäre als nahezu ideale "Feindobjekte" erscheinen. Eine vom NKWD 1940 angefertigte Übersicht 14 zu den bereits ver14 Diese Zahl umfaßt aber noch nicht alle Personen, die außerhalb des Verfahrens 9781 in Einzel- oder Gruppenprozessen als "Mittäter" benannt oder die in Folterverhören aufgelistet wurden. Der 10. Aktenband des Falles 9871 (Juli 1940) umfaßt 316 Seiten und stellt durch weitere Auszüge aus zahlreichen anderen Anklageschriften und durch Dossiers weitere "Verbindungen" zu anderen Verhafteten und Verurteilten her. Die bürokratische Operationalisierung der "Kontaktschuld" zeitigt in den NKWD-Verfah-

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urteilten Personen, die in den elf Bänden der Strafsache Nr. 9871 erwähnt werden, verzeichnete nahezu 100 Personen. Solche in mehrere Rubriken untergliederten Verzeichnisse dienten den NKWD-Untersuchungsführern auch in anderen "Fällen" dazu, neue "Verbindungen" zwischen bereits zum Tode Verurteilten und den Beschuldigten zu konstruieren. Nicht nur die Aktenübersicht wurde dadurch erleichtert, sondern solche Übersichten bildeten ein "Drehbuch" für weitere Inszenierungen, die durch die synergetischen Effekte der Kontaktschuld, der "Verbindung" produziert wurden. Hannah Arendt beschrieb jenes selbstreferentielle Prinzip der totalitären Verfolgungsbürokratien: "Der moderne Traum der technisierten Polizei unter totalitären Bedingungen ist ungleich fruchtbarer; sie träumt davon, mit einem Blick auf die Riesenkarte der Bürowand ausfindig machen zu können, wer zu wem Beziehungen hat; und dieser Traum ist grundsätzlich nicht unerfüllbar, er ist nur etwas schwierig in seiner technischen Ausführbarkeit. "15 Von der unter den Sammelbezeichnungen "Antikomintern-Block" oder "rechtstrotzkistische Antikomintern-Organisation" figurierenden und ständig expandierenden Serie von Verhaftungen und Urteilen der NKWD-Troikas und des Militärkollegiums des Obersten Gerichts der UdSSR waren betroffen: - ehemalige Sekretäre des Exekutivkomitees der Komintern (Josif Pjatnitzki'6, Wilhelm Knorin 17 , Bela Kun 18 ), die nach dem VII. Weltkongreß der Komintern als "Sündenböcke" für die gescheiterte, "sektiererische Linie" abgeschoben wurden; -die Leiter der Abteilung für Internationale Verbindungen (OMS) des EKKI (Jakow Mirow-Abramow bis 1935 und sein Nachfolger als OMS-Leiter Boris N. Müller); -Leiter und Mitarbeiter der Kaderabteilung des EKKI (Anton Krajewski, Moissej Tschernomordik, Georg Brückmann, Grete Wilde); -Mitarbeiter des Komintern-Apparates und Gehilfen von Sekretären des EKKI (Lajos Magyar, Boris Wassiljew, Grigori Smoljanski, Heinrich Meyer); -ehemalige rechts- und linksoppositionelle, degradierte KPD-Funktionäre, (z.B. die als "linke Sektierer" stigmatisierten Heinz Neumann, Hermann Remmele, Leo Flieg und die rechtsoppositionellen "Versöhnler" Hugo Eberlein, Heinrich Süßkind, Hans Bloch, Heinrich Kurella, Hans Knodt, Erich Birkenhauer); - Schauspieler der "Kolonne Links" (z.B. Erich Ahrendt, Helmuth Damerius, Karl Oefelein);

ren synergetische Effekte, die sich "aktenintern" gegen immer neue, selbstreferentiell produzierte "Feinde"und "Spione" richten. 15 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. München 1986, S.670. 16 Der legendäre Altbolschewik Pjatnitzki, Mitglied des EKKI-Präsidiums, in den zwanziger Jahren in der Komintern als "graue Eminenz" u.a. verantwortlich für die Finanzierung der Kommunistischen Parteien, war bis zu seiner Verhaftung ZK-Mitglied und nur mehr Leiter der administrativen Abteilung des ZK der KPdSU. 17 Der in Lettland geborene Wilhelm Knorin war nach dem VII. Weltkongreß nur mehr stellvertretender Leiter der Propaganda- und Agitationsabteilung des ZK der KPdSU. Er wurde in der Anklageschrift noch zusätzlich als "Leiter der lettischen nationalistischen Organisation", als "Agent des polnischen Nachrichtendienstes" und Teilnehmer der "belorussischen nationalen Opposition" beschuldigt. 18 Bela Kun, Kommissar in der ungarischen Räterepublik, seit 1921 und dann erneut seit 1931 Mitglied des Präsidiums des EKKI und Sekretär, seit Sommer 1936 Direktor eines Moskauer Verlages,

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- Leiter und ehem. Mitarbeiter des M-Apparates der KPD (z.B. Hans Kippenberger, Albert Zwicker); - KPD-Funktionäre im Donbass und in Leningrad (z.B. Michael Sommer, Paul Dietrich); - Redakteure der Deutschen Zentral-Zeitung (Julia Annekowa, Oskar Deutschländer, Alois Ketzlik); - Mitarbeiter der Verlagsgenossenschaft Ausländischer Arbeiter (Otto Rittdorf, Franz Stamm, Nikolai Stark); - Kinder von deutschen Emigranten (z.B. Johann Beimler, Horst und Fridolin Seydewitz) und Jugendliche, von denen über 70 vom NKWD zu einer fiktiven Gruppe der "Hitler-Jugend" in Moskau vereint wurden; - Mitarbeiter und Bewohner des Heims der Politemigranten (z.B. der Invalide Joseph Selbiger, August Müller, Helmut König); - zahlreiche Arbeiter und Ingenieure in Moskauer Betrieben (z.B. Hans Altmann, Anton Erkelenz, Bernhard Hut, Karl Schröder, Fritz Palenschat), die zur "Hitler-Jugend" gerechnet wurden oder als eigene "Sabotagegruppe" figurierten; - Lehrer und Schüler der Lenin-Schule, der KUNMS und des Instituts der Roten Professur (z.B. Theodor Beutling, Heinz Altmann, Friedrich Stucke); - Funktionäre im Moskauer Thälmann-Club (z.B. Nikolai Stark, Ernst Steinbring). Die Verhaftungswellen im Apparat der Komintern wurden von Dimitroff und Manuilski am 10. Oktober 1937 in einem Brief an den Sekretär des ZK der KPdSU A. Andrejew bilanziert: "In der letzten Zeit haben die Organe des NKWD eine Reihe von Volksfeinden aufgespürt und eine weitverzweigte Spionageorganisation im Apparat der Komintern aufgedeckt. Als besonders 'ungesäubert' erwies sich die wichtigste Abteilung der Komintern: der Nachrichtendienst, der jetzt völlig aufgelöst werden muß. Die Neubildung dieser Abteilung durch neue, sorgfältig ausgewählte und überprüfte Mitarbeiter muß in Angriff genommen werden. Zwar weniger, aber auch ungesäubert erwiesen sich andere Teile des KominternApparates: Kaderabteilung, politische Berater der Sekretäre des EKKI, Sachbearbeiter, Dolmetscher, usw. "19 In den Verschwörungskonstrukten der NKWD-Untersuchungsführer konnten die Komintern und KPD-Funktionäre wie auch die "einfachen" Politemigranten schon allein durch ihre Einreise aus dem Ausland oder durch ihre "Verbindungen" mit dem Ausland, durch ihre Reisen als Komintern-Emissäre, durch ihre KZ-Haft und wegen ihrer Verhaftungen im westeuropäischen Ausland zu "Spionen" der deutschen Gestapo, des französischen, englischen, holländischen Geheimdienstes oder von nicht näher spezifizierten "ausländischen" Geheimdiensten deklariert werden. Präformiert wurde dieses Feindbild bereits in zahlreichen Kontroll- und Überprüfungsritualen 20 , denen sich die Emigranten in den Instanzen der MOPR, der Komintern, der KPD und der KPdSU zu unterziehen hatten. Über deren politische Biographien, Haftzeiten und Entlassungen aus KZ's und Zuchthäusern, über ihre "Verbindungen" in der Sowjetunion und mit dem Ausland wurden zudem mehrere NKWD-Abteilungen 19 RCCHIDNI, F.17, op.120, d.259, S. 33. 20 Vgl. dazu Müller, Reinhard: Unentwegte Disziplin und permanenter Verdacht. Zur Genesis der Säuberungen in der KPD, in: Neugebauer, Wolfgang (Hrsg.): Von der Utopie zum Terror. Stalinismusanalysen, Wien 1994, S. 71-95; ders.: Die Akte Wehner. Moskau 1937-1941, Berlin 1993.

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- z.B. die INO-Abteilung (Auslandsabteilung; 2. Hauptabteilung), die OPO-Abteilung (Operative Abteilung; 4. Hauptabteilung) - durch den ständigen Materialaustauch mit der Kaderabteilung des EKKI und dem ZK der MOPR informiert. Die Materialien dieser Abteilungen 21 standen den NKWD-Untersuchungsfiihrern auch in der Form von kurzen "Dossiers" zur Verfügung, die Informationen zu den politischen "Abweichungen" enthielten. Von zentraler Bedeutung für die Auslösung großer Verhaftungswellen, aber auch für die Verhaftung einzelner prominenter "Gegner" sind persönliche Direktiven Stalins und jene politischen Feindbilder, die in "Maßnahmen" des ZK der KPdSU und in Beschlüssen der Plenen des ZK der KPdSU vorformuliert wurden. In seinem Schlußwort auf dem ZK-Plenum im März 1937 hatte Stalin zur "Zerschmetterung und Ausrottung der japanisch-deutschen Agenten des Trotzkismus" aufgerufen. Während öffentlicher "tschistkas" und in klandestinen "Säuberungen" wurde Stalins Rede in die Verfolgungspraxis umgesetzt: "Ich glaube, jetzt ist es für alle klar, daß die heutigen Schädlinge und Diversanten, unter welcher Flagge, ob unter trotzkistischer oder bucharinscher, sie sich auch maskieren mögen, schon lange aufgehört haben, eine politische Strömung in der Arbeiterbewegung zu sein, daß sie sich in eine prinzipien- und ideenlose Bande berufsmäßiger Schädlinge, Diversanten, Spione, Mörder verwandelt. Es ist klar, daß diese Herrschaften schonungslos zerschmettert und ausgerottet werden müssen, als Feinde der Arbeiterklasse, als Verräter an unserer Heimat".22 Pjatnitzki wurde am 7. Juli 1937 verhaftet, nachdem er sich auf dem Juni-Plenum des ZK der KPdSU gegen Jeschows Massenterror und gegen neue Vollmachten für das NKWD persönlich gewandt hatte. Am 29. Juni 1937 hatte Stalin das ZK-Plenum mit den Worten beschlossen: "Was Pjatntzki betrifft, so ist eine Untersuchung im Gange. Sie soll in einigen Tagen abgeschlossen sein". 23 In einem Gespräch mit Dimitroff hatte Stalin am 11. Februar 1937 das von großrussischem Nationalismus und paranoidem Verschwörungsdenken geprägte Feindbild skizziert: "Ihr alle in der Komintern arbeitet dem Feind in die Hände". Noch dezidierter und drohender äußerte sich NKWD-Chef Jeshow gegenüber Dimitroff: "In der Kommunistischen Internationale bauten sich die größten Spione ein Nest". 24 Am 7. November 1937 sagte Stalin zu Dimitroff, mit dem er zusammen auf der Tribüne des Lenin-Mausoleums stand: "Man muß mit der Aufdeckung der entdeckten Tatsachen über die konterrevolutionäre Tätigkeit (Verhaftungen etc.) in der KPdSU(B) und in der Komintern noch abwarten, bis all die notwendigen Dokumente ausgearbeitet sind. Es lohnt sich nicht, darüber bruchstückhaft zu informieren. Knorin ist polnischer und deutscher 21 Vgl. z.B. die Liste der von der Komintern an das NKWD zu Erich Birkenhauer übersandten Materialien, Gesamtumfang 93 S., Liste abgedr. in: Müller, Reinhard: Die Akte Wehner. Moskau 1937-1941, Berlin 1993, S. 318f. 22 J. W. Stalin: Über die Mängel der Parteiarbeit und die Maßnahmen zur Liquidierung der trotzkistischen und sonstigen Doppelzüngler, Moskau 1937, S. 34. 23 Zit. nach Starkow, a.a.O, S. 1300. Die angekündigten Publikationen der Protokolle der ZK-Plenen werden nicht nur die Hintergründe der Verhaftung Pjatnitzkis näher erhellen. 24 Tagebuch Dimitroffs, zit. nach Firsow, Friedrich: Die "Säuberungen" im Apparat der Komintern, in: Kommunisten verfolgen Kommunisten. Stalinistischer Terror und "Säuberungen" in den kommunistischen Parteien Europas seit den dreißiger Jahren. Hrsg. von Hermann Weber und Dietrich Staritz in Verb. m. Siegfried Bahne u. Richard Lorenz, Berlin 1993, S. 47.

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Spion (schon lange und bis in die letzte Zeit)... Pjatnitzki ist Trotzkist. Alle sagen über ihn aus (Knorin u.a.). Kun handelte zusammen mit den Trotzkisten gegen die Partei. Höchstwahrscheinlich ist er auch in Spionage verwickelt. "25 Die hier von Stalin vorgeschlagene "Ausarbeitung"26 der "notwendigen Dokumente" meinte, daß das NKWD mit neuen erfolterten "Geständnissen" das Konstrukt des "Antikomintem-Blockes" noch verbessern müsse. Die "Säuberungen" und Verhaftungen im Apparat der Komintern 27 wurden sowohl von der Kaderabteilung wie auch vom Parteikomitee im EKKI-Apparat durch enge Kooperation mit dem NKWD, z.B. durch das Aufstellen von Listen von "Personen, die früher anderen Parteien angehörten, trotzkistische und rechte Abweichungen und Parteiverweise hatten", befördert. Neben Stalins häufig praktizierten Eingriffen in die Vorbereitung und Durchführung von Schauprozessen sind es Beschlüsse des ZK der KPdSU, die auf Initiative Stalins oder mit seiner Zustimmung gefaßt wurden, die Verhaftungswellen auslösten. Der 1937 vom Februar/März-Plenum des ZK der KPdSU gefaßte Beschluß "Die Lehren der Schädlingstätigkeit, Diversion und Spionage der japanisch-deutsch-trotzkistischen Agenten" 28 wurde in Parteiversammlungen des NKWD und durch operative Befehle in die bürokratisch organisierte Irrationalität des auf einzelne Opfergruppen gezielten wie auch des breit definierten Massenterrors verwandelt. Von mehreren operativen NKWD-Befehlen 2 ^ waren auch die deutschen Emigranten betroffen, die seit Sommer 1937 ebenso wie Polen und Letten als Angehörige von "nationalen Minderheiten" zu "antisowjetischen Elementen" und "Spionen" deklariert, nach vorgegebenem Plansoll verhaftet und in Schnellverfahren (Albumverfahren) zum Tode verurteilt wurden. Zu dieser vor allem in Betrieben und Clubs verhafteten Opfergruppe der "deutschen Spione, Saboteure und Diversanten" gehörten zahlreiche deutsche Arbeiter und Ingenieure, die in den Konstrukten des "AntikominternBlocks" als vom "Zentrum" angeleitete "Täter" in der Peripherie von Moskauer Betrieben "Spionage" und "Sabotage" betrieben. Unter diesen Verhafteten wurden vom NKWD auch die jugendlichen "Terroristen" ausgemacht, die nach dem Muster der großen Schauprozesse "Anschläge" gegen Stalin, Molotow etc. planten und zu einer fiktiven Organisation der "Hitler-Jugend" 30 zusammengefaßt wurden. In zahlreichen Verhören und in einzelnen Anklageschriften des "Antikomitern-Blockes" zielte das NKWD nicht zuletzt darauf, jene in den ersten beiden Schauprozessen hervorgetretenen Pannen in der "Beweisführung", die in der ausländischen Berichterstattung zu kri25 Eintragung in Dimitroffs Tagbüchern. Zit. nach einem unveröff. Manuskript von Friedrich Firsow. 26 Bereits im Prozeß gegen die "Industriepartei" und gegen die "Menschewiki" griff Stalin in die Vorbereitung der Prozesse persönlich ein. In einem Brief (Oktober 1930) an den OGPU-Chef Menshinskij legte er die "Vorwürfe" fest und ordnete die Folter an. Vgl. dazu: Rokitjanskij, Jakow/Müller, Reinhard: Krassny dissident. Akademik Rjasanov: opponent Lenina - schertwa Stahna, Moskau 1996. 27 Vgl. dazu Firsow, "Säuberungen" (Anm. 24), S. 37-51. 28 Veröffentlicht in: Voprosy istorii, 1995, H.2., S.22-26. 29 Diese operativen Befehle des NKWD (z.B. der operative Befehl 00447 vom 30. Juli 1937) werden in der geplanten Publikation zum "Antikomintern-Block" veröffentlicht. Auszüge in: Ne predat' Zabveniju. Knig pamjati repessirvannych v 30-40-e i nacale 50-och godov, svjazannych su' bami s Jaroslavskoj oblast'ju. Jroslavl' 1993, S. 18-21. Allein dieser "operative Befehl" des NKWD umfaßt 19 Seiten. 30 Vgl. dazu: Dehl, Holger/Mussienko, Natalia: "Hitlerjugend" in der UdSSR? Zur Geschichte einer Fälschung, in: Neues Leben, 1994, Nr. 29, 30, 31.

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tischen Demontagen der Schauprozesse geführt hatten, durch die erfolterten "Aussagen" neuverhafteter "Täter" zu beheben. So wurde in mehreren "Protokollen" von Verhören durch die NKWD-Untersuchungsführer den Opfern (z.B. Hugo Eberlein) immer wieder die "Verbindung" zu Trotzki in Norwegen und dessen Sohn Leo Sedow in Berlin und Kopenhagen zugeschrieben oder die Finanzierung von "trotzkistischen Gruppen". Auch die Vorbereitung eines möglichen Prozesses gegen Willi Münzenberg, der sich in Paris weitsichtig weigerte, nach Moskau zu fahren, gehörte zu den Intentionen der NKWD-Untersuchungsführer, die das international verzweigte Netz des "Antikomintern-Blockes" entwarfen. So wird im fabrizierten "Protokoll" eines von Leo Flieg erfolterten "Geständnisses" der "Münzenberg-Konzern" zur Machination des "deutschen Nachrichtendienstes": "Ich bin deutscher Spion. Viele Jahre hindurch fiihrte ich einen Kampf gegen die KPD, gegen die Komintern und die Sowjetunion, ich arbeitete laut den Anweisungen des deutschen Nachrichtendienstes. In der letzten Zeit trieb ich meine auf die Zerstörung der KPD gerichtete verräterische Arbeit und meine Spionagetätigkeit gegen die Komintern und die UdSSR zugunsten des faschistischen Deutschlands, mit dessen Nachrichtendienst ich durch ein Mitglied des ZK der KPD, Wilhelm Münzenberg, verbunden war. [...] In meinen Aussagen will ich der Untersuchung nicht nur über meine verräterische Spionagetätigkeit erzählen, sondern ich will auch alle mir bekannten Informationen über die Tätigkeit des ganzen Systems des deutschen Nachrichtensdienstes mitteilen, das sich hinter dem Deckmantel vieler Unternehmen, die unter dem Namen 'Münzenberg Konzern' bekannt sind, verbirgt." Wie alle anderen Verhafteten, die den systematischen Folterungen ausgeliefert waren, wurde Leo Flieg auch noch gezwungen, seine Bekannten und seine "Mittäter" in Moskau und Paris aufzulisten. Solche Listen von "Verbindungen" gehörten zum Standardrepertoire der Verhöre des NKWD, führten jedoch nicht in allen Fällen zur automatischen Verhaftung3 1 der genannten Personen. Für die gezielte Auswahl von bereits politsch stigmatisierten Opfern konnten die verschiedenen NKWD-Abteilungen neben ihren eigenen Archiven und Kartotheken auf die jahrelange Kooperation mit der Kaderabteilung des EKKI zurückgreifen. Durch diese Kooperation verfügte das NKWD auch über Sammellisten von "schlechten Elementen unter den Deutschen", über Dossiers und Spitzelberichte zu früheren "Abweichungen" von KPdSUund KPD-Mitgliedern. Zahlreiche "seksots", die als verpflichtete NKWD-Mitarbeiter unter Decknamen "Agentur-Material" beitrugen, wie auch beflissene Denunziationen an Kaderabteilung und NKWD präformierten bei ehemaligen "Abweichlern" die spätere Verhaftung. Neben der heimlichen Denunziation wurde in öffentlichen Strafritualen, in Partei-Betriebsversammlungen, in formalisierten "tschistkas" wie in geschlossenen Parteiversammlungen der "Parteifeind", der "Doppelzüngler" ausfindig gemacht. Ein bereits im Januar 1935 verschickter geheimer Rundbrief des ZK der KPdSU zielte auf die Entlarvung des maskierten "Doppelzünglers", der als "Spion uns feindlicher Kräfte" nicht nur aus der Partei ausgeschlossen, sondern "verhaftet und isoliert" 32 werden muß. 31 Außer Flieg wurde keines der in vielen Verhörprotokollen und "Meldungen" genannten ZK-Mitglieder, die 1935 auf der "Brüsseler Konferenz" gewählt worden waren, verhaftet. Anders als in der KP Polens verlieh die Funktion innerhalb der nun "herrschenden" KPD-Führung den Schutz vor Verhaftung. 32 Zit. in: Schauprozesse unter Stalin. 1932-1952, Berlin 1990, S. 210-222. Noch vor Beginn des ersten Moskauer Schauprozesses wurde in einem weiteren Rundschreiben des ZK der KPdSU die "terroristi-

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Ins Visier der Kaderabteilung und des NKWD gerieten besonders jene KPD-Mitglieder, die aus KZ-Haft und Gestapo-Gefängnissen entlassen worden waren. Sie wurden nach der erlittenen Gestapo-Folter in Moskau erneut "Untersuchungen"33 durch die Kaderabteilung unterworfen, deren abstruse Schuldvorwürfe und Verdächtigungen an das NKWD weitergegeben wurden. So wurden z.B. Werner Hirsch, Willy Budich, Walter Dittbender und Heinrich Meyer von den Untersuchungsführern des NKWD mit dem Vorwurf des in der Haft angeworbenen "Gestapo-Agenten" überzogen. Während der NKWD-Verhöre wurde Georg Brückmann, der 1930 kurzzeitig in Berlin inhaftiert war, zu dem "Geständnis" gezwungen, daß ihn die Berliner Politische Polizei angeworben habe. Bis zu seiner Verhaftung 1937 hatte Brückmann als Referent in der Kaderabteilung selbst zahlreiche solche Beschuldigungen an das NKWD gerichtet. Georg Brückmann wie auch Walter Dittbender, der Leiter der Politemigrantenabteilung des ZK der MOPR, entsprachen durch ihre Tätigkeit in Moskau den expansiven Verfolgungsintentionen der NKWD-Untersuchungsführer, da sie mit allen "Politemigranten" bei der Einreise oder bei "Überprüfungen" in "Verbindung" getreten waren. Durch die Einbeziehung dieser Schleusen- und Kontrollfunktionäre als Angeklagte des "Antikomintern-Blocks" konnten alle Emigranten, die aus Deutschland nach Moskau kamen, zu "faschistischen Spionen" gemacht werden, die von den "Gestapoagenten" Brückmann 34 und Dittbender angeworben und in die UdSSR eingeschleust wurden. Der frühere Thälmann-Sekretär Heinrich Meyer, in Moskau "Gehilfe" von Wilhelm Florin, dem Vorsitzenden der Internationalen Kontrollkomission der Komintern, wurde vom NKWD innerhalb des "Antikomintern-Blocks" zum "Gestapo-Residenten" erklärt. Durch den Vorlauf von "Säuberungen" im Komintern-Apparat und in der KPD, durch die inquisitorischen Prozeduren von "Überführungen" und "Untersuchungen"35 waren besonders alle jene Funktionäre gefährdet, die als "Abweichler" vor und nach dem VII. Weltkongreß degradiert worden waren. Walter Dittbender schilderte während eines NKWD-Verhörs die Zusammenarbeit mit dem NKWD: "Die Methode des 'Doppelzünglers' wurde für die Mitglieder unserer Organisation zu einer Art System der persönlichen Sicherheit. Die Mehrheit der deutschen Kommunisten waren Funktionäre der Komintern, der MOPR und anderer Parteiorgane in der UdSSR. In diesem oder jenem Grade waren sie alle mit den NKWD-Organen verbunden, mit denen sie die wichtigsten Fragen abstimmten, insbesondere die mit der Auslandsarbeit unserer Kommunisten zu tun hatten. Seit März 1936 und während des gansche Tätigkeit" des "trotzkistisch-sinowjewschen konterrevolutionären Blocks" beschrieben. Das streng geheime Schreiben schließt mit dem Aufruf zur Denunziation: "Eine unverzichtbare Eigenschaft jedes Bolschewiken muß die Fähigkeit sein, den Feind der Partei aufzuspüren, wie gut er sich auch tarnen mag" (ebd., S. 251). 33 Vgl. z.B. die Untersuchung gegen Werner Hirsch, die ab Juli 1935 von einer Troika (Grete Wilde, Heinrich Meyer, Herbert Wehner) durchgeführt wurde. Nach diesen mehrmonatigen parteiamtlichen "Untersuchungen", die zu einer "strengen Parteirüge" führen, wird Werner Hirsch am 4.11.1936 verhaftet. Vgl. dazu Müller, Zenzl Mühsam (Anm. 6), S. 32-35. 34 Brückmann hatte als "Albert Müller" in mehreren Artikel in der "Kommunistischen Internationale" unter dem Vorzeichen der "Wachsamkeit" diese Argumentation des "Gestapospitzels" entwickelt. Vgl. auch Koch, Josef: Der Kampf gegen Spitzelei und Provokation: Die Methoden der Politischen Polizei im faschistischen Staat, Moskau/Leningrad 1935. 35 Vgl. dazu Müller, Reinhard: Permanenter Verdacht und "Zivilhinrichtung". Die Genesis der "Säuberungen" in der KPD, in: Kommunisten verfolgen Kommunisten (Anm. 24), S. 243-264.

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zen Jahres 1937 beteiligte ich mich als Sekretär an der Überprüfung der Parteidokumente der Mitglieder der deutschen Sektion der Komintern. Durch die Kommission wurden etwa dreitausend Kommunisten untersucht. Es gab über viele von ihnen ziemlich ernsthafte negative Materialien entweder über die frühere oppositionelle Tätigkeit oder über die Zugehörigkeit zu Geheimdiensten". 36 Ihre Häresien waren für die Untersuchungsführer des NKWD in kurzen Dossiers (sprawka) aufbereitet und gerieten in den erfolterten "Geständnissen" zu einer Chronik der kriminalisierten Abweichungen, in der sich wie in einer "camera obscura" die Realgeschichte der Fraktionskämpfe und die vorgegebenen Amalgame des NKWD vermischten. Sowohl NKWD-Untersuchungsführer wie auch KPD-Funktionäre benutzten in den erfolterten und vorfabrizierten "Verhörprotokollen" und in "Geständnissen" die Sprachregelungen und Zuschreibungen des Parteidiskurses (Sektierer, Versöhnler, Trotzkist). Dieses destillierte parteiamtliche Feindbild konnte als feststehendes "script" durch die Verknüpfung mit dem Artikel 58 des sowjetischen Strafrechts noch weiter von der konstruierten "Wirklichkeit" entkoppelt worden. Die Irrealität der stalinistischen Justizphantasien, die Fiktionalität ihrer Feindbilder und Verschwörungssyndrome spiegeln sich auch in Hannah Arendts Feststellung: "Die russische Geheimpolizei hat es verstanden, alle Faktoren der Wirklichkeit aus der Anklage zu eliminieren, so daß dem Angeklagten in seiner kompletten Isolierung von der Realität schließlich nichts mehr wirklich erscheint als die innere Logik, die Stimmigkeit der Fabel selbst." 37 Wie aber jetzt in zahlreichen NKWD-Dokumenten, in verzweifelten Briefen an den "Werten Genossen Stalin" aus dem GULag, aus der Lubjanka und aus der Butyrka deutlich wird, wurde diese "Stimmigkeit der Fabel" durch brutalste Foltermethoden hergestellt. Wohl kaum um einen "letzten Dienst an der Partei" zu leisten, sondern nach brachialen Folterprozeduren wurde Hugo Eberlein zu folgendem "Geständnis" gezwungen: "Während meiner ganzen Zugehörigkeit zur Kommunistischen Partei Deutschlands, d.h. seit 1918, habe ich mich an der auf die Zersetzung der KP Deutschlands und danach der Komintern gerichteten parteifeindlichen Tätigkeit systematisch beteiligt. Ich habe 19181919 gegen die Gründung der Kommunistischen Internationale aktiv gekämpft. Ich habe 1920 auf dem Heidelberger Parteitag trotz Direktiven Lenins in der Partei spalterische Arbeit aktiv betrieben. 1923 habe ich zusammen mit BRANDER38 den Kampf gegen die KPdSU(B) und die Komintern organisiert, wobei der Vorwand dafür die Forderung nach mehr Selbständigkeit der einzelnen Sektionen der Komintern war. 1926 [/ R.M.] wurde in der KPD unter meiner aktiven Beteiligung die sogenannte "Mittelgruppe " geschaffen, die die Eroberung der Führung in der KP Deutschlands durch die trotzkistisch-sinowjewistische RUTH-F1SCHERMASLOW-Gruppe ermöglicht hat. Dann wurde die "Mittelgruppe" wiederum unter meiner 36 Diese "Zugehörigkeit zu Geheimdiensten" wurde sowohl in der "Untersuchungskommission" wie im NKWD aus der früheren Verhaftung oder aus der KZ-Haft konstruiert. Auch in der Anklageschrift gegen Dittbender wird dieser "Vorwurf" erhoben: "Dittbender wurde während der Haftzeit im Konzentrationslager durch einen ausländischen Geheimdienst angeworben und in das Territorium der Sowjetunion geschickt, um die trotzkistische und Spionagearbeit zugunsten eines der UdSRR feindlichen Staates zu organisieren". 37 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft. München 1986. 38 Gemeint ist Heinrich Brandler.

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Beteiligung eine illegale doppelzünglerische Organisation, die unter dem Namen der "Versöhnler" bekannt ist, die bis zur Gegenwart existierte und gegen die Komintern und die KPdSU(B) einen aktiven Kampf im Kontakt mit Trotzkisten führte. Als einer der Leiter der "Versöhnler" bin ich der Organisation der Rechten und Trotzkisten im System der Komintern beigetreten und wurde ein aktiver Teilnehmer ihrer verräterischen Arbeit. Unsere illegale Organisation, d.h. die von PJATNITZKI, KNORIN, B. KUN geleitete Organisation, war, insofern sie ziemlich breite Verbindungen in einigen kommunistischen Bruderparteien hatte, ein Stützpunkt des Moskauer Blocks der Rechten und Trotzkisten für den weltweiten Kampf gegen die Komintern, die KPdSU(B) und die Sowjetunion. Die Leiter unserer Organisation der Rechten und Trotzkisten PJATNITZKI, KNORIN und B. KUN haben ihren Vertrauensleuten die Direktive gegeben, alle aus der Komintern vertriebenen Elemente und Gruppen zur Zusammenarbeit heranzuziehen. Es wurden entsprechend dieser Direktive praktische Schritte unternommen, deren Ziel darin bestand, alle komintern- und sowjetfeindlichen Kräfte unter deutschen Emigranten in Paris zum gemeinsamen Kampf zu vereinigen. Es ist auf diese Weise ein Block entstanden, dem Brandleristen, die RUTH-FISCHER-MASLOW-Gruppe, die Versöhnler und die NEUMANNREMMELE-Gruppe beigetreten sind". Bei der Fabrikation von Anklageschriften wurden vom NKWD neben "Agenturmaterialien", d.h. Spitzelberichten, als "Königin der Beweise" die erfolterten "Geständnisse" von Verhafteten und bereits Erschossenen benutzt. In mehreren umfangreichen "Geständnissen" spiegeln sich zahlreiche Details der Komintern-Geschichte in der Brechung der NKWD-Optik, die auch die Opfer reproduzierten, wieder. Die Foltermethoden des NKWD zur Erzwingung solcher "Geständnisse", die seit 1937 offiziell sanktioniert waren, werden auch in einem Brief geschildert, den Hugo Eberlein 39 aus der Haftzelle an seine Lebensgefährtin Lotte Reutter schrieb. Dieser Brief wurde durch eine Wohnungsnachbarin an Wilhelm Pieck übergeben, d.h. die KPD-Führung war über die barbarischen Foltermethoden informiert: "Nach der Verhaftung saß ich bis zum 19.1.1938 ohne jegliches Verhör in Haft. Am 19. Januar 1938 begann das Verhör, das ununterbrochen zehn Tage und Nächte dauerte. Ich mußte ohne Schlaf und fast ohne Nahrung die ganze Zeit stehen. Das Verhör bestand in der Erhebung der sinnlosesten Anschuldigungen und wurde durch solche Faust- und Fußschläge begleitet, daß ich nur unter schrecklichsten Schmerzen stehen konnte. Die Haut platzte, in den Schuhen sammelte sich Blut. Einige Male wurde ich ohnmächtig. Dann fiel ich um und wurde abtransportiert. Als ich wieder zu mir kam, mußte ich sofort wieder stehen. Man verlangte von mir, ein Geständnis zu unterschreiben, daß ich Spion und Terrorist bin und daß ich für Piatnitzki den Block der Rechten und Trotzkisten organisierte. Davon ist kein Wort wahr. Ich weigerte mich, diese Anschuldigungen zu unterschreiben. Nach dem Verhör lag ich drei Wochen lang in meiner Zelle, weil ich nicht gehen konnte. Danach mußte ich während des Verhörs drei Tage und Nächte stehen. Auch diesmal weigerte ich mich, das Protokoll zu unterschreiben. 39 Hugo Eberlein, Mitbegründer der KPD, 1919-29 Mitglied der Zentrale und des ZK der KPD, Kandidat des PolBüros, 1928 als "Versöhnler" nach Moskau "kominterniert", Finanzrevisor der Komintern, Mitglied der Internationalen Kontrollkommission, wurde am 26.7.1937 verhaftet, vom Militärkollegium des Obersten Gerichts am 5.5.1939 zu 15 Jahren GULAG verurteilt, nach dem Aufenthalt im Lager wurde er am 30.6.1941 in Moskau zum Tod verurteilt und am 16. Oktober 1941 erschossen.

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Im April 1938 transportierte man mich ins Lefortowo-Gefängnis. Hier wurden alle Verhöre mit den schrecklichsten Verprügelungen begleitet, man prügelte mich wochenlang Tag und Nacht. Auf dem Rücken gab es kein Stück Haut, nur das nackte Fleisch. Auf einem Ohr konnte ich wochenlang nichts hören und auf einem Auge konnte ich wochenlang nichts sehen, weil die Blutgefäße im Auge verletzt wurden. Oft fiel ich in Ohnmacht. Inzwischen bekam ich Herzschmerzen und meine alte Krankheit, an der ich auch in meiner Jugend litt, das Asthma machte sich noch stärker bemerkbar. Es gab Tage, an denen man mir drei bis vier Morphiumspritzen verabreichte, aber danach wurden die Verprügelungen fortgesetzt. In einem solchen Zustand der Unzurechnungsfähigkeit begann ich unter dem Diktat der Untersuchungsführer allerlei Anschuldigungen zu schreiben. Ich gestand aber weder Spionage noch Terror. Nach einer solchen schrecklichen Tortur geriet ich für zwei Monate ins Krankenhaus. Ich schrieb einen Brief an das Politbüro des ZK der WKP(B) und ans EKKIPräsidium, in dem ich den Genossen mitteilte, daß die Protokolle kein Wort Wahrheit enthalten und beschrieb alle Umstände, die die Untersuchung begleiteten. Ich erhielt keine Antwort. Im Februar 1939 wurde ich zum zweitenmal ins Lefortowo-Gefängnis eingesperrt und man begann mit neuen Foltern. Einige Tage danach, am 5. Mai 1939, kam ich vor das Militärkollegium. Die Gerichtsverhandlung dauerte drei bis vier Minuten und ich wurde zu 15 Jahren Lagerhaft verurteilt. Ich wurde weder mit der Anklageschrift noch mit dem Urteil bekannt gemacht, weil mir kein Dolmetscher zu Verfügung stand. Ich war seltsamerweise nach diesem Urteil sogar froh, da die Prügeleien und die Folter aufhörten. Ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, daß die Partei Lenins diese schreckliche Ungerechtigkeit nicht zuläßt und daß der Tag nicht weit ist, an dem die Partei Gerechtigkeit und Wahrheit wieder herstellen wird. Ich hoffe, daß dieser Brief in Deine Hände gelangen wird." In einem Brief aus dem "Inneren Gefängnis" in der Lubjanka, den Georg Brückmann im November 1939 an Dimitroff richtete, werden nicht nur die Foltermethoden des NKWD deutlich, sondern der ehemalige Referent der Kaderabteilung rühmt sich nun als "Opfer" seiner vorbildlichen Kooperation mit dem NKWD. Zudem kann oder will sich der linientreue Georg Brückmann seine Verhaftung wiederum nur mit den offiziellen Feindbildern, nämlich durch die Tätigkeit von "antisowjetischen Elementen" im NKWD-Apparat erklären: "Meine Arbeit in der Sowjetunion, in der Komintern zeigte, daß ich mich nicht nur stets für die Generallinie der Partei einsetzte, sondern ihr half, die sich in die Partei eingeschlichenen Elemente unschädlich zu machen. Die Mitarbeiter der Kaderabteilung, die mit meiner Arbeit vertraut sind, müssen bestätigen, daß das NKWD von keiner anderen Sektion so viele Materialien erhielt wie von der deutschen. Meine Verhaftung wurde durch antisowjetische Elemente im Apparat des NKWD organisiert. Durch die Ihnen wahrscheinlich bekannten Methoden, die eines proletarischen Staates unwürdig sind und dem Willen der Partei nicht entsprechen, wurden die Protokolle fabriziert, in denen geschrieben stand, daß ich Terrorist und Spion bin. Nach meiner Verhaftung wurde ich während der ganzen Nacht in Anwesenheit von vier Untersuchungsführern so verprügelt, daß ich sieben Male bewußtlos wurde. Letzten Endes habe ich das unterschrieben, woran ich in meinem Leben nie gedacht und was ich nie getan habe..." Die öffentliche Aufführung eines weiteren Schauprozesses mit den Hauptangeklagten Pjatnitzki, Kun und Knorin, für den das NKWD noch weitere Komintern-Funktionäre und jugendliche "Täter" wie Gustav Sobottka jr. präparieren wollte, scheiterte jedoch wahr-

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scheinlich an der Standhaftigkeit von Pjatnitzki, der sich weigerte, die ihm vorgeschriebenen "Geständnisse" zu unterzeichnen. Ebenso wie Abramow-Mirow, der bereits im Mai 1937 verhaftet worden war, konnte Bela Kun durch Folter zu ausführlichen "Geständnissen" gezwungen werden. In dem 29 Seiten umfassenden "Geständnis" Kuns vom 31. Dezember 1937, das ihm vom auf Komintern-Funktionäre spezialisierten NKWD-Leutnant Osmolowski vorgegeben wurde, wird die fiktive Gesamtgeschichte 40 des Antikomintern-Blocks geliefert. Nach neun Monaten Haft und Folter machte Pjatnitzki am 14. April 1938 - also nach Beendigung des dritten Schauprozesses - ein für die NKWD-Zwecke kaum verwertbares erstes "Geständnis". Vom 14. April bis zum 27. Juli 1938 wurde daraufhin Pjatnitzki 73 mal verhört. Auch während dieser schwersten Foltern - über die der Mithäftling A. Tjemkin berichtete - weigerte sich Pjatnitzki, der vom NKWD auf höchste Weisung als Hauptangeklagter für einen eventuellen Schauprozeß gegen den "Antikomintern-Block in der Komintern" vorgesehen war, die "Geständnisse" zu unterzeichnen. Da die Hauptangeklagten für einen Schauprozeß, entweder weil sie sich weigerten, "Geständnisse" zu unterzeichnen oder nach den Foltern, nicht mehr präsentabel waren, wurden im Schnellverfahren Pjatnitzki, Bela Kun und Knorin angeklagt (28.7.1938) und nach der von Jeshow bei Stalin eingeholten Zustimmung erschossen. Die in Reserve gehaltenen "Mittäter" wurden nun vom NKWD - wie in anderen Fällen auch - in Einzelverfahren (z.B. Eberlein) und in Sammelverfahren wie im vorliegenden Fall Nr. 9871 weiter verhört und abgeurteilt. So wurden am 31. August 1938 die einzelnen Untersuchungsfälle gegen elf KPD-Funktionäre und Mitglieder von der 2. Abteilung der Verwaltung für Staatssicherheit der Moskauer Gebietsverwaltung des NKWD zu einem Fall Nr. 9781 vereinigt und an die 3. Abteilung, die parallel ermittelte, übergeben. Nach der Verhaftung Jeshows und der vorübergehenden "Lockerung" des Terrors widerriefen mehrere der in der Strafsache Nr. 9781 Beschuldigten ihre erfolterten "Geständnisse". Während eines NKWD-Verhörs (28.12.1938) beschrieb der 1915 geborene Gustav Sobottka (jr.) Details der Verhörmethoden und der Folterpraxis, die zu seinen "Geständnissen" geführt hatten: "Alle meinen Aussagen sind erlogen und stellen ein Ergebnis der physischen und moralischen Einwirkung der Untersuchungsführer KUSINS und anderer dar, mit denen zusammen er arbeitete. Ich habe mich nie konterrevolutionär betätigt, wurde am 4. Februar in der Straße verhaftet und direkt zum Verhör gebracht, das mehr als 15 Stunden dauerte und nur darin bestand, daß mich verschiedene Untersuchungsführer schreiend zwangen, über mich zu schreiben, sie nannten mich "Faschist", "Resident" und beschimpften mich unflätig. Als ich während des zweiten Verhörs konterrevolutionäre Tätigkeit verneinte, die ich nie betrieb, hat man begonnen, mich zu prügeln und forderte immer von mir, zu schreiben. Derartige Verhöre dauerten einige Tage. Während einer der Verhöre hat der Untersuchungsführer KUSIN einen Revolver an meine Brust mit der Forderung gesetzt, zu schreiben. Ein anderer Untersuchungsführer, der im Arbeitszimmer KUSINS arbeitete und rothaarig war (seinen Namen kenne ich nicht), hat auf meine Worte nach der Verprügelung

40 Er berichtete darin z.B. über die Bildung eines "deutsch-polnischen" Blocks durch J. Lenski und H. Neumann.

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geantwortet, daß ich über die konterrevolutionäre Tätigkeit nichts zu schreiben habe: 'Du wirst dir doch etwas ausdenken'. Diese Verhöre endeten damit, daß ich im Arbeitszimmer des Untersuchungsfiihrers KUSIN in einem äußerst fiirchtbaren Zustand, verprügelt, zerquält mir das Leben zu nehmen versuchte. Ich habe mir die Vene der linken Hand mit einem Glassplitter des zerbrochenen Lampenschirms zerschnitten, als der Untersuchungsführer in ein anderes Zimmer gegangen war. Ich habe deshalb versucht, Selbstmord zu begehen, weil ich fühlte, daß ich die Methoden der physischen Einwirkung nicht mehr aushalten könnte und dadurch gezwungen würde, etwas Verbrecherisches auszudenken, die Untersuchung auf einen falschen Weg zu lenken und dadurch dem Feind helfen würde. Danach wurde ich in die Krankenzelle des Taganskaja Gefängnisses eingeliefert. Am 9. März wurde ich wieder zum Verhör vorgeladen. Ich war in der Krankenzelle zur Schlußfolgerung gekommen, daß es notwendig sei, alles zu schreiben, was der Untersuchungsführer von mir verlangt. Es waren die Mitgefangenen mit gebrochenen Rippen und gebrochenem Rückgrat, die sich in der Krankenzelle befanden und mir dabei halfen, zu dieser Schlußfolgerung zu kommen. Am 9. März habe ich sofort begonnen, entsprechend dem Fragebogen des Untersuchungsführers KUSIN, zu schreiben und schrieb alle jene Aussagen, auf die sich das Protokoll vom 21. April stützt. Die von mir in der Krankenzelle gemachte Schlußfolgerung zwang mich dazu, bis jetzt eine falsche Haltung einzunehmen. Jetzt will ich nur die Wahrheit aussagen und bitte, mich zur Verantwortlichkeit heranzuziehen, weil ich mich und andere verleumdet habe. Ich schrieb, von BEUTLING einen Auftrag bekommen zu haben, im August 1937 einen Terroranschlag gegen Gen. MOLOTOW zu verüben, als er nach dem Empfang der aus Amerika zurückgekehrten TSCHKALOWS, BAIDUKOWS und BELJAKOWS zurückkehren wird. Ich habe weder diesen Auftrag noch den Revolver erhalten und konnte mich auf dem Triumfalnaja Platz nicht befinden, weil ich mich um diese Zeit im Urlaub im Kaukasus befand. Es läßt sich dadurch bestätigen, daß ich im August 1937 in verschiedenen Touristenheimen der Gesellschaft für proletarische Touristik und Exkursionen angemeldet wurde und mich in den Städten Naltschik, Such, Messias befand, auch andere Tatsachen in meinen Aussagen entsprechen nicht der Wirklichkeit. " Am 25.1.1939 beschloß der NKWD-Untersuchungsführer Treibmann, die Einzelverfahren gegen siebzehn Angeklagte in der Untersuchungssache Nr. 9871 zusammenzufassen. In der ersten Sammelanklageschrift vom 2. März 1939 werden nur mehr dreizehn Angeklagte benannt. Franz Stamm war am 2. März 1939 zum Tode verurteilt worden. Einige der siebzehn Häftlinge waren nach einem Brief Wilhelm Piecks (8.4.1939) an Berija 41 aus der Haft entlassen worden. Der Brief Piecks 42 , in dem er sich für die Freilassung von 16 Inhaftierten bei Berija bemühte, gelangte auch auf dem Instanzenweg in die Akten des Falles Nr. 9871. Er wurde in Auszügen auf einzelne Häftlinge verteilt und mit Auskünften des NKWD und der Komintern ergänzt. Willy Kerff wurde am 21. April 1939 aus der Haft entlassen, Paul Scherber am 13. Januar 1941. Heinz Altmann wurde wie Walter Dittbender am 2. März 41 Vgl. dazu Voßke, Heinz: Briefe Wilhelm Piecks an Georgi Dimitroff und D. S. Manuilski aus den Jahren 1937 bis 1942, in: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 31 (1989), S. 492-493. 42 Pieck hatte sich für die Freilassung von Gustav Sobottka jr bei Manuilski eingesetzt. Der Brief gelangte am 29.5.1940 zu den Akten im Fall Nr. 9781. Am 22.9.1940 verstarb Sobottka in der Haft.

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Reinhard Müller

1 9 3 9 z u m T o d e verurteilt. Valentin Hahne, der auf P i e c k s Liste fehlt, w u r d e 1 9 4 0 aus der UdSSR ausgewiesen. N a c h z a h l l o s e n Verhören und weiteren Gegenüberstellungen der gefolterten Häftlinge wurde v o n d e m M a j o r S c h u r a w l j e w , d e m Leiter der Untersuchungsabteilung der M o s k a u e r Gebietsverwaltung d e s N K W D , die erste Sammelanklageschrift in der S a c h e Nr. 9 8 7 1 verfaßt.

Dokument:

2.III.1939 ANKLAGESCHRIFT In der Untersuchungssache N 9871 In der Sache werden angeklagt:

1.

SCHULTE-SCHWEITZER Fritz Adamowitsch

nach 58 § 6 T. I, 8 u. 11 des Strafgesetzes der RSFSR

2.

MÜLLER Albert Ottowitsch

3.

BEUTLING Theodor Albertowitsch

4.

BODEN Hans Gustavowitsch

5.

KNODT-ANDER Hans Wilhelmowitsch

6.

BLOCH Hans Heinrichowitsch

7.

ROSE-ROSENKE Walter Eduardowitsch

8.

SCHERBER-SCHWENK Paul Paulewitsch

9.

HAHNE Valentin Heinrichowitsch

10.

STAFFORD Heinrich Heinrichowitsch

11.

SELBIGER Joseph Benjaminowitsch

12.

SCHARSCH-KASSLER Georg Karlowitsch

13.

FRANKE-STRÖTZEL Georg Gustavowitsch

Vom 3. Referat der Verwaltung für Staatssicherheit der Moskauer Gebietsverwaltung des NKWD wurde die in Moskau existierende deutsche konterrevolutionäre trotzkistische Terror- und Spionageorganisation aufgedeckt und liquidiert, die aus gegenüber der Komintern und den kommunistischen Parteien feindlichen Elementen bestand und die von einem ausländischen Nachrichtendienst für illegale trotzkistische, terroristische und Spionagetätigkeit ins Land gebracht wurden. Die Mitglieder dieser konterrevolutionären Organisation setzten sich zum Ziel, durch die Vorbereitung und Durchführung von Terrorakten gegen die Führer der KPdSU(B) und der Sowjetregierung sowie durch die Entfaltung von Diversions-, Schädlings- und Spionagearbeit den Sturz der sozialistischen Gesellschaftsordnung zu erreichen und den Machtantritt der Trotzkisten und Faschisten in der UdSSR herbeizuführen. (Bd.

Der Fall des „Antikomintem-Blocks

" - ein vierter Moskauer Schauprozeß?

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II, Sachbl. 58-59, 92, 93, 193-196, Bd. III, Sachbl. 72-78, 210-213, Bd. IV, Sachbl. 12-13, 172-174, Bd. V, Sachbl. 87-88 u.a.). Die überwältigende Mehrheit der Teilnehmer der konterrevolutionären Organisation - SCHULTESCHWEITZER, MÜLLER, BEUTLING, DITTBENDER (ist in dieser Sache 1939 verurteilt) und andere verichteten ihre praktische Arbeit im Kontakt mit einer der ausländischen Botschaften in Moskau, erhielten von ihr Geldmittel für die Entfaltung der Spionage- und Terrorarbeit in der UdSSR (Bd. 3, Sachbl. 204, Bd. 2, Sachbl. 110, 11, Bd. 4, Sachbl. 30 und 167). Durch die in dieser Strafsache hinsichtlich der Angeklagten SCHULTE-SCHWEITZER F. A., MÜLLER A. 0 . , BEUTLING T. A., BODEN H. G., ROSE-ROSENKE W. E„ BLOCH H. H., KNODT-ANDER H. W„ SCHEERBER-SCHWENK P. P., HANE V. HL, SELBIGER J. B„ STAFFORD H. H., SCHARSCHKASSLER G. K. und FRANKE-STRÖTZEL G. G. durchgeführte Untersuchung ist festgestellt, daß alle oben angeführten Angeklagten Teilnehmer der in Moskau existierenden deutschen konterrevolutionären Terrororganisation und die Angeklagten SCHULTE-SCHWEITZER, MÜLLER, BEUTLING und DITTBENDER (verurteilt) Führer dieser konterrevolutionären Organisation waren, die aktive konterrevolutionäre Arbeit betrieben, Pläne von Terrorakte gegen die Führer der KPdSU(B) und der Sowjetregierung (Müller, Beutling, Dittbender) sowie Diversions- und Schädlingspläne (Müller, Schreiber) ausführten, (der letztere ist in dieser Sache 1939 verurteilt), daß sie neue Mitglieder für diese konterrevolutionäre Organisation anwarben (Rose-Rosenke, Beutling, Boden) und die konterrevolutionäre Arbeit der letzteren anleiteten. (Bd. 2, Sachbl. 36, 37, 186-196, Bd. 3, Sachbl. 72-78, 165-166, 209-213, 232-233). Die Mitglieder dieser k-r 4 3 Organisation betrieben als Agenten der Nachrichtenorgane eines ausländischen Staates Spionage- und provokatorische Arbeit innerhalb kommunistischer Bruderparteien, der Komintern und der UdSSR, übergaben ausländischen Nachrichtendiensten geheime Materialien über wichtigste Beschlüsse der ZK und Politbüros kommunistischer Bruderparteien und der Komintern. (BLOCH, SCHULTE-SCHWEITZER, SCHERBER-SCHWENK u.a.) (Bd. 2, Sachbl. 83-88, 114-121, Bd. 4, Sachbl. 90-91, 162-166, Bd. 5, Sachbl. 160-166). Die Mitglieder der konterrevolutionären Organisation erhielten mit Hilfe der in größten Betrieben Moskaus und der Provinz arbeitenden Politemigranten Information über die Kapazität der Betriebe und ihre Produktion (z.B. Elektrolampenwerk, Autowerk "Stalin", 1. GPS u.a.) und übergaben sie mit Hilfe des AgentenResidenten MÜLLERS dem Nachrichtendienst eines der UdSSR gegenüber feindlichen Staates (ROSEROSENKE, SCHULTE-SCHWEITZER u.a.) (Bd. 5, Sachbl. 85-86, Bd. 2, Sachbl. 110). Einzelne Teilnehmer aus dieser konterrevolutionären Organisation, die Angeklagten SCHULTESCHWEITZER, DITTBENDER, MÜLLER u.a., die in internationalen und sowjetischen Organisationen (Komintern, IRH, RGI, Verlage), nutzten Auslandsreisen für die trotzkistische konterrevolutionäre Zersetzungsarbeit in den Reihen kommunistischer Bruderparteien sowie unter den Kämpfern der um die nationale Unabhängigkeit ihrer Länder kämpfenden revolutionären Volksarmeen (Bd. 2, Sachbl. 191-92, 35-38, 170171). Einzelne Mitglieder dieser k-r Organisation erhielten 1936-1937 von einer ausländischen Botschaft in Moskau durch den Agenten der "Gestapo" M A Y E R 4 4 (verurteilt) Bezahlung, deren Gesamtsumme 9 500 Rubel betrug (BLOCH, KNODT-ANDER, SCHULTE-SCHWEITZER u.a.) (Bd. 2, Sachbl. 110, 111, Bd. 4, Sachbl. 30, 166-168).

43 NKWD-Abkürzung für "konterrevolutionär" 44 D.i. Heinrich Meyer.

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Reinhard Müller Auf Grund des Obigen werden ANGEKLAGT:

1. SCHULTE-SCHWEITZER Fritz Adamowitsch, 4 5 geb. 1890 in Güstrow (Deutschland), Deutscher, ohne Staatsangehörigkeit, ohne nationalen Paß, Mitglied der Unabhängigen [! R.M.] Partei Deutschlands seit 1917 bis 1921, KPD-Mitgl. 1921-1935, Politbüro-Mitgl. ZK der KPD und Präsidiumskand. des EKKI, dort wegen "Sektierertums" ausgeschlossen. Kam in die UdSSR 1928, 1932, 1933 und 1934. Zum letzten Male ist er in die UdSSR im Dezember 1934 eingereist. Bis zur Verhaftung verantwortlicher Redakteur des Auslandsrundfunks des Allunionsrundfunkkomitees. darin, daß er als Politbüromitglied des ZK der KPD und Präsidiumskandidat des EKKI zu verschiedenen Grundsatzfragen der KPD- und Kominternpolitik Meinungsunterschiede hatte und 1932 in Deutschland mit den Führern der nationalsozialistischen Partei Ley Robert und SCHMIDT zusammenzuarbeiten begonnen und sie über geheime Beschlüsse des ZK und des Politbüros der Kommunistischen Partei Deutschlands informiert hat (Bd. 2, Sachbl. 83-88, 114-121), daß er im Jahr 1933 im Zusammenhang mit dem Machtantritt der Faschisten in Deutschland den Weg des direkten Verrats der Interessen der KPD und der Komintern betreten hat und während seiner provokatorischen Arbeit persönliche Verbindung mit SCHMIDT hielt, der um diese Zeit bereits stellv. Leiter der Berliner Gestapo war (Bd. 2, Sachbl. 119, 126, 127). Im Auftrage der Gestapo hat er 1934 seine Stellung als Politbüromitglied ausgenutzt, indem er die Einreise des Gestapoagenten HIRSCH Werner (verurteilt) in die UdSSR förderte (Bd. 2, Sachbl. 109). Bis 1935 einer der Führer der "sektiererischen" Opposition innerhalb der KPD, als RICHTER-SCHWEITZER-Gruppe bekannt. Nach dem Ausschluß aus dem Politbüro (November 1935) haben sich die parteifeindlichen Gruppierungen RICHTERS-SCHWEITZERS und NEUMANNS-REMMELES für den gemeinsamen Kampf gegen die KPD und die Komintern zum sogenannten "Antikominternblock" vereinigt (Bd. 2, Sachbl. 101-103). 1936 hat sich dieser konterrevolutionäre "Block" auf der Grundlage des Trotzkismus als in Moskau geschaffene deutsche trotzkistische Terror-, Spionage- und konterrevolutionäre Organisation reorganisiert, einer ihrer Leiter war SCHWEITZER bis zu seiner Verhaftung (Bd. 2, Sachbl. 88,89).

45 Fritz Schulte (Deckname: Fritz Schweitzer), geb. am 28.7.1890 in Hüsten/Westfalen, Mitglied der USPD 1917-20, ab 1920 der KPD. 1928-32 PolSekretär der KPD-Bezirksleitung Niederrhein, seit 1921 Stadtverordneter in Düsseldorf, 1928-30 MdL in Preußen, 1930-33 MdR. 1927-35 Mitglied des ZK, 1929-35 auch des Pol-Büros der KPD, 1932 Vorsitzender des Reichskomitees der RGO, 1933 in Berlin illegal tätig, emigrierte über Prag nach Paris, im Dez 1934 in die UdSSR, bis 1935 Kandidat des Präsidiums des EKKI, gehörte zur sog. "Sektierer-Gruppe", die 1935 aller KPD-Funktionen enthoben wurde. Vgl. Müller, Akte Wehner, a.a.O. (Anm. 21), S. 67-69. - In einem Dossier über "schlechte Elemente" formuliert 1936 die "Kaderabteilung" zu Fritz Schulte: "Gehörte 1933 zur Mittelgruppe. Bei der Neumann-Remmele-Diskussion 1932 hat er geschwankt. Gehörte bis zur Brüsseler Konferenz der Gruppe Richter-Schweitzer an. Vom 15. Dezember 1935 bis Juni 1936 Leiter der Agitprop der Profintern. Aushilfsweise jetzt bei der Profintern beschäftigt ohne feste Anstellung. Nach der Brüsseler Konferenz von der deutschen Parteiarbeit entfernt. Von der IKK erhielt er Ende 1935 eine Verwarnung wegen Konspirationsfehler in Deutschland. Er korrespondiert weiter mit Genossen seiner früheren Gruppierung, Reimann und Pfordt. Hat Weber gegenüber behauptet, daß noch nach der Brüsseler Konferenz die Gruppe zusammen war, was er nachher in einer Erklärung abstritt. Er schickte an die Kaderabteilung im August einen Brief mit Angriffen gegen Pieck und Weber, der dem Sekretariat übergeben wurde. Er hat Verbindung zu Richter, Blank, Gold, Süsskind." Fritz Schulte wurde am 21.2.1938 verhaftet, war nach zahlreichen Verhören gelähmt und verlangte in Eingaben seine Ausreise nach Deutschland. Am 7.4.1938 wurde er durch eine Sonderberatung des NKWD zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt. Er kam im Lager 1943 ums Leben.

Der Fall des „Antikomintern-Blocks"

- ein vierter Moskauer

Schauprozeß?

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Als einer der Leiter dieser konterrevolutionären Organisation war er für die Verbindung der Organisation mit den sich im Auslande befindenden Trotzkisten zuständig, beteiligte sich an der Hinüberschaffung trotzkistischer Kader für die Ziersetzungsarbeit in kommunistischen Bruderparteien, an der Ausarbeitung der Terrorpläne gegen die Führer der KPdSU(B) und der Komintern (Bd. 2, Sachbl. 90-92). Im Auftrage des Gestapoagenten MAYER (verurteilt) sah er persönlich die von den Mitgliedern der Organisation erhaltene Spionageinformation durch und überprüfte ihre Glaubhaftigkeit, wonach er sie MAYER für die Übergabe an den ausländischen Nachrichtendienst zurückgab (Bd. 2, Sachbl. 110). Für die betriebene konterrevolutionäre Arbeit erhielt er von einer ausländischen Botschaft in Moskau zweimal 1936 und 1937 Bezahlung (Bd. 2, Sachbl. 110, 111), d.h., in den durch die Art. 58 §§ 6, T. 1, 58 §§ 8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich in allem für schuldig erklärt (Bd. 2, Sachbl. 31-40, 82-92, 96-98, 101-102, 105-106, 109-111, 114-121, 126-127), sich aber bei der Vorweisung der Beschlüsse über die Änderung der Anschuldigungsartikel und Beendigung der Untersuchung in der Sache von seinen Aussagen losgesagt (Bd.7, Sachbl. 272). Ist durch die Aussagen der Angeklagten KNODT-ANDER (Bd. 4, Sachbl. 10, 18, 20, 27, 34 und 44), BLOCH (Bd. 4, Sachbl. 77-82, 85-86, 88-89, 147, 150, 152-161, 167, 174 und 176-177), MÜLLER (Bd. 2, Sachbl. 172, 180-181, 186-187, 189 und 236) überführt. Hat selbst während der Gegenüberstellungen die Angeklagten KNODT-ANDER und BLOCH wegen ihrer konterrevolutionären trotzkistischen Tätigkeit überführt (Bd. 6, Sachbl. 51-53, 78-80). Wird außerdem durch die Aussagen der durch die Hauptverwaltuug für Staatssicherheit des NKWD der UdSSR 1937-38 verhafteten NEUMANN Heinz (Bd. 7, Sachbl. 76, 78, 80, 83, 84, 86, 94-98) BELFORTBIRKENHAUER (Bd. 7, Sachbl. 232 und 235), REMMELE Hermann (Bd. 7, Sachbl. 124-129), SAUERLAND (Bd. 7, Sachbl. 211-213), SMOUANSKI (Bd. 7, Sachbl. 131), MAYER-MOST (Bd. 7, Sachbl. 240), SOMMER (Bd. 7, Sachbl. 141-142), STUCKE (Bd. 7, Sachbl. 132) und SCHREIBER (Bd. 7, Sachbl. 54) überführt. 2. MÜLLER Albert Ottowitsch, 46 geb. 1903 in Bernau (Deutschland), Deutscher, ohne Staatsangehörigkeit, KPD-Mitglied seit 1926, KPdSU (B)-Mitglied seit 1931, wurde wegen seiner Verhaftung ausgeschlossen. Vor der Verhaftung Politreferent der Kaderabteilung der Komintern, darin, daß er einer der Führer der in Moskau existenten deutschen konterrevolutionären trotzkistischen Terror- und Spionageorganisation war; daß er persönlich den Plan des Terrorakts gegen den Führer der Sowjetregierung Gen. MOLOTOW ausarbeitete und daß er dem Angeklagten BEUTLING Anweisungen über den Einsatz einzelner Mitglieder der konterrevolutionären Organisation als unmittelbare Vollstrecker des Terrorakts gab (Bd. 2, Sachbl. 186-196, 219-221 und 236). Seit 1931 war er Agent und seit 1934 Resident eines ausländischen Nachrichtendienstes, stellte persönlich mit den in die UdSSR hinübergeschafften Gestapoagenten ROSE-ROSENKE und DITTBENDER Verbindung her (der letztere ist in der vorliegenden Sache 1939 verurteilt), erhielt von ihnen Spionageinformation und übergab sie mit Hilfe der Residenten HELMUT und KAUFMANN einem ausländischen Nachrichtendienst (Bd. 2, Sachbl. 174-179, 182-186 und 208-210).

46 D.i. Georg Brückmann, (Deckname: Albert Müller), geb 28.11.1903 in Berlin, Schlosser, KPD seit 1923, 1931 zu Festungshaft verurteilt, Emigration in die UdSSR 1931 als komandirowka, Referent in deutscher Sektion im EKKI, beteiligt an zahlreichen Untersuchungsverfahren gegen KPD-Mitglieder, jahrelange Zusammenarbeit mit dem NKWD, verhaftet am 30.6.1938, verurteilt am 7.4.1941 durch eine Sonderberatung des NKWD zu acht Jahren Arbeitslager, verstorben im Workuta-Petschora-Lager.

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Reinhard Müller

Er schickte 1936 persönlich das Mitglied der Organisation SCHREIBER (verurteilt in der vorliegenden Sache 1939) zur Diversions- und Schädlingsarbeit 1936 in die Werkzeugmaschinenfabrik "Ordschonkidse", der einen Plan für einen Diversionsakt im Betrieb ausgearbeitet hat (Bd. 2, Sachbl. 210-213). Daß er sich an der Auswahl der trotzkistischen Kader und ihrer Entsendung für die trotzkistische Zersetzungsarbeit ins Ausland innerhalb der kommunistischen Bruderparteien beteiligte (Bd. 2, Sachbl. 185-192) d.h. in den durch den Art. 58 §§ 6, T. I und 58 §§ 8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich in allen Anklagepunkten für schuldig erklärt (Bd. 2, Sachbl. 172-196, 208-213, 219-221,233-236). Ist außerdem durch die Aussagen der in dieser Sache angeklagten DITTBENDER und SCHREIBER (verurteilt 1939) (Bd. 2, Sachbl. 4-7, 10-19, 24-25, 27-28, 51, 63-65 und 70), BEUTLING (Bd. 3, Sachbl. 4854, 72-78, 122-127, 129-132, 134, 137, 164-166), ROSE-ROSENKE (Bd. 5, Sachbl. 83-86, 88, 96 und 104-105), SELBIGER (Bd. 6, Sachbl. 220) und durch die Gegenüberstellungen mit den Angekl. BEUTLING und ROSE-ROSENKE (Bd. 6, Sachbl. 130-132 und 153-154) überführt. Hat sich selbst während der Gegenüberstellung mit dem Angekl. SCHRÖDER (verurteilt 1939) wegen konterrevolutionärer, trotzkistischer und wegen Diversionstätigkeit überführt (Bd. 6, Sachbl. 147-150). Wird auch durch die Aussagen der 1937-1938 verhafteten und verurteilten SOMMER (Bd. 7, Sachbl. 135,137-140, 142-152 und 185), SCHMIDT (Bd. 7, Sachbl. 258), MELNIKOW (Bd. 7, Sachbl. 73) und ALT (Bd. 7, Sachbl. 259-260) überführt.

3. BEUTLING Theodor Albertowitsch, 4 7 geb. 1898 in Odessa, Deutscher, ohne Staatsangehörigkeit, ohne nationalen Paß, seit 1918 Mitgl. der "unabhängigen" [! R.M.] Partei Deutschlands, bis zur Verhaftung Mitglied der Kommunistischen Partei Deutschlands, 1926-1928 wohnte er in der UdSSR und studierte an der Internationalen Lenin-Schule, nach deren Abschluß kehrte er nach Deutschland zurück. Zuletzt reiste er 1933 in die UdSSR ein. Vor der Verhaftung stellv. Redakteur des Verlags ausländischer Arbeiter, darin, daß er aktives Mitglied und einer der Leiter der in Moskau existierenden konterrevolutionären trotzkistischen Terror- und Spionageorganisation war, sich persönlich an der Ausarbeitung des Plans eines Terrorakts gegen den Chef der Sowjetregierung Gen. Molotow beteiligte, wofür er unter den Mitgliedern der Organisation als unmittelbaren Vollstrecker des geplanten Terrorakts den Angeklagten BODEN bestimmt und ihm die Waffe übergeben hat (Bd. 3, Sachbl. 72-78, 121-136, 165-166). Als Subresident des ausländischen Nachrichtendienstes hat er die Verbindung zu dem für die Spionagearbeit auf das Territorium der UdSSR geschickten Agenten des ausländischen Nachrichtendienstes BODEN persönlich hergestellt und die Gestapoagenten STAMM-STANGE (verurteilt in dieser Sache 1939), SCHARSCH-KASSLER und andere in die konterrevolutionäre Organisation hineingezogen, die er als unmittelbare Vollstrecker von Terrorakten bestimmte (Bd. 3, Sachbl. 42-54, 72, 130 und 135), d.h. in den durch die Art. 58 § 6 T. 1, 8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich in allem für schuldig erklärt. 47 Theodor Beutling, geb. 22.1.1898 in Odessa, lebte seit der Kindheit in Deutschland, deutsche Staatsangehörigkeit, 1918-20 USPD-Mitglied, seit 1920 KPD-Mitglied, bis 1926 Metallarbeiter in Berlin, 1926-28 Lenin-Schule in Moskau, 1928/29 Gewerkschaftssekretär der KPD für Berlin-Brandenburg, 1929-31 Sekretär des Bundes der Freunde der Sowjetunion, 1928 Mitglied des Reichstags, April 1933 Emigration in die UdSSR, Leiter der deutschen Sektion der KUNMS bis 1.1.1937, dann Redakteur der VEGAAR, verhaftet am 30.1.1938, Taganka, Butyrka, Brief Piecks durch Manuilski an NKWD weitergegeben, sagte sich von seinen "Aussagen" los, durch Sonderberatung am 27.4.1941 zu 8 Jahren Haft verurteilt, in der Republik Komi 1942 im Lager verstorben.

Der Fall des „Antikomintern-Blocks

" - ein vierter Moskauer Schauprozeß?

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Wird außerdem durch die Aussagen der in dieser Angelegenheit angeklagten DITTBENDER (verurteilt 1939) (Bd. 7,Sachbl. 6, 8, 10, 15-19, 28-29), MÜLLER (Bd. 2, Sachbl. 185-186, 190, 193-196, 209, 219221 und 234-236), ROSE-ROSENKE (Bd. 5, Sachbl. 82-89, 95-96, 102, 106-107), BODEN (Bd. 3, Sachbl. 209-213, 232-233), SOMMER (ist durch die NKWD-Verwaltung des Gebiets Dnepropetrowsk verhaftet und verurteilt) (Bd. 7, Sachbl. 135, 137-138, 240) sowie durch die Gegenüberstellungen mit den Angeld. MÜLLER. DITTBENDER und BODEN (Bd. 6, Sachbl. 153-154, 54-57,45-48) überführt. Hat selbst während der Gegenüberstellungen Angekl. SCHREIBER, STAMM (verurteilt), SCHERBERSCHWENK und SCHARSCH-KASSLER wegen konterrevolutionärer Tätigkeit überführt (Bd. 6, Sachbl. 43-44, 59-60, 69-71 und 121-127). 4. BODEN Hans Gustawowitsch, 48 geb. 1915 in Wanne-Eickel (Westdeutschland), Deutscher, ohne Staatsangehörigkeit, hatte keinen Nationalpaß, bis zur Verhaftung Mitglied der KP Deutschlands, vom August bis zum Dezember 1933 im deutschen Konzentrationslager inhaftiert, ist 1935 in die UdSSR angekommen, vor der Verhaftung Schlosser im Versuchsbetrieb des NATI-Instituts, wird angeklagt, daß er 1933 während der Lagerhaft in Deutschland für die Spionage- und provokatorische Arbeit zugunsten eines ausländischen Nachrichtendienstes angeworben wurde und zu diesem Zweck spezielle Kurse für Geheimagenten durchlief, wonach er für die Spionagearbeit in die UdSSR versetzt wurde (Bd. 3, Sachbl. 204-208), daß er nach der Ankunft in die UdSSR Verbindung mit BEUTLING, dem Subresidenten eines Geheimdienstes, hergestellt und später vom letzteren als unmittelbarer Vollstrecker des beabsichtigten Terrorakts gegen den Führer der Sowjetregierung Gen. Molotow herangezogen wurde. Dazu hat er persönlich eine Waffe von BEUTLING bekommen (Bd. 3, Sachbl. 209-213, 232-233). Neben der terroristischen und Spionagetätigkeit war er auch Mitglied der konterrevolutionären nationalistischen faschistischen Jugendorganisation "Hitlerjugend" und leitete im Auftrage der Leiter dieser Organisation BERTRAM Kurt und HUT Bernhard (verurteilt) die von ihm im NATI-Werk geschaffene Diversionsund Schädlingsgruppe, für die er persönlich PETERSOHN Hans (verurteilt) und andere angeworben hat (Bd. 3, Sachbl. 215-220, 225-227), d.h. wegen der durch die Art. 58 §§ 6 T.l, 58 §§ 8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich in allem für schuldig erklärt (Bd. 3, Sachbl. 204-213, 215-220,225-227 und 232-233), sagte sich später aber von seinen Aussagen los. Ist durch die Aussagen der Angeklagten in dieser Sache DITTBENDER (verurteilt) (Bd. 7, Sachbl. 17, 19, 28-29), BEUTLING (Bd. 3, Sachbl. 53, 72, 75, 78, 165-166) und MÜLLER (Bd. 2, Sachbl. 195-196, 219211,235) überführt. Ist außerdem durch die Aussagen der Angeklagten HUT P. (verurteilt), GRÖHNERT, PETERSON (Bd. 7, Sachbl. 251, 252-253, 261-262) und von der Gegenüberstellung mit dem Angekl.BEUTLING überführt. 48 D.i. Gustav Sobottka (jr.), geb. 10.4.1915 in Wanne-Eickel, seit 1932 KPD, kam im Dezember 1935 zusammen mit seinen Eltern nach Moskau, Schlosser am Forschungsinstitut NATI, Besuch der RAB-Fak., verhaftet am 5.2.1938. Nach schweren Foltern (vgl. oben) lieferte er "Geständnisse", in denen er sich und andere bezichtigt. Diese "Geständnisse" wurden von ihm während eines Verhörs am 28.12.1938 und in anderen Verhören mehrfach widerrufen. An den Folgen der Haft verstarb Gustav Sobottka jr. am 22.9.1940 im Butyrka Gefängnis. Nach seiner Verhaftung verlor Gustav Sobottka sen. seinen Arbeitsplatz. Sowohl der Vater wie die verzweifelte Mutter, deren zweiter Sohn bereits im KZ umgekommen war, wandten sich in zahlreichen Briefen an Stalin, Dimitroff, Molotow, Wyschinski. Vgl. auch den Dokumentar-Film: Vom Geheimnis eines Revolutionärs. Regie: Horst-Dieter Rutsch, wdr (1996).

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Hat während der Gegenüberstellung den Angekl. GRÖHNERT überführt (Bd. 6, Sachbl. 128-129). 5. KNODT-ANDER Hans Wilhelmowitsch, 49 geb. 1900 in Essen, (Deutschland), Deutscher, ohne Staatsangehörigkeit, ohne nationalen Paß. Vor der Verhaftung Mitglied der KP Deutschlands, früher Redakteur der deutschen kommunistischen Zeitung "Rote-Fahne". Schloß sich den konterrevolutionären Gruppierungen innerhalb der KP Deutschlands an, und zwar den "Versöhnlern" und der "sektiererischen Opposition". Kam in die UdSSR 1927, 1930 und 1933. Zum letzten Male reiste er in die UdSSR 1935 ein. Zum Zeitpunkt der Verhaftung ohne bestimmte Beschäftigung, darin, daß er seit der Vereinigung der komintemfeindlichen Gruppen zur einheitlichen konterrevolutionären trotzkistischen terroristischen Spionageorganisation einer ihrer Hauptführer war (Bd. 4, Sachbl. 4, 7-10). Leitete die konterrevolutionäre Arbeit der in den Betrieben Moskaus gebildeten Terror- und Diversionsgruppen (Bd. 4, Sachbl. 28), d.h. in den vom Art. 58 §§ 6, T. 1, 8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich in allem für schuldig erklärt (Bd. 4, Sachbl. 5-11, 27-29, 28-44), wird außerdem durch die Aussagen der in dieser Sache angeklagten SCHULTE-SCHWEITZER (Bd. 2, Sachbl. 47, 59, 84, 86, 96-98, 110 und 111), BLOCH (Bd. 2, Sachbl. 75, 78, 143, 147, 167, 173-174 und 177) sowie die Gegenüberstellungen mit den angeklagten SCHULTE-SCHWEITZER (Bd. 6, Sachbl. 51-53 und 74-77) und SCHREIBERG 5 0 (Bd. 7, Sachbl. 24) überführt. Wird außerdem durch die Aussagen der durch die Hauptverwaltung für Staatssicherheit des NKWD der UdSSR verhafteten Angeklagten MAYER, NEUMANN Heinz, Belfort-Birkenhauer, Sauerland, Smoljanski und Sommer überführt (Bd. 7, Sachbl. 78, 82, 126, 129, 131, 142, 209, 211, 232, 234-235 u. 240-241). 6. BLOCH Hans Heinrichowitsch, 51 49 D.i. Hans Knodt, (Deckname: Ander), geb. 21.3.1900 in Essen, Journalist, KPD-Mitglied seit 1919, (Chef-)Redakteur verschiedener KPD-Zeitungen, 1934 der "Roten Fahne". Aus einem Dossier der Kaderabteilung: "Kleinbürgerlicher Herkunft, besuchte katholisches Lehrergymnasium, USPD 1919, KPD seit 1920, kam in die SU 1935, arbeitet in der Komintern, Abteilung Propaganda. 1928 unterstützte er die Versöhnlergruppe. Auf dem Weddinger Parteitag 1929 grenzte er sich von der Resolution der Versöhnlerfraktion ab. Einige Wochen nach dem Weddinger Parteitag gab er eine Erklärung gegen die rechten Versöhnler auf dem Bezirksparteitag Mittelrhein ab. Auf Vorschlag des Genossen Thälmann wurde er vom ZK wegen seiner Unterstützung der Versöhnlergruppe als Redakteur vom Ruhrecho entfernt und nach Köln zu einer anderen Parteizeitung versetzt. 1934/35 nahm er eine sektiererische Stellung (insbesondere gegenüber der Sozialdemokratie usw.) ein, diesselbe wurde von der Komintern verurteilt. Laut Beschluß des Polbüros wurde er als Redakteur der "Roten Fahne" Anfang 1935 entfernt. Schon im Ausland lehnte er sich politisch an Richter und Schweitzer an. In Moskau ist er weiter in persönlicher und politischer Verbindung mit Richter, Schweizer und Neumann. In Suusku verkehrte er eng mit Heinz Neumann (1936). Derselbe erklärte ihm, daß seine politische Stellungnahme in der deutschen Partei richtig war. Diese Meldung hat er nicht an Pieck weitergegeben, sondern, wie er sagt, nur an Most mitgeteilt. Es läuft gegen ihn ein Untersuchungsverfahren bei der IKK auf Grund des Beschlusses des Partkom, weil man ihn für politisch unehrlich hält." Knodt wurde am 21.3.38 und am 7.4.41 durch eine Sonderberatung des NKWD zu acht Jahren Arbeitslager verurteilt. Er kam im GULag ums Leben. 50 D.i. Karl Schreiber. 51 Hans Bloch, geb. 1900 in Budapest, Jude, bis 1933 Lokalredakteur der KPD-Zeitung "Ruhr-Echo, 1934 in die UdSSR, am 8.3.1938 verhaftet, 1940 Ausweisung nach Deutschland, hier kam er wahrscheinlich als Jude und Kommunist in einem Vernichtungslager ums Leben.

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Schauprozeß?

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geb. 1900 in Budapest (Ungarn), Deutscher, ohne Staatsangehörigkeit, (Bd. 1, Sachbl. 178-180), ohne gültigen nationalen Paß. Früher aktiver Anhänger der "versöhnlerischen" und "sektiererischen" Oppositionen innerhalb der KPD. Reiste 1934 in die UdSSR ein. Zum Zeitpunkt der Verhaftung ohne bestimmte Beschäftigung, darin, daß er 1933 während des Aufenthalts in Holland, wo er als Vertreter der Kommunistischen Partei Deutschlands tätig war, für die Spionage- und provokatorische Tätigkeit von der holländischen Geheimpolizei gewonnen wurde, der er einige geheime Angaben über die Arbeit und Zusammensetzung der Holländischen KP und der illegalen kolonialen KP Indonesiens übergeben hat (Bd. 4, Sachbl. 90-91, 162-166). Während der Emigration in Paris wurde er 1933 durch die damaligen Politbüromitglieder des ZK der KPD Richter-Schubert (verurteilt) und Schulte-Schweitzer (in der vorliegenden Sache verhaftet) für die Vorbereitung der k-r Arbeit im Komintemapparat in die UdSSR kommandiert (Bd. 4, Sachbl. 155-159). Seit dem Zeitpunkt der Vereinigung komintemfeindlicher Gruppen zu einer einheitlichen konterrevolutionären trotzkistischen terroristischen Spionageorganisation (1936) war er Mitglied dieser konterrevolutionären Organisation und hat im Auftrage des Angeklagten SCHULTE-SCHWEITZERS im Apparat der deutschen Zeitung "DZZ" eine konterrevolutionäre Gruppe gebildet, in die er DEUTSCHLÄNDER Oskar, Arno Arnold (sind verurteilt) u.a. angeworben hat (Bd. 4, Sachbl. 145-155, 174 und 177). Wußte über die Terror- und Diversionspläne der konterrevolutionären Organisation und teilte sie, sowie über die Entsendung trotzkistischer Kader ins Ausland für die trotzkistische Zersetzungsarbeit (Bd. 4, Sachbl. 169-174). Für die von ihm betriebene konterrevolutionäre Arbeit erhielt er 1936 und 1937 zweimal von einer ausländischen Botschaft in Moskau durch den Gestapoagenten MAYER (verurteilt) Bezahlung (Bd. 4, Sachbl. 167-169), d.h. in den durch den Art. 58 §§ 6 T. 1,8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich in allem für schuldig erklärt (Bd. 4, Sachbl. 54i 75-91 f 142-177). Bei der Vorweisung des schlusses über die Änderung des Anklageartikels hat er sich von seinen Aussagen losgesagt. Ist durch Aussagen der in der vorliegenden Sache SCHULTE-SCHWEITZER (Bd. 2, Sachbl. 35, 37, 59-60, 73, Bd. 3, Sachbl. 122-125), KNODT-ANDER (Bd. 4, Sachbl. 32-34, 44-48) und die Gegenüberstellung dem Angekl. SCHULTE-SCHWEITZER überführt (Bd. 6, Sachbl. 78-80).

Bedie 79, mit

Ist außerdem durch die Aussagen der durch die Hauptverwaltung des NKWD der UdSSR verhafteten Angeklagten NEUMANN Heinz (verurteilt) (Bd. 7, Sachbl. 26), BELFORT-BIRKENHAUER (Bd. 7, Sachbl. 235) überführt. 7. ROSE-ROSENKE Walter Eduardowitsch, 52 geb. 1902 in Berlin, Deutscher, ohne Staatsangehörigkeit, hatte keinen nationalen Paß, vor der Verhaftung KPD-Mitgl., kam 1933 in die UdSSR als Politemigrant. Vor der Verhaftung Schlosser des Versuchsinstituts für Glas, darin, daß er nach der Verhaftung 1933 in Deutschland von einem ausländischen Nachrichtendienst für die Spionagearbeit angeworben und dazu auf das Territorium der UdSSR geschickt wurde, wo er eine Anlaufstelle für den Residenten des ausländischen Nachrichtendienstes des in dieser Sache angeklagten MÜLLER 52 D.i. Walter Rosenke, (Deckname: Rose), geb. am 11.9.1902 in Rütgersdorf bei Berlin, Schlosser, KPDMitglied seit 1922,1930-33 Ressortleiter im M-Apparat der KPD, von März bis Juni 1933 in Haft, 1933 Emigration in die UdSSR, Studium an der KUNMS, Leiter des Klubs ausländischer Arbeiter, deutsche Sektion, 12.3.1938 verhaftet, distanziert sich von den erfolterten Aussagen, während der Untersuchung, Briefe an Stalin, verurteilt am 7.4.1941 durch Sonderberatung zu 8 Jahren ITL, im Uchttischem-Lag bis 2.12.1946 in Haft, arbeitete danach als Schlosser im Uchtomkombinat des Innenministeriums bis zur erneuten Einweisung in eine Strafkolonie in der ASSR Komi im Jahr 1951,1956 kam er in die DDR.

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bekam. Er hat mit dem letzteren Verbindung hergestellt und wurde von ihm für die trotzkistische Spionagearbeit als Teilnehmer der in Moskau existierenden konterrevolutionären Organisation benutzt (Bd. 5. Sachbl. 80-87. 104-105). Die von ihm gesammelte Spionageinformation über das Elektrowerk und andere Betriebe Moskaus übergab er mit Hilfe des Residenten Angekl. MÜLLER einem ausländischen Nachrichtendienst (Bd. 5, Sachbl. 85-86). Als Student der Kommunistischen Universität der Nationalminderheiten Westens und Aktivist des Klubs ausländischer Arbeiter "Thälmann" in Moskau betrieb er trotzkistische Zersetzungsarbeit unter den Politemigranten und hat persönlich aus den der KPD und der UdSSR feindlichen Elementen in die konterrevolutionäre Organisation STEINBRING Ernst (verurteilt) u.a. hineingezogen (Bd. 6, Sachbl. 86-89), d.h. wegen der durch die Art. 58 §§ 6, T. 1,8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich für schuldig erklärt (Bd. 5, Sachbl. 80-89, 91, 95-97,101-102 und 106-108). Wird außerdem durch die Aussagen der Angeklagten MÜLLER (Bd. 2, Sachbl. 185-186, 190, 194, 208210, 220, 234, 235), BEUTLING (Bd. 3, Sachbl. 16a, 61-62, 92, 160-161), DITTBENDER (Bd. 7, Sachbl. 9, 13, 15, 18, 29) sowie durch die Angeklagten STUCKE (Bd. 7, Sachbl. 133), KLEIN (Bd. 7, Sachbl. 254-256) und die Gegenüberstellung mit dem Angeklagten MÜLLER (Bd. 6, Sachbl. 130-132) überführt. Hat selbst während der Gegenüberstellungen die in dieser Sache Angeklagten SCHREIBER und STAMM überführt (die beiden sind 1939 verurteilt) (Bd. 6, Sachbl. 102-106 und 167-169). 8. SCHERBER-SCHWENK Paul Paulewitsch, 53 geb. 1880 in Meißen (Deutschland), Deutscher, ohne Staatsangehörigkeit, hat keinen nationalen Paß, ehem. SPD-Mitgl. 1906-17, Mitglied der "unabhängigen" Partei Deutschlands 1917-19, bis zur Verhaftung Mitglied der deutschen kommunistischen Partei, kam in die UdSSR 1934. Vor der Verhaftung Redakteur der Redaktions- und Verlagsabteilung der Komintern, darin, daß er 1934 im Auslande für die Spionage- und provokatorische Arbeit zugunsten eines der Sowjetunion feindlichen Staates angeworben wurde und mit Hilfe des Gestapoagenten S C H O L Z ^ Paul geheime Information über die Arbeit der Emigrationsabteilung der IRH in Paris einem ausländischen Nachrichtendienst übergeben hat (Bd. 5, Sachbl. 160-165). Während des Aufenthalts in Paris hielt er Verbindungen zu den deutschen Trotzkisten RUTH FISCHER und MASLOW, von denen er im Zusammenhang mit der bevorstehenden Abreise in die UdSSR den Auftrag erhalten hat, eine konterrevolutionäre trotzkistische Arbeit in der UdSSR zu entfalten (Bd. 3, Sachbl. 146-150). Während des Aufenthalts in der UdSSR hat er 1935 die Verbindung zum Gestapoagenten SCHOLZ Paul wiederaufgenommen, dem er geheime Information über die von der Komintern für die illegale Parteiarbeit entsandten Kommunisten übergab und ihre Decknamen für die Weitergabe an den ausländischen Nachrichtendienst mitteilte (Bd. 5, Sachbl. 165-166). Indem er die Anweisungen RUTH FISCHERS und MASLOWS nach der Ankunft in die UdSSR erfüllte und im Moskauer Klub ausländischer Arbeiter "Thälmann" arbeitete, hat SCHERBER-SCHWENK Verbin53 D.i. Paul Schwenk (Deckname: Scherber), geb. 8.8.1880 in Meißen, Schlosser, 1905 Mitglied der SPD, 1917 USPD, 1920 KPD, 1924-33 Mitglied des Preußischen Landtags, Sekretär der Landtagsfraktion, im Mai 1934 emigrierte er in die UdSSR, wissenschaftl. Mitarbeiter am Marx-Engels-Institut, Redakteur von Redisdat, verhaftet am 29.3.1938, nimmt alle erfolterten "Geständnisse" zurück, Brief Piecks vom 20.4.1938, am 13.1.1941 aus Haft entlassen, 1946 Rückkehr nach Berlin, stellv. Bürgermeister von Berlin, 1955 Ehrenbürger von Berlin(Ost), am 22.8.1960 in Berlin verstorben. Frau: Martha Arendsee. 54 D.i. Paul Scholze, geb. 13.12.1886, seit 1904 Mitgl. der SPD, 1916 USPD, 1920 KPD, 1924-35 IAHFunktionär, 1929-32 KPD-Abgeordneter der Berliner Stadtverordnetenversammlung. 1933 Emigration nach Frankreich, 1935 UdSSR, Ende 1936 verhaftet, 1938 deportiert, später im GULag umgekommen.

Der Fall des „Antikomintern-Blocks" - ein vierter Moskauer Schauprozeß?

IHK 1996 211

dung mit der beim Klub existierenden konterrevolutionären trotzkistischen terorristischen Gruppe hergestellt, hat sich an der konterrevolutionären Arbeit dieser Gruppe beteiligt und wurde später einer ihrer Leiter (Bd. 3, Sachbl. 146-150 und Bd.5, Sachbl. 86-88), d.h. in den durch den Art. 58 §§ 6 T. 1,8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich nur in der Spionagetätigkeit für schuldig erklärt (Bd. 5, Sachbl. 113-118, 158-166 und Bd. 7, Sachbl. 285); seine Beteiligung an der konterrevolutionären trotzkistischen Tätigkeit hat er nicht eingestanden, ist aber von den Aussagen der in dieser Sache angeklagten BEUTLING (Bd. 3, Sachbl. 146-150, 124, 128, 132), ROSE-ROSENKE (Bd. 5, Sachbl. 86-88, 107), DITTBENDER (Bd. 7, Sachbl. 15), MÜLLER (Bd. 2, Sachbl. 190) sowie durch die Gegenüberstellung mit BEUTLING (Bd. 6, Sachbl. 43-44) überführt. 9. HAHNE Valentin Heinrichowitsch,55 geb. 1892 in Breslau, Deutscher, ohne Staatsangehörigkeit, ohne nationalen Paß, parteilos, früher SPDMitglied seit 1910 bis 1914, 1919-1933 Mitglied der KP Deutschlands, kam in die UdSSR 1935 als Politemigrant. Bis zur Verhaftung Maschinenarbeiter im Werk "Roter Proletarier" darin, daß er 1934 während der Emigration in der Tschechoslowakei für die Spionagetätigkeit zugunsten eines der UdSSR feindlichen Staats angeworben und zu diesem Zweck mit Hilfe des ihn anwerbenden Agenten des ausländischen Nachrichtendienstes GRASSE auf das Territorium der UdSSR hinübergeschafft wurde (Bd. 5, Sachbl. 177-178, 194-196), daß er nach der Ankunft in die UdSSR 1935 im Auftrage des Agenten des ausländischen Nachrichtendienstes GRASSE Verbindung mit dem Agenten und Residenten der Gestapo in dieser Sache angeklagten DITTBENDER Walter (in dieser Sache 1939 verurteilt) hergestellt hat. Vom letzteren wurde er später in die in Moskau existierende konterrevolutionäre trotzkistische terroristische Spionageorganisation einbezogen und hielt mit ihm Verbindung wegen der Spionagearbeit bis zu seiner Verhaftung (Bd. 5, Rückseite des Sachbl. 177), daß er während der Arbeit im Betrieb "Roter Proletarier" Information über die im Werk hergestellte Produktion sammelte, über seine technische Ausrüstung die erhaltenen Daten mit Hilfe des Angeklagten Dl l'l BENDER (verurteilt) übergeben hat daß er in Übereinstimmung mit DITTBENDER die im Betrieb "Roter Proletarier" arbeitenden Politemigranten KÖNIG Helmut (verurteilt) und andere zur Spionagearbeit persönlich herangezogen hat (Bd. 5, Sachbl. 176-178), d.h. in den durch den Art. 58 §§ 6 T. 1,8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich für schuldig erklärt (Bd. 5, Sachbl. 176-178), später aber sich von seinen Aussagen losgesagt. Wird von den Aussagen der in der vorliegenden Sache angeklagten DITTBENDERS (Bd. 7, Sachbl. 9, 2627), SELBIGERS (Bd. 6, Sachbl. 221) sowie mit der Gegenüberstellung mit DITTBENDER (Bd. 6, Sachbl. 100-101a) überführt. 10. STAFFORD Heinrich Heinrichowitsch,56 55 Valentin Hahne, geb. 9.2.1892 in Breslau, Kontorist. 1910-14 SPD, ab Februar 1919 KPD, im ZL-Apparat beschäftigt, in der Tschechoslowakei verhaftet, 22.10.1935 in die UdSSR emigriert, Maschinenarbeiter in der Fabrik "Roter Proletarier", am 21.2.1938 verhaftet, nach Haft und Folter im Januar 1940 nach Deutschland ausgewiesen. 56 D.i. Bernard Koenen (Deckname: Heinrich Stafford), geb. 17.2.1889 in Hamburg, Metallarbeiter, Elektriker, 1910 SPD, 1917 USPD, 1920 KPD, sei 1921 Redakteur des "Klassenkampf' in Halle, Sekretär der Bezirksleitung Halle-Merseburg der KPD, 1924-29 Mitglied des preußischen Staatsrats, emigrierte im Juni 1933 in die UdSSR, Sekretär des Exekutivkomitees der IRH, 28.3.1938 verhaftet, bis 21.4.1938 in Haft, dann freigelassen, erneut inhaftiert, weigert sich während der Haft, sich und andere zu belasten.

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geb. 1889 in Hamburg (Deutschland), Deutscher, ohne Staatsangehörigkeit, ohne nationalen Paß, SPDMitglied 1907-1920, bis zur Verhaftung KPD-Mitglied. In der UdSSR lebte er als Politemigrant. Vor der Verhaftung Sekretär des Exekutivkomitees der IRH, darin, daß er 1936 vom in dieser Sache angeklagten DITTBENDER Walter (verurteilt 1939) in die konterrevolutionäre trotzkistische terroristische Spionageorganisation hineingezogen wurde. In seinem Auftrage leitete er die im Haus der Politemigranten konterrevolutionäre trotzkistische Terrorgruppe an (Bd. 7, Sachbl. 25,26, Bd. 6, Sachbl. 219-221, 227-228). Die Mitglieder der von STAFFORD geleiteten konterevolutionären trotzkistischen Terrorgruppe bereiteten am 1. Mai 1938 am Roten Platz einen Terrorakt gegen den Führer der Völker Gen. STALIN vor (Bd. 6, Sachbl. 219-221, 227-228). Hat persönlich in diese konterrevolutionäre Terrorgruppe den in der vorliegenden Sache angeklagten SELBIGER (Bd. 6. Sachbl. 220) hineingezogen, d.h. in den durch den Art. 58 §§ 6 T. 1,8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich nicht für schuldig erklärt (Bd. 6, Sachbl. 177-190), ist aber durch die Aussagen der Angeklagten SCHULTE-SCHWEITZER (Bd. 2, Sachbl. 58), KNODT-ANDER (Bd. 4, Sachbl. 9-11, 47-48), SELBIGER (Bd. 6, Sachbl. 219-221 und 227-228), DITTBENDER (Bd. 7, Sachbl. 5, 25-26) sowie durch die Gegenüberstellung mit SELBIGER und DITTBENDER (Bd. 6, Sachbl. 95-96 und 163-166) überführt. 11. SELBIGER Joseph Benjaminowitsch, 5 7 geb. 1910 in Duisburg (Deutschland), Jude, ohne Staatsangehörigkeit, ohne nationalen Paß, SPD-Mitgl. 1928-32, seit 1932 KPD-Mitglied, aus der er im Zusammenhang mit der Verhaftung ausgeschlossen wurde. In die UdSSR reiste er 1935 als Politemigrant ein. Vor der Verhaftung arbeitete er nicht und wurde von der IRH unterstützt, darin, daß er, der er seit 1928 konterrevolutionäre trotzkistische Auffassungen teilte, 1933 in Deutschland in die konterrevolutionäre trotzkistische Gruppe hineingezogen wurde, die in den Reihen der KP Deutschlands provokatorische Arbeit betrieb (Bd. 6, Sachbl. 213-214). Als er in Deutschland wohnte und KPD-Mitglied war, betätigte er sich im Auftrage des Leiters der trotzkistischen Gruppe Oskar Triebel provokatorisch, verriet faschistischen Behörden die ihm bekannten Kommunisten (Bd. 6, Sachbl. 215-217). Während des Aufenthalts in der Emigration in Frankreich hat er die Verbindung mit der in Paris existierenden konterrevolutionären trotzkistischen Gruppe hergestellt und wurde später vom Leiter der konterrevolutionären Gruppe Deutschen WILLI 5 8 unter dem Schein des Politemigranten für die trotzkistische Terrortätigkeit in die Sowjetunion geschickt. (Bd. 6, Sachbl. 216-218).

Er wird im Jan. 1941 freigelassen; danach Mitarbeit im NKFD, nach der Rückkehr aus der Sowjetunion, zuerst KPD-, dann SED-Bezirkschef in Sachsen-Anhalt., 1953-58 Botschafter der DDR in der CSSR., seit 1946 Mitglied des Parteivorstandes bzw. des ZK der SED, seit 1960 Mitglied des Staatsrates der DDR; gest. am 30.4.1964. 57 Joseph Selbiger, geb. am 13.5.1910 in Duisburg, Jude, Schriftsetzer. Mitglied der SAJ seit 1924, der SPD seit 1928, seit März 1932 der KPD, Gewerkschafts- und KPD-Funktionär in Dudweiler/Saar. Mitglied des Aufbruch-Kreises, akute Lungentuberkulose, verläßt 1935 das Saargebiet, inhaftiert in Frankreich bis Sept. 1935, über Paris Emigration in die UdSSR, hier Sanatorium-Aufenhalt, dann als Invalide im Haus der Politemigranten, lebt von monatl. 50 Rubel Unterstützung bis zu seiner Verhaftung am 12.3.1938, am 7.4.1941 zu fünf Jahren Arbeitslager durch Sonderberatung verurteilt. Verstirbt wahrscheinlich im Lager. 58 Gemeint ist wahrscheinlich Willi Münzenberg.

Der Fall des „Antikomintem-Blocks"

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Nach der Ankunft in der UdSSR wohnte er im Haus der Politemigranten (Moskau) und hat Verbindung mit dem Leiter der konterrevolutionären trotzkistischen Gruppe beim Haus der Politemigranten SCHMIDT Georg (verurteilt) hergestellt und wurde vom letzteren in diese konterrevolutionäre Gruppe hineingezogen (Bd. 6, Sachbl. 218-219). 1937, nach der Verhaftung SCHMIDTS, wurde er von dem an die Spitze dieser konterrevolutionären Gruppe stehenden und in dieser Sache verhandelten STAFFORD herangezogen, auf dessen Vorschlag SELBIGER der beim Haus der Politemigranten geschaffenen terroristischen Kampfgruppe beitrat, die den Terrorakt gegen Gen. Stalin während der Demonstration auf dem Roten Platz am 1. Mai 1938 vorbereitete (Bd. 6. Sachbl. 219-222), d.h. in den durch den Art. 58 §§ 8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich für schuldig erklärt (Bd. 6, Sachbl. 213-223, 224-226, 227-228). Ist außerdem durch die Aussagen des in der vorliegenden Sache angeklagten KNODT-ANDERS überführt (Bd. 4, Sachbl. 17). Hat selbst den Angeklagten STAFFORD während der Gegenüberstellung in der konterrevolutionären trotzkistischen Tätigkeit überführt (Bd. 6, Sachbl. 95-96). 12. SCHARSCH-KASSLER Georg Karlowitsch, 59 geb. 1887 in Berlin, Deutscher, Bürger der UdSSR, SPD-Mitlied 1904-18, KPD-Mitglied seit 1919, ausgeschlossen im Zusammenhang mit der Verhaftung, kam 1933 in die UdSSR. Vor der Verhaftung Redakteur des Verlags ausländischer Arbeiter, darin, daß er 1937 von dem in dieser Sache angeklagten BEUTLING Theodor in die konterrevolutionäre trotzkistische Terrororganisation hineingezogen wurde, über die Terrorauffassungen dieser konterrevolutionären Organisation wußte und sie teilte und hat sich bereit erklärt, dieser Organisation beizutreten. (Bd. 3, Sachbl. 134-135). Wurde von den in dieser Sache angeklagten BEUTLING und MÜLLER als unmittelbarer Vollstrecker des Terrorakts gegen die Führer der KPdSU(B) und Sowjetregierung bestimmt (Bd. 3, Sachbl.74-75,129-130), d.h. in den durch den Art. 58, §§ 8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich für nicht für schuldig erklärt (Bd. 6, Sachbl. 2-11), ist aber von den Aussagen der Angeklagten MÜLLER (Bd. 2, Sachbl. 194), BEUTLING (Bd. 3, Sachbl. 134-135, 74-75, 129-130) sowie durch die Gegenüberstellung mit dem letzteren überführt (Bd. 6, Sachbl. 58-59). 13. FRANKE Karl (alias STRÖTZEL Georg Gustavowitsch), 60 geb. 1885 in Markstadt (Deutschland), Deutscher, ohne Staatsangehörigkeit, Mitglied der S.-D. Partei Deutschlands von 1906 bis 1919, KPD-Mitglied seit 1919, wurde im Zusammenhang mit der Verhaftung ausgeschlossen, kam in die UdSSR 1933 als Politemigrant. Bis zur Verhaftung Redakteur des Sektors des Auslandsrundfunks des Allunionsrundfunkkomitees, 59 D.i. Georg Kassler, geb 8.4.1887 in Berlin, Schriftsetzer, seit 1904 Mitglied der SPD und seit deren Gründung der KPD, 1928-33 Mitgl. des Reichstags, 1933 Emigration in die UdSSR, Mitarbeiter in der VEGAAR, verhaftet am 28.6.38, bis 29.2.40 in Haft, nach Freilassung Lehrer an der Antifa-Schule in Talizy, 1946 SBZ, Verwaltungsdirektor des Regierungskrankenhauses der DDR, starb am 8.10.1962. 60 Max Strötzel (Deckname: Karl Franke), geb. 25.7.1885 in Markranstädt, Dreher, SPD 1906, USPD 1917, seit 1919 KPD-Mitglied, bis 1927 Polleiter des KPD-Bezirks Westsachsen, 1927-32 des Bezirks Pommern, 1925-27 Kandidat des ZK der KPD, 1924-32 Mitglied des Reichstages, 1932 Leiter der RHD im Bezirk Magdeburg, 1933 illegal tätig, 1933 in die UdSSR, Mitarbeiter des Exekutivkomitees der MOPR, Redakteur des Auslandsrundfunks, verhaftet 4.8.1938, Tagnak, Butyrka, am 6.1. noch in Haft, später entlassen, verstarb 1945 in der UdSSR.

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darin, daß er Mitglied der konterrevolutionären trotzkistischen Terrorganisation war, in die er 1935 von DITTBENDER Walter (ist in dieser Sache 1939 verurteilt) hineingezogen wurde, in wessen(??) Auftrage er trotzkistische Zersetzungsarbeit unter den deutschen Politemigranten betrieb und unter ihnen die feindlich eingestellten Personen aufdeckte, um sie in diese konterrevolutionäre Organisation hineinzuziehen (Bd. 6, Sachbl. 27-31). Äußerte sich verleumderisch über die Lebensbedingungen der Werktätigen in der UdSSR, über die von der KPdSU(B) und der Sowjetmacht betriebene Politik und lobte zu gleicher Zeit die faschistische Ordnung in Deutschland (Bd. 6, Sachbl. 28-30), d.h. in den durch den Art. 58 §§ 8 und 11 des StGB der RSFSR vorgesehenen Verbrechen. Hat sich für schuldig erklärt (Bd. 6, Sachbl. 27-34, 40-42), ist außerdem durch die Aussagen DITTBENDERS (Bd. 7, Sachbl. 5, 25-26, 16a und 16b), KNODT-ANDERS (Bd. 4, Sachbl. 23, 47-48) sowie durch die Gegenüberstellung mit DITTBENDER (Bd. 6, Sachbl. 89-94) überführt."

Nach der Haftentlassung von Bernhard Koenen, Georg Kassler und Paul Schwenk, nach der Ausweisung von Valentin Hahne und Hans Bloch und nach dem Tod von Gustav Sobottka jr. im Butyrka-Gefängnis wurde im Dezember 1940 gegen sieben Angeklagte in der Sache Nr. 9871 eine letzte Anklageschrift verfaßt. Hier werden vom NKWD-Hauptmann Bresgin Fritz Schulte, Georg Brückmann, Hans Knodt, Walter Rosenke, Theodor Beutling, Max Strötzel und Joseph Selbiger angeklagt. Die Eingangsformel in dieser Anklageschrift wiederholt erneut das NKWD-Konstrukt des "Antikomintern-Blocks": "1937-38 wurde vom NKWD der UdSSR im Apparat der Komintern sowie in den führenden Apparaten ihrer Sektionen eine konterrevolutionäre Spionage- und Terrororganisation der Rechten und Trotzkisten aufgedeckt. Ihre vom NKWD verhafteten Leiter KNORIN, KUN, MAGYAR, ABRAMOW-MIROW, KRAJEWSKI u.a. haben ausgesagt, daß sich das von ihnen geleitete kominternfeindliche Zentrum der Rechten und Trotzkisten in seiner feindlichen Arbeit auf ein verzweigtes Netz ausländischer und innerer sowjetfeindlicher Formationen stützte. Sie haben u.a. ausgesagt, daß eine solche Formation in der deutschen Kominternsektion und unter der deutschen Politemigration existierte /Bd.VIII, Sachbl. 101107, 217, 271, 311-312, 254-267, 218, 224-227 und 211-216/. Die Untersuchung in den Fällen einiger wegen konterrevolutionärer Tätigkeit verhafteter deutschen Politemigranten /NEUMANN, REMMELE, KIPPENBERGER, MAYERMOST, DIETRICH, SÜßKIND, SAUERLAND, BIRKENHAUER, FLIEG, KURELLA, DITTBENDER u.a./hat die Tatsache der Existenz einer derartigen Formation vollständig bestätigt/Bd.VIII, Sachbl. 42, 46, 64-68, 156-161, 112, 123, 138-139, 192-193, 242-246, 290294/" In einer Sonderberatung des NKWD wurden am 21. April 1941 sechs Angeklagte: Fritz Schulte, Georg Brückmann, Hans Knodt, Walter Rosenke, Theodor Beutling, Max Strötzel zu acht und Joseph Selbiger zu fünf Jahren Haft im GULag verurteilt. Als einziger überlebte Walter Rosenke den GULag. Er konnte erst 1956 in die DDR ausreisen.

Ulrich Mählert (Mannheim)

"Im Interesse unserer Sache würde ich empfehlen..." Fritz Große über die Lage der SED in Sachsen, Sommer 1946 Eher beiläufig wird zu Beginn der Sekretariatssitzung der SED-Landesleitung Sachsen am 6. Juli 1946 bekanntgegeben, daß neben dem Parteivorsitzenden Otto Buchwitz1 auch der im Sekretariat für Organisation und Jugendfragen zuständige Fritz Große am Montag, den 8. Juli seinen Urlaub antreten würde. 2 Während Buchwitz für drei Wochen entschuldigt wird, geben die Anwesenden ihr Einverständnis, daß Große "voraussichtlich etwas länger" der Parteiführung fernbleiben könne. Zweifellos hatte der damals zweiundvierzigjährige Kommunist Urlaub dringend nötig: Zuchthaus und KZ während der nationalsozialistischen Diktatur sowie die strapaziösen Nachkriegsmonate hatten an seiner Gesundheit gezehrt. Darüber, wo Große die verdiente Erholung suchen sollte, gibt eine unscheinbare handschriftliche Notiz Wilhelm Piecks 3 Auskunft. "Grosse nach Schelesnowodsk, angekommen"4 wird sich dieser während oder nach einem Treffen mit der SMAD-Führung in Berlin-Karlshorst am 19. September 1946 notieren. Dem Sachsen war das Privileg vergönnt, dem vom Kriege zerstörten Deutschland wenigstens für einige Wochen den Rücken zu kehren. Er kann seine Gallen- und Leberbeschwerden in dem kleinen sowjetischen Kurort Shelesnowodsk kurieren. Die im nördlichen Kaukasusvorland gelegene Stadt ist in Rußland für ihre Mineralquellen bekannt. Ab dem 27. September nimmt Große wieder regelmäßig an den Sekretariatssitzungen der sächsischen SED-Führung teil.5 Seine Reise in die Sowjetunion findet weder in den Protokollen des Parteigremiums noch in seiner Kaderakte im einstigen Zentralen Parteiarchiv der SED Erwähnung. 6 Fünf Jahrzehnte sollten vergehen, bis sich diese Reise als Steinchen in das Mosaik der Einordnung eines Archivfundes einfügen würde. Ein neunzehn, einzeilig beschriebene Maschinenseiten umfassender "Bericht über die Lage in Sachsen" 7 , den Fritz 1 Otto Buchwitz (1879-1964), 1898 SPD-Mitglied, 1924-33 MdR, 1933 Emigration nach Dänemark, 1940 verhaftet, 1941 Verurteilung zu 7 Jahren Zuchthaus, 1945/46 SPD/KPD, Juli 1945-April 1946 SPD-Landesvors. Sachsen, April 1946-Dez. 1948 SED-Landes vors. Sachsen, 1946-64 Mitglied des PV/ ZK der SED, ab 1950 Alterspräsident der Volkskammer. 2 Beschlußprotokoll Nr. 17 der Sekretariatssitzung des Landesvorstand Sachsens der SED am Sonnabend, 6. Juli 1946; Sächsisches Hauptstaatsarchiv (SHsta), SED-LL Sachsen, A/778, Bl. 115. 3 Wilhelm Pieck (1876-1960), 1935 Vorsitzender der KPD, 1946 bis 1954 gemeinsam mit O. Grotewohl Vorsitzender der SED, ab 1946 Mitglied des Zentralsekretariats bzw. Politbüro der SED, 1949 bis zu seinem Tod Präsident der DDR. 4 Wilhelm Pieck - Aufzeichnungen zur Deutschlandpolitik 1945-1953. Hrsg. von Rolf Badstübner und Wilfried Loth. Berlin 1994, S. 80. 5 Beschlußprotokoll Nr. 34 der Sekretariatssitzung des Landesvorstandes Sachsen, vom Freitag, 27. September 1946; SHsta, LL-Sachsen, A / 788, Bl. 220. 6 SAPMO, DY 30, IV 2/11 /v 134. 7 Das Typoskript findet sich als einziges Dokument in einer Akte des Bestandes Kaderfragen des Zentralen Parteiarchivs der SED in Berlin.Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO), DY 30, IV 2/11/129. Unklar ist, wie das Dokument in das Berliner Archiv gelangt ist. Es gibt weder Absender- bzw. Empfängervermerke noch irgendeinen anderen Hinweis auf den

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Große am 7. August 1946 in Moskau verfaßt hatte, macht deutlich, daß dieser seinen Aufenthalt in der Sowjetunion nicht allein zur Rekonvaleszenz nutzte. Offenbar bot sich Große auf seinem Weg in den Kaukasus während eines Zwischenstopps in Moskau die Gelegenheit, seine Sicht der politischen Lage in Ostdeutschland ins Zentrum der Macht zu lancieren.

Vom Abenteurer zum Parteisoldaten Fritz Große 8 dürfte über gute Kontakte zum politischen Establishment der sowjetischen Hauptstadt verfügt haben. 9 Dafür spricht nicht allein das Indiz, daß ihm, einem Provinzfunktionär, bereits im Sommer 1946 eine Kur in der Sowjetunion ermöglicht wurde. Großes Biographie ist aufs engste mit der Sowjetunion verbunden. Am 5. Februar 1904 im erzgebirgischen Altenberg geboren, wächst Große in Reifland, einem kleinen Dorf bei Zschopau, auf. Schon früh kommt er mit der Arbeiterbewegung in Kontakt. Die Kunde vom Sieg der russischen Bolschewisten und die Ausläufer der Novemberrevolution, die das Dorf erreichen, elektrisieren den jungen Lehrling einer örtlichen Holzfabrik. Gemeinsam mit einem Arbeitskollegen macht sich Große im Mai 1920 auf den Weg nach Rußland, um in der Roten Armee für die junge Sowjetmacht zu kämpfen. Als sein Kamerad in Ostpreußen Heimweh bekommt, schlägt sich Große allein nach Polen durch. Dort schließt sich der Sechzehnjährige im Juli 1920 einem Reiterkorps der Roten Armee an. Zum damaligen Zeitpunkt scheint deren Sieg über Polen in greifbarer Nähe. Große wird Kandidat, im Dezember 1920 schließlich Mitglied der Deutschen Sektion der Kommunistischen Partei Rußlands (B). Im selben Monat wird seine Einheit nach Moskau verlegt und aufgelöst. Auf Weisung der Deutschen Sektion der KPR(B) kehrt er mit dem Paß eines ehemaligen deutschen Kriegsgefangenen nach Deutschland zurück, um sich dort in den Dienst der Partei zu stellen. Nach seiner Rückkehr arbeitet Große zunächst als Kellner in Aschersleben und ab Sommer 1921 als Bauarbeiter in Chemnitz. Erst jetzt kann er mit der KPD Verbindung herstellen,

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Entstehungszusammenhang. Auch die wenigen handschriftlichen Unterstreichungen lassen keine Rückschlüsse auf die Rezeption des Dokumentes zu. Das Dokument endet mit dem maschinenschriftlichen Vermerk "Moskau, 7. August 1946, F. Grosse". Da Große den Text selbst nicht unterschrieben hat, handelt es sich dabei vermutlich um eine Abschrift. Die nachfolgende biographische Skizze stützt sich auf eine Broschüre von Konrad Müller und Thomas Friedrich: Aus dem Leben und Kampf Fritz Großes. Berlin (Ost) 1984 (Schriftenreihe zur Geschichte der FDJ, Heft 55), auf die darin aufgeführte Literatur, auf die Prozeßakten eines Volksgerichtshofverfahren gegen Große aus dem Jahre 1936 (vgl. Widerstand als "Hochverrat" 1933-1945. Die Verfahren gegen deutsche Reichsangehörige vor dem Reichsgericht, dem Volksgerichtshof und dem Reichskriegsgericht. (Mikrofiche-Edition), 2. Lfg. Hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte, München. Bearbeiter: J. Zarusky/H. Mehringer. München 1993, Fiche 44f.), auf Fritz Großes Kaderakte sowie auf seine Erinnerungsakte (SgY 30/309) im Zentralen Parteiarchiv der SED. Fritz Große schrieb sich lange Zeit "Grosse", so auch in dem hier abgedruckten Dokument. In der Einleitung wird einheitlich die von ihm präferierte Schreibweise seiner letzten Lebensjahre verwandt. Der damalige stellvertretende Bürgermeister in Dresden, Walter Weidauer, errinnerte sich vier Jahrzehnte später: "Fritz [...] hatte ein ausgezeichnetes Verhältnis zu den sowjetischen Genossen, sowohl zur Standortkommandantur als auch zur sowjetischen Militäradministration Sachsen. Die dort tätigen Offiziere hatte enge Bindungen zu ihm. Das hat uns häufig vieles beim Aufbau und der Lösung komplizierter Probleme erleichtert." In: Müller/Friedrich: Aus dem Leben und Kampf Fritz Großes, S. 48.

Fritz Große über die Lage der SED in Sachsen, Sommer 1946

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die sich damals langsam von der Niederlage des gescheiterten März-Aufstandes erholte. Er läßt sich zum Mitglied der K P D umschreiben und tritt Anfang 1922 d e m Kommunistischen Jugendverband Deutschlands (KJVD) bei. Dort sollte sich der 18jährige Abenteurer nach d e m Willen seiner Partei zunächst bewähren. Rasch klettert Große die Parteileiter empor. N a c h d e m er zunächst mit der Leitung eines Unterbezirks des KJV betraut wird, gehört er ab 1 9 2 4 dem Sekretariat der KJVD-Bezirksleitung Erzgebirge/Vogtland an, für dessen Anleitung er ab 1925 in der KPD-Bezirksleitung verantwortlich zeichnet. Im selben Jahr wird er Mitglied des Zentralkomitees des Jugendverbandes. Parallel dazu arbeitet er im geheimen "M-Apparat", d e m Nachrichtendienst der K P D . 1 0 1926 und 1929 reist Große zu Tagungen des Exekutivkomitees der Komintern s o w i e zur Kommunistischen Jugendinternationale nach Moskau. 1927 wechselt er an die Spitze des KJVD-Bezirks Halle-Merseburg s o w i e in die dortige Bezirksparteileitung. Zuvor hatte er in Chemnitz seine spätere Frau, die damals einundzwanzigjährige Lea Lichter 1 1, kennengelernt. Im Juni 1929 nimmt Große am 12. Parteitag der K P D teil. Der sächsische Jugendfunktionär wird Spielball in den parteiinternen Machtkämpfen zwischen Heinz N e u m a n n 1 2 und Ernst Thälmann 1 3 . Dieser setzt im Herbst 1929 auf dem Verbandskongreß des K J V D Großes Wahl zum Organisationssekretär und damit zweiten Mann im K J V D durch. D o c h an der

10 Vgl. dazu Kaufmann, Bernd/Reisener, Eckhard/Schips, Dieter/Walther, Henri: Der Nachrichtendienst der KPD 1919-1937. Berlin 1993. 11 Lea Lichter, am 12. Mai 1906 in Czenstochau, damals Russisch-Polen, als Tochter eines Lederhändlers jüdischen Glaubens geboren. Nach einem Progrom wandert die Familie nach Leipzig, dann nach Chemnitz aus. Besuch der Volks- und Realschule. Nach einer abgebrochenen Ausbildung als Gymnastiklehrerin tritt Lichter 1927 dem KJVD bei. 1928 kommt es zum Bruch mit dem Elternhaus. Ab 1928 lebt sie mit Fritz Große in Halle zusammen. 1929 KPD. Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin geht Lea Lichter 1930 nach Moskau. Dort leitet sie zunächst das Archiv der Kommunistischen Jugendinternationale. Später arbeitet sie im WEB (Westeuropäischen Büro). Gemeinsam mit Fritz Große koordiniert sie ab 1933 den kommunistischen Jugendwiderstand. 1934 wird sie in Deutschland verhaftet und 1936 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach ihrer Haftentlassung schlägt sie sich nach Polen und schließlich in die Sowjetunion durch. Dort arbeitet sie zuletzt als Programmleiterin beim Radiosender "Freies Deutschland". 1946-1949 Chefredakteurin beim Landessender Dresden. In den fünfziger Jahren Kaderleiterin, schließlich Dramaturgin bei der DEFA. In den sechziger Jahren bis zur Pensionierung Chefredakteurin des Deutschen Soldatensenders. Lea Große lebt heute in Berlin-Pankow. Für ihre freundliche Unterstützung bei den biographischen Recherchen zu Fritz Große sei ihr an dieser Stelle herzlich gedankt. 12 Heinz Neumann (1902-1937), 1920 KPD, 1925 Vertreter der KPD bei der Kommunistischen Internationale, 1927 Kandidat, 1929 Mitglied des ZK und Kandidat des Politbüros, 1929-1932 Mitglied des Sekretariats, neben Thälmann und Hermann Remmele der entscheidende Führer der KPD. April 1932 wird Neumann seiner Funktion enthoben. 1933 Spanien, Schweiz, 1935 Sowjetunion. Während der stalinistischen Säuberungen wird Neumann im April 1937 in Moskau verhaftet, im November zum Tode verurteilt und erschossen. Vgl. Weber, Hermann: "Weiße Flecken" in der Geschichte. Die KPD-Opfer der Stalinschen Säuberungen und ihre Rehabilitierung. Berlin 1990, S. 105. 13 Ernst Thälmann (1886-1944), 1903 SPD, 1918 USPD, 1921 KPD, 1923 KPD-Zentrale, 1925 Mitglied des Polbüro und Wahl zum Parteivorsitzenden, 1925 Kandidatur für das Amt des Reichspräsidenten. Im Zusammenhang mit der Wittorf-Affäre ruht 1928 für kurze Zeit Thälmanns Funktion. Mit Moskauer Rückhalt kann sich Thälmann Anfang der dreißiger Jahre gegen Neumann behaupten. März 1933 Verhaftung, 1944 wird Thälmann in Buchenwald erschossen.

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Spitze der Jugendorganisation steht mit Kurt Müller 14 ein Anhänger Neumanns. Ihm gelingt es im Frühjahr 1930, Große als Delegierten des KJVD in das Exekutivkomitee der Kommunistischen Jugendinternationale (KJI) nach Moskau abzuschieben. Hier und im Vollzugsrat der Roten Gewerkschaftsinternationale arbeitet er bis 1932. Im August 1931 reist er im Auftrag der KJI nach England, wo er wegen eines Meldevergehens zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt wird. Nachdem er den größten Teil der Strafe verbüßt hat, reist er im September 1932 zur Berichterstattung nach Moskau. Hier eröffnet ihm der dort anwesende Thälmann, daß er, Große, die Leitung des KJVD übernehmen werde. Mittlerweile hatte sich der aus Hamburg stammende Parteiführer gegen seinen parteiinternen Widersacher durchsetzen können. Einen Monat später kehrt Große nach Deutschland zurück. Im November bestätigt ihn das ZK des KJVD auf seiner Tagung in Prieros offiziell als KJVD-Vorsitzenden. Sein Konkurrent Kurt Müller war bereits im Sommer des Vorjahres nach Moskau strafversetzt worden. Im gleichen Jahr rückt Große als Abgeordneter der KPD in den Reichstag ein. Als die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht übernehmen, taucht er unter. Wiederholt reist er nach Moskau, Prag, Paris und Amsterdam, um über die Arbeit des illegalen KJVD zu berichten und diese zu koordinieren. Seine Frau Lea Lichter wird fast fünf Jahrzehnte später die gemeinsame Zeit im Widerstand anschaulich schildern. 15 Anfang Dezember 1933 trifft Grosse in Moskau ein, um als Vertreter des KJVD an der Exekutivtagung der Kommunistischen Internationale und im Anschluß daran der Kommunistischen Jugendinternationale teilzunehmen. Es wird für viele Jahre sein letzter Aufenthalt in seiner politischen Heimat sein. Auf eigenen Wunsch kehrt Große im Febrauar 1934 nach Deutschland zurück. Zuvor erreicht ihn in Paris die Nachricht, daß die Kommunistische Jugendinternationale die Auflösung der zentralen KJVD-Leitung beschlossen habe. Aus Gründen der "Dekonzentration" sollten fortan fünf Bezirks-Oberberater den Jugendwiderstand operativ anleiten. Obwohl Große diesen Beschluß für falsch hält und sich dabei im Einklang mit der engeren KJVD-Spitze weiß, setzt er die Direktive diszipliniert um. Er ist fortan für die Anleitung der Arbeit in Westdeutschland verantwortlich. Trotz aller konspirativen Vorsichtsmaßnahmen ziehen die nationalsozialistischen Verfolger ihr Netz immer enger. Am 23. August 1934 wird Große in Düsseldorf von der Gestapo verhaftet. Zwei Jahre später verurteilt ihn der Volksgerichtshof zu lebenslänglichem Zuchthaus. Große kommt zunächst nach Brandenburg-Görden. Dort trifft er auf zahlreiche politische Weggefährten aus der Weimarer Republik. Im Herbst 1943 überstellt ihn die Gestapo in das österreichische KZ Mauthausen. Seine Akte trägt den Vermerk "R.u.", d.h. "Rückkehr unerwünscht". Die illegale kommunistische Lagerleitung im Konzentrationslager sorgt dafür, daß der Tbc-kranke Große im Sanitätsblock medizinisch versorgt wird. Zum Jahreswechsel 1944/45 wird Große in das Nebenlager Ebensee in den österreichischen Alpen verlegt, das in den ersten Maitagen von amerikanischen Truppen befreit wird. Zusam-

14 Kurt Müller ( 1 9 0 3 - 1 9 9 0 ) , 1920 KPD, 1929 Vorsitzender des KJVD, als Anhänger Heinz Neumanns 1931 nach Moskau "strafversetzt", 1932 Funktionsenthebung, von 1934 bis 1945 als Widerstandskämpfer in Deutschland inhaftiert. 1945 Vors. KPD Niedersachsen, ab 1948 stellv. KPD-Vorsitzender in Westdeutschland, 1949 M d B , 1950 v o m M f S verhaftet, 1955 Rückkehr aus Haft in der U d S S R , ab 1957 SPD, 1960-85 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Friedrich-Ebert-Stiftung. 15 Vgl. Große, Lea: Eine Inventur. Berlin (Ost) 1982; vgl. auch: Jahnke, Karl Heinz: Jungkommunisten im Widerstandskampf gegen den Hitlerfaschismus. Berlin (Ost) 1977.

Fritz Große Uber die Lage der SED in Sachsen, Sommer 1946

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men mit vier Genossen, darunter Horst Sindermann 1 6 , schlägt sich Große in die sowjetische Besatzungszone Österreichs durch. Dort trifft er auf Franz D a h l e m 1 7 , der in der illegalen Lagerleitung des KZ-Mauthausen die deutschen Kommunisten vertreten hatte. Der sowjetische Stab der Ukrainischen Front fliegt beide nach Moskau aus, w o sie am 11. Juni 1945 eintreff e n . 1 8 V o n den "Organen" auf seine Standhaftigkeit während der Haftzeit überprüft und mit der neuen politischen Linie vertraut gemacht, kehrt Große am 1. Juli 1945 gemeinsam mit Dahlem, Wilhelm Pieck und dessen Tochter Elly Winter 1 9 nach Berlin zurück. 2 0 Bereits am darauffolgenden Tag entscheidet die KPD-Spitze über Großes weitere Verwendung. Als fünften und letzten Tagesordnungspunkt beschließt das Sekretariat des KPD-Zentralkomitees über den auf der Sitzung anwesenden Genossen: "Gen. Fritz Grosse fährt nach Dresden als Stellvertreter von Matern 2 1 für die Arbeit in Sachsen." 2 2 Im Sekretariat der KPD-Bezirksleitung Sachsen zeichnet Große für den wichtigen Bereich Kaderfragen verantwortlich. Regen Anteil nimmt er ab Ende 1945 an den Kampagnen der K P D zur Vereinigung mit der SPD. D e n sächsischen SPD-Vorsitzenden Otto Buchwitz hatte er bereits im Zuchthaus Brandenburg kennengelernt. N a c h Auskunft von Lea Große entwikkelt sich z w i s c h e n d e m alten Sozialdemokraten und dem jungen Kommunisten ein herzliches Verhältnis. In Dresden wohnen sie zeitweilig im selben Haus.

16 Horst Sindermann (1915-1990), 1929 KJVD, 1934-1945 Zuchthaus Waldheim und KZs Sachsenhausen und Mauthausen. 1945 KPD. Chefredakteur der „Volksstimme" in Chemnitz, danach Chefredakteur des SED-Pressedienstes, bis 1955 SED-Organ „Freiheit" in Halle, 1955-1963 Mitarbeiter ZK der SED, ab 1958 Kandidat, ab 1963 Mitglied des ZK der SED, ab 1963 Abgeordneter der DDR-Volkskammer, ab 1963 Kandidat, ab 1967 Mitglied des SED-Politbüros, 1973-1976 Vorsitzender des DDR-Ministerrates, 1976-1989 Präsident der Volkskammer. Dezember 1989 Ausschluß aus der SED. 17 Franz Dahlem (1892-1981), 1913 SPD, 1917 USPD, 1920 KPD, ab 1929 Mitglied des KPD-Politbüros, 1933 Emigration, 1939 in Frankreich interniert, 1942 Auslieferung nach Deutschland 1943-1945 KZMauthausen. Ab 1945 Mitglied der engeren Parteiführung zunächst der KPD, dann der SED. Verantwortlich für Personalpolitik, später Westarbeit. 1953 aller Funktionen enthoben, 1956 rehabilitiert. 18 Das Datum der Ankunft vermerkt Anton Ackermann in seinem Terminkalender; SAPMO, DY 30: 4109/ 5, Bl. 152. 19 Elly Winter (1898-1987). 20 Vgl. Keiderling, Gerhard (Hrsg.): "Gruppe Ulbricht" in Berlin April bis Juni 1945. Von den Vorbereitungen im Sommer 1944 bis zur Wiedergründung der KPD im Juni 1945. Eine Dokumentation. Berlin 1993, S. 373. 21 Hermann Matem (1893-1971), 1911 SPD, 1919 KPD, ab 1926 Sekretär und 1927-1931 politischer Leiter der KPD-BL Sachsen-Anhalt, 1931-1933 KPD-Ostpreußen, 1928/29 Internationale Lenin-Schule Moskau, 1933 Verhaftung, 1934 Flucht, Aufenthalt in Frankreich, Holland, Belgien, von 1938 bis 1940 Norwegen, bis 1941 Schweden, bis zu seiner Rückkehr nach Sachsen mit einer Initiativgruppe ("Gruppe Ackermann") des ZK der KPD im Mai 1945 Aufenthalt in der Sowjetunion. 1945/46 KPD/SED, 1945/46 Vors. der KPD-BL Sachsen und ZK der KPD, 1946-1971 Zentralsekretariat bzw. Politbüro der SED, April 1946-Oktober 1948 Landes vors. SED-Berlin, 1948-1971 1. Vors. derZPKK. 22 Protokoll Nr. 1, Sitzung des Sekretariats am 2. Juli 1945, abgedruckt in: Dokumente zur Geschichte der kommunistischen Bewegung in Deutschland. Reihe 1945/46. Band 1. Protokolle des Sekretariats des Zentralkomitees der KPD Juli 1945 bis April 1946. Bearb. v. Günter Benser u. Hans-Joachim Knisch unter Mitarbeit von Hans Meusel. München 1993, S. 32f.

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Sommer 1946 Im Sommer 1946, als sich Große mit seinem Lagebericht an die sowjetische Führung wendet, steht er als Organisationssekretär und damit zweiter Mann dem größten Landesverband der SED vor. Nahezu jeder Dritte der damals rund 1,5 Millionen SED-Mitglieder ist in Sachsen registriert. Die alte Hochburg der Arbeiterbewegung nimmt bei der Umwälzung von Wirtschaft und Gesellschaft in Ostdeutschland Pilotfunktion ein. Auf der konstituierenden Sitzung des sächsischen SED-Landesvorstandes im April 1946 hatte der aus der KPD stammende paritätische Parteivorsitzende Koenen 23 den Kurs der SED vorgegeben: "Wir sind eine staatsaufbauende Partei, die größte der Parteien, die stärkste und wir wollen das Schicksal der Nation in die Hand nehmen als staatsaufbauende Partei." 24 Alle Hemmnisse, die der Verwirklichung dieses Führungsanspruches im Wege stehen, gilt es nunmehr zu überwinden. Trotz aller unbestreitbarer Erfolge hat der scheinbar unaufhaltsame Siegeszug der deutschen Kommunisten östlich der Elbe im ersten Halbjahr 1946 an Schwung verloren. Daran änderte auch der erfolgreiche Volksentscheid über die Enteignung der von der Besatzungsmacht 1945 beschlagnahmten Betriebe von "Kriegsverbrechern und Naziaktivisten" vom 30. Juni 1946 nichts, mit dem das einwohnerreichste Land das Signal zu einem weitreichenden Eingriff in die Eigentumsverhältnisse gab. Mittlerweile haben die bürgerlichen Parteien ihre Kräfte formiert und zeigen sich nicht länger bereit, den politischen Kurs der Kommunisten unwidersprochen mitzugehen. Nicht ohne Bedenken sehen die verantwortlichen SED-Führer im Sommer 1946 den Kommunal-, Kreis- und Landtagswahlen entgegen, die für September und Oktober angesetzt sind.

Kalkulierte Berichterstattung Offenkundig verfolgt Große mit seiner Berichterstattung in der sowjetischen Hauptstadt in erster Linie zwei Absichten. Zunächst liest sich das Dokument als ein Versuch, mit Moskauer Hilfe eklatante Mißstände in der sowjetischen Besatzungspraxis in Ostdeutschland zu überwinden. Wie ein roter Faden durchzieht das Memorandum die unausgesprochene Überzeugung, daß sich die positive oder negative Wahrnehmung der sowjetischen Besatzungsherrschaft als ein wesentlicher Faktor für den Erfolg oder Mißerfolg der SED-Politik erweisen würde. In dem Maße, in dem die SMAD die KPD/SED protegierte, schlägt der Unmut der Bevölkerung über die anhaltenden Demontagen, die nicht enden wollenden G e w a l t i g keiten von Angehörigen der Besatzungsmacht, die willkürlichen Verhaftungen usw. auf die Partei zurück. Die politisch für die Partei verhängnisvolle Etikettierung der KPD und schließlich der SED in der Bevölkerung als "Russenpartei" entspringt in den Nachkriegsjahren kei23 Wilhelm Koenen (1886-1963), 1903 SPD, 1917 USPD, 1920 KPD, mit Unterbrechung von 1920-1924 Mitglied der KPD-Zentrale, 1920-1932 MdR, 1933 Emigration nach Frankreich, 1935-38 Leiter der Emigration in der Tschechoslowakei, danach Frankreich und England, 1940-42 Internierung in England, 1945/46 KPD/SED, 1946-1963 PV bzw. ZK der SED, 1946-Dezember 1948 SED-Landesvors. in Sachsen, 1949-58 Leiter des Sekretariats der Volks- und Länderkammer der DDR 24 Protokoll der 1. Sitzung des SED-Landesvorstandes am 25. April 1946; SHsta, SED-LL Sachsen, A/ 754, Bl. 12.

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neswegs nur einem antikommunistischen Feindbild, sondern ist im Besatzungsalltag erlebbar. Doch die SED besitzt weder den Handlungsspielraum noch ist sie - vermutlich - willens, sich von ihrem mächtigen Verbündeten öffentlich zu distanzieren. So besteht die einzige Hoffnung offenkundig in dem Versuch, über die Moskauer Zentrale eine grundlegende Korrektur der Besatzungsherrschaft zum Besseren zu erreichen. Großes Kritik spart dabei kaum ein Thema aus. Kaum weniger brisant als die massive Kritik an der SMAD ist Großes unverhohlene Attacke gegen die eigene Parteispitze in Berlin. Sie wirft ein Schlaglicht auf die - für Außenstehende - verborgenen Auseinandersetzungen zwischen unterschiedlichen Gruppen innerhalb der KPD im Nachkriegsdeutschland. Diese sind anfangs nicht dazu bereit, sich dem Führungsanspruch der aus Moskau heimgekehrten und von der SMAD protegierten Parteifuhrung bedingungslos zu unterwerfen. Vor allem die "Inlandskommunisten", die die Zeit des Nationalsozialismus im KZ, Zuchthaus oder in der Illegalität überlebt haben, sehen sich zunehmend an den Rand gedrängt. 25 Mit Unverständnis reagieren viele von ihnen auf das von den "Moskauern" verordnete Bekenntnis zur bürgerlichen Demokratie. Stand mit der Sowjetunion im Hintergrund nicht endlich die sozialistische Neugestaltung Deutschlands auf der Tagesordnung? Nicht sie sitzen an den Leitstellen der Macht, sondern jene, die das "Dritte Reich" im vermeintlich sicheren Moskauer Exil überdauert hatten. Große führt das Beispiel Fritz Selbmanns 26 an. Dieser habe vor 1933 an der Spitze der sächsischen KPD-Bezirksleitung gestanden und sei nach Kriegsende davon ausgegangen, "daß er wieder Sekretär der sächsischen Partei wird oder ins Politbüro nach Berlin kommt". Daß Große unter dem kleinen "Schnupfen", den er bei Selbmann ob dieser offensichtlichen Deklassierung diagnostiziert, selbst leidet, wird aus seinen Ausführungen erkennbar. Zwar ist die Position eines Organisationsleiters im stärksten SED-Landesverband auf den ersten Blick nicht unbedeutend. Doch im zentralistischen Politikverständnis der Kommunisten relativierte sich dies rasch. Trotz seines angeschlagenen Gesundheitszustandes sieht sich der zweiundvierzigjährige ehemalige KJVD-Vorsitzende im Nachkriegsdeutschland zweifellos zu Höherem berufen. Nicht einmal in dem achtzigköpfigen Partei vorstand in Berlin hat er Aufnahme gefunden. Als Hermann Matern nach der SED-Gründung mit der Leitung der Berliner Parteiorganisation betraut wurde, war nicht er, sondern Wilhelm Koenen Landesvorsitzender der SED geworden. Wenn dann ein "sehr verantwortlicher Genosse" ihm gegenüber in einem privaten Gespräch betont, "daß es eigentlich nur eine ganz kleine Gruppe ganz fester Leute gäbe, nämlich die Moskauer", dann muß dies wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Hatte er nicht während der parteiinternen Auseinandersetzungen vor 1933 treu zu Thälmann gestanden, als sich so viele andere der Abweichung schuldig machten? Nur wenig verklausuliert gibt er seinem sowjeti-

25 Gerhard Keiderling beschreibt die Vorbehalte der aus Moskau zurückgekehrten Exilanten gegenüber den "Inlandskommunisten" in seiner Einleitung zu "Gruppe Ulbricht" (vgl. Anm. 20). 26 Fritz Selbmann (1899-1975), USPD, 1922 KPD, 1931-33 Politischer Leiter der BL der KPD Sachsen, 1932 MdR, nach illegaler Arbeit von 1934-45 inhaftiert, 1945/46 KPD/SED, 1945/46 Präs. des Landesarbeitsamts u. Vizepräsident der Landesverwaltung Sachsen für Wirtschaft und Arbeit, 1946-48 Minister für Wirtschaft u. Wirtschaftsplanung in Sachsen, 1948/49 stellv. Vorsitzender d. Deutschen Wirtschaftskommission, 1949-55 Industrieminister, 1954-58 ZK der SED, 1958 Parteirüge wegen "Managertum" u. Unterstützung der Schirdewan-Wollweber-"Fraktion", 1961-1964 stell. Vors. des Volkswirtschaftsrates, ab 1964 freiberufl. Schriftsteller, 1969-1975 Vizepräsident des Dt. Schriftstellerverbandes.

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sehen Vertrauensmann zu verstehen, daß eine inkompetente Berliner Zentrale die fähigsten Köpfe der Partei in der Provinz versauern lasse. In einer Parteitradition, in der "Fraktionsmacherei" zu den schwersten Verbrechen zählte und die Einheit der Partei, die mit der Unterordnung der nachgeordneten Parteiebenen unter die Parteispitze gleichzusetzen war, über allem stand, spielt der Sachse ein gewagtes Spiel. Doch wenige Monate nach Gründung der SED und angesichts offenkundiger Mißstände sieht Große seine Stunde gekommen.

Quellenkritik Wer genau Großes Ansprechpartner war, ließ sich nicht rekonstruieren. Fest steht, daß sein Bericht erst Mitte September 1946 übersetzt 27 und maschinenschriftlich in drei Exemplaren ausgefertigt worden ist. 28 In einer an Michail A. Suslow gerichteten undatierten Notiz heißt es: "Ich übergebe Ihnen die rassische Übersetzung der Mitteilung der Bezirksleitung der SED im Bundesland Sachsen Fritz Grosse. Beilage: obenerwähnt, 36 Seiten", gezeichnet Ter-Sachijan. Suslow, der während der Zeit der großen Säuberungen in den dreißiger Jahren eine steile Kariere machen konnte, gehörte seit 1941 dem ZK der KPdSU an und betreute im Jahre 1946 die Abteilung Außenpolitik des Zentralkomitees. 1947 sollte er als ZK-Sekretär in die oberste Parteiführung aufrücken. 29 Der amerikanische Historiker Norman Naimark hat in seiner jüngsten Studie über die sowjetische Besatzungsherrschaft in Ostdeutschland einige randständige Fakten aus dieser russischen Parallelüberlieferung zitiert, ohne jedoch auf das Dokument als solches weiter einzugehen. 30 Wie auch immer Großes Verbindungen ausgesehen haben mögen, der sächsische Parteifunktionär nutzte diesen Draht mindestens noch einmal im Folgejahr, um ein Memorandum des sächsischen Wirtschaftsministers über die Frage der Reparationen nach Moskau zu lancieren. 3 1 Doch nicht die Tatsache, daß dieser Bericht für eine Moskauer Stelle verfaßt worden ist, macht ihn interessant. Nach Auskunft von Historikern, die die Gelegenheit hatten, in den dortigen Archiven zu recherchieren, finden sich dort zahllose Berichte unterschiedlichster deutscher Provenienz. Es gehörte zur Herrschaftstechnik der Moskauer Kommunisten, sich nicht nur aus einer Quelle zu informieren. Interessant ist die Diktion des Berichtes. Hier kommt kein eingeschüchterter Untergebener einer Aufforderung seiner Obrigkeit zum Rapport nach. Hier berichtet ein Kommunist, den die verschlungenen Wege der Weltrevolution wieder einmal nach Sachsen verschlagen ha27 Nach Auskunft von Lea Große sprach Fritz Große nur wenig russisch. 28 Für den Hinweis auf die im folgenden zitierten russischen Archivmaterialien sowie deren Übersetzung danke ich Dr. Alexander Vatlin und Dr. Genadij Bordjugow in Moskau. Die hier genannten Dokumente sowie die russische Übersetzung des Größe-Berichtes finden sich im Russischen Zentrum zur Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten der neuesten Geschichte, Fond 17, Findbuch 128, Mappe 147, Bl. 26-62. 29 The Soviet Union. A biographical dictionary. Edited by Archie Brown. London 1990, S. 378. 30 Naimark, Norman M.: The Russians in Germany. A History of the Soviet Zone of Occupation, 19451949. Cambridge, MA./London 1995, S. 170, 180, 289, 295. 31 Karlsch, Rainer: Das "Selbmann-Memorandum" vom Mai 1947. Fritz Selbmann und die Reparationslasten der sächsischen Industrie. In: Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung (BzG) 1993, S. 88ff.

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ben, an einen Genossen, der in der Moskauer Zentrale seine Funktion erfüllt. Demzufolge zeichnet sich der Bericht durch ein hohes Maß an Offenheit aus. Vieles deutet darauf hin, daß er den Adressaten seines Memorandums als ranghohen Entscheidungsträger kannte. Dafür spricht nicht zuletzt die Erwähnung Ulbrichts 32 , den man bereits in der Vergangenheit darum gebeten habe, sich an "Euch" zu wenden, wie es an einer Stelle im Dokument heißt. Große muß davon ausgegangen sein, daß sein Ansprechpartner in der Lage war, auf die sowjetische Besatzungspolitik grundsätzlich Einfluß zu nehmen.

Vergebliche Mühen Fast scheint die Feststellung müßig, daß sich die weitgesteckten, mit dem Bericht verbundenen Hoffnungen Großes nicht erfüllt haben. Dies soll nicht heißen, daß seine Intervention ungehört verhallte. Ein Aktenstück aus dem einstigen Parteiarchiv der KPdSU vom 30. Januar 1947 gibt einen Hinweis darauf, was mit der russischen Version des Textes geschehen ist, die an Suslow ging. Dort heißt es: "Ins Archiv. Mitteilung des Vorstandsmitglieds der SED im Bundesland Sachsen, Gen. F. Grosse, wurde bei der Vorbereitung des Beschlusses über die Entsendung der Kommission des ZK nach Berlin sowie bei der Erarbeitung des Abschlußberichtes verwandt. Kadersektor wurde auch mit diesem Material bekanntgemacht", gez. G. Korotkewitsch. 33 Nachdem in der Moskauer Parteiführung im Verlauf des Jahres 1946 wiederholt Nachrichten über Probleme in der sowjetischen Besatzungszone eingegangen waren, entsandte die KPdSU-Führung im September 1946 eine Kommission nach Ostdeutschland, um sich ein Bild über die dortige Lage zu verschaffen. In ihrem Abschlußbericht vom 11. Oktober 1946 beklagten Delegationsteilnehmer "ernsthafte Mängel" insbesondere in der Arbeit der Propagandaabteilung, die für die Kontrolle der politischen Parteien in der SBZ verantwortlich zeichnete. 34 Die Kritik sollte jedoch ebenso wirkungslos verpuffen wie vergleichbare Initiativen der Jahre bis 1948/49. Die sowjetische Interessenlage im Hinblick auf (Ost-)Deutschland war viel zu divergierend, und konkrete Nachkriegspläne fehlten fast völlig, um eine stringente Besatzungspolitik zu realisieren, wie sie sich nicht nur Große erhofft hatte. 35 Und auch sein Versuch, im innerparteilichen Machtkampf zu reüssieren, sollte fehlschlagen. Große bleibt der Weg in die Parteiführung versperrt. Nach dem 2. SED-Parteitag im Herbst 1947 zeichnet Große im sächsischen Landesvorstand für die Personalpolitik verantwortlich. 1948 wird ihm die Leitung der Kommission für staatliche Kontrolle des Landes Sachsen übertragen. Ein Jahr später wird er mit seiner Ernennung zum außerordentlichen und 32 Walter Ulbricht (1893-1973), 1912 SPD, 1919 KPD, ab 1923 Zentrale bzw. ZK und ab 1929 Politbüromitglied, 1933-45 Emigration nach Paris, dann Moskau, April - Juni 1945 Leiter der Initiativgruppe ZK KPD ("Gruppe Ulbricht"), 1945/46 ZK ud Sekretariat ZK der KPD, ab 1946 Mitglied des SED-Zentralsekretariats und stellv. Vors. d. SED, von 1950 bis 1971 Generalsekretär bzw. Erster Sekretär der SED. 33 G. Ja. Korotkewitsch (1916-1992) war seit 1944 Referent der Abteilung für Internationale Information, die zwischen Dezember 1945 und Juli 1948 Abteilung für Außenpolitik hieß; Russischen Zentrum zur Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten der neuesten Geschichte Fond 17, Findbuch 128, Mappe 147, BI. 25. 34 Vgl. Naimark, The Russians in Germany, S. 327ff. 35 Vgl. ebda.

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bevollmächtigten Botschafter der DDR in der Tschechoslowakei endgültig aus der aktiven Politik gedrängt. Nun, da die deutschen Kommunisten erstmals zumindest in einem Teil von Deutschland die Macht in Händen halten, ist er als Diplomat zur Untätigkeit verdammt. Großes Schicksal stellte in der SBZ der späten vierziger Jahre keinen Einzelfall dar. Am Beispiel der überlebenden Kommunisten des KZ Buchenwald ist der "verlorene Machtkampf der Inlandskommunisten mit denen, die aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt waren", anschaulich dokumentiert. 36 Erst 1952 kann Große in die DDR zurückkehren. Dabei ist es keine Selbstverständlichkeit, daß er die Parteisäuberungen, die seit 1949 die SED erschütterten, unbeschadet überlebt hat. Im Gefolge der großen Schauprozesse in Ungarn, Bulgarien 1949 und 1952 schließlich auch in der Tschechoslowakei hatte Stalin die letzten Reste unabhängigen Denkens in den kommunistischen "Bruderparteien" liquidiert. Trotz der makellosen Parteikarriere hätte Grosse durchaus in die Mühlen der Parteiinquisition geraten können. Nicht genug, daß er als DDR-Botschafter zwischen 1949 und 1952 mit den Opfern des Prager Prozesses in Kontakt stand. Immer wieder hat er seit 1945 in den ihm vorgelegten Fragebögen auch Artur London 37 als Leumund für seine antifaschistische Arbeit im Konzentrationslager angegeben, der 1952 gemeinsam mit Rudolf Slänsky 38 auf der Anklagebank saß. Auch wenn Große weiterhin aus dem Zirkel der Macht ausgeschlossen bleibt, sollte er in seinen letzten Lebensjahren in der DDR-Außenpolitik keine unbedeutende Rolle spielen. Die Partei überträgt ihm die Leitung der Hauptabteilung Politische Angelegenheiten im DDRAußenministerium.39 In dieser Funktion ist er maßgeblich an den Verhandlungen mit Jugoslawien über die gegenseitige staatliche Anerkennung beteiligt. Als das Balkanland im Herbst 1957 mit der DDR diplomatische Beziehungen vereinbart, gelingt es Ostberlin, eine erste wichtige Bresche in die Bonner Hallstein-Doktrin40 zu schlagen. Große sollte die bereits ausgesprochene Ernennung zum Leiter der DDR-Mission in Belgrad nicht mehr wahrnehmen können. Am 12. Dezember 1957 stirbt er im Krankenhaus Berlin-Buch an den Spätfolgen seiner elfjährigen Haft in Zuchthaus und KZ. 36 Der 'gesäuberte' Antifaschismus. Die SED und die roten Kapos von Buchenwald. Dokumente. Hrsg. von Lutz Niethammer unter Mitarbeit von Karin Hartewig, Harry Stein und Leonie Wannemacher. Eingeleitet von Karin Hartewig und Lutz Niethammer. Berlin 1994, S. 143. 37 Artur London (1915-1985), 1936 Span. Bürgerkrieg, 1940-42 franz. Résistance, bis 1945 KZ Mauthausen, 1945-49 in Frankreich, danach Tschechoslowakei, leitender Mitarb. im Außenministerium, 1951 verhaftet. Im Slansky-Prozeß zu lebenslanger Haft verurteilt. 1956 Haftentlassung, 1963 Rückkehr nach Frankreich. Vgl. London, Artur: Ich gestehe. Der Prozeß um Rudolf Slänsky, Berlin 1991. 38 Rudolf Slänsky (1901-1952), Gründungsmitglied der KPTsch, sowjetisches Exil, nach 1945 Generalsekretär der KPTsch, 1951 verhaftet, 1952 in einem Schauprozeß zum Tode verurteilt und hingerichtet. 39 Über eine Begegnung mit Fritz Große berichtet Horst Gruner in seinem Buch "Für Honecker auf glattem Parkett. Erinnerungen eines DDR-Diplomaten." Berlin 1995, S. 119. 40 Die nach dem damaligen Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Walter Hallstein, benannte Doktrin war das wichtigste Instrument der Nichtanerkennungs-Politik der Bundesrepublik Deutschland gegenüber der DDR. In seiner Regierungserklärung vom September 1955 erklärte Konrad Adenauer, "daß die Bundesregierung auch künftig die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit der DDR durch dritte Staaten, mit denen sie offizielle Beziehungen unterhält als einen unfreundlichen Akt ansehen würde, da er geeignet wäre, die Spaltung Deutschlands zu vertiefen." Entsprechend dieser Doktrin brach die Bundesrepublik im gleichen Jahr die diplomatischen Beziehungen zu Jugoslawien ab. Vgl. Weidenfeld, Werner/Korte, Karl-Rudolf (Hrsg.): Handwörterbuch zur deutschen Einheit. Bonn 1991, S. 369ff.

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An der Trauerfeier im Krematorium Berlin-Baumschulenweg nimmt neben Otto Grotewohl 41 , Walter Ulbricht, Hermann Matern und Heinrich Rau 42 auch der Botschafter der UdSSR, G.M. Puschkin, teil. Erich Honecker 43 , damals schon Kandidat des Politbüros, hält am Grab seines einstigen KJVD-Vorsitzenden die Gedenkrede. 44 So erweist die Parteiführung Große, dem sie nach 1945 den Weg ins Zentrum der Macht versperrt hatte, eine letzte Referenz. Das bislang unveröffentlichte Dokument wird im folgenden ungekürzt wiedergegeben. Der Text wurde stilistisch nicht verändert. Lediglich grammatikalische bzw. Schreibfehler wurden stillschweigend korrigiert. Angesichts der Vielzahl der im Bericht angesprochenen Themen beschränken sich weiterfuhrende Literaturverweise auf jene Sachverhalte, die fiir das Verständnis des Textes unmittelbar von Bedeutung sind. Generell sei in diesem Zusammenhang auf das SBZ-Handbuch, hrsg. von Martin Broszat und Hermann Weber, München 1990, verwiesen. Bei den biographischen Recherchen war neben dem SBZ-Handbuch insbesondere der zweite Band von Hermann Webers "Die Wandlung des deutschen Kommunismus", Frankfurt am Main 1969, eine unverzichtbare Quelle. Den Archivarinnen und Archivaren aus zahlreichen sächsischen Stadt- und Kreisarchiven sowie im Dresdner Hauptstaatsarchiv sowie den Kolleginnen und Kollegen, die bei der Kommentierung und Einordnung des Dokumentes mit Rat zur Seite standen, sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt. Dieser Dank gilt auch der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, die den vollständigen Abdruck des Dokuments genehmigt hat.

41 Otto Grotewohl (1894-1964), 1912 SPD, 1918 USPD, 1922 SPD, 1920-25 MdL Braunschweig, dort 1921 Innen- und Volksbildungs-, 1923 Justizminister, 1925-1933 MdR, nach 1933 Kaufmann, kurzzeitig Haft. 1945/46 geschäftsführender SPD-Vorstand, 1946-1954 gemeinsam mit W. Pieck Vorsitzender der SED, Mitglied des Zentralsekretariats und bis zu seinem Tod des Politbüros der SED, ab 1949 Ministerpräsident der DDR. 42 Heinrich Rau (1899-1961), 1916 Spartakusgruppe, 1918 KPD, 1920-1933 Mitarbeiter, später Leiter der ZK-Abteilung Land der KPD, 1928-33 MdL in Preußen, 1933-35 verhaftet, dann Emigration, 1937-39 Spanischer Bürgerkrieg, bis 1945 KZ-Mauthausen, 1945/46 2. Vizepräsident der Provinzialverwaltung Brandenburg, 1946-1948 Minister für Wirtschaftsplanung im Land Brandenburg, 1948/49 Vorsitzender der Deutschen Wirtschaftskommission, ab 1949 PV bzw. ZK der SED, ab 1950 Politbüro, ab 1953 Leitung verschiedener Industrieministerien. 43 Erich Honecker (1912-1994), ab 1931 Politischer Leiter der KJVD-Bezirksleitung Saar, 1933-35 antifaschistischer Widerstand im illegalen KJVD, 1937-1945 Zuchthaus Brandenburg, 1946-1955 Vorsitzender der FDJ, 1971-1989 1. Sekretär bzw. Generalsekretär der SED. 44 Neues Deutschland vom 19. Dezember 1957.

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Bericht über die Lage in Sachsen Dieser Bericht ist selbstverständlich sehr unvollkommen, und es fehlen viele Unterlagen, um die einzelnen Fragen konkret zu beleuchten. Im Interesse unserer Sache würde ich empfehlen, daß unsere Moskauer Stellen in gewissen Zeitabschnitten aus den verschiedenen Bezirken über einzelne Arbeitsgebiete sich direkte Berichte anfordern. Nicht über ZK 4 ^, und auch der Berichterstatter braucht nicht zu wissen, an wen die Berichte gehen. Wenn ich zum Beispiel von einem Genossen aus der Landesverwaltung (Regierung) einen genauen Bericht über die Lage in der Kohlen-Industrie anfordere, bekomme ich ein objektives Bild; verlangt aber das ZK diesen Bericht, wird er wahrscheinlich ein bißchen schöngefärbt. Und verlangt jemand den Bericht für die S.M.A. (Sowjet-Militär-Administration) 4 ^ so wird er wahrscheinlich so geschrieben, wie man glaubt, daß er von der S.M.A. gewünscht wird. 1. Unsere wirtschaftliche Lage ist ernster, als es aus den Zeitungen hervorgeht. 4 ^ Daß wir die Planziffern für Reparationen bisher erfüllt haben, darf uns nicht in Illusionen versetzen. Im ersten Quartal 1946 haben wir zum Beispiel nur dadurch die Reparationen erfüllen können, daß eine Reihe nicht industrieller Werte (Schmuck, Gemälde und ähnliches) mit eingesetzt wurden. Das entscheidende Problem ist die Rohstoff-Frage. Unser Ausverkauf ist gewissermaßen abgeschlossen. Was irgendwie an Rohmaterial gelagert hat, ist aufgebraucht. Die Textil-Industrie ist durch die Einfuhr russischer Baumwolle vor der Gefahr der Stillegung bewahrt worden. Unter der Arbeiterschaft der Textilindustrie hat sich das sehr gut ausgewirkt, denn ihre Arbeitsstelle ist ihnen gesichert, die übrige Bevölkerung, die nach Textilprodukten auf dem Markt fragt, ist selbstverständlich nicht so stark beeindruckt. Am heikelsten ist es in der Metall-Industrie. Da bei uns alle Betriebe für Walzwerk-Erzeugnisse demontiert wurden, in anderen Gebieten der Sowjetzone sowieso keine bestanden, sind wir in dieser wichtigen Frage völlig vom Westen abhängig. Mit den Stellen der Wirtschaft bei der S.M.A. ist in diesen Fragen sehr schweres Arbeiten. Der Genosse Selbmann, ein alter Kommunist und früheres ZK-Mitglied, der in der sächsischen Verwaltung die Wirtschaft leitet, sagt uns, daß ihm zwar viele Rohstoffe versprochen werden, aber nur sehr wenige geschickt werden. Der Produktionsplan der S.M.A. (Genosse Oberst Blochin 4 ^) wird aber aufgestellt nach dem, was versprochen wurde, nicht nach den angelieferten Rohstoffen, und es ist mit ihm in dieser Frage einfach nichts zu erreichen. Zum Beispiel Zement wurden für das II. Quartal 27000 Tonnen zugesagt, aber faktisch nur 9500 Tonnen geliefert, aber die Berechnung basiert auf 27000 Tonnen. Auf solcher Basis ist von einer soliden Planarbeit natürlich keine Rede. Ein anderer Zustand, der eine richtige Arbeit stark erschwert, ist folgender. Die Rohstoffzuteilung an die Betriebe geht nach Dringlichkeit. 1. 2.

Betriebe für Reparationslieferung Betriebe für Lieferung an Rote Armee

45 Zentralkomitee, Grosse bezieht sich dabei vermutlich auf den SED-Parteivorstand in Berlin. 46 Zum Aufbau und zur Arbeit der SMAD sowie insbesondere zum deutsch-sowjetischen Berichtswesen vgl. die Einleitung zu Inventar der Befehle des Obersten Chefs der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949. Offene Serie. Im Auftrag des Instituts für Zeitgeschichte zusammengestellt und bearbeitet von Jan Foitzik. München 1995. 47 Die wirtschaftliche Lage in der SBZ und insbesondere in Sachsen behandelt ausführlich: Karisch, Rainer: Allein bezahlt? Die Reparationsleistungen der SBZ/DDR 1945-1953. Berlin 1993. Für seine Hinweise zur Wirtschaftsgeschichte der SBZ dankt der Herausgeber Herrn Dr. Rainer Karisch, Berlin. 48 1945-1946 Chef der Abt. Wirtschaft der SMA Sachsen.

Fritz Große über die Lage der SED in Sachsen, Sommer 1946 3. 4.

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Betriebe für Lieferung an Wojentorg 49 und eine andere Gesellschaft, ich habe im Moment den Namen vergessen. Betriebe für zivilen Bedarf

Soweit sieht der Plan ganz gut aus. Jetzt kommen aber Aufkäufer von der Abteilung Udalow 50 , Karlshorst 51 , die kommen mit direkter Unterschrift von Mikojan52 und kaufen für große Millionensummen auf und müssen vordringlich beliefert werden. Resultat ist, daß nicht nur für die Zivilbevölkerung nicht mehr viel bleibt, sondern auch die Pläne für die [oben genannten] Gruppefn] 1 -3 kommen durcheinander, und es gibt schlechte Stimmung auf allen Seiten. Hier muß geändert werden, denn das kompromitiert den Gedanken der Planwirtschaft, und es ist ein Störungsfaktor. Entweder muß man bestimmte Summen festlegen und in die Gruppe[n] 1-3 eingliedern und diese entsprechend erhöhen oder einen anderen Weg finden. Eventuell könnten eine Reihe Betriebe aus dem Rohstoff- und Produktionsplan herausgenommen werden, die direkt unter Sowjet-Verwaltung arbeiten und obige Anforderungen befriedigen. Unsere Genossen, die in der Wirtschaft arbeiten, haben allerdings für diesen Gedanken nicht viel übrig, sie sagen, dann werden alle Rohstoffe nur an diese Betriebe gehen, und für die anderen bleibt nichts übrig. Aber wahrscheinlich wäre, bei beiderseitigem guten Willen eine Regelung möglich. Die Genossen haben noch ein zweites Bedenken. In den Betrieben, die unter Sowjet-Verwaltung arbeiten, werden an Facharbeiter und Ingenieure so hohe Gehälter gezahlt, daß unsere Industrie, wenn sie nicht in Inflationspreise kommen will, nicht mitkann. So propagandistisch für die UdSSR es einerseits wirkt, wenn in ihren Betrieben die Leute gut verdienen, so verschlechtert es andererseits die Stimmung der anderen Arbeiter, die nicht begreifen wollen, warum sie um vieles schlechter bezahlt werden. Die Losung dieses Problems ist wahrscheinlich nur so möglich, daß sich die Löhne nur um einiges höher bewegen dürfen, dann kann man den Arbeitern schon sagen: "Ja, wenn wir auch Sowjetmacht hätten, dann könnten wir wahrscheinlich auch diese Löhne zahlen." 2. Transport. Unsere Fachleute sagen, daß die Demontage bei der Eisenbahn durch maximalste Ausnutzung und straffste Organisierung zum großen Teil behoben werden kann. Allerdings der Waggonmangel5^ ist äußerst fühlbar. Aber schlimmer ist, daß bis heute noch nicht erreicht werden konnte, daß eine straffe und zweckmäßige Aufgliederung der Eisenbahnbezirke erreicht wurde. Es ist uns bisher nicht gelungen, ernste Argumente zu hören, warum zum Beispiel das Land Sachsen völlig zerrissen ist. Zum Beispiel der Eisenbahnbezirk Cottbus (Provinz Brandenburg) geht bis an die Vororte von Dresden, und Leipzig gehört nach Halle (Provinz Sachsen). Es ist einfach nicht möglich, das einheitliche Wirtschaftsgebiet Sachsen auch an ein einheitliches Verkehrsgebiet anzugliedern, und der Teufel soll klug werden, ob sich hierbei Karlshorst hinter die Zonen-Zentralverwaltung steckt, oder die Zentralverwaltung hinter Karlshorst. Das brennendste Problem auf dem Gebiet des Transports ist augenblicklich der Straßentransport. Es gibt so wenig Lastautos, daß zur Bewältigung der Aufgaben diese Wagen möglichst immer laufen. Es ist aber so, daß ein großer Teil brach liegt und in sehr kurzer Zeit vielleicht alles still liegt, wenn das Problem "Reifen" nicht geordnet wird. Hier wäre wohl nur eine Möglichkeit. An das Rohgummiwerk "Buma" eine Reifenerzeugung anzugliedern.

49 Voentorg (Voennaja Torgovlja), Handelsorganisation der Roten Armee. 50 Die Abteilung wird in den einschlägigen Darstellungen zur SMAD nicht erwähnt. 51 Sitz der SMAD in Berlin. 52 Anastas Ivanovich Mikojan (1895-1978), ab 1923 Mitglied des ZK der KPdSU, ab 1926 Kandidat, von 1935 bis zu seiner Pensionierung 1966 Mitglied des Politbüros, 1938-1949 Volkskommissar bzw. Minister für Außenhandel, 1943-46 Mitglied des Komitees für die Wiederherstellung der Wirtschaft in den sowjetischen Westgebieten. In Verbindung damit stand Mikojans Beteiligung an der Besatzungs- bzw. Reparationspolitik der Sowjetunion in Deutschland. Er gilt als Vertreter einer moderaten Reparationspolitik, die, anders als die von Malenkow vertreterene Richtung, die Demontage der ostdeutschen Wirtschaft einschränken wollte, um die deutsche Industrie langfristig für den sowjetischen Bedarf produzieren zu lassen. Vgl. Fisch, Jörg: Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg. München 1992, S. 105. 53 Mindestens ein Drittel des Waggonparks wurde als Reparationsleistung von den Sowjets requiriert.

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Die Hoffnung, in absehbarer Zeit Reifen einzuführen oder von den Engländern aus Hannover (Continental) zu bekommen, ist wohl Illusion.^ 4 3. Bevölkerung und Besatzungsmacht. Was die ersten Monate war, ist bekannt, also braucht man kein Wort mehr zu verlieren. Wir haben den maßgebenden Offizieren oft erklärt, es gab und gibt in Deutschland Polenhaß, aber einen Russenhaß hat es in Deutschland nie gegeben. Was jetzt passiert, kann uns aber auf viele Jahre Schande bringen. Inzwischen hat sich die Lage ziemlich normalisiert. Bei manchen Offizieren hört man manchmal so als Entschuldigung: "Nun ja, wir sind Okkupationsmacht", aber, auch wenn wir uns bei manchen Offizieren unbeliebt machen, haben wir unserer Partei gesagt: "Meldet uns alle Fälle."55 Das war manchmal schwer. Es gab Offiziere, die unsere Genossen verdächtigten, sie sammelten Material gegen die Rote Armee, wenn sie jede Woche zum Bericht auf die Kommandantur gingen und alles meldeten. Es gibt auch Fälle, wo sich Kommandanturen die Sache insofern leicht machen, daß sie sagen: "Bringen sie uns die Namen der Übeltäter", was natürlich niemand kann. Aber in Sachsen ist im ganzen gesehen die Lage einigermaßen normalisiert. Einige Dinge sind allerdings nicht in Ordnung. Es kommen noch viele Diebstähle vor von Fahrrädern. Wenn die Arbeiter morgens und abends von oder zur Arbeit gehen, werden viele Räder gestohlen. Das wäre doch bei gutem Willen leicht abzustellen. Jeder Kommandant am Ort kann doch sofort feststellen, welcher Rotarmist besitzt ein Dienstrad. Wer keines hat, hat auch kein anderes zu besitzen, und wer doch eins hat, hat es entweder gestohlen oder von einem Dieb gekauft. Vor etwa 3 Wochen kam in Dresden folgendes vor. Wir hatten Parteikonferenz. Auf dem Rückweg wurden wir aufgehalten von deutscher Polizei und mußten mit den Autos zur Zentralen Polizei-Verwaltung, wo 12 Autos beschlagnahmt werden sollten. Wir sind der Sache nachgegangen, und man sagte uns: "Uns ist von der Kommandantur der Auftrag gegeben worden, innerhalb 3 Stunden 12 erstklassige Autos für Karlshorst zu beschaffen." Da keine Nazis mehr im Besitz von Autos der verlangten Qualität waren, hat man einfach Straßenkontrollen gemacht und beschlagnahmt. Wir haben das verhindert, haben der Polizei gesagt, wir werfen sie aus der Partei heraus, wenn das nochmal vorkommt. Wenn sie einen solchen Befehl bekommen, sollen sie erst zu uns kommen, ehe sie ihn durchführen.^ Gerade die Polizei muß doch jetzt endlich aus der Periode des wilden Beschlagnahmens herauskommen. Ein Auto, für welches ordnungsgemäße Papiere mit deutschen und russischen Stempeln und Unterschriften bestehen, kann nicht mehr beschlagnahmt werden. Sonst glaubt niemand mehr etwas, weder uns noch der Sowjetbehörde. Unsere Genossen stehen eben auch in vielen Dingen vor den Sowjetischen Militärischen Behörden stramm und möchten nicht unliebsam auffallen, weil sie mit ihnen täglich arbeiten müssen. Große Schwierigkeiten bereitet uns noch die Beschaffung von Wohnungen mit Möbeln für Offiziersfamilien. Da meist nicht einzelne Wohnungen, sondern ganze Häuser oder Häusergruppen verlangt werden, betrifft es sehr oft Antifaschisten und manchmal auch Genossen von uns, die innerhalb 48 Stunden ihre Wohnung räumen müssen unter Zurücklassung aller Möbel. Das ist bei einer zerstörten Stadt wie Dresden oder Chemnitz nicht einfach.

54 Gemeint ist das Buna-Werk in Schkopau. Im Mindener Abkommen vereinbart die SMAD mit den Westalliierten Anfang 1947 den Austausch von Synthesekautschuk aus dem Buna-Werk gegen Reifen. 55 In einem Informationsprotokoll der Sekretariatssitzung des sächsischen SED-Landesvorstandes vom 15. Juni 1946 ist folgende Wortmeldung Großes wiedergegeben: "Er bittet die Genossen, die Dinge im Zusammenhang mit der Roten Armee detailliert ihm schriftlich zu übergeben mit Orts- und evtl. Namensangabe. Auch über die Korruptionsfälle soll Material an ihn abgegeben werden." SHsta, SED-LL Sachsen, A/778, Bl. 109. 56 Vgl. Naimark, The Russians in Germany, S. 170f.

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Es müßte erreicht werden, daß Wohnungsanfordeningen an die Stadtverwaltung mit längeren Terminen gestellt würden, und einige der Möbelfabriken, die für Reparation arbeiten, sollten wenigstens einen Teil der Möbel für die Offiziere liefern. Ich möchte hier zwei Momente mitanschneiden, wo ich gewisse Gefahren für die Rote Armee sehe, respektiv, wo wir in der Besatzungsarmee und in der Truppe Tendenzen moralischer Zersetzung befürchten müssen, die auch noch Auswirkungen haben können, wenn die Menschen wieder zurück in die UdSSR kommen. a) Es gibt in den kleineren Kommandanturen Kapitäne oder einen Major. Er besitzt die größte Villa mit vielen Zimmern, er hat das beste Auto im Kreis, er ist gewissermaßen ein kleiner König, und sein Wunsch ist Befehl. Wie wird er sich fühlen, wenn er wieder zurückkommt und hier leben muß wie jeder andere auch. Es besteht dann die Gefahr, er erzählt hier ein ganz falsches Bild vom Leben in kapitalistischen Ländern, denn er hat ja nicht die Wohnung und Lebensbedingungen der Arbeiter kennengelernt, sondern [die] der Reichen und wird dann vielleicht hier in der Union sagen: "So lebt der Mensch im Ausland", und dann kann ein Dummkopf denken: "Ja, dort leben die Menschen besser." b) In Berlin habe ich in der Woche, wo ich mich dort aufhielt, gesehen, daß im Zentrum der Stadt viele Schwarzhändler Rotarmisten waren oder mindestens russische Uniform trugen und russisch sprachen. Das macht den allerschlechtesten Eindruck. Warum sind keine Streifen der Militärpolizei in Zivil, die diese Dinge beseitigen. c) Ich erlaube mir, vielleicht unberechtigt, eine Frage, nämlich ich habe den Eindruck, als ob der Komsomol 57 zu wenig Schwung und Begeisterung unter den jungen Besatzungstruppen entwickelt, um sie mit der Lage vertraut zu machen, ihr moralisches Niveau zu heben, ihnen gute Unterhaltung zu bieten und den Alkoholkonsum etwas einzuschränken. Ich bitte, das nicht als Kritik, sondern als Anregung anzusehen. d) Da bekannt ist, daß die russischen Menschen sehr die Kinder lieben, und da es bei der deutschen Bevölkerung hoch anerkannt wird, sollte auf diesem Gebiet doch mehr unternommen werden, weil man über die Kinder an die Eltern herankommt und die Beziehungen zwischen Truppe und Bevölkerung noch besser werden könnten. Bevor ich über die Grundstimmung in der Bevölkerung etwas sage, einige Bemerkungen zur Wendenfrage. 58 Unser Material von Anfang des Jahres ist bekannt. Wie ist die Lage jetzt. Die Führer der Wenden haben vor der Vereinigung von SP[D] und KP[D] sich geteilt, nicht gespalten. Nedo 5 ^, der geistige Führer, trat in die KPD ein, und der Landrat Ziesch^O, der nicht der klügere, aber der aktivere von ihnen ist, ging in die SPD. Beide selbstverständlich aus spekulativen Gründen. Eine Verwandte von Ziesch reist augenblicklich in England und Amerika und propagiert die Wenden-Autonomie, sie will zur Friedenskonferenz nach Paris. Bei der Gründung der Freien Deutschen Jugend^1 traten auf der Jugendkreiskonferenz in Kamenz einige junge Wenden auf und sagten: "Wir haben eigentlich bei Euch nichts zu suchen". Unser dortiger Jugendleiter reagierte sehr geschickt und erreichte, daß sich in allen Dörfern der wendischen Gegend Gruppen der F.D.J.

57 Russisch: Kommunistitscheskij sojus molodjoschi, Kommunistischer Jugendverband der Sowjetunion. 58 Bezeichnung für alle in Mittel- und Ostdeutschland sowie Ostalpenländern ansässigen Slawen, spätere Begriffseinengung auf Oberlausitzer und Niederlausitzer Sorben (Westslawen), vgl. dazu Foitzik, Jan: Domowina, Zwjazk luziskich Serbow. In: SBZ-Handbuch, S. 802ff. 59 Pawol (auch: Paul) Nedo (1908-1984), 1933-37 1. Vorsitzender der Domowina, 1944/45 Inhaftierung wegen Verdachts auf Hochverrat, 1945 KPD/SED, 1945-51 erneut Domowina-Vorsitzender. 60 Dr. Jan Ziesch (eigentlich Cyz) (1898-1985), im Mai 1945 provisorischer Leiter der Domowina. Z. wird als erster Sorbe Landrat in Bautzen. 61 Am 7. März 1946 lizenzierte und von der SED kontrollierte Monopoljugendorganisation.

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bildeten. Nedo und Ziesch waren wenig zufrieden, sie wollten die wendische Jugend nur im Rahmen der Domowina^ 2 erfassen. Beim Volksentscheid*^ haben wir erst, ehe wir an die Domowina herangingen, einstimmige Beschlüsse in allen Betrieben fassen lassen, in denen Wenden arbeiteten. Darauf faßte die Domowina den Beschluß, zum Volksentscheid mit "Ja" zu stimmen. Zu den Kommunalwahlen wollte die Domowina erst eigene Kandidatenlisten aufstellen, da dies nicht zulässig war, haben sie beantragt, auf den Listen der S.E.D. zu kandidieren. Es wird sich jetzt zeigen müssen, ob der Einfluß auf die katholischen wendischen Bauern stärker von der Domowina ausgeht oder ob sie mehr zur Kirche neigen und für die C.D.U. stimmen.^ Während in den letzten Monaten die Aktivität der Domowina etwas nachgelassen hat, sind nach der Gottwald^-Rede, wo er Grenzrevision ankündigte, Tendenzen neuen Auftriebs festzustellen.^ In Berlin ist in der Bevölkerung von einer besseren Stimmung als vor einigen Monaten nichts zu spüren. Vielleicht ist das nur der erste Eindruck, aber wenn man nur kurze Zeit dort ist, hat man unbedingt diesen Eindruck. Es gehen unerhört viele Leute auf den Straßen, von denen man die Überzeugung hat, daß sie nicht arbeiten. Die Prostitution ist sehr offen. Der Schwarzhandel blüht am hellen Tage. Über die Berliner Partei soll später etwas gesagt werden. In Sachsen ist die allgemeine Lage und Stimmung doch etwas anders, obwohl auch hier keineswegs alles in Ordnung ist. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß die Nervosität, die noch bis Jahresende bestand, sehr zurückgegangen ist. Es besteht bei der Bevölkerung ein gewisser Glaube, daß es möglich ist, daß es vorwärts geht. Der Volksentscheid, der bis in die letzte Familie politische Entscheidung verlangte, hat viel dazu beigetragen. Was sind im wesentlichen die Punkte, worüber die Menschen klagen oder wo Depression besteht? a) Die Demontage haben wir als Partei den Arbeitern nicht schwer als notwendig erklären können.^ Schwer aber war es, Argumente zu finden für gewisse Methoden der Demontage. Es war z.B. in vielen Betrieben so, daß ein Teil des Betriebes bombardiert war, der andere, noch bestehende Teil wurde demontiert. Nachdem der Teil demontiert war, haben wir die Arbeiter zusammengeholt, und unsere Genossen entwickelten eine ungeheure Initiative, und der Schwung unserer Genossen steckte die Arbeiter an. Sie räumten die Trümmer ihres Betriebes oder auch andere, völlig zerbombte Betriebe auf, und aus den Trümmern reinigten und reparierten sie die einzelnen Teile, setzten sie zu Maschinen zusammen und fingen zu produzieren an. Oft haben sie monatelang umsonst, ohne Lohn gearbeitet, in manchen Betrieben haben sie sogar Geld noch mitgebracht, um manches zu kaufen. Da kam die Demontagetruppe und baute den Betrieb ein zweites Mal ab. Die Genossen waren verärgert und bestürzt. Die Kommandantur Sachsen konnte nichts 62 1912 in Hoyerswerda gegründete Dachorganisation sorbischer Vereine, die 1945 als Bund Lausitzer Sorben wiedergegründet worden war. Am 13. Juli 1946 gründete die Domowina mit der "Serbska mlodzina" (Sorbische Jugend) eine eigene Jugendorganisation, die bis Herbst 1949 existierte. 63 Am 30.6.1946 wurde in Sachsen ein Volksentscheid über das "Gesetz über die Übergabe von Betrieben von Kriegs- und Naziverbrechern in das Eigentum des Volkes" abgehalten, das mit einer Mehrheit von 77,62 Prozent angenommen wurde. 64 Für die Zeit vom 1.-15.9.1946 waren in der SBZ Gemeindewahlen und für den 20.10.1946 die Wahlen zu den 5 Landtagen und zu den Kreistagen angesetzt. 65 Klement Gottwald (1896-1953), 1929-53 Generalsekretär bzw. Vorsitzender der KPTsch, 1945-46 stellvertretender und 1946-48 Ministerpräsident, 1948-53 Staatspräsident der CSR. Die Gottwald-Rede konnte nicht nachgewiesen werden. 66 Innerhalb der sorbischen Minderheit gab es separatistische Bestrebungen, die von der Forderung nach einem Anschluß an die Tschechoslowakei bis hin zu Überlegungen reichten, einen eigenen sorbischen Staat zu proklamieren. Diese Tendenzen wurden seitens der CSR anfangs propagandistisch unterstützt. 67 Die - meist vergeblichen - Bemühungen der Arbeiterschaft und der SED, Demontagen zu verhindern, schildert Rainer Karisch in seinem Beitrag "Arbeiter, schützt Euere Betriebe!" Widerstand gegen Demontagen in der SBZ. In: IWK, 30. Jg. (1994), S. 380ff.

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machen, denn die Demontagetruppen unterstehen ihr n i c h t ^ . Man sagte, der Betrieb war noch nicht restlos abgebaut, die Demontage war nur unterbrochen. Abschluß ist erst, wenn sie von uns den Schein haben, daß Abschluß ist. Was kann man da den Arbeitern viel sagen, vor allem, wie kann man da ihnen das Mißtrauen nehmen, daß sie, wenn sie wieder aufbauen, wieder abgebaut werden. Wir selbst waren damals, als noch einige andere Momente hinzukamen, in einer furchtbaren Stimmung, haben den Genossen Ulbricht aufgefordert, sich an Euch zu wenden. Es war eine ganze Reihe von Fällen, wo Arbeiter, die die Maschinen mit demontieren mußten, geschlagen wurden, unter bewaffneter Aufsicht zu arbeiten, war für die Arbeiter unangenehm, und Ausdrücke wie: "Los, los deutsches Schwein", waren auch schlecht. Aber als z.B. in Leipzig bei der Hassag, nachdem alles demontiert war, die Fensterscheiben zerschlagen wurden, statt daß man sie der Bevölkerung gab, die in den zerstörten Wohnungen ohne Glas lebt, da waren wir im engeren Parteikreis uns klar: Diese Methoden sind nicht im Sinne der WKP 6 9 (Bolschewiki), sondern das sind Schädlingsmethoden oder trotzkistische Arbeit.' 0 Nachdem die Demontage nun wohl abgeschlossen ist, ist die Stimmung gebessert, aber im März-Mai war die Stimmung sehr schlecht. Eine andere Sache, die uns viel Kummer macht, ist der sogenannte "Freie Markt". Es gibt keine Einrichtung seit Mai 1945, die von der Bevölkerung so abgelehnt wird wie diese. Wie kommt das? In einem solchen Land wie Sachsen mit so starker städtischer und Industriebevölkerung ist von Anfang an ein zu großes Mißverhältnis von Käufer und Verkäufer. Resultat: Wucherpreise, Schlußfolgerung: Der Reiche kann etwas kaufen, der Arbeiter hat weder Geld noch Zeit. Wenn nicht der Bauer den Teil, den er nicht verpflichtet ist, abzuliefern, über die landwirtschaftlichen Genossenschaften oder die Volkssolidarität' 1 zu einem erhöhten Preis verkauft und diese Organisationen diese Produkte an die richtigen Stellen leiten, z.B. Krankenhäuser, Kinderheime, Betriebsküchen [im Original unvollständig]. Wir haben schon in dieser Richtung in einigen Gebieten - z.B. im Kreis Rochlitz - gearbeitet und nicht beim Arbeiter, sondern auch beim Bauer Zustimmung erhalten. Freilich müssen diese Organisationen auch dafür sorgen, daß der Bauer Waren erhält, die er braucht. Die Stimmung bei den Arbeitern ist natürlich schlechter als bei den Bauern.'^ Der Bauer, der bisher immer die Massenbasis der Reaktion darstellte, sieht heute, daß wir ihm helfen, und er ist angenehm enttäuscht, weil er erwartet hat, wir werden ihm alles nehmen, Kollektivwirtschaften machen usw. Der Arbeiter dagegen, besonders in Sachsen, war immer Sozialdemokrat und Kommunist, er hatte ganz andere Erwartungen. Tatsächlich sind die Löhne nicht gestiegen, vielfach aber die Preise, besonders für solche kleinen Vergnügen 68 Ab Mai 1945 waren in der SBZ rund 70.000 "Demonteure" im Einsatz, die außerhalb der Befehlsgewalt der SMAD unmittelbar einem Sonderkomitee des Politbüromitglieds Georgij M. Malenkow unterstellt waren. 69 WKP, eigentlich russisch VKP(B) (= Vsesojuznaja Kommunistitscheskaja Partija Bol'schewikov) Allunionsweite Kommunistische Partei (der Bolschewiki), von 1925-52 Bezeichnung der KP in der Sowjetunion, ab 1952 KPdSU. 70 Vgl. Naimark, The Russians in Germany, S. 180. 71 Die Volkssolidarität entstand im Frühjahr 1946 als „Gemeinschaft freiwilliger Hilfe" durch die Zusammenfassung verschiedener Solidaritätsaktionen und Hilfswerke, die im Herbst 1945 in den Ländern und Provinzen zur Linderung der Nachkriegsnot ins Leben gerufen worden waren. 72 Die soziologische Binnenstruktur, soziale Lage sowie das Bewußtsein der Arbeiterschaft rekonstruiert Suckut, Siegfried: Die Betriebsrätebewegung in der Sowjetisch Besetzten Zone Deutschlands (19451948). Zur Entwicklung und Bedeutung von Arbeiterinitiative, betrieblicher Mitbestimmung und Selbstbestimmung bis zur Revision des programmatischen Konzeptes der KPD/SED vom "besonderen deutschen Weg zum Sozialismus". Frankfurt/M. 1982, S. 25ff.; vgl. auch die Regionalstudie von Hübner, Peter: "Durchhalten" und "Durchkommen". Niederlausitzer Industriearbeiter im Jahre 1945. In: Brandenburg im Jahr 1945. Studien, hrsg. von Werner Stang unter Mitarbeit von Kurt Arlt. Potsdam 1995, S. 136ff. sowie Karisch, "Arbeiter, Schützt Euere Betriebe!", a.a.O.

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wie Rauchwaren. Die Steuern sind beträchtlich gestiegen, die Lebensmittel sind knapp, riesige Massen sind durch den Krieg um alles gekommen. Außerdem hat sich die Zusammensetzung der Arbeiterklasse verändert. Frühere Beamte, Angestellte, Lehrer, Mittelständler sind jetzt als Arbeiter tätig. Trotzdem ist in Sachsen unter den Betriebsarbeitern nicht zu erwarten, daß die beiden bürgerlichen Parteien starken Einfluß erhalten. In Berlin allerdings ist die SPD die Nutznießerin der Unzufriedenheit der Arbeitermassen. Es ist falsch, wenn manche Genossen meinen, daß die objektive Lage, unsere Wirtschaft usw. es uns nicht ermöglicht, den Arbeitern reale Verbesserungen zu bringen. In sozialpolitischer Beziehung ergeben sich in den meisten Betrieben durchaus Möglichkeiten, Verbesserungen zu «reichen. Arbeiterschutz, Lehrverträge, Frauenbeihilfe, resp.[ektive] Kinderhilfe, Betriebsküche, Waschtag für Frauen, betriebliche Kultur-Veranstaltungen, Arbeiterstudium, außerdem Ausbau der politischen Rechte sind schon einige Möglichkeiten. Wenn die Demontage abgeschlossen ist und die Rohstoffrage einigermaßen in Ordnung kommt, so daß der Arbeiter seinen Arbeitsplatz gesichert sieht, dann ist schon Wesentliches erreicht. Eine Frage von allergrößter Bedeutung sind die ehemaligen Mitglieder der NSDAP. Es muß offen ausgesprochen werden, es gibt in der Partei keine einheitliche und feste Linie in dieser Frage. Wenn man beim ZK die Frage stellt - wir sprachen mit Genossen Ulbricht -, dann sagen uns die Genossen: Was wollt ihr, unsere Linie ist ganz klar, ehemalige Mitglieder der NSDAP können nicht in unsere Partei aufgenommen werden. Aber erstens stimmt das nicht, und zweitens ist das gar nicht so klar 7 ^. Wenn wir von Einheit der Arbeiterklasse reden, dann müssen wir auch den Teil der Klasse mitgewinnen, der bisher einen klassenfeindlichen Weg ging, und man [kann] auf die Dauer den Menschen, denen man das politische Wahlrecht und Organisationsrecht [in] den Gewerkschaften gibt, nicht für immer den Zugang zu den politischen Parteien sperren (Die Rede ist nicht von den Banditen). Und wir haben ja durch "Freies Deutschland" 7 4 eine ganze Reihe, die früher in der NSDAP waren und dann durch Fronteinsatz oder ähnliche Art ihre Umstellung bewiesen haben, nicht nur in die Partei aufgenommen, sondern oft an verantwortlicher Stelle in Positionen, zum Beispiel: Helmut Wels 7 5 , ehemaliger Offizier, jetzt 3. Bürgermeister in Dresden; Heinz Ullrich 7 ^, ehemaliger Offizier, jetzt Oberbürgermeister in Bautzen; Hermann Rentsch 7 7 , ehemaliger Offizier, jetzt Bürgermeister

73 Laut Beschluß des Zentralen Parteienblocks von August 1945 war ehemaligen Mitgliedern der NSDAP der Beitritt zu den neugegründeten Parteien verwehrt. Ausnahmegenehmigungen konnten lokale Rehabilitierungskommissionen erteilen. Im Januar 1946 übermittelte die SMAD der SED-Führung das Einverständnis Stalins, zwischen "nominellen" und "aktiven" Nazis zu differenzieren. Auch eine Mitgliedschaft der ersteren in der KPD hielt die Besatzungsmacht nicht mehr für ausgeschlossen. Eine förmliche Regelung dieser Frage sollte erst nach Abreise Großes nach Moskau erfolgen. Vgl. Welsh, Helga A.: Revolutionärer Wandel auf Befehl? Entnazifizierungs- und Personalpolitik in Thüringen und Sachsen (19451948). München 1989, S. 59ff.; Entnazifizierungspolitik der KPD/SED 1945-1948. Dokumente und Materialien. Hrsg. von Ruth-Kristin Rößler. Goldbach 1994, S. 30ff. Große hatte die Haltung der sächsischen KPD bereits im Januar 1946 präzisiert: Wir Kommunisten und die PG. Nicht alle mit der gleichen Elle messen - Unsere Stellung zu den nominellen Mitgliedern der NSDAP. In Sächsische Volkszeitung vom 2. Februar 1946. 74 "Nationalkomitee Freies Deutschland", 1943 im sowjetischen Exil gegründete Organisation kommunistischer Emigranten und antifaschistischer Kriegsgefangener. 75 Richtig: Helmut Welz, ehemaliger Wehrmachtsoffizier, später Antifa-Schüler, 1945 Rückkehr mit "Initiativgruppe Ackermann", war in der Stadtverwaltung Dresden Leiter der Abt. Kommunale Betriebe und später 3. Bürgermeister Dresdens. 76 Heinz Ullrich, geb. 1917 in Schmiedeberg, Kreis Dippoldiswalde, ab 13.7.1945 Bürgermeister, ab 10.8. 1945 Oberbürgermeister von Bautzen, ausgeschieden am 30.5.1949, danach Mitarbeiter des Sekretariats des Deutschen Volksrats in Berlin. 77 Hermann Friedrich Rentzsch (1913-1978), 1927 SAJ u. Reichsbanner, 1934-1943 Reichswehr bzw. Wehrmacht, 1941-43 Rußlandfeldzug, lief im Januar 1943 zur Roten Armee über, Kriegsgefangenschaft, Mitbegründer der Antifagruppe im Lager 97, 1943/44 Besuch der Marx. Schule, Mitgl. des NKFD, Frontbeauftragter, Lektor an Antifaschulen, Juni 1945 Rückkehr nach Deutschland. Zunächst Bürger-

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in Stollberg; oder der Landrat in Pirna, Fritz Reiher 78 , der Inspekteur der Landespolizei, Hans Schneider; die Kommandeure der Polizei in Dresden und Chemnitz Hermann Vogt 7 ^ und Werner 8 0 und noch viele Genossen, die aus russischer Gefangenschaft kamen, arbeiten nicht schlechter als alte Kommunisten und oft besser als die meisten alten Sozialdemokraten. Wir laufen sonst Gefahr, daß die Menschen, die Wahlrecht haben, aber sich nicht organisieren dürfen, von den bürgerlichen Parteien aufgesogen werden, die sie zwar auch nicht aufnehmen dürfen, aber möchten und das auch diesen Leuten sagen. Vor allem bei den Arbeitern und Bauern müssen wir in diesem Punkt aktiver sein, schließlich war die NSDAP mit ihren Gliederungen, wenn man die Familien mitrechnet, die halbe Bevölkerung. Beim Volksentscheid trat besonders deutlich in Erscheinung, daß es uns an einer klaren und einheitlichen Linie gegenüber den Pgs. 8 1 fehlt. In vielen Versammlungen traten ehemalige einfache Mitglieder der NSDAP auf und traten mit allem Nachdruck dafür ein, daß die Kriegs- und Naziverbrecher enteignet werden müssen. Viele sagten aber auch: "Ich bin ein einfacher Postbote, mich hat man aus meiner Arbeit entlassen, weil ich Mitglied der NSDAP war. Ihr gebt aber an etwa 2000 ehemalige NSDAP-Mitglieder, die auch nur nominelle Mitglieder waren, ihren Betrieb zurück 8 ^ Warum macht ihr solche Unterschiede." Wenn wir darauf erwidern, daß ihre Entlassung aus einem staatlichen Betrieb geschieht auf Grund von Beschlüssen der vier Besatzungsmächte, so ist das eine Antwort, die weder uns noch die Leute befriedigt. Die Aktivität der bürgerlichen Parteien und unser Verhältnis zu ihnen kann man nicht mit einem Satz ausdrücken. Weder die Bodenreform 8 ^, noch die anderen gesetzlichen Massnahmen fanden von Anfang an ihre Zustimmung. Die C.D.U. wächst ziemlich schnell. Hierbei klingt es wie ein Witz, wenn man sagt, daß die S.M.A. unbewußt zur Aktivität der bürgerlichen Parteien beigetragen hat. In Deutschland hatten die bürgerlichen Partei-

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meister, von April 1947 bis 1948 Landrat in Stollberg, 1948/49 Hauptabteilungsleiter in der Dt. Verwaltung des Innern, ab 1949 Karriere in der Kasernierten Volkspolizei, später NVA. "Der [...] ehemalige Wehrmachtoberleutnant Rentzsch, Mitglied der KPD/SED seit 1945, verkörperte den karrierebewußten, schnell zum Kommunismus übergewechselten Offizier, über den seine neuen politischen Ziehväter meinten, er sei zwar 'ohne sicheren Klasseninstinkt', besäße aber dennoch eine klare politische Linie im Sinne der Partei". Vgl. Wenzke, Rüdiger: Auf dem Weg zur Kaderarmee. Aspekte der Rekrutierung, Sozialstruktur und personellen Entwicklung des entstehenden Militärs in der SBZ/DDR 1952/53. In: Volksarmee schaffen - ohne Geschrei! Studien zu den Anfängen einer 'verdeckten Aufrüstung' in der SBZ/ DDR 1947-1952. Hrsg. von Bruno Thoß. München 1994, S. 226. Friedrich Louis Wilhelm Reyher (1907-?), gelernter Maschinenbauer, Besuch der Reichsfinanzschule und der Heeresfachschule. Ab Juli 1941 Kriegsgefangenschaft in der UdSSR, von 1942 bis 1945 gehörte er dem NKFD an. Nach seiner Entlassung am 26.5.1945 wurde er durch die Rote Armee am 28.5.1945 als Landrat für Pirna eingesetzt. Am 30.6.1947 scheidet Reyher aus dem Amt aus und wird zunächst Referent beim Ministerium der Finanzen, Preisamt, später Abteilungsleiter. Zum 31.8.1949 scheidet er aus der Landesregierung aus. Zu Schneider und Vogt konnten keine biographische Angaben ermittelt werden. Hierbei handelt es sich vermutlich um Werner Pilz, Juni 1945 bis Januar 1948 Kommandeur der Ordnungs-/Schutzpolizei im Kreis Chemnitz mit dem Dienstrang Oberstleutnant/Polizeioberkommissar. Parteigenossen, Bezeichnung der (ehemaligen) Mitglieder der NSDAP. In Vorbereitung des Volksentscheids über die Enteignung von Kriegs- und Naziverbrechern in Sachsen vom 30.6.1946 wurden Listen erstellt, die die Betriebsübergaben regeln sollten. Liste A umfaßte Betriebe, die vollständig und entschädigungslos enteignet werden sollten (1760 Betriebe). 1931 Betriebe, die auf der Liste B standen, wurden bereits vor dem Volksentscheid an ihre Besitzer zurückgegeben, da diese nachweislich nur nominelle Mitglieder der NSDAP gewesen waren. Liste C umfaßte 600 weitere Betriebe, für die sich die SMAD die alleinige Entscheidung vorbehielt. Durch die Bodenreform vom September 1945 wurden alle Grundbesitzer, die über 100 Hektar Land besaßen, enteignet.

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en nie eine straffe Organisation. Jetzt während der Besatzung wird von ihnen mindestens jeden Monat ein Mitgliederbericht verlangt, die Liste ihrer Kreisleitungen usw. Das zwingt die Leitungen, sich tüchtig um die Organisation zu kümmern, damit die Berichte stimmen, und so kam Leben in die Organisationen. Die bürgerlichen Parteien nähren sich von unseren Fehlem. Ein entscheidender Mangel war, daß wir von Anfang an die beiden Parteien von der verantwortlichen Arbeit ausgeschlossen haben. Diese Schuld trifft uns alle, sowohl als Partei, wie auch die Genossen der Besatzungstruppe. Wir haben zwei Figuren, von jeder Partei einen, mit in die Landesverwaltung genommen, und dann war meist Schluß. Einen solchen Mann aber sehen die Menschen nicht, jedoch den Bürgermeister oder den Dezernenten für Wohnungsfragen, der die Leute aus den Wohnungen setzen muß, oder den Dezernenten für Emährungsfragen, der manchmal nichts zu verteilen hat, weil der Transport nicht funktioniert, den sehen die Menschen täglich, und das waren Kommunisten. Einen Bürgerlichen dahinzubekommen, hätte auch in der Regel einen heißen Kampf sowohl mit den örtlichen Kommandanturen, die sehr lange gebraucht haben, bis sie schluckten, daß wir die Kaderpolitik nicht eng, sondern geschickt machen müssen, und ebenso war ja die Tatsache, daß unsere Partei alle ihre besten Kräfte in die Verwaltung schickte, so alle belastende Arbeit auf sich nahm und den bürgerlichen Parteien die Rolle nicht einer ausgesprochenen Opposition, aber doch eines nicht verantwortlichen Zuschauers gestattete. Zweifellos kann auch die C.D.U für sich [verbuchen, daß ihre starken Wahlerfolge 84 psychologische Auswirkungen auf unsere Menschen haben. Es gibt in der C.D.U. in Sachsen keinen ausgesprochenen linken Flügel, obwohl beim Volksentscheid eine ganze Reihe Leute recht positiv mit uns arbeiteten und ein Mitglied des erweiterten Landesvorstandes, der zu uns kommen will, dem wir aber davon abgeraten haben, uns sagte, daß die reaktionären Kräfte dominieren und die linken sehr schwach seien, so sind doch auch diese "Linken" eigentlich genau so politisch eingestellt wie die anderen, sie haben vielleicht in dieser oder jener Frage eine etwas eigene Meinung. Sie haben alle Angst vor dem, was vielleicht noch kommt. Die Liberaldemokraten, die sich auf das ausgesprochene Bürgertum stützen, machen in letzter Zeit große Werbungsarbeit unter der Jugend. An Plakaten konnte ich sehen, daß sie das auch in Berlin tun. In Dresden, einer Stadt mit viel Kleinbürgern, ist diese Arbeit nicht ohne Erfolg. Hierbei ist interessant, daß jeder Jugendliche, der in die L.D.P. eintritt, von der Parteileitung den Auftrag erhält, zugleich in die F.D.J. (Freie Deutsche Jugend) einzutreten. Zu welchem Zweck ist offensichtlich. Während in der erwachsenen Bevölkerung doch noch starke Depressionsstimmungen sind, sind beim entscheidenden Teil der Jugend diese nicht mehr, mindestens nicht mehr in dem Maße, wie im vergangenen Jahre vorhanden. Das ist zum entscheidenden Teil darauf zurückzuführen, daß wir, als wir noch KP waren und noch keine FDJ, sondern nur Jugend-Ausschüsse bestanden, uns sehr, sehr stark um die Jugend gekümmert haben. Heute haben wir immerhin schon einen solchen Kader in der FDJ, daß wir uns schon viel auf die neuen jungen Kräfte verlassen können. Wir haben auch in Sachsen mit der Form begonnen, die seit einigen Monaten von der ganzen Partei übernommen wurde, nämlich, bei jeder Parteileitung gibt es eine Abteilung Jugend, also nicht die Leitung der F.D.J., die auch außerordentlich stark aus unseren Genossen besteht, sondern außerdem eine direkte Abteilung in der Partei. Das hat sich prächtig bewährt, aber was wir wünschen, daß bis in jede Betriebs- und Straßengruppe eine solche Abteilung geschaffen werden soll, das ist noch durchaus nicht überall in Ordnung. Die F.D.J. hat in Sachsen jetzt 90000 Mitglieder. Das ist natürlich noch zu wenig. Ziemlichen Einfluß haben wir bei der Dorfjugend. Allerdings, wir sollen uns keine Illusionen machen, dort kommen sie meistens zu uns, weil im Dorf für die Jugend wenig andere Möglichkeiten für Unterhaltung bestehen. Aber vor allem, wir haben sie, es ist nun unsere Sache, was wir aus ihnen machen.

84 Bei den Landtagswahlen in Bayern, Hessen und Württemberg-Baden erzielte die CDU/CSU zwischen 37 und 58 Prozent der Stimmen. In Gemeinde- und Kreiswahlen erzielte die CDU in den Westzonen zwischen 38 und 58 Prozent der Stimmen. Mit 5 Prozent in Bayern und rund 10 Prozent bei den anderen Wahlen lag die KPD weit abgeschlagen.

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Eine Schwierigkeit nicht nur bei der Jugend, sondern auch bei den Erwachsenen ist, daß wir immer wieder die Frage gestellt bekommen: "Wie wird sich nun unsere Zukunft gestalten?", und unsere Antwort darauf kann nicht ganz befriedigen, weil zu viele "wenn" und "aber" dabei sind. Die Kirchen sind stark besucht, besonders von Kindern. Das liegt daran, daß, nachdem die Nazikinderorganisationen aufgelöst sind, nichts anderes an ihre Stelle gesetzt [worden] ist. Die an die F.D.J. angeschlossene Bewegung "Kinderland"85 steckt noch in den Anfängen und ist eigentlich wenig originell. Wir sollten bei der Kinderfrage von der Tatsache ausgehen, daß die Mehrheit der Frauen heute berufstätig ist und deshalb nicht die Frage steht, ob man den Kindern ein- bis zweimal in der Woche eine Unterhaltung oder dergleichen gibt, sondern wir müssen die Kinder täglich vor und nach der Schulzeit erfassen, dann haben wir den Müttern eine fühlbare Hilfe gegeben und können die Kinder auch ganz anders beeinflussen. Die Grundlage wäre also der kommunale oder durch soziale Einrichtungen zu schaffende Kindergarten, und die F.D.J. hat die Erzieher und Helfer zu schaffen und anzuleiten. In der Stimmung der Bevölkerung spielt die Frage der Kriegsgefangenen eine außergewöhnlich große Rolle. Es wurde von den Sozialdemokraten in Berlin bisher stark ausgenutzt, daß aus den Anglo-AmerikanischFranzösischen Lagern die Gefangenen kamen, nachdem jetzt auch aus der Sowjetunion welche kommen, argumentieren die Sozialdemokraten damit, daß ja 120000 gar kein Grund seien, viel darüber zu sprechen, das sei nur ein kleiner Bruchteil, während die Engländer und Amerikaner bereits das Vielfache freigelassen hätten. Es ist zu überlegen, ob es zweckmäßig war, daß wir eine begrenzte Zahl bekanntgaben. Aber es ist eine Tatsache: Mir ist nicht eine einzige Aktion bekannt, die, besonders bei den Frauen, aber auch bei der übrigen Bevölkerung solche Auswirkungen gehabt hätte. Bei allen Menschen ist irgendwie eine freudige Erwartung. Es sind ja viele Hunderttausend, wo die Männer als vermißt gemeldet sind, und sie glauben nur: "Vielleicht lebt er doch noch und kommt mit." Um zu verhindern, daß diese Stimmung stark abflaut, muß man, nachdem der Rücktransport abgeschlossen ist, für die Zurückgebliebenen unbedingt einen regelmäßigen Postverkehr schaffen. Jede eingetroffene Postkarte ist für uns ein großer Gewinn. Die Stimmung bei den Frauen ist nicht so wie bei den Männern, aber trotzdem viel besser als wir selbst erst annahmen. Wir haben beim Volksentscheid in einem Ort bei Dresden Männer und Frauen getrennt abstimmen lassen. Das Resultat war, daß der Prozentsatz der Frauen, die mit "nein" stimmten, um etwa 120 Prozent höher lag als bei den Männern, aber trotzdem eine starke Mehrheit für "ja", d.h. die Neinstimmen bei den Frauen machten trotzdem nicht ganz 1/3 aus. In diesem Ort hatten die Frauen unter den Dingen der ersten Periode der Besatzungszeit nicht mehr als in anderen Orten auch g e l i t t e n . E s ist aber wohl ziemlich sicher, daß die Frauen in starkem Maße für die C.D.U. stimmen werden bei den Wahlen. Aus einigen Kreisen, aus denen uns genaue Ziffern über die Mitgliederentwicklung der Christlichen vorliegen, geht hervor, daß bei ihnen der Prozentsatz der weiblichen Mitglieder viel höher liegt als in der S.E.D. In unserer Partei in Sachsen gehört die Frauenarbeit mit zu unseren schwächsten Punkten. Zwar haben wir eine Reihe von Frauen an sehr verantwortlicher Arbeit, die alle recht gut arbeiten (Bürgermeisterin in Siegmar - 30000 Einwohner). Leiter des Landesarbeitsamtes, Leiter der sozialpolitischen Abteilung in Dresden, Chemnitz, Leiter des Ernährungsamtes für ganz Sachsen und in der Stadt Chemnitz sind in den Händen von Frauen, um nur einige von vielen zu nennen, aber in der Partei selbst und in den Frauen-Ausschüssen fehlt noch der richtige Schwung. Wo wir jetzt besondere Frauenlisten bei den Wahlen aufstellen, können wir den Einfluß der C.D.U. auf die Frauen stark dezimieren, aber bestimmt nur dort, wo wir diese Listen nicht plump aufstellen. Zur Lage in der S.E.D. Das ist eine sehr peinliche Angelegenheit, denn die Lage ist durchaus unbefriedigend. Von Berlin soll nur gesagt werden, daß dort die SPD wächst und zwar besonders in den Betrieben. Warum? Einige Berliner Ge-

85 Vorläufer der Jungen Pioniere. 86 Den Einfluß der Massenvergewaltigungen seitens der Besatzungstruppen in der Nachkriegszeit auf die politische Einstellung vor allem der Frauen erörtert Naimark, The Russians in Germany, S. 69ff.

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nossen, die ich sprach und wo ich in den wenigen Tagen nicht prüfen konnte, ob ihre Meinung stimmt, sagen: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

Unsere Führung ist schwach. Die leitenden Genossen sind selbst für die eigenen Parteigenossen nicht zu sprechen. Sie ist von den Massen gelöst, es gibt Bonzenmanieren. Das politische Niveau der Partei ist tief. Die Arbeit vieler Genossen im Berliner Magistrat schadet der Partei mehr als sie nützt. Die S.P.D. lebt noch viel von den alten Dingen, die beim Einmarsch stattfanden und manchmal heute noch auftauchen. Die SPD-Führer leben unter den Massen und sind fast täglich in den wichtigsten Betrieben. Die allgemeinen schweren Bedingungen einer vierfachen Besatzung.

Ich weiß nicht, ob das alles so ist, doch der Genosse Ackermann 8 7 , mit dem ich in Berlin über die Lage Berlins sprach, bestätigte so ziemlich alle die Argumente. Zur Lage in Sachsen sollen einige Fragen herausgegriffen werden. 1. Wie arbeiten die früher zu oppositionellen Gruppen gehörenden Genossen in der Partei. 8 8 Die stärkste Gruppe stellen die früheren Brandleristen 8 " dar. Es sind bei uns eine ganze Menge heute in wichtiger Funktion, z.B. in der Partei: 1. Vorsitzender im Bezirk Lausitz - Jamnak^O; Leiter der Agrar-Abteilung beim Landes-Vorstand - Birnbaum"'; 1. Vorsitzender im Kreis Aue - Fettgenheuer^, 1. Vorsitzender des 87 Anton Ackermann, eigentlich Eugen Hanisch (1905-1973), 1926 KPD, ab 1935 Mitglied des ZK und Kandidat des Politbüros der KPD, Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg, anschließend Emigration in die Sowjetunion, 1945 Rückkehr mit der Initiativgruppe ZK KPD "Ackermann-Matern" nach Sachsen, 1945/46 ZK und Sekretariat ZK der KPD, ab 1946 Zentralsekretariat der SED, 1949 Kandidat des Politbüros des ZK der SED und Staatssekretär im MfAA, 1953 aller Ämter enthoben, 1954 ZK-Ausschluß, 1956 pol. Rehabilitierung, 1973 Freitod. 88 Vgl. dazu Klein, Thomas: Reform von oben? Opposition in der SED. In: Poppe, Ulrike/Eckert, Rainer/ Kowalczuk, Ilko-Sascha (Hrsg.): Zwischen Selbstbehauptung und Anpassung. Formen des Widerstandes und der Opposition in der DDR. Berlin 1995, S. 125ff. 89 Anhänger der Parteirechten um Heinrich Brandler, die bis 1923 die Politik der KPD bestimmt hatten und deren Einfluß im Apparat in der Folgezeit schrittweise ausgeschaltet worden war. 1928/29 verließen fast alle Rechten die Partei oder wurden ausgeschlossen und gründeten die Kommunistische Partei-Opposition (KPO). 90 Karl Jannack (sorbisch Korla Janak) (1891-1968). 1909 SPD, 1919 KPD, Anhänger Heinrich Brandlers, 1924 Ausschluß aus der KPD, 1925 Wiederaufnahme in die KPD, 1925-27 Angestellter, schließlich Geschäftsführer der Internationalen Arbeiterhilfe, 1927-29 Redakteur bei der Parteipresse, 1929-31 Referent für Mitteleuropa bei der Mopr in Moskau, 1931-33 Sekretär der Roten Hilfe Bezirk Niederrhein, 1933 Emigration nach Frankreich. Trotz seines Engagements in der "Deutschen Volksgemeinschaft" in Saarburg, der Organisation der NSDAP in Lothringen, verfügte die Gestapo 1940-45 seine Überführung in das KZ-Buchenwald. Nach 1945 paritätischer Vorsitzender des SED-Bezirkes Lausitz. Nach der Auflösung des Bezirkes und der Eingliederung seiner Kreise in die Bezirke Dresden und Cottbus war Jannack von 1946 bis 1949 stellv. Landrat und Kreisrat für Inneres in Cottbus, 1950/51 Kaderleiter im Bundesvorstand der Domowina in Bautzen, 1951 bis 1952 Personalleiter der Deutschen Notenbank in Bautzen für das Gebiet Lausitz, 1952-1955 Hauptreferent im Sorbischen Volksbildungsamtes Bautzen. 91 Birnbaum leitete bereits im Jahre 1945 die agrarpolitische Abteilung der KPD-Bezirksleitung Sachsen. Auf einer Besprechung der Personalpolitischen Abteilung des SED-Landes Vorstandes am 6.1.1948 wurde erwähnt, daß Erich Birnbaum aus seiner Funktion ausscheiden würde. Birnbaum, zu dem keine weiteren biographischen Angaben ermittelt werden konnten, war zum damaligen Zeitpunkt in der Leitung des Verbandes landwirtschaftlicher Genossenschaften tätig. SHsta, SED-LL Sachsen, A 1628. 92 Alfred Fedgenhäuer (1891, nach anderen Angaben 1892-1960), 1929 Ausschluß aus der KPD, KPO. 1945 KPD-Kreissekretär in Schwarzenberg, 1946 Kreisvorsitzender der SED in Aue, Dezember 1948

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F . D . G . B . Z w i c k a u - Bauer^ 4 , sowie noch eine ganze Menge, die sich bis 33 außerhalb der Partei befanden. Eine Menge von ihnen hat während der Illegalität mit der Partei gearbeitet und war auch verhaftet. Von einer Fraktionsarbeit konnten wir bisher bei ihnen nichts feststellen, sie arbeiten nicht schlecht und machten bisher auch keine politischen Schwierigkeiten. Es ist ein einziger Fall aus Chemnitz bekannt, wo der Genosse Robert Sieverts, junior, in einem persönlichen Gespräch äußerte, daß die heutige Politik der Partei den früheren Forderungen der KP096 Rechnung trüge. Die sogenannten "linken" trotzkistischen Gruppen waren früher in Leipzig vorhanden und zum Teil in Dresden.97 Von Leipzig kann man noch nichts sagen, weil die Lage unserer Partei in Leipzig unbefriedigend ist und man jetzt sowieso ernst die Ursachen untersucht, resp.[ektive] sie abstellt. In Dresden hatte man die Trotzkisten erst nicht in die KP aufgenommen. Später hat man es getan, und einige von ihnen arbeiten nicht zu schlecht. Einer als Leiter der Betriebsräte-Schulung beim Dresdner F.D.G.B. gibt sich Mühe, wie überhaupt, soweit sie im Zuchthaus oder Lager waren, viele alten Gegensätze verschwunden sind, mindestens bisher noch nicht wieder in Erscheinung getreten sind. 2. Seit der Vereinigung ist in der Partei ein gewisser Stillstand im Wachstum eingetreten. Neben bürokratischen und auch praktischen Gründen spielt eine Rolle, daß die Partei erst einmal nach innen arbeiten mußte. Dieser Koloß von knapp einer halben Million ist natürlich schwerfälliger geworden, aber auch die Aktivität hat nachgelassen. Die frühere S.P.D. drängt auf innere Fragen: Parität, formelle Anwendung innerparteilicher Demokratie, gegen die Betriebsgruppen, gegen die Zerschlagung der großen Ortsgruppen in kleinere Straßengruppen, auf Fragen der Abrechnung der Beiträge für ehrenamtliche Parteivorsitzende, das alles zwingt unsere Genossen, für die solche Fragen Selbstverständlichkeiten sind, sich viele Sitzungen immer wieder mit diesen Dingen zu beschäftigen, und die Massenarbeit leidet darunter, und viele unserer eigenen Genossen werden müde und stellen sich verärgert beiseite. 98 Bei den rechten Sozialdemokraten besteht ganz sicher fest Verbindung mit Berlin resp.[ektive] Schumacher". Es ist aber noch völlig unmöglich abzuschätzen, wie stark ihr Einfluß ist. Offen mit politischen

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Parteirüge und 1 Jahr Funktionsverbot. Dann Maurerpolier im Kreis-KWU Schwarzenberg. Bis zum Parteiausschluß im Rahmen der Mitgliederüberprüfung im Jahre 1951 Mitglied der Betriebsparteiorganisation. Freier Deutscher Gewerkschaftsbund. Vermutlich Reinhard Bauer, geb. 1896, ab 1919 KPD, 1929 Parteiausschluß, KPO. 1945/46 KPD/SED. 1945-49 Kreissekretär des FDGB in Zwickau. 1949 Mitarbeiter des FDGB-Landesvorstand. Nach einer schriftlichen Mitteilung der KPKK Zwickau an die LPKK vom 17.6.1950 war Bauer vor 1933 der "Führer und Sprecher der KPD in Zwickau". Richtig: Robert Siewert (1887-1973), 1919 KPD-Mitglied, 1920 bis 1929 MdL Sachsen, 1929 Parteiausschluß, danach leitender Funktionär in der KPO, ab 1935 Haft, 1938-45 KZ Buchenwald, Kapo eines Baukommandos und einer der deutschen Vertreter im internationalen Lagerkomitee, 1945/46 KPD/SED, 1946-50 Sekretär im LV der SED in Sachsen-Anhalt sowie 1. Vizepräs, der Provinzverwaltung Sachsen, 1946-50 Innenminister Sachsen-Anhalts, 1951 Ämterverlust wegen früherer Mitgliedschaft in der KPDOpposition, spätere Rehabilitierung, ab 1968 Mitarbeiter im Ministerium für Bauwesen der DDR. Kommunistische Partei-Opposition, vgl. Anm. 89. Die ca. fünfzig Mitglieder umfassende Leipziger Gruppe der im März 1930 gegründeten trotzkistischen "Vereinigte Linke Opposition der KPD (Bolschewiki-Leninisten)" zählte zu den größten Gruppen im Deutschen Reich. Den organisatorisch-politischen "Kompromißcharakter der 'Einheitspartei' zu Beginn" beschreib Monika Kaiser in ihrem Beitrag: Die Zentrale der Diktatur. Strukturen und Kompetenzen der SED-Führung 1946 bis 1952. In: Historische DDR-Forschung. Aufsätze und Studien. Hrsg. von Jürgen Kocka. Berlin 1993, S. 57ff. Kurt Schumacher (1895 - 1952), 1924-1932 MdL in Württemberg, 1930-33 MdR (SPD), 1933-43 und 1944 KZ. Das von ihm geleitete SPD-Büro in Hannover entwickelte sich in den Jahren 1945/46 zur in-

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Argumentationen treten sie nirgends auf. Fraktionsmaterial schriftlicher Art haben wir erst ein einziges erhalten. Es gibt eine Reihe Orte, wo der Zusammenschluß mit uns nur formell geschah, praktisch aber noch 2 Parteien bestehen. Dort ist überall das Feld für Schumacher. Der Volksentscheid führte die Partei sehr zusammen, aber jetzt bei den Kommunalwahlen werden wieder viele alte Dinge aufgerissen. Auf unserer letzten Parteiarbeiterkonferenz stellte Genosse Ulbricht sehr scharf die Frage der Parität, das heißt die Kandidatenlisten müssen je zur Hälfte aus ehemaligen SP und KP-Genossen zusammengesetzt werden. Das ist besonders im Hinblick auf den Westen sehr richtig und klingt sehr schön, ist aber eine verdammt schwere und kitzlige Sache, das stellt nämlich zugleich folgende Fragen: a) Wer geht an die Spitze, SP oder KP? b) Wer entscheidet über die Kandidaten, z.B. der SP, nur die ehemaligen SP-Leute oder die ganze Gruppe? c) Wenn die ganze Gruppe entscheidet, werden in den Orten, wo die KP stärker als die SP war, die Kommunisten entscheiden, welche Sozialdemokraten, und wo die SP stärker war, werden diese entscheiden, welche Kommunisten kandidieren? d) Werden beispielsweise die SP-Leute dann, wo sie die Mehrheit sind, die kämpferischsten Kommunisten beiseite schieben und nur die Lauwarmen aufstellen? e) Wie sollen die Genossen kandidieren, die bisher weder KP noch SP waren, aber im Ort Einfluß haben? f) Muß, wenn man bei Vorschlägen durch die Mitgliederschaft jeden Kandidat erst nach seiner früheren Zugehörigkeit fragen muß, um die Parität nicht zu verletzen, nicht die Tatsache der Zweiparteien immer aufs Neue in Erscheinung treten? Es scheint, es wäre gut gewesen, nicht unbedingt die Parität zu stellen, sondern zu sagen, es müssen auf allen Listen ohne Rücksicht, wo der betreffende früher war, die besten und bekanntesten Genossen kandidieren. Keine Mehrheit der einen darf eine Minderheit der anderen ausschalten oder an die Wand drücken. Die Schulungsarbeit, die wir im beachtlichen Maße durchführen, führt unsere Partei enger zusammen. Es ist Tatsache, daß die rechten Sozialdemokraten alles tun, um zu verhindern, daß die Sozialdemokraten mit auf die Parteischulen gehen. Sie wissen, das dort Gelernte paßt nicht in ihre Politik. Die Schulleiter und Seminarleiter sind alle unsere Genossen, da [wir] alle Schulen schon vor der Vereinigung hatten und in den ersten Monaten im Hinblick auf die kommende Vereinigung die Lehrerfrage vordringlichst behandelten. Es werden von Seiten der SPD auch keine Einwendungen dagegen geführt, daß an den Schulen keine ehemaligen SPLeute als Lehrer sind, erstens haben sie keine theoretisch geschulten Leute und zweitens bezahlen wir die Lehrer an den Parteischulen ziemlich schlecht, und so sind diese Positionen für die SP nicht verlockend, während unsere Genossen diszipliniert sind und hingehen, wo man sie hinschickt. Einige Schwierigkeiten gibt es mit den Stellen der S.M.A., die verantwortlich sind für die Bestätigung der verantwortlichen Genossen in den Verwaltungen. So haben wir z.B. eine Reihe von Genossen als Landrat oder Bürgermeister schon seit vielen Monaten zur Bestätigung eingereicht, aber bekommen sie nicht bestätigt. Wir helfen uns, daß wir sie kommissarisch, vorläufig ohne Bestätigung arbeiten lassen. Umgekehrt haben wir z.B. den Landrat O l e s 1 0 0 in Grossenhein schon seit mehr als 8 Monaten das Parteimitgliedsbuch entzogen und von der S.M.A. seine Entlassung verlangt. Das ist bis heute einfach nicht der Fall, es bleibt alles beim Alten. Da wir als Partei die Verantwortung, respektiv vor der Bevölkerung die Verantwortung für die Verwaltung tragen, muß uns diese Art der Kaderpolitik in Schwierigkeiten bringen. 1 0 1

formellen Führung der SPD in den Westzonen. 1946 Vorsitzender der SPD, von 1949 bis zu seinem Tod sozialdemokratischer Oppositionsführer im Deutschen Bundestag. 100 Erwin Oles (1896-1984), vor 1933 KPD, von Mai 1945 bis Oktober 1946 Landrat des Kreises Großenhain. Nach Mitteilung des Kreisarchivs Großenhains schied Oles schließlich aufgrund einer Anordnung der Besatzungsmacht aus seinem Amt aus. 101 Vgl. Naimark, The Russians in Germany, S. 289.

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Ähnlich ist es mit den Schulen. Die Qualität unserer Kindererziehung ist außerordentlich schlecht. Wir machten den Vorschlag, eine Reihe von Lehrern, nicht allzuviele, die früher links eingestellt [waren] und eine hohe fachliche Qualität haben, die aber in der Naziperiode sich in die NSDAP pressen ließen, soweit sie lediglich einfach nur Mitglieder waren und unsere Partei am Ort bestätigt, daß sie sonst anständige Menschen waren, sollte man sie an einem anderen Ort verwenden und im Schuldienst in einigen Fächern verwenden. Wir gingen dabei davon aus, daß die ganzen reaktionären, monarchistischen oder völlig apolitischen Elemente, die aus allen möglichen und nicht aus Gründen des Fortschritts nicht in die NSDAP gingen, heute als Lehrer arbeiten können und die vorher genannten ohne Zweifel besser und auch zu uns viel positiver stehen als die reaktionären Knochen, die heute in der C.D.U. untertauchen. Uns wurde bisher auch nicht ein einziger dieser vorgeschlagenen Lehrer bestätigt. Möglicherweise sind die Gründe dafür im Hinblick auf den Westen zu suchen, möglicherweise auch, daß die Genossen etwas mehr auf den starren Buchstaben sitzen, statt im wirklichen Leben zu stehen.'02 Eine weitere Erscheinung ist, daß gewisse Spitzen in den Verwaltungen, manchmal auch unten bis zu den Bürgermeistern, sich ein bißchen der Kontrolle durch die Partei zu entziehen versuchen. Nicht nur frühere Sozialdemokraten sind es, sondern oft auch soweit durchaus alte und recht gute Genossen von uns. Es ist in der Praxis oft so, daß Genossen in bestimmten Stellungen ihre dienstlich vorgesetzte Behörde als für sie maßgeblicher betrachten als die Parteileitung. Natürlich ist auch das genaue Gegenteil oft vorhanden, daß die Parteileitungen sich Exekutivgewalt aneignen und von sich [aus] Dinge einfach "verordnen", die der Polizei oder den anderen Verwaltungsbehörden zufallen. Letzteres sind gewissermaßen Kinderkrankheiten, die sich abschleifen, ersteres ist der Ausdruck von Opportunismus und sind Rudimente sozialdemokratischer Auffassungen über Rolle und Charakter der Partei. Nicht nur in Berlin, sondern auch etwas bei uns war eine Zeitlang eine gewisse Gefahr von Kliquenbildung. Es gab die Moskauer Gruppe, die spanische Gruppe, die Buchenwalder, die Sachsenhausener, die Mauthausener, die Waldheimer und die Auschwitzer, es gab die Gruppe vom Nationalkomitee, Frontschüler und alte Illegale, sowie die englischen Emigranten. w i r haben sehr früh diese Gefahr erkannt und offen gestellt. Ein sehr verantwortlicher Genosse äußerte in einem privaten Gespräch, daß es eigentlich nur eine ganz kleine Gruppe ganz fester Leute gäbe, nämlich die Moskauer, dies nahmen wir zum Anlaß, um ganz klar zu stellen, daß wir uns vor allen treuen Genossen verbeugen, aber trotzdem nicht rückwärts schauen, sondern die Genossen einschätzen, danach wie sie sich jetzt verhalten. Daß Moskauer Emigration ebensowenig wie KZ eine Garantie dafür sind, daß heute einwandfrei gearbeitet wird. Es gibt auch heute noch solche Stimmungen, aber sie sind keine Gefahr. Ich laufe Gefahr, persönlich zu werden, wenn ich sage, daß das Gros der KZler heute unseren entscheidenden Kader darstellt, aber auch aus den Spanienkämpfern haben wir feine Jungs. Bei einem Teil der Emigranten sind bestimmte Neigungen für Bonzentum vorhanden und Tendenzen, gewisse Erscheinungen schematisch auf Deutschland zu übertragen. Am wenigsten ist das bei den französischen Emigranten der Fall, man merkt, sie haben illegale, gefährliche Arbeit hinter sich, und das schafft Bindung nach unten. Gewisse Formen von Bonzentum werden manchmal auch von unteren Kommandanturen ungewollt unterstützt, zum Beispiel [wenn] ein neuer Kreissekretär der Partei kommt. Für den Kommandanten ist es eine Selbstverständlichkeit, daß dieser Sekretär eine Wohnung bekommen muß, die fast ebenso gut sein muß, wie seine eigene. Aber für die Arbeiter ist es durchaus nicht so selbstverständlich, daß der Sekretär der KP oder jetzt SEP'^4 e ine Wohnung haben muß in einer Villa wie ein Offizier. Eine Frage, die dringend einer Lösung bedarf, ist, soll man einen besonderen Apparat schaffen und wie muß er beschaffen sein. 1 0 5 Ganz klar ist, er muß völlig ohne Bindung mit der N K W D 1 0 6 arbeiten. Nicht nur weil 102 Vgl. Petzold, Joachim: Die Entnazifizierung der sächsischen Lehrerschaft 1945. In: Historische DDRForschung, S. 87ff. 103 Bereits im Juni 1945 hatte die sowjetische Militäradministration drei Gruppen in der KPD konstatiert: "Konz.-Lager, Moskauer, im Lande", vgl. Keiderling, "Gruppe Ulbricht", S. 584. 104 Zeitweilig gebräuchliche Abkürzung für die Sozialistische Einheitspartei (Deutschlands). 105 Zwischen 1919 und 1937 hatte die KPD über einen konspirativen Nachrichtendienst auch M[ilitäpolitischer]-Apparat verfügt, der sowohl gegen äußere Feinde der Partei als auch gegen innere Gegner der

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die Gefahr besteht, daß dort, wo ein tüchtiger Junge als Kommandant der NKWD sitzt, der ganze Apparat nur noch für diese arbeitet, vor allem aber, wenn einmal etwas platzt, sofort die ganze Partei als "verlängerter Arm Moskaus" kompromittiert wäre. Es scheint, es wäre den früheren Sozialdemokraten, die positiv sind, durchaus verständlich, wenn wir etwa, zur Beobachtung der Vorgänge in der C.D.U., in der L.D.P., gewisser unterirdischer Tätigkeit der Nazis, der Kontrolle bestimmter Gerüchtemacher, der Kontrolle gewisser Mitteilungen über Korruptionserscheinungen in der Partei oder einzelner Genossen in Verwaltungen, daß dafür eine besondere Kommission vielleicht bei der Org.-AbtgJ07 oder sonstwo zu schaffen sei. Dies würde sich dann von selbst, wo wir die Leitung fest in die Hand nehmen, auch zur Beobachtung der ehemaligen Oppositionsgruppen, Trotzkisten usw., aber auch der Schumacherleute führen. Diese Frage harrt noch einer Lösung. Eine äußerst schlimme Lage für Sachsen ist das Problem Presse. Bevor wir vereinigt waren, hatte die KP 920000 und die SP etwa 300000 Auflage. Das Ost[?] restlos aufgebaut auf Abonnenten, nicht auf Straßenverkauf. Nach der Vereinigung wurde uns durch die S.M.A. nur Papier für 600000 bewilligt. Da wir unmöglich jetzt der Hälfte unserer Leser einfach die Zeitung sperren können, haben wir radikal den Umfang auf 4 Seiten und auf 3-maliges Erscheinen in der Woche herabgesetzt. Das ist schlecht. Eine vierseitige Zeitung so kleinen Formats ist schon sehr schlecht, wenn sie nur jeden 2. Tag erscheint, ist sie erst recht noch schlechter, aber es ist immer noch besser, als die Hälfte der Leser ganz ohne Beeinflussung zu lassen. Alles, Ausborgen gegenseitig, Anschlagen öffentlich usw., kann man nur als zusätzlich bezeichnen, nie als Ersatz für ständiges Lesen. Das ZK sagt uns mit Recht, man kann unser Papierkontigent nicht erhöhen, weil die anderen Bezirke noch viel weniger haben als wir. Die Lage ist so. Ein Teil der modernsten Papierfabriken ist demontiert worden. Wir hatten gebeten, daß wir die eine Fabrik als Partei kaufen, sie hätte genügt, die ganze Einheitspartei der ganzen Zone mit Zeitungsund anderem Papier zu versorgen. Das wurde nicht perfekt, der Betrieb wurde demontiert. Aber die in Sachsen nicht demontierten Papierfabriken (in anderen Bezirken der Zone ist fast nichts), wenn ihre Kapazitäten voll ausgenutzt würden, wären im Stande, für die ganze Zone nicht nur voll zu produzieren, sondern es blieb sogar noch etwas für Exportzwecke übrig. Es fehlt lediglich an Holz zur Zellulose-Erzeugung. Dieses Problem ist von uns ohne Unterstützung von Holzeinfuhr wohl nicht zu lösen. Aber wir können, wo die ideologische Auseinandersetzung mit dem Westen erst richtig einsetzt, keineswegs auf die Hälfte unserer Zeitungsleser verzichten, im Gegenteil, wir müßten die Zeitungen etwas verbilligen und um 350-500000 erhöhen, um jede Familie zu erfassen. Außer Papier-, resp.fektive] Holzmangel stände dem nichts entgegen. Man kann am Zustand unserer Partei nicht vorübergehen, ohne auf die physische Beschaffenheit unserer Genossen hinzuweisen. Unsere Genossen haben fast alle lange gesessen und sind stark angeschlagen. Einige Beispiele von Mitgliedern und Mitarbeitern aus dem Landes-Vorstand. Von 10 Genossen des Sekretariats (5+5)

Parteiführung gerichtet war. Dieser Apparat war im Rahmen der Säuberungen in der Sowjetunion aufgelöst, sein Leiter Hans Kippenberger am 3.10.1937 von einem Miltärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR zum Tode verurteilt und am selben Tag hingerichtet worden. 106 Russisch: Narodnyj Komissariat Wnutrennich Del (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten), sowjetischer Geheimdienst. 107 Organisations-Abteilung. Es sollte bis zum Jahreswechsel 1948/49 dauern, bis mit den Parteikontrollkommissionen auf allen Parteiebenen eine entsprechende Parteipolizei offiziell die Arbeit aufnahm. Auf zentraler Ebene konnte die PKK dabei organisatorisch wie - teilweise - personell an die Arbeit der Hauptreferate Abwehr, Parteigeschichte sowie Untersuchungen und Schiedsgerichte der Personalpolitischen Abteilung anknüpfen. Zur Struktur der Personalpolitischen- bzw. der Kaderabteilung vgl. SAPMO, DY 30/IV 2/11/120.

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Fritz Große über die Lage der SED in Sachsen, Sommer ¡946 Olga Körner 1 0 8 Otto Buchwitz Fritz Grosse Schliess, Arthur 1 0 9 Winter, Karl 1 1 0

stark herzkrank höchst gefährlich herzkrank gallen- und leberkrank Nieren und Herz Ischias, Rheuma

Werner Schwarze 1 1 1

Nerven völlig fertig

Erich Glaser 1 ^

Nerven, Herz, Bein verloren Nerven völlig fertig, Lunge Blind - Tbc. allgemeine Schwäche

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8 Jahre KZ 6 Jahre Zuchthaus 11 Jahre Zuchthaus und [KZ] 4 Jahre KZ 5 Jahre KZ

An Mitarbeitern

Emst Wabra 1 1 3 Rudi Hempel 1 1 4 Karl Bobach 1 1 5

4 Jahre Spanien, 6 Jahre französische Widerstandsbewegung 4 Jahre Spanien, 6 Jahre KZ 11 Jahre Zuchthaus 12 Jahre KZ 3 Jahre KZ, 2 Jahre Strafregi-

108 Olga Kömer geb. Schubert (1887-1969), 1911 SPD, 1917 USPD, 1920 KPD-Mitglied, 1930-33 MdR, ab 1933 illegale Arbeit und Zuchthaus, 1939-45 KZ, 1945/46 KPD/SED, 1945 zunächst zuständig für Frauenarbeit KPD-BL Dresden, 1946-50 im Parteivorstand der SED, 1946-1952 Sekretariat Landesvorstand SED-Sachsen. 109 Richtig: Arthur Schliebs (1899-?), 1920 KPD-Mitglied, nach 1933 illegale Arbeit und mehljährige Haft, 1944-45 KZ, 1945/46 KPD/SED, 1945-46 3. Sekretär in der BL der KPD Sachsen, 1946-51 Sekretär im LV der SED Sachsen, zuständig für Abteilung Werbung, ab 1948 Personalpolitik, 1946-51 MdL Sachsen, 1951 Mandatsverlust und Parteiausschluß wegen „parteischädigenden Verhaltens". 110 Karl Winter (1897-1971), 1919 SPD, 1922 KPD, 1929-33 ZK der KPD, nach 1933 illegale Arbeit, 1944-45 Zuchthaus Waldheim, 1945/46 KPD/SED, 1945 Kreissekretär KPD Chemnitz, 1946-50 Sekretariat (zuständig für Wirtschaft) und bis 1952 LV SED Sachsen, 1950-1952 Landesvors. Kommission Staatliche Kontrolle, ab 1952 BL SED Dresden. 111 Werner Schwarze (1907-1975), 1929 KPD, 1933 Emigration, 1936-39 Spanischer Bürgerkrieg, 1944 Internierung in Frankreich, 1945/46 KPD/SED, 1945-1946 BL der KPD Sachsen, 1946-48 Leiter der PPA im LV der SED Sachsen, 1951-52 Sekretariat Zentral vorstand VdgB, 1956-64 Hauptabteilungsleiter im Zentralvorstand der GST, 1960-68 stellv. Vorsitzender des GST-Zentralvorstand. 112 Erich Glaser (1901-1984), gelernter Schriftsetzer, 1928 KPD, 1933-1938 Emigration CSR, 1938-Februar 1939 Interbrigadist in Spanien, bis Dez. 1942 Internierung in Frankreich, 1943-1945 Zuchthaus Waldheim, Juni 1945 Mitglied der KPD-BL Sachsen, Mitarbeiter der PPA, zuständig für den Bereich Förderung und Einsatz der Parteifunktionäre. In der Personalakte von Erich Glaser war vermerkt worden, daß dieser von 1947 bis 1949 Vorsitzender der allerdings erst 1949 gegründeten LPKK gewesen sei. Vermutlich war Glaser für die Abteilung "Untersuchungen" in der PPA, dem Vorläufer der LPKK, zuständig. Nach kurzer Mitarbeit in der LPKK von August 1949 bis Februar 1957 Mitarbeit in der Bezirksverwaltung Dresden des Ministeriums für Staatssicherheit, 1959 Wechsel über das Ministerium für Nationale Verteidigung zum Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, 1960-62 Konsul in Ungarn. 113 Emst Wabra (1907-1970), enger Vertrauter Fritz Großes, 1930 KPD-Mitglied, Mitglied des ZK des KJVD, 1933 antifaschistischer Widerstand und Emigration in die CSR, anschließend Rückkehr nach Deutschland, illegale Arbeit für den KJVD, 1935 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt, 1945 Polizeipräsident von Chemnitz, Sekretär der KPD-BL Sachsen, 1946 SED, stellv. Leiter der Abt. Organisation, 1962-70 stellv. Leiter der "Zollverwaltung der DDR". 114 Rudi Hempel (1911-1947), 1925 KJVD, 1928 KPD, 1933-1937 Zuchthaus Waldheim und Zwickau, 1937 erneut verhaftet und in das KZ Sachsenburg, später in das KZ Buchenwald verschleppt, 1945 Mitglied der KPD-BL, ab 1946 der SED-LL.

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Ulrich Mahlert

Hanni Sachow 1 1 ?

völlig unterernährt

Erich B ä r 1 1 8 Hugo Bergmann' Gertrud Keller 1 2 0

Tuberkulose Tuberkulose Tuberkulose

ment999 1 1 6 , 2 Jahre franz. Gefangenschaft. 2 Jahre Zuchthaus Mann hingerichtet 12 Jahre KZ 10 Jahre Zuchthaus 2 mal Zuchthaus und KZ

Das sind die Jungs, die mir augenblicklich einfallen. Im unteren und mittleren Kader ist es nicht besser. Die Jugend war für uns insofern eine Überraschung, als sie durchaus nicht so stark und tief verseucht ist, als man angenommen hatte. Das liegt wohl daran, daß die Kinder, die 1939 etwa 14 Jahre alt waren, heute 21 sind, aber im Krieg ideologisch nicht so stark beeinflußt wurden, weil die Hauptkraft auf militärisches Gebiet verlegt wurde. So haben wir die Tatsache, daß die Jugend eigentlich nicht schlecht mit uns geht. Doch ist natürlich ein Teil [der] Jugendlichen bereit, mit den Nazis unterirdisch zu arbeiten. Oft sind es aber weniger ideologische Gründe, die die Jugend bewegen, sondern vielfach Neigung zur Romantik. Auch das Anwachsen der Jugendkriminalistik [sie!] und der Geschlechtskrankheiten sind Ausdruck für die noch großen Schwächen, die wir bei unserer Jugendarbeit haben. Hervorgehoben muß werden, daß die Mädchen politisch reger und interessierter als die Jungs sind. Letztere sind vielfach doch vom Krieg stärker beeinflußt worden und sind zurückhaltender. Als ein großes Plus im Verhältnis zu Berlin haben wir in Sachsen eine außerordentliche Entwicklung der Masseninitiative. Der freiwillige Arbeitseinsatz in Chemnitz, auch an solchen Sonnabend Nachmittagen, wo es schon eine Woche kein Brot und kein Licht gab, oder in Dresden, wo tausende seit Juli vorigen Jahres jeden Sonntag zur freiwilligen unbezahlten Arbeit kommen, oder der zähe Enthusiasmus der Arbeiter bei der Wiederinstandsetzung der Betriebe, um nur einige unter vielen zu nennen: Niles-Werke in Siegmar, Glasfabrik Ussmannsdorf, Seidel und Naumann, Dresden, Koch-Sterzel, Dresden; sie erinnern fast an die große Initiative der russischen Arbeiter im Bürgerkrieg 121 und zur Zeit des 1. Fünfjahrplans. 122

115 Karl Bobach (1898-?), vor 1933 KPD, nach 1933 mehrfach inhaftiert, 1945/46 KPD/SED, Mitarbeiter der Abt. Werbung, Schulung und Information, zuständig für den Bereich Presse. September 1949 Leiter des Pressestelle des Sekretariats des SED-LV Sachsen, 1951 Leiter des Amtes für Information beim Ministerpräsidenten der Landesregierung Sachsen, 1953-61 Chefredakteur "Sächsische Zeitung". 116 Unterschiedliche, selbständige Truppenteile, die sich aus politisch Vorbestraften, Kriminellen und rassisch bzw. religiös Verfolgten zusammensetzten. Von 1943 bis 1945 wurde das Strafbatallion 999 auf verschiedenen Kriegsschauplätzen eingesetzt, diente jedoch hauptsächlich der Verstärkung der italienisch-deutschen Truppen in Nordafrika. 117 Evtl. Hanni Bochow, 1946 Mitarbeiterin der Abt. Werbung, Schulung und Information, ab 1949 LPKK. 118 Erich Bär, (1916-?), von Beruf Installateur, 1932 KJVD, 1935 wegen Teilnahme am Wiederaufbau der illegalen Organisation des KJVD verhaftet und zu 3 Jahren und 4 Monaten Zuchthaus verurteilt. Ab 1946 Mitarbeiter der Abteilung Werbung, Schulung und Information bei der SED-LL, zuständig für Information. 119 Hugo Bergmann (1904-1988), 1924 KPD-Mitglied, nach 1933 illegale Arbeit, 10 Jahre Zuchthaus, 1945/46 KPD/SED, Mitglied im Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands, 1950-52 Sekretär im LV des Kulturbunds Sachsen, ab 1952 Sekretär im Bundesvorstand des KB, 1950-52 MdL Sachsen, 1963-72 Präsidium des KB. 120 Gertrud Keller (1902-?), KJVD-Mitglied, 1923 KPD-Mitglied, nach 1933 illegale Arbeit, Zuchthaus und KZ, 1945/46 KPD/SED, 1945-46 BL KPD Sachsen, ab 1946 Leiterin der Abt. Kultur und Erziehung beim LV SED Sachsen. 121 1918-21 behaupten sich Bolschewiki mit Hilfe der Roten Armee, die unter der Leitung Trotzkijs aufgebaut worden war, gegen die "Weißen" Generäle und gegen Interventionsversuche der Großmächte (GB, USA, Japan und Frankreich).

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Wir haben auch entgegengesetzte Beispiele, wo im Volksentscheid manche Belegschaften ihren Unternehmer als einen guten Mann bezeichneten und verlangten, man soll ihm seinen Betrieb lassen. Hier ist das Klassenbewußtsein noch verschüttet und muß erst wieder freigelegt werden. Hier müssen die Gewerkschaften sich aktiv beteiligen. Damit komme ich zum Abschluß, nämlich zu unseren hauptsächlichsten Schwächen. 1. Der F.D.G.B. in Sachsen erfüllt seine Aufgabe nur sehr ungenügend. Das ist die Schuld der Partei. Wir haben anfangs unsere besten Kräfte in die Verwaltungs- und Parteiarbeit gesteckt, aus den Betrieben haben wir viele hundert unserer besten Genossen herausgeholt und in die Polizei geschickt. Zum Aufbau aller möglichen Instanzen: Industrie- und Handelskammer, Arbeitsamt, Krankenkassen, Genossenschaften, Frauen-Ausschüsse, für alles müssen die Menschen aus den Betrieben genommen werden. Die SPD blieb im Betrieb und besetzte die Betriebsräte. Als wir bei den Gewerkschaftswahlen alle Kräfte anstrengten, erhielten wir zwar eine starke Mehrheit, aber es war nicht erste, nicht mal zweite Qualität, was geblieben war. Nur nach großer Verspätung haben wir den Landesvorstand der Gewerkschaften etwas verstärkt. Der Hauptmangel ist, die Gewerkschaften kennen oft ihre besonderen Aufgaben nicht, und das Resultat ist, daß unten im Betrieb die einfachen Genossen sagen: "Warum brauchen wir dann im Betrieb zwei Betriebsgruppen, eine der Partei und eine der Gewerkschaften? Sie haben doch dieselben Aufgaben." Wir verstehen als Partei auf diesem wichtigen Instrument noch nicht zu spielen. Es gibt in Sachsen weit über eine Million Gewerkschaftsmitglieder. 2. Unsere Verwaltungen entwickeln einen üblen Bürokratismus. Die Umgangsform mit der Bevölkerung ist schlecht. Es gibt Behörden, bei denen das Wort "Nazischwein" zu einer feststehenden Anrede für jedes ehemalige Mitglied der NSDAP geworden ist. Es herrscht ein Papierkrieg und ein Fragebogenfieber, daß man das Grauen bekommt. In vielen Fällen führt das dazu, daß die Menschen, weil sie an den Behörden verzweifeln, zur Partei kommen, wo ihnen geholfen wird. Schuld ist daran auch, daß unsere Genossen in den Verwaltungen ohne jede Schulung sind, und obwohl wir zwar viel darüber geredet haben, hat außer der Stadt Chemnitz weder die Landes-Verwaltung noch die anderen Instanzen etwas unternommen, um Sonderkurse etwa für Landbürgermeister, Wohnungsfragen, Sozialfürsorge, Steuersachen, Ernährungsfragen usw. zu organisieren. 3. In der Partei wird sehr viel kommandiert, dahinter versteckt sich meist Unfähigkeit. Manchmal auch Nervosität und Krankheit. Dies Kommandieren wirkt sich besonders bei den ehemaligen Sozialdemokraten schlecht aus. Der krasseste Ausdruck dafür war der Kreis Weisswasser, wo unser Kreissekretär der "Herr Politkommissar" genannt wurde und, da er russisch konnte, für die Bevölkerung so etwas wie deutsche G.P.U.123 bezeichnet wurde. Er schlug jede notwendige Kritik mit seiner "Autorität" tot. Wir hatten selbst beim Kreiskommandanten große Schwierigkeiten, als wir ihn absetzen wollten. Auch diese Genossen wollten nicht verstehen, daß ein Parteiführer das Vertrauen der Bevölkerung braucht, nicht, daß sie sich vor ihm fürchten. Bei gleichzeitigem Bestehen von zwei anderen Parteien muß das schlechte Wahlen geben. 4. Unverständnis findet das Wahlgesetz. Es dürfen Jugendliche ab 21 Jahre wählen und ab 23 Jahren gewählt werden. Das ist eine wesentliche Verschlechterung. Unter Weimar hatte Sachsen ein ziemlich fortschrittliches Wahlgesetz. Jeder ab 20 Jahren konnte wählen und gewählt werden. 5. Wir kommen nicht nach mit dem Schulen unserer Mitglieder. Die KP Sachsen hatte 1932 etwa 38-40000 Mitglieder. Wenn man unsere Opfer abzieht, die regulär Gestorbenen, einige Abtrünnige, viele noch in Gefangenschaft, bleiben etwa 15000. Davon hatte aber auch nur, hoch gerechnet, 1/3 etwas marxistische Literatur gelesen und vielleicht verstanden. Dieser kleine Kern soll jetzt Sauerteig sein, um aus einer halben Million S.E.D.-Mitglieder möglichst viele Kommunisten zu machen oder mindestens eine richtige und gute Politik zu garantieren. Das ist viel schwerer, als es im ersten Augenblick aussieht. Einmal, weil man aus verschiedenen Gründen nicht alles bis zuletzt aussprechen darf. Ferner, unser Feind ist gewissermaßen anno122 Der erste Fünfjahresplan in der UdSSR diente 1928 der Förderung der Schwerindustrie und der Kollektivierung der Landwirtschaft. 123 Russisch: Gossudarstwennoje Polititscheskoje Uprawlenije (Staatliche Politische Verwaltung), politische Polizei in der UdSSR, wird 1934 dem NKWD unterstellt.

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Ulrich Mahlert

nym. Wir können nicht C.D.U. sagen, sondern "Überbleibsel des Faschismus und reaktionäre Schichten". Wir dürfen nicht England und Amerika sagen, sondern "treibende Kräfte für neue Kriege", wir dürfen nicht vom polnischen Chauvinismus sprechen, sondern von Folgen der Hitlerpolitik und ähnliches mehr und das alles, bei solchen riesigen Massen neuer, gewissermaßen unpolitischer Menschen. Eine einzige Saalschlacht mit einigen Dutzend zertrümmerten Stuhlbeinen, wo man den Gegner vor Augen hat, würde die Partei wahrscheinlich mehr in Bewegung bringen als 10 Broschüren über die demokratische Erneuerung Deutschlands. Die Arbeit ist sehr kompliziert. 6. Als letztes ein Wort zu unseren verantwortlichen Genossen. Der Genosse Buchwitz, der von der SPD gekommen ist, ist ein völlig gefühlsmäßiger Mensch, aber grundehrlich. Furchtbar ist, daß er mit dem Herz furchtbar runter ist und die Ärzte befürchten, wenn er sich nicht gründlich erholt, daß er nicht mehr lange lebt. Das wäre für uns unerträglich, denn es gibt von den Sozialdemokraten hier keinen Nachfolger, die anderen vier Mitglieder des Landessekretariats sind [weder] sachlich noch politisch irgendwie als Ersatz für Buchwitz zu betrachten. Buchwitz' Verhältnis zum Genossen Matern war ein gutes, zu Koenen ist es ein denkbar schlechtes. Er hat mir selbst einige Male gesagt, daß es ihm jetzt keinen Spaß mehr macht. Koenens Verhältnis zu Buchwitz ist denkbar ungeschickt. Er glaubt, unbedingt im Vordergrund stehen zu müssen und legt schon zuviel Wert [darauf], daß er ja nicht weniger in Presse und Funk genannt wird wie Buchwitz. Vielleicht versteht er nicht, daß es viel besser ist, wenn Buchwitz, da er treu ist, besser z.B. nach dem Westen, aber auch auf unsere früheren SP-Leute wirkt als der beste Kommunist. Dabei darf nicht verkannt werden, daß es Koenen sehr schwer hat, ihm fehlt das ganze Jahr 1945. Auch gibt er sich größte Mühe mitzukommen. Er ist zum Beispiel in der praktischen Arbeit viele Male aktiver, als es Matem war. Er macht mit den einzelnen Abteilungsleitern fast wöchentlich Besprechungen, was Matem die ganze Zeit, wo er in Sachsen war, vielleicht 1-2 mal gemacht hat. Trotzdem ist Matern beliebt und Koenen durchaus nicht in dem Maße. Solche Lage erleichtert unsere Position gegenüber den Sozialdemokraten nicht. Wir haben noch zwei alte Spitzenfunktionäre der Partei hier. Der Genosse Selbmann, der bis 1933 Politsekretär der KP Sachsen war, und der Genosse Opitz 1 24, der 1932-33 Politsekretär der KP Ruhrgebiet war. Beide gehörten, da ich selbst dazu gehörte, darf man wohl den Ausdruck gebrauchen, zur Thälmanngruppe. Beide saßen von 1933-45 im Zuchthaus resp.[ektive] KZ. Selbmann macht heute Vizepräsident für Wirtschaft und ist der stärkste Mann in der Landesverwaltung. Friedrichs 1 2 5 und Fischer 12 *) sind politisch mit ihm nicht in Vergleich zu stellen. Selbmann hat jedoch sicher geglaubt, daß er wieder Sekretär der sächsischen Partei wird oder ins Polbüro nach Berlin kommt, und es ist möglich, daß bei ihm ein kleiner Schnupfen besteht. Es ist auch nicht ganz ausgeschlossen, daß er ein bißchen auf eigene Rechnung arbeitet, es sah eine Zeit so aus, als ob er sich in Leipzig eine Plattform schaffen wollte. Aber es ist nichts Greifbares da. Seine Arbeit als Wirtschaftler ist nicht schlecht. Daß er ab und zu 124 Max Opitz (1890-1982), 1919 KPD, 1926-30 MdL Sachsen, zwischen 1928 und 1930 Politischer Leiter in verschiedenen Bezirken, ab 1929 ZK, 1933-41 Zuchthaus. Trotz schriftlicher Erklärung an das Reichssicherheitshauptamt, mit dem Kommunismus gebrochen zu haben, 1941-45 KZ Sachsenhausen, 1945 Leiter der sächsischen Landespolizei, 1945-49 Polizeipräsident in Dresden, 1949-51 Oberbürgermeister in Leipzig, 1951-60 Chef der Präsidialkanzlei und Staatssekretär bei Wilhelm Pieck. 125 Rudolf Friedrichs (1892-1947), Jurist, 1922 SPD, 1927 Stadtrat in Dresden und Regierungsrat im Innenministerium Sachsens, 1933 Entlassung aus pol. Gründen, kurzzeitige Haft, 1945/46 SPD/SED, 1945 Oberbürgermeister in Dresden, Juli 1945-Juni 1946 Präsident der Landesverwaltung bzw. Ministerpräsident der Landesregierung Sachsen. 126 Kurt Fischer (1900-1950), 1919 KPD-Mitglied, 1921 Emigration in die UdSSR, 1923 Rückkehr nach Deutschland, 1924 emeut in der UdSSR, 1924-45 Mitglied der KPdSU, 1924-28 Mitarbeit im EKKI, 1928-32 Studium an der Militärakademie, 1932-39 Agent des sowj. militär. Geheimdienstes, 1943-45 antif. Aufklärungsarbeit in Kriegsgefangenenlagern. 1945 Rückkehr nach Deutschland mit der "Gruppe Ackermann", 1945/46 KPD/SED, Juli-Okt. 1945 1. Vizepräsident der Landesverwaltung Sachsen, 1946-48 Innenminister und stellv. Ministerpräsident in Sachsen, 1948-49 Präsident der Deutschen Verwaltung des Innern und Generalinspekteur der Volkspolizei.

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mal mit der S.M.A. zusammenfahrt und sich mit Oberst Blochin in die Haare bekommt, ist bei dem Charakter der Arbeit nicht anders, die sollen sich nur hinterher ruhig wieder vertragen. Als Genosse Matern noch hier war, wurden gegen Selbmann einmal schwere Verdachte geäußert. Sie sind restlos als falsch aufgeklärt. Es ist nicht möglich, daß etwaige Konkurrenzbedenken damals zu diesen Verdächtigungen geführt haben. Opitz hat im Lager einen falschen Standpunkt in der Frage Dirlewanger 127 bezogen. Unser Standpunkt als Partei im Lager und Zuchthaus war so. Wo man die Leute einfach holt, ohne zu fragen, muß man gehen und an der Front überlaufen. Freiwillig melden soll sich niemand. Unter dem Terror und der realen Gefahr der Liquidierung propagierten einige Genossen, [sich] freiwillig [zu] melden, denn eine Waffe in der Hand ist besser, als [sich] wehrlos abschlachten lassen. Diesen falschen Standpunkt vertrat auch Opitz mindestens eine Zeitlang. Er selbst ist nicht zu Dirle wanger gegangen. 128 Opitz wurde daher nicht direkt in die Parteiarbeit genommen. Er ist seit Mai 1945 Polizeipräsident in Dresden. Auch gegen ihn bestanden Bedenken, daß er eventuell sich eine Gruppe schaffen würde. Das ist nicht eingetreten. Er hat die Polizei gut aufgebaut und hält eine einwandfreie Parteidisziplin. Er ist an seinem Platze vielleicht nicht genügend ausgenützt. Er könnte mehr leisten. Sollte einmal die Frage stehen, Fischer und Friedrichs in eine Zonen- oder Reichsverwaltung zu nehmen, wäre wahrscheinlich Dr. Z e i g n e r ^ ^ Leipzig, als ehemaliger SP-Mann ein entsprechender Nachfolger für Friedrichs. Für Fischer ist ohne Zweifel der fähigste Nachfolger Genosse Weidauer 130 , stell. Bürgermeister in Dresden. Er ist unser bester Kommunalpolitiker und ein treuer Kommunist. Er ist äußerst populär, mehr als leider viele unserer Spitzenfunktionäre der Partei. Moskau, 7. August 1946.

F. Grosse

127 Strafbatallion im 2. Weltkrieg. 128 Vgl. dazu Biereigel, Hans: Gedenkende Trauer und schmerzende Fragen. Dokumente über das Sachsenhausen. In: Utopie kreativ, Heft 50, Dezember 1994, S. 53ff. 129 Dr jur. Erich Zeigner (1886-1949), 1919 SPD, 1921-23 Justizminister in Sachsen, 1923 Ministerpräsident, 1924 Sturz seiner SPD/KPD-Regierung und 3 Jahre Haft, nach 1933 mehrmals inhaftiert, 1945/46 SPD/SED, 1945-49 Oberbürgermeister in Leipzig. 130 Walter Weidauer (1899-1986), 1922 KPD, 1925-1929 Stadtverordneter in Zwickau, 1929-1932 Oeschäftsführer des KPD-Verlages "Bücherkiste", 1935 Emigration nach Prag, später Dänemark, 1942 zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt und bis Kriegsende inhaftiert, 1945/46 KPD/SED, 1946-58 Oberbürgermeister in Dresden, 1958-1961 Vorsitzender des Rats des Bezirkes Dresden.

Achim Kilian (Weinheim)

"Das Lager Nr. 1 weist eine hohe Sterblichkeitsrate auf." Bericht einer GULAG-Kommission über das NKWD-Speziallager Mühlberg Im ersten Quartal 1948 bereiste eine Moskauer GULAG1-Kommission die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) in Deutschland. Ihr Leiter war Oberst med. Dienste L. M. Loidin, stv. Leiter der 2. GULAG-Verwaltung des MWD 2 der UdSSR. Ihn begleiteten Major N. I. Woronzow von der 1. GULAG-Verwaltung und Oberleutnant N. I. Krylow von der 2. GULAGVerwaltung. Gemeinsam mit Oberst N. T. Zikljajew, der Oberst S. M. Swiridow Mitte 1947 als Leiter der Abteilung Speziallager der Sowjetischen Militär-Administration in Deutschland (SMAD) nachgefolgt war, und Oberstleutnant med. Dienste A. I. Kaz, Leiter der Sanitätsgruppe dieser Abteilung, inspizierte man die Speziallager des MWD der UdSSR in der SBZ. Diese bestanden seit 1945 und waren zusammen mit weiteren Lagern und Gefängnissen nach dem Ende des Krieges vom NKWD 3 der UdSSR eingerichtet bzw. von östlich gelegenen Standorten in die SBZ verlegt worden. Mit Befehl Nr.00780 vom 4. Juli 1945 hatte NKWD-Chef L. P. Berija seinen sogenannten "Apparat der Frontbevollmächtigten" aufgelöst und den bisherigen Frontbevollmächtigten der 1. Weißrussischen Front [Heeresgruppe, A.K.], Kommissar 2. Ranges (Generaloberst) I. A. Serow, zum "Bevollmächtigten des NKWD der UdSSR für die sowjetischen Truppen in Deutschland" bestimmt. 4 Neben umfassenden geheim- und sicherheitsdienstlichen Vollmachten erhielt Serow unter anderem die uneingeschränkte Befehlsgewalt über die Lager, Gefängnisse, Überprüfungs- und Filtrationsstellen des NKWD "auf deutschem Territorium". Unter Leitung des oben erwähnten und Serow unterstellten Oberst Swiridow wurde die "Abteilung Speziallager und Gefängnisse des NKWD der UdSSR auf dem Territorium Deutschlands" gebildet, die nach und nach in der SBZ zehn Speziallager (von denen Nr. 10 Gefängnis war) und zwei Gefängnisse verwaltete.5 Von diesen bestanden Anfang 1948 noch die Speziallager Nr. 1 Mühlberg, Nr. 2 Buchenwald und Nr. 9 Neubrandenburg für Arrestanten (ohne Haftbefehl und Anklage, ohne Bestrafung bzw. Verurteilung Festgehaltene), Nr. 4 Bautzen und Nr. 7 Oranienburg für Arrestanten und verurteilte Deutsche sowie das Speziallager Nr. 10 Torgau (Fort Zinna) als Durchgangsgefängnis für verurteilte Sowjetbürger und Deutsche. Die Lager Nr. 3 Berlin, Nr. 5 Ketschendorf, Nr. 6 Lieberose und Nr. 8 Torgau sowie die Gefängnisse Nr. 5 Strelitz und Nr. 6 Lichtenberg waren 1946 bzw. 1947 aufgelöst worden. Zur Vorgeschichte. Stalin verfügte seit 1943 mit der Gründung von SMERSCH (Tod den Spionen) als Sicherheitsorgan der sowjetischen Streitkräfte über drei geheime Sicherheits1 Hauptverwaltung Lager des NKWD bzw. MWD der UdSSR. Die Großschreibung aller Buchstaben entspricht der der Sowjets. 2 Ministerium für Innere Angelegenheiten. Bis März 1946 Volkskommissariat (NKWD). 3 Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten. Ab März 1946 Ministerium (MWD). 4 Staatsarchiv der Russischen Föderation (im weiteren GARF), Fond 9401, op. 12, d. 178. 5 Über die "Wanderung" der Speziallager (S/L) von Osten bis in die SBZ wäre separat zu berichten. Das S/L Nr. 1 des NKWD der UdSSR befand sich bis Ende Juni 1945 in Rembertow bei Warschau, dann in Schwiebus und wurde Mitte September 1945 nach Mühlberg und damit in den Zuständigkeitsbereich der "Abteilung Speziallager...auf dem Territorium Deutschlands" verlegt.

Bericht einer GULAG-Kommission

über das NKWD-Speziallager

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dienste mit nahezu unumschränkten Vollmachten: NKWD, NKGB und SMERSCH. Im NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) war 1934 die OGPU (Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung) aufgegangen.6 Schon seit auf Initiative Lenins 1918 "die 'Außerordentliche Kommission zur Bekämpfung der Konterrevolution und Sabotage' (Tscheka) eingerichtet worden war, wurden die Machtbefugnisse der Organe der Staatssicherheit auf Grund von Beschlüssen des Politbüros ständig erweitert; sie verwandelten sich schließlich - wie die Protokolle belegen - in einen geheimen Staat innerhalb des sowjetischen Staates. "7 Dessen repressive Vollmachten führten schließlich sogar zur gegenseitigen Vernichtung der Akteure und zur Kompromittierung und Ausschaltung auch höchstrangiger Angehöriger der sowjetischen Nomenklatura. Die 1941 verfügte Ausgliederung der GUGB (Hauptverwaltung für Staatssicherheit) aus dem NKWD als NKGB (Volkskommissariat für Staatssicherheit) wurde wenig später wieder rückgängig gemacht, doch 1943 endgültig vollzogen. Etwa zur selben Zeit wandelte Stalin die bisherigen Überwachungskader des NKWD in den Streitkräften zur Spionageabwehrzentrale SMERSCH um. Über das Staatsverteidigungskomitee unterstand sie ihm direkt. Wichtigstes Ziel dieser Organisationsänderungen war die Optimierung der Effizienz der Dienste nach außen und innen. Alle drei geheimen Dienste ergänzten und überschnitten sich in ihren Wirkungskreisen. Agenten, geheime Informanten und Residenten, Spitzel, Zuträger, Provokateure und andere Helfershelfer wurden nach ausgefeilten Instruktionen installiert. Je intensiver die allseitige Kontrolle wurde, desto mehr wuchs auch die Abhängigkeit jedes Mitwirkenden vom Apparat. Die Entscheidungen seiner Organe waren unanfechtbar, griffen in alle Lebensbereiche ein - und veränderten das Leben ganzer "Klassen" und Völker. So wirken zum Beispiel die Deportationen nichtrussischer Völker durch das NKWD 1941/44 bis in die Gegenwart nach; erinnert sei nur an das Schicksal der Wolgadeutschen oder die Verfrachtung der mehr als 400.000 Tschetschenen und Inguschen aus ihrer kaukasischen Heimat nach Mittelasien und Sibirien sowie die Ansiedlung von Russen in den entleerten Gebieten. Für unseren Bericht sind die "Operativen Organe" des NKWD und seine Lagersysteme hervorzuheben. Die Operativen NKWD-Organe waren flächendeckend in Operativgruppen auf Kreis- bzw. Bezirksebene, Operativsektoren auf Gebietsebene oder Operativabschnitte gemäß Sonderauftrag gegliedert. Seit 1943 wurden neben ihnen die den Truppenteilen der Roten Armee zugeordneten Operativen SMERSCH-Organe aktiv. Diese intensivierten die Überwachung innerhalb der Streitkräfte und füllten zugleich Lücken im externen Kontrollnetz, wie sie zum Beispiel im Verlauf der Kriegshandlungen infolge des Vorrückens der Roten Armee auftraten. Hierbei ging es keineswegs nur um die Sicherung des Hinterlands und der Nachschubwege. Vielmehr sahen sich sowohl die befreiten Sowjetbürger wie die überlebenden Kriegsgefangenen oder "Ostarbeiter" sogleich von SMERSCH beargwöhnt, als auch die "befreiten" Völker unverzüglich mit der sowjetischen "Geheimpolizei" konfrontiert. SMERSCH "war ständig auf der Jagd nach Agenten. Unter den chaotischen Kriegsverhältnissen, wo keine regulären Verfahren stattfinden konnten, war die Zahl ihrer Opfer ungeheuer hoch." In Polen wurden "neben tatsächlichen Kollaborateuren [...] Hunderte polni6 Ausführlich hierzu neben anderen Lewytzkyj, Borys: Die rote Inquisition. Frankfurt/M. 1967, S. 90ff. 7 Nekritsch, Alexander: Zur Klärung der sowjetischen Vergangenheit, in: Kontinent, 18 (1992), S. 92. Bei Nekritsch Anden sich alle wesentlichen Stichworte zum Ausbau von Stalins "Staat im Staate".

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Kilian

scher Nichtkommunisten liquidiert, die selbst Nazigegner gewesen waren." 8 Dazu zählten auch die "Akawzy", sprich: die Kämpfer der bürgerlichen polnischen Heimatarmee, soweit sie nicht während des Aufstands in Warschau und anderswo gefallen oder in deutsche Gefangenschaft geraten waren. 9 Mit größtmöglicher Intensität griffen SMERSCH und NKWD zu, um Deutscher habhaft zu werden. Die sicherheitsdienstlichen Aufgabenstellungen der Operativen Organe sowie deren generelle Vorgehens- und Verfahrensweisen ergaben sich aus streng geheimen Befehlen zentraler NKWD-Organe bis hin zu Volkskommissar L. P. Berija. Grundsätzliche Weisungen veranlaßte oder billigte Stalin selbst. Er war das Gesetz. Entsprechend sahen sich seine Organe im Erfolgszwang, war Willkür unausweichlich. Dies um so mehr, als Erfolgsmeldungen bis zu Stalin gelangten. 10 Die bis in den Sommer 1945 befohlene "Enttarnung und Vernichtung von Spionen, Diversanten, Terroristen und anderen [...] feindüchen Organen und Gruppierungen" bot genügend Spielraum. Wer sich im engmaschigen Netz der Operativen Organe verfing, sah sich wehrlos Verdächtigungen und Beschuldigungen ausgesetzt, wurde entweder umgebracht oder verurteilt oder auf unbestimmte Zeit eingesperrt. Da schon 1930 alle sowjetischen Lager für politische Gefangene der OGPU unterstellt worden waren, gelangten diese 1934 mit der OGPU an das NKWD und wurden dort in einer Hauptverwaltung zusammengefaßt. Deren Kurzbezeichnung GULAG ist seit Solschenizyns Trilogie "Der Archipel GULAG" zum Synonym für Stalins Lagersystem geworden. Dabei darf sein zweites Lagersystem nicht übersehen werden, das 1939 begründet und weit über 1945 hinaus ausgebaut wurde. Es umfaßte Lager für Kriegsgefangene und Internierte und wurde der im NKWD neugeschaffenen UPVI (Verwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten) unterstellt, die 1945 zur Hauptverwaltung avancierte (GUPVI). Der Archipel GULAG und dieser "Archipel GUPVI" 1 ' waren zunehmend miteinander verwoben, und es blieb keine Ausnahme, daß GULAG-Insassen in GUPVI-Lager gerieten und umgekehrt. Die Bedeutung beider Archipele in Stalins Staat im Staate gründete keineswegs nur auf der Möglichkeit, in ihnen immer mehr Gefangene unterzubringen. Vielmehr machte sie der Ausbau des eng mit ihnen verbundenen ökonomischen Konglomerats von "Sklavenbetrieben" in des Wortes schlimmster Bedeutung für die Sowjetwirtschaft immer unverzichtbarer. In beiden Lagersystemen gab es verschiedene Lagertypen mit unterschiedlichem Regime, wie zum Beispiel Strafarbeitslager, Besserungsarbeitslager, Lager für Kriegsgefangene, Überprüfungslager etc. sowie Speziallager. Solche Speziallager bestanden bis in die fünfziger Jahre in der UdSSR sowie zeitweise in von der Roten Armee 1939/40 und 1944/45 "befreiten" Ländern und 1945-1950 in der SBZ/ DDR. Als Insassen belegt sind nichtverurteilte Sowjetbürger, aus zur Arbeit mobilisierten Deutschen gebildete Arbeitsbataillone, Polinnen und Polen der Heimatarmee, Angehörige anderer Nationalitäten sowie Deutsche verschiedenster "Färbungen" (NKWD-Begriff für Be8 9

Beide Zitate Lewytzkyj, Rote Inquisition, a.a.O. (Anm. 6), S. 208f. Sowohl im deutschen Stalag IV B Mühlberg als auch im sowjetischen S/L Nr. 1 Rembertow (Anm. 5) z.B. wurden "Akawzy" gefangengehalten. Zu diesem Thema wäre separat zu berichten. 10 Siehe die entsprechenden GARF-Findbücher der "Russian Archives Series", University of Pittsburgh, Pittsburgh, PA 1994ff. 11 Karner, Stefan: Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 19411956, Wien/München 1995.

Bericht einer GUIAG-Kommission

über das NKWD-Speziallager

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schuldigung). Allgemein galt das Speziallagerregime als besonders hart. Der Hauptzweck der NKWD-Speziallager in der SBZ war die völlige Isolierung der Spezialkontingente12 von der Außenwelt. Ohne Verbindung zu ihren Angehörigen, bei strengstem NKWD-Regime (mit Verboten bis hin zum Lesen, Schreiben und Singen), in der Folter ständigen Nichtstuns (nur für 10 Prozent der Insassen gab es lagerbedingte Arbeiten), ohne Kenntnis der Arrestzeit und unter primitivsten Bedingungen ging es für die Eingesperrten nur noch um Leben oder Tod. Als die GULAG-Kommission 1948 in die SBZ kam, waren die meisten von SMERSCH und NKWD festgesetzten Sowjetbürger in die UdSSR verbracht worden, viele als verurteilte "Vaterlandsverräter", andere als Arrestanten, wieder andere zur weiteren Überprüfung im Heimatbezirk oder zur Freisetzung. Seit Frühjahr 1945 belegen Dokumente "Etappierungen" Verurteilter über die NKWD-Gefängnisse Frankfurt/Oder, Brest und Molotowsk oder direkt in GULAG-Schmelztiegel wie PETSCHORLAG oder WORKUTLAG. 13 Hervorzuheben sind die in den westlichen Besatzungszonen befreiten Russen und anderen Sowjetbürger, die 1945 in Torgau von der US Army (und eventuell auch anderswo) im Austausch gegen von den Sowjets befreite westalliierte Kriegsgefangene an SMERSCH übergeben worden sind. Jeder von ihnen wurde von SMERSCH bzw. NKWD gleichermaßen in der oben beschriebenen Weise "behandelt". Die Abteilung Speziallager hatte wiederholt ihre deutschen Kontingente nach Arbeitsfähigen durchkämmen lassen und entsprechende Transporte in die UdSSR abgefertigt. Auch "Spezialisten" hatte man ausfindig gemacht und deportiert oder zur Arbeit bei Dienststellen der SMAD abgezogen. Die Operativen Gruppen der Speziallager und Gefängnisse hatten unter den Gefangenen geheime Informanten und Agenten (Spitzel) angeworben, um Stimmungsberichte zu sammeln und von Anschuldigungen oder Verstößen gegen die strenge Lagerordnung zu erfahren. Im Speziallager Nr. 1 Mühlberg war Lagerchef Hauptmann Samoilow schon im Winter 1945/46 wegen diverser Unregelmäßigkeiten aufgefallen. Er hatte sich von Gefangenen, die unter Bewachung aus ihren heimischen Betrieben im Lager dringend benötigte Gegenstände und Materialien beibringen sollten, Alkoholika, Damenwäsche und anderes mitbringen lassen. "Am 10. Dezember 1945 wurden der Rotarmist Trofimow (ohne Papiere) und der von ihm begleitete Deutsche, der ehemalige Oberstleutnant der deutschen Armee Frank W., auf der Eisenbahnstation Glauchau festgenommen. [...] Frank W. hatte den Auftrag, Wodka einzukaufen. Dazu hatte man ihm 500 Mark gegeben. Bei der Festnahme wurden bei Frank W. zwei Säcke mit seidener Unterwäsche und beim Rotarmisten Trofimow sechs Uhren gefunden." Trotz entsprechender Meldung an Generaloberst Serow blieb Hauptmann Samoilow Lagerchef. 14 Erst Anfang 1947 löste ihn Oberstleutnant Sasikow ab, der bis dahin das jetzt aufgelöste Speziallager Nr. 8 Torgau geleitet hatte. Auch wenn im Bericht der GULAG-Kommission dem abgelösten Hauptmann Samoilow Versäumnisse angelastet wurden, stand die Inspektion des Lagers Nr. 1 Mühlberg gewiß nicht nur im Zusammenhang mit dessen Führungsstil. Sie läßt sich eher als "Vorbote" kommender Veränderungen bewerten. Dafür gibt es deutliche Anzeichen: 12 Zur S/L-Lagerordnung siehe Kilian, Achim: Einzuweisen zur völligen Isolierung. NKWD-Speziallager Mühlberg/Elbe 1945-1948, m. e. Vw. v. Hermann Weber, 2., erw. Aufl., Leipzig 1993. 13 GARF, f. 9409, op. 1, d. 720. 14 GARF, f. 9409, op. 1, d. 14,1. 9f., Bericht von Generalmajor Golochow an Generaloberst Serow, 11.2. 1946. Übersetzung Ludmilla Bartels.

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Achim Kilian

1) Seit Herbst 1947 erhielt das streng isolierte Spezialkontingent in der SBZ erscheinende Tageszeitungen. 2) Am 5. Januar 1948 beauftragte GULAG-Chef Generalmajor Dobrynin den Leiter der Abteilung Speziallager Oberst Zikljajew mit der Ausarbeitung des Entwurfs einer Instruktion für das Regime und die Isolierung des Spezialkontingents und der übrigen Gefangenen in Deutschland. In dem Projekt sollten sowohl die örtlichen Gegebenheiten als auch die Erfahrungen in den GULAGs der UdSSR berücksichtigt werden. (Da Oberst Zikljajew die gesetzten Termine nicht einhielt, wurde ihm im Februar unter Strafandrohung eine letzte Frist gesetzt.) 3) Am 29. Januar 1948 erbat Oberst Zikljajew von Generaloberst Serow (neue) Instruktionen für das Regime der Speziallager, zum Beispiel wegen des Briefwechsels, wegen Paketsendungen und wegen der Benachrichtigung von Angehörigen nach Todesfällen. Zikljajews Anfrage belegt eindeutig, daß es für das Spezialkontingent weder Briefwechsel und Paketsendungen noch Benachrichtigungen bei Todesfällen gab. Serow ließ ihm am 16. Februar 1948 antworten, daß über seine Fragen der Ministerrat der UdSSR entscheiden müsse. 4) Am 26. Februar 1948 fragte Generalmajor Dobrynin bei Oberst Zikljajew an, wie der Briefwechsel der Verurteilten und der Arrestanten mit deren Verwandten eingerichtet sei. 5) Am selben Tag wurde die Abteilung Speziallager angewiesen, die bislang von ihr und den Lagern verwendete Feldpostnummer 24570-T nicht länger zu benutzen. 6) Ebenfalls am 26. Februar 1948 bat die Abteilung Speziallager den stv. Leiter der 1. Spezialabteilung des MWD Major Sirotin um Mitteilung, welche Papiere Ausländer (nicht die Deutschen) bei der Entlassung aus dem Speziallager erhalten sollten. 15 Vor der zusammenfassenden Stellungnahme zu diesen Stichworten wird der GULAGKommissionsbericht über das Speziallager Nr. 1 vorgestellt und abschnittweise kommentiert. Ab Mitte Februar 1948 ließen im Lager Mühlberg ungewöhnliche Aktivitäten im Lazarettbereich und entsprechende "Parolen" Neugier und Erwartung aufkommen. "Jeden Tag kommt der Majorarzt mindestens einmal zur Inspektion. Er ordnet an, daß aus dem sowjetischen Magazin Bezüge für die Kissen[?] und Decken der 400 Betten in den Stationen I bis IV angeliefert werden. Die [anderen, A.K.] Lazarettbaracken mit zweistöckigen Holzpritschen müssen peinlichst sauber hergerichtet werden. Das Lazarett wird zum Mittelpunkt das Lagers." 16 An einem Sonntag, dem 22. Februar 1948, und am Vormittag des nächsten Tages nahmen fremde Offiziere, über die zu hören war, daß sie aus Moskau kämen, zusammen mit im Lager bekannten Offizieren das Lager in Augenschein. In einer der beiden Küchen probierte ein Offizier auf Weisung seines Chefs die an diesem Tag tadellose Mohrrübensuppe und spuckte sie wieder aus. Der verzweifelte Ruf eines vom Tode gezeichneten jungen Mannes in einer der Tbc-Baracken, man möge ihn doch erschießen, wenn er schon sterben solle, blieb ohne Reaktion. Diese und andere Geschehnisse sprachen sich unter den Arrestanten herum, nährten neue Gerüchte. In der Tat hatten Oberst Loidin und seine Kommission das Lager besucht. Seit der Verlegung des Speziallagers Nr. 1 des NKWD der UdSSR von Schwiebus in das frühere Stalag IV B Mühlberg Mitte September 1945 waren bis zum Besuch der GULAG15 Aufzeichnungen zu allen Belegen beim Verfasser. 16 Kilian, Einzuweisen..., a.a.O. (Anm. 12), S. 158.

Bericht einer GULAG-Kommission

über das NKWD-Speziallager

Mühlberg

JHK1996

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Kommission 2 1 . 6 5 5 Arrestanten in das Lager Mühlberg eingeliefert worden. A m 22. Februar 1948 belief sich das Spezialkontingent nach den Listen der Registriergruppe des Lagers auf 11.429 Personen. 5 . 8 0 2 Männer, Frauen und Jugendliche waren v o m 9. Oktober 1945 bis 21. Februar 1948 im Speziallager Nr. 1 gestorben. 15 Männer starben an den beiden Inspektionstagen, weitere 31 an den folgenden drei Tagen, bis auf drei alle an Tbc. 3 . 0 7 5 Männer und Jugendliche hatte man 1946/47 als "Arbeitsfähige" in die U d S S R deportiert. 8 3 5 Arrestanten waren entlassen, 5 1 0 verlegt w o r d e n . 1 7 D i e Gründe für die Verlegungen werden erst dann zweifelsfrei zu klären sein, wenn die Akten der Operativgruppe des Lagers aus der Geheimhaltung entlassen worden sind.

Dokument

PROTOKOLL

STRENG GEHEIM

Mühlberg, 21.-23. Februar 1948 Von einer Kommission, bestehend aus Vertretern des Ministeriums für Innere Angelegenheiten (MWD) der UdSSR, wurde der Zustand des Speziallagers N°1 überprüft. Der Kommission gehörten an: Oberst med. Dienste L. M. LOIDIN, stv. Leiter der 2.GULAG-Verwaltung des MWD der UdSSR, Major N. I. WORONZOW, Abteilungsleiter der 1 .GULAG-Verwaltung, Oberleutnant N. I. KRYLOW, stv. Abteilungsleiter der 2.GULAG-Verwaltung. Zugegen waren Oberst N. T. ZIKLJAJEW, Leiter der Abteilung Speziallager der SMAD, Oberstleutnant med. Dienste A. I. KAZ, Leiter der Sanitätsgruppe der Abteilung Speziallager der SMAD, und der Leiter des Speziallagers N°l, Oberstleutnant Gen. SASIKOW. Dabei wurde festgestellt: Das Lager liegt nahe der Stadt Mühlberg (Land Sachsen-Anhalt). Im Lager befinden sich am 22. Februar 1948 11.435 Personen des Spezialkontingents, davon 10.026 Männer und 1.409 Frauen. Das Kontingent läßt sich in folgende Altersgruppen gliedern: unter 20 Jahre 21-30 Jahre 31-40 Jahre 41-50 Jahre 51-60 Jahre über 60 Jahre

710 723 1.070 3.904 4.285 743

Personen " " " " "

5,9% 6,3% 9,2% 34,0% 37,3% 6,4% (99,1%)

richtig 6.2%, A.K. 6,3% 9,4% 34,1% 37,5% " 6,5% 100,0%

Angaben über den körperlichen Zustand des Kontingents gibt es in den Unterlagen des Lagers nicht. Vom Kontingent werden 1.510 Personen für verschiedene Arbeiten eingesetzt. 17 Aufzeichnungen zu allen Angaben beim Verfasser. Erfaßt wurden alle Zugänge ohne Rücksicht auf die sehr unterschiedlichen Verweilzeiten im S/L Nr. 1. Die Angaben über Todesfalle entsprechen denen der Registriergruppe des S/L Nr. 1. Zu den inzwischen vom Verfasser festgestellten Ungenauigkeiten vgl. Kilian, Achim: Verschollen in Deutschland seit 1945, 1946, 1947..., in: Deutschland Archiv (künftig: DA), 28 (1995), S. 936ff. Im GULAG-Bericht werden vier Fluchten angefühlt; entsprechende Fluchtberichte bzw. Aufzeichnungen beim Verfasser.

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Achim Kilian

Das Kontingent des Lagers ist in 33 Holzbaracken untergebracht. Die Breite einer Baracke beträgt 12 m, die Länge 30 m. Die Baracken wurden 1939 errichtet und haben sich gegenwärtig im wesentlichen amortisiert. Das Kontingent ist in den Baracken auf durchgängigen Doppelstockpritschen untergebracht. Die durchschnittliche Wohnfläche beträgt pro Person 1,7 m2, in manchen Baracken ist diese Fläche jedoch weitaus kleiner. In den Baracken gibt es Ofenheizung. Infolge des schlechten baulichen Zustands der Räume ist die Temperatur an Frosttagen unzureichend und schwankt zwischen 10° und 14° C. Das Kontingent klagt über die Kälte in den Räumen. Das Kontingent ist unzureichend mit Bettwäsche versorgt. Besonders fehlen Matratzen- und Kissenbezüge. Der sanitäre Zustand der Räume ist befriedigend. Allerdings gibt es in etlichen Räumen Wanzen, Flöhe und sogar Mäuse. Das Lager erhält Wasser aus eigener Wasserleitung. Die Latrinen befinden sich außerhalb der Baracken. Das Kanalisationssystem ist primitiv. Die sanitäre Behandlung erfolgt in zwei Duschräumen und acht Desinfektionskammern, die mit Dampf und Heißluft betrieben werden. Die Baderäume sind zufriedenstellend ausgestattet, werden in Ordnung gehalten und lassen einen täglichen Durchlauf von mehr als 1.000 Personen zu. Läusebefall gibt es im Lager nicht. Die Wäscherei des Lagers ist nicht mechanisiert. Es wird mit der Hand gewaschen. Die Qualität dieser Arbeit ist befriedigend. Im Lager gibt es ein Lazarett mit 800 Betten. Am 22. Februar d.J. sind 702 davon belegt. Etwa 100 sind frei. Das Lazarett nimmt neun Holzbaracken ein, deren technischer Zustand wenig befriedigend ist. Die Baracken wurden 1939 errichtet und halten die Wärme nur schlecht. Es gibt Ofenheizung. An Frosttagen steigt die Temperatur in diesen Baracken nicht über 14° C. In fünf Baracken besteht der Fußboden aus Ziegeln. In 18 Nach der Meldung der Registriergruppe des S/L Nr. 1 für den Zeitraum 13.-28.2.1948 bezifferte sich das Spezialkontingent wie folgt: 20. Februar 1948 11.442 Personen, es starben 3 Männer 21. Februar 1948 11.439 " " 10 22. Februar 1948 11.429 " " 5 23. Februar 1948 11.424 " " 10 "usw. Die im Bericht genannte Kopfzahl des Spezialkontingents stimmte folglich mit der tatsächlichen nicht genau überein. Von den genannten 33 Holzbaracken wurden 1948 einige nicht als Wohnbaracken genutzt, andere dienten neben den vier Steinbaracken der Stationen I-IV als Lazarett- und Isolierbaracken. Im streng abgegrenzten Frauenlager gab es neben zwei dieser 33 Baracken mehrere kleinere Wohnbaracken. Fast alle Holzbaracken waren 1940 erstellt worden und inzwischen heruntergekommen; sie bestanden aus jeweils zwei Halbbaracken und einem Waschraum. Die Barackenmaße betrugen etwa 12 x 65 m. Alle Fenster waren unter dem NKWD-Regime auf schmale Schlitze am oberen Ende verkleinert worden. Viele Dächer waren undicht, so daß sich im Winter Eiszapfen bildeten. Der Bodenbelag bestand aus lose im Sand verlegten Ziegelsteinen. Dies förderte auch die Flohplage. Außer Flöhen, Wanzen, Mäusen etc. gab es Ratten. Die Liegeflächen waren unterschiedlich groß, und in den meisten Baracken herrschte 1945 bis 1947 drangvolle Enge. Kissen, Strohsäcke oder Matratzen gab es nicht. Man schlief auf Holz. In den Wintern war es mangels Heizmaterial sehr kalt. Die Wasserversorgung war primitiv und unzureichend. Man konnte etwa im 14-Tage-Rhythmus duschen. Für das Gros der Arrestanten wurde die ohnehin zunehmend zerlumpte Kleidung nie in einer Wäscherei gewaschen. Alle Temperatur- und Quadratmeter-Angaben sind offensichtlich ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Gegebenheiten geschätzt worden. Es gab keine Thermometer.

Bericht einer GULAG-Kommission

Uber das NKWD-Speziallager

Mühlberg

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einem Teil der Baracken ist es feucht. Die Kranken liegen auf primitiven Holzbetten. Die Ausstattung der Krankenzimmer mit Mobiliar ist schlecht. Es gibt keine Nachtschränkchen. Nicht in allen Krankenräumen steht ein Tisch. Es gibt keine Bänke. Während in der Chirurgischen Abteilung [Station III, A.K.] und in der Abteilung für Innere Krankheiten [Station IV, A.K.] relative Ordnung herrscht, kann dies in keiner Weise von der Tbc-Abteilung gesagt werden, wo Schwerkranke liegen [Station II, A.K.]. Es mußte festgestellt werden, daß die Räume, die für die Tuberkulosepatienten (Fälle mit offener Tbc) zur Verfügung stehen, die schlechtesten von allen sind. Die Unterbringung der Kranken ist unbefriedigend. Brot, Trinkgefäße, Löffel u. dgl. bewahren die Kranken am Kopfende des Bettes, unter dem Bett usw. auf. Abgedeckte Spuckgefäße besitzen die Kranken nicht. Vielmehr stehen neben den Betten auf dem Boden rostige und verschmutzte Blechnäpfe. In den Krankenzimmern gibt es viele unnötige Dinge. Die allgemeinen Verhältnisse der Unterbringung dieser Kranken entsprechen in keiner Weise dem Charakter der Erkrankung noch dem schweren Zustand der hier untergebrachten Tbc-Patienten. Außer dem Lazarett gibt es im Lager neun Baracken, in denen 1.199 Dystrophie- und Tbc-Kranke zusammengefaßt sind. Diese Baracken unterscheiden sich durch nichts von den allgemeinen Baracken. In den Räumen stehen durchgängige Doppelstockpritschen. Es ist feucht, und die Lufttemperatur (12-14° C) ist für die dort untergebrachten Kranken unzureichend. Die Kranken liegen in Oberbekleidung auf ihren Pritschen, viele haben nicht einmal Matratzen. Für die medizinische Beobachtung von je 250-300 dieser Kranken steht ein Arzt zur Verfügung. Bedenkt man, daß in diesen Baracken wirklich ernsthaft Erkrankte konzentriert sind, muß man zu der Schlußfolgerung gelangen, daß die Kranken sich selbst überlassen bleiben und nicht die erforderliche medizinische Versorgung erfahren. Eine derartige Unterbringung von Kranken ist absolut unzulässig. Eine Folge dieser Zustände ist die hohe Sterblichkeit der Kranken in den Baracken. Täglich sterben hier 1, 2, 3 Personen. Unter den 702 im Lazarett Untergebrachten gibt es 140 Tbc-Kranke und 80 Magen-Darm-Kranke (tatsächlich sind dies die Dystrophie-Patienten). Die übrigen haben unterschiedliche Krankheiten. In den Baracken, in denen Kranke zusammengefaßt sind, gibt es unter den 1.199 Personen: Tuberkulosekranke 642 Personen, Dystrophiekranke 376 Personen. Im Lazarett zeigte sich folgender Verlauf das Krankenstands: zum 1. November zum 1. Dezember zum 1. Januar 1948

gab es 673 Kranke, " 687 " " 767 "

zum 1. Februar

gab es 686 Kranke

542 Zugänge, 519 " 555 " [richtig 345 " [richtig

528 Abgänge, 469 " 636 " 737 A.K.] 326 " 656 A.K.]

In den zusätzlichen Baracken nahm der Krankenstand folgenden Verlauf: zum 1. November gab es 1.044 Kranke, zum 1. Dezember " 1.101 " zum 1. Januar 1948 " 1.146 " [richtig 1.141 A.K.] zum 1. Februar gab es 1.172 Kranke

593 Zugänge, 536 Abgänge 471 " 431 604 " 573 " 330

"

303

Die meisten Neuzugänge leiden an Lungentuberkulose oder Dystrophie. Die hohe Krankenrate im Lager hat eine hohe Sterblichkeitsziffer des Kontingents zur Folge. Im Jahre 1947 starben im Lager 3.246 Personen, das sind im Monatsdurchschnitt 2,08 % der in den Listen Erfaßten. Dabei ist festzustellen, daß im Januar 1947 515 Personen bzw. 3,7 % der in den Listen Erfaßten starben und im Februar [1947, A.K.] 798 Personen bzw. 6,3% der in den Listen Erfaßten.

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Achim Kilian

Von den im Jahre 1947 Verstorbenen war bei 871 Personen bzw. 26,90 % Lungentuberkulose die Todesursache und bei 1.321 Personen bzw. 40,82 % Dystrophie. 1947 ergaben sich nach Altersgruppen die folgenden Sterblichkeitsraten: bis 30 Jahre alt 31-40 " " 41-50 " " 51-60 " " älter als 60 Jahre

76 Verstorbene 150 " 886 " 1.568 " 566 "

2,33 % 4,62% 27,30% 48,31 % 17,44%

[zus. 100 %, A.K.].

Die außergewöhnlich hohe Sterblichkeit in den Wintermonaten 1947 war das Resultat der äußerst schlechten Vorbereitung des Lagers auf den Winter (die ehemalige Lagerleitung wurde im Februar 1947 ihrer Ämter enthoben). Es soll hier nur darauf hingewiesen werden, daß es in der kältesten Zeit absolut keine Brennstoffe im Lager gab und sich dieser Umstand drastisch auf den physischen Zustand das Kontingents ausgewirkt hat. Die Folgen des vergangenen Winters werden ohne Zweifel auch noch in der Gegenwart spürbar sein. Im Januar [1948, A.K.] starben 186 Personen bzw. 1,6 % der in den Listen Erfaßten. In den ersten zwanzig Tagen des Februar starben 129 Personen bzw. 1,2 %. Nach wie vor stirbt die überwiegende Mehrheit an Tuberkulose und Dystrophie. Besonderer Beachtung bedarf die Tatsache, daß 50 % der Todesfälle auf die Baracken entfallen. Dieser Umstand spricht für sich und kann nur damit erklärt werden, daß die Aufmerksamkeit der Lagerleitung hinsichtlich der Fragen der Sterblichkeit nachgelassen hat. Das Lazarett hat eine eigene Küche. Die Beköstigung der Kranken ist wenig befriedigend. Die Kranken erhalten eintöniges Essen. Ihre Tagesration besteht aus dem morgendlichen Kaffee mit Brot sowie zweimal am Tag Suppe. Über einen langen Zeitraum hinweg gab es bei der Verpflegung keinerlei Abwechslung. Eine Differenzierung der Verpflegung für die Tbc-Kranken und die Dystrophiekranken wird nicht vorgenommen. Die medizinische Versorgung des Lagers kann nicht zufriedenstellen. Der Leiter des Sanitätsbereichs im Lager (Major med. Dienste WORONKIN) zeigt keine Initiative, ist ein schlechter Leiter und kommt mit den Problemen der Therapie und Prophylaxe äußerst schlecht zurecht. Das Lager, das so viele Tuberkulosekranke hat, besitzt kein Röntgenkabinett. Das Labor, in dem dringend eine große Anzahl von Analysen durchgeführt werden muß, besitzt nur ein Mikroskop. Im Lager arbeiten 37 Ärzte aus dem Spezialkontingent. Die meisten von ihnen sind ausgebildete Ärzte. Es fehlt jedoch an der richtigen Organisation und der notwendigen Kontrolle ihrer Arbeit, und das mindert die Qualität des Einsatzes dieser Ärzte. Die Versorgung des Lagers mit Medikamenten ist befriedigend. 19 Eine generelle Stellungnahme zu diesem Lazarettbericht folgt im Anschluß an den Kommissionsbericht. Zu den Statistiken und anderen Zahlenangaben kann nur anhand der Karteikarten "Form N° 1" präzise Stellung genommen werden. Sie stehen noch nicht zur Verfügung. Vom 22.2.-21.9.1948 sind im Speziallager Nr. 1 weitere 963 Männer, Frauen und Jugendliche gestorben, davon 871 (90,4 %) an Tuberkulose und 91 (9,5 %) an Dystrophie und anderen (Mangel-)Krankheiten. Ein 55jähriger Gefangener nahm sich das Leben. Im gleichen Zeitraum verringerte sich das Spezialkontingent von 11.386 Personen Ende Februar über 10.500 am 10.7. (Beginn von Entlassungen) auf 3.611 Personen Mitte September 1948. Der Rückgang beruht auf den Todesfällen, kleineren Zu- und Abgängen (Verlegungen) und der Entlassung von 6.869 Arrestanten im Sommer 1948. Auch die Aussicht auf eine Heimkehr hatte die hohe Sterblichkeit nicht verringert. Ein Vorgriff: Im Anschluß an die Entlassungsaktion wurde das Lager Mühlberg zum 1.10.1948 aufgelöst. Das verbliebene Spezialkontingent von 3.611 Männern, Frauen und

Bericht einer GULAG-Kommission über das NKWD-Speziallager Mühlberg

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ZUR VERSORGUNG MIT LEBENSMITTELN UND SACHMITTELN Seit Bestehen des Lagers haben sich die Versorgungsnormen mehrfach geändert. Bis November 1946 erfolgte die Versorgung des Kontingents gemäß Norm Nr. 3 des NKO-Befehls aus 1941, von November 1946 bis 1. Januar 1947 galt eine andere Versorgungsnorm, und vom 1. Januar bis 15. Februar 1947 war eine Norm verbindlich, die von der SMAD festgesetzt worden war. Seit 15. Februar 1947 erhält das Spezialkontingent der Lager eine Verpflegung entsprechend nachstehender Norm: Bezeichnung der Lebensmittel

Arretiertes Spezialkontingent (Deutsche) Arbeitende Nicht-Arbeitende

Brot eingerührtes Mehl Graupen, Makkaroni Fleisch und Fisch tierische Fette pflanzliche Öle Kartoffeln und Gemüse Zucker Kaffee (im Monat) Salz Marmelade Haushaltseife (im Monat) Seifenpulver

550 g

500 g

-

-

50 g 78 g 30 g

50 g 50 g 20 g

-

-

600 g 25 g 150 g 30 g 30 g 100 g 250 g

600 g 20 g 150 g 30 g 30 g 100g 250 g

Die Verpflegungsausgabe im Lager erfolgt dreimal am Tag: Frühstück (6.30 Uhr) Kaffee Brot Butter Zucker Marmelade

0,5 Liter werden täglich ausgegeben

3g 200 g 20 g 20 g 30 g

"

"

"

wird alle fünf Tage ausgegeben "

"

"

"

"

Mittagessen (13 Uhr) Fleisch Gemüse Kartoffeln Salz Essig Brot Kaffee

30 g 300 g 200 g 15g 2g 100 g 2g

) ) )

Suppe 0,75 Liter

) ) 0,25 Liter

Jugendlichen gelangte in das Speziallager Nr. 2 Buchenwald. Die Transportpapiere nennen fast 750 Tuberkulosekranke sowie Dystrophiker und andere Kranke. Sowohl von den Entlassenen als auch von den weiter Festgehaltenen starb eine nicht festzustellende Anzahl an Tbc und anderen im Lager erlittenen gesundheitlichen Schäden und Schwächungen. Eine ebenfalls unbekannte Anzahl kehrte psychisch krank nach Hause zurück.

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Achim Kilian

Abendbrot (18 Uhr) Heisch Graupen Kartoffeln Salz Brot

20 2 0 gg 50 g 100 g 15 9g 200 g

))

) ) )

Suppe 0,75 Liter

Diese Verpflegungsnormen gelten für das gesamte Spezialkontingent (sowohl für die Arbeitenden als auch für die Nicht-Arbeitenden). Alle zwei Tage erhalten die Arbeitenden im Unterschied zu den Nicht-Arbeitenden eine zusätzliche Ration "Trockenverpflegung": Brot Fleisch Butter Zucker

50 g pro Tag 28 g " " 10 g " " 5g " "

für zwei Tage 100 g 56 g 20 g " " " 10g

Brot, Butter und Zucker werden in natura ausgegeben, Fleisch gekocht. Die Verpflegung ist eintönig; jeden Tag gibt es Suppe. Beim Gemüse dominieren die Möhren. Seitens des Spezialkontingents gibt es Beschwerden über die dünne Suppe, besonders zum Mittagessen. Der nach Lebensmitteln aufgeschlüsselte Speiseplan wird für 10 Tage aufgestellt. Eine Liste der auf jeden einzelnen Kochkessel aufgeschlüsselten Lebensmittel gibt es nicht. Die Ausgabe der Lebensmittel an die Köche erfolgt durch den Chefkoch in Anwesenheit des Hauptlagerfouriers. Eine militärbehördliche Aufsicht in der Küche existiert nicht. Das Einfüllen in die Kessel nehmen die aus den Reihen des Spezialkontingents stammenden Köche selbst vor. Beim Mittagessen haben Möhren den größten Anteil im Kessel, darunter leidet der Geschmack. Die Köche füllen das Essen zunächst in speziell dafür vorgesehene Aluminiumkübel. Darin wird es in die einzelnen Baracken gebracht. Dort erfolgt die Essenausgabe in die Schüsseln durch dafür speziell eingeteilte Angehörige des Spezialkontingents. Die Küche befindet sich im erforderlichen Zustand. Die Verkostung des Essens nimmt ein Arzt aus den Reihen des Spezialkontingents vor, allerdings nur einmal am Tag und nicht zweimal (das geht aus dem Verkostungsbuch hervor). Der Vorrat an Lebensmitteln ist durchaus zufriedenstellend, was sich mit folgenden Angaben belegen läßt: Bezeichnung der Lebensmittel Roggenbrot Mehl zum Brotbacken Zwieback Perlgraupen Haferflocken Zucker Salz Butter Marmelade Kaffee Essig Kartoffeln, Gemüse Fleisch

Vorhandene Menge 9.800 kg 40.000 kg 650 kg 10.000 kg 5.130 kg 3.010 kg 23.700kg 3.870 kg 8.635 kg 930 kg 880 kg 1.166.189 kg 1.671 kg

Ausreichend für ) ) ) ) )

8 Tage

26 Tage 14 Tage 69 Tage 14 Tage 22 Tage 17 Tage 38 Tage 175 Tage 3 Tage

Bericht einer GULAG-Kommission Anmerkungen:

über das NKWD-Speziallager

Mühlberg

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1) Im Februar wurden dem Lager zustehende 63 Tonnen Mehl, 1 Tonne Marmelade, 4 Tonnen Zucker und 13 Tonnen Fleisch nicht geliefert. 2) A m 23. Februar ds.J. erhielt das Lager im Rahmen der Februar-Zuteilung 62 Tonnen Mehl. Da es im Lager kein Kühlhaus gibt, erhält das Lager nach Bedarf Fleisch und Fett von deutschen Firmen.

Die Lieferaufträge für Lebensmittel, die für das 4. Quartal 1947 vorgesehen waren, wurden vollständig realisiert. Die Ausführung der Aufträge für das 1. Quartal 1948 verläuft befriedigend. Brotbäckerei Die Kapazität beträgt 10 Tonnen. Gegenwärtig werden bis zu sieben Tonnen pro Tag gebacken, was die Versorgung des Kontingents sicherstellt. Die Gewichtszunahme des Brotes beim Backen - gegenüber dem aufgewendeten Mehl - liegt in der Norm (47 %), das Brot ist von guter Qualität. Ein Kontrollbuch für das Brotbacken gibt es weder in der Bäckerei noch in der Buchhaltung. Die durchschnittliche Gewichtszunahme ermittelt die Buchhaltung am Monatsende nach den Ist-Angaben. Der sanitäre Zustand der Brotbäckerei ist zufriedenstellend. Die Lagerräume (für Lebensmittel, Kleidung und Wäsche, Gemüse) werden in Ordnung gehalten. Die Lagerhaltung ist richtig organisiert. Die Anzahl der Feuerlöschgeräte ist unzureichend.^

20 Der Hinweis auf die Verpflegungsnorm 3 eines NKO-Befehls von 1941 ist aus mehreren Gründen bemerkenswert. Zum einen verwundert, daß das N K O (Verteidigungsministerium) und nicht eine Verwaltung oder Hauptverwaltung des N K W D den Befehl gegeben hat. Zum zweiten überrascht dessen Gültigkeit im Verantwortungsbereich des "Bevollmächtigten des N K W D " Generaloberst Serow. Die "andere Versorgungsnorm", die ab 1.11.1946 galt, findet sich wegen der Halbierung der täglichen Brotration und wegen anderer Kürzungen in zahlreichen Erlebnisberichten von Arrestanten aller Speziallager in der SBZ und wurde überdies als Anlage 5 der "Materialien zur Pressekonferenz" des seinerzeitigen DDR-Innenministers Diestel am 26.7.1990 vorgestellt. Ihre Verfasser waren der schon mehrmals erwähnte Oberst Swiridow sowie Oberstleutnant Schumilin von der S M A D . Generaloberst Serow hatte die Regelung bestätigt (Materialien zur Pressekonferenz des Stellvertreters des Ministerpräsidenten und Ministers des Innern [der D D R ] , Dr. Peter-Michael Diestel, 26.7.1990, Berlin, "Sowjetische Sonderlager in der ehemaligen Sowjetischen Besatzungszone"). Die beiden anderen im Bericht genannten Normen blieben den Kontingenten bis auf die Anhebung der Brotportionen im 1. Quartal 1947 nach den Erfahrungen des Autors und anderer Arrestanten weitestgehend verborgen. "Von Oktober 1947 bis Februar/März 1948 gibt es im Lager Mühlberg als Mittagessen stets Mohrrübensuppe mit Kartoffeln und als Abendessen stets dünne Graupensuppe. Die Möhren und Kartoffeln werden den Mieten entnommen [in die sie 1947 eingelagert wurden, A.K.]. Viele sind angefault oder ganz verfault und werden nicht etwa aussortiert, sondern werden mitgekocht. Deshalb stinkt die Möhrensuppe oft und schmeckt dementsprechend" (Kilian, Einzuweisen..., a.a.O. [Anm. 12], S. 156).

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Achim Kilian

Versorgung mit Kleidung und Wäsche Bezeichnung des Kleidungs- bzw. Wäschestücks Uniformmäntel Herrenmäntel Wattejacken Sommeijacken Wattehosen Sommerhosen Militärhemden Pullover Hemden Unterhosen Kopfbed. Sommer Mützen mit Ohrenklappen Stiefel Schuhe, versch. Filzmäntel Winterhandsch. warme Fußlappen Socken Handtücher Damenmäntel Da.Jacken Da.Blusen Röcke Kleider Da.Unterhemden Da.Schlüpfer Büstenhalter Da. Kopfbed. Da.Schuhe Da.Strümpfe Decken Bettlaken Matr.bezüge Kissenbez.obere dto., untere Mantelstoff Anzugstoff Kleiderstoff Wäschestoff Damenkleider

zustehend

vorhanden

10.034

1.586 7.273 1.630 13.301 2.089 11.368 2.964 10.371 24.648 26.562 10.027

-

10.034 -

10.034 -

20.048 20.048 10.034 -

10.034 -

20.048 22.870 1.409 1.409 1.409 1.409 1.409 2.818 2.818 2.818 1.409 1.409 2.818 11.435 22.870 11.435 22.870 11.435 -

2.559 403 11.248 953 2.591 4.162 23.228 17.530 1.833 649 2.956 1.983 1.615 2.692 2.932 2.930 1.425 1.530 4.547 17.233 7.367 3.798 5.653 2.623 313 6.122 112 998 467

davon in Gebrauch 1.586 7.273 -

13.299 -

auf Lager

_ -

zuwenig 8.448 -

11.368 282 10.371 22.672 21.947 9.718

1.976 4.615 309

-

2.559

-

-

-

403 9.248 -

23.228 17.530 1.833 649 2.956 1.983 1.615 2.692 2.866 2.930 1.425 1.530 2.047 14.703 7.367 3.798 5.653 2.623 -

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2.682

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2.000(neu) 953 2.591 4.162 -

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7

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760

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66(neu)

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1.547 574 206 126

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424

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-

2.559 403 1.214 953 2.591 4.162 3.180

5.340

-

_ 7.273 1.630 3.267 2.089 1.334 2.964 10.371 4.600 6.514

-

1.630 2 2.089

zuviel

2.500(neu) 2.530(2.258neu) 15.503 7.637 17.217 8.812 313(neu) 6.122(neu) 112(neu) 998(neu) 467(neu) -

-

114 112 16 121 1.729 5.798 -

Anmerkungen: 1) Die Spalte "in Gebrauch" (wörtlich "in Umlauf') umfaßt Wäsche und Kleidung des Lagers sowie des persönlichen Eigentums des Spezialkontingents. 2) Es gibt einen Lieferauftrag über 75.000 m Stoff. Die oben angeführten Zahlen belegen, daß das Spezialkontingent in befriedigendem Maße mit Kleidung und Wäsche versorgt ist, außer bei Bettwäsche (Bettlaken, Kopfkissenbezüge, Matratzenüberzüge).

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Die Registrierung der ausgegebenen Stücke erfolgt ordnungsgemäß. Für das Spezialkontingent sind Karteikarten angelegt, auf denen sowohl die eigenen Kleidungsstücke als auch die des Lagers festgehalten sind. Die auf den Karten eingetragenen Angaben werden von Zeit zu Zeit mit dem tatsächlich Vorhandenen verglichen. Das tatsächliche Vorhandensein wird durch eigenhändige Unterschrift bestätigt.^ 1 BEWACHUNG UND REGIME DER VERWAHRUNG DES KONTINGENTS Das Lager befindet sich auf einem ebenen Gelände und ist an einigen Seiten von Gesträuch und kleinen Obstgärten der deutschen Bevölkerung umgeben. An der Nordseite erhebt sich ein Wall, der bis zu 8 m hoch und mit Sträuchern bewachsen ist. Das an diesen Wall angrenzende Territorium von 1.000 m2 wird als Schießplatz genutzt. 1,7 km vom Lager entfernt verläuft die Eisenbahnstrecke Neuburxdorf-BurxdorfMühlberg. Nordöstlich vom Lager verläuft in einer Entfernung von 1,5 km die Eisenbahnstrecke Riesa-Falkenberg. In einer Entfernung von 700 m verläuft östlich des Lagers eine unbefestigte Landstraße, die von Neuburxdorf zum Lager führt. In der Nähe dieser Straße befinden sich etwa 12 einzeln stehende Häuschen mit kleinen Obstgärten, in denen Deutsche wohnen. Ebenfalls östlich des Lagers gibt es in einer Entfernung von 100-150 m niedriges verkohltes Gebüsch mit einer Ausdehnung von 2.000 m2; hinter dem Gebüsch zieht sich über mehrere Kilometer Nadel- und Mischwald hin. 800 m südlich der Lagerzone verläuft die Chaussee von Burxdorf nach Altenau. Die Gesamtfläche der Lagerzone beträgt 0,333 km2, die Nord-Süd-Ausdehnung 520 m und die Ost-WestAusdehnung 640 m. Außerdem gibt es an der Südostseite [gemeint ist die Südwestseite, A.K.] der Lagerzone eine Vorzone mit einer Ausdehnung von 0,175 mal 500 m [richtig 175 x 500 m, A.K.], wo die Lagerverwaltung, die Unterkünfte der Garnison, die Ordnungsgruppe, der Offiziersklub und die Wohnungen der Offiziere untergebracht sind.

21 Zumeist kamen die Arrestanten mit der Bekleidung ins Lager, in der sie festgenommen worden waren. Gute Mäntel, Stiefel und anderes war bei "Filzungen" auf dem Weg ins Lager entwendet worden. 1945 bestand in der Aufbauphase des Lagers für manche die Chance, von Verwandten Kleidungsstücke über Außenkommandos und mit Billigung der Bewacher (oft erst nach entsprechender Bestechung durch die Überbringer) zu erhalten. Später gab es allenfalls Ersatz aus der Bekleidung der Verstorbenen, soweit diese nicht ebenso verschlissen war wie die meisten Kleidungsstücke der Lebenden. Es ist im nachhinein geradezu grotesk, aus der obigen Liste zu erfahren, welche Kleidungsstücke sowie Bettwäsche(!?) jeder und jedem Arrestanten/in angeblich zustanden, und dieses "Soll" mit dem "Ist" zu vergleichen. "Wir glichen allmählich wandelnden Vogelscheuchen." (Georg Nitze 1951, in: Ritscher, Bodo: Spezlager Nr. 2 Buchenwald. 2. Überarb. Aufl., Buchenwald 1995, S. 68). Dieser Kommentar aus Buchenwald galt für die Kontingente aller Lager und Gefängnisse. Die Decke der im Januar 1946 im Lager Mühlberg verstorbenen Tante des Autors diente einer Mitgefangenen bis zu deren Entlassung aus dem Lager Buchenwald Anfang 1950. Während der Selektionen für den Sibirientransport gemäß MWD-Befehl Nr. 001196-1946 im Februar 1947 (Siehe Kilian, Achim: "Brauchbar für Arbeiten unter Tage". Der MWD-Befehl Nr. 001196-1946, in: JHK 1994, S. 207ff.) wurden Bekleidung und Wäsche aus früheren Wehrmachtbeständen angeliefert und an die zu Deportierenden ausgegeben. Deshalb sprach man im Lager vom "Wintersachen-" bzw. "Pelzmützentransport". Offenbar hatte man wegen der Vorgaben des o.a. Befehls mit weitaus mehr Arbeitsfähigen gerechnet. Denn die gelieferten Mengen übertrafen den Bedarf. Der Überbestand an Bekleidung etc. verblieb in der als "Magazin" genutzten Baracke 29 und wurde dort von den Sowjets bis zur Auflösung des Lagers unter Verschluß gehalten. Im übrigen mußten die Deportierten bei der Ankunft im Lager Nr. 526 des MWD der UdSSR Bettzeug und einen Teil der Unterwäsche wieder abgeben.

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Die Lagerzone ist in einzelne Felder eingeteilt. In jedem Feld stehen 6 bis 8 Baracken [richtig: 3 bis 4 Baracken mit je zwei Hälften, A.K.] mit je 180 bis 200 Personen. Die Felder sind mit Stacheldraht eingezäunt, der bis zu 2 m hoch ist. Die äußere Umzäunung der Lagerzone besteht aus einem geschlossenen hölzernen Bretterzaun von 2,5 m Höhe, an dessen Oberkante 4 Reihen Stacheldraht aufgesetzt sind. Auf der Innenseite des Zaunes gibt es eine 4 m breite Warnzone, die von zwei Stacheldrahtzäunen von 2,5 m Höhe begrenzt ist. Eine Stacheldrahtreihe wird nachts unter Strom gehalten. Auf der Außenseite wird der Holzzaun von vier Stacheldrahtzäunen gesäumt. Zwei Reihen bestehen aus je 15 Drähten und Aufsatz, die dritte aus 10 und die vierte aus 7 Drähten. Der Raum zwischen der 3. und 4. Reihe ist als Bruno-Spirale gewickelt [bis in die Erde verlegter Drahtverhau, A.K.]. Die Zone wird elektrisch beleuchtet. Außerdem sind auf jedem Wachturm drehbare Scheinwerfer angebracht. Für den Fall, daß die Stromzuführung unterbrochen wird, gibt es ein Notstromaggregat für die Beleuchtung der Umzäunung der Zone und des Haupttores. Der Bereich der Vorzone ist mit zwei Stacheldrahtzäunen von 2,5 m Höhe mit je einem Aufsatz mit vier Drähten umgeben. Das Lager wird an seiner Umzäunung von der 8. Kompanie des 38. Schützen-Regiments der Inneren Truppen des MGB (Ministerium für Staatssicherheit), Träger des Suworow-Rotbannerordens, bewacht. Die gut angelegte Umzäunung der Zone und die richtige Organisation ihrer Bewachung gewährleisten durchaus eine zuverlässige Isolierung des Kontingents. Seit Bestehen des Lagers konnte kein einziger Eingesperrter die Umzäunung überwinden und auf diese Weise fliehen. Vier geglückte Fluchtversuche gab es außerhalb der Lagerzone auf dem Weg von der Arbeitsstelle ins Lager, weil die Begleitsoldaten ihren Pflichten nur nachlässig und unaufmerksam nachkamen. Alle Entflohenen konnten bis jetzt noch nicht wieder in Gewahrsam genommen werden. Das Regime der Verwahrung des Kontingents ist im wesentlichen zufriedenstellend. Das Leben im Lager verläuft streng nach dem Tagesplan, der vom Lagerchef aufgestellt wird. In der Zone gibt es einen Untersuchungszellenbau und eine Strafbaracke. Verstöße gegen die Lagerordnung seitens der Eingesperrten kommen vor, jedoch in unbedeutender Anzahl. Seit Bestehen des Lagers gab es insgesamt 1.031 Verstöße gegen die Lagerordnung. Die Schuldigen werden nach Anordnung des Lagerchefs in den Karzer gesperrt oder unter Strafbedingungen in eine separate Baracke verlegt. Da es keine bestimmten Anweisungen zum rechtlichen Verhältnis der Lagerverwaltung gegenüber den Eingesperrten gibt, werden Art und Umfang der Strafe vom Lagerchef nach eigenem Ermessen festgelegt. Es ist anzumerken, daß die administrativen Maßnahmen gegen die Schuldigen bei Verstößen gegen die Lagerordnung nicht allen Eingesperrten bekanntgegeben werden und die jeweilige Bestrafung nicht als Erziehungsmittel genutzt wird. Auch den Schuldigen selbst wird das Strafmaß nicht genannt. Am Tag unserer Überprüfung gab es in der Strafbaracke acht Personen, aber keiner von ihnen weiß, wie lange er seine Strafe absitzen muß. Für die Haftbedingungen im Lager ist der Lagerkommandant verantwortlich. Die unmittelbare Aufsicht über die Eingesperrten innerhalb der Zone übt die Ordnungsgruppe durch ihre Aufseher aus. Die Ordnungsgruppe ist nur klein. Vom Stellenplan her müßte sie aus 75 Personen bestehen. Tatsächlich zählt sie nur 65 Personen. Von diesen werden 17 nicht bestimmungsgemäß eingesetzt. Das Lager verfügt über absolut keine Stellen für Wirtschaftsdienste, und deshalb arbeiten sieben Bewacher als Chauffeure, zwei als Traktoristen, zwei als Buchhalter, zwei als Expeditoren, zwei als Telefonisten, einer als Briefträger und einer als Sekretär des Lagerchefs.

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Im übrigen sind neun von ihnen als Wachposten an den Eingangstoren eingesetzt, zwei zur Bewachung des Lebensmittellagers, sechs im Innendienst der Gruppe, einer als Koch, einer als Schreiber und einer als Hauptaufseher. Ein großer Teil der Aufseher wird als Eskorte der Eingesperrten zu ihren Arbeitsstellen außerhalb des Lagers eingesetzt. Direkt als Aufseher sind nur neun Personen tätig. Drei von ihnen tun Dienst im Untersuchungszellenbau und sechs gehören zur Patrouille, die in Gruppen von jeweils zwei Personen pro Schicht das Gelände der Lagerzone abläuft. Da die Aufseher der Ordnungsgruppe in dieser Weise eingesetzt sind, bleibt die Aufsicht über die Einhaltung der Ordnung im Lager und das Verhalten der Eingesperrten fast völlig den Zonen- [wörtlich Feld-, A.K.] und Barackenältesten aus den Reihen der deutschen Eingesperrten überlassen. Die militärische Disziplin in der Ordnungsgruppe hat nicht das erforderliche Niveau. Die disziplinarischen Vergehen und Verstöße haben innerhalb der Gruppe über einige Monate einen großen Umfang erreicht. Im November 1947 betrugen sie 9 %, im Dezember 15,4 % und im Januar 1948 12,3 %, bezogen auf die Gesamtstärke der Gruppe. Bezeichnend ist, daß es unter den Disziplinarfällen Komsomolzen und Kommunisten gibt. Beispielsweise waren im Dezember von den elf Personen, die ein disziplinarisches Vergehen begangen hatten, fünf Mitglied des Komsomol und einer Mitglied der KPdSU. Offensichtlich wird in der Gruppe zu wenig politisch-erzieherische Arbeit geleistet, und wenn, dann ohne Zusammenhang mit den Aufgaben zur Festigung der militärischen Disziplin. In der disziplinarischen Praxis bestehen ebenfalls Mängel. Die Offiziere und Sergeanten der Gruppe sind bei der Verhängung von Disziplinarstrafen nicht immer konsequent, und sie nutzen diese nicht als erzieherisches Mittel im Umgang mit den Untergebenen. Die Mitglieder der Gruppe kennen die elementaren Probleme der Innen- und Außenpolitik unseres Landes nur unzureichend. Der sorgfältigen Pflege der Waffen wird nur ungenügend Beachtung geschenkt. Bei mehreren Gewehren ist die Sauberkeit mangelhaft. Die äußeren Teile werden stark geschmiert. Ein Gewehr war rostig. SCHLUSSFOLGERUNGEN 1.1. Das Lager N° 1 weist eine hohe Sterblichkeitsrate, eine große Anzahl Tbc-Kranker und eine unaufhörliche Zunahme der Krankenzahlen auf und erfordert deshalb besondere Aufmerksamkeit sowie spezielle Maßnahmen. 1.2. Die hohe Sterblichkeitsrate im Lager ist eine Folge der folgenden Umstände: a) Es gibt eine große Anzahl Kranker, die an Tuberkulose bzw. alimentärer Dystrophie leiden. b) In den Baracken, in denen die Tbc- bzw. Dystrophiekranken untergebracht sind, herrschen unzulässige Bedingungen. c) Die Tbc- bzw. Dystrophiekranken werden nicht rechtzeitig ermittelt und erst spät ins Lazarett ein gewiesen. d) Die Verhältnisse, unter denen die Tbc-Kranken im Lazarett untergebracht sind, können nur wenig zufriedenstellen. e) Die Verpflegung der Kranken ist schlecht organisiert, und es gibt keine differenzierte Verpflegung für die Personengruppen mit besonders schweren Krankheiten. f) Therapie und Prophylaxe sind im Lager schlecht organisiert. g) Im Lager gibt es einen sehr großen Anteil des Kontingents, der älter als 50 Jahre ist.

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II. Zur großen Zahl von Erkrankungen an Lungentuberkulose und Dystrophie tragen die folgenden Umstände bei: a) Die Folgen der schweren Lebensbedingungen im Winter 1946/1947. b) Die nur wenig befriedigenden Unterkunfts- und Lebensbedingungen, denen das Kontingent ausgesetzt ist (unzureichende Temperaturen in den Baracken, schlechter Bauzustand der Gebäude, schlechte Versorgung mit Bettzeug). c) Die eintönige Verpflegung über einen langen Zeitraum, obwohl die Möglichkeit besteht, mit den vorhandenen Lebensmitteln für Abwechslung zu sorgen. d) Freiheitsentzug des Kontingents über einen langen Zeitraum ohne Einbeziehung in Arbeitsprozesse. e) Ein sehr hoher Anteil Angehöriger des Kontingents im vorgerückten Alter (über 50 Jahre). VORSCHLÄGE 1. Für das Lazarett sind unverzüglich fünf bis sechs weitere Baracken zur Verfügung zu stellen. Diese sind bis 15. März entsprechend vorzurichten und mit Pritschen im Waggonsystem sowie mit Betten zu versehen. Die Baracken sind mit Bettzeug sowie mit dem nötigen Inventar und den erforderlichen Wirtschaftsvorräten auszustatten. 2. Bis zum 20. März sind aus den einzelnen Revieren und Baracken alle Kranken, die aktive Formen von Tuberkulose aufweisen bzw. an alimentärer Dystrophie (2. und 3. Grades) leiden, in die obengenannten Baracken zu verlegen. 3. Innerhalb von fünf Tagen ist die Anzahl der Plätze für Tbc-Kranke in den Hauptbaracken des Lazaretts um 100 zu erhöhen, indem in den anderen Stationen des Lazaretts die Anzahl der Plätze reduziert wird. 4. Innerhalb von fünf Tagen sind in den Revierbaracken weitere 100 Plätze für diejenigen Tbc- und Dystrophiekranken bereitzustellen, die am dringendsten einer Krankenhausbehandlung bedürfen. 5. Bis zur wärmeren Jahreszeit ist eine intensivere Beheizung der Lazaretträume sowie der Baracken, in denen Tbc- und Dystrophiekranke zusammengefaßt sind, sicherzustellen, wobei die Temperatur mindestens 18° C betragen soll. 6. Besonderes Augenmerk ist auf die Versorgung mit Kleidung, Wäsche und Schuhen der Kranken zu richten, die in den speziellen Baracken zusammengefaßt sind, 7. Bis zum 5. März ds.J. ist eine medizinische Untersuchung des Kontingents durchzuführen. Dabei sind alle Tbc- und Dystrophiekranken zu ermitteln, die einer medizinischen Beobachtung bedürfen. Sie sind in separate Baracken zu verlegen. 8. Innerhalb von drei Tagen ist für die Tbc- und Dystrophiekranken im Lazarett eine spezielle Diätverpflegung zu organisieren, die im Rahmen der bestehenden Nonnen liegt. Diese Verpflegung soll auch das in den Revieren befindliche Kontingent erhalten. 9. Es sind spezielle Maßnahmen zu ergreifen, um das Lazarett mit einem Röntgengerät und einem zusätzlichen Mikroskop auszustatten. 10. Zur Verbesserung der Qualität des im Lazarett zubereiteten Essens sind für die Kessel Verpflegung 33 g [Mehl? Hefe? A.K.] pro Tag und Person auszugeben. Dafür wird die Brotration pro Tag um 50 g gekürzt. 11. Den Kranken im Lazarett ist dreimal am Tag Warmverpflegung zu verabreichen. 12. Bis 10. März ds.J. ist das Lazarett mit der nötigen Anzahl Nachtschränkchen, Bänken und Tischen sowie Spuckgefäßen auszustatten. 13. Die Überwachung der Arbeit der für die Lebensmittelversorgung des gesamten Lagers Verantwortlichen durch die Lagerleitung ist zu verstärken. 14. Das für das Kontingent zubereitete Essen ist abwechslungsreicher zu gestalten (es sind verschiedene Arten von Borschtsch, Kartoffelsuppe und Graupensuppe zu kochen).

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15. Die Verkostung des Essens ist regelmäßig durchzuführen, und dabei sind systematisch Eintragungen in das entsprechende Buch vorzunehmen. 16. Das Kontrollbuch über die Gewichtszunahme des Brotes in der Bäckerei ist täglich zu führen, und die Gewichtszunahme ist täglich zu kontrollieren. 17. Bis 15. März ds.J. ist das Spezialkontingent mit Matratzenbezügen zu versorgen. Diese sind mit Stroh zu füllen. 18. Um die Aufsicht innerhalb des Lagers zu verstärken, sind die Aufteilung und der Einsatz der Ordnungsgruppe zu überprüfen, und die Aufseher sind nach Möglichkeit von den Arbeiten zu befreien, die nichts mit den Funktionen einer Bewachergruppe zu tun haben. 19. Die Bewachung der Gefangenen, die zur Arbeit außerhalb des Lagers geführt werden, ist zu verstärken, und es sind jegliche Maßnahmen zu ergreifen, um ihre Flucht aus dem Lager zu verhindern. 20. Die politisch-erzieherische Arbeit ist zu verbessern und bei den Angehörigen der Ordnungsgruppe auf das erforderliche militärische Niveau zu bringen. Die Mängel bei der Durchführung disziplinarischer Maßnahmen sind zu beseitigen, indem jede Strafe als Mittel zur Erhöhung des politischen Bewußtseins der Soldaten und Sergeanten genutzt wird. 21. Die sorgfältige Behandlung der Waffe ist häufiger zu kontrollieren. Diejenigen, die nachlässig mit der Waffe umgehen, sind streng zu bestrafen. Vertreter des MWD der UdSSR: Oberst med. Dienste Major Oberleutnant

(gez. Unterschrift) (gez. Unterschrift) (gez. Unterschrift)

Loidin Woronzow Krylow

Leiter der Abteilung Speziallager der SMAD: Oberst

(gez. Unterschrift)

Zikljajew

Leiter der Sanitätsgruppe der Abteilung Speziallager der SMAD: Oberstleutnant med. Dienste

(gez. Unterschrift)

Kaz

Leiter des Speziallagers N°1 der SMAD: Oberstleutnant

(gez. Unterschrift)

Sasikow

GARFJ.9409,

op.l, d.28, 1.10-20 (Übersetzung von Hannelore Georgi).

Dieser GULAG-Kommissionsbericht bedarf in wichtigen Punkten der Ergänzung und Korrektur. Die in vielen Passagen schonungslose Offenheit im Abschnitt über das "Gesundheitswesen" des Lagers entspricht bis auf die Behauptung, daß die Versorgung mit Medikamenten befriedigend sei, den Gegebenheiten. Neben den genannten Unzulänglichkeiten förderten das Nichtvorhandensein von Medikamenten, Desinfektionsmitteln, Verbandsmaterial, Stärkungsmitteln, Seife und anderen Hygieneartikeln bis hin zu Bettzeug, Kranken-, Ärzte-, Pfleger-, Schwesternkleidung selbst in den Abteilungen mit Infektionsgefahr sowie das Kappen aller familiären Bindungen, ja selbst das Verbot von Krankenbesuchen im Lager die hohe Sterblichkeit. Davon ist im Bericht ebensowenig die Rede wie von der Tatsache, daß viele Ankömmlinge schon bei der Ankunft im Speziallager Nr. 1 in physisch und psychisch schlechter Verfassung waren und kaum Chancen für eine Stabilisierung oder Verbesserung ihres Zustands oder gar eine Beschäftigung hatten. Dies galt in dem im Bericht mit den Sterbefallen

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in den Monaten Januar und Februar als besonders kritisch herausgestellten 1. Quartal 1947 in besonderem Maße für die aus den aufgelösten Speziallagern Nr. 5 Ketschendorf und Nr. 6 Lieberose eintreffenden Männer. Ihr Zustand war und blieb nahezu hoffnungslos. Die im Abschnitt über die Versorgung mit Lebensmitteln und Sachmitteln angeführten Mengenangaben und Verteilungspläne nehmen sich angesichts der Realität der einseitigen und unzureichenden Verpflegung des Spezialkontingents unwirklich aus. Das Ritual der morgendlichen Brotverteilung in den Baracken bis hin zum oft skurril erscheinenden Umgang mit der Brotration, die schäbigen Gefäße für die "Kaffee"brühe, die unergiebigen Wassersuppen im primitiven Eßgefäß, die Gier nach "mehr", der unerreichbare "Nachschlag" für diejenigen, die eine wie auch immer geartete Beschäftigung hatten, das Mißtrauen unter den Ausgemergelten und seelisch Erschöpften ebenso wie der Zuspruch durch Standfeste - all dies war gelebte Realität und läßt weder Raum noch Verständnis für die Theorien im Bericht. Anhand der Vorräte werden korrekte Verhältnisse vorgetäuscht, die es für das Kontingent nie gab. Allein die "präzise" Mengenangabe für die in Mieten gelagerten Kartoffeln samt Gemüse belegt die Fragwürdigkeit, und abgesehen vom Brot war die Versorgung miserabel. 22 Der Zahlen der Kleidungs- und Wäsche"bestände" sind in der Spalte "in Gebrauch" aus der Luft gegriffen. Zu keiner Zeit gab es einen wie auch immer organisierten Kleiderappell, eine Bestandsaufnahme, gar Bestandsaufzeichnungen des Spezialkontingents mit Unterschriftsleistung. Im Urteil von Nürnberg 1946 steht der Satz: "Die Sowjetkriegsgefangenen erhielten keine ausreichende Kleidung".23 Er gilt auch für die Spezialkontingente des NKWD bzw. MWD der UdSSR 1945-1950. Bei dem "Wall" an der Nordseite des Lagers handelt es sich um die "Alte Schanze", die um 1820 wegen eines preußischen Schießplatzes angelegt worden ist, der später nach Zeithain verlegt wurde. 1945 bis 1948 wurden außerhalb der nördlichen Lagerumzäunung westlich und später auch östlich der Alten Schanze die mehr als 6.700 im Speziallager Nr. 1 des NKWD/MWD der UdSSR Verstorbenen anonym beerdigt. Die Grabstätten blieben Undefiniert, und im GULAG-Bericht wurde das Gräberfeld überhaupt nicht erwähnt. 24 Die auf den ersten Blick erstaunlich offen formulierten Schlußfolgerungen sind unvollständig. So bleibt das nach einer mehrmonatigen Aufbau- und Einrichtungsphase seit Ende 1945 strikt durchgesetzte Kappen aller familiären Verbindungen unerwähnt. Es wird mit keinem Wort gesagt, daß das Spezialkontingent über Jahre weder Nachrichten an die Angehörigen geben noch solche oder gar Pakete erhalten durfte, geschweige denn, daß die Angehörigen Verstorbener Bescheid erhielten. Ebenso bleiben die mit der Aufteilung des Lagers in "Felder" (Zonen) und der Abgrenzung breiter "Warnzonen" zur Umzäunung hin vollzogene Einengung der Bewegungsfreiheit sowie das Verwehren des Blicks nach "draußen" mit Hilfe der rings um das Lager errichteten hölzernen Sichtblenden ohne Erwähnung. Unter den nicht erst seit dem Winter 1946/47 äußerst harten Lagerbedingungen lebte jede und jeder Eingesperrte ein "reduziertes Leben" (Ruth Herzfeldt) voller quälender Ungewißheit und bitterer Qualen 22 Die Angaben zur "Gewichtszunahme" des Brots im GULAG-Bericht entsprechen üblichen Werten. Gespräch mit H. Keppler, Bundesbäckerfachschule Weinheim, 24.1.1996. 23 Das Urteil von Nürnberg 1946, München 1961, S. 101. 24 Vgl. Kilian, Verschollen..., a.a.O. (Anm. 17), S. 939ff. Zum Begriff Ordnungsgruppe ist anzumerken, daß deren Bezeichnung in wörtlicher Übersetzung "Regimegruppe" lautete. Sie sollte die Einhaltung der Lagerordnung kontrollieren.

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und erlebte Tag für Tag, Nacht fiir Nacht an sich selbst und an den Mitgefangenen "alle Formen physischer und psychischer Grenzzustände menschlicher Existenzmöglichkeit" (Agnes Liebetrau). Viele zerbrachen daran. Es wäre zu wünschen, daß die entsprechenden Berichte dieser GULAG-Kommission über die Inspektionen der anderen Lager der Abteilung Speziallager in der SBZ ebenfalls veröffentlicht werden, so daß eine zusammenfassende Wertung möglich wird. Schon anhand des Mühlberg-Berichts läßt sich sagen, daß diese Inspektionsreise im Zusammenhang mit folgenden Veränderungen erfolgt ist: 1) Die Entlassung eines Teils des in Lagern in Deutschland befindlichen Spezialkontingents war vorzubereiten. Zu diesen Vorbereitungen gehörten die in den Vorschlägen genannten Verbesserungen der Lebensumstände in den Lagern, selbst wenn die dafür genannten Termine nicht eingehalten wurden. Allein für das aus dem Speziallager Mühlberg zu entlassende Spezialkontingent waren laut dem Bericht 75.000 lfd. m Anzugstoff geordert worden, um dieses Kontingent nicht nur "wohlgenährt" - wie es in einem späteren Bericht hieß -, sondern auch ordentlich gekleidet in die Öffentlichkeit zu entlassen. 2) Das nicht zur Entlassung anstehende Kontingent sollte vom GULAG übernommen werden, nachdem bislang der stv. Minister des Innern der UdSSR, Generaloberst Serow, für die Lager und Gefängnisse in der SBZ unmittelbar verantwortlich war. Dementsprechend war eine Bestandsaufnahme erforderlich, die GULAG-Chef Generalmajor Dobrynin in die Lage versetzen sollte, diese Übernahme zu organisieren, von der Auswahl der verbleibenden Einrichtungen und ihres Regimes über die zukünftige Struktur der Abteilung Speziallager bis zum Zustand des Kontingents und seiner Bewacher. 3) Insgesamt gewährt der hier vorgestellte Bericht einen lehrbuchhaften Einblick in die Methode des papiernen Umgangs des NKWD/MWD mit seinen Opfern. Er zeigt exemplarisch da nachprüfbar - auf, wie wenig man den schriftlichen Belegen dieses Apparats und seiner Apparatschiks vertrauen kann. Daß die Kommission vor ihrer Abreise aus dem Lager Mühlberg dem Kontingent selbst - in Person der deutschen Ärzte und des deutschen Lagerleiters, die man zu einer Standpauke versammelte - die Schuld an dem Dilemma seiner Verwahrlosung zuschob, ergänzt dieses Lehrstück. 25 Möchten es doch diejenigen zur Kenntnis nehmen, die den totalitären Ungeheuerlichkeiten gleichgültig begegnen, und diejenigen begreifen, die aus welchen Gründen auch immer Stalins Terror mit milderen Vokabeln versehen als Hitlers Vernichtungswahn und umgekehrt. GULAG in Deutschland - war dies nicht eindeutig Hitlers Schuld, indem er Stalin ins Land holte? GULAG in Deutschland - war dies nicht wiederum Willkür und Unmenschlichkeit, nur unter anderem Vorzeichen? Gegen das Verschleiern und Vergessen und fiir Gerechtigkeit und Humanitas soll dieser Bericht ein Baustein sein, damit Dummheit, Ignoranz, Haß und Intoleranz auf der Strecke bleiben.

25 Mehnert, Hellmuth: Meine Erlebnisse im sowjetischen Lager Mühlberg. Ms. o.J., S. 131.

Christian F. Ostermann (Washington, D.C.)

Subversive Aktionen gegen die DDR: Die amerikanische Reaktion auf den 17. Juni 1953 Die westliche Reaktion auf den Aufstand in der DDR im Juni 1953 gehört zu den brisantesten Problemen der Zeitgeschichtsforschung. Über Jahrzehnte hinweg wurde der "Tag X" in der offiziellen Propaganda der DDR als "faschistisch-imperialistische Provokation" gebrandmarkt. Im Westen wurde der Aufstand als spontane Bekundung des von SED-Regime und sowjetischer Besatzungsmacht brutal unterdrückten Einheitswillen der ostdeutschen Bevölkerung im kollektiven Gedächtnis verankert. Obwohl die "innere" Geschichte des 17. Juni 1953 dank der Öffnung der ehemaligen DDR-Archive auf breiter Quellengrundlage in jüngster Zeit aufgearbeitet werden konnte, bleiben im Hinblick auf die internationale Reaktion auf den Aufstand viele Fragen offen. 1 Insbesondere die Haltung der 1953 ins Amt gekommenen US-Regierung unter Präsident Dwight D. Eisenhower konnte bislang nur ungenügend dokumentiert werden. Wie das im Anhang abgedruckte Dokument, der vor kurzem vollständig deklassifizierte Bericht des "Psychological Strategy Board", "Interim United States Objectives and Actions to Exploit the Unrest in the Satellite Areas" 2 , belegt, bedarf das bislang in der Forschung vorherrschende Bild einer im ganzen passiven und zurückhaltenden Reaktion der US-Regierung auf die Ereignisse in der DDR stärkerer Differenzierung. Eisenhower und seine Berater waren ihr Amt mit dem Anspruch angetreten, energischer und offensiver als ihre Vorgänger die "Befreiung" der "gefangenen Völker" Osteuropas vom sowjetischen Joch voranzutreiben und die sowjetische Machtstellung in Europa "zurückzudrängen" ("roll-back"). Bloßes "Containment" sowjetischer Expansionsbestrebungen, auf die sich die Regierung Harry S. Trumans beschränkt hatte, hatten Eisenhower und sein designierter Außenminister John Foster Dulles als "passiv", "stagnativ" und "unmoralisch" verworfen. Rasch zeigte sich jedoch, wie schwierig es war, die Parolen wie "Liberation" und "Roll-back" in Politik umzusetzen. Nur dilatorisch reagierte die amerikanische Regierung auf den epochalen Umbruch, der sich mit dem Tod Stalins am 5. März 1953 ergab, und relativ rasch fühlte man sich innerhalb der neuen US-Administration durch die von der neuen sowjetischen Führung eingeleitete "Friedenskampagne" in die Defensive gedrängt.3 Der Aufstand in der DDR stellte zunächst keine Ausnahme dar. Obwohl es seit der Truman-Administration Ziel amerikanischer Politik war, einen "aktiveren Widerstand [innerhalb der DDR] auf kontrollierte Weise vorzubereiten"4, und namentlich der amerikanische Rundfunksender "Radio in the American Sector" (RIAS) durch seine Sendungen die sich zunehmend explosiv ausnehmende Situation in Ostdeutschland verschärfte, zeigte man sich innerhalb der US-Regierung von dem Ausmaß der Unruhen am 17. Juni 1953 überrascht. Zwar 1 Die beste Darstellung ist Kowalczuk, Ilko-Sascha/Mitter, Armin/Wolle, Stefan (Hrsg.): Der Tag X. 17. Juni 1953. Die "innere Staatsgründung" der DDR als Ergebnis der Krise 1952/54, Berlin 1995. 2 National Archives, College Park, MD, Record Group 59; Kopie in The National Security Archive, Soviet Flashpoints Collection, Washington, D.C. 3 Vgl. Larres, Klaus: Eisenhower and the First Forty Days after Stalin's Death: The Incompability of Détente and Political Warfare, in: Diplomacy & Statecraft, 6, 2 (Juli 1995), 431-469. 4 Ostermann, Christian F.: The United States, the East German Uprising of 1953, and the Limits of Rollback (Cold war International History Project Working Paper No. 11), Washington, D.C. 1994, S. 13.

Die amerikanische Reaktion auf den 17. Juni 1953

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trag RIAS durch seine Berichterstattung nach dem 16. Juni erheblich zur Ausbreitung der Unruhen auf die gesamte DDR bei, insgesamt jedoch verhielten sich amerikanische Stellen zurückhaltend. Die westlichen Stadtkommandanten kamen bereits in den Morgenstunden des 17. Juni darüber ein, daß ihre Hauptsorge der Aufrechterhaltung von "law and order" in Berlin galt. In Berlin stationierten CIA-Agenten wurde aus Washington untersagt, den Ostberliner Demonstranten und Streikenden Waffen zur Verfügung zu stellen. Allein eine Stellungnahme Präsident Eisenhowers signalisierte amerikanische Sympathien für das Schicksal der Ostdeutschen.5 Auch im Nationalen Sicherheitsrat in Washington, dem höchsten außenpolitischen Entscheidungsgremium in der amerikanischen Regierung, herrschte zunächst Unschlüssigkeit, als man am 18. Juni die Krise in der DDR diskutierte. CIA-Direktor Allen Dulles konnte zwar feststellen, daß die Vereinigten Staaten "aber auch gar nichts mit der Anstiftung der Unruhen" zu tun gehabt hätten, mußte aber zugeben, daß es ein "sehr schwieriges Problem" sei, wie man auf sie reagieren sollte. Vergeblich drang C. D. Jackson, Eisenhowers Sonderberater für Fragen der psychologischen Kriegsführung, seine Kollegen um Rat, "in pulling the East German situation together and to find a policy threat upon which he could string the actions which this Goverment might take." Angesichts der offensichtlichen Ratlosigkeit des Gremiums beauftragte Eisenhower schließlich das "Psychological Strategy Board", einen von Jackson geleiteten interministeriellen Planungsstab, einen Aktionplan auszuarbeiten.6 Jackson, ein Weltkriegsveteran der Division für "psychologische Kriegsführung" innerhalb der US-Armee, prominenter Publizist und langjähriger Vertrauter Eisenhowers, schritt unverzüglich und enthusiastisch zur Tat, selbst nachdem er in den folgenen Tagen, wie er in seinem Tagebuch festhielt, "apathy and lack of appreciation of unfolding opportunity"7 im NSC feststellen mußte. Innerhalb weniger Tage entwarf das PSB ein "draft summary plan" eines Aktionsprogrammes (PSB D-45 vom 24. Juni 1953), dem der Nationale Sicherheitsrat am 25. Juni - wie Jackson vermerkte, "mit beträchtlicher Begeisterung"8 - zustimmte und am folgenden Tag von Präsident Eisenhower angenommen wurde. Mit geringfügigen Veränderungen wurde PSB D-45 in revidierter Fassung (vom 29. Juni) am 1. Juli erneut als NSC 158 vom NSC angenommen. Der PSB-Plan wurde damit zur verbindlichen Politikdirektive für alle untergeordneten Regierungsbehörden. Wie die nur teilweise deklassifizierte, allerdings rhetorisch ausgestaltete endgültige Fassung von NSC 158 vom 29. Juni 1953 verdeutlicht, sah man im Psychological Strategy Board die Demonstrationen und Streiks in der DDR im Kontext der "gegenwärtigen Unruhe" in Osteuropa, vor allem in der Tschechoslowakei, Rumänien und Albanien. Ungarn war in der Sicht des PSB "ein Vulkan, der jederzeit ausbrechen könne." Freilich war es in der DDR, wo sich die "bedeutendste und spektakulärste Entwicklung" vollzogen hatte. Konfrontiert mit weitverbreiteten Streiks und Übergriffen auf SED-Parteifunktionäre habe sich die ostdeutsche "puppet police" als unwirksam erwiesen. Die drastische und überwältigende sowje5 Ebenda, S. 19. 6 Memorandum of Discussion at the 150th Meeting of the National Security Council, Thursday June 18, 1953, in: Department of State (Hrsg.): Foreign Relations of the United States, Washington, D.C. 1986, S. 1586-1590. 7 Dwight D. Eisenhower Library, C.D. Jackson Papers, Log 1953, box 68. 8 Ebenda.

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tische Unterdrückung des Aufstandes habe den Widerstandsgeist in Ostdeutschland nicht gebrochen. Mehr als alles andere erschienen die ostdeutschen Unruhen als "a kind of spontaneous direct-action plebiscite", durch das die Ostdeutschen mit ihren Fäusten für freie Wahlen, die Wiedervereinigung Deutschlands und den Abzug der sowjetischen Okkupationsstreitkräfte gestimmt hatten. Selbst wenn die Sowjets die gegenwärtigen Unruhen erfolgreich unterdrücken und Kontrolle wiedererlangen sollten, so meinte man im PSB, könnten Versuche lokaler Streiks, Demonstrationen oder Manifestationen anhaltenden Widerstandes wiederholt werden. Während die Unruhen nicht unbedingt als ein Anzeichen für größere antikommunistische oder nationalistische Erhebungen in ganz Osteuropa zu werten seien, bilde der Aufstand in der DDR angesichts der grundlegenden Diskreditierung der Machtstellung von SED und sowjetischer Besatzungsmacht trotzdem "the greatest opportunity for initiating effective policies to help roll back Soviet power that has yet come to light." 9 Der jetzt vollständig freigegebene, mit nur geringfügigen substantiellen Veränderungen als NSC 158 angenommene Plan des Psychological Strategy Board belegt erstmals, in welchem Maße man innerhalb der Eisenhower-Regierung bereit war, "Widerstand gegen die kommunistische Unterdrückung" in Osteuropa zu fördern und die Autorität der "Marionettenregime" in den Satellitenstatten zu unterminieren. Das PSB-Aktionsprogramm (wie das späterere NSC 158) unterschied dabei zwei Arten von Maßnahmen: kurzfristige Aktionen, die innerhalb von zwei Monaten umgesetzt werden konnten, und solche Operationen, die langfristiger Vorbereitung bedurften und deren Umsetzung von der Entwicklung der Lage abhing. Wie die für Phase I ins Auge gegriffenen Maßnahmen deutlich machen, wollte man es nicht allein bei der nachdrücklichen Betonung westlicher Unterstützung für die Einheit Deutschlands auf der Basis freier Wahlen oder der Umsetzung des Freiwilligen-Freiheitskorps belassen. Der PSBPlan wies amerikanische Regierungsstellen an, Widerstand bis an die Grenze des Massenaufstandes zu ermutigen, Widerstandszellen in Vorbereitung größerer Unruhen zu schaffen und durch "schwarze Sender" das Überlaufen von Polizei- und Militäroffizieren zu fördern. Der Bericht autorisierte zudem die "Ausschaltung" von wichtigen Persönlichkeiten in den Satellitenstaaten. Langfristiger Vorbereitung bedurften nach Auffassung der amerikanischen Planer die Organisation, Ausbildung und Ausstattung größerer Untergrundorgansationen, Ballonpropaganda-Aktionen größeren Ausmaßes sowie andere Formen vornehmlich gegen die UdSSR gerichteter subversiver Aktionen. Entstehungsgeschichte und Rhetorik von PSB D-45 bzw. NSC 158 reflektieren auf eindringliche Weise die Euphorie, mit der die Krise in der DDR von Kräften innerhalb der Eisenhower-Administration aufgenommen wurde. Seit dem Tod Stalins schien der Aufstand in Ostdeutschland erstmals die Möglichkeit zu einer aktiveren "Befreiungs "-Politik zu eröffnen. Wenn auch in den Diskussionen im NSC eine militärische Unterstützung der Aufständischen ausgeschlossen wurde, zeigte der von Eisenhower sanktionierte PSB-Bericht, daß die amerikanische Regierung nicht bereit war, die Chance einer Destabilisierung der sowjetischen Position in Osteuropa ungenutzt verstreichen zu lassen. Auffallend im Vergleich zu anderen Direktiven dieser Art ist nicht nur die Schnelligkeit, mit der das Aktionsprogramm konzipiert wurde, sondern auch sein aktionsorientierter Charakter, ohne Zweifel vor allem ein Verdienst C. D. Jacksons, dem spiritus rector des PSB. Wie sich Jackson seinem Tagebuch zu9

National Archives, College Park, MD, RG 273, NSC 158 series.

Die amerikanische Reaktion auf den 17. Juni 1953

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folge gegenüber NSC-Mitarbeitern äußerte, war dies "a different kind of PSB plan, differently initiated, differently executed, and conspicuous for (a) much more operational that previous plans; (b) much more current rather than waiting for something to happen in future". 10 Bemerkenswert ist freilich auch die Radikalität der mit dem PSB-Report autorisierten Aktionen. Eine Realisierung der bis zu Anschlägen auf führende kommunistische Persönlichkeiten hin reichenden Maßnahmen hätte zu einer dramatischen Destabilisierung der Verhältnisse in Osteuropa und einer Zuspitzung der Ost-West-Spannungen führen können. Die Bemühungen um eine aggressivere "psychologische Kriegsführung" gerieten deshalb schon bald in das Kreuzfeuer der Kritik innerhalb und außerhalb der Administration. Bereits als Ergebnis der ersten Aussprache über den PSB-Plan im NSC am 25. Juni wurde das Psychological Strategy Board angewiesen, bei der subversiven Förderung von Widerstand und Opposition in Osteuropa "größeres Gewicht auf passiven Widerstand" zu legen - eine Modifikation, die eine Wiederholung der Ereignisse vom 17. Juni ausdrücklich ausschließen sollte. Zudem zeigte sich, daß eine Aktivierung der Osteuropapolitik unter den europäischen Verbündeten, vor allem in Großbritannien und Frankreich, auf erhebliche Vorbehalte stieß. Aus Furcht, einen Präzendenzfall für Einmischung in die inneren Angelegenheiten ihrer Kolonien zu schaffen, opponierten sowohl die britische wie die französische Regierung erfolgreich gegen eine Behandlung der Krise vor den Vereinten Nationen. Widerstände gegen das Freiwilligen-Freiheitskorps regten sich seitens der Bundesregierung, der eine Debatte um die kontroverse Maßnahme im Vorfeld der Bundestagswahlen im September 1953 nicht gelegen kommen konnte. Auch die in Luxemburg versammelten amerikanischen Europa-Botschafter warnten im September 1953 Washington nochmals nachdrücklich vor den Folgen einer Politik, die die Situation in Osteuropa drastisch verschärfen und "den Topf zum Überlaufen bringen" würden. 11 Zum wesentlichen Element 12 der "psychologischen Offensive" im Sommer 1953 wurde, nebst einer Einladung an die Sowjetunion zu einer von vornherein allerdings als aussichtslos eingeschätzten Vier-Mächte-Konferenz, eine Maßnahme, die im Aktionsprogramm des PSB nicht genannt worden war, wohl aber dessen Zielsetzungen entsprach: eine Hilfsaktion, in deren Rahmen von Ende Juli bis Anfang Oktober 1953 über fünf Millionen Lebensmittelpakete von Verteilerstellen in West-Berlin aus an Bewohner der DDR und Ost-Berlins ausgegeben wurden. Der Erfolg dieser Aktion, die das SED-Regime und die sowjetische Besatzungsmacht vorübergehend in die Defensive drängte und die Verhältnisse in der DDR im Sommer 1953 weiter destabilisierte, sowie die Überlegungen und Entscheidungen im Zusammenhang mit NSC 158, zeigen, daß die Eisenhower-Regierung, nach anfänglicher Unschlüssigkeit, aktiver auf den Aufstand vom 17. Juni reagierte, als dies gemeinhin von der Forschung konstatiert wird. Freilich herrschte zwischen der angesichts der vehementen Kritik innerhalb und außerhalb der Administration für Eisenhower möglichen Politik und den Erwartungen, die sich in der Vorstellung vieler Ostdeutscher und Osteuropäer mit den Schlagworten "Liberation" und "Roll-back" verbanden, große Diskrepanzen, deren tragische Folgen sich im Ungam-Aufstand im Oktober 1956 zeigen sollten. 10 Dwight D. Eisenhower Library, C.D. Jackson Papers, Log 1953, box 68. 11 Ostermann, Christian F.: Keeping the Pot Simmering. The United States and the East German Uprising of 1953, in: German Studies Review 19, 1 (Februar 1996), S. 39-61. 12 Soweit dies quellenmäßig zu belegen ist.

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Christian F. Ostermann

Dokument:

June 29, 1953

TOP SECRET SECURITY INFORMATION NOTE BY THE ACTING EXECUTIVE SECRETARY to the NATIONAL SECURITY COUNCIL on UNITED STATES OBJECTIVES AND ACTIONS TO EXPLOIT THE UNREST IN THE SATELLITE STATES

REFERENCES:

A. B. C.

Action Nos. 817 and 826 Memo for NSC from Executive secretary, subject United States Policies and Actions to Exploit the Unrest in the Satellite States, dated June 24, 1953 NSC 143/2

The National Security Council, the Secretary of the Treasury, and the Director, Bureau of the Budget, at the 151st Council meeting on June 25, 1953, approved the recommendations of the Psychological Strategy Board contained in the enclosure to the reference memorandum of June 24 subject to: (a) more emphasis being placed on passive resistance in implementing paragraph 2-(a), and (b) revision of paragraph 3-(b) to read: "Consider advocacy of (1) free elections in the satellites and association with the Western European community, with emphasis on economic cooperation and rehabilitation, and (2) subsequent withdrawal of all foreign troops from Germany, Austria and the satellites" (NSC Action No. 826). The President on June 26, 1953, approved the recommendations of the Psychological Strategy Board, as amended and approved by the Council, and directs their implementation by all appropriate executive departments and agencies of the U.S. Government under the coordination of the Psychological Strategy Board. The President directs, as recommended by the Council, that more emphasis be placed upon passive resistance in implementing paragraph 2-a. The report of the Psychological Strategy Board, as amended by the Council and approved by the President, is enclosed herewith. Special security precautions are requested in the handling of the enclosure. cc:

The Secretary of the Treasury The Chairman, Joint Chiefs of Staff The Director of Intelligence

NSC 158 June 29, 1953

S. EVERETT GLEASON Acting Executive Secretary TOP SECRET TOP SECRET SECURITY INFORMATION

REPORT by THE NATIONAL SECURITY COUNCIL on INTERIM UNITED STATES OBJECTIVES AND ACTION TO EXPLOIT THE UNREST IN THE SATELLITE STATES

Die amerikanische Reaktion auf den ¡7. Juni 1953

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1. Psychological Objectives a. To nourish resistance to communist oppression throughout satellite Europe, short of mass rebellion in areas under Soviet military control, and without compromising its spontaneous nature. b. To undermine satellite puppet authority. c. To exploit satellite unrest as demonstrable proof that the Soviet Empire is beginning to crumble. d. To convince the free world, particularly Western Europe, that love of liberty and hatred of alien oppression are stronger behind the Iron Curtain than it has been dared to believe and that resistance to totalitarianism is less hopeless than has been imagined. 2. Courses of Action - Phase I (Requiring less than 60 days to initiate) a. In East Germany and other satellite areas, where feasible, covertly stimulate acts and attitudes of resistance short of mass rebellion aimed at putting pressure on Communist authority for specific reforms, discrediting such authority and provoking open Soviet intervention. b. Establish, where feasible, secure resistance nuclei capable of further large-scale expansion. c. Intensify defection programs, aimed at satellite police leaders and military personnel (especially pilots) and Soviet military personnel. d. Stimulate free world governmental, religious, and trade union activities capable of psychological effect behind the Iron Curtain, such as: (1) International campaign to honor martyrs of the East German revolt. (2) Free trade union denunciation of Soviet repression and demand for investigation of basic economic and labor conditions. e. Reemphasize U.S. support for German unity based on free elections followed by a Peace Treaty. f. Implement NSC 143/2 (Volunteer Freedom Corps) completing discussions as soon as possible with Allied governments. g. Consider bringing Soviet repression of East German revolt before the UN. h. Launch black radio intruder operations to encourage defection, j. Encourage elimination of key puppet officials. 3. Courses of Action - Phase II (Requiring lengthy preparation contingent upon developments) a. Organize, train and equip underground organizations capable of launching large-scale raids or sustained warfare when directed. b. Consider U.S. advocacy of (1) free elections in the satellites and association with the Western European community, with emphasis on economic cooperation and rehabilitation, and (2) subsequent withdrawal of all foreign troops from Germany, Austria and the satellites. c. Consider new forms of covert organizations based on concepts of: (1) Simulating Soviet officer conspiracy to establish honorable peace with the West. (2) Cooperation between satellite resistance elements and nationalists in non-Russian Soviet Republics. (3) Cultural appeals to Soviet intellectuals. d. Consider inclusion of USSR nationals in Phase II of Volunteer Freedom Corps project. e. Consider large-scale systematic balloon propaganda operations to the satellites.

Biographische Skizzen/Zeitzeugenberichte

Jens Becker und Harald Jentsch (Frankfurt a. M.)

Heinrich Brandler - biographische Skizze bis 1924 "[...] Steckbrief. Gegen den Redakteur Heinrich Brandler aus Berlin, geb. am 3. Juli 1881 in Warnsdorf in Böhmen, welcher flüchtig ist, besteht Haftbefehl des Ermittlungsrichters des Staatsgerichtshofes zum Schutze der Republik vom 3. November 1923 [...] Personalbeschreibung. Alter: 42 Jahre, Größe: ca. 1,65 m, Haare: dunkelblond, stehend, Stim: hoch, Augenbrauen: dunkelblond, Mund: gewöhnlich, Nase: gewöhnlich, Schnurrbart: bartlos, Kinn: gewöhnlich, Gesichtsbildung: voll, Gesichtsfarbe gelblich, Gestalt: verwachsen, Augen: grau blau, besondere Kennzeichen: rechte Schulter gesenkt, linksseitigen Buckelansatz. Leipzig, den 16. Februar 1924. Der Oberreichsanwalt".'

Die vorliegende biographische Skizze konzentriert sich im wesentlichen auf H. Brandlers Wirken in der KPD in der Frühphase der Weimarer Republik. Brandlers Karriere als kommunistischer Parteipolitiker korrelliert eindeutig mit dem Formationsprozeß des deutschen Kommunismus, dessen Entwicklung mindestens bis 1923/24 offen im Sinne einer relativen Autonomie von den Interessen der KPdSU und der Komintern gewesen sein dürfte. Die dann einsetzende Bolschewisierung bzw. Stalinisierung der KPD bedeutete auch das Ende von Brandlers Parteikarriere. Von daher erscheint es uns wichtig, seinen Beitrag zur Frühgeschichte der KPD in den Jahren 1918 bis 1923 besondere Beachtung zu schenken. Dabei stützen wir uns auf bekannte und neu zugängliche Quellen, die es erlauben, die facettenreiche politische Biographie des Mitbegründers und zeitweiligen Vorsitzenden der KPD weiter zu erhellen. Wir enden mit seinem Parteiausschluß 1928/29, weil wir der Meinung sind, daß damit auch seine politische Karriere einen endgültigen Bruch in der kommunistischen Bewegung erhielt, der sich allerdings schon 1924 abzeichnete. Bereits im vorigen Jahrhundert bestanden politische Kontakte der deutschsprachigen Arbeiterbewegung in Böhmen mit der Bewegung im Deutschen Reich und in Österreich. Vorwiegend junge Arbeiter wanderten in größerer Zahl in das wirtschaftlich aufstrebende Deutsche Reich. Zu ihnen gehörte auch Brandler, der nach der Volksschule Maurer und Fliesenleger wurde - ein Beruf, den vermutlich auch sein Vater gelernt hatte. Mit 16 Jahren trat Brandler dem Bauarbeiterverband bei. In Hamburg trat er 1901 in die SPD ein und wurde in der Arbeiterbildung tätig. Regelmäßige Spitzelberichte der Politischen Polizei meldeten, er agitierte immer wieder auf Gewerkschaftsversammlungen für die Gleichrangigkeit von historischer, politischer und allgemeiner Bildung für die Arbeiter sowie für O. Rühles Konzept 1 Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Zentrales Paiteiarchiv (künftig: ZPA), NL 182/85, Bl. 10.

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einer Arbeiterschule.2 Am 24. April 1904 wurde der unbequeme Österreicher von den Hamburger Behörden ausgewiesen. Er wanderte nach Bremen weiter, wo er sich neben seiner Arbeit als Maurer zusammen mit F. Ebert, J. Knief, W. Pieck und H. Schulz erneut der Arbeiterbildung widmete. Da er gleichzeitig - wie Karl Liebknecht, mit dem er korrespondierte3 für eine selbständige Jugendkonzeption eintrat, die jungen Menschen politische Bildung vermitteln und sie in die Klassenkämpfe der Erwachsenen integrieren sollte, lag er zunehmend mit Ebert und auch Schulz im Widerstreit. Von Bremen ging er 1908/09 nach Zürich. In der Schweiz arbeitete er zunächst als Bauarbeiter, bevor er als Leiter des internationalen Arbeiterbildungsvereins "Eintracht" auch zum besoldeten Wanderlehrer avancierte. Als Vertreter der deutschen Sektion der Schweizer Sozialdemokratie nahm er an den Parteitagen in Basel (1910) und Ölten (1912) teil. Zusammen mit F. Heckert traf er Lenin und pflegte Kontakte zur russischen Emigrantenszene. 1914 wurde er als zweiter Sekretär des Chemnitzer Bauarbeiterverbandes angestellt. Sein traumatisches Erlebnis war die Entscheidung von SPDund Gewerkschaftsführung, die Kriegspolitik des Deutschen Reiches passiv hinzunehmen. Die "Burgfriedenspolitik" empfand er - analog zur sich konstituierenden Parteiopposition um K. Liebknecht, R. Luxemburg u.a. - als offenen Bruch mit allen früheren Verpflichtungen auf deutschen und internationalen Kongressen, einen Weltkrieg zu verhindern. Bis zu seinem Parteiausschluß 1917 und darüber hinaus in der USPD arbeitete er für einen antimilitaristischen Kurs in der Arbeiterbewegung.4 In Chemnitz und mehreren Nachbarorten des Bezirkes organisierte er innerhalb der USPD die Spartakusgruppe, gab Flugblätter gegen den Krieg heraus und förderte Streiks und Demonstrationen, denen teils Emährungs- und Lohnprobleme, teils aber auch schon deutlich antimilitaristische Stimmungen zugrunde lagen. Im Oktober 1918 aus Deutschland ausgewiesen, gehörte er kurze Zeit später zu den Gründern der KPD. Ganz Sachsen wurde ab dem 8. November 1918 von einem engmaschigen Netz aus Arbeiter- und Soldaten-Räten (AuSR) überzogen, an dessen Schalthebeln Vertreter der organisierten Arbeiterbewegung saßen. Symptomatisch für den friedlichen Charakter der sächsischen Protestbewegung war die Kooperation zwischen den Räten und Teilen der alten Administration.5 In Chemnitz herrschte Einvernehmen, die Alltagsprobleme der Bevölkerung schnell und pragmatisch zu lösen. Die Gemeinsamkeiten zwischen MSPD und USPD nahmen jedoch nach den ersten Demokratisierungsmaßnahmen (z.B. Presse- und Versammlungsfreiheit) ab. 6 Mit Brandlers Rückkehr nach Chemnitz und seinem Eintritt in den örtlichen AuSR am 20. November 1918 änderte sich die USPD-Politik dahingehend, daß sie die Kontrolle staatlicher Institutionen, insbesondere bei den Machtapparaten Polizei und Militär, nicht mehr 2 3 4 5

6

Vgl. Polizeiakten (Politische Polizei), Abt. 4, im Hamburger Staatsarchiv vom 14.4. bis 24.12.1904. Vgl. Liebknecht, Karl: Gesammelte Reden und Schriften, Bd. 2, Berlin 1958, S. 230ff. Vgl. Geschäfts- und Kassenbericht des sozialdemokratischen Vereins für den 16. sächsischen Reichstagswahlkreis 1917/18, S. 3, Stadtarchiv Chemnitz. Vgl. Rudolph, K.: Vom "Roten Königreich" zum linksrepublikanischen Projekt. Die sächsische Sozialdemokratie im Kaiserreich und in der frühen Weimarer Republik, Diss. Bochum 1993, S. 213f.; zur Rätediskussion im allgemeinen: Arnold, V.: Rätebewegung in der Novemberrevolution, 2. Aufl., Hannover 1985. Rudolph, Vom "Roten Königreich", S. 221f.

Heinrich Brandler - biographische Skizze bis 1924

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allein der MSPD überließ. 7 Diametral standen sich die unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen von MSPD und Spartakusbund gegenüber. Ganz im Sinne der Berliner Spartakusfuhrung betrachtete Brandler die AuSR als Kampforgane der Revolution. Ferner orientierte sich Brandler an den akuten Tagesnöten (Repatriierung, gerechte Lebensmittelzuweisung, betriebliche Mitbestimmung etc.) der Arbeiter. Ihm schwebte dabei alles andere als eine Kopie des russischen Modells vor. Die Bolschewisierung Deutschlands war auch in Chemnitz eine Propagandafloskel der sozialdemokratischen und bürgerlichen Publizistik. Die anvisierten Maßnahmen, schrieb Brandler, "sind noch lange kein Sozialismus, sondern nur Notmaßnahmen für die Übergangszeit, eine Maßregel, die die spätere Sozialisierung vorbereitet".8 Die Notwendigkeit, eine eigene Zeitung herauszugeben, wurde im Spartakusbund seit langem diskutiert. Allein der Tatbestand, daß die finanzschwache USPD im AuSR noch nicht einmal die Beschlagnahme eines bürgerlichen Verlages verlangte, ist ein Symptom, das den gebremsten Charakter der Revolution illustriert.9 Das am 30. November 1918 erstmalige Erscheinen des "Kämpfer" war wesentlich auf das Engagement Brandlers zurückzuführen, der für die Herausgabe und Redaktion verantwortlich zeichnete. 10 Bereits im ersten Artikel definierte er die AuSR "als die Organisationsform der proletarischen Revolution überhaupt", wobei er darauf hinwies, daß sie ohne den Kampfwillen der Arbeiterklasse bürokratisch zu erstarren drohten. Es gelte die politische Macht, welche die Arbeiterklasse in den "Wirren des Zusammenbruchs" erobert habe, gegen die alten Mächte zu verteidigen. Die "deutsche Revolution" habe erst begonnen. Die ihr inhärenten Interessengegensätze müßten ausgekämpft werden. 11 Die Wahlniederlage des Spartakusbundes, der zu den Wahlen des AuSR am 9. Dezember nochmals als Ortsgruppe der USPD antrat, zerstörte das relative Gleichgewicht, das bis dahin im Rat vorgeherrscht hatte. Die Hegemonie der Chemnitzer MSPD erschien mit 79 165 gegenüber 6705 Stimmen für die USPD deutlicher denn je. Lediglich Brandler und Heckert zogen für die Liste der Unabhängigen in den dreißigköpfigen Rat. Das Selbstbildnis einer "kleinen Elitegruppe" erscheint angesichts der Isoliertheit der Spartakusgruppe adäquat. 12 Zur Jahreswende 1918/19 befand sich Spartakus in Chemnitz in der Defensive. Die Konsolidierung der alten Strukturen schritt voran. Symbolischen Ausdruck fand die restaurative Wende in der Tatsache, daß "Beamte der politischen Polizei, die jahrelang die Chemnitzer 7 Vgl. Polizeiliche Meldebücher der Stadt Chemnitz, Br 393, Bl. 469b, StadtA Chem; Brandler übernahm auch die Position des stellvertretenden Garnisonsältesten, die ihm Einflußmöglichkeiten auf die militärischen Strukturen eröffnete. 8 Der Kämpfer v. 30.11.1918. 9 Den Terminus "gebremste Revolution" und weitere Hinweise zur Novemberrevolution entlehnen wir aus Winkler, Heinrich August: Weimar 1918-1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1993, S. 33-68. 10 Vgl. Aufzeichnungen von G. Kühn (Brandler) vom 22.4.1958, StadtA Chem; Schlimper, J.: Der Nährboden aus dem ein Kämpfer erwuchs. Zum Prozeß der Herausbildung der ersten kommunistischen Zeitung im späteren Parteibezirk Erzgebirge-Vogtland, in: Theorie und Praxis des sozialistischen Journalismus an der Karl-Marx-Universität Leipzig, Heft 2/3, 1983, S. 94-100; grundlegend: Beckert, S.: Der Kampf der Linken in Chemnitz gegen Krieg und Opportunismus, für die Herausbildung einer neuen revolutionären Partei und für die Ziele der Novemberrevolution (April 1917-Januar 1919), Diss. Halle 1969. 11 Der Kämpfer v. 30.11.1918. 12 Der Kämpfer v. 12.12.1918; zum Wahlergebnis s. a. Beckert, Der Kampf der Linken, S. 241ff.

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Arbeiterbewegung bespitzelt hatten und in den ersten Revolutionstagen verhaftet worden waren, wieder in ihre Stellungen gelangten".13 Das überragende Ziel Brandlers blieb die Propagierung der sozialistischen Gesellschaft auf der Basis des Rätesystems. Dabei konzentrierte er sich stärker auf das politische Tagesgeschäft: organisatorische Vorbereitungen zur Gründung der Chemnitzer KPD, die Aufrechterhaltung des Bauarbeiter-Büros, die Arbeit im AuSR und die Herausgabe des "Kämpfer". Mit Sarkasmus kommentierte Brandler die Entscheidung des Berliner Reichsrätekongresses (16.-21.12.1918), dem Antrag der MSPD zu folgen, am 19. Januar 1919 die Wahlen zur Nationalversammlung durchzuführen. Überall hätten die sozialdemokratischen "Angst- und Sorgenräte" die "Revolution verraten". Der soeben eingeführte Acht-Stunden-Tag sei ein "Feigenblatt", das nur eine "vorübergehende Notstandsmaßregel" der Herrschenden darstelle. Für den Spartakusbund reklamierte Brandler auf einer Sitzung des Chemnitzer AuSR, den Massen 1914 genauso wie 1918 die Wahrheit gesagt und eine "revolutionäre, praktische Politik" vor Augen gehabt zu haben. 14 Maßgebliche Teile des Spartakusbundes machten die USPD-Volksbeauftragten für den aus ihrer Sicht enttäuschenden Verlauf der Revolution mitverantwortlich. "Ein weiteres Verbleiben in der U.S.P.D. wäre Solidarisierung mit der Konterrevolution. Die Trennung von ihr ist geboten durch die Treue zur Revolution", zitierte der "Kämpfer" zustimmend Liebknechts Rede vom Gründungsparteitag der KPD. 15 Zu Vorsitzenden der am 6. Januar 1919 gegründeten Chemnitzer KPD wurden Brandler und Heckert gewählt. 16 Bei den Märzwahlen zum AuSR gewann sie 10 000 Stimmen hinzu und konnte mit insgesamt 16 500 Stimmen den Abstand zur MSPD verringern. 17 Begleitet vom Enthusiasmus eines Teils der Arbeiterklasse, unterstützt vom zielstrebigen Handeln einiger kommunistischer Lokalpolitiker, gelang es Brandler und Heckert bis 1920, den mit etwa 14 000 Mitgliedern weitaus größten Parteibezirk der KPD aufzubauen. 18 Im Chemnitzer Industriebezirk gewannen sie bei den Arbeitern an Prestige und Einfluß, je mehr sich die Sozialdemokratie in der Regierungsverantwortung verschliß. Zwar klingt Brandlers postum geäußerte These, die KPD in Chemnitz und Umgebung vertrete die Tradition der Sozialdemokratie auf anderer Grundlage, überspitzt 19 , sie trifft aber insofern zu, da sie Teile des durch die Ergebnisse der Revolution radikalisierten Proletariats hinter sich vereinigen konnte. Während in der Konstituierungsphase der Weimarer Republik vielerorts bürgerkriegsähnliche Zustände herrschten, schien die Revolution in Chemnitz beendet zu sein. Weder die Ermordung von R. Luxemburg, K. Liebknecht und L. Jogiches noch die nach wie vor katastrophalen sozioökonomischen Rahmenbedingungen (Hunger, Arbeitslosigkeit und Preissteigerungen) änderten etwas an diesem Tatbestand. Brandler war an einer direkten Konfrontation 13 Schaller, K.: Die Arbeiterparteien in Chemnitz und die Revolution 1918/19, in: Grebing, Helga/Mommsen, Hans/Rudolph, Karsten (Hrsg.): Demokratie und Emanzipation zwischen Saale und Elbe. Beiträge zur Geschichte der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, Essen 1993, S. 209. 14 Der Kämpfer v. 25.12.1918. 15 Der Kämpfer v. 5.1.1919. 16 Der Kämpfer v. 8.1.1919. 17 Vgl. Schaller, Arbeiterparteien, S. 209. 18 Vgl. Bericht über den 3. Parteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) am 25. und 26. Februar 1920, o.O. o.J., S. 35. 19 Siehe das Protokoll eines Gesprächs zwischen S. Beckert und Brandler, o.J., Privatarchiv Beckert, S. 25.

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mit der Staatsmacht nicht gelegen, weil er die Kräfteverhältnisse realistisch einschätzte. Zudem war die KPD 1918/19 reichsweit in einem desolaten Zustand. Auch Jogiches, von dem Brandler behauptete, er habe seine Verhaftung (und damit seinen sicheren Tod) bewußt in Kauf genommen 20 , konnte als Interimsführer die erodierende Partei nicht konsolidieren. Die endgültige Niederlage der Novemberrevolution und die im Frühjahr 1919 einsetzende landesweite Hungersnot verursachten schließlich in Chemnitz soziale Proteste, die staatliche Gegenreaktionen auslösten. 21 Das "Chemnitzer Blutbad" vom 8. August 1919, bei dem das Militär, "ausdrücklich vom Reichswehrminister [Noske, d.V.] zu einem scharfen Vorgehen ermuntert", 50 Demonstranten erschoß, war der traurige Höhepunkt einer Protestwelle, die Sachsen 1919 erschütterte 22 . Die erneute Besetzung von Chemnitz durch 9000 Reichswehrsoldaten am 19. August, die mit dem Verbot des "Kämpfer" und Haftbefehlen gegen Brandler und Heckert verbunden war, zeigt, daß sich die Stadt damals zu einem Schmelztiegel der Unruhen entwickelt hatte. Wahrscheinlich veranlaßten solche Erfahrungen Brandler dazu, festzustellen, daß man - wie in Rußland seit 1917 - gute Gesetze nur dann haben könne, wenn man die alten verbrennen und neue schaffen würde. Möge "dem deutschen Philister und manchem guten deutschen Arbeiter [...] der Atem stocken", der "sozialistische Aufbau des neuen Rechts" vollziehe sich in Rußland von unten, ohne bürokratische Erstarrungen als Geburtsvorgang einer neuen Gesellschaftsordnung.23 Wie viele Kommunisten ging Brandler in den Jahren 1918-21 vom nahen Zusammenbruch des Kapitalismus aus. Diese Situationseinschätzung basierte auf der Wechselwirkung zwischen praktischen Erfahrungen und theoretischer Reflexion. Beide Momente wurden in der Beschlußlage von KPD und Komintern politisch wirksam und geschichtsbildend.24 Trotz der faktisch vorhandenen Krisentendenzen in der deutschen Gesellschaft befand sich die KPD jedoch 1919 in einer Sackgasse. Der Aktionsradius der Partei beschränkte sich auf einige Organisationskerne in diversen Großstädten. Der auf dem Gründungsparteitag sichtbar gewordene Antagonismus zwischen "Spartakisten" und "Linkskommunisten" setzte sich 1919 fort. 25 Der neue Parteivorsitzende P. Levi versuchte durch erste Zentralisierungsschritte, das innerparteiliche Chaos zu überwinden. In dieser Zeit dürfte Brandler weitgehend mit den Positionen der Partei-Mehrheit übereingestimmt haben, die im Oktober 1919 die Entscheidung suchte. Mit der These, die KPD könne auf die Teilnahme bei Parlamentswahlen und auf die 20 Vgl. Deutscher, Isaak: Aufzeichnung einer Diskussion mit Brandler, 15.2.1948, in: Weber, Hermann (Hrsg.): Unabhängige Kommunisten. Der Briefwechsel zwischen H. Brandler und I. Deutscher 19491967, Berlin 1981, S. 4. 21 Am 24. Juni standen Brandler u.a. KPD-Aktivisten als Angeklagte vor dem Chemnitzer Schöffengericht, weil sie in öffentlichen Versammlungen gegen Belagerungszustand und Standrecht protestiert hatten. - S. Der Kämpfer v. 28.6.1919. 22 Rudolph, Vom "Roten Sachsen", S. 274f. 23 Brandler, Heinrich: Justiz und Rechtswesen. 2 Berichte aus Rußland (Einleitung), Chemnitz 1919, S. 3f. 24 Luz, R.: KPD, Weimarer Staat und politische Einheit in der Nachkriegskrise 1919-1922/23, Diss. Konstanz 1987, S. 101. 25 Vgl. Die Gründung der KPD, Protokoll und Materialien der Kommunistischen Partei Deutschlands 1918/1919, hrsg. u. eingel. v. H. Weber, Berlin 1993; Bock, H. M.: Syndikalismus und Linkskoiranunismus von 1918 bis 1923. Ein Beitrag zur Sozial- und Ideengeschichte der frühen Weimarer Republik, Darmstadt 1993, S. 141.

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Mitarbeit in den reformistisch-geprägten Gewerkschaften nicht verzichten, lagen die "Leitlinien" des Heidelberger Parteitages exakt auf Brandlers Linie. Die Revolution war für ihn kein einmaliges Losschlagen, sondern ein zähes Ringen einer seit Jahrhunderten unterdrückten Klasse, die alle Kampfmittel nutzen müsse, den Kapitalismus zu überwinden. 26 Seine Wahl in die Zentrale der KPD ist beredtes Zeugnis dafür, daß er den Ausgrenzungskurs gegen den linkskommunistisch-syndikalistischen Hügel unterstützte. 27 Der ansonsten eher nüchterne Praktiker glaubte weiterhin daran, daß die "Mehrzahl der deutschen Bevölkerung" den Sozialismus wolle und daß man nur noch über die Mittel und Methoden zu streiten brauche. Deterministisch hob er "die Eroberung der politischen Macht durch die Klasse, die den Sozialismus will und auf Grund ihrer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lage wollen muß", als unumstößliche Gewißheit hervor. Räte waren für ihn unvereinbar mit der kapitalistischen Demokratie Weimarer Provenienz. Das betonte er, weil MSPD und USPD versuchten, den Rätegedanken in diese zu integrieren. Für Brandler war die Zweiteilung in Staatsund Wirtschaftsbürger das Grundübel der demokratischen Staatsform. Trotz formeller Rechtsgleichheit werde die nichtbesitzende Bevölkerungsmehrheit durch die übermächtigen Klasseninteressen der besitzenden Klasse strukturell benachteiligt. Ohne den Machtwillen der Massen (und der Partei) keine Veränderung der Gesellschaft - das war sein Fazit der Jahre 1914-19: "Für uns gibt es kein anderes Mittel als die Gewalten, die uns hemmend entgegentreten [...], mit allen Machtmitteln zu bekämpfen." 28 "Wir haben überhaupt noch keine Partei", konstatierte Brandler auf dem 3. Parteitag der KPD im Februar 1920. 29 Zwar bezog sich dieser Hinweis vor allem auf das rheinland-westfälische Gebiet, wo es heftige Kämpfe zwischen der anarcho-syndikalistisch geprägten "Roten Ruhrarmee" und der Reichswehr in dieser Zeit gab. 30 Doch er betraf fast die gesamte KPD, die weitgehend ohne Masseneinfluß und funktionierenden organisatorischen Apparat blieb. Beides hoffte er, in einer kombinierten Strategie - Unterstützung von Betriebsräten, konkreten Tagesforderungen und dem Eintreten für "Produktionskontrolle" - zu erlangen. 31 Die Aktion gegen den Kapp-Putsch ermöglichte der Rätebewegung im März 1920 noch einmal eine kurze Renaissance. Als einer von drei gleichberechtigten Präsidenten des Arbeitervollzugsrates avancierte Brandler zu einer Schlüsselfigur unter den vorübergehend veränderten Chemnitzer Machtverhältnissen, die der Generalstreik erbracht hatte. 32 Hervorzuheben ist der Pragmatismus, den er im Umgang mit der neu erlangten Macht an den Tag legte. Ihm war klar, daß die KPD, obwohl stärkste Fraktion im Vollzugsrat, nicht gegen MSPD 26 Brandler, Heinrich: Die Aktion gegen den Kapp-Putsch in Westsachsen, hrsg. v. d. KPD(S), Berlin 1920, S. 52. 27 Weber, Hermann: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stalinisierung der KPD in der Weimarer Republik, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1969, S. 84. 28 Brandler, Heinrich: Durch die Räte zur Einheit der Arbeiterklasse und zum Kommunismus, Chemnitz, o.J. (1919), S. 3, 5, 13. 29 Bericht über den 3. Parteitag, S. 16. 30 Vgl. Peterson, Larry: German Communism, Workers Protest and Labour Unions. The Politics of the United Front in Rhineland-Westphalia 1920-1924, Dordrecht/Boston/London, 1993. 31 Vgl. Bericht über den 3. Parteitag, S. 17. 32 Vgl. Brandler, Die Aktion; zusammenfassend: Lucas, E.: Der bewaffnete Arbeiteraufstand im Ruhrgebiet in seiner inneren Struktur und in seinem Verhältnis zu den Klassenkämpfen in den verschiedenen Regionen des Reiches, Frankfurt a. M. 1973, S. 162ff.

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und USPD regieren konnte. Von daher lehnte er, obwohl einige tausend bewaffnete Chemnitzer Arbeiter ihn sicherlich darüber nachdenken ließen, eine militärische Einmischung in die Leipziger Auseinandersetzungen als überflüssigen "Feuerwehrdienst" ab. 33 Auch stand er den bewaffneten Aktionen seines Parteigenossen M. Hoelz skeptisch gegenüber. 34 Überdies zeigt ein Blick auf die Verhandlungen zwischen Oberbürgermeister Hübschmann und dem Vollzugsrat, wo er zusammen mit seinem Kollegen Friedel von der MSPD das Wort führte, daß Brandler die Spielregeln des politischen Tagesgeschäfts beherrschte: "Wir wollen nicht gegen Sie [Hübschmann, d.V.] arbeiten, sondern wir wollen zusammenarbeiten. Wir haben Einfluß, und Sie haben Einfluß. Uns ist darum zu tun, daß das, was in anderen Städten geschehen ist [Brandler spielt auf gewalttätige Zusammenstöße an, d.V.], vermieden wird, und da ist die wichtigste Vorbedingung, daß wir die Löhne ausszahlen [...]. Wenn wir dann nur etwa 60 % auszahlen können, so können wir immer noch zu den Arbeitern sagen Ihr seht, es ist wirklich geschehen, was möglich war, der Herr Oberbürgermeister [...] und die Industriellen haben sich gefügt". 35 Unabhängig davon, daß sich das Unternehmerlager fügte und die wegen des Generalstreiks einbehaltenen Arbeiter- und Angestelltenlöhne auszahlte, wird deutlich: Brandler beherrschte das Prinzip "do ut des" und wandte es, soweit es ging, an. Den Blick fürs Machbare behielt er auch, als er sich, trotz interner Kritik, widerstrebend dem Druck der MSPD beugte und am 3. Mai den Arbeiter- und Vollzugsrat mit auflöste. 36 Die nun eingetretene reichsweite "Kampfunentschlossenheit" der MSPD-Arbeiter und der erneute "Verrat" ihrer Führer zwinge die schwache KPD, den Kampf einzustellen. Erneut fehle dem Proletariat im entscheidenen Stadium der Wille zur Macht, was immer noch auf den "vorhandenen Wunderglauben an die Macht der bürgerlichen Demokratie in großen Arbeiterschichten zurückzuführen" sei. Trotz dieser Schelte stellte Brandler aber den Arbeiterrat als "Organ der gesamten Arbeiterklasse" über den Parteiapparat der KPD und dessen Interessen. 37 Insgesamt dürfte das umsichtige Verhalten der Chemnitzer KPD-Führung dazu beigetragen haben, daß sich die Parteiorganisation auf hohem Niveau stabilisierte. Vor allem gelang es Brandler, den Peter von Oertzen für diese Zeit als hochbefahigten, energischen und erfahrenen Politiker charakterisiert 38 , zunehmend ins Zentrum der KPD aufzurücken. Seine Kompetenz als Gewerkschaftsfachmann und politischer Praktiker, der sein Wissen immer häufiger auch in theoretischen Schriften darlegte, war gefragt. Die Tatsache, daß er auf verschiedenen Parteitagen - so auf dem Berliner "Vereinigungsparteitag" von USPD-Linke und KPD Anfang De-

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Brandler, Die Aktion, S. 69. Ebd., S. 54ff. Besprechung mit Mitgliedern des Vollzugsrates in Chemnitz am 17.3.1920, StadtA Chem. Brandler, Die Aktion, S. 82 f.; zur Kritik an Brandlers Kurs aus Sicht der DDR-Forschung: Könnemann, E./Krusch, H. J.: Aktionseinheit contra Kapp-Putsch im März 1920 und der Kampf der deutschen Arbeiterklasse sowie anderer Werktätiger gegen die Errichtung der Militärdiktatur und für demokratische Verhältnisse, Berlin 1972, S. 198ff„ 427f. 37 Brandler, Die Aktion, S. 84. 38 v. Oertzen, Peter: Betriebsräte in der Novemberrevolution. Eine politikwissenschaftliche Untersuchung über Ideengehalt und Struktur der betrieblichen und wirtschaftlichen Arbeiterräte in der deutschen Revolution 1918/19, Düsseldorf 1964, S. 222.

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zember 1920 - zum Thema "Gewerkschaften und Betriebsräte" referierte, unterstreicht seinen nunmehr erlangten Stellenwert in der Parteihierachie.39 Im Februar 1921 wurde er Nachfolger des zurückgetretenen und später ausgeschlossenen KPD-Vorsitzenden P. Levi 40 - ein Amt, daß er sich mit W. Stoecker teilte und in dem er zum leitenden Mitverantwortlichen eines sinnlosen Putsch-Versuches wurde, der als "Märzaktion" in die Geschichte der KPD einging.41 Zu diesem Zeitpunkt gehörte Brandler zu den Vertretern der sog. "Offensivtheorie", deren Ziel es war, durch eine "rasche und kraftvolle Aktion" die Revolution durchzuführen. 42 Die gemäßigten Vertreter um C. Zetkin und P. Levi fanden mit ihren Warnungen vor den Folgen einer putschistischen Politik kein Gehör. Auf der Sitzung des Zentralausschusses (ZA) vom 17. März 1921 gab Brandler in einer völligen Verkennung der Situation das Signal zum Übergang der Partei in die Offensive: "Unser Einfluß geht über unsere Organisation von 4 bis 500 000 kommunistischen Mitgliedern hinaus. Ich behaupte, daß wir heute schon 2-3 Millionen nichtkommunistischer Arbeiter im Reich haben, die wir durch unsere kommunistische Organisation [...] beeinflussen, die in Aktionen auch in einer Angriffsaktion von uns unter unserer Parole kämpfen werden. Ist diese meine Auffassung richtig, dann verpflichtet uns dieser Stand der Dinge, daß wir den innen- und außenpolitischen Spannungen gegenüber uns nicht länger nur passiv, abwartend verhalten können [...], sondern dann verpflichtet uns die jetzige Situation, mit Aktionen einzugreifen, um die Dinge in unserem Sinne zu ändern." 43 Ohne die insbesondere durch den Deutschlandexperten der Komintern, K. Radek, vertetene russische Interessenlage zu verkennen, zeigt sich, daß Brandler davon überzeugt war, einfach losschlagen zu können. 44 Das widersprach diametral seinem Politikansatz während des Kapp-Putsches, bei dem er darauf bedacht war, die Kräfteverhältnisse realistisch einzuordnen. Wie viele andere Kommunisten auch war er plötzlich von der Aktualität der Revolution überzeugt, zumal es darum ging, Deutschland "in Richtung des Bündnisses mit Sowjetrußland" zu bringen. 45 Eine gewisse Vermischung von deutschen und russischen Interessen war damit auch für Brandler selbstverständlich, ging es doch um die Fortsetzung der Weltrevolution. Das Scheitern der Märzaktion erklärte er unter anderem mit organisatorischen Mängeln des Parteiapparates und

39 Brandler, Heinrich: Korreferent der Opposition, in: Protokoll der Verhandlungen des Ersten Reichskongresses der Betriebsräte Deutschlands, abgehalten vom 5.-7. Oktober 1920 zu Berlin, in: Reprints zur Sozialgeschichte, hrsg. v. D. Dowe, Berlin/Bonn 1981, S. 210ff.; ders.: Betriebsräte und politische Arbeiterräte, nebst Anhang (Leitsätze über die Aufgaben der Betriebsräte, Organisation der Betriebsräte und Leitsätze für die politischen Arbeiterräte, Rede des Genossen Brandler auf dem 5. Parteitag der KPD(S) in Berlin am 2. November 1920, o.J.; ders.: Gewerkschaften und Betriebsräte, in: Bericht über die Verhandlungen des Vereinigungsparteitages der U.S.P.D.(Linke) und der K.P.D.(Spartakusbund), Abgehalten in Berlin vom 4. bis 7. Dezember 1920, Berlin 1921, S. 155ff. 40 Vgl. Beradt, C.: Paul Levi. Ein demokratischer Sozialist in der Weimarer Republik, Frankfurt/M. 1969, S. 52ff. 41 Vgl. Koch-Baumgarten, S.: Aufstand der Avantgarde. Die Märzaktion der KPD 1921, Frankfurt/M. 1986; Weber, St.: Ein kommunistischer Putsch? Märzaktion 1921 in Mittedeutschland, Berlin 1991. 42 So C. Zetkin zitiert nach: Weber, Ein kommunistischer Putsch?, S. 66. 43 Protokoll der Sitzung des Zentralausschusses vom 17. März 1921, ZPA, 12/1/6, Bl. 8. 44 Brandler bezeichnete 1924 die März-Aktion als "Sturmangriff' auf den Kapitalismus, um die Machtübernahme der KPD beschleunigen zu können. Vgl. Koch-Baumgarten, Aufstand, S. 131. 45 ZPA, 12/1/6, Bl. 9.

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mangelnder Parteidisziplin. Er bezeichnete denjenigen, der behaupte, der Aufstand sei vom EKKI eingeleitet worden, als einen "verlogenen Strolch", womit er für die Zentrale die Hauptverantwortung übernahm. 46 Im April 1921 wurde Brandler verhaftet. Vor Gericht übernahm er auch öffentlich die politische Hauptverantwortung für den gescheiterten Aufstandsversuch. 47 Brandlers Prozeßstrategie zielte darauf ab, einer Verurteilung wegen Hochverrats, d.h. wegen versuchtem Sturz der verfassungsmäßigen Ordnung, zu entgehen. Ihm ging es darum, vom Gericht eine "ehrenhafte Gesinnung" bestätigt zu bekommen, um zu Festungs- statt zu strengerer Zuchthaushaft verurteilt zu werden. Seine Prozeßführung wurde von der Zentrale heftig kritisiert, weil sich Brandler zu sehr auf die formaljuristische Verteidigung beschränke. 48 Das Gericht verurteilte ihn zu fünf Jahren Festungshaft. Aus der Festung Gollnow - von der er im November 1921 aus bisher unbekannten Gründen in die Sowjetunion fliehen konnte 49 - kritisierte er, daß sich - im Gegensatz zu ihm - Teile der Partei noch immer nicht von einer aktionistischen Politik gelöst hätten: Der gegenwärtig kampfunfähigen Arbeiterklasse gelte es, den Glauben beizubringen, "daß die KPD fähig und gewillt ist, den Kampf anzuführen. Nach der Märzaktion hat sich in Teilen der Partei immer mehr das Bestreben geltend gemacht, die eigene Schwäche durch radikalseinwollende Redensarten zu vertuschen. Das muß aufhören. Wir täuschen damit nicht den Gegner, sondern nur uns selbst. Die sterile Methode, bei allen auftauchenden Fragen eine Antwort zu geben, was zu tun ist, wenn wir die Macht hätten, schafft uns kein Quentchen Macht. Die Partei hat versäumt, an das Konkrete anzuknüpfen.'"50 Im September 1922 kehrte Brandler nach Deutschland zurück und übernahm erneut die Führung der KPD. 51 Der VIII. Parteitag der KPD Anfang 1923 bestätigte ihn mit großer Mehrheit in dieser Funktion. Die Beschlußlage des IV. Kongresses der Komintern und des Leipziger Parteitages der KPD erforderte, Einheitsfront und Arbeiterregierung als grundlegende Voraussetzungen zur Vorbereitung der Revolution politisch umzusetzen. Brandler sah im permanenten Quertreiben der innerparteilichen Opposition, die sich vor allem in den Führern der größten kommunistischen Bezirksorganisation (BO) Berlin-Brandenburg, R. Fischer und A. Maslow, personifizierte, ein starkes Hindernis für diese Aufgabe. Die Auseinandersetzungen zwischen der von Brandler geführten Zentrale und der "linken Opposition" lähmte die Aktionsfähigkeit der KPD und barg die akute Gefahr einer Parteispaltung in sich. Beide Seiten beschwerten sich ständig wechselseitig und baten beim EKKI um Unter-

46 Vgl. Koch-Baumgarten, Aufstand, S. 334. 47 Der Hochverratsprozeß gegen Heinrich Brandler vor dem außerordentlichen Gericht am 6. Juni 1921 in Berlin, Leipzig-Berlin 1921, S. 8. 48.Siehe hierzu: Brandler, Berlin, den 17. Juni 1921, an die Zentrale der KPD, ZPA, I 2/2/29, Bl. 5-6; Bericht der Sitzung der Zentrale vom 30.7.1921, ZPA, I 2/2/13, BI. 271; Sitzung der Zentrale vom 21.12. 1921, ZPA, I 2/2/13, Bl. 448-450. 49 Weber, Wandlung, 2, S. 85. 50 H. Brandler, Gollnow, den 1. August 1921, An den Zentralausschuß der VKPD, ZPA, 12/2/29, B. 7-14. 51 Als gesichert gilt Brandlers Abreise aus der Sowjetunion im Juli 1922. Offenbar weilte er bis September in der CSR, wo er wahrscheinlich als Berater der tschechischen Parteiführung fungierte. S.: Brandler an Deutscher am 12.1.1959, in: Weber, Unabhängige Kommunisten, S. 179; ders., Wandlung, Bd. 2, S. 85.

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Stützung.52 Das Resultat war die von allen geforderte "Verständigungskonferenz" Ende April/Anfang Mai 1923 in Moskau 53 . Für die Zentrale nahmen H. Brandler und P. Böttcher, 52 Zu den Differenzen innerhalb der KPD bis zur Moskauer Verhandlung siehe u.a.: aus Sicht der Zentrale: A. Thalheimer, Berlin, am 2.2.1923 an K. Radek, ZPA, I 6/3/125, Bl. 5-7; H. Brandler, Polbüro, Berlin, An die deutsche Delegation, z.H. des Gen. Hörnle, Moskau, den 16.2.1923, ZPA, I 2/3/203, Bl. 8-10 und den 23.2.1923, ebenda, Bl. 12-15; H. Brandler, Polbüro, Berlin, 12.3.1923, An die Exekutive der Komintern, Moskau, ZPA, I 2/3/208, Bl. 404-415; H. Brandler, Polbüro, Berlin, den 16.3.1923, An die Deutsche Delegation, z.H. Gen. Hörnle, Moskau, ZPA, I 2/3/203, Bl. 34-37; A. Thalheimer, Berlin, den 24.3.1923, An K. Radek, ZPA, 16/3/125, Bl. 8-11; Protokoll der Pol-Bürositzung vom 27.3.1923, ZPA, I 2/3/3, Bl. 96-101; Protokoll der Zentrale-Sitzung vom 28.3.23, ZPA, I 2/2/15, Bl. 95-100; E. Hoernle. Deutscher Referent beim EKKI, Moskau, den 23.4.23, Material zum Parteikonflikt in der K.P.D., ZPA, I 6/10/7, Bl. 189-204, 214-222; aus Sicht der Opposition: A. Maslow, Berlin, den 27.2.1923, An den Genossen Radek, ZPA, I 6/3/128, Bl. 14-16; Bezirksleitung Berlin-Brandenburg, Berlin, den 2.3.1923, An den Genossen Sinowjew, Moskau, ZPA, I 6/3/128, Bl. 5-10; A. Maslow, Berlin, den 6.3.1923, An die Redaktion der "Kommunistischen Internationale", in der Anlage: A. Maslow (Berlin), Die taktischen Differenzen in der KPD, erläutert an den Thesen der Mehrheit und der Minderheit des Leipziger Parteitages, ZPA, I 6/3/128, Bl. 18-31; R. Fischer, Berlin, den 29.3.1923, An N. I. Bucharin, ZPA, I 6/3/128, Bl. 34-35; N. N. (wahrsch.: A. Maslow), Berlin 29.3.1923, An K. Radek, ZPA, I 6/3/128, Bl. 36; A. Ewert, H. Pfeiffer, G. Eisler, H. Neumann, Berlin, den 8.4.1923, An die Exekutive der Komintern, z.H. des Genossen Sinowjew, Moskau, ZPA, I 6/37125, Bl. 12-15; diess., Zur Lage und den Aufgaben der Partei (10.4.1923), ZPA, I 2/3/62a, Bl. 15-23; Skizze der Berliner Delegation nach Moskau, den 21.4. 1923, Angenommen vom Berliner Zentralvorstand in der Sitzung vom 18.4.1923 mit (?) 4 gegen 10 Stimmen, ZPA, I 6/3/117, Bl. 27-33 (der Entwurf dazu: R. Fischer, A. Maslow, Skizze zu Richtlinien für die Berliner Delegation nach Moskau, vorgelegt dem Z. V., Berlin, den 17.4.1923, ZPA, I 6/3/128, Bl. 42-48), aus Sicht des EKKI: K. Radek, Die innere Lage der deutschen Partei (Bericht in der Sitzung des EKKI vom 10.2.1923), ZPA, I 6/10/4, Bl. 3-23; Protokoll Nr. 18 der Sitzung des Präsidiums des Exekutiv-Komitees der Kommunistischen Internationale vom 4.4.1923, Beilage zum Protokoll, Stenogramm der Diskussion über die deutsche Frage, ZPA, I 6/10/7, Bl. 180, 11-30; G. Sinowjew, Moskau, den 4.4. 1923, an C. Zetkin, Berlin, ZPA, I 6/3/93, Bl. 26-31. 53 Brandler wünschte ausdrücklich eine "Verständigung mit der Opposition" (was ihm im Polbüro vorgeworfen wurde; siehe hierzu: ZPA, I 2/3/3, Bl. 99; ZPA, I 2/2/15, Bl. 97), die ihm aber ohne die Bereitschaft Maslows dazu nicht realisierbar schien: "Maslow ist der unbestrittene Führer, der am konsequentesten und schärfsten den Standpunkt der Opposition vertritt. Wenn wir zu einer Verständigung mit der Opposition kommen sollten, und das wollen wir, dann ist dies nur möglich, wenn Maslow unter dem Einfluß der Exekutive sich bereiterklärt, für die Verständigung zu wirken, und wenn er ein solches eventuell erreichtes Versprechen auch hält. Das ist dringend nötig, sonst geht es ohne großen Krach, der bis zur Spaltung in Berlin führen kann, nicht mehr ab." Zweifel an der Fähigkeit, das Problem intern zu lösen, ließen Brandler eine schnellstmögliche Aussprache in Moskau anstreben. Da vom 17. bis 25.4.1923 in Moskau der XII. Parteitag der KPR (b) stattfand, in dessen Vorbereitungsphase Brandler eine gründliche Aussprache erfahrungsgemäß für unmöglich hielt, wünschte er eine Verlegung der Aussprache auf unmittelbar nach den Parteitag. (ZPA, I 2/3/203, Bl. 34). Offensichtlich um nicht zuviel Zeit verstreichen zu lassen, versuchte die Zentrale nochmals allein mit der Opposition eine Lösung zu finden - allerdings vergeblich. S. hierzu: Protokoll der Sitzung der Zentrale mit den Vertretern der Berliner Bezirksleitung vom 5.4.1923, ZPA, I 2/2/3, Bl. 2-45; Protokoll der Kommissionssitzung mit den Hamburger Vertretern vom 6.4.1923, ebenda, Bl. 47-80; Protokoll der Sitzung der Verhandlungskommission der Zentrale mit den Vertretern der Bezirke Wasserkante, Berlin-Brandenburg, Rheinland vom 7.4.1923, ebenda, Bl. 103-196; Protokoll der Zentrale-Sitzung vom 11.4.1923, ZPA, I 2/2/15, Bl. 117-125; Protokoll der Sitzung der Redakteur- und Bezirkssekretärkonferenz vom 16.4.1923, ZPA, I 2/2/3, Bl. 198-231. - Stenographisches Protokoll der Sitzung des Präsidiums der Exekutive der K.I. mit der deutschen Delegation

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für die Opposition R. Fischer, A. Maslow, E. Thälmann und G. Eisler teil. 54 Eine vom Präsidium des EKKI gebildete "Verhandlungskommission" akzeptierte die Standpunkte beider Gruppierungen, um eine Parteispaltung zu verhindern. Dieser Kompromiß bedeutete letztlich einen Rückschlag für Brandler, denn er forderte, vier Vertreter der Linken in die Zentrale aufzunehmen und künftig auch bei Meinungsverschiedenheiten geschlossen aufzutreten.55 Brandler lehnte diesen von ihm als "Pferdefuß" bezeichneten Kompromiß zunächst ab, beugte sich jedoch "unter der Bedingung, daß in den nächsten Monaten die Zusammenarbeit in erträgliche Bahnen gelenkt [...] und [...] zur völligen Entgiftung der Atmosphäre und Herstellung eines wirklichen Vertrauensverhältnisses zwischen Opposition und der Parteimehrheit ausgenutzt werden sollte". 56 Der ZA der KPD wählte auf Grundlage des in Moskau getroffenen Kompromisses auf seiner Sitzung am 17. Mai 1923 R. Fischer, O. Geschke, A. König und E. Thälmann in die Zentrale der KPD. 57 Die Hoffnung, auf diesem Wege die Meinungsverschiedenheiten zu überbrücken, erfüllten sich nicht. Im Gegenteil - insbesondere in Fragen der gegenüber der sächsischen Landesregierung einzuschlagenden Politik kam es im Sommer 1923 zu erheblichen Spannungen. 58 Vor allem Brandler und Böttcher, die in der von Dr. E. Zeigner geführten SPD-Minderheitsregierung ein Bollwerk gegen die sich vor allem in Bayern formierenden faschistischen Verbände und in Sachsen den Ausgangspunkt für alle weiteren "Aktionen im Reich" sahen, befürworteten eine solide Tolerierungspolitik. Dagegen forderte die Opposition den Sturz der sächsischen Minderheitsregierung. Brandler verlangte vom EKKI eine Grundsatzentscheidung, um ohne ständige Störmanöver der Opposition handeln zu können. Daher seine wüten-

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vom 27.4.1923, vormittags 27.4.1923, nachmittags], 28.4.1923, 4.5.1923, ZPA, I 6/10/7, Bl. 50-160; dazu: Protokoll Nr. 19 der Sitzung des Präsidiums des E.K.K.I. vom 28.4.1923, ebenda, Bl. 46-47. H. Brandler, Polbüro, Berlin, 13.4.1923, An die Exekutive der Komintern, ZPA, I 2/3/208, Bl. 420-422. - Brandler avisierte als Vetreter der Zentrale noch W. Stoecker, der an den Verhandlungen jedoch nicht teilnahm. An den Beratungen waren als Vertreter der KPD noch vertreten: E. Hoemle (Mitglied der Zentrale der KPD und als Kandidat des Präsidiums deutscher Vertreter beim EKKI), sein Stellvertreter H. Moeller sowie A. Enderle (deutscher Vertreter bei der Profintern, der Roten Gewerkschaftsinternationale), die alle Anhänger Brandlers waren. ZPA, I 6/10/7, Bl. 157. - S.: Das Exekutivkomitee der K.I., Resolution zu den Differenzen in der deutschen Partei (Nicht endgültige Formulierung! Streng vertraulich!), ZPA, I 6/10/7, BI.233-239; die vom EKKI geforderte Erklärung der Opposition, datiert Moskau, den 4.5.1923, und unterzeichnet von R. Fischer, E. Thälmann und A. Maslow, ZPA, I 6/3/117, Bl. 35; Resolution des EKKI, der Vertreter der Zentrale der KPD und der linken Opposition von Anfang Mai 1923 zu den taktischen Differenzen in der KPD, in: Die Rote Fahne, Nr. 107 v. 13.5.1923, auch: DuM, Bd. VII/2, S. 301-309. H. Brandler, Moskau, 2.5.1923, An die Zentrale der KPD, Berlin, ZPA, I 2/3/203, Bl. 80f. Die von der Kommission geführten Gespräche mit den beiden deutschen Delegationen wurden nicht protokolliert, sodaß der Brief Brandlers, geschrieben vor der abschließenden Sitzung der "Verständigungskonferenz" als einziges verfügbares Dokument einen Eindruck vom Verlauf der internen Verhandlungen vermittelt. Zur Durchsetzung des EKKI-Beschlusses war Radek nach Berlin gekommen, nahm allerdings nur an der den Zentralausschuß vorbereitenden Zentralesitzung teil, nicht am Zentralausschuß selbst. Vgl.: Brandler, Berlin, den 19.5.1923, An die Deutsche Delegation, z.H. d. Gen. Hoemle und Enderle, Moskau, ZPA, I 2/3/203, Bl. 88. Die Erweiterung der Zentrale durch die vier Vertreter der Opposition ist in der einschlägigen Literatur auf Grundlage der R.F., Nr. 111 v. 18.5.1923 übereinstimmend dokumentiert. H. Brandler, Berlin, am 13.6.1923, An die Deutsche Delegation, z.H. d. Gen. Hömle, Moskau, ZPA, I 2/ 3/203, Bl. 105-107; H. Brandler, Berlin, am 16.6.1923, An die Deutsche Delegation, z.H. d. Gen. Hörnle, Moskau, ZPA, 12/3/203, Bl. 108-111.

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de Forderang an den KPD-Delegierten beim EKKI, Hoernle, dafür zu sorgen, daß die Berliner "eins aufs Maul bekommen". 59 Unerwartet erhielt die Opposition jedoch Rückendeckung durch Komintern-Chef G. Sinowjew und vom Deutschlandexperten der KI, K. Radek. 60 Den Anlaß für die folgende Kontroverse zwischen Brandler und dem EKKI-Präsidium gab das brutale Vorgehen der Polizei gegen Demonstranten Ende Mai/Anfang Juni in mehreren sächsischen Städten, bei dem in Leipzig neun Tote und über 100 Verletzte zu beklagen waren. Opposition und EKKI machten die Zeigner-Regierung dafür verantwortlich. Mit ihrer bloßen Mitarbeit im parlamentarischen Untersuchungsausschuß laufe die KPD Gefahr, in eine "reformistische Anwendung" der Einheitsfronttaktik abzugleiten. Wenn die KPD die sächsische Regierung weiter stütze, mache sie sich mitschuldig an vergossenem Arbeiterblut und stärke damit faktisch den Faschismus. Sinowjew stimmte den Auffassungen der linken Opposition grundsätzlich zu und kritisierte lediglich deren Polemik gegen die Brandler-Zentrale.61 Die von Radek und ihm verlangte scharfe Vorgehensweise gegen die sächsische Landesregierung resultierte aus der Einschätzung, Deutschland befände sich "bereits am Vorabend bewaffneter Kämpfe". 62 Brandler entgegnete, diese Einschätzung entspreche nicht den realen Machtverhältnissen. Offensichtlich sei die Moskauer Führung "vollkommen nervös geworden". Er ersuchte Hoernle und C. Zetkin, "alles zu tun, damit sie [die russische Führung - d.V.] uns nicht das Porzellan zerbrechen". 63 Erbost warf er Radek, der an einer ultimativen Vorgehensweise gegen die Zeigner-Regierung festhielt, Unkenntnis der Lage und Überheblichkeit vor: "Ein bißchen mehr Vertrauen in die richtige Erkenntnis dessen, was not tut, um unsere Bewegung vorwärts zu bringen, wäre manchmal besser, als wie hochfahrendes Absprechen". 64 Unmißverständlich machte Brandler deutlich, daß er nicht bereit war, eine Politik durchzuführen, die er für falsch hielt - es sei denn, es liege ein verbindlicher Beschluß der übergeordneten Leitung vor.

59 ZPA, 12/3/203, Bl. 109. 60 Am Morgen des 28. Juni 1923 fand eine Besprechung der zur Erweiterten Tagung des EKKI (12.-23.6. 1923) in Moskau weilenden deutschen Delegation mit den russischen Mitgliedern des EKKI zur Lage in Deutschland statt, woran teilnahmen: C. Zetkin E. Hoernle, A. Ewert, P. Böttcher, G. Sinowjew, K. Radek, N. I. Bucharin und O. Pjatnitzki. Vgl. hierzu: K. Radek, Moskau, 28.6.1923, An die Zentrale der KPD, Berlin, Z P A I 6/1053, Bl. 138-141; P. Böttcher, Moskau, 28.6.1923, An die Zentrale der K.P.D., Pol-Büro, Berlin, ZPA, I 6/3/115, Bl. 82-85 (auch: RCChrlDnl, 495/292/4, Bl. 218f.); P. Böttcher, Moskau, 28.6.1923, An Gen. H. Brandler, Berlin, ZPA, I 6/3/115, Bl. 86-89 (auch: RCChrlDnl, 495/ 292/4, Bl. 220-221); H. Brandler, Polbüro, Berlin, 30.6.1923, An Gen. K. Radek, Moskau, ZPA, I 2/3/ 208, Bl. 430-432; E. Hoernle, Moskau, 2.7.1923, An das Pol-Büro, z.H. Gen. Brandler, Berlin, I 6/3/ 120, Bl. 3-5 (auch: RCChrlDnl, 495/292/4, Bl. 225-226); H. Brandler, Polbüro, Berlin, 2.7.1923, An Gen. Zetkin u. Gen. Hörnle, Moskau, ZPA, I 2/3/203, Bl. 121; K. Radek, Moskau, 5.7.1923, an H. Brandler, ZPA, I 6/3/93, Bl. 55-56; E. Hoernle, Moskau, 5.7.1923, An Gen. Brandler, Pol-Büro, Berlin, ZPA, I 6/3/ 120, Bl. 1-2; J. Walcher, A. Enderle, Moskau, 9.7.1923, RCChrlDnl 495/292/4; H. Brandler, Polbüro, Berlin, 12.7.1923, An die Deutsche Delegation, z.H. Gen. Hörnle, Moskau, ZPA, I 2/3/ 203, Bl. 139-141; H. Brandler, Polbüro, Berlin 12.7.1923, An Gen. K. Radek, Moskau, ZPA, I 2/3/208, Bl. 436-441; K. Radek, Moskau, 12.7.23, An die Zentrale der K.P.D., Berlin, ZPA, I 6/3/93, Bl. 63-65. 61 ZPA, 16/3/115, Bl. 88. 62 ZPA, I 6/3/120, Bl. 3f. 63 ZPA, 12/3/208, Bl. 430; I 2/3/203, Bl. 121. 64 ZPA, 12/3/208, Bl. 432.

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Die Auseinandersetzung verdeutlicht, daß Brandler nicht nur der "Mann der Komintern" war, zu dem er von Teilen der Geschichtsschreibung bis heute gemacht wird. 65 Es zeigt sich, was im Verlauf der Ereignisse noch deutlicher wird: Brandler sah sich im Sommer 1923 dem permanenten Druck des EKKI ausgesetzt, die Entwicklung in Deutschland in Richtung eines Entscheidungskampfes zu forcieren. Doch gerade wegen seiner Erfahrungen aus dem Jahr 1921 wandte er sich energisch gegen putschistische Abenteuer. Zu schnelles Vorgehen würde die kommunistische Bewegung in eine nicht mehr rückgängig zu machende Niederlage führen. Daher opponierte er zunächst gegen die Moskauer Aufstandsplanung: "Wir haben gewiß eine objektiv sehr günstige Lage. [...] Wir sind ideologisch und organisatorisch als Partei so stark, wie wir es noch nie waren. Und ich glaube, Ihr begreift etwas die Sorge, die wir haben, wenn wir der Meinung sind, daß Ihr durch Eure falsche Beurteilung der Lage uns die gute Entwicklung zerschlagt." - "Einen Aufstand provozieren, ist jetzt keine Kunst. Wir wollen aber mehr. Wir wollen uns auf den Bürgerkrieg so vorbereiten, daß er nicht mit einer fürchterlichen Niederlage für uns endet, sondern daß wir dabei einen Schritt vorwärts kommen. Was Ihr von uns verlangt, wäre in der Konsequenz viel verhängnisvoller wie die Märzaktion." 66 Brandler hatte schließlich den Verdacht, daß das EKKI ihm gegenüber ein doppeltes Spiel treibe: Zwar stütze es offiziell seine Parteiführung, da es aber fürchte, er könne sich als "Reformist" entpuppen, halte es sich die Berüner Opposition in der Hinterhand. Deshalb bot er am 12. Juli 1923 seinen Rücktritt vom Parteivorsitz an: "Wenn die politische Linie der Berliner richtig ist, dann soll die Exekutive ihnen die Führung der Partei übertragen." 67 Sowohl Radek als auch Hoernle widersprachen diesem Verdacht. 68 Die spätere Entwicklung zeigt jedoch, daß Brandlers Einschätzung, das EKKI sympathisiere mit der Opposition, zumindest auf Sinowjew zutraf. 69 Die Differenzen über die einzuschlagende Taktik wurden nicht völlig ausgeräumt. In der Praxis setzte die KPD ihre Tolerierungspolitik gegenüber der sächsischen Landesregierung fort. Offenbar konnte sich zu diesem Zeitpunkt Brandler gegenüber dem EKKI durchsetzen. Dagegen löste Radeks "Schlageter-Rede" vom 21. Juni 1923 70 , jener Höhepunkt der nationalbolschewistischen Taktik, mit der die KPD nach "rechts" geöffnet werden sollte, in den Führungsgremien der kommunistischen Bewegung weniger Dissens aus. Vielmehr deutet vie65 So u.a. Winkler, Heinrich August: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918 bis 1924, Berlin/Bonn 1984, S. 563. 66 ZPA, I 2/3/208, Bl. 432,431. 67 ZPA, 12/3/203, Bl. 139f.; ZPA, 12/3/208, Bl. 438. 68 K. Radek, Moskau, am 15.7.1923, an H. Brandler, ZPA, I 6/3/93, Bl. 66-69; E. Hoernle, Moskau, den 15.7.1923, An den Genossen Brandler, Berlin, ZPA, 16/3/120, Bl. 9-12; 69 In der Auseinandersetzung ist zu beachten, daß das Verhältnis zwischen Brandler und Radek ein anderes war, als das zwischen Brandler und Sinowjew: Brandler und Radek, die sich bereits aus ihrer gemeinsamen Bremer Zeit kannten, hatten ein offenes, vertrauensvolles und auch bei Meinungsverschiedenheiten freundschaftliches Verhältnis zueinander, was in einer Vielzahl sehr persönlicher Zwischenbemerkungen in den Briefen deutlich wird. Demgegenüber war das Verhältnis zwischen Brandler und Sinowjew respektvoll, aber kühl und distanziert, zunehmend mehr oder weniger von Mißtrauen bestimmt. 70 Vgl. Protokoll der Konferenz des EKKI, Hamburg 1923, S.240-245; vgl. a. Dupeux, Louis: Nationalbolschewismus in Deutschland 1919-1933. Kommunistische Strategie und konservative Dynamik, Frankfurt/M. 1985, S. 186ff.

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les darauf hin, daß die von Radek geforderte Ausnutzung nationalistischer Stimmungen zur Gewinnung von Bündnispartnern in allen Bevölkerungsschichten, vor allem bei den Mittelschichten, schon vor seiner Rede im Führungszirkel der KPD weitgehend unumstritten war. 7 l Laut Brandler war die Wirkung der Schlageter-Rede innerhalb der KPD alles in allem gut. So habe er "in allen Berliner Mitgliederversammlungen, auch im Reich, unseren Proleten und auch den SPD-Arbeitern in fünf Minuten begreiflich machen können, um was es sich [bei der Schlageter-Rede. d.V.] handelt". Doch gebe es auch Einwände - insbesondere von der Berliner Führung um Ruth Fischer, die aber lediglich taktischer Natur seien. 72 Bei "leitenden Faschistenkreisen" - Brandler spielt auf nationalrevolutionäre Sympathisanten, etwa auf General Lettow-Vorbeck, an - herrsche hingegen "Verwirrung", die der KPD nutzen könnte. 73 Eine sichtbare Konsequenz des Schlageter-Kurses war denn auch die partielle Kooperation einer Minderheit aus dem nationalrevolutionären bzw. faschistischen Dunstkreis mit der KPD. Einige davon, wie Hans von Hentig, zu dem Brandler schon seit 1921/22 Kontakt hatte, unterstützten seit Sommer 1923 aktiv die Planungen zum "deutschen Oktober". 74 Die Unfähigkeit von Politik und Wirtschaft, den Ruhrkonflikt und die sozioökonomische Krise (Hyperinflation, Pauperisierung und Bankrott der Staatsfinanzen) zu beenden, stieß zunehmend auf Widerstand aus allen Bevölkerungsschichten. Das äußerte sich sowohl in einem Erstarken der nationalistischen Bewegungen bis hin zu Separationsbestrebungen im Rheinland und in Bayern als auch in vereinzelten Streikaktionen der Arbeiterschaft. In beiden Bewegungen waren in starkem Maße auch die kleinbürgerlichen Mittelschichten involviert. Die KPD führte am 29. Juli 1923 einen reichsweiten "Antifaschistentag" durch, auf dem sie nach Brandlers Auffassung zwei Aufgaben zu erfüllen hatte: "Wir müssen ideologisch um SPDArbeiter und Kleinbürgermassen kämpfen. Wir müssen ihnen aber auch mit der anderen Hand den Knüppel zeigen." 75 In der sich weiter komplizierenden Situation tagte am 5. und 6. August 1923 in Berlin der ZA der KPD. 7 ^ Brandler stellte in seinem Hauptreferat folgende Aufgaben in den Mittelpunkt: "rasche Herstellung der proletarischen Einheitsfront zur Eroberung der politischen Macht, Kampf zum Sturz der Cunoregierung, Verhinderung jeder neuen Koalitionsregierung und Bildung einer Ar[beiter]- und Bauernregierung." Diese Ziele seien nur mittels einer Kombination von parlamentarischen und außerparlamentarischen Forderungen zu erreichen: Reichstagsauflösung und Reichsbetriebsrätekongreß. Erstere sollte mit dem Programm einer Arbeiter- und Bauemregierung inklusive Sachwerterfassung, Produktionskontrolle, Entwaffnung der faschistischen/nationalistischen Verbände und Bewaffnung der proletarischen 71 72 73 74 75

Hoernle - Brandler, 18.6.1923, ZPAI 6/3/115, Bl.74-78. Brandler-Radek, 12.7.1923, ZPA 12/3/208, Bl. 438f. Ebenda, Bl. 440f. Dupeux, a.a.O., S.169 und 202f. H. Brandler, Berlin, den 18.7.1923, an den Gen. Karl Radek, Moskau, ZPA, I 2/3/208, Bl. 448-450; eine Kopie des Briefes schickte Brandler auch an Hoernle: H. Brandler, Berlin, den 18.7.1923, An die Deutsche Delegation, zu Händen des Gen Hoernle, Moskau, ZPA, I 2/2/203, Bl. 151-153. 76 Stenographisches Protokoll der 2. Tagung des Zentralausschusses der KPD am 5./6.8.1923, ZPA, I 2/1/ 18, Bl. 60ff.; eine Zusammenfassung der Tagung für das EKKI: H. Möller, Deutscher Referent, o.O.u.D. (Moskau, vor dem 11.8.1923), Die Tagung des Zentralausschusses der KPD am 5V6.8.23, ZPA, I 6/3/ 119, Bl. 92-95; H. Brandler, Polbüro, Berlin, 8.8.1923, An die Exekutive der Komintern, ZPA, I 2/3/ 208, Bl. 458-459.

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Kampforganisationen verbunden werden. Die außerparlamentarische Schiene sollte vom Reichsbetriebsrätekongreß maßgebliche Impulse bekommen. Von diesem Paket erhoffte sich Brandler eine mobilisierende Wirkung auf die Massen. Für ihn war der Bürgerkrieg unvermeidlich, und die Partei müsse nun die Machtfrage stellen. Die von der Arbeiterschaft in den Wirtschaftsstreiks gezeigte Aktionsbereitschaft und die in Bewegung geratenen Mittelschichten, sonst auf "Ruhe und Ordnung" bedacht, seien untrügliche Zeichen für eine Zuspitzung der Situation. Daraus ergäbe sich nur eine Alternative: Revolution oder Konterrevolution. An die Adresse der Opposition gerichtet, betonte er, daß die "unmittelbare Aufgabe der Massenkämpfe [...] im Augenblick nur die Arbeiter- und Bauernregierung" sein könne, die zwar noch keine Form der proletarischen Diktatur, aber auch keine "Art von parlamentarischer Regierung" mehr sei. Brandler widersprach der Opposition, die statt der Losung "Arbeiterund Bauernregierung" die der "Diktatur des Proletariats" bzw. der KPD forderte. Das sei eine "gefährliche Dummheit", welche die KPD in eine "furchtbare Niederlage" führen würde, da sie die notwendige Einheit der Arbeiterschaft sowie die Gewinnung der städtischen und ländlichen Mittelschichten gefährde. Seine Auffassung, daß sich ansonsten die Differenzen mit der Opposition abgeschwächt hätten, erwies sich als trügerisch. Eine Zuspitzung der Differenzen zwischen Zentrale-Mehrheit und Opposition erfolgte bereits während des sog. Cuno-Streiks. Nach dem Cuno-Streik verteidigte Brandler die abwartende Haltung der Parteiführung. 77 In seiner Begründung wird der Gegensatz zwischen ihm und der linken Opposition sowie der russischen Führung über die Durchführbarkeit eines geplanten Aufstandes in Deutschland deutlich: Eine Revolution lasse sich nicht bzw. nur bedingt "organisieren". Grundlage der proletarischen Revolution sei zunächst eine spontane Reaktion der Massen auf die Krise. Erst wenn die Massen ein bestimmtes Maß an Aktivität erreichten, könne die kommunistische Partei lenkend eingreifen und die Führung der Bewegung übernehmen. Also nicht avantgardistisches Vordrängen, auch auf die Gefahr einer Niederlage hin, sondern Kampf auf wirklicher Massenbasis. Sowohl für die Opposition als auch für die Führer der russischen Partei - bei aller sonst gegebenen Differenz - war die proletarische Revolution prinzipiell organisierbar, weshalb für sie die Frage der Maximalforderungen und die der materiell-technischen Aufstandsvorbereitungen (bis hin zur Terminsetzung) im Vordergrund standen. Brandler faßte seine Auffassung der Situation und die einzuschlagende Parteilinie am 28. August 1923 gegenüber dem EKKI zusammen: "Die Lebensdauer der Stresemannregierung wird nicht allzu groß sein. Trotzdem glaube ich nicht daran, daß die nächste Welle, die bereits im Anzug ist, schon die Machtfrage entscheidet. Weder hat die Bourgeoisie die Kraft, 77 Unmittelbares Ergebnis des Generalstreiks war der Rücktritt der Regierung Cuno am 11.8.1923 und die Konstituierung der Großen Koalition mit G. Stresemann (DVP) an der Spitze. Auf den Verlauf der Cuno-Streik-Bewegung und dessen Auswertung durch die KPD-Führung kann hier nicht näher eingegangen werden, es liegen jedoch auch hierzu interessante Materialien im ZPA vor, wovon u.a. zu nennen sind: Polbürositzung v. 14.8.1923, ZPA, I 2/3/3, Bl. 231f.; Polbürositzung v. 17.8.1923; ebd., Bl. 233f.; Polbüro-Sitzung v. 21.8.1923, ebd., Bl. 235-238; H. Brandler, Berlin, 20.8.1923, An die Deutsche Delegation, z.H. Gen. Hörnle, Moskau, ZPA, I 2/3/203, Bl. 162; H. Möller, Deutscher Referent, o.O.u.D. (Moskau, nach dem 15.8.1923), Bericht über die Massenstreikbewegung vom 8.-15.8.1923; ZPA, I 6/3/ 119, Bl. 86-91; Protokoll der Konferenz der Zentrale der KPD mit den Bezirkssekretären und Redakteuren v. 24.8.1923 in Leipzig, ZPA, 12/2/3, Bl. 235ff.

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jetzt die Stinnesdiktatur aufzurichten, noch wir, die Arbeiter- und Bauernregierung zu schaffen. Ich halte Zwischenlösungen, wie Kleine Koalition oder gar sozialistische Regierung im Reich mit Reichstagsauflösung, für möglich, ja sogar für wahrscheinlich. Trotzdem haben wir uns aufgrund unserer Beratungen so eingestellt, daß wir einmal versuchen, unsere Kräfte so zusammenzureißen, daß wir, wenn wir nicht ausweichen können, in 6 Wochen den Kampf aufnehmen können, gleichzeitig stellen wir uns aber so ein, daß wir mit soliderer Arbeit in einem Zeitraum von 5 Monaten fertig sind. [...] Wenn ich auch - und mit mir alle anderen Genossen der Zentrale - eine Frist von 6-8 Monaten für wahrscheinlich halte, so müssen wir natürlich damit rechnen, daß uns die Dinge früher kommen. Wir werden in keinem Fall überrascht sein, aber wir werden alles tun, was in unseren Kräften steht, um von uns aus die Dinge nicht zu forcieren, denn jetzt ist es tatsächlich so, daß der Zeitgewinn für uns günstig ist. Durch den Generalstreik ist jetzt eine psychologische Einstellung nicht nur unserer Parteigenossen, sondern der breiten Arbeiterschichten geschaffen worden, die es uns möglich macht, Vorbereitungen zum Bürgerkrieg [...] zu treffen." 78 Diese Frist von sechs bis acht Monaten für den Beginn der entscheidenden Kämpfe stieß sofort auf Widerspruch bei Opposition und Kominterführung.79 Die russischen Kominternführer erwarteten aufgrund der aus Deutschland eintreffenden Meldungen eine wesentlich schnellere Zuspitzung der Situation. Radek hatte Brandler bereits am 10. August aufgefordert, umgehend bis spätestens zum 17. August gemeinsam mit R. Fischer zur Beratung der in Deutschland anstehenden Aufgaben nach Moskau zu kommen. Trotz Radeks Anmahnung, selbst Sinowjew und Trotzki würden wegen der Dringlichkeit ihren Urlaub unterbrechen und teilnehmen, lehnte Brandler die Reise nach Moskau zu diesem Zeitpunkt ab, weil seine Anwesenheit zur Zeit in Deutschland wichtiger sei. Brandler reiste erst am 14. September von Berlin ab, fuhr mit dem Dampfer von Stettin nach Petrograd und kam am 17. September in Moskau an. 8 0 Nach seiner Ankunft führte Brandler gemeinsam mit H. Eberlein und E. Thäl78 Brandler, Berlin, 28.8.1923, An die Exekutive der Komintern (Abschrift), ZPA, I 2/3/208, Bl. 475-476. 79 R. Fischer bezeichnete die Fristsetzung auf der Polbürositzung am 21.8., wo Brandler sie zum ersten Mal nannte, als "Quatscherei" (ZPA, I). Hoernle teilte ihm mit, daß den russischen Parteiführern, und auch ihm selbst, die von Brandler getroffene "Schätzung von 6-8 Monaten" als "etwas weit gesteckt" erscheine. E. Hoernle, Moskau, 27.8.1923, An Gen. Brandler, Berlin, ZPA, I 6/3/126, Bl. 119-120. Hoernles Brief scheint das einzige im Moment verfügbare originäre Dokument über die seit Bajanows Darstellung (Bajanow, B.: Stalin, der rote Diktator, Berlin 1931) durch die Geschichtsschreibung geisternde "Geheimsitzung" des russischen Politbüros am 23.8.1923 zu sein. Brandler traf auch nicht "Ende August oder Anfang September" in Moskau ein, wie das bisher von allen KPD-Forschern angenommen wurde. Diese Annahme beruhte offenbar auf einem Mißverständnis: Bajanow trennte nicht zwischen der genannten "Geheimsitzung" und den späteren Beratungen mit Vertretern der Zentrale und der Berliner Bezirksleitung (a.a.O., S.122-131). 80 Die bisherige Auffassung, daß Brandler bereits Ende August/Anfang September in Moskau eintraf, bedarf aufgrund der eingesehenen Archivalien dieser Korrektur. Das gilt auch für Brandlers eigene Darstellung gegenüber Deutscher (Weber, Unabhängige Kommunisten, S. 121). Zu Brandlers Reise nach Moskau und seinem dortigen Aufenthalt siehe: H. Brandler, Berlin, 28.8.1923, An die Exekutive der Komintern, a.a.O.; H. Brandler, Berlin, 4.9.1923, An die Deutsche Delegation, z.H. Gen. Hörnle, ZPA, I 2/3/ 203, Bl. 173-175; H. Brandler, Moskau, 21.9.1923, An die Zentrale der KPD., Berlin, z.H. Gen. Koenen, ZPA, I 2/3/203, Bl. 194f; H. Brandler, Moskau, 24.9.1923, An die Zentrale der KPD, Polbüro, Berlin, ZPA, I 2/3/203, Bl. 196-200; Diskussionsbeitrag des Gen. H. Brandler, in: II. Zjazd Komunistycznej Partii Robotnicznej Polski, übers, v. A.-M. Griese, Arbejderbevaegelsens Bibliotek og Arkiv (ABA), K0-

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mann Gespräche mit führenden Kominterfünktionären - von denen es offenbar keine Aufzeichnungen gibt -, nahm kurz am bei Moskau stattfindenden 2. Parteitag der Kommunistischen Arbeiterpartei Polens teil, dessen Delegierte er über die Situation in Deutschland informierte, und wartete sehnsüchtig auf die Anreise der Berliner Delegation, da er schnellstmöglich nach Deutschland zurückkehren wollte. Der sonst eher nüchterne Brandler geriet durch die ihm in Moskau entgegengebrachten Sympathien und Erwartungen offenbar so in Euphorie, daß er sich vom Optimismus der russischen Parteiführer anstecken ließ. Seine Zurückhaltung gegenüber einer kurzfristigen Aufstandsplanung in Deutschland hielt er jedoch aufrecht. Die Ambivalenz wird in seiner Rede vor den polnischen Parteitagsdelegierten deutlich: "Im Augenblick stehen wir in Deutschland unmittelbar vor einer sozialen Revolution. Deutschland wird das zweite Land sein, das in die Weltrevolution eintritt. Ich kann selbstverständlich nicht sagen, wieviel Wochen oder Monate der bisherige Zustand andauern wird. Doch ich bin sicher - bevor wir zum zweiten Male zusammen kommen können, kommt es in Deutschland zu entscheidenden Kämpfen. [...] Es gibt ganze Länder - z.B. Sachsen und Mitteldeutschland -, wo wir uns direkt am Vorabend der Machtübernahme befinden. Doch wir wären nicht imstande, diese Macht zu halten." 81 Die Berliner Delegation, bestehend aus A. Maslow, R. Fischer, M. Hesse und P. Schlecht, kam am 2. Oktober 1923 in Moskau an, und noch am selben Tag begannen die Beratungen. Für die Zentrale der KPD nahmen H. Brandler, C. Zetkin, E. Hoernle und E. Thälmann teil. 82 Brandler forderte auf der ersten Sitzung organisatorische Maßnahmen gegen Maslow und R. Fischer, da sowohl Zentralemehrheit als auch Militärkomitee es mangels Vertrauen ablehnten, die Bürgerkriegsvorbereitungen mit ihnen gemeinsam vorzunehmen. Er verdeutlichte, daß die Differenzen mit der linken Opposition in "normalen Zeiten" binnen eines halben Jahres auszuräumen gewesen wären, nicht aber in einer Phase der Bürgerkriegsvorbereitung. Die Situation sei jetzt die, daß, "wenn wir den Kampf wagen und unterliegen, die Weltrevolution auf 10 bis 20 Jahre zurückgeworfen wird". Das EKKI müsse eine Entscheidung fällen, da die KPD intern nicht zur Konfliktlösung fähig sei. Die Zentralemehrheit akzeptiere jede Entscheidung, auch im Wissen, daß die Niederlage unvermeidlich sei, wenn sie für die Opposition ausfalle. 83 Das EKKI beschloß, keine Änderungen in der Zusammensetzung des Polbüros der KPD vorzunehmen. Dabei hoffte es, daß die Aufstandsvorbereitungen die Parteieinheit stärken würde. Die Zentrale sollte sogar durch drei oppositionelle Vertreter erweitert werden. Brandler betonte zwar, er halte die personelle Entscheidung für falsch, beugte sich aber den gefaßten Beschlüssen mit den Worten: "Nachdem die Entscheidung gefallen benhavn, H. Brandlers Nachlaß, Karton 18; Deutschland am Vorabend der Revolution, Bericht des Gen. Brandler im Vollzugsausschuß der Gewerkschaftsintemationale (Profintern), Petersburger Prawda v. 23. 9.1923, Abschrift, SäHStA Dresden, Gesandtschaft Berlin, Akte Nr. 363, Bl. 37-41; H. Brandler, Moskau, 1.10.1923, An das Polbüro der K.P.D., Berlin, ZPA, 12/3/208, Bl. 493-494. 81 ABA, S. 1,3. 82 Stenographisches Protokoll der Sitzung der Delegation der Zentrale der K.P.D. und der Delegation der Berliner Bezirksleitung mit den russischen Mitgliedern des EK der K.I. vom 2.10.1923, 4.10.1923, 5.10. 1923, ZPA, I 6/10/78, Bl. 1-92; H. Brandler, Moskau, 3.10.1923, An die Zentrale der K.P.D., Polbüro, Berlin, ZPA, I 6/3/126, Bl. 124-125. 83 ZPA, I 6/3/126, Bl. 124; ZPA, I 6/10/78, Bl. 43-47. - Maslow wurde durch eine vom EKKI eingesetzte Kommission zur Klärung gegen ihn erhobener Vorwürfe von den weiteren Verhandlungen ausgeschlossen. Er blieb bis Januar 1924 in Moskau.

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ist, bedarf es keiner Erklärung mehr, daß wir diese Beschlüsse durchführen müssen." 84 Am 4. Oktober faßte Sinowjew den Stand der bisherigen Diskussion für alle Teilnehmer zusammen: Es herrsche allgemeiner Konsens, "daß die revolutionäre Krise in Deutschland herangereift ist und daß jetzt die Frage des bewaffneten Aufstandes und entscheidenden Kampfes eine Tagesfrage geworden ist [...]. Wir haben zu unserer gemeinsamen Orientierung eine Frist gesetzt, weil wir der Meinung sind, daß, wenn alle objektiven Vorbedingungen herangereift sind, es einer revolutionären Partei genügt, sich eine Frist zu setzen zur Vorbereitung aller notwendigen Vorarbeiten. Als eine solche provisorische Frist ist vorgesehen der 9. November." Auf Antrag der Zentrale der KPD wurde beschlossen, eine "Gruppe von Genossen mit großen politischen Erfahrungen und Autorität" sowie "größeren Befugnissen nach Deutschland zu schicken", deren Aufgabe die "Vorbereitung des bewaffneten Aufstandes in einer bestimmten Frist" sei. 85 Die KPD rechnete Anfang Oktober mit einer sich schnell verschärfenden Situation durch die Kräfte der "Konterrevolution", welche sie schnell und trotz mangelhafter technischer Vorbereitung zur Aufnahme von Kämpfen zwingen könnte. Den Eintritt in die Landesregierungen von Sachsen und Thüringen verstand die KPD-Zentrale als den "notwendigen proletarischen Faustschlag auf den Tisch der Bourgeoisie". 86 Daß Brandler von seiner Berufung zum Leiter der sächsischen Staatskanzlei auf der Rückreise nach Deutschland aus einer Zeitung erfahren hat, ist wohl nur eine Anekdote. 87 Er selbst teilte dem EKKI mit, daß er am 9. Oktober "gut angekommen und in Dresden gleich in die Regierungsbildung hineingekommen" sei. 88 Am 10. Oktober 1923 berief Zeigner die KPD-Funktionäre Böttcher und Heckert zum Finanz- bzw. Wirtschaftsminister. An Stelle des ursprünglich geforderten Innenressorts wurde Brandler zum Leiter der Staatskanzlei ernannt. 89 Ob es Zeigner aber wirklich gelang, ihn de facto "noch unter das Niveau eines Sekretärs" zu drücken 90 , ist zweifelhaft. Wenigstens sollte bei solchen Einschätzungen berücksichtigt werden, daß die kommunistischen Regierungsmitglieder lediglich zwei Wochen Zeit hatten, sich in die administrative Arbeit einzufinden und erste eigene Vorstellungen umzusetzen.

84 ZPA, I 6/10/78, Bl. 87, 90. 85 ZPA, I 6/10/78 Bl. 52, 58f. Namen wurden im Protokoll nicht genannt. Brandler nannte die Zahl vier (Bl. 77), letztlich waren zwei EKKI-Vertreter im Herbst 1923 in Deutschland, bei denen es sich wohl um K. Radek und J. Pjatakow handelte. 86 W. Koenen, Berlin, 10.10.1923, An die deutsche Delegation beim E.K. der Komintern, z.H. Gen. Hoernle u. Zetkin, Moskau, ZPA 12/3/203, Bl. 222-225. 87 Deutscher, Isaac: Trotzki, Bd. II, Der unbewaffnete Prophet 1921-1929, Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1972 (2. Aufl.), S. 145. 88 Brandler, Berlin, 14.10.1923, An die Exekutive der Komintern, Moskau, ZPA, 12/3/208, Bl. 503-504. 89 Brandler schrieb in seinem Brief vom 8.12.1954 an Deutscher, er habe bei den Koalitionsverhandlungen mit Zeigner "kategorisch das Innenministerium gefordert", die Verhandlungen endeten mit dem Kompromiß, "daß ich nicht Minister, sondern Staatssekretär beim Ministerpräsidenten werden sollte mit der Vollmacht, daß mir die Polizei unterstellt wird". - S. Weber, Hermann: Unabhängige Kommunisten, Der Briefwechsel zwischen Heinrich Brandler und Isaac Deutscher 1949 bis 1967, Berlin 1981, S. 126. 90 Rudolph, "Rotes Königreich", S. 465.

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Durch die von Reichspräsident und Reichsregierung befohlene Reichsexekutive gegen Sachsen sah sich die KPD-Führung gezwungen, ihre ohnehin überhasteten Kampfvorbereitungen noch zu forcieren. Damit wollte sie der Gefahr vorbeugen, ohne Gegenwehr aktionsunfähig zu werden. Deshalb beschloß die Zentrale der KPD, den unter der Losung "Kampf gegen die wirtschaftliche Not" stehenden Chemnitzer Arbeiterkongreß am 21. Oktober zu nutzen, um zum Generalstreik gegen die Reichsexekutive aufzurufen. Brandler betonte dessen defensiven Charakter: "Ich unterbreite Ihnen einen Antrag, von dem das Schicksal Deutschlands abhängt. Hätte der Generalstreik-Beschluß gestern noch so ausgesehen, als ob die Arbeiterschaft zum Angriff übergegangen wäre, so ist er nach der neuesten Kriegserklärung des General Müller an die sächsische Landesregierung und an das sächsische Proletariat ein Gebot der Selbstverteidigung."91 Brandlers Appell an die SPD-Vertreter, dem Aufruf zu folgen, da der Streik ohne sie nicht durchführbar sei, war vergebens. Arbeitsminister Graupe (SPD) wandte sich gegen den Antrag, die von ihm vorgeschlagene paritätisch besetzte Kommission lehnte den Antrag auf Durchführung eines Generalstreiks ab. R. Siewert akzeptierte die Entscheidung mit den Worten, sie sei zwar nicht "nach dem Geschmack der Kommunisten", sie seien aber bereit, "auch dieses Opfer der Einheitsfront zu bringen". Die Reichsexekutive zwang die Zeigner-Regierung zum Rücktritt und die KPD in die Illegalität. Nach dem mißlungenen Versuch, den Generalstreik von Chemnitz aus zu initiieren, kam es lediglich in Hamburg zu bewaffneten Aktionen. Am 3. November 1923 tagte in Berlin in "strengster Illegalität" der ZA der KPD. 92 Brandler betonte, daß die Politik der KPD auf ein "einstweiliges Ausweichen des Entscheidungskampfes" eingestellt sei, und erklärte optimistisch, daß das "Ausweichen [nur] eine bessere Vorbereitung des Kampfes" sei. Der Optimismus resultierte offensichtlich aus der Hoffnung, daß die Arbeiter nach dem "erneuten Verrat" der SPD wieder verstärkt der KPD folgen würden. Die "Zerstörung der Sozialdemokratie als der letzten Reserve des Banken-, Agrar- und Industriekapitals im Lager der Arbeiterschaft" bezeichnete er als "wichtigste Aufgabe zur Zersetzung des Gegners". In seinem, nach einer heftigen Diskussion gehaltenen Schlußwort betonte Brandler, daß nicht die technischen Fragen die Hauptmängel der Aufstandsvorbereitungen gewesen seien, "sondern die Uneinigkeit, Meinungsdifferenzen innerhalb der Zentrale". Er verteidigte die Politik der Einheitsfront und den Eintritt in die sächsische Regierung, die trotz aller begangenen Fehler richtig gewesen seien. Der ZA wählte auf Vorschlag der Zentrale einen "sechsgliedrigen Kopf', dem R. Fischer, Thälmann, Pieck, Walcher, Thalheimer und Brandler angehörten. Die Opposition bereitete sich zunehmend darauf vor, die Führung in der KPD zu übernehmen, was sie vor allem über die Forderung eines sofortigen Parteitages trotz Illegalität zu erreichen suchte. 93 Während sich Brandler vorrangig an C. Zetkin mit der Bitte wandte, ihre "ganze Autorität einzusetzen, damit wir das Schlimmste vermeiden können", war für die Opposition Sinowjew der gesuchte Ansprechpartner.94 91 92 93 94

R. F.vom 22. Oktober 1923. N. N.: Die Sitzung des Zentralausschusses vom 3.11., Berlin, 4.11.1923, Z P A I 6/10/78, Bl. 201-211. Am 23. November 1923 verfügte v. Seeckt das reichsweite Verbot der KPD. Erste Auswertungsversuche der Oktoberereignisse erfolgten in verschiedenen Gremien der KPD, aber auch in offiziellen und persönlichen Briefen verschiedener Funktionäre an Führer der Komintern, s. u.a.: Josef (d.i. Brandler), o.O., 1.12.1923, An die deutsche Delegation der Komintern, z.H. Gen. Klara, ZPA,

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Der zerstrittenen Parteiführung gelang es nicht, die vom EKKI geforderten gemeinsamen Thesen zum "deutschen Oktober" zu erarbeiten. Das Resultat der Diskussionen war eine Spaltung der bisherigen Zentralemehrheit in die Brandler-Thalheimer-Gruppe und die sog. "Mittelgruppe", womit es in der Zentrale nunmehr drei Fraktionen gab, die alle eigene Thesen vorlegten. 95 Brandler betonte, daß "die grundlegenden Ursachen der Oktober-Niederlage [...] objektiver Art und nicht wesentlich Fehler der KPD waren. Die entscheidende Ursache liegt zweifellos darin, daß wir den hemmenden Einfluß der Sozialdemokratie unterschätzt haben. Die Mehrheit der Arbeiterklasse [...] war noch nicht für den Kommunismus gewonnen." Ein wesentliches Problem schien Brandler die Gleichsetzung der linken Sozialdemokratie in Deutschland mit den russischen Menschewiki gewesen zu sein. Beider Tradition ließen sich jedoch nicht vergleichen: Hatten die russischen Menschewiki zeitlich eine etwa gleiche Tradition wie die Bolschewiki, so könne das für die deutsche Arbeiterbewegung nicht gelten: hier habe die Sozialdemokratie eine über sechzigjährige Tradition mit "eingerosteten Ideologien, festen Organisationen, Tausenden von Bürokraten", die ungleich schwerer zu überwinden seien, als die menschewistischen Einflüsse in der russischen Bewegung. Die deutschen Kommunisten verfügten erst seit fünf Jahren über eine eigene Organisation, deren ideologische Tradition zwar schon seit zwölf Jahren existiere, aber aus der sozialdemokratischen hervorgegangen sei. 96 Brandler reiste noch vor Weihnachten via Moskau ab, saß jedoch über die Feiertage in Prag fest, da ihm offenbar die finanziellen Mittel und die Unterlagen zur Reisefortsetzung fehlten. 97 Vom 8. bis 21. Januar 1924 fanden in Moskau die Beratungen des Präsidiums des EKKI mit den Vertretern der drei Richtungen in der KPD statt. Brandler konnte seine Auffassungen referieren, wurde aber, wie auch Radek, nicht in die Kommission zur Ausarbeitung der politischen Resolution über die Lehren der deutsche Ereignisse gewählt. Damit war seine Demontage als KPD-Vorsitzender intern bereits perfekt, da bis zur Abschlußsitzung

I 6/3/120, Bl. 83f. Protokoll der Zentralesitzung v. 16.11., ZPA, I 6/10/78, Bl. 231f.; N.N. (R. Fischer), Berlin, 17.11.1923, an G. Sinowjew, ZPA, I 2/3/208, Bl.511-522 und I 6/3/128, Bl. 95-100; R. Fischer, Berlin 22.11.1923, an G. Sinowjew, ZPA, I 2/3/208, Bl. 523. R. Fischer, Die Entscheidung des Zentralausschusses über die Aufgaben der Partei. Der Sieg des Faschismus über die Novemberrepublik und die Aufgaben der Kommunistischen Partei Deutschlands (Thesen, beschlossen von der Konferenz der Kommunistischen Partei Deutschlands Anfang November 1923), Thesen zur politischen Lage, vorgelegt von den Vertretern der Bezirke Berlin-Brandenburg, Wasserkante, Mittelrhein, Pfalz, Frankfurt-Hessen und dem Vertreter des Ruhrbezirks, in: Mitteilungsblatt der Berliner Organisation der Kommunistischen Partei Deutschlands, 13.11.1923, 3. Jg., ZPA, I 6/10/78, Bl. 216-222; N.N. (Brandler), o.O., 13.11.23, an C. Zetkin, ZPA, I 6/3/120, Bl. 74-80; Josef, o.O., 1.12.23 An die deutsche Delegation der Komintern, z. H. Gen. Klara, ZPA, I 6/3/120, Bl. 83f.; R. Fischer, A. Rosenberg, K. Vierrath, O. Geschke, A. König, E. Thälmann, o.O., Anfang Dezember 1923, an G. Sinowjew, ZPA, I 6/3/125, Bl. 72-78, I 2/3/62a, Bl. 114-120; Josef, o.O., 10.12.23, An die Deutsche Delegation der KI, z.H. Gen. Zetkin, Moskau (Abschrift), ZPA, 16/3/ 120, Blatt 85-87. 95 Den Prozeß der Spaltung der Zentralemehrheit beschreibt sehr anschaulich ein Brief von Hugo (Eberlein), Berlin, am 21.12.1923, An den Gen. Pieck, Moskau, ZPA, I 6/3/126, Bl. 151-158. 96 ZPA, 16/3/120. Bl. 86. 97 H. Brandler, Prag, 27.12.23., an Piatnitzki, ZPA, 16/10/78, Bl. 262.

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keine Diskussionen mehr im Plenum stattfanden und er keinen Einfluß mehr auf die Abschlußdokumente nehmen konnte. 98 Rund dreißig Jahre später bezeichnete Brandler seine Disziplin, die Moskauer Aufstandspläne wider besseren Wissens mitzutragen, als den größten Fehler seines Lebens: "Ich unterwarf mich, weil ich glaubte, daß ich mich Kommunisten, die in drei Revolutionen Erfahrungen gesammelt hatten, nicht widersetzen und die Partei nicht im Augenblick des Beginns eines Entscheidungskampfes durch meinen Rücktritt schwächen dürfte." 99 Mit der Tatsache, daß Brandler steckbrieflich gesucht wurde, war ein guter Anlaß gegeben, ihn von der Arbeit in Deutschland fernzuhalten. Offiziell endete seine führende Rolle in der KPD mit dem Frankfurter Parteitag, auf dem die Brandler-Thalheimer-Gruppe als "rechter Flügel" stigmatisiert wurde. Die Marginalisierung Brandlers ging so weit, daß er nicht als offizieller Delegierter am V. Kongreß der Komintern teilnehmen konnte, sondern nur durch das Mandat des EKKI. Obwohl Brandler auf dem Kongreß gegen die "Geschichtsklitterungen" der neuen Fischer-Maslow-Führung polemisierte, konnte er nicht verhindern, daß seitdem der "Brandlerismus" zum Schimpfwort und Synonym für "Parteiabweichung" wurde. 100 Im April 1924 wurde er vom EKKI aufgefordert, in die Sowjetunion zu kommen. Obwohl kein formeller Beschluß vorlag, blieb er bis 1928 dort. Als Mitglied der KPdSU arbeitete er während seines "Ehrenexils" in verschiedenen Funktionen: Er war Leiter der Kooperativsektion beim EKKI, Ehrenoberst der Roten Armee, zweiter Vorsitzender der Bauerninternationale (Kresintern) und enger Mitarbeiter Pjatakows im Obersten Volkswirtschaftsrat. 101 In diesen Funktionen gewann er einen gewissen Einblick in die Problemvielfalt dieses riesigen Landes, dessen Rückständigkeit er sah. Von daher begrüßte er zwar Stalins Industrialisierungs- und Kollektivierungspläne, die seines Erachtens allerdings zu früh einsetzten. An der Position, daß Stalin unter dem "Zwang objektiver Umstände" diese Politik einleitete, hielt Brandler noch in den fünfziger Jahren fest 102 . Dagegen verwahrte er sich aufgrund seiner spezifischen Erfahrungen aus dem Jahre 1923 immer wieder gegen Einmischungen und Bevormundungen der russifizierten Komintern in deutsche Angelegenheiten. Zusammen mit seinem Freund Thalheimer 103 befand sich Brandler unter der ständigen Kontrolle der KPdSU. Es ist auch davon auszugehen, daß sie geheimdienstlich überwacht 98 Die Referate von K. Radek, H. Brandler, H. Remmele, R. Fischer und G. Sinowjew sowie die Abschlußdokumente einschließlich der Erklärung der Minderheit (der nunmehr neben C. Zetkin, W. Pieck u.a. auch H. Brandler angehörte) wurden publiziert in: Die Lehren der deutschen Ereignisse. Das Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale zur deutschen Frage, Januar 1924, Hamburg 1924; die Thesen der drei Richtungen wurden sowohl in der Zeitschrift Die Internationale als auch in der INPREKORR veröffentlicht; umfangreiche Materialien, so die stenographischen Protokolle der Sitzungen sowie die verschiedenen Thesenentwürfe, befinden sich im ZPA: I 2/3/62b, I 2/3/197, I 6/3/ 122,16/3/139,16/10/8-14. 99 Brandler an Deutscher, 8.12.1954, in: Weber, Unabhängige Kommunisten, S. 130. 100 Protokoll. Fünfter Kongreß der Kommunistischen Internationale 1924, Bd.l, Berlin 1924, S. 219. 101 Vgl. Deutscher, Aufzeichnung einer Diskussion mit Brandler, in: Weber, Unabhängige Kommunisten, S. 10; H. Brandler, Moskau, den 13.8.1928, An das Politbüro der WKP und KPD und das Präsidium des EKKI, ZPA, I 2/3/67, Bl. 24-25. 102 Brandler an Deutscher, 20.8.1952, in: Weber, Unabhängige Kommunisten, S. 79. 103 Vgl. Kaestner, Jürgen: Die politische Theorie August Thalheimers, Franfurt a.M/New York 1982; Bergmann, Theodor/Haible, Wolfgang: Die Geschwister Thalheimer. Skizzen ihrer Leben und Politik,

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wurden. 104 Im Auftrag der Berliner Parteiführung sammelten H. Neumann und I. Katz, beide Delegierte der KPD beim EKKI, systematisch belastendes Material über "fraktionelle Treibereien der Rechten". Am 1. September berichtete Neumann von vier Originalbriefen an Brandler, die den "aktenmäßigen Beweis" dafür lieferten, daß "planmäßig von hier aus Zellenbau und parteischädigende 'Informationsarbeit' organisiert wird". Dafür waren alle Mittel erlaubt: Öffnung fremder Briefe, Verhöre vermeintlicher Fraktionsanhänger und Verbindungsleute sowie Denunziationen bei den russischen Genossen". 105 Die Praxis der willkürlichen Öffnung von Briefen wurde z.B. von zwei Zeugen aus dem Komintern-Apparat bestätigt, um die KPD-Zentrale von der Richtigkeit der Briefe eines "Schw." an "Herrn Franz" alias Brandler zu überzeugen. Diese Briefe, übermittelt von der Brandler-Bekannten Anni Kolditz, die zeitweise seine Berliner Wohnung bezogen hatte, dienten später als "Beweismaterial". "Schw." (alias Hans von Hentig, ein Münchner Offizier, der mit Brandler lange in Verbindung stand) schlug vor, Brandler zum Vorsitzenden eines Direktoriums zu machen, das die KPD-Führung ablösen sollte. Darin sah die KPD-Führung ihre Verschwörungstheorie bestätigt. Am 7. Dezember 1924 verfaßte der frühere Brandler-Anhänger J. Eisenberger einen denunziatorischen Reuebrief an das ZK der KPD, in welchem er seine Unterstützung für Brandler auf der Januarkonferenz 1924 verurteilte. Um zur erhofften Rehabilitierung zu gelangen, konstruierte er, entsprechend der Diskussion über den "Trotzkismus" in der KPdSU, den "Brandlerismus" und bezeichnete beide "Ismen" als Zwillinge, "Todfeinde der proletarischen Revolution" und "Dolchstoß in den Rücken der KI". So berichtete er über Versuche der Rechten, "ihre vertauten Anhänger in Deutschland zu sammeln, mit ihnen in Verbindung zu bleiben und eine fraktionelle Tätigkeit gegen die Politik der Zentrale der KPD ins Leben zu rufen". Diese Versuche hatte es tatsächlich in Remscheid und Gotha gegeben, ebenso wie in Brandlers Zimmer im Hotel Lux mit befreundeten Genossen diskutiert wurde (darunter F. Wolf, K. Radek, J. Walcher, A. Thalheimer, H. Möller und J. Eisenberger). 106 Die im März 1925 erfolgte Verurteilung der russischen Parteimitglieder Brandler, Thalheimer und Radek für ihre "fraktionellen Treibereien" in der KPD, was an sich schon eigenartig war, wurde vom erweiterten EKKI-Plenum noch im selben Monat bestätigt. Wegen "systematischer Fraktionsarbeit und schweren Verletzungen der Parteidisziplin" erhielten sie mit einer "strengen Rüge" eine vergleichsweise milde Parteistrafe, was sicher nicht nur durch die gespaltene Einstellung von EKKI und ZKK zur Fischer-Maslow-Führung, sondern auch

Mainz 1993; Becker, Jens: A. Thalheimer. Früher Kritiker der Stalinisierung, in: Bergmann, T./Keßler, M. (Hrsg.): Ketzer im Kommunismus - Alternativen zum Stalinismus, Mainz 1993, S.50-73. 104 Weber, Unabhängige Kommunisten, S. 9. 105 Vgl. hierzu und zu folgendem: Becker, J./Bergmann, Th./Watlin, A. (Hrsg.): Das erste Tribunal. Das Moskauer Parteiverfahren gegen Brandler, Thalheimer und Radek, Mainz 1993, S. 23ff. 106 Eisenbergers Darlegungen bestätigen Forschungsergebnisse, wonach es von Brandler und seinen Freunden Versuche gab, Kontakte in Deutschland aufrechtzuerhalten, um dort organisatorische Netzwerke zu bilden; s. Weber, Wandlung, 1, S.78f.; teilweise geht das vorliegende Material sogar darüber hinaus. Es kann festgestellt werden, daß von Moskau aus versucht wurde, durch Rundschreiben an Genossen oder Resolutionen in kommunistischen Gewerkschaftskartellen (Remscheid) Einfluß zu nehmen.

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durch eine Reihe von Moskauer Fürsprechern erklärbar ist. 107 Zu ihnen zählten u.a. Manuilskij, Bucharin und Zetkin. Obwohl Brandler bis 1928 Disziplin wahrte und einige Konzessionen machte, um nicht aus der kommunistischen Bewegung herausgedrängt zu werden, vertrat er intern weiter seine Positionen. Seine Bemühungen, wieder in der KPD tätig werden zu können, wurden jedoch von den Führungen der KPD und der Komintern immer wieder verhindert. Am Ende mußte der isolierte Brandler mit dem Gang zur deutschen Botschaft in Moskau drohen, um seine Rückkehr nach Deutschland zu erzwingen. 108 Er begründete diese drastische Drohung am 13. Oktober 1928 in einem Brief an Molotow: "Im Widerspruch zwischen revolutionärer Pflichterfüllung im Dienst des Aufbaus der revolutionären Bewegung Deutschlands, an deren Wiege ich stand, und Bruch einer organisatorischen Disziplin, die Kadavergehorsam wird, wenn sie der eigenen [...] Überzeugung widerspricht, habe ich mich für den Bruch dieser Disziplin entschieden, weil Sie jeden anderen Ausweg abgelehnt haben." 109 Dieser Disziplinbruch sollte nur ein erster Schritt sein, der die Trennung von KPD und Komintern einleitete. Die Resultate des sechsten Weltkongresses der KI (17.7.-1.9.1928) insbesondere die Sozialfaschismusthese und die noch deutlichere Stigmatisierung der "rechten Abweichung" - und die "Wittorf-Affäre", die zur kurzzeitigen Entmachtung des auf Druck durch das EKKI wiedereingesetzten Parteivorsitzenden Ernst Thälmann führte, beschleunigten Brandlers Desillusionierungsprozeß.110 Eine Wiedergewinnung von Einfluß in der von ihm mitbegründeten Bewegung war nicht mehr möglich. Zur Jahreswende 1928/29 - genau zehn Jahre nach Gründung der KPD - schufen Brandler und seine Freunde die KPD-Opposition, die sich zwar als Teil der kommunistischen Bewegung verstand, aber durch die Ausgrenzung eine separate Entwicklung nahm. 111

107 Vgl. Resolution des ZKK und der KPR in Sachen der Genossen Brandler, Thalheimer, Radek u.a., in: Becker u.a., Tribunal, S. 183-187. 108 Zu den Bemühungen Brandlers, seine Rückkehr nach Deutschland zu erreichen siehe: ZPA, I 2/3/67, Bl. 24f.; H. Brandler, Moskau, 13.10.23, An das Sekretariat Molotow, Abschr. Piatnitzki, RCChrlDnl, 495/19/702, Bl. 7-8; H. Brandler, Berlin, 8.11.28, Meine Rückkehr nach Deutschland und das Z.K. der K.P.D., ZPA, 12/3/67, Bl. 30-31. 109 RCChrlDnl, 495/19/702, Bl. 7. 110 S. dazu: Watlin, Alexander: Der heiße Herbst des Jahres 1928. Über die Stalinisierung der Komintern, in: ders: Die Komintern 1919-1929, Mainz 1993, S.173ff. 111 Vgl. Tjaden, K. H.: Struktur und Funktion der KPD-Opposition, Meisenheim a.G. 1964; Bergmann, Th.: "Gegen den Strom". Die Geschichte der kommunistischen Parteiopposition, Hamburg 1987.

Helmut Müller-Enbergs (Berlin)

Erst Chefredakteur, dann "Unperson": Lex Ende und Rudolf Herrnstadt Lex Ende (1899-1951) Lex Ende starb am 15. Januar 1951 in Hilbersdorf, einem kleinen Ort in der Nähe des sächsischen Freiberg. 1 An seiner Beisetzung, die auf dem kleinen Dorffriedhof stattfand, nahmen nur wenige teil. Der Tischler Mahnert, bei dem er zuletzt gewohnt hatte2, die Witwe Gertrud, die im Mai 1952 nach West-Berlin floh 3 , und ein Vertreter des letzten Arbeitgebers, der VEB Hüttenwerk Muldenhütten. Der ehemalige Arbeitskollege war ein parteiloser Ingenieur, der ihm, dem Kommunisten und Chefredakteur des "Neuen Deutschland" von Juli 1946 bis April 1949, die Grabrede hielt. 4 Der Tod kam für Lex Ende plötzlich.5 Der Befund, den die Ärzte gaben, lautete auf Herzschlag. 6 Gehirnblutung teilte man hingegen der Witwe mit.7 Es soll also ein natürlicher Tod gewesen sein. 8 Wer will aber wissen, schrieb Alfred Kantorowicz, ob "sein krankes Herz nicht doch noch jahrelang zusammengehalten hätte, wenn ihm das Kommando von einem hoffnungsgläubigen Geist gegeben worden" wäre?9 Dieses Kommando, das Vertrauen der Partei wiedererlangt, in ihr wieder aufgenommen worden zu sein, wie es "sein höchster Wunsch" war, kam nicht. 10 Die Rehabilitierung erfolgte erst am 29. November 1989, über 38 Jahre später, in Form eines lapidaren Satzes: Die Zentrale Parteikontrollkommission habe, so konnte man tags darauf im "Neuen Deutschland" lesen, einen Beschluß zur "Rehabilitierung" von Lex Ende gefaßt, da dieser zu Unrecht "in den 50er Jahren wegen falscher Be1 Wenige Stunden später unterrichtete der SED-Landesvorstand Sachsen das Zentralkomitee davon. In dem Schreiben hieß es, die Leiche werde "bis zur Feststellung der Todesursache beschlagnahmt." Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv (SAPMO-BArch), DY 30, IV 2/11/v. 82. 2 Einzelne Bürger von Hilbersdorf erinneren sich allerdings daran, daß Lex Ende zumindest zeitweise in dem hiesigen Altersheim gewohnt haben soll. Der Tischler selbst floh später in die Bundesrepublik. 3 Gertrud Ende, geb. Ginschlik, gehörte der KP der Tschechoslowakei an. Aus ihrer Ehe mit Lex Ende ging der Sohn Gerhart Alexander hervor, der 1948 in Paris geboren wurde. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/11/v. 82. Vgl. auch: Frau Ende geflohen, in: Die Neue Zeitung, 9.5.1952. 4 Maximilian Braun: Weshalb ließ Ulbricht Lex Ende fallen?, in: Die Neue Zeitung, 28.8.1951. 5 Daß er gesundheitlich schwer angegriffen war, wußte man im SED-Zentralsekretariat, wie einem Vermerk Dahlems vom 30.12.1948 zu entnehmen ist. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/11/v. 82. 6 SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/4/108, Bl. 350. 7 Ebenda, Bl. 347. 8 Lex Endes Tod gab Anlaß zu einigen Spekulationen. Sogar von Selbstmord war die Rede, was aber unwahrscheinlich ist. Dazu ausführlich: Keßler, Mario: Die SED und die Juden - zwischen Repression und Toleranz. Politische Entwicklungen bis 1967, Berlin 1995, S. 73f. Vgl. auch: Der Tod des Lex Ende, in: Die Neue Zeitung, 21.1.1951. 9 Kantorowicz, Alfred: Deutsches Tagebuch. Zweiter Teil, Berlin 1979, S. 226f. 10 SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/4/108, Bl. 347.

Erst Chefredakteur, dann „ Unperson ": Lex Ende und Rudolf

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schuldigungen und angeblich fraktioneller Tätigkeit aus der Partei ausgeschlossen" worden war. 11 Das war ein kleiner Federstrich, eine Reverenz an den Zeitgeist. Diese Zeilen bringen nicht einmal annähernd das sich dahinter verbergende Schicksal zum Ausdruck. Erahnen lassen sie nicht die Maschinerie, betrieben durch "stalinistischen Antisemitismus", wie es der Historiker Mario Keßler nennt 12 , verchromt mit Agentenhysterie, in die der erst 52jährige Ende gestoßen wurde und die ihm schließlich das Leben kostete. Das letzte halbe Jahr seines Lebens war Lex Ende verbannt - in das im Erzgebirge liegende Muldenhütten, mit einem Berlin-Verbot belegt und von der in Berlin lebenden Familie getrennt. Er arbeitete als kaufmännischer Angestellter, was er nie gelernt hatte, in der Lohnbuchhaltung des dortigen VEB Hüttenwerkes, einem 600-Mann-Betrieb. 13 Sein Handwerk, das er beherrschte und über dreißig Jahre lang hauptamtlich für die Partei ausgeübt hatte, war ihm nun versagt. Seine journalistische Feder war nicht mehr gefragt. Bereits neunzehnjährig wurde der am 6. April 1899 geborene Sohn eines Kunsthändlers Mitglied der KPD 14 , mit 21 stellvertretender Chefredakteur des "Ruhrechos" in Essen, der bedeutendsten kommunistischen Zeitung neben der "Roten Fahne". In den nachfolgenden Jahren war er bei verschiedenen KPD-Zeitungen Chefredakteur: 1922 beim "Kommunist" in Frankfurt/Main, 1923 bei der "Niedersächsischen Arbeiterzeitung" in Hannover, 1924 beim "Volksblatt" in Gotha und von 1925 bis 1928 beim "Ruhrecho". 15 Nur neunundzwanzigjährig war er überdies Mitglied des Reichstags. Bis dahin eine kommunistische Bilderbuchkarriere. Allerdings orientierte er sich innerhalb der KPD an den sogenannten Versöhnlern, einer Minderheitenposition, was ihm im Dezember 1928 Funktionsenthebungen in der Partei einbrachte. Ende hatte die RGO-Politik abgelehnt. Nachdem er sich 1929 der politischen Mehrheit in der KPD wieder angepaßt und mit den "Versöhnlern" gebrochen hatte, war er bis 1933 politischer Redakteur und zeitweise stellvertretender Chefredakteur der "Roten Fahne" in Berlin. 16

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Mit aller Strenge gegen Verletzungen des Statuts, in: Neues Deutschland, 30.11.1989. Keßler: Die SED und die Juden, a.a.O. (Anm. 8), S. 148. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/4/108, Bl. 350. Lex Ende wurde 1915 von der Schule verwiesen, 1917 zum Militär eingezogen und nahm 1918 an der "Revolution" in Koblenz teil. Er trat 1918 zunächst der USPD in Hannover bei, war bis Juni 1919 Volontär bei der USPD-Zeitung "Volkswacht" (Hannover) und gründete zusammen mit Walter Bartel die "Ruhrwarte" (Gelsenkirchen). Nebenbei arbeitete er als Redakteur bei der "Bergarbeiter-Union". 1920 war er einen Monat lang Redakteur der "Roten Fahne" in Berlin und ging von dort zum "Ruhr-Echo". SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/11/v. 82. 15 Während der "März-Aktion" 1920 legte er sich den Namen Lex Ende zu (eigentlich hieß er Adolf Ende). Im August 1923 amtierte er als Obersekretär der KPD für die Bezirke Bremen, Wasserkante und Hannover. Im Oktober des gleichen Jahres gehörte er der Leitung des "Oktoberaufstandes" an. Im Januar 1924 verhaftete man ihn in Bremen deshalb und verurteilte ihn zu vier Monaten Gefängnis. Danach war er kurzfristig bei der Zeitung "Sozialistische Republik" in Köln tätig, 1927 politischer Leiter des Bezirks Düsseldorf. SAPMO BArch, DY 30, IV 2/11/v. 82. 16 1930 gründete er überdies die Wochenzeitung "Rote Post", die bis März 1933 erschien. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/11/v. 82. Vgl. auch: Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl: Glückwunsch des Parteivorstandes zum 50. Geburtstage von Lex Ende, in: Neues Deutschland, 6.4.1949. Vgl. zur Biographie: Weber, Hermann: Die Wandlung des deutschen Kommunismus, Frankfurt a.M. 1969, Bd. 2, S. 108f.

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Zunächst in die Illegalität gezwungen, emigrierte Lex Ende nach Frankreich und gehörte dort der Exilleitung der KPD an. Er wurde Chefredakteur der "Deutschen Volkszeitung". 17 Zugleich war er Mitglied der französischen KP, die ihn später jedoch wieder ausschloß: Lex Ende nahm 1939 gegen den Hitler-Stalin-Pakt Stellung. In der Zeit gab es flüchtige Begegnungen mit dem später verfemten Noel Field. Nach Kriegsausbruch interniert, gelang ihm 1940 die Flucht. Untergetaucht, arbeitete er am "Freien Deutschland" (Mexiko) mit. 18 1945 kehrte er illegal in die sowjetische Besatzungszone zurück. Walter Ulbricht persönlich war es, der ihn zunächst zum Chefredakteur des "Freien Bauern", später auch der Zeitung "Frischer Wind", und ab dem 1. Juli 1946 zu dem des "Neuen Deutschland" machte. Er trat Sepp Schwabs Nachfolge an. 19 Wohl schon 1948 kam es aber zu Spannungen zwischen Ulbricht und Ende. Der Chefredakteur hätte Texte des Parteivorsitzenden Pieck und des ersten Sekretärs derart korrigiert, daß dies Unmut bei den Betroffenen auslöste. 20 Der Plan, die Chefredaktion des ND auszuwechseln, wird in dieser Zeit entstanden sein. Endes designierter Nachfolger Rudolf Herrnstadt erwog bereits 1948, während eines Kuraufenthaltes in der Tschechoslowakei, ein neues Konzept für das Zentralorgan.21 Die Ablösung Endes erfolgte im Zuge der Umwandlung der SED in eine "Partei neuen Typus". Zwar wurde er danach mit der Gründung und Leitung der "Friedenspost" betraut, dem Organ der "Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft", doch war er damit nicht aus dem Visier der "Parteisäuberer".22 Das Mißtrauen der Sowjets gegen Westemigranten, latent immer vorhanden, wurde bis zur Agentenhysterie geschürt. Ins Zentrum wurde als angeblich amerikanischer Agent Noel Field gerückt. Die osteuropäischen Schauprozesse, zur Einschüchterung und Ausrichtung konzipiert, setzten den Termin auch für die deutschen Parteiverfahren. In diesen Strudel 17 Von März bis August 1933 war er bei der "Neuen Zeitung" und der Schrift "Das bunte Blatt". In Saarbrücken gehörte er zu den Mitbegründern der "Deutschen Volkszeitung". 1936 ging er nach Prag, 1937 nach Paris, wo er bis 1939 blieb. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/11/v. 82. 18 Er floh im Juni 1940, ging nach Marseille und war dort Stützpunktleiter seiner Partei. Doch schied er wegen verschiedener Differenzen aus der deutschen Arbeit aus. Anschließend wandte er sich der Resistance zu, für die er zunächst als Redakteur, dann als stellvertretender Chefredakteur der "La Marseillaise" arbeitete. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/11/v. 82. Zu seiner Tätigkeit in Frankreich vgl. Kießling, Wolfgang: Partner im "Narrenparadies". Der Freundeskreis um Noel Field und Paul Merker, Berlinl995. 19 Sepp Schwab (1897-1977) sollte laut Beschluß des SED-Zenralsekretariats vom 25. Juli 1946 aus der Redaktion ausscheiden. Dafür war vermutlich Schwabs Gesundheitszustand ausschlaggebend. Sodann war er für den Sender "Zeesen" als Leiter vorgesehen, für dessen personelle Zusammensetzung er im Oktober 1946 Vorschläge eingereicht hatte. Am 19.11.1946 entschied das Zentralsekretariat jedoch in einer "provisorischen Regelung", ihn als "Chef vom Dienst" wieder beim "Neuen Deutschland" einzusetzen, was er bis März 1949 blieb. Ihm wurde zuletzt ein Artikel im ND zum Verhängnis, in dem die Parteiführung eine trotzkistische Tendenz erkannt haben will. Die Verantwortung wurde ihm zugeschoben und trug ihm eine "ernste Verwarnung" ein. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/11/v. 2580. 20 Belegt ist lediglich ein Verweis von Otto Grotewohl und Wilhelm Pieck vom 10.12.1948. Dafür gab die Veröffentlichung eines Fotos im ND am 23.11.1948 Veranlassung, das die Pressekonferenz des Deutschen Volksrates zeigte. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/11/v. 82. Vgl. auch: Keil, Lars: Wer war Lex Ende?, in: Junge Welt, 1.12.1989. 21 SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/4/114, Bl. 269-273. 22 Die Stelle als Chefredakteur trat Ende am 1.10.1949 an. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/11/v. 82; vgl. auch: Neuer Job für Lex Ende, in: Der Kurier, 2.6.1949.

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wurden Westemigranten w i e Paul Merker, L e o Bauer, Bruno Goldhammer gerissen - auch Lex Ende.23 1946 hatte Ende selbst einen 46seitigen Bericht über seine Tätigkeit und seine Kontakte in Frankreich verfaßt und ihn persönlich Walter Ulbricht übergeben. 2 4 D a s Politbüro der S E D , das im August 1950 schwere Vorwürfe gegen ihn erhob, sogar "offenen Verrat" unterstellte, konnte sich faktisch darauf stützen. Im gleichen Jahr erfolgte sein Ausschluß aus der Part e i . 2 5 D i e inhaltliche Seite des dazu gefaßten Beschlusses wurde zwar im Juli 1956, nach d e m X X . Parteitag der KPdSU, zurückgenommen. Eine Rehabilitierung war das aber nicht. Lex Ende versuchte, sich "in der Produktion zu bewähren". 2 6 Kurz vor seinem Tod schrieb er resigniert, aber entschlossen in einem Brief: "Die erste Kritik an uns selbst lautet: Wir haben bisher geduldet, daß Sumpftheorien und halbe Wahrheiten (die bekanntlich Lügen sind) verkündet wurden. Damit muß man ein Ende machen." 2 7 Als würde er ahnen, w a s einmal kommen wird, hatte er Jahre vorher schon in einem Leitartikel formuliert: "so wir nicht unter die Ziegelsteine des himmelstürmenden Aufbaus geraten und unser Dasein lustvoll aushauchen". 2 8 Im Falle L e x Ende wäre zu korrigieren: nicht lust-, sondern leidvoll.

Rudolf Herrnstadt (1903-1966) D a s passierte d e m "Neuen Deutschland" in seiner fünfzigjährigen Geschichte nicht oft: Begeisterung, echte Begeisterung für einen Artikel - vor allem bei jungen Kommunisten. A m 19. N o v e m b e r 1948 erschien i m N D ein Beitrag unter der Überschrift "Über 'die Russen' und 23 Der Staatssicherheitsdienst hatte sich mit diesem Thema befaßt, doch konnten Unterlagen über Lex Ende bisher nicht aufgefunden werden. 24 Am 6.3.1946 untersuchte eine Kommission, bestehend aus Bruno Köhler, Bruno Fuhrmann, Bruno Haid und Grete Keilson, die "Sache Ende". Im Mittelpunkt standen seine damaligen Aktivitäten in Frankreich und seine Internierung, aber nicht eventuelle Verbindungen zu Noel Field. Das Verfahren sollte bis zum Vereinigungsparteitag der SED abgeschlossen sein, was aber nur bedingt geschah, denn an die französische KP ging das erst nach SED-Gründung erfüllte Ersuchen, die Gründe für Endes Ausschluß darzulegen. Die Kommission hatte sich aber in der Tendenz bereits festgelegt: Ein Ausschluß komme "wohl nicht Frage". Am 30.3.1946 erging an Ende die Aufforderung, eine schriftliche Stellungnahme abzugeben, die er vierzehn Tage später vorlegte. (Es konnten zwar Auszüge, aber nicht die gesamte Stellungnahme im Parteiarchiv ermittelt werden.) Am 17.4.1946 erhielt Ende die Parteimitgliedskarte. SAPMOBArch, DY 30, IV 2/11/v. 82. Vgl. dazu auch: Braun, Maximilian: Weshalb ließ Ulbricht Lex Ende fallen?, in: Die Neue Zeitung, 28.8.1951. 25 Erklärung des Zentralkomitees und der Zentralen Parteikontrollkommission zu den Verbindungen ehemaliger deutscher politischer Emigranten zu dem Leiter des Unitarian Service Committee Noel H. Field; abgedruckt in: Dokumente der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. III, Berlin 1952, S. 197213, hier 205. 26 Die SED-Betriebsgruppe Muldenhütten wandte sich am 10.11.1950 an das Zentralkomitee und erhob vergeblich Einspruch gegen die Einstellung Endes in den Betrieb. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/11/v. 82. Tatsächlich fanden sich nicht wenige Parteimitglieder und Funktionäre vor Ort, die ihn privat einluden und ihr Unverständnis über die Entscheidung der Parteiführung zum Ausdruck brachten. Das kam auch darin zum Ausdruck, daß Endes Grab von der Tochter des Betriebsgruppen-Parteisekretärs jahrelang gepflegt wurde, bis ihr die Partei das untersagte. 27 Schreiben Endes an Maximilian Braun vom Januar 1951. Zitiert nach: Braun (Anm. 24). 28 Der Artikel konnte nicht ermittelt werden. Zitiert nach: ebenda.

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über uns". 29 Er sprach innere Zweifel zu einem Zeitpunkt an, als die Stimmung für die Sowjets einen Tiefpunkt erreicht hatte: Ihre Zone wurde bolschewisiert, West-Berlin mit einer Blockade überzogen; die bleibende Erinnerung an vergewaltigende und stehlende Rotarmisten, Verhaftungen und Lager, die den Sowjets anhing, überdeckte die an die Befreiung vom Nationalsozialismus. Parteioffiziell alles Tabuthemen. Und nun dieser Artikel: Unglaublich allein die Bezeichnung "Russen", unglaublicher noch Sätze wie dieser: Die Rote Armee "kam in klobigen Stiefeln, an denen der Dreck der Historie klebte, entschlossen, entzündet, gewarnt, geweitet, in Teilen auch verroht - jawohl, in Teilen auch verroht". 30 Die Resonanz war gewaltig, mehrere öffentliche Versammlungen fanden statt, auf denen das Verhältnis zur Sowjetunion und zur Besatzungsmacht diskutiert wurde. 31 Damit hatte Rudolf Hermstadt, der Autor des Artikels, nicht gerechnet, als er sich im Sommer 1948 in Tatranska-Poljanka (Hohe Tatra) während eines Kuraufenthaltes einen Schreibblock kaufte, in dem er die ersten Gedanken für diesen Artikel notierte. 32 Seitdem ist die Erinnerung an Rudolf Herrnstadt vor allem mit diesem Artikel verknüpft. Und mit seinem Sturz als angeblicher Parteifeind fünf Jahre später. Wie konnte es dazu kommen, war er doch "anständig, klug, Kommunist, Sowjetmensch" und schrieb mit "glänzender Feder", wie Alfred Kurella notierte. 33 Die Urteile über den ehemaligen ND-Chefredakteur Rudolf Herrnstadt sind gespalten, entbehren teilweise nicht einer gewissen Skurillität. Noch zu seinen Lebzeiten wählte ihn eine westdeutsche maoistische Gruppe zu ihrem Heiligen: "Wir schwören Dir, Genosse Herrnstadt, daß wir unsere Kräfte und unser Leben nicht schonen werden, um Dein Gebot in Ehren zu erfüllen!" 34 Im Dezember 1989 hingegen wurde die Zentrale Parteikontrollkommission der SED aufgefordert, den wenige Tage zuvor postum rehabilitierten Rudolf Herrnstadt wieder aus der Partei auszuschließen. Sein Führungsstil im ND zu Anfang der fünfziger Jahre, hieß es, sollte auf Basis des SED-Statuts von 1976 (!) geahndet werden. 35 29 Herrnstadt, Rudolf: Über 'die Russen' und über uns, in: Neues Deutschland, 19.11.1948. 30 Ebenda. 31 Die Anregung zu diesem Artikel dürfte von sowjetischer Seite gekommen sein. Wesentliche Thesen hatte Herrnstadt bereits zuvor in einer Broschüre veröffentlicht, die mehrfach überarbeitet bis 1951 aufgelegt wurde: Herrnstadt, Rudolf: Der Weg der Ostzone, Hamburg o.J. [1948]; ders.: Der Weg in die Deutsche Demokratische Republik, Berlin 1951 (4. Aufl.). Der Artikel selbst erschien in der Publikation: Über 'die Russen' und über uns. Diskussion über ein brennendes Thema, hrsg. von der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion Groß-Berlin, Berlin 1950, S. 3-12. 32 SAPMO-BArch, D Y 30, IV 2/4/114, Bl. 271. 33 Kurella, Alfred/Elfriede Cohn-Vossen, Elfriede: Der Traum von Ps'chu. Ein Ehebriefwechsel im Zweiten Weltkrieg, Berlin 1984, S. 538. Kurella lernte Herrnstadt im Frühjahr 1943 kennen. Gemeinsam schrieben sie im Auftrag Dmitri Manuilskis den ersten Entwurf für das NKFD-Manifest. Im gleichen Jahr wurde er Stellvertreter Herrnstadts bei "Freies Deutschland". Vgl.: Müller-Enbergs, Helmut: Das Manifest des NKFD vom 13. Juli 1943. Initiative, Autoren und Intention, in: Ueberschär, Gerd R. (Hrsg.): Das Nationalkomitee "Freies Deutschland" und der Bund Deutscher Offiziere, Frankfurt/M. 1995, S. 93-103. 34 Zum Tode Rudolf Herrnstadts, in: Sozialistisches Deutschland, 2 (1966), S. 2-7, hier 7. Diese maoistische Gruppe, vermutlich in provokatorischer Absicht gegründet, bestand von 1965 bis 1968. Sie hatte im Frühjahr 1966 die Chuzpe, Herrnstadt als ihr Mitglied auszuweisen. 35 Schreiben von R.G. an die Zentrale Parteikontrollkommission der SED vom 2.12.1989; Unterlagen der PDS-Schiedskommission im Karl-Liebknecht-Haus in Berlin. Die Verfasserin des Schreibens begründete ihr Anliegen explizit mit einem Buch des ehemaligen ND-Kulturredakteurs Wilhelm Girnus. Verschlüsselt hatte Girnus dort mit Herrnstadt ("Ludolf Bernkaim") abgerechnet, auch vor Beleidigungen nicht zu-

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Rudolf Herrnstadt, am 18. März 1903 in einer bürgerlich-jüdischen Familie in Gleiwitz geboren, studierte drei Semester Jura und arbeitete anschließend bis 1924 in der Industrie. Sein sozialdemokratischer Vater, von Beruf Jurist, wollte, daß er Unternehmer werde. 36 Doch Herrnstadt schlug eine schriftstellerische Laufbahn ein. Er lektorierte von 1924 an für den Drei-Masken-Verlag in Berlin und schrieb einige Komödien. Ab 1928 arbeitete er zunächst als Umbruchredakteur beim "Berliner Tageblatt". Er bekannte sich als Kommunist, doch seine Bemühungen, im November 1929 Mitglied der KPD zu werden, scheiterten. Schließlich als Auslandskorrespondent des "Berliner Tageblattes" in der Tschechoslowakei tätig, wurde die sowjetische Militäraufklärung auf ihn aufmerksam. Sie verpflichtetete ihn 1930 in Prag zur inoffiziellen Zusammenarbeit. Ludwig Freund, Mitbegründer der KPC, hatte hier die Vermittlerrolle gespielt. 37 Herrnstadt ging diese Bindung aus Überzeugung ein. Er wählte sich den Decknamen "Friedrich Brockmann". Auf diesen Namen ist auch sein Ausweis als KPD-Mitglied von 1931 ausgestellt. 38 Später in Warschau Auslandskorrespondent, wurde er Resident der sowjetischen Militäraufklärung. Er leitete hochkarätige Agenten. 39 In der Zeit von 1932 bis 1938 lieferte er allein 145 Informationen, von denen 90 als wertvoll bzw. als besonders wertvoll eingestuft wurden. In der GRU-Zentrale wurde er als "prinzipientreuer Kommunist", als ein "Freund der Sowjetunion" angesehen, der alle Aufträge "stets zuverlässig und pünktlich" erfüllte. Mehrere Auszeichnungen waren sein Lohn. 40 Kurz vor dem Angriff Hitlerdeutschlands auf Polen floh Herrnstadt in die Sowjetunion. Nach 1942 wurde er von der sowjetischen Militäraufklärung "freigegeben" - für die Parteiarbeit. In einem von Herrnstadt und den leitenden GRU-Mitarbeitern Iwan Alexejewitsch

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rückgeschreckt: "Ein infames Schwein, ein hinterfotziger Strolch, ein Vieh von einem Charakter". Girnus, Wilhelm: Aus den Papieren des Germain Tawordschus, Rostock 1982, S. 515. SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/4/388, Bl. 9. Ebenda, Bl. 10. Behörde des Bundesbeauftragten fiir die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), Zentralarchiv (ZA), Arbeitsvorgang (AV) 98/66, H. 19. Herrnstadts operativer Aufgabenschwerpunkt stellte offensichtlich die Deutsche Botschaft in Warschau dar. Über dieses Agentennetz liegen bisher nur fragmentarische Erkenntnisse vor. Aus denen ist jedoch ersichtlich, daß es sowohl in der Botschaft, als auch in deren Umfeld bestand. Bereits 1931 soll Hermstadt die Journalistin Ilse Stöbe (Deckname Alta) geworben haben. Sie lieferte bis August 1939 26 "große Berichte", wovon die GRU den größten Teil als wertvoll einschätzte. Im Oktober 1933 kam der Journalist Gerhard Kegel (Deckname Kurt) hinzu, der später DDR-Vertreter bei der UNO war. Kegel arbeitete als Referent für Wirtschaftsfragen in der Deutschen Botschaft. In den Jahren 1934-39 lieferte Kegel 340 Berichte und Informationen, von denen die GRU die Mehrzahl als von "großem Wert" einstufte. Herrnstadt hat im Juli 1937 unter "falscher Flagge" (vermutlich eines britischen Geheimdienstes) den Legationsrat und stellvertretenden Botschaftsrat der Deutschen Botschaft in Warschau, Rudolf von Scheliha (Deckname Arier), gewonnen. Wahrscheinlich wurde Scheliha, mit dem Herrnstadt auch eine sehr private Verbindung unterhielt, mit seinem Einverständnis "abgeschöpft". Von Scheliha hat bis Februar 1940 nach GRU-Angaben "211 Materialien großen und mittleren Wertes" geliefert. In einem Dossier der GRU heißt es dazu: "Darunter solche wie: Vorträge der deutschen Botschafter in den wichtigsten kapitalistischen Ländern, Direktiven des deutschen Außenministeriums für seine Botschafter usw." "Besonderen Wert" jedoch maß die GRU von Schelihas Materialien der Jahre 1940/41 bei. Als Kurier nach Wien fungierte 1934-38 der von Herrnstadt angesprochene Helmut Kindler, der spätere Leiter des Kindler-Verlages in München. BStU, ZA, Sondervorgang (SV) 1/84.

40 BStU, ZA, AV 98/66. Im Jahre 1967 war ernstlich erwogen worden, ihn mit dem Rotbanner-Orden postum auszuzeichnen. Doch dazu kam es nicht.

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Bolschakow (Leiter Sektion I - Europa) und Jegorow gezeichneten Schreiben an den Chef der Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, Georgi Dimitroff, hieß es, die Militäraufklärung habe "gegenwärtig keine Verwendungsmöglichkeit" für Herrnstadt, er solle in den Parteiapparat eingegliedert werden. Zur Person Herrnstadts vermerkte es, er habe seit 1939 "eine Reihe spezieller Aufgaben" erledigt, wobei die ihm übertragenen Aufgaben "zur vollsten Zufriedenheit" erfüllt worden seien und "unserem Lande großen Nutzen" gebracht hätten. 41 Herrnstadt wirkte in der Moskauer Exil-KPD und im Nationalkomitee Freies Deutschland, wurde Chefredakteur der Zeitung "Das freie Wort", ab Juli 1943 von "Freies Deutschland", dem Organ des NKFD. Rudolf Herrnstadt gehörte zu den ersten Moskauer Emigranten, die nach der Befreiung nach Deutschland zurückkehrten. Nachträglich wurde er zur "Brigade Ulbricht" gezählt. 42 Er war Mitbegründer der "Täglichen Rundschau" und der "Berliner Zeitung", deren Chefredakteur er wurde. Mit dem Berliner Verlag schuf er einen "Pressekonzern", der mehrere Zeitungen und auch Bücher herausgab. Dennoch war das SED-Mitglied mit der Nr. 12 43 in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Das änderte sich indes schlagartig, als sein Artikel "Über 'die Russen' und über uns" erschien. Zu diesem Zeitpunkt bereitete sich Herrnstadt bereits auf die Übernahme der Chefredaktion des "Neuen Deutschland" vor, die aber erst im Mai 1949 erfolgte. Zwar durfte er das Zentralorgan der SED nicht wie die FKP-Bruderzeitung "LTiumanite" gestalten - aber was Herrnstadt ins Blatt hob, konterkarierte nicht selten den dirigistischen Parteiapparat. Worauf es ihm ankam, wurde bereits im "Russen"-Artikel deutlich. Die Planerfüllung, gar -Übererfüllung, wäre zwar schön, hieß es dort, aber das "Geringere". Vielmehr müßte ein "neues Arbeitsethos", ein "Fieber" die Massen ergreifen. Die passive Arbeiterschaft, diese "alte deutsche Misere", müsse überwunden werden, gefragt sei eine "neue, bewußte, handlungsfähige und handelnde Arbeiterklasse": "Das wäre das Große." 44 Am 25. Janaur 1952 schrieb Herrnstadt, seit 1950 Mitglied des ZK der SED und Politbürokandidat, im "Neuen Deutschland": "Entspricht die Wirklichkeit in der DDR dem demokratischen Charakter unserer Gesetze? Entspricht das Leben in unserer Partei dem Demokratismus unseres Staates? Sie herrscht noch nicht bei uns. Nicht in der Partei, nicht im Staat. Zahllos sind die Fälle, in denen die Initiative der Massen erstickt oder blockiert wird. Zahlreich sind die Fälle, in denen anmaßende Partei- oder Staatsfunktionäre mit dem Mittel des Kommandierens 'ihre' Linie durchsetzen, welche weder die Linie unserer Partei noch die des Staates ist." Das dem so sei, daran wäre "schuld, die Parteiorganisation von unten bis oben. Und je weiter nach oben, desto mehr!" 45 Das war Herrnstadts Sprache.

41 Russisches Zentrum für die Aufbewahrung und das Studium der Dokumente der neuesten Geschichte, 495/74/165. Diesen Hinweis danke ich Hans Coppi. Nach 1939 war Hermstadt offensichtlich zeitweise in der Tschechoslowakei eingesetzt. Es heißt, er habe aus operativen Gründen unter dem Namen "Pekkel" die tschechische Staatsbürgerschaft angenommen. 42 Keiderling, Gerhard (Hrsg.): "Gruppe Ulbricht" in Berlin. April bis Juni 1945. Von den Vorbereitungen im Sommer 1944 bis zur Wiedergründung der KPD im Juni 1945. Eine Dokumentation, Berlin 1993, S.441. 43 SAPMO-BArch, D Y 30, IV 2/11/v. 590. 44 Herrnstadt, Rudolf: Über 'die Russen' und über uns, in: Neues Deutschland, 19.11.1948. 45 Herrnstadt, Rudolf: Heraus mit der Sprache!, in: Neues Deutschland, 25.1.1952.

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Freilich bewegte auch er sich im Rahmen der vom marxistisch-leninistischen Kanon gesetzten Grenzen. Diese zu überschreiten, verbot sich ihm als disziplinierten Parteisoldaten, der er war. Was ihm allerdings fehlte, war der Stallgeruch der Funktionäre. Dieser "Mangel" gab seinen Artikeln Frische, verlieh seinem Engagement Unbefangenheit. Er kritisierte administratives Vorgehen, Buchstabengelehrtheit und Dogmatismus im Parteiapparat. Dies ließ ihn zu einem Feind der Apparatschiks werden. Das wußte Walter Ulbricht, und darum förderte er Herrnstadt. Obgleich selbst ein Apparatschik, war ihm dessen Feder recht, "störten" doch nicht selten Apparatschiks seine Intentionen. Erst als die Kritik auch Ulbricht galt, wurde Herrnstadt auch für ihn ein Feind, ein "Parteifeind". Was war der Hintergrund? Nach Stalins Tod waren die im Kreml Regierenden plötzlich besorgt über die innere Entwicklung der DDR. Die Arbeiter zeigten keine Begeisterung für den beschleunigten Aufbau des Sozialismus, obgleich von Herrnstadt dazu ermuntert. Vielmehr wendeten Hunderttausende sich ab, flohen in den Kapitalismus. Den Anfang Juni 1953 nach Moskau einbestellten SED-Größen wurde als Reaktion darauf ein Neuer Kurs verordnet, dessen Dimension noch heute nicht abschließend zu werten ist. Sicher ist, daß innergesellschaftliche Entspannung angesagt war. Tauwetterstimmung. Und: Ulbrichts Stellung stand zur Disposition. Unklar ist noch, ob und inwieweit mit dem Neuen Kurs auch außenpolitische Intentionen verbunden waren, Bewegung in die Deutschlandfrage kommen sollte, welchen Charakter die SED erhalten sollte und was für den Staat DDR gedacht war. Jedenfalls wurden die Arbeiter nun unerwartet von einem "Fieber" anderer Art gepackt. Mit dem 17. Juni wurden die Karten neu gemischt. 46 Am 8. Juli 1953 wendete sich auf Wunsch Moskaus das Blatt erneut. Nun wurde Ulbricht wieder stabilisiert, der alte Kurs als mehr oder weniger neuer fortgesetzt. Die dem Politbüro der SED vom Ministerrat der UdSSR verordnete Wendepolitik vom Juni 1953 wurde kurzerhand auf Herrnstadt und - aus anderen Gründen - auf Wilhelm Zaisser, Minister für Staatssicherheit, reduziert und personalisiert. Es wurde die Legende verbreitet, Herrnstadt habe eine "Fraktion" gebildet. Seine angeblich gegen die Partei gerichtete "Plattform" war in Wirklichkeit Teil einer vom Politbüro der SED bestellten Erklärung, an der Ulbricht selbst mitgearbeitet hatte. 47 Aus den Entwürfen für den Beschluß zum Parteiausschluß Herrnstadts, der im Januar 1954 erfolgte, ist zu ersehen, daß Ulbricht selbst verschärfende Formulierungen hineinredigiert hatte. Er fügte ein, daß ein "innerparteilicher Putsch" durchgeführt und Herrnstadt als 1. Sekretär vorgeschlagen worden sei. Er änderte den Vorschlag von Hermann Matern, Herrnstadt habe die "Erneuerung des zentralen Parteiapparates" angestrebt, dahingehend um, daß dieser dessen "Leitung" ergreifen wollte. 48 Die in den Junitagen von einer Mehrheit in der Parteispitze vertretene Auffassung, Ulbricht solle von seinem Posten als Generalsekretär zurücktreten, weiterhin aber Mitglied des Politbüros bleiben, verband Ulbricht mit dem nun auch in seinen Augen als "Mann der Sowjets" geltenden Herrnstadt. 49 Im Juli 1953 verlor 46 Müller-Enbergs, Helmut: Der Fall Rudolf Hermstadt. Tauwetterpolitik vor dem 17. Juni, Berlin 1991. 47 Vgl. Hermstadt, Rudolf: Das Herrnstadt-Dokument. Das Politbüro der SED und die Geschichte des 17. Juni 1953, hrsg. von Nadja Stulz-Hermstadt, Reinbek bei Hamburg 1990. 48 SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/11/v. 590, Bl. 40-47. 49 Inwieweit Herrnstadt tatsächlich damit rechnete, das "Neue Deutschland" zu verlassen und eine Arbeit im Parteiapparat aufzunehmen, läßt sich nur vermuten, dürfte aber wahrscheinlich sein. Näheren Auf-

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Herrnstadt alle Ämter und wurde in ein Merseburger Archiv verbannt. Er verstarb parteilos vor 30 Jahren, am 28. August 1966, in Halle. Endlich, als im Herbst 1989 ein "Fieber" die Massen ergriff, die Arbeiterschaft nicht mehr passiv war, sondern handelte, erfolgte unter dem Druck der Ereignisse am 28. November 1989 der eilig verfaßte Vorschlag zur Rehabilitierung, am 29. der Beschluß, und tags darauf die Bekanntmachung im "Neuen Deutschland". 50 So skandalös es war, den "Sowjetmenschen" Herrnstadt zum "Parteifeind" zu stempeln, so sorglos wurde er rehabilitiert: Nur zufällig erfuhr die Familie Herrnstadts davon ein Jahr später, die offizielle Mitteilung erhielt sie nach ausdrücklicher Bitte erst im folgenden Jahr. 51

schluß gibt ein jüngst aufgefundener Lebenslauf von Heinz Friedrich, Stellvertretender Chefredakteur des ND, vom 2.3.1955. Er sei von Herrnstadt gefragt worden, ob er bereit sei, die Chefredaktion des Zentralorgans zu übernehmen oder Abteilungsleiter Propaganda im ZK zu werden, oder "schließlich sein Mitarbeiter zu sein in Orgfragen der Partei." SAPMO-BArch, DY 30, IV 2/11/v. 2251, Bl. 38. 50 Mit aller Strenge gegen Verletzungen des Statuts, in: Neues Deutschland, 30.11.1989. 51 Unterlagen der PDS-Schiedskommission im Karl-Liebknecht-Haus in Berlin.

Jurij W. Bassistow (St. Petersburg)

Oberst Tjulpanow und die Bildungs- und Kulturpolitik der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) 1945-1949 Zwischen Kultur und Ideologie Der Kampf für die Erhaltung der "Reinheit" der ideologischen Prinzipien wurde zur Hauptform der Verwirklichung der Kulturpolitik der SMAD. Was ihre Ausführungskräfte betraf, so sah man sie in erster Linie in den deutschen Kulturschaffenden. Hier scheint eine Parallele zur sowjetischen ideologischen Beeinflussung der deutschen Wehrmacht vorzuliegen, denn in der Zeit nach dem Juli 1943 wurde die sowjetische Propaganda an der Front hauptsächlich vom Nationalkomitee "Freies Deutschland" durchgeführt. So sollte auch in der Nachkriegszeit die "sozialistische Kultur" durch Deutsche geschaffen werden. Die führende Rolle sollte dabei die KPD und später die SED und ihr nahestehende politische und gesellschaftliche Organisationen innehaben. Die demokratischen Kreise der Intelligenz sollten eifrig mithelfen. Worin bestand das Phänomen der breiten Unterstützung der Tätigkeit der sowjetischen Militärbehörden durch die deutsche Intelligenz, besonders in den ersten Nachkriegsmonaten? In der Sowjetunion sahen sie die Hauptkraft, die Hitlers Nationalsozialismus vernichtet hatte. In den Besiegern des deutschen Totalitarismus wurden nicht gleich die Vertreter eines anderen Totalitarismus erkannt. Es gab aber auch solche, die die Vorkriegsillusionen der linken Intelligenz des Westens bezüglich der Sowjetunion geerbt hatten. Hatte doch Bernhard Kellermann nach seiner Rückkehr aus Rußland im Jahre 1928 gesagt, daß er ein aufblühendes Land gesehen habe, das die "Hoffnung der Welt" sein werde. Obwohl sie die Wahrheit über die stalinistischen Verfolgungen kannten, suchten Brecht, Feuchtwanger, A. Zweig und andere nach Erklärungen, um ihren Glauben an die "humanistischen Anfänge" des Sowjetsystems behalten zu können. "Moskau 1937" von Lion Feuchtwanger ist dafür ein krasses Beispiel, und bis heute stellt man die Frage: War das Buch ein Verrat an den eigenen Idealen oder eine unerklärbare Ignoranz und Selbsttäuschung? Es wäre eine primitive Vereinfachung, die gesamte Tätigkeit der SMAD auf dem Gebiet der Kultur nur schwarz zu färben und objektiv positive Seiten auszuschließen. In der marxistisch-leninistischen Formel der Kultur als "sozialistisch dem Inhalt nach und national der Form nach" eröffnete der zweite Teil bestimmte Möglichkeiten einer Wiedergeburt des kulturellen humanistischen Erbes auf deutschem Boden. Im Osten Deutschlands entstand wieder ein Theaterleben. Die ersten Inszenierungen erschienen im Berliner Renaissance-Theater ("Der grüne Kakadu" von Arthur Schnitzler, "Der Kammersänger" von Frank Wedekind). Im Deutschen Theater sorgte Gustav von Wangenheim für die Wiedergeburt der Traditionen des Bühnenrealismus. Zum kulturellen Ereignis wurde im September 1945 die Inszenierung von Lessings Drama "Nathan der Weise" im Deutschen Theater. Großen Erfolg hatte auch die Uraufführung von Richard Wagners "Die Walküre", obwohl manche sowjetischen und deu-

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tschen Orthodoxen diesen "Troubadour des deutschen Geistes" für unerwünscht hielten. Seine Nachkriegstätigkeit auf der Bühne des Hebbel-Theaters begann Walter Felsenstein, der bald mit einer Lizenz der SMAD seine berühmte "Komische Oper" schuf. Das im Februar 1947 am Festungsgraben eröffnete Haus der Sowjetkultur wurde nicht nur ein propagandistisches Zentrum sondern auch ein Bestandteil im Kulturbild Berlins, ein Haus mit offenen Türen an der Grenze zwischen Kultur und Ideologie. Das Haus verfügte über eine gute Bibliothek, hatte zahlreiche Zirkel für verschiedene Interessengruppen und bot russische Sprachkurse an. Hier fanden auch Gastspiele bekannter russischer Künstler statt. Ein besonderer Platz im geistigen Leben der SBZ gehörte dem Kulturbund. Gegründet am 3. Juli 1945, vereinigte der Verband organisatorisch Leute verschiedener intellektueller Berufe. Mitte 1946 zählte der Kulturbund etwa fünfundvierzigtausend Mitglieder. Seine Abteilungen funktionierten in allen Provinzen Ostdeutschlands. Der Bund verfügte über ein eigenes Pressewesen. Die kulturpolitische Monatsschrift "Aufbau" hatte eine Auflage von 150.000 im Jahre 1946; die Wochenzeitung "Der Sonntag" sogar mehr als 200.000. Auf Landesebene erschienen Mitteilungsblätter für Mitglieder, einige Kommissionen verfügten über Fachzeitschriften. Dem Kulturbund standen 1949 28 Kulturhäuser, 38 Klubs der Kulturschaffenden und 214 Geschäftsstellen zur Verfügung. 1 Der Kulturbund war eine harte Nuß für die SMAD. Die kommunistische Ideologie und Praxis schien den intellektuellen Schichten der Bevölkerung fremd zu sein, und die Entwicklung im Kulturbund hat dies nochmals bewiesen. Zu Beginn seiner Tätigkeit waren allgemeine antifaschistische und demokratische Tendenzen maßgebend gewesen. Doch für die SMAD und für die KPD/SED war der Kulturbund ein Mittel der ideologischen Umerziehung der deutschen Intelligenz im kommunistischen Geist. Die Lage im Bund bereitete der SMAD immer neue Sorgen, denn sie zeigte eindeutig die Schwäche der Positionen der SED in Kreisen der Intelligenz. In seinem Bericht vor der Moskauer ZK-Kommission in Karlshorst am 16. September 1946 hat Oberst Tjulpanow das Problem recht ausdrucksvoll formuliert: "Die Intelligenz beherrschen wir nicht - das kann man sagen. Das ist einer der größten Mängel in unserer Arbeit. Die SED ist kein Banner für die Intelligenz. Die Hauptursache liegt darin, daß die SED und wir es nicht schaffen, die Intelligenz zu überzeugen, daß es die einzige Partei sei, die auf den Positionen des Fortschritts stehe". 2 Aber man ließ die Hände nicht im Schoß. Es wurde alles unternommen, diesem "großen Mangel" abzuhelfen und dem Kulturbund die "richtige" Partei- und Klassenanschauung aufzuzwingen. Bei der eben erwähnten Sitzung in Karlshorst forderte Tjulpanow, den Kulturbund als ein "wirkliches Kulturorgan der demokratischen Erneuerung Deutschlands zu formen, als eine Gesellschaft kultureller Beziehungen mit der UdSSR". Johannes R. Becher, der Präsident des Kulturbundes, konnte und wollte das nach Tjulpanows Meinung nicht. Er fürchte jedes scharfe politische Auftreten im Kulturbund und möchte Erich Weinert nicht im Vorstand sehen. Becher habe es nicht gern, wenn er mit "Genosse" angesprochen werde und schäme sich zu sagen, daß er Mitglied des ZK der SED sei. Tjulpanows Attacke gegen Becher endete mit der bemerkenswerten Schlußfolgerung, er sei einfach ein "Vertreter der fortschrittlichen Intelligenz". Doch eben das war nicht ausreichend, man brauchte im Kulturbund 1 SWAG. Uprawlenije propagandy (informazii) i S. I. Tjulpanow 1945-1949. Pod redakziej Bernda Bonwetscha, Gennadija Bordjugowa, Normana Neimarka, Moskwa 1994, S. 173. 2 Ebenda, S. 174.

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einen Parteiaufseher. Seitens der Informationsverwaltung der SMAD wurde darum gefordert, Becher vom Amt des Präsidenten des Kulturbundes zu befreien. Der Fall Becher entwickelte sich weiter. Der für den Kulturbund "verantwortliche" Referent, Major Patent, erlaubte sich, auf Becher in scharfen Tönen die Schuld an allen Mängeln im Kulturbund zu laden. Er sei zu duldsam gegenüber bürgerlichen Elementen. Der Präsident wurde auch daran erinnert, daß er und seine Frau Lebensmittel von der SMAD erhielten also wissen sollten, wessen Brot sie aßen. Patent unterstrich gleichzeitig, daß er mit Becher nicht als "Genosse", sondern als Vertreter der Besatzungsmacht rede. Das war Becher zuviel. Er reichte seinen Rücktritt ein. Doch der Informationsverwaltung gelang es nicht, Johannes R. Becher zu stürzen. Bekanntlich hatte er gute Beziehungen zu Walter Ulbricht. Die Frage seines Rücktritts wurde dem Obersten Chef der SMAD, Marschall Sokolowski, bekannt, der seinen politischen Berater Semjonow beauftragte, ein Gespräch mit Becher zu führen. Am 13. November 1946 wurde Becher durch Semjonow empfangen; die Informationsverwaltung war dabei nicht vertreten. Das Gespräch zwischen Semjonow und Becher zeigt, in welchem Maße die orthodoxe Politik der SMAD und der SED auch von der deutschen linken Intelligenz abgelehnt wurde. Aus dem Bericht Semjonows über das Gespräch folgt, daß Becher die Linie der SMAD gegenüber den bürgerlichen Parteien als kurzsichtig charakterisierte. Sie stoße manche loyalen Elemente ab. Die SMAD orientiere sich ausschließlich an der SED. Auch die Zeitung "Tägliche Rundschau" unterstütze in ihrer unnützen Gradlinigkeit nur die SED. Gleichzeitig beklagen sich die Liberalen und die Christlichen Demokraten, weil sie zu wenig Papier für ihre Publikationen erhielten. Statt dessen, meinte Becher, wäre es für die sowjetische Seite wichtig, gute Kontakte zu denjenigen Politikern in den Vorständen von LDP und CDU aufrecht zu erhalten, die die Notwendigkeit gutnachbarlicher deutsch-sowjetischer Beziehungen begriffen. Die Wahlergebnisse in Berlin bezeichnete Becher als eine Niederlage der SED. Nach seinen Worten sehe die deutsche Intelligenz für sich keine Perspektiven. Semjonow versuchte, Becher zu beruhigen. Er sei damit einverstanden, daß man loyale bürgerliche Elemente nicht abstoßen dürfe. Was Major Patent betreffe, so werde er bestraft. 3 Nach diesem Gespräch mit Semjonow war Becher bereit, seinen Rücktritt zurückzunehmen. Semjonow berichtete Michael Suslow, dem zuständigen Sekretär im ZK der KPdSU: Becher stehe subjektiv auf unserer Seite, befinde sich aber unter dem Einfluß "bürgerlich denkender" Intellektueller. Man müsse zwar unseren alltäglichen Einfluß auf die Leitung des Kulturbundes stärken, aber ohne taktlose und kleinliche Einmischung, wie dies seitens der Infoimationsverwaltung praktiziert werde. 4 Der Pfeil war ganz offensichtlich gegen Tjulpanow gerichtet und widerspiegelte die gespannten Beziehungen zwischen beiden. Gab es unter den Vertetern der deutschen Kultur in Ostdeutschland Menschen, die die Gefahr der Umwandlung der antifaschistischen Haltung in die Unterstützung eines anderen Totalitarismus sahen? Bestimmt waren es viele, auch unter den Mitläufern, und ihre Zahl wuchs mit der Verhärtung des ideologischen Zwangs. Eine ganz andere Sache ist es, ob es viele gewagt haben, ihre Stimme zu erheben, was mit einer direkten persönlichen Gefahr verbunden war. Es mehrte sich die Zahl derer, die eine zweite innere Emigration erlebten. Doch 3 Soweit ich mich erinnere, ist Patent mit einer leichten Rüge davongekommen. 4 Wie Anm. 1,S. 69-71.

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gab es ebenfalls offene Kritik und eine offene Absage an das System durch Verlassen der SBZ. Für Theodor Plivier und andere unabhängige Autoren und Künstler war die Flucht der einzige Weg zur Freiheit des Schaffens. Kritische Töne kamen häufiger aus dem Westen, unter ihnen auch manchmal heitere. Ein Blatt, ich glaube es war "Der Telegraph", hat die untertänige Haltung von Ernst Busch gegenüber der sowjetischen Seite mit dem Satz gekennzeichnet: "Busch singt Arien nicht aus Webers Freischütz, sondern Dymschitz". 5 Die Vollstrecker der sowjetischen Politik in allen Bereichen des Kulturlebens waren die Parteiorgane der SED. Das Theaterwesen war keine Ausnahme. Der einzige Referent für Theater bei der SMAD, der gebildete und intelligente Major Fradkin, hat unter vier Augen darüber geklagt, mit welchen "Kulturträgern" er es oft zu tun hatte. In der Abteilung Kultur und Kunst der SED gab es absolut inkompetente Mitarbeiter, über die sich die Künstler nur lustig machten. In der SBZ bestanden insgesamt 106 Theater. Aus Moskau wurde angeordnet, sowjetische Stücke zu inszenieren, die das Leben in der Sowjetunion "wahrhaftig" schilderten. Als in einigen Theatern "Der Schatten" von Schwarz auf die Bühne gelangte - ein Märchen über einen Tyrannen - wurde das Stück schnellstens verboten: es könnten ja unerwünschte Parallelen zum noch lebenden Tyrannen gezogen werden. Willkommen waren nur PropagandaShows des sozialistischen Realismus. Betrachtet man die Kulturpolitik der SMAD, so zeigt sich, daß sie im Lauf der Zeit eine bestimmte Entwicklung durchmachte. Es gab wesentliche Unterschiede zwischen der ersten Periode gleich nach dem Krieg sowie der Zeit nach 1946 und 1947/48. Diese Unterschiede umfaßten nicht das ideologische Grundmuster, doch die Methoden und Formen ihrer Anwendung waren unterschiedlich. Die ersten Nachkriegsmonate waren von einer verhältnismäßig liberalen Haltung gekennzeichnet. Es ist zu erwähnen, daß auch die Forderung, den sozialistischen Realismus zum Hauptprinzip künstlerischen Schaffens zu machen, zuerst in recht freizügigen Formen gestaltet wurde. Im Januar 1946 lud die deutsche Zentralverwaltung für Volksbildung in der SBZ zahlreiche Künstler zu einer Aussprache über die Aufgaben der bildenden Künste im demokratischen Deutschland ein. Wir erkennen bereits die Züge der direktiven und zentralisierten Leitung der Kunst, obwohl der Kongreß den Teilnehmern noch eine freie Aussprache gewährleistete. Das Wort ergriff der Leiter der Kulturabteilung, Dymschitz. In seinen Ausführungen ging er auf die Erfahrungen der Sowjetkunst auf dem Wege des sozialistischen Realismus ein, betonte jedoch, daß dieser keineswegs ein Dogma oder ein Dekret sei, sondern ein Weg des Kunstschaffens, eine Methode. Er fügte hinzu, daß die sowjetische Kunst von dem Grundsatz ausgehe, daß alle Genres gut seien, bis auf die langweiligsten. In der Sowjetunion selbst war der Ton damals schon viel härter und solche Sentenzen konnte sich der kluge, ironische Dymschitz in Zukunft nicht mehr erlauben, obwohl er mir öfters lachend sagte, daß kein Mensch auf Erden wisse, was sozialistischer Realismus überhaupt bedeute. Der Kalte Krieg setzte seine Akzente in der gesamten Politik der SMAD, auch im Bereich Kultur. Das kulturelle Leben in der SBZ wurde immer mehr von Büchern, Filmen und Theaterstücken bestimmt, die eine falsifizierte Schilderung der Geschichte und Politik, der Kul5

Oberstleutnant A. L. Dymschitz war zu der Zeit Leiter der Kulturabteilung der Informationsverwaltung der SMAD.

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tur und der Kunst im Geiste der bekannten Beschlüsse der KPdSU in der Zeit 1946/48 darstellten. Die ideologischen Auseinandersetzungen erreichten einen höheren Grad. Aus Informationstätigkeit wurde wütende Propaganda zur Entlarvung der "reaktionären imperialistischen Kreise" als Kriegsbrandstifter und Feinde der fortschrittlichen Menschheit. Die Sowjetunion wurde als Vorposten des Friedens und der Demokratie gepriesen. Der ideologische Druck der sowjetischen Okkupationsmacht verhärtete sich in allen Bereichen des Kulturlebens Ostdeutschlands. Man veranstaltete Literaturabende, an denen der "sozialistische Humanismus" gekrönt und eine Trennungslinie zwischen "sozialistischer" und "bürgerlicher" Kunst gezogen wurde. Es entfaltete sich eine neue Propagandawelle des Stalin-Kults. Man verherrlichte die stalinistische Kollektivierung der Landwirtschaft. Die stalinistische Verfassung von 1936 wurde als "Gipfel der Demokratie" gefeiert. Seit den ersten Tagen nach Kriegsende schenkte die sowjetische Administration der Schaffung einer strengen Zensur in allen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens größte Aufmerksamkeit. Ein erster Schritt war die Schaffung des Sektors "Propaganda und Zensur", der zur Politischen Abteilung im Bereich des Amts des Politischen Beraters gehörte. Ende Oktober 1945 wurde die Funktion der Zensur der Verwaltung Propaganda übertragen. Laut Befehl Nr. 29 des Obersten Chefs der SMAD vom 18. August 1945 wurde die Zensur streng zentralisiert. Alle Inhaber von Druckereien sowie Personen, die Vervielfältigungsapparate besaßen, waren verpflichtet, diese Mittel in den entsprechenden Kommandanturen registrieren zu lassen. Jede Drucksache mußte von der Zensur genehmigt werden. Den Erlaubnisstempel mußten alle Formulare, amtliche Papiere, Bekanntmachungen, Berichte und anderes erhalten. Verletzungen dieser Anordnung waren sehr selten. Im Berliner Bezirk Pankow hatte eine Druckerei ohne Genehmigung der Zensur zwei Broschüren für das Bezirkstheater herausgegeben. Der Inhaber erhielt dafür ein zweiwöchiges Arbeitsverbot und 300 Mark Strafe. Die gesamte Dokumentation der politischen Parteien - Aufrufe, Flugblätter, Plakate und anderes Material - mußte der Zensur vorgelegt werden. In den Redaktionen der Zeitungen und Zeitschriften sorgten Zensoren dafür, daß jeder Artikel und jede Information erst nach der Genehmigung das Licht der Öffentlichkeit erblickten. Das war kein leichter Job, denn über jedem Zensor stand ein weiterer Zensor, der dessen Arbeit überwachte. So wurde mancher von ihnen wegen "Prinzipienlosigkeit" bestraft. Als Folge der harten Zensur konnten in solchen Zeitungen wie "Neue Zeit" (CDU) und "Der Morgen" (LDP) viele Artikel durch Veto nicht erscheinen. Bei der "Neuen Zeit" waren es in manchen Monaten dreißig bis vierzig Aufsätze. Weiße Flecken erschienen auch auf den Seiten der "Berliner Zeitung" und sogar der "Deutschen Volkszeitung" (KPD). Auch das Organ der SMAD selbst, die "Tägliche Rundschau", entging in manchen Fällen diesem Los nicht. Unter ständiger Aufsicht der Zensur befand sich auch das Berliner Rundfunkhaus. Der Arbeitsplan des Rundfunks und jede Sendung wurden von einem ständigen Zensor überwacht, der seinen Sitz direkt im Hause hatte. Schon im Oktober 1945 wurde der Segen der Zensur auf die Theater und Kinos übertragen. Der Spielplan des "Deutschen Theaters", der "Deutschen Oper", des "Theaters am Schiffbauerdamm" und des Operettentheaters wurde unter Kontrolle gestellt. Zensoren nahmen auch teil an den Inszenierungen der Stücke. Was das Kino anbelangt, so wurden im Atelier des "Tobis-Film" alle für den Vertrieb vorgesehenen deutschen und sowjetischen (unter denen ebenfalls unerwünschte hätten sein können) Filme sorgfältig geprüft. Erst danach erhielt ein Film einen Paß und konnte in die Kinos ge-

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langen. Also müßten für das Glück, die schönen Beine der Marika Röck in der "Frau meiner Träume" erblicken zu können, die Bürger Ostdeutschlands der sowjetischen Zensur dankbar sein. Die Beziehungen zwischen den Alliierten auf dem Gebiet der Kultur und des Bildungswesens sind ein besonderes Thema, das meiner Meinung nach noch zu wenig untersucht worden ist, insbsondere von russischer Seite. Schon Ende 1945 war von der Verständigung unter den Großmächten nicht viel übrig geblieben. Die Kontroversen im Alliierten Kontrollrat wurden auch auf dem Gebiet der Kultur immer heftiger. Die folgende Episode veranschaulicht den Charakter der "Kontakte" von damals. Der Direktion des "Deutschen Theaters" wurde "von oben" empfohlen, das antiamerikanische Schauspiel "Die russische Frage" von Konstantin Simonow zu inszenieren. Einige Schauspieler weigerten sich, an dieser Inszenierung mitzuarbeiten, aber das Stück gelangte dennoch auf die Bühne. Jetzt stieg die amerikanische Seite ein. Die Informationsverwaltung der US-Administration forderte von der sowjetischen Seite, das Stück aus dem Spielplan zu streichen. Diese lehnte die Forderung ab. Der nächste Vorstoß kam von General Robert McClure, Chef der US-Informationsverwaltung. Er teilte Oberst Tjulpanow höflich mit, daß es den Amerikanern schwerfallen werde, die Aufführung des Films über die Tscheka und GPU 6 im Westen zu verbieten. Tjulpanow bemerkte dazu, daß in diesem Falle unverzüglich in den von sowjetischer Seite lizenzierten Presseorganen über die faschistische Herkunft des Films berichtet werde. Das war eine kleine Episode des Kalten Krieges an der Front der Kultur. Ich habe aber auch einige nicht so finstere Episoden im Gedächtnis behalten. Dazu gehört ein Filmabend bei den Amerikanern, wo uns unsere Kollegen Chaplins "Diktator" zeigten (der Film war in der Sowjetunion unerwünscht). Ein schönes Erlebnis war auch ein Theaterbesuch auf Einladung der britischen Kollegen. In Berlin präsentierte die NAAFI "The Apple Cart" - a political extravaganza by George Bernard Shaw. In den ersten Herbsttagen des Jahres 1946 äußerte General McClure den Wunsch, die SBZ zu besuchen. Oberst Tjulpanow beauftragte mich wegen meiner Englischkenntnisse, den General zu begleiten. Dresden, Meißen und Weimar wurden besichtigt. In Meißen kauften Mr. und Mrs. McClure ein schönes Kaffeeservice als Hochzeitsgeschenk für ihren Sohn. Es war eine gelungene Reise. Ich fand, daß der "imperialistische" General und seine Gattin sehr nette Leute waren. In West-Berlin sagte mir der General beim Abschied, er würde in einem Austauschverfahren gerne mich und andere sowjetische Offiziere in seiner Verwaltung aufnehmen. Nach der Rückkehr nach Karlshorst berichtete ich Tjulpanow über den Vorschlag McClures. Mein erfahrener Chef lächelte leise und sagte, es wäre gut, aber unmöglich. Zwei Tage später erhielt ich in Karlshorst einen kurzen Brief, in dem sich General McClure, auch im Namen seiner Frau, bedankte. Eine Flasche Whisky bestätigte den Dank, eine übliche Höflichkeitsgeste. Viele Jahre später wurde mir diese Episode in einem anderen Licht in Erinnerung gerufen. Eben war die Erzählung "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch" von Alexander Solschenizyn erschienen, die mich tief beeindruckte. Unter den Insassen des beschriebenen KZs befand sich ein Marineoffizier aus Murmansk, dessen einzige "Schuld" eine Flasche amerikanischen Whiskys war. Gott hat mich bewahrt. 6

Politische Staatsverwaltung; Name der sowjetischen Geheimpolizei von 1922 bis 1934, als Tscheka 1917 gegründet.

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Unter ständiger Kontrolle Die Tätigkeit der Informationsverwaltung der SMAD verlief unter komplizierten Bedingungen, die von vielen Faktoren abhängig waren. Zu ihnen gehört in erster Linie die innere Entwicklung in der Sowjetunion, die immer mehr steigenden Wellen der stalinistischen Hexenjagd auf die feindliche "bürgerliche Ideologie" und ihre Träger. Mitarbeiter einer außenpolitischen Institution standen schon immer im Verdacht, verräterische "ausländische Kontakte" anzuknüpfen. Die Drohung, in vierzundzwanzig Stunden in die Sowjetunion zurückgeschickt zu werden, stand vor jedem Offizier der Verwaltung. Das wachsame Auge der Parteiorganisation war immer in der Lage, jede Ketzerei rechtzeitig zu entlarven und niederzuschlagen. Dazu ein Beispiel aus dem Jahr 1948. Auf einer Tagung des Parteibüros der Verwaltung im Dezember wurde eine Resolution angenommen, in der festgestellt wurde, daß der Leiter der Abteilung Kultur, Oberstleutnant Dymschitz, für sich nicht die richtigen Schlußfolgerungen aus den Beschlüssen des ZK der KPdSU über ideologische Fragen gezogen habe. Auf der Tagung wurden Dymschitz persönlich und die gesamte Kulturabteilung einer scharfen Kritik unterzogen. Unter anderem wurde die Abteilung inkriminiert, einen Band in einem deutschen Verlag herausgegeben zu haben, in dem ein Gedicht zu Ehren von Marschall Tito abgedruckt sei. Die Tatsache, daß dieser Band dem Verlag lange vor dem Beschluß des Informationsbüros der kommunistischen Parteien über den "Verräter und imperialistischen Agenten Tito" überreicht worden war, interessierte das Parteigremium in keiner Weise. In diesem "Theater des Absurden" gab es keinen Platz für Logik und einfachen Menschenverstand. Dymschitz versuchte sich zu wehren, wurde aber abgewiesen und mußte kurz danach seinen Rapport einreichen mit der Bitte, ihn von seinem Posten zu entbinden. Der Rücktritt wurde ohne weiteres angenommen und Dymschitz kehrte nach Leningrad zurück. 7 Es ist bemerkenswert zu erwähnen, daß "die deutschen Freunde" von solchen Versetzungen erst erfuhren, wenn "der sowjetische Freund" verschwand. Fragen zu stellen war nicht üblich. Die Informationsverwaltung stand unter ständiger "Obhut" des Sicherheitsdienstes. In den vier Jahren waren mehrere Offiziere unter der üblichen Anschuldigung "antisowjetischer Tätigkeit" einschließlich "Spionage" verhaftet worden. Für eine Verhaftung genügte schon der Besuch eines Museums in West-Berlin oder die Meldung eines "wachsamen" Mitarbeiters. Noch ein Aspekt beleuchtet die Atmosphäre, in der die Verwaltung funktionieren mußte. Im April 1947 wurde die gesamte SMAD von der Kaderverwaltung des ZK der KPdSU inspiziert. Die Kommission hat festgestellt, daß viele Kader im System der Informationsverwaltung nicht über die nötigen parteipolitischen Eigenschaften verfügten. Besonders ungünstig, so wurde im Beschluß der Kommission festgestellt, sei die nationale Zusammensetzung der Kader (der berühmte Paragraph 5). 8 25 Prozent aller Mitarbeiter seien "Genossen jüdischer Herkunft"; in der Redaktion der "Täglichen Rundschau" und in einigen anderen Organen sei der Prozentsatz noch höher - von 36 bis 40 Prozent - und in der Abteilung in Dresden betrage er sogar 75 Prozent. Doch diese Feststellung soll keinesfalls bedeuten, daß die ZK-Kommission selbst irgendwelche antisemitischen Auffassungen gehabt hätte. Nein, die Situation 7 8

Staatliches Archiv für Literatur und Kunst, Moskau, Fond 2843, Band 2, Blatt 13, 18. In sowjetischen Fragebogen wurde unter Paragraph 5 die Nationalität angegeben.

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in der Informationsverwaltung sollte im Hinblick auf Paragraph 5 wegen der Deutschen korrigiert werden. "Eine solche Lage ist gerade in Deutschland, das mit Antisemitismus infiziert ist, ohne Zweifel nicht normal", wurde im Bericht der Kommission frank und frei formuliert. 9 Die Kontrolle seitens des ZK der Partei und der Politischen Hauptverwaltung der Armee wurde in zwei Richtungen gewährleistet - durch ständige Analyse der Berichte und anderer Dokumente der Verwaltung sowie durch periodische Inspektionen an Ort und Stelle. Dokumente der Verwaltung (Berichte, Informationen, Ermittlungen), die in Moskau vorgelegt wurden, zeigen eine Vielfalt von Adressaten. Im ZK der sowjetischen kommunistischen Partei gab es für die SMAD keinen festen Adressaten. Über die politische Lage in der SBZ berichtete man Shdanow, Suslow, Malenkow und Ponomarjow, an die Außenpolitische Abteilung des ZK und an die Politische Hauptverwaltung der Armee. Dokumente informativer Art wurden selten in vollem Umfang weitergegeben. Meistens bereitete das ZK-Sekretariat eine Übersicht vor, die Politbüromitgliedern und Sekretären vorgelegt wurde. Für den sowjetischen Leitungsstil war ein entlarvender Ton der Inspektionsberichte charakteristsich, die nach "kardinalen Maßnahmen" zur Besserung der Lage und nach Absetzung dazu nicht befähigter Personen riefen. Nach der Verabschiedung einer Kommission vergingen dann allerdings manchmal Wochen, bis entsprechende Resultate zu sehen waren. Die Entwürfe der Beschlüsse mußten einen langen Weg der bürokratischen Prozeduren durchmachen. Nicht wenige blieben im ZK-Sekretariat ohne Bewegung liegen. So war es auch mit zahlreichen Forderungen zur Absetzung Tjulpanows. Eine Analyse der Berichte der Kommissionen zeigt die Hauptrichtungen ihrer Prüfungstätigkeit in der SMAD. Im Februar 1946 stellte eine Inspektionsgruppe der Politischen Hauptverwaltung fest, daß die Informationsverwaltung "das gesellschaftlich-politische Leben der SBZ kontrolliert und lenkt". Unter den ernsten Mängeln wurden genannt: Schwache Kontrolle über die Tätigkeit der Kirche und die propagandistische Arbeit der Parteien, besonders der CDU. Ungenügend werde die Sowjetunion propagiert, es werden keine Vorträge für die Bevölkerung gehalten. Die Verwaltung habe es versäumt, entsprechende Maßnahmen gegen die amerikanischen und britischen Propagandaaktivitäten zu treffen, die in der letzten Zeit stark zugenommen hätten. Im selben Jahr waren in Karlshorst noch zwei Kommissionen erschienen. Moskau war besorgt über den Ausgang der Kommunalwahlen in der SBZ, insbesondere in Berlin. Wie üblich forderten die Kommissionen von der Verwaltung, ihre Arbeit "zu verbessern", "zu erhöhen", "zu korrigieren" usw. Neue Richtlinien aus Moskau ergaben sich aus der Arbeit der ZK-Kommission im April 1948. Die Informationsverwaltung wurde zum ersten Mal heftiger Kritik unterzogen für die aufdringliche Hervorhebung der SED als der einzigen Partei, die am Aufbau eines neuen demokratischen Deutschland teilnehme, wobei die LDP und die CDU als Parteien des Monopolkapitals dargestellt wurden. Diese Position, die einen Widerspruch zu den Prinzipien des Blocks der demokratischen Parteien in der SBZ bedeutete, wurde als "politisch kurzsichtig" bezeichnet. Die Verwaltung erlaube sich damit grobe Einmischung in die Angelegenheiten der Parteien. In Bezug auf die SED werde kleinliche Vormundschaft betrieben. Eine "schwere Lage" bestehe im Jugendverband und im Frauenbund. In den Schlußfolgerungen der Kommission wurde festgestellt, daß bis jetzt keine breite propagandistische Arbeit zur Erläute9 WieAnm. 1,S. 197.

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rang der sowjetischen Deutschlandpolitik unternommen worden sei. Man habe es nicht verstanden, die deutsche Bevölkerung davon zu überzeugen, daß die sowjetische Okkupationspolitik den Grundinteressen des deutschen Volkes entspreche. Der Chef der Verwaltung, Oberst Tjulpanow, begreife nicht die historischen Perspektiven der Entwicklung Deutschlands, ihm fehle die richtige Einschätzung der Klassenkräfte. Er besitze nicht die Flexibilität eines Staatsmannes, den nötigen politischen Takt und entsprechende organisatorische Eigenschaften. Diesem Attest folgte die Forderung, Tjulpanow von seinem Amt zu befreien. 1°

Das Rätsel Oberst Tjulpanow Die Figur von Sergej Iwanowitsch Tjulpanow, des Leiters der Verwaltung Information der SMAD, erhielt mit den Jahren einen wirklich legendären Ruf. Ein Oberst, der den Politbüromitgliedern des ZK der KPdSU persönlich bekannt war. Seine maßgebende Rolle in der Tätigkeit der SMAD als der "Löwe von Karlshorst", wie Tjulpanow einmal vom Magazin "Stern" genannt wurde. "Hochgebildet, spricht fließend Deutsch, studierte eine Zeit lang in Deutschland" (stimmt nicht, J.B.), berichtete Botschafter Robert Murphy über Tjulpanow dem Außenminister der USA. Ähnliche Zeugnisse ließen sich aneinanderreihen. Wer war Tjulpanow in Wirklichkeit? Bestimmt eine aktive, dynamische und vielseitige Persönlichkeit. Gleichzeitig ein Produkt seiner Zeit und der Gesellschaft, in deren Diensten er stand. Sein Auftreten war imponierend, er besaß Aplomb und vermochte einen eigenartigen Charme auszustrahlen. Den existierenden Verhältnissen verstand er sich anzupassen, anders ging es sowieso nicht. Er war aber zu klug, um auch innerlich dogmatisch zu sein, doch nach außen präsentierte er sich als hundertprozentig rechtgläubig. Tjulpanow hatte es besonders nötig, wie die nachfolgenden Ausführungen belegen. In der alltäglichen Tätigkeit kamen in der Erscheinung Tjulpanows individuelle Eigenschaften gut zur Geltung - seine Intelligenz und souveräne Haltung, sein freier Umgang mit den Deutschen (seine Sprachkenntnisse waren gut, obwohl er Deutsch nicht so fließend sprach, wie es ihm zugeschrieben wird). Man muß unbedingt berücksichtigen, daß die hohen Chefs der SMAD über solche Eigenschaften nicht verfügten. Ihr Umgang mit den deutschen Vertretern verlief über einen Dolmetscher, war oft zurückhaltend und streng offiziell. Die gesamte Tätigkeit der Informationsverwaltung blieb ihnen unbekannt. Einen zweiten Tjulpanow gab es in der SMAD nicht. Auf Grund einiger Umstände verfügte die Verwaltung Information über eine gewisse Selbständigkeit bei der Lösung von laufenden politischen Fragen in der SBZ. Die ZK-Kommission stellte im April 1948 fest, daß Marschall Sokolowski, von allgemeinen Problemen der Leitung der SMAD überfordert, der Verwaltung wenig Aufmerksamkeit schenkte. Sein Politstellvertreter, General Makarow, war öfters krank. Damit sei die wichtige und verantwortungsvolle politische Arbeit in Deutschland eigentlich auf Tjulpanow übertragen worden, der "unfähig" sei, solche Aufgaben zu lösen. Also ist die Rede von der "politischen Arbeit" in Deutschland und keineswegs von einer selbständigen Rolle bei der Ausarbeitung der Deutschlandpolitik der UdSSR.

10 Ebenda, S. 213f.

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Heutzutage gibt es nicht mehr so viele "weiße Flecken" auf dem roten Gewand der SMAD. Die Kontroversen betreffen meistens Einschätzungen verschiedener Seiten ihrer Tätigkeit, der inneren Situation in den Machtkorridoren von Karlshorst. Die Beziehungen zwischen verschiedenen sowjetischen Strukturen und deren Kräfteverhältnisse waren für die Außenwelt immer ein Geheimnis mit sieben Siegeln. Dies galt für das gesamte sowjetische Staatssystem. Deshalb ist es für einen heutigen Forscher, auch wenn er über ausreichende dokumentarische Quellen verfügt, nicht leicht, durch die Fassaden der Karlshorster Administration durchzudringen. Sehr wichtig sind die Kenntnisse der spezifischen Arbeitsgänge des sowjetischen Apparats. Offensichtlich sind damit auch die manchmal so widersprüchlichen Einschätzungen der Tätigkeit eines so namhaften Vertreters der SMAD wie Oberst Tjulpanow verbunden. Das nach außen als einheitlich und geschlossen präsentierte sowjetische Staats- und Parteisystem war in Wirklichkeit immer von inneren Intrigen, Neid und Denunziation gekennzeichnet. Es gab keine prinzipiellen Unterschiede in den Auffassungen der Informationsverwaltung und des Amtes des Politberaters. Beide folgten gehorsam dem Kurs der oberen Parteileitung. Es kam zu strittigen Situationen in kleineren Fragen taktischer Art, die meist mit eigenen Ambitionen verbunden waren. Es darf auch nicht vergessen werden, daß das Amt von Semjonow einen höheren Status als die Verwaltung von Tjulpanow besaß. Semjonow war für Tjulpanow ein Vorgesetzter. Wenn die beiden Chefs, Tjulpanow und Semjonow, sich hätten leiden können, wäre es wahrscheinlich zu Streitigkeiten überhaupt nicht gekommen. Die Meinung von Professor Norman Naimark von der Stanford-Universität, daß die Rivalität Tjulpanow-Semjonow die "realen Widersprüche" zwischen dem Rat der Volkskommissare und dem ZK der bolschewistischen Partei in der deutschen Frage widerspiegelten, ist nicht begründet. Die Außenpolitik der UdSSR wurde mit Molotows Teilnahme von Stalin konzipiert und durchgeführt. Meinungsverschiedenheiten waren unter diesen Bedingungen eigentlich ausgeschlossen. Manche westlichen Historiker überschätzen die realen Befugnisse höherer Funktionäre im sowjetischen Machtbereich. Bestimmt hing vieles von der Dienststelle ab, auch von persönlichen Eigenschaften eines Funktionsträgers, doch für alle entscheidenden Fragen gab es Richtlinien der Parteispitze. Jeder Funktionär gehörte letztlich zur Armee der gehorsamen Erfuller der "weisen Weisungen". Es gab nicht umsonst den Passus in allen Fragebögen: "Hatten Sie Schwankungen in der Generallinie der Partei?" Der schlimmste Vorwurf gegen einen Kommunisten war, "eine unparteiliche Haltung" eingenommen zu haben. Die Partei duldete keine Alleingänge. Diese Bemerkungen sind auch bei der Betrachtung der Person Tjulpanow als "Schlüsselfigur" in der SBZ wichtig. Es wäre falsch, Tjulpanow als einen Mann zu schildern, der in prinzipiellen Fragen selbständige Entscheidungen treffen konnte. Die streng zentralistischen bürokratischen Strukturen der Sowjetunion machten so etwas einfach unmöglich. Tjulpanow war wie jeder andere Funktionär an die Anweisungen der Partei gebunden. Geringste Abweichungen von ihnen (auch wenn es in der Realität keine waren) brachten für die betroffenen Person schwerste Folgen mit sich. Tjulpanow irrte sich in dieser Sache nicht. Mir scheint, daß Dr. Jan Foitzik, im Unterschied zu manchen anderen deutschen Historikern der jüngeren Generation, Oberst Tjulpanow realistisch einschätzt. Er hat recht, wenn er zu der Schlußfolgerung gelangt, daß Tjulpanow keine selbständige Politik in

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Deutschland durchführen konnte. Höchstens könnte man Tjulpanow das "Orchestrieren" der Moskauer Linie zuschreiben. Es ist ein Mißverständnis, daß Tjulpanow Leiter der Parteiorganisation der SMAD gewesen sei; einen solchen Posten gab es überhaupt nicht. Der Oberste Chef der SMAD hatte einen Politstellvertreter, dem eine Politische Abteilung (später: Verwaltung) und ein Parteikomitee untergeordnet waren. Die Verwaltung Information wurde wie alle anderen Strukturen der SMAD von diesen Politischen und Parteiinstanzen "bedient". In der Verwaltung selbst fungierte ein durch dessen Parteiorganisation gewähltes Parteibüro. Tjulpanow war ein Mitglied dieser Parteiorganisation und bekleidete keinen direkten Parteiposten. Im allgemeinen wurde die Verwaltung Information als Teil des parteipolitischen Apparats der Armee betrachtet. Ihre unmittelbar höchste Instanz in Moskau war die Politische Hauptverwaltung der Roten Armee und ihre 7. Abteilung (Verwaltung) unter Generalmajor Burzew, einem alten Rivalen von Tjulpanow. Ein Funktionär, wie ihn Tjulpanow verkörperte, konnte aber im sowjetischen Machtbereich auf lange Sicht nicht geduldet werden - gefragt war gehorsame Mittelmäßigkeit. Seine Laufbahn hatte dazu mehrere Knoten, die bei der Moskauer Obrigkeit und beim NKGB 11 zusätzliche Bedenken erregten. Seit langem hatte Tjulpanow Komplikationen mit der Staatssicherheit. Bei ihr hatte der Oberst keinen guten Ruf. Seine Mutter war Lettin, was eigentlich für das NKGB schon verdächtig genug war. Beide Eltern wurden vor dem Krieg im Jahr 1937 verhaftet, der Spionage beschuldigt und teilten das Los der Millionen, die in Stalins KZs verschwanden und teilweise zugrunde gingen; erst 1956 wurden sie rehabilitiert. So kam auch die entscheidende Attacke gegen Tjulpanow vom Staatssicherheitsdienst. Im August 1949 wurde Tjulpanow zum Objekt einer groß angelegten Provokation. Den Anfang bildete die Verhaftung von Oberstleutnant Feldman, des Redakteurs der Zeitung "Nacht-Express", die der Informationsverwaltung untergeordnet war. Das war ein besonderes Blatt, das seine Zugehörigkeit nicht affichierte und oft genutzt wurde, um inoffiziell "nötige" Informationen in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Feldman, vor dem Krieg Parteisekretär des Fremdspracheninstituts in Leningrad, war ein mittelmäßiger Parteifunktionär, doch mit vielen Ambitionen. Sein Amt erlaubte ihm, über Mittel zu verfügen, um z.B. eine Büste seiner Sekretärin bei einem Bildhauer zu bestellen. Man sagte, er habe für Tjulpanow einige Käufe beglichen, darunter zwei Bilder von Max Pechstein. Als Grund für die Verhaftung Feldmans wurde "Verdacht von Spionageverbindungen mit Ausländern" angegeben. Während der Verhöre habe Feldman gestanden, daß Tjulpanow über seine "feindliche Tätigkeit" gewußt hatte und nichts unternahm, um sie einzustellen. In den Händen der Staatssicherheit konnte man jetzt von Feldman beliebige Informationen über Tjulpanow erhalten. Er hätte gleichzeitig ein Agent des Papstes, des Königs von Siam und in Ergänzung dazu noch von einigen westlichen Aufklärungsdiensten sein können. Jetzt hatte das NKGB das nötige Material in der Hand. In einem Schreiben an das Politbüromitglied Malenkow äußerte der Minister für Staatssicherheit der UdSSR, Abakumow, die Meinung, man sollte Tjulpanow sofort in die Sowjetunion abberufen. 12

11 Volkskommissariat für Staatssicherheit seit 1941; 1946 in das Ministerium für Staatssicherheit umgewandelt; seit 1953 Komitee für Staatssicherheit KGB. 12 WieAnm. 1,S. 232.

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Anhand der NKGB-"Enthüllungen" unternahm der Leiter der Politischen Hauptverwaltung der Streitkräfte, Schatilow, den nächsten Schritt. Er wandte sich an Malenkow mit der direkten Bitte, Tjulpanow von seiner Funktion zu entbinden. Er erweiterte das Schuldregister und teilte mit, daß die Frau von Tjulpanows Bruder "mit dem Sekretär einer Botschaft in Moskau in Verbindung stand", der dem englischen Geheimdienst angehörte. Und noch mehr: Der Vater dieser unzuverlässigen Dame wurde seinerzeit als Mitglied einer "rechten trotzkistischen konterrevolutionären Organisation entlarvt und erschossen". Doch auch diese "fundierten Tatsachen" reichten für den Genossen Schatilow noch nicht aus, um die Gestalt Tjulpanows im rechten Licht zu präsentieren: Wie sich herausstellte, saß am Steuer seines Autos in Karlshorst noch ein Spion - der Fahrer Lukin, dem vorgeworfen wurde, "antisowjetische Agitation" zu betreiben und die "Absicht zu haben, einen Verrat zu begehen". Wie der Chauffeur, so auch der Chef. Der schon eingesperrte Lukin besaß zu all dem noch eine ganz schlimme Erbschaft. Sein Vater verübte im Jahr 1928 einen "Verrat an der Heimat" und suchte im Iran das Weite. Jetzt war das Porträt von Tjulpanow vollkommen und sollte für das Politbüromitglied Malenkow überzeugend sein, was er auch mit seinem Beschluß, Tjulpanow kaltzustellen, bestätigte. Tjulpanow, der in Moskau auf Dienstreise war, wurde es nicht gestattet, nach Berlin zurückzukehren. Er wurde abgesetzt und als Stellvertreter eines Lehrstuhlleiters an die Marineakademie nach Leningrad verbannt. Die ganze Geschichte ist keine wahnsinnige Erfindung, wie sie heute manchem erscheinen könnte; sie stammt aus geheimen Dokumenten des ZK der KPdSU. In Leningrad war für Tjulpanow eine Ausreisesperre verhängt worden. Die letzte Ohrfeige erhielt er dann 1978, als die Leningrader Gebietsleitung der Partei ihn als Präsidenten der Freundschaftsgesellschaft mit der DDR mit einem Funktionär auswechselte, für den es die schwierigste Sache war, den Namen des DSF-Präsidenten Mückenberger richtig vorzulesen. In den sechziger Jahren wandte sich Tjulpanow aus Leningrad mehrmals an das ZK der KPdSU mit der Bitte, seine Lage zu klären. In seinem Familienarchiv sind seine Appelle an die ZK-Sekretäre Suslow und Andropow erhalten. Im Juni 1960 beklagte sich Tjulpanow bei Suslow über die Position von Ponomarjew, Leiter der Abteilung Außenbeziehungen des ZK, "der mechanisch meine unbegründete politische Diskriminierung fortsetzt". In seinem Schreiben schilderte Tjulpanow die zweideutige Lage, in die er geraten war. Aus der DDR kämen viele prominente Persönlichkeiten nach Leningrad, auch Mitglieder des ZK und des Politbüros der SED, die ihn fragten, warum er nicht in die DDR komme und ob man ihn nicht heraus lasse. In der Leipziger Universität warte man auf Tjulpanow, um ihn zum Ehrendoktor zu machen. Sicherlich hat Tjulpanow gewußt, welche Kräfte auf der Fortsetzung der Sperrmaßnahmen gegen ihn beharrten. Offensichtlich, schrieb er, könne Genosse Ponomaqew die Verleumdungen des Sicherheitsdienstes aus den Jahren 1949/50 nicht überwinden. Tjulpanow erinnerte sich, daß er dem Chef der SMAD und der Regierung der UdSSR (zweimal auch Molotow) über die Aktivitäten des Sicherheitsdienstes in Deutschland, die eine negative Wirkung auf die politische Arbeit in der SBZ hatten, gemeldet hatte. Der damalige Chef dieses Dienstes, Generalleutnant Kowaltschuk, war mit Tjulpanow nicht einverstanden gewesen und fabrizierte gegen ihn verleumderisches Material (Nach der Entlarvung Berijas wurde auch Kowaltschuk verurteilt). Tjulpanow bat um ein Parteiverfahren und, wenn seine Un-

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schuld bewiesen werde, um eine Genehmigung, in die DDR reisen und den Ehrendoktor erhalten zu können. Zu dieser Zeit war Tjulpanow schon vier Jahre an der Leningrader Universität als Prorektor und Lehrstuhlleiter tätig. Es ist zu betonen, daß er in seiner ersten Funktion von der Abteilung "Wissenschaft" des selben ZK der KPdSU, an das er sich jetzt wandte, bestätigt worden war. Doch zur Frage der Ausreise kam kein Laut aus Moskau. Der "Fluch" des Geheimdienstes wirkte weiter. Es vergingen noch drei weitere Jahre. Im Oktober 1963 machte Tjulpanow einen weiteren Versuch, sich aus der Isolation zu befreien. Er schrieb an den ZK-Sekretär Andropow, daß ihm aus "unbekannten Gründen" eine Reise in die DDR weiter verboten bleibe. Ihm hege eine Einladung der Akademie der Wissenschaften der DDR vor. Er halte es nicht für möglich, sich weiterhin mit unendlichen Lügen auseinanderzusetzen und sich als Gelehrter zu diskreditieren. Er meinte bitter, man könne die Einladung nicht beantworten - die Gelehrten in der DDR seien an die "Höflichkeitsnormen" der sowjetischen Professoren schon gewöhnt. Auch Genosse Andropow würdigte Tjulpanow keiner Antwort. Erst 1965 konnte der "Löwe von Karlshorst" den Leningrader Zwinger verlassen und den Ehrendoktor der Leipziger Universität in Empfang nehmen. Seitdem hat er die DDR öfters besucht. Die Story des bekannten Obersts möchte ich aber nicht auf diese Weise beenden. Wie man in Rußland zu sagen pflegt, wurde Tjulpanow "im Hemd geboren". Trotz aller Schikanen und Verfolgungen war ihm das Schicksal von Tausenden und Abertausenden "unzuverlässiger" Bürger der UdSSR erspart geblieben. Viele Jahre, bis zu seinem Tod, hatten wir mit Tjulpanow freundschaftliche Beziehungen gepflegt, konnten offen miteinander reden. Sergej Iwanowitsch hat immer auf eine Wende gehofft, auf eine Reformation des bolschewistischen Systems. Er begrüßte den "Prager Frühling". Schon im ersten Auftreten von Gorbatschow, noch als Politbüromitglied, erblickte Tjulpanow (gestorben 1984) den neuen Mann in der Parteiführung. Zu einem Antikommunisten ist Tjulpanow nicht geworden, wohl aber zu einem Verfechter eines "Sozialismus mit menschlichem Antlitz". Einmal habe ich Tjulpanow gefragt, wie es ihm eigentlich möglich war, so leicht davonzukommen. Die Anschuldigungen waren zu plump fabriziert, meinte Tjulpanow, für das ZK war die ganze Sache zu blöd. Wenn es 1937 gewesen wäre, fügte er hinzu, hätte man mit ihm längst kurzen Prozeß gemacht. Der Weg zwischen Kultur und Ideologie, zwischen Linientreue und Gewissen war nicht mit Rosen bedeckt. Aber der Gang des Geschehens von damals ist nicht zu verdrängen, sondern in unser heutiges Denken und Handeln mit einzubeziehen. Nichts in der Geschichte ist zu Ende.

Forschungs- und Archivberichte

Egbert Jahn (Mannheim)

Das Scheitern der sozialistischen Systemreformation und des konstitutionellen Kommunismus. Ein Forschungsbericht über "Perestrojka" und "Neues Denken" in der Sowjetunion* "Perestrojka" (Umbau, Umgestaltung, Rekonstruktion) war weit mehr als ein aus dem Russischen rasch in viele Sprachen übernommenes Modewort und ein propagandistisches Etikett für die Politik eines Mannes, des Michail S. Gorbacev, der vom März 1985 bis zum Dezember 1991 die Geschicke der Weltmacht Sowjetunion leitete'. Das Schlagwort "Perestrojka" bezog sich anfangs auf den Bewußtseinswandel der Bürger, dann auf die Wirtschafts- und schließlich auf die gesamte Innenpolitik. Es fand rasche Verbreitung und signalisierte in Verbindung mit seinem Zwillingsbruder "Neues Denken" (novoe myslenie)^ für die Außenpolitik etwa seit dem Januar 1987 3 den weltweiten Eindruck, daß es um mehr ging bzw. um mehr gehen könnte als um eine bloße neue Reform des sowjetischen Kommunismus im Anschluß an eine lange Reihe früherer Reformen und Reformversuche. Perestrojka wurde schließlich zum Markenzeichen einer tiefgreifenden Erneuerung und zugleich Veränderung des gesamten sozialistischen Systems^ und seiner Stellung in den internationalen Beziehungen. Die Frage, worin das "mehr als eine Reform" 5 bestand, was * Bücher, die der Redaktion als Rezensionsexemplare zur Verfügung gestellt wurden, werden bei der ersten Nennung durch Fettdruck hervorgehoben sowie mit Verlagsangabe und Seitenumfang zitiert. 1 Vom 11.3.1985 bis zum 24.8.1991 war Michail S. Gorbacev Generalsekretär des ZK der KPdSU und vom 1.10. 1988 bis 25.12.1991 Staatsoberhaupt mit verfassungsrechtlich und faktisch wechselnden Kompetenzen. 2 Offenbar weil "perestrojka" lautlich leichter in die meisten Sprachen übernehmbar war, wurde es nicht übersetzt, während "novoe myslenie" in die jeweilige Landessprache übertragen wurde. Anfangs wurde die "perestrojka" der Wirtschaft noch neben "glasnost"' (beschränkte Öffentlichkeit von Informationen und Meinungen) und die "democratizacija" des politischen Systems gestellt. In M. S. Gorbacevs Buch von 1987 "Perestrojka i novoe myslenie" (deutsche Ausgabe: Perestroika. Die zweite russische Revolution, München 1987) ist das Kapitel über die Innenpolitik mit "perestrojka" überschrieben, das über die Außen- und Weltpolitik mit "novoe myslenie i mir" (Das Neue Denken und die Welt). Schließlich wurde vor allem im Westen "Perestrojka" zum Markenzeichen der gesamten Innen- wie der Außenpolitik unter M. S. Gorbacev. 3 Den Durchbruch rief die Rede M. S. Gorbacevs auf dem Plenum des ZK der KPdSU am 27.1.1987 hervor, siehe Sowjetunion heute (Beilage) 2/1987. 4 Einer eigenen Untersuchung ist die Frage wert, in welcher Weise die sowjetische innere Perestrojka und die Veränderung der sowjetischen Außen- und Weltpolitik mit den inneren Veränderungen (sei es im Namen der Perestrojka oder unter anderem Namen) in den anderen sozialistischen Ländern korrespondierten. Zu Teilaspekten siehe bereits Hausleitner, Mariana: Die sowjetische Osteuropapolitik in den Jahren der Perestrojka. Campus Verlag, Frankfurt/New York 1994, 309 S.; vgl. auch Groß, Alexandra: Wandel der sowjetischen Osteuropa-Politik in der Ära Gorbatschow. Verlag Peter Lang, Frankfurt/Berlin/Bern 1992, 239 S; Bingen, Dieter u.a.: Die revolutionäre Umwälzung in Mittel- und Osteuropa, Berlin 1993. 5 Hier ist ein westlicher Reformbegriff impliziert, der auf punktuelle oder partielle Veränderungen eines Systems unter Beibehaltung seiner tragenden Elemente abhebt. Im marxistisch-leninistischen Sprachgebrauch sollte eine

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also das Wesentliche und die Kernelemente der Perestrojka waren, steht im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrages. Mit der Perestrojka-Ära soll deshalb in der Folge der Zeitabschnitt bezeichnet werden, in der sich der gesamte Komplex der Innen- und Außenpolitik in der Sowjetunion und im sowjetischen Bündnissystem veränderte, und zwar im spezifischen Sinne einer sozialistischen Systemreformation. Nicht einbezogen in den Perestrojka-Begriff sind damit die erheblichen Änderungen in der Gesellschaft und vor allem in der Außenpolitik der Länder der Ersten und Dritten Welt als Folge und in Begleitung des sowjetischen Umgestaltungsprozesses. Dabei sollen sowohl erste Forschungsergebnisse, als auch differenzierte Fragestellungen für die zukünftige Forschung herausgearbeitet werden. Im Unterschied zum mittlerweile gängigen Perestrojka-Begriff, der meist auf die gesamte Politik und Amtszeit Gorbacevs von 1985-1991 angewandt wird,6 wird hier ein analytisch schärferer und strengerer Perestrojka-Begriff herausgearbeitet, der sowohl die erste Phase der Amtszeit Gorbacevs, in der lediglich traditionelle Formen der Systemreorganisation und -reform stattfanden, als auch die letzte Phase seines Wirkens ausschließt, in der bereits die sozialistische Staatsverwaltungswirtschaft und das kommunistische Herrschaftsmonopol aufgegeben worden waren. Die kurze Phase eines in Ansätzen qualitativ umgestalteten Sozialismus mit hochfliegenden Plänen und bloßen, nebulosen Visionen von einer tiefgreifenden Erneuerung und dauerhaften Stabilisierung des sowjetischen Sozialismus, der für die gesamte Menschheit ein - wenn auch nur noch zurückhaltend propagiertes - Vorbild sein sollte,' dauerte kaum vier Jahre - etwa von Anfang 1987 bis Mitte 1990. Die (beabsichtigte) sozialistische Systemreformation läßt sich in Bezug auf das politische System auch als (beabsichtigter) konstitutioneller Kommunismus bezeichnen, d.h. als Versuch, rechtsstaatliche Elemente in das politische System einzuführen und das Machtmonopol der kommunistischen Partei durch einige Konzessionen an die parteikritischen Kräfte in der Sowjetgesellschaft zu relativieren, in der Hoffnung, es dadurch zu stabilisieren. Die knapp vier Jahre reichten nicht aus, um wirklich das System eines erneuerten, umgestalteten Sozialismus hervorzubringen. So wird es wohl weithin eine Streitfrage im Bereich der ideologischen Bekenntnisse bleiben, ob ein solches System realisierbar und funktionsfähig hätte sein können.® Anäherungen an eine wissenschaftliche Präzisierung und Beantwortung der Frage dürften allerdings möglich sein. Zu diesem Zweck gilt es zu unterscheiden zwischen Perestrojka als Intention, Perestrojka als Programmatik, Perestrojka als Praxis, Perestrojka als Prozeß und Perestrojka als System eines erneuerten, umgestalteten Sozialismus. Zuvor ist der Wandel der kontroversen, sich von Land zu Land zeitversetzt wandelnden Wahrnehmungen und Beurteilungen der Perestrojka in Betracht zu ziehen.

"Umgestaltung" weniger Veränderungen bewirken als eine "Reform", vgl. Jözsa, Gyula: Das Herzstück im Reformpaket Gorbatschows: Die Umgestaltung des Parteiapparats, in: Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Hrsg.): Sowjetunion 1988/89. Perestrojka in der Krise?, München 1989, S. 32. 6 M. S. Gorbacev selbst legte später Wert darauf, daß die Perestrojka nicht erst mit dem April-Plenum des ZK der KPdSU im Jahre 1985 begonnen habe, sondern bereits mit seiner Rede zum Begräbnis K. U. Cernenkos am 11.3.1985, in: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 261 und 269. 7 M.S. Gorbacev: Perestrojka i novoe myslenie dlja nasej strany i dlja vsego mira, Moskau 1987, S. 133, 155,161. 8 Zur Geschichte und Vielfalt westlicher linker und marxistischer Erwartungen in und Hoffnungen auf eine sowjetische Systemreformation siehe van der Linden, Marcel: Von der Oktoberrevolution zur Perestroika, Frankfurt 1992.

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Der rasche Wandel des Bildes von der Perestrojka Post festum erscheint die Perestrojka-Politik Gorbacevs den einen in deterministischer Zuversicht als "nützliche Idiotie" beim historisch angeblich zwangsläufigen, wenn auch nicht konkret vorhergesagten Übergang von der Diktatur zur Demokratie und von der zentralstaatlichen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft, den anderen hingegen in voluntaristischer Empörung als persönlicher "Verrat" am Sozialismus und als historische "Verbrechen" Gorbacevs, El'cins und ihrer Mitarbeiter. Seit Anfang 1987 verflüchtigte sich die anfänglich im Westen wie in der Sowjetunion weit verbreitete, skeptische Beurteilung der Politik des neuen Generalsekretärs, der vermeintlich nur alten kommunistischen, totalitären Wein in neuen Schläuchen servierte.^ Doch vom Image des bloßen, modernen Propagandisten aus Goebbelsscher Schule (nach Bundeskanzler Helmut Kohls anfänglicher Einschätzung) bis zur Verleihung des Nobelpreises (15.10.1990) und der Ehrenbürgerwürde von Berlin verging nur ein halbes Jahrzehnt. Ende 1987 bestand kaum noch ein Zweifel daran, daß eine fortgesetzte Perestrojka-Politik, falls sie nicht durch den traditionalistischen "orthodoxen" 1 0 Flügel abgebrochen werde, das kommunistische System in der Sowjetunion und in ganz Osteuropa erheblich ändern und vielleicht stabilisieren könne. Damals wurde überwiegend erwartet, daß das Ost-West-Verhältnis in eine neue Phase der Entspannung und der systemparallelen Entwicklung eintreten werde. Die Perspektive hieß "Koevolution" oder allenfalls "Wandel (vor allem des kommunistischen Systems) durch Annäherung". Beides beinhaltete die Veränderung, nicht die Überwindung der kommunistischen Parteiherrschaft. 11 Doch aus dem Hoffnungsvermittler Perestrojka in den Jahren 1987-1990 wurde rasch ein Verfallssymbol, als sich die Wirtschaftskrise für einen großen Teil der Bevölkerung zu einer gesellschaftlichen Katastrophe, zur "Katastrojka" 1 ^ auswuchs. Die offizielle Perestrojka-Politik Gorbacevs diskreditierte sich in der Wahrnehmung weiter Kreise ihrer bisherigen Unterstützer, als er im Herbst 1990 ein Bündnis mit den "Bremsem" im gesellschaftlichen Umgestaltungsprozeß einging, die konsequenten Reformer aus dem Führungszirkel entließ und diejenigen in die Machtpositionen brachte, die im August 1991 den Putsch gegen ihn organisieren sollten. 1 -' Die "radikalen Reformer", die schließlich das bestehende System nicht reformieren, sondern abschaffen sollten, ließen schließlich Perestrojka als Etikett einer für inkonsequent und halbherzig gehaltenen Systemveränderung fallen. 1 '* Dadurch wurde Perestrojka zum eher verächtlich gebrauchten Etitkett für eine unzureichende Veränderung des alten "stalinistischen, totalitären Systems".

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Einige Beispiele für die verbreitete Erwartung, daß sich in der Amtszeit M. S. Gorbacevs nichts Wesentliches ändern werde, präsentiert Hoffer, Frank: Perestroika. Die unfreiwillige Zerstörung des sowjetischen Vergesellschaftungszuammenhangs oder warum das letzte Gefecht verloren ging, Marburg 1992, S. 12-20. In der Regel wurde darunter eine marxistisch-leninistische, also in der Stalin-Ära geprägte Rechtgläubigkeit verstanden, nicht eine Marxsche, marxistische oder Leninsche Orthodoxie. Nur wenige Autoren blieben bei der Vorstellung, daß das kommunistische System starr und völlig reformunfähig sei und im wesentlichen dasselbe bliebe, bis es eines - fernen! - Tages zusammenbrechen werde, vgl. z. B. sehr dezidiert Martin Malia unter dem anspruchsvollen Pseudonym "Z": To the Stalin Mausoleum, in: Daedalus 119, Winter 1990, S. 295-344. Etwa zu übersetzen mit "Hervorrufung einer Katastrophe". Zu den Motiven seines Kurswechsels, den er nachträglich für einen Fehler hielt, siehe Gorbatschow, Michail: Der Zerfall der Sowjetunion, München 1992. Zum Beispiel wird in einer Sammlung von El'cin-Reden (Moskau 1990) zum letzten Mal Perestrojka im positiven Sinne in seiner Rede vor dem XXVIII. Parteitag der KPdSU am 8.7.1990 erwähnt. Nach seinem Austritt aus

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Erst im nachhinein, d.h. nach dem Putschversuch im August 1991 oder gar erst nach der Auflösung der Sowjetunion fünf Monate danach, erschien vielen Beobachtern die Perestrojka nur noch als eine wiewohl wichtige Anfangsetappe im Prozeß der "Transformation" des Systems der zentralbürokratischen Planwirtschaft und der kommunistischen Einparteienherrschaft in eine Marktwirtschaft und in eine pluralistische, parlamentarische Demokratie. Perestrojka wurde damit in der neuen Wahrnehmung zu einem bloßen ersten Schritt beim Übergang ( " T r a n s i t i o n " d e s einen Systems zum anderen, beim "Systemwechsel".^ Inzwischen ist zumindest die liberaldemokratische, weniger die marktwirtschaftliche Siegesgewißheit 1 7 verflogen oder doch wesentlich gedämpft. Je mehr der postsowjetische Raum durch Nationalitätenkonflikte, Bürger- und Interventionskriege zerrüttet wird und im wirtschaftlichen Niedergang verelendet, j e mehr autoritäre Tendenzen die demokratischen Ansätze im Keime zu ersticken drohen, in desto hellerem Licht erscheint nicht nur die "gute alte Zeit" des Abschreckungsfriedens im entspannten Ost-WestKonflikt, sondern auch der poststalinistische Kommunismus unter N. S. Chruscev und L. I. Breznev. Damit entsteht wiederum eine neue Sicht auf die Politik und Ära der Perestrojka. Auf das Propaganda-Image war das Reform-Image, dann das Image der Initialzündung für die liberaldemokratische und marktwirtschaftliche Transformation 1 8 gefolgt. Nunmehr könnte ein gespaltenes Image entstehen: Perestrojka als Einleitung eines längeren unfreiwilligen, zerstörerischen Prozesses 1 9 oder Perestrojka als letzte und vergebene Chance einer Stabilisierung des osteuropäischen Raumes durch tiefgreifende Reformen des sozialistischen Systems. Vor allem stellt sich immer wieder die Frage, ob die Perestrojka von Beginn an zum Untergang verurteilt war oder ob ihr Scheitern vermeidbare strategische und Führungsfehler reflektierte. 2 0 Für eine Beantwortung dieser Frage ist es sicher noch zu früh. Wie bei anderen Wendemarken in der Geschichte - im Falle Rußlands waren es die Reformen von 1861 -1866, die Stolypinschen Reformen von 1906-1911 und der sie begleitende (Schein-)Konstitutionalismus oder die achtmonatige Phase der "bürgerlichen", liberal-demokratischen Februar-Revolution von 1917 ergibt sich das Bild eines historischen Zeitabschnitts weniger aus den Ereignissen selbst als aus ihren Folgen und aus den Funktionen, die ihnen zugemessen werden für die Gestaltung der darauffolgenden Periode und der erhofften oder befürchteten Zukunft. Da die Zukunft noch extrem offen, d.h. für verschiedene Extreme geöffnet scheint, die liberaldemokratische, autoritäre, neototalitäre, aber wohl kaum noch kommunistisch-restaurative Entwicklungen in Aussicht stehen, ist auch das zukünftig vorherrschende Geschichts-

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der KPdSU vier Tage danach spricht El'cin nur noch von "Reformen", siehe Jelzin, Boris: Die Alternative. Demokratie statt Diktatur, Bad König 1991, S. 112 f. und S. 123. Glaeßner, Gert-Joachim: Demokratie nach dem Ende des Kommunismus. Regimewechsel, Transition und Demokratisierung im Postkommunismus, Opladen 1994. von Beyme, Klaus: Systemwechsel in Osteuropa, Frankfurt a.M. 1994. Gelegentlich wird der Systemwechsel zur Markwirtschaft jedoch auch zu einem "Jahrhundertprojekt" erklärt, so von Höhmann, Hans-Hermann: Der ökonomische Systemwechsel, in: Schewardnadse, Eduard/Gurkow, Andrej/Eichwede, Wolfgang: Revolution in Moskau. Der Putsch und das Ende der Sowjetunion. Rowohlt Verlag, Reinbek 1991,313 S., hier S. 207. In orthodoxer kommunistischer Sicht war "Perestrojka" schon früh identisch mit "Konterrevolution", wie sie z. B. kurz und knapp von einem Delegierten auf dem Gründungskongreß der Kommunistischen Partei Rußlands im Juni 1990 genannt wurde, siehe Jözsa, Gyula: Das Rückgrat des politbürokratischen Systems, in: Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Hrsg.): Sowjetunion 1990/91. Krise, Zerfall, Neuorientierung, Hanser Verlag, München 1991,416 S., hier S. 52. So dezidiert Hoffer, Perestroika, a.a.O. (Anm. 9), S. 33. Dallin, Alexander/Lapidus, Gail W. (Hrsg.): The Soviet System. Front Crisis to Collapse. Westview Press, Boulder/San Francisco/Oxford, 2., Überarb. Aufl. 1995,723 S., hier S. 6.

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bild von der Perestrojka als das Ende eines alten oder als der Beginn eines neuen Schreckens noch unbestimmt. Unabhängig von einer positiven oder negativen Bewertung des umgestalteten kommunistischen Herrschaftssystems nach den absoluten normativen Maßstäben einer liberalen Demokratie, eines authentischen Sozialismus^! 0 ( j e r e i n e r anderen Ordnungsvorstellung wird die Perestrojka immer wieder neu nach dem relativen Maßstab des Vergleichs zu den gesellschaftlichen Zuständen beurteilt werden, die der Perestrojka vorausgingen oder ihr auf Dauer nachfolgen. Die fünf erwähnten Verständnisse von Perestrojka als Intention, als Programmatik, als Praxis, als Prozeß und als System erfordern jeweils unterschiedliche zeitgeschichtliche Fragestellungen und Forschungsmethoden, von denen einige im folgenden skizzenhaft vorgestellt werden.

Die Programmatik der Perestrojka Auf den ersten Blick ist eine Analyse der Perestrojka als Programmatik am leichtesten, da die öffentlichen Äußerungen zur Umgestaltung von Anfang an allgemein und leicht zugänglich sind. Es hat allerdings nie ein umfassendes, systematisch durchdachtes Programm der Perestrojka gegeben, weder im formellen Sinne als ein verbindliches Programm der KPdSU oder einer anderen Partei, noch als eine ausgearbeitete Programmschrift eines Politikers oder eines Theoretikers. Die vom XXVII. Parteitag der KPdSU am 5. März 1986 verabschiedete Neufassung des dritten Parteiprogramms der KPdSU trug im wesentlichen noch die Handschrift der Politik L. I. Breznevs und K. U. Cernenkos und war keinesfalls "Das Aktionsprogramm Gorbatschows".^ So kommentierte Boris Meissner bereits damals zutreffend, daß Gorbacevs Weigerung, das Parteiprogramm als viertes zu bezeichnen, Ausdruck seiner Distanz gegenüber dem unter seiner Führung verabschiedeten Programm war: "Wahrscheinlich wollte er sich mit dem Wortlaut der Neufassung, die zu einem großen Teil unter Tschernenko erarbeitet worden war, nicht ganz identifizieren."^ So war das Parteiprogramm praktisch bereits vom folgenden Tag an bedeutungslos für die politischen und auch programmatischen Auseinandersetzungen. Der Eurokommunist Giancarlo Pajetta bemerkte damals "scharfsinnig und bissig", wie Gorbacev es später qualifizierte, daß die KPdSU gleichzeitig drei Generalsekretäre habe, die drei unterschiedliche Vorstellungen im Parteiprogramm, im Referat des Generalsekretärs bei seiner formellen Beschlußfassung und in der Entschließung des ZK zum Programm von erforderlichen Veränderungen zum Ausdruck gebracht hätten.24 Am nächsten kommt Gorbacevs Buch vom Sommer 1987 25 an eine Programmschrift heran. Aber auch dieses konnte nicht zur "Bibel der Perestrojka" werden, da viele seiner Aussagen bereits nach wenigen Monaten überholt waren und vom Autor selbst revidiert wurden. Statt von einem Parteiprogramm oder von der Programmschrift eines einzelnen muß deshalb von einer Programmatik gesprochen werden, die sich in einer ganzen Folge von Grundsatzreden, auch von Inter-

21 Zu den wenigen Autoren, die einen "Sozialismus" als Nachfolge-System des stalinschen sowjetischen Kommunismus für möglich erklärten, gehörte nach 1993 Daniels, Robert V.: The End of the Communist Revolution, London/New York 1993, S. 167-190. 22 So der reißerische Titel der Veröffentlichung des Programms unter der Herausgeberschaft von Boris Meissner (Köln 1987), der der Argumentation des Herausgebers widerspricht. 23 Meissner, Boris: Das Aktionsprogramm Gorbatschows. Die Neufassung des dritten Parteiprogramms der KPdSU, Köln 1987, S. 23. 24 Gorbatschow, M. S.: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 286. 25 Perestrojka i novoe myälenie dlja naäej strany i dlja vsego mira, Moskau 1987 (siehe Anm.2).

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views M. S. Gorbacevs und seiner engsten Mitstreiter sowie in den Äußerungen mancher seiner Konkurrenten im Politbüro und ZK-Apparat, in sonstigen Parteiformationen sowie in den Staatsorganen artikulierten 2 Frühestens 1987 repräsentieren auch Parteibeschlüsse die ganze Breite der Umgestaltungsprogrammatik, sind nicht mehr ausgehandelte Kompromisse zwischen den Anhängern der alten und der neuen Ordnung. Ihr Zwittercharakter ergibt sich seit dieser Zeit aus dem inhärenten Anspruch der Perestrojka, konservativ und innovativ zugleich sein zu wollen. Außer der engeren und weiteren Parteiführung wirkten zahlreiche Aufsätze, Bücher, Reden und Interviews von Gorbacevs Sympathisanten in einem breiteren journalistischen,27 wissenschaftlichen 28 und künstlerischen 2 ^ Umfeld sowie die Entstehung von spontanen Parolen bei Massendemonstrationen und Streiks bei der programmatischen Entwicklung der Perestrojka mit, wobei sich die Autoren bald nicht mehr an die programmatischen Vorgaben Gorbacevs, des Politbüros und des Zentralkomitees hielten. Im Gegenteil, Gorbacev und die Parteiführung begannen irgendwann 1988/89, sich teilweise auch an die in der Öffentlichkeit rasch radikalisierende Perestrojka-"Programmatik" anzupassen. Aus den Umgestaltern wurden selbst auch Umgestaltete. Die Analyse der Umgestaltungs-Programmatik wird dadurch erschwert, daß es sich j a um die Umgestaltung eines Systems handelte, in dem die Parteiführung das politisch-ideologische Monopol besaß, das auch die Gegner der Perestrojka zwang, einen Kotau vor der offiziellen Perestrojka-Rhetorik zu machen. Das konnten sowohl radikale, orthodoxe Kräfte sein, die an den bestehenden Verhältnissen nichts ändern oder gar zu den Stalinschen Verhältnissen zurückkehren wollten, als auch solche Kräfte, die sich nur aus taktischen Gründen auf die Umgestaltung des Sozialismus beriefen, tatsächlich aber seine Abschaffung betrieben. Unter dem Schlagwort des Umbaus eines Hauses konnte man ja schließlich fast alles verstehen, vom bloßen "TapetenWechsel"^ bis zum Abriß des Hauses bis auf seine Grundmauern, mit der Absicht, auf ihnen ein fast vollständig neues Haus zu errichten. Insofern drückte die vieldeutige Formel "Umbau" hervorragend das vage und beliebig variierbare Verhältnis von konservativen und innovativen Elementen aus, das die ganze Ära der Perestrojka charakterisierte. Den Kern der "Umgestaltung" des realsozialistischen Systems trifft man wohl am ehesten, wenn man sich an die Äußerungen der wichtigsten Initiatoren und Protagonisten der Perestrojka selbst hält, also zum einen an Gorbacev und seinen engsten Beraterkreis, bestehend aus Wissenschaftlern, Journalisten und 26 Ein früher Versuch, den systematischen Zusammenhang der Gorbatschowschen Perestrojka-Vorstellungen zu erkunden, stammt von Haug, Wolfgang Fritz: Gorbatschow. Versuch über den Zusammenhang seiner Gedanken, Hamburg 1989; vgl. auch Zipko, Alexander: Die Philosophie der Perestroika. Die Grundlagen der Reformpolitik Michail Gorbatschows, München 1990. 27 Vgl. die Auswahl von Artikeln und Leserbriefen in: Tarasulo, Isaac J. (Hrsg.): Perils of Perestroika. Viewpoints from the Soviet Press, 1989-1991. Scholary Res. Inc., Wilmington, DE 1992, 355 S.; Riordan, Jim/ Bridger, Sue (Hrsg.): Dear Comrade Editor. Readers' Letters to the Soviet Press under Perestroika. Indiana UP, Bloomington 1992,235 S. 28 Hier sind insbesondere einige Soziologen (z.B. Lewada, Juri: Die Sowjetmenschen 1989-1991. Sonogramm eines Zerfalls. Argon Verlag, Berlin 1992, 336 S.) und Ökonomen (z.B. Aganbegjan, Abel: Ökonomie und Perestroika. Gorbatschows Wirtschaftsstrategien, Hamburg 1989) sowie mehrere Historiker zu nennen, vgl. Davies, Robert W.: Perestroika und Geschichte. Die Wende in der sowjetischen Historiographie, dtv, München 1991,294 S. Es ließen sich aber auch zahllose Beispiele aus dem Bildungswesen, der Jurisprudenz, der bildenden und Filmkunst und den Schriftstellerkreisen nennen. 29 Hielscher, Karla: Der neue Frühling in Literatur und Kunst, in: Mommsen, Margareta/Schröder, Hans-Henning (Hrsg.): Gorbatschows Revolution von oben. Dynamik und Widerstände im Reformprozeß der UdSSR, Frankfurt a.M./Berlin 1987, S. 31-51 30 So in der berühmten abschätzigen Bemerkung des SED-Ideologen Kurt Hager Anfang 1987.

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Funktionären im Zentralapparat der Partei sowie seiner Ehefrau Raissa M. Gorbaceva 3 ' (z.B. A. S. Cernajev, G. Ch. Sachnazarov, A. E. Bovin), zum zweiten an seine Mitstreiter im Partei- und Staatsapparat oder in den Repräsentativkörperschaften, die dann manchmal zu seinen Konkurrenten wurden, wie z.B. E. K. Ligacev, B. N. El'cin, N. I. Ryzkov, E. A. Sevardnadze, V. A. Medvedev, A. N. Jakovlev, A. D. Sacharov, und drittens an die große Schar derjenigen, die sich programmatisch und publizistisch besonders energisch für die Perestrojka einsetzten. Für viele andere seien L. I. Abalkin, J. N. Afanasev, A. G. Aganbegjan, C. T. Ajtmatov, O. T. Bogomolov, V. I. Dasicev, E. V. Jakovlev, V. A. Korotic, J. A. Levada, N. J. Petrakov, St. S. Satalin, T. I. Zaslavskaja genannt. Damit sind nur Persönlichkeiten aus dem Zentrum der Sowjetunion, nicht aus den Unionsrepubliken und der übrigen Peripherie genannt. Weder nominell, noch inhaltlich beginnt eine umfassende Perestrojka-Politik mit dem Amtsantritt M. S. Gorbacevs. Zu Beginn ist Perestrojka ein eher beiläufiges, traditionell im russischen und sowjetischen Sprachgebrauch übliches Wort unter anderen, das erstrebte Veränderungen und Wandlungen in einigen Lebensbereichen bezeichnen soll. Als programmatische Leitformel diente Gorbacev zunächst "uskorenie", die "Beschleunigung der sozialökonomischen Entwicklung des Landes auf der Grundlage des wissenschaftlich-technischen Fortschritts" Erst im Sommer und Herbst 1986 und schließlich eindeutig im Januar 1987 verdrängte die "Umgestaltung" die "Beschleunigung" als Leitformel, recht rasch, aber nicht abrupt. Dem schrittweisen Formelwechsel entsprach eine auffällige Veränderung der programmatischen Aussagen, die M. S. Gorbacev und seine engsten Mitarbeiter nach ihren ersten Erfahrungen mit dem strukturellen Widerstand gegen die anfänglichen bescheidenen Maßnahmen der neuen Parteiführung radikalisierten. Die Beschleunigungsformel stand noch ganz in der Tradition der Partei, Kursänderungen im Namen der "schöpferischen Weiterentwicklung" der marxistisch-leninistischen Politik zu verkünden, was die stillschweigende Verdrängung der vergangenen Politik (allenfalls die offene Kritik an einer "Handvoll" abweichender Politiker) durch eine neue "einstimmige" und die Behauptung ungebrochener Kontinuität und stetigen Fortschritts implizierte. Die Perestrojkaformel ermöglichte erstmals seit den dreißiger Jahren eine tiefergreifende, strukturelle Kritik an den bestehenden Verhältnissen und damit eines großen Teils der Sowjetgeschichte - etwa im Unterschied zur "Personenkult"-Kritik unter Chruscev. Zur Vorgeschichte der Perestrojka gehören die Reorganisations- und Reformansätze unter J. V. Andropov (Generalsekretär vom November 1982 bis Februar 1984). Aufsehen erregte damals sein programmatischer Aufsatz zum 100. Todestag von Karl Marx. 3 3 Als Anzeichen für bevorstehende tiefergreifende Veränderungen war die im eher peripheren Wissenschaftsbetrieb entstandene "Novosibirsker Studie" 34 von Tatjana I. Zaslavskaja und anderen zu erkennen, der bald eine gründlichere öffentliche Debatte über soziale Interessenswidersprüche und über die Verfestigung von bürokratischen Gruppeninteressen folgen soll31 M. S. Gorbacev hebt in seinen Erinnerungen (Anm. 6) immer wieder hervor, daß die Soziologin Raissa M. Gorbaceva wichtige inhaltliche Impulse zur Entwicklung der Perestrojka beigesteuert habe, etwa S. 170, 407 ff. 32 Signalcharakter haben konnte Gorbacevs Fallenlassen der Formel des "entwickelten Sozialismus" bereits bei seinem Amtsantritt, wie er selbst nachträglich hervorhebt (in: Erinnerungen, Berlin 1995, S. 260). Dies war bereits ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine Aufgabe des marxistisch-leninistischen soziohistorischen Stufenschemas, das unter anderem auch die Überlegenheit des sowjetischen Sozialismus gegenüber dem Sozialismus anderer Länder begründete. Dies wurde aber offenbar weder von der Öffentlichkeit, noch von den Ideologie-Spezialisten bemerkt oder für besonders bemerkenswert gehalten. So auch Jegorow, Vladimir K.: Aus der Sackgasse in die Ungewissheit. Die Perestroika des Michail Gorbatschow, Berlin 1992, S. 58f. 33 Ucenie Karla Marksa i nekotorye voprosy socialisticeskogo stroitel'stva SSSR, in: Kommunist (3/1983) S. 9-23 (dt. in: Andropow, Jurij: Reden und Schriften, Köln 1983, S. 362-397. 34 Die Studie von Nowosibirsk, in: Osteuropa 34 (1/1984), S. A 1-25.

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ten. Gorbacev selbst rief erstmals mit seiner Rede am 10. Dezemberl984 vor einer "wissenschaftlich-praktischen Unionskonferenz" über ideologische Probleme größeres Aufsehen hervor.35 Die "Pravda" wagte damals nur eine stark verkürzte Veröffentlichung. Diese Rede hatte "alle Merkmale einer politischen Plattform", die nach Robert Kaisers Einschätzung "ziemlich direkte Bezüge zu jedem größeren Aspekt von Gorbacevs künftigem Reformprogramm" enthalten hat.36 In ökonomischer Hinsicht ist der Übergang von einer herkömmlichen bloßen Wirtschaftsreorganisation und -reform etwa im Jahre 198637 z u e i n e r tiefergreifenden Systemreformation inhaltlich und zeitlich schwerer zu bestimmen als der Übergang von dieser zum Systemumbruch im Jahre 1990/91. Allerdings gibt es auch hier - wie meist in der gesellschaftsgeschichtlichen Entwicklung - keine einfachen und eindeutigen, systematischen sowie historischen Trennlinien. Als zunächst programmatische und dann auch praktische Grenzüberschreitung zur Perestrojka läßt sich allgemein die einschneidende Beschneidung zentraler Planungskompetenzen und die Ausweitung der dezentralen wirtschaftlichen Entscheidungen bestimmen. Die Grenze zum Systemumbruch war dann überschritten, als die zentrale Staatliche Planungsbehörde aufgelöst und die Privatisierung von Produktionsmitteln in größerem Maßstab eingeleitet worden war. Als andere wichtige ökonomische Schritte zur Beendigung der Perestrojka und des sozialistisch-etatistischen Wirtschaftssystems können etwa die Beseitigung der zentralen Preis- und Lohnbestimmung und die Trennung der Notenbank von den Geschäftsbanken angesehen werden. Genauere Untersuchungen müßten feststellen, wann die ersten programmatischen Forderungen (zunächst von einzelnen Experten, dann von Partei- oder Staatsinstanzen) auftauchen, wann sie in Gesetze und Verordnungen umgesetzt wurden und wann sie schließlich verwirklicht worden sind. Etwas leichter scheint die Bestimmung des Übergangs von herkömmlichen Reorganisationen und Reformen zur gründlicheren Systemreformation im politischen Feld. Als Schritte in die Umgestaltung des politischen Systems lassen sich alle Entscheidungen oder Duldungen von wesentlichen politischen, öffentlichen Freiräumen für außer- und innerparteilichen Dissens verstehen, die auf eine Aufhebung des "provisorischen" Verbots von Parteien und Fraktionen im März 1921 hinausliefen. Dazu lassen sich z.B. rechnen die Freilassung der politischen Gefangenen aus den Haftanstalten und Lagern, die Verkündung und Praktizierung einer begrenzten Öffentlichkeit von Kritik an gesellschaftlichen Mißständen ("glasnost") am Verhalten von unteren und mittleren Partei- und Staatsorganen, später auch an der Parteiführung, die schrittweise Aufhebung der Zensur, die Aufstellung von mehreren Kandidaten für ein Wahlamt, die Duldung und schließlich Legalisierung von "informellen" Gruppen, die Duldung von innerparteilichen "Plattformen" und schließlich auch "Fraktionen", die Bildung eines Verfassungsgerichtes und zahlreiche Maßnahmen im Rechtswesen beim Übergang von der "sozialistischen Gesetzlichkeit" zu den Ansätzen einer "Rechtsstaatlichkeit". 38 Auch hier vergingen oft mehrere Monate zwischen programmatischen Ankündigungen und praktischer Durchsetzung; manchmal wurde jedoch auch spontan entschieden und schließlich

35 Vgl. Temmen, Horst (Hrsg.): Michail S. Gorbatschow: "Zurück dürften wir nicht!". Programmatische Äußerungen zur Umgestaltung der sowjetischen Gesellschaft, Bremen 1987, S. 9, 16-26; dazu auch M. S. Gorbatschow (Anm. 6), S. 245 f. 36 Kaiser, Robert G.: Why Gorbachev happened, New York/London 1992, S. 76. 37 ¿ores A. Medvedev schätzte noch nach dem Januar-Plenum 1987 Gorbacev und die neuen Parteiführer eher als bescheidene Systemverbesserer und Garanten von Kontinuität, denn als ausgeprägte und kühne Reformer ein, in: ders.: Gorbachev, New York/London 1987, S. 284. 38 Vgl. Schmid, Karin (Hrsg.): Gesetzgebung als Mittel der Perestrojka. Wunsch und Wirklichkeit, Baden-Baden 1991; Huber, Robert T./Kelley, Donald R. (Hrsg.): Perestroika-Era Politics. The New Legislature and Gorbachevs Political Reforms, New York/London 1991.

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ging die gesellschaftliche Entwicklung über die Entscheidungen der Parteiführung hinaus. Die Partei- und Staatsprogrammatik konnte letztendlich den wirklichen Veränderungen nur noch hinterherhecheln. Der Übergang von der kommunistischen Einparteienherrschaft zum politischen Pluralismus und zu den Ansätzen einer liberalen Demokratie bahnte sich in den Debatten und Fraktionierungen des ersten Volksdeputiertenkongresses im Mai 1989 an, er erhielt zunächst nur deklaratorisch-programmatischen Charakter durch die Änderung der Artikel 6 und 7 über die "führende", d.h. monopolistisch herrschende Rolle der Kommunistischen Partei, nach einem ZK-Beschluß im Februar 1990 und einer entsprechenden Verfassungsänderung im Volksdeputiertenkongreß im Monat darauf; er bekam schließlich praktische Gestalt mit der Verdrängung der Partei aus den Staatsorganen seit Ende 1990, forciert und endgültig dann seit August 1991. Was den Staatsaufbau angeht, so hinkte hier von Anfang an die Partei- und Staatsführung der Entwicklung hinterher, da jahrzehntelang die Nationalitätenfrage und ganz allgemein die Dezentralisierungs- und Föderalisierungsfrage - im Unterschied zu den langen ökonomischen und den übrigen politischen Debatten - schlicht ignoriert und verdrängt worden war, und zwar auch in der Wissenschaft, ja sogar im Bewußtsein eines großen Teils der westlichen Wissenschaft und Politik. Hier diktierte die Entwicklung in der sowjetischen Peripherie - die nationalen Unruhen in Kasachstan im Dezember 1986, die Eskalation der nationalen Auseinandersetzungen um Bergkarabach im Februar 1988 und schließlich die in Estland im November 1988 beginnende "Parade der (nationalterritorialen) Souveränitäten" - den Iniatoren der Perestrojka immer mehr die Programmatik. Erst im September 1989 thematisierte ein ZK-Plenum die Nationalitätenfrage. Seine Beschlüsse kamen - abgesehen von ihrer inhaltlichen Unzulänglichkeit - "entschieden zu spät", wie Gorbacev später selbst schrieb.^® Schon kurze Zeit später ging die Perestrojka der Union in den Auflösungsprozeß des Staates über^l, als mit Litauen im März 1990 die erste Sowjetrepublik ihre Unabhängigkeit deklarierte, ohne sie schon durchsetzen zu können. Erst danach, im Juni 1990, entschied sich Gorbacev für Verhandlungen über eine Umstrukturierung der Union.42 Bereits ein Plan zur bescheidenen Dezentralsierung der Macht reichte aus, um den Putsch im August 1991 zu provozieren. Die Intentionen der Perestrojschtschiki Die Erforschung der bewußten Absichten - ganz zu schweigen von den unbewußten Motivationen - der sozialen und politischen Trägergruppen der Perestrojka erfordert ganz andere Methoden als die Analyse der Programmatik. Da Absichten direkt überhaupt nicht der Forschung zugänglich sind, können wir uns von ihnen nur ein annäherndes Bild durch Rückschlüsse und gedankliche Kombinationen aus Indizien für die tatsächlichen Absichten konstruieren. Aus der Logik und Konsistenz von öffentlichen Erklärungen und praktischen Verhaltensweisen lassen sich bereits erste plausible Thesen über zugrundeliegende Absichten entwickeln.

39 Siehe im einzelnen Simon, Gerhard und Nadja: Verfall und Untergang des sowjetischen Imperiums, München 1993. 40 M. Gorbatschow (Anm. 6), S. 500. 41 Ein Beispiel für westliche Illusionen über den Zusammenhalt der Sowjetunion bis über den August 1991 hinaus ist: Ehrhart, Hans-Georg (Hrsg.): Die sowjetische Frage. Integration oder Zerfall? Baden-Baden 1991. 42 Siehe im einzelnen Jahn, Egbert/Maier, Barbara: Das Scheitern der sowjetischen Unionserneuerung, in: Osteuropa 42 (5/1992), S. 377-395.

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Die Veröffentlichung von Memoiren, nachträglichen Befragungen über ehemalige Absichten, Tagebuchaufzeichnungen und Aktennotizen geben weitere Hinweise, wie kritisch sie auch immer unter dem Aspekt ihrer politischen Funktion zum Zeitpunkt der Veröffentlichung zu sehen sind. Dies gilt vor allem bei Memoiren und Befragungen von Personen, die zum Zeitpunkt ihrer "Erinnerungen" noch aktuelle politische Ambitionen haben. Zu manchen Fragen können sicher erst nach Jahren und Jahrzehnten, wenn die Akten und der persönliche Nachlaß 4 3 der Forschung zugänglich sind, wenn außerdem der Kontext der Ereignisse gründlich erforscht ist und wissenschaftliche Biographien die ersten publizistischen Biographien und die Autobiographien revidiert haben, fundierte wissenschaftliche Thesen vorgelegt werden. Deshalb ist der Forschungsstand über die Intentionen der Perestrojschtschiki weitaus vorläufiger als der über die öffentliche Programmatik der Perestrojka. Eine zentrale Frage lautet: inwiefern hatten die Initiatoren und maßgeblichen Träger der Perestrojka eine ausgearbeitete Konzeption beim Amtsantritt M. S. Gorbacevs? Und wann haben sie unter dem Einfluß welcher Erfahrungen ihre Vorstellungen von der notwendigen Umgestaltung präzisiert und modifiziert? Bei der überragenden Stellung des Generalsekretärs im politischen System der Sowjetunion kommt der Rekonstruktion der Absichten M. S. Gorbacevs und seiner engsten Mitarbeiter 4 4 im März 1985 selbstredend eine zentrale Rolle zu. Aber es würde sich auch lohnen, die Absichten seiner späteren prominenten Konkurrenten wie E. K. Ligacev 4 ^, B. N. El'cin 4 ^, N. I. Ryzkov 4 ^ usw. zu erforschen, möglichst auch die der "namenlosen" Funktionäre in den Partei- und Staatsorganen, die die wichtigsten Vorhaben bei der Umgestaltung des politischen und sozioökonomischen System beschlossen, durchführten bzw. vereitelten. Vorerst lassen sich folgende Hypothesen vertreten. M. S. Gorbacev wurde nicht als Vertreter einer Reformfraktion im Politbüro zum Generalsekretär gewählt und hat sich auch nicht als solcher verstanden. Nach der raschen Folge von drei alten, kranken Generalsekretären hatte Gorbacev einen schlichten Vorteil: er war verhältnismäßig jung, dynamisch, in der Arbeit des Zentralkomitees und Politbüros erfahren und hatte mit allen drei Vorgängern im Amt loyal zusammengearbeitet. In seiner Jugend war er naiver Stalinist. Seine Karriere hatte er als eifriger Parteisekretär in der Breznev-Zeit mit einer günstigen Mischung aus Eigensinn und Anpassungsfähigkeit gemacht. Für seine Berufung ins Moskauer Machtzentrum als ZKSekretär war weniger seine fachliche (juristische und agrarwissenschaftliche) Qualifikation entscheidend, sondern zwei Eigenschaften. Energie, Ehrgeiz, Arbeitsamkeit, intellektuelle Beweglichkeit, Durchsetzungsfähigkeit, eine Mischung aus Eigenständigkeit und Anpassungsfähigkeit, keine erhebliche Abhängigkeit von Alkohol, Korruption etc., das waren die Qualitäten, die ihn in den Augen J. V. Andropovs auffällig machten. Überhaupt stellte Andropov bereits in der Breznev-Ära und dann in seiner eigenen Amtszeit als Generalsekretär alle entscheidenden personalpolitischen Weichen für die Perestrojka, indem er nicht nur M. S. Gorbacev protegierte, sondern mit dessen Unterstützung auch N. I. Ryzkov, E. K. Ligacev, B. N. 43 Gorbacev behauptet, seine Notizbücher und viele Papiere nach dem Dezember 1991 vernichtet zu haben, da er "ganz unterschiedliche Szenarien für die weitere Entwicklung" nicht ausgeschlossen habe und die "Rücksichtslosigkeit der russischen Behörden" kenne, vgl. Anm. 6, S. 265. 44 Vgl. A. S. Cernjaev: Sest' let s Gorbacevym, Moskau 1993; V. A. Medvedev: V komande Gorbaceva: Vzgljad iznutri, Moskau 1994; V. A. Medvedev: Raspad, Moskau 1994; E. A. Sevardnadze: Moj vybor. V zascitu demokratii i svobody, Moskau 1994. 45 Vgl. E. K. Ligacev: Izbrannye reci i stat'i, Moskau 1989. 46 Vgl. B. N. El'cin: Ispoved' na zadannuju temu, Moskau 1990 (dt.: B. Jelzin: Aufzeichnungen eines Unbequemen, München 1990); Die Alternative. Demokratie statt Diktatur, Bad König 1991; Zapiski prezidenta, Moskau 1994 (dt.: Auf des Messers Schneide. Tagebuch des Präsidenten, Berlin 1994); B. N. El'cin/R. I. Chasbulatov: Edinstvo, kompromiss, bor'ba, Moskau 1994. 47 N. I. Ryzkov, Desjat' let velikich potrjasenij, Moskau 1995; Ja iz partii po imeni "Rossija", Moskau 1995.

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El'cin und andere in führende Stellungen hob. Entscheidend war nicht ein besonderes Reformengagement, sondern die erwähnten allgemeinen persönlichen Funktionärsqualitäten, die allerdings in Kontrast zu weithin verbreiteten Funktionärseigenschaften wie intellektuelle Beschränktheit, Unterwürfigkeit, Korruptheit, Schlamperei, Trunkenheit, Starrsinn eine gewisse Disposition für innovatives Verhalten enthielten. Ausschlaggebend f ü r die Ernennung Gorbacevs zum ZK-Sekretär war allerdings die Einschätzung Breznevs, daß Gorbacev ein loyaler Gefolgsmann Breznevs sein werde in der stets latenten Seilschaftskonkurrenz der Politbüromitglieder und ihres jeweiligen Anhangs untereinander.^^ So wurde Gorbacev auch nicht als Exponent einer Reformfraktion im Politbüro zum Nachfolger Cernenkos gewählt, sondern als dynamischer, tatkäftiger Fortsetzer der Parteitradition, nach der es galt, relativ einvemehmlich Antworten auf die Herausforderungen der Zeit zu finden. Gorbacevs Geschick und Begrenzung lag bis zum Schluß seiner Amtszeit darin, Polarisationen und Konfliktzuspitzungen zu vermeiden. Zu Gorbacev gab es eigentlich 1985 keine ernsthafte personelle Alternative. Der ehrgeizigste Altemativkandidat N. A. Tichonov kam wegen seines hohen Alters (geb. 1905) nach den kurzen Amtsperiode von Andropov und t e r n e n k o nicht mehr in Betracht, das persönliche Gewicht von G. V. Romanov wurde im Westen ü b e r s c h ä t z t ^ und der wahrscheinlich ernsthafteste Konkurrent V. V. Grisin war persönlich diskreditiert. Die uneffektive Amtszeit Cernenkos, in der die alte Garde noch siecher wurde, hat wohl insgesamt dazu beigetragen, daß Gorbacev nicht nur am 11. März 1985 unangefochten^ 0 zum neuen Generalsekretär gewählt wurde, sondern daß sich auch die einflußreiche "Generalität" der Partei, d.h. die Sekretäre der Republiks-. Gebiets- und Regionssekretäre für ihn stark machte.^' Gorbacev selbst hatte damals offenbar nicht in den Kategorien von Reformern und Gegenreformern gedacht, war aber fest entschlossen, in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens weitreichende Änderungen durchzusetzen. Dazu mußten vor allem uneffektive, d.h. senile, korrupte und trunksüchtige Funktionäre ausgeschaltet werden, aber nicht "politische" Gegner im eigentlichen Sinne. Da Gorbacev bereits unter Cernenko viele Sitzungen des Politbüros und des ZK-Sekretariats leitete, konnte er sich frühzeitig auf seine neuen Wirkungsmöglichkeiten vorbereiten. Dazu gehörte auch die Versammlung von Sachkompetenz aus den wissenschaftlichen Instituten, aus den Apparaten und aus den Medien um sich, die dann in Arbeitsgruppen die Reformen in vielen Lebensbereichen vorbereiteten.^^ Dennoch hatte Gorbacev offenbar bei Amtsantritt weder ein ausgearbeitetes Reformkonzept, noch gar konkrete Aktionspläne. So schrieb er später z.B. zur Außenpolitik: "Schon vor meiner Wahl zum Generalsekretär war mir klargeworden, wie nötig wir einen grundsätzlichen Wandel unserer Außenpolitik brauchten. Ich kann nicht behaupten, daß zu jenem Zeitpunkt bereits ein detailliert ausgearbeiteter Aktionsplan in meiner Aktentasche gesteckt hätte."53 Antialkohol-Kampagne, Disziplinverschärfung in den Ämtern, Veijüngung der Kader dürfen deshalb wohl kaum nur als erste taktische Schritte in subversiver Absicht zur Perestrojka begriffen werden, son48 Siehe Gorbacevs eigene Darstellung (Anm. 6), S. 25-37, 180. 49 Siehe z.B. Schmidt-Häuer, Christian: Michail Gorbatschow, 5. Aufl., München 1987, S. 158, 163, 166-169. 50 So nach der Darstellung von M. S. Gorbacev (Anm. 6): "Inzwischen sind allerlei Gerächte [...] in Umlauf, alle mehr oder weniger des Inhalts, daß es einen regelrechten Streit gegeben habe, daß für den Posten des Generalsekretätr mehrere Kandidaten vorgeschlagen worden und daß das Politbüro in das Plenum gegangen sei, ohne sich geeinigt zu haben. Nichts davon stimmt" (S. 256). Dort auch zur Initiative von Sekretären der Gebiertskomitees. Zum Einfluß des "Sekretärskorps" vgl. auch S. 377, 385. Auch B. N. El'cin hob den Einfluß der Gebietssekreträe bei der Wahl Gorbacevs hervor, in: Die Alternative, Bad König 1991, S. 33. 51 Gorbacev (Anm. 6), S. 125f., 141ff., 256. 52 Vgl. M. S. Gorbacev (Anm. 24), S. 21. 53 Ebenda, S. 573.

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dem die Absichten der Umgestaltung entwickelten sich überwiegend während der Amtszeit Gorbacevs. Auch einem B. N. El'cin wird man keine weitreichenden Veränderungsabsichten im Jahre 1985 unterstellen dürfen. Selbst die Dissidenten wie A. D. Sacharov wagten nur von bescheidenen Veränderungen zu träumen. Bei aller flexiblen Anpassungs- oder auch Lernfähigkeit von M. S. Gorbacev und bei aller Berücksichtigung seines taktischen Geschicks wurde zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder die Frage gestellt, ob er eigentlich noch Kommunist oder Sozialist sei. Selbst bezog er sich in der Perestrojka-Ära stets auf den Leninismus, insbesondere auf das Spätwerk Lenins und auf Lenins NEP-Politik, die er nicht als taktischen Rückzug Lenins auf staatskapitalistische Positionen, sondern als Ausdruck eines modernen Sozialismus-Verständnisses deklarierte. Es dürfte fehlgehen, dem belesenen Gorbacev ein fundamentales Mißverständnis Lenins zu unterstellen, so daß es sich bei Gorbacevs "Leninismus"^ 4 (er vermied möglichst den in der Stalin-Ära entstandenen Ausdruck "Marxismus-Leninismus") um eine bewußte Revision Leninscher Vorstellungen unter Inanspruchnahme seiner Autorität gehandelt hat. Wie sehr Gorbacev in seiner Amtszeit bei aller Aufweichung und Unbestimmtheit seines oft wolkig beschriebenen Sozialismus-Verständnisses dem kommunistischen Parteiverständnis verhaftet blieb, zeigte sich nach dem August-Putsch 1991, als er nach seiner Rückkehr von Foros zunächst an der Idee eines guten Kerns und einer Erneuerbarkeit der Kommunistischen Partei festhielt. Nach der Auflösung der Sowjetunion hingegen meinte er zu der Frage, ob er Kommunist, Sozialist oder Demokrat sei: "Niemand hat einen speziell ausgearbeiteten Plan zum Sturz des Sozialismus verwirklicht. Wir müssen es direkt sagen: Diese Konzeption, die eine Niederlage erlitten hat - das ist das Modell des Stalinschen Sozialismus. Sie mußte eine Niederlage erleiden, weil sie dem Wesen der sozialistischen Idee widerspricht und sie im Grunde negiert. Gleichzeitig wollen wir aber nicht die kapitalistische Gesellschaft idealisieren." Ferner sagte er: "Und ich stelle mir die Frage: Wie verhalte ich mich jetzt zu Bernsteins Devise 'Das Ziel ist nichts, die Bewegung alles'? Wir haben diese These immer gebrandmarkt. Heute aber denke ich, daß Bernstein recht hat. Der Sozialismus - die lebendige Schöpferkraft, das ist nicht das Endziel, sondern ständiger Zuwachs an Neuem.

Die Praxis der Perestrojka Ein völlig anderes Bild ergibt sich von der Perestrojka, wenn man ihre Praxis untersucht. Sie wurde weit weniger von den Absichten und Programmatiken der prominenten Perestrojschtschiki bestimmt, als von den Handlungen und Unterlassungen derjenigen, die die Befehle, Direktiven, Gesetze und Empfehlungen der zentralen Partei- und Staatsorgane auszuführen hatten. Die rasche Folge der politischen Veränderungen führten allgemein zur Verunsicherung in den Partei- und Staatsorganen, die schließlich die Partei- und Staatsaktivitäten immer mehr paralysierten bzw. zu widersprüchlichen Verhaltensweisen auf vielen Ebenen führten, manchmal auch einer und derselben Instanz. Insgesamt scheint das Leben auf dem breiten Land jahrelang nur sehr wenig von der Perestrojka beeinfluß worden zu sein. Nur die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage machte sich allmählich überall bemerkbar. Die sozialen und politischen Strukturen hingegen blieben vielerorts bis in die postkommunistische Zeit weitgehend unverändert. In manchen Gegenden hingegen, vor allem in einigen großen Städten, wurde die Perestrojka-Politik viel nachhaltiger in die Praxis umgesetzt als in Moskau oder Leningrad. 54 Siehe den eingehenden Ideologievergleich von Gorbacevs "Leninismus" mit Leninschen Äußerungen von Saizew, Sergej: Gorbacevs Leninismus. Aus der Ideologie der "Perestrojka". Verlag Peter Lang, Frankfurt a.MTBerlin/Bern 1992,268 S. 55 Gorbatschow, Michail: Der Zerfall der Sowjetunion, München 1992, S. 204, 206.

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Außerdem entwickelte sich die Perestrojka in unterschiedlichen Lebensbereichen mit einer gewissen Eigendynamik relativ unabhängig, im Rechtswesen und Bildungswesen anscheinend langsamer als in den Medien, im Filmwesen rascher als in der Literatur, in der Wissenschaft von den Internationalen Beziehungen viel radikaler als in der Geschichtswissenschaft, in der militärischen früher als in der inneren Sicherheitspolitik. Der erste wichtige Schritt zur Perestrojka dürfte in der Proklamierung und Praktizierung der "glasnost"' im Sommer 1986 zu sehen sein. Damit begann die Mobilisierung einer später nicht mehr kontrollierbaren Meinungsvielfalt zunächst in den Medien, dann auch in der Gesellschaft und an der Parteibasis. Mit dieser Basismobilisierung sollte das Schicksal der früheren Reorganisationen der Wirtschaft und der Politik^ vermieden werden, die an den Beharrungsinteressen der großen Masse der Partei- und Staatsfunktionäre gescheitert waren. Diesem ersten Schritt folgte die Erschütterung der Machtpositionen der alten Kader durch die Aufstellung von Alternativkandidaten für Parteipositionen ohne Rücksicht auf die NomenklaturRegeln, die Bindung von Sekretariatsfunktionen an Erfolge bei den Wahlen zu den Sowjets, also den staatlichen Vertretungskörperschaften, die Duldung von informellen Gruppen, dann von politischen Plattformen, schließlich von Fraktionen und Parteien. Erste halbfreie Wahlen zum Kongreß der Volksdeputierten im März 1989 trieben die Umgestaltung des politischen Systems voran. Parallel dazu wurden die Kompetenzen der zentralen Planungsbehörde und der Ministerien schrittweise abgebaut, die Autonomie der Betriebsleitungen gestärkt. Immer mehr gesellschaftliche Bereiche, die Parteiideologie, das Rechts- und Bildungswesen, das publizistische, künstlerische und wissenschaftliche Geschichtsbild, die Außenpolitik, schließlich gar die Streitkräfte und der KGB, wurden einem permanenten Veränderungsdruck von der Parteiführung und gleichzeitig aus der Gesellschaft heraus ausgesetzt. Die Perestrojka geriet in eine neue Phase, als die Nationalitätenkonflikte (beginnend in Bergkarabach schon im Jahre 1986) eskalierten und in eine Parade der Souveränitäten (seit Dezember 1988) mündeten. Damit wurden die Perestrojschtschiki mit einer völlig unerwarteten Aufgabe konfrontiert, der Umgestaltung des Staatsaufbaus. Vor allem an dieser Frage sollte das Experiment des "umgestalteten Sozialismus in der UdSSR" scheitern.

Perestrojka als Prozeß Die Analyse der Perestrojka schließt die Praxis der Umgestalter in den Gegenstand der Untersuchung ein, ergänzt ihn jedoch um die Handlungen und Unterlassungen derjenigen, die der Umgestaltung Widerstand entgegensetzten, außerdem derjenigen, die von der Umgestaltung des Sozialismus zur Abschaffung des Sozialismus und zur Auflösung der Sowjetunion übergingen. Die wichtigste Form des Widerstands gegen die Perestrojka war zweifellos die schlichte Mißachtung der zahlreichen Gesetze und Verordnungen zur Umgestaltung, sei es aus allgemeiner Trägheit und Gewöhnung an die alten Verhaltensregeln, sei es aus der Verfolgung unmittelbarer persönlicher Interessen, oder sei es auch aus politischer Absicht. Auf der politischen Ebene lassen sich drei Prozesse des Widerstands gegen die Perestrojka bzw. gegen die weiterreichenden Umgestaltungspläne eines M. S. Gorbacev (im Unterschied zu den bescheidenen Umgestaltungsplänen eines E. K. Ligacev) unterscheiden.

56 Siehe hierzu Klaus Segbers, der vier bedeutsamere Wirtschaftsreformen zwischen 1957 und 1979 hervorhebt, in: ders.: Der sowjetische Systemwandel, Frankfurt a.M. 1989, S. 18-88. Vgl. femer Schwegler-Rohmeis, Wolfgang/Segbers, Klaus (Hrsg.): Perestrojka passé? Eine Zwischenbilanz der Reformpolitik in der Sowjetunion. Verlag Leske + Büdlich, Opladen 1992,218 S.

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Die wichtigste Ebene des Widerstands war zuerst das Politbüro und der ZK-Apparat, dann aber vor allem das "Sekretärskorps" der Parteisekretäre der territorialen Einheiten der Sowjetunion, das sich allmählich durch Gorbacevs Politik gefährdet sah. Das Zentralkomitee selbst war offenbar kein relevantes Forum der politischen Willensbildung und Auseinandersetzungen - im Kontrast zu manchen früheren politologischen Einschätzungen des politischen Systems der Sowjetunion. Nach einer gewissen Machtverlagerung auf den Kongreß der Volksdeputierten und den neuen Obersten Sowjet im Sommer 1989 erhielt der Widerstand gegen die Perestrojka auch organisierten, fraktionellen Ausdruck in den beiden Vertretungskörperschaften, am massivsten in der Deputiertengruppe "Sojuz", die im Februar 1990 gebildet wurde. Die zweite Ebene des Widerstands waren Versuche der Massenmobilisierung in Form von Demonstrationen, Streiks und der Aktivitäten von alten oder neuen gesellschaftlichen Organisationen wie z.B. den "Interfronten". Auch die Gründung der Kommunistischen Partei Rußlands im Juni 1990 war im Grunde gegen die Perestrojka gerichtet, obwohl sie formal die Konsequenz der Föderalisierung der KPdSU war. Die größte Schwäche der Perestrojka-Gegner dürfte ihre innere Zerrissenheit und die Gegensätze untereinander gewesen sein, obwohl sie in den staatlichen Gewaltorganen ebenso wie in den politischen Machtorganen stark vertreten waren. Schließlich fehlte der systemkonservativen Opposition gegen die Perestrojka eine energische Führungsfigur mit den erforderlichen intellektuellen, rhetorischen und organisatorischen Fähigkeiten, die die Chance besaß, zumindest in einer großen gesellschaftlichen Minderheit populär zu werden. Gegen irgendwelche Veränderungen des alten Systems waren wohl nur wenige; aber über das Ausmaß der akzeptablen Veränderungen bestand unter den Gegnern des offiziellen Perestrojka-Kurses keine Einigkeit. Schließlich wirkte das lange Zeit noch wirksame zwangsweise und vor allem auch verinnerlichte Fraktionsverbot einer Organisierung des entschlossenen Widerstands gegen die Parteiführung entgegen. Kurs- und Machtwechsel waren in der Geschichte aller kommunistischen Parteien stets aus den Kreisen der Politbüromitglieder bewirkt worden. Ein Sturz des Generalsekretärs auf Initiative von einfachen ZK-Mitgliedem, Gebietsparteisekretären oder von Kommandeuren der bewaffneten Organe war anscheinend im Ethos gerade des systemkonservativen Parteiverständnisses so gut wie ausgeschlossen, abgesehen von den Risiken eines fraktionellen Organisationsversuches zum Sturz der Parteiführung. Einmal aus der Parteiführung ausgeschlossene Funktionäre hatten praktisch keine politischen Betätigungsmöglichkeiten innerhalb der Partei mehr.57 Außerdem waren die bekannten systemkonservativen Politbüromitglieder meist so alt, daß sie auch physisch nicht mehr in der Lage waren, eine effektive Perestrojka-Opposition innerhalb der Partei zu organisieren. Die dritte Ebene des Widerstands gegen die Perestrojka waren die Versuche, mit putschistischer Gewalt dem "Spuk der Perestrojka" ein Ende zu bereiten. Der einzige öffentlich gewordene, weil in die Praxis umgesetze Putschversuch vom August 1991 scheiterte bekanntlich und leitete das Verbot der Kommunistischen Parteien in der RSFSR Rußland, in anderen Sowjetrepubliken sowie in den baltischen Staaten ein. Er beschleunigte außerdem den Auflösungsprozeß der Sowjetunion. Auf der anderen Seite der Perestrojka-Front entwickelte sich die Gegnerschaft gegen einen wie auch immer umgestalteten Sozialismus vor allem in der sowjetischen Peripherie. Die Gruppierung der offenen Antikommunisten war stets klein. Sie konnten allenfalls politisch-moralische Anstöße für die Radikali57 Diese Tradition dürfte eine entscheidende Motivation für Boris N. El'cin gewesen sein, nach seiner parteipolitischen Degradierung zu den "Demokraten" überzulaufen und seine persönliche Chance in einer radikalen Perestrojka-Kritik zu suchen. Im Februar 1991, nach den blutigen Ereignissen im Baltikum, forderte er den Rücktritt Gorbacevs vom Präsidentenamt u.a. mit den Worten: "Es wurde vollkommen offensichtlich, daß Gorbacev zwar an dem Wort Perestrojka festhält, im wesentlichen aber das System gar nicht von Grund auf umgestalten, sondern es erhalten will." In: Zapiski prezidenta, Moskau 1994, S. 38.

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sierung der Parteikritik geben, erlangten jedoch selten (im Unterschied zu einem Walesa in Polen oder einem Havel in der Tschechoslowakei) führende Funktionen in der Systemopposition. Unerforscht ist bisher, inwieweit eine "entristische" Taktik bei solchen Personen eine Rolle spielte, die sich zunächst öffentlich für die Perestrojka engagierten, aber von vorneherein die Absicht hatten, die Umgestaltung des Sozialismus zu seiner Abschaffung zu nutzen. Das Scheitern der Perestrojka begünstigt natürlich zahlreiche biographische "Taktik-Legenden" unter denjenigen, die sich schlicht schrittweise an die Radikalisierung des Umgestaltungsprozesses anpaßten. Mag mancher den Gesinnungswandel der Legionen von Wendehälsen auch oft als "opportunistisch" qualifizieren, entscheidend ist, daß es in Umbruchsperioden immer auch tatsächliche Lernprozesse gibt, weil den Beteiligten schrittweise die Augen über die Funktionsdefizite, im sowjetischen Falle insbesondere auch das Ausmaß der früheren Verbrechen und der Korruption, aufgehen. Der Aufstieg und Niedergang der Perestrojka ist also nicht nur ein Prozeß des Machtwechsels zwischen Systemkonservativen, Umgestalten! und Antisozialisten (Demokraten sowie Autoritären), sondern vor allem ein Prozeß des systempolitischen Umdenkens in breiten Schichten der politisch denkenden Bevölkerung und des Umschwenkens der Sympathien in der unpolitischen Bevölkerung. So gesehen dürfte die Perstrojka die stärkste Unterstützung in den politischen Eliten wie in der Bevölkerung in den wenigen Monaten von der Eröffnung des Volkseputiertenkongresses im Mai 1989 bis zur Rechtswende Gorbacevs im September/Oktober 1990 gehabt haben, und zwar in Rußland. Damals war der Höhepunkt des Perestrojka-Bewußtseins in den baltischen sowie in den transkaukasischen Republiken schon längst überschritten. Wahrscheinlich war die größte Schwäche der Moskauer Perestrojschtschiki, daß sie die Brisanz der Nationalitätenproblematik lange Zeit überhaupt nicht sahen und auch später nur sehr unzulänglich begriffen. Für die Nichtrussen außerhalb, teilweise auch innerhalb Rußlands verband sich die Idee der Umgestaltung des Sozialismus sehr früh, in vielen Fällen von Anfang an mit der Idee, die Russifizierung der Sowjetunion zu revidieren und eine "Wiedergeburt" der ethnisch-nationalen Kulturen einzuleiten. Leider hat die Fixierung der Perestrojka-Forschung auf Moskau und auf Gorbacev und der Erforschung der nationalen Bestrebungen und Bewegungen auf die Unabhängigkeitsfrage den Blick auf die Frage verstellt, wann und wo die Perestrojka-Politik außerhalb der RSFSR auf eine authentische Föderalisierung der Sowjetunion ausgerichtet war. Alles in allem dürfte diese Phase in den meisten Republiken und Nationalbewegungen sehr kurz gewesen sein. Sie war offenbar mit einer kurzzeitigen Renaissance austromarxistischer Theorieelemente in der Nationalitätenpolitik verknüpft. Entscheidend für das Schicksal der Perestrojka und damit auch der Sowjetunion dürfte die Ungleichzeitigkeit der tatsächlichen Umgestaltungsprozesse gewesen sein. Während die einen schon mit dem Gedanken der völligen staatlichen Unabhängigkeit spielten, hielten die anderen noch an bescheideneren Vorstellungen wie der Erweiterung ihrer Sprachenrechte fest. Während bei den einen Nationen die kommunistische Partei mehrheitlich zu radikalen Reformzielen in der Wirtschaft und zur Akzeptanz eines Mehrparteiensystems übergingen, blieben bei den anderen die kommunistischen Parteiorgane Bollwerke der Systemkonservativen. Zur Ungleichzeitigkeit der Entwicklungen kam die wachsende Heterogenität der Zielsetzungen hinzu. So konnten zwar vielfältige Kontakte zwischen den nationalen Bewegungen zur wechselweisen Stärkung ihrer Bestrebungen und zur gemeinsamen Abwehr gegen das Moskauer Zentrum entstehen, aber keine Übereinstimmung in den gesellschafts- und unionspolitischen Zielsetzungen. Das Für und Wider dieser oder jener Perestrojka-Politik wurde immer mehr zu einem autistischen Machtspiel der Moskauer politischen und intellektuellen Eliten, das immer weniger Bedeutung für die tatsächlichen Umgestaltungsprozesse in den anderen Unionsrepubliken und in der Provinz Rußlands besaß.

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So gab es anscheinend niemals auch nur den Ansatz einer Allunionspolitik zur Rekonstruktion der Union nach den Vorstellungen der vereinten gemäßigten kommunistischen oder demokratischen Nationalisten aller Republiken und Völker. Zu keinem Zeitpunkt entstand irgendeine nennenswerte Initiative für eine nichtkommunistische Allunionspartei, weder für eine demokratische, noch für eine autoritäre. Die Idee einer "demokratischen, marktwirtschaftlichen Sowjetunion" und einer "sowjetischen zivilen Gesells c h a f t " ^ war eine Kaffeehausidee westlicher Liberaler mit unzureichenden Kenntnissen über die sowjetische Wirklichkeit, die allenfalls von ganz wenigen östlichen Intellektuellen geteilt wurde. Für jeden, der die Perestrojka scheitern sah, mußte klar werden, daß Demokratisierung der Sowjetunion identisch war mit Auflösung der Sowjetunion. Es gab keine andere Kraft als die orthodoxe kommunistische Partei, die die Völker und Republiken zusammenhalten konnte. Auch die Armee und der KGB hatten nur als kommunistische bewaffnete Organe eine Chance, gewaltsam die Staatseinheit aufrecht zu erhalten. Eine demokratische Unionsarmee und Unionspolizei waren völlig irreale Gedankenkonstrukte.

Das System des umgestalteten Sozialismus Es fällt schwer, von einem Perestrojka-System zu sprechen. Wenn man unter einem System ein über längere Zeit stabiles Gefüge von Institutionen und Verhaltensweisen versteht, dann hat es allenfalls in Ansätzen ein System des umgestalteten Sozialismus gegeben. Zum einen gab es niemals - selbst unter den Perestrojschtschiki nicht - ein konsensuales Konzept des umgestalteten Sozialismus für die Zukunft. Zum anderen konnten sich die bereits in der Umgestaltung befindlichen Strukturen des Sozialismus über keine längere Frist hin konsolidieren. Dennoch spricht einiges für einen Begriff des umgestalteten sozialistischen Systems, sowohl was die gesellschaftlichen Verhältnisse während einiger Monate und Jahre angeht, als auch was die Grundkomponenten einer Konzeption des umgestalteten Sozialismus für die erwartete Zukunft betrifft. Die geschichtliche Phase zwischen dem alten System der Planwirtschaft und der Einparteienherrschaft und der noch nicht näher bestimmbaren postkommunistischen Ordnung war kein Zustand des Chaos, sondern einer spezifischen Ordnung, die sich von der vorausgehenden wie von der nachfolgenden unterscheidet. Das nicht scharf umrissene System des umgestalteten Sozialismus erinnert in mancher Hinsicht an die konstitutionelle Monarchie. Auch diese war nicht das Resultat einer politischen Theorie, eines politischen Programms und einer staatsrechtlichen Konzeption, sondern ein historisch entstandener, ständig veränderter Kompromiß zwischen den Konzepten der Volkssouveränität und der Fürstensouveränität. Sucht man nach Konstanten und Grundkomponenten der Perestrojka als System, so läßt sich der "umgestaltete Sozialismus" am ehesten als "konstitutioneller Kommunismus" bezeichnen. Er fußte auf der kommunistischen Einparteienherrschaft, insofern die Perstrojka-Politik fast bis zum Ende am politischen

58 Das Fehlverständnis wurde oft schon dadurch bedingt, daß das Wort "sowjetisch" im westlichen Sprachgebrauch zu einem politisch-geographischen reduziert worden war; im russischen Sprachgebrauch konnte es seine rätekommunistische Bedeutung nie abstreifen. Für viele Nichtrussen blieb die Sowjetunion eine kommunistische Union und verlor ihre Legitimität mit dem Verlust der kommunistischen Macht. Die von Gorbacev spät und danach nochmals von Nursultan A. Nazaibaev propagierte europäisch-asiatische "Union souveräner Republiken" (SSR) fand nie Resonanz unter den Nichtkommunisten der meisten nichtrussischen Völker. Nur die kleineren Völker, die nationalen Minderheiten und die Personen ohne eindeutiges ethnisches Nationalbewußtsein, die den staatstragenden Nationalismus der Unionsrepubliken fürchten mußten, konnten neben vielen Russen ein wirkliches Interesse an einer solchen nichtkommunistischen Union haben.

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Machtmonopol der Kommunistischen Partei, auch wenn es eingeschränkt wurde, festhielt. Das Ende dieser Herrschaft deutete sich erst an, als das Führungsmonopol der Partei aus der Verfassung gestrichen wurde. In der Sowjetunion geschah das nach einem entsprechenden ZK-Beschluß im Februar durch eine Verfassungsänderung des Volksdeputiertenkongresses im März 1991. Da aber das Herrschaftsmonopol der Partei im größten Teil der Sowjetgeschichte gar keiner verfassungsrechtlichen Verankerung bedurfte, konnten Teile der Partei diesen Akt als gar nicht so gravierend empfinden, da man ihn auch als einen bloß propagandistischen Rückzug verstehen konnte. Das tatsächliche Herrschaftsmonopol begann erst angetastet zu werden, als massiv die "Entpolitisierung" bzw. die "Entparteilichung" (departizacija) der Staatsorgane, insbesondere der Armee und der Polizei, in Angriff genommen wurde. Dies geschah in Rußland erst ab Ende 1990,59 j n einigen Republiken etwas früher. Kurze Zeit danach bot der gescheiterte August-Putsch die Gelegenheit, die bereits weitgehend entmachtete und politisch-moralisch gelähmte Partei 6 0 zu verbieten. Gegenüber dem alten partokratischen System der Breznev-Ära, aber auch gegenüber den Herrschaftsreorganisationen der Chruscev-Ära grenzte sich der Perestrojka-Kommunismus durch eine eingeschränkte Machtstellung ab. Genaugenommen ging es nicht mehr um ein totales Machtmonopol, sondern nur noch um ein Partei- und Regierungsmonopol, das einer pluralistischen öffentlichen Meinung ausgesetzt, also insofern im parteiinternen Willensbildungsprozeß nicht mehr so unabhängig war wie früher. Konstitutionelle kommunistische Einparteienherrschaft ließ konkurrierende Kandidaten zu einem Partei- oder Staatsamt zu, aber nicht mit konkurrierenden politischen Programmen. Auch politische "Plattformen" waren noch systemimmanent möglich. Mit der Bildung von organisierten Fraktionen, die bei einem Verbot des Mehrparteiensystems leicht zu einem faktischen sozialistischen Mehrparteiensystem geführt hätten, war offenbar fast die Grenze des Systems der Einparteienherrschaft erreicht. In der Tat ist schließlich auch in den politischen Erwägungen innerhalb des Beraterkreises von Gorbacev der Gedanke eines sozialistischen Mehrparteiensystems aufgetaucht, das bereits zu früheren Zeiten in den Schriften vieler sozialistischer Theoretiker thematisiert worden war. In seiner idealistischen Gestalt ruhte der Gedanke auf der Annahme, die große Mehrheit der Bevölkerung habe das sozialistische, planwirtschaftliche System grundsätzlich akzeptiert. Danach hätte man in freien Wahlen z.B. mindestens eine orthodoxe kommunistische Partei und eine Perestrojka-Partei konkurrieren lassen können 6 1 - im Vertrauen darauf, daß nur verschwindende Minderheiten liberal-demokratische oder andere kapitalistische Parteien wählen würden, so wie in stabilen westlichen Demokratien nur Minderheiten sich für monarchistische oder

59 Siehe im einzelnen Jösza, Gyula: Das Rückgrat des politbürokratischen Systems: Der Parteiappatat - funktionsgestört, aber nicht gebrochen, in: Bundesinstitut für ostwissenschaftliche und internationale Studien (Hrsg.): Sowjetunion 1990/91. Krise, Zerfall, Neuorientierung, München 1991, S. 54f. 60 Weder formell noch faktisch putschte die KPdSU, sondern die kommunistischen Chefs der wichtigsten Staatsorgane gegen den kommunistischen Staatspräsidenten. Sie wollten auch nicht die Perestrojka rückgängig machen, sondern nur einschränken. (Vgl. die Ankündigungen der Putschisten in: Rüge, Gerd: Der Putsch. Vier Tage, die die Welt veränderten, Frankfurt a.M. 1991, S. 48-50). Das Ziel der Putschisten war vor allem die Erhaltung der Staatseinheit. Wären sie erfolgreich gewesen und hätten sie dann gar Gorbacev zur weiteren Wahrnehmung der Funktion des Staatspräsidenten überreden können, dann hätten sie vermutlich eine gemäßigte Perestrojka-Politik durchgeführt. Eine Restauration des Eilten ökonomischen Systems und des Herrschaftsmonopols der Partei wäre recht unwahrscheinlich gewesen. 61 Auf diese theoretische Erwägung angesprochen, erklärte V. V. Zagladin im September 1995, daß Gorbacev und sein engster Beraterkreis diese Option bereits recht ftüh verwirklichen wollten, aber am Widerstand der regionalen Ersten Parteisekretäre gescheitert seien; auch der Kaderaustausch und die Verjüngung des Sekretärskorps habe keinen Einstellungswandel in diesem wichtigen Kreis der weiteren Parteiführung zum Einparteiensystem hervorgebracht.

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diktatorische Parteien engagieren. In einer realistischeren Variante konnte ein sozialistisches Zwei- oder Mehrparteiensystem auch in der Weise gedacht werden, daß Parteien, die die kapitalistische Marktwirtschaft und die liberale Demokratie einführen wollten, als verfassungsfeindlich verboten bleiben sollten. In ökonomischer Hinsicht war eine Konstante der Perestrojka die Vorherrschaft des volkswirtschaftlichen Gesamtplans und der entsprechenden Planbehörden und Ministerien. Trotz aller Betonung marktwirtschaftlicher Reformen blieb die Beschränkung der Reformen, auch ideologisch offen als "sozialistische Marktwirtschaft" deklariert, am Schluß nur noch verschämt als "regulierte Marktwirtschaft". Der Ideologie entsprach die Praxis, auch noch im November 1989 einen Volkswirtschaftsplan für 1990 zu verabschieden und noch im Dezember 1989 einen Fünfjahresplan für die Jahre 1991-1996 zu beraten. Erst im Herbst 1990 wurde die Behörde Gosplan aufgelöst.^ 2 In ökonomischer Hinsicht ist das Ende des PerestrojkaSystems eindeutiger als der Beginn. Hier sind die ökonomischen Fachleute gefordert, eine genauere Bestimmung zwischen alten, an der Marktwirtschaft orientierten Reorganisationen der Planwirtschaft und den spezifisch neuen Komponenten der marktwirtschaftlichen Reformen in der Perestrojka-Ära zu unterscheiden. Möglicherweise besteht hier jedoch gar keine faßbare Grenzüberschreitung in der Entwicklung des Planwirtschaftssystems. Einen solchen ökonomischen Systemunterschied zwischen der orthodoxen Planwirtschaft und einem marktwirtschaftlichen Perestrojka-Sozialismus braucht man auch nicht zu suchen, wenn man das kommunistische System vor allem als ein politisches, partokratisches System begreift. Ein Vergleich mit der jüngeren chinesischen Geschichte dürfte näheren Aufschluß darüber geben, wie variabel die "ökonomische Basis" unter einem "politischen Überbau" der kommunistischen Einparteienherrschaft63 tatsächlich ist. Trotz allen fließenden Charakters der Strukturen und der Schwierigkeiten einer theoretisch einvernehmlichen Bestimmung und empirisch eindeutig verortbaren politischen und sozioökonomischen Übergänge von der "uskorenie" im alten System zum Perestrojka-Sozialismus und von diesem dann zum (ebenfalls noch nicht klar begreifbaren, weil real noch nicht ausgeformten) postkommunistischen politischen und sozioökonomischen System scheint es doch vertretbar, von einem eigenständigen System des "umgestalteten Sozialismus" bzw. des "konstitutionellen Kommunismus ^ zu sprechen.

62 Die entsprechenden Hinweise verdanke ich Bernd Knabe vom BlOst. 63 Einige Autoren, die das politische Herrschaftssystem für das entscheidende Kennzeichen für das sozialistische Phänomen in der neueren Geschichte halten, kehren die marxistische Denkweise um und sprechen von der "politischen (oder auch von der ideologischen) Basis", auf der die Ökonomie und die Gesellschaft gründe, siehe z B "Z" (Malia, Anm. 11), S. 298, 300. 64 Der Name "umgestalteter Sozialismus" hebt mehr auf die sozioökonomische Ordnung ab, während der Name "konstitutioneller Kommunismus" mehr auf die politisch-rechtliche Ordnung verweist.

Joäo Arsénio Nunes (Lissabon)

Genosse "René" und die kommunistische Jugend in Portugal zu Beginn der dreißiger Jahre Die Geschichte des portugiesischen Kommunismus, wie im übrigen die der Arbeiterbewegung dieses Landes, weist wenige internationale Beziehungen auf. Obwohl Jules Humbert-Droz, einer der KI- Vertreter in Portugal während der 1. Republik, in den ersten Jahren der Existenz der kommunistischen Partei eine entscheidende Rolle spielte und sogar als "der wahre Gründer der Portugiesischen Kommunistischen Partei" 1 (PKP) angesehen wurde, war die kommunistische Partei später lange von der Komintern isoliert. Auch die Anzahl der portugiesischen Schüler, die die Internationale Lenin-Schule besuchten, war gering, und nur zwischen 1934 und 1938 gab es portugiesische Repräsentanten im Exekutiv-Komitee der Kommunistischen Internationale (EKKI) und im Exekutiv-Kommitee der Profintern. Diese relative Isolierung erklärt unter anderem, daß trotz der 1936 und 1938 bezüglich der PKP unternommenen Disziplinarmaßnahmen keine Portugiesen unter den Opfern des Terrors in der Komintern waren. Dennoch gibt es eine wenig bekannte Episode der Beteiligung von Ausländern an der kommunistischen Tätigkeit in Portugal in einem entscheidenden Abschnitt der Geschichte der PKP. In diesem Artikel soll einiges von der Geschichte des Ehepaars Bernard und Wilma Freund, die zwischen 1929 und 1932 in Portugal lebten, berichtet werden. In Wien 1907 als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren, verbrachte Bernard Freund seine Kindheit in Pilsen und besuchte bis 1926 die Handelsakademie in Karlsbad. 2 In diesem Zeitraum war er vorübergehend Mitglied einer zionistischen Organisation. Obwohl er die Abschlußprüfung für eine Zulassung zum Studium der Rechtswissenschaften absolviert hatte, nahm er sein Universitätsstudium nicht auf. Er begann sein Berufsleben als Büroangestellter, zunächst in Bordeaux (1926/27, anfangs als Korrespondent in einer Konservenfabrik, später in einer Likörfabrik). 1927 arbeitete er als Vertreter seines Vaters in Berlin in der Käsebranche. Im folgenden Jahr zog er nach Prag, wo er etwa anderthalb Jahre in einer Transportfirma als Bürokraft arbeitete. Für einige Zeit war er katholisch orientiert, in Prag jedoch begann er den Marxismus zu studieren und trat in den Kommunistischen Jugendverband der Tschechoslowakei ein. Wenig später jedoch, "da er Möglichkeiten hat, Informationen über die Firma Skoda zu erhalten"^, beendete er seine sichtbare Teilnahme an der kommunistischen Tätigkeit, bleibt jedoch mit einem Mitglied des ZK der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei in direkter Verbindung. Später wird diese Situation, zu Recht oder nicht, als Zeichen für "Probleme" mit der Partei gedeutet. 4 In dieser Zeit lernte er in Karlsbad durch Vermittlung seines Vaters den Geschäftsführer einer portugiesischen Konservenfabrik ("Algarve Exportador") kennen, der ihm anbot, als Fremdsprachen-Korrespondent in Lissabon zu arbeiten. Was ihn dazu bewog, die Stelle anzunehmen und in ein Land zu gehen, in

1 Brief des Zentralkomitees der PKP an Jules Humbert-Droz vom 30.10.1924: Russisches Zentrum für die Aufbewahrung und das Studium von Dokumenten der neuesten Geschichte (im folgenden: RZ), f. 495, op. 179, d. 21. 2 Autobiographie von Bernard Freund, Pseudonym Herbert Klein: RZ, f. 495, op. 253, d. 42; Bemard Freund, Verhör vom 23.2.1932: Arquivo Nacional da Torre do Tombo (Lissabon), arquivo da ex-PIDE/DGS (im folgenden: AP), Pr° n° 225/SPS. 3 Internationale Kontroll-Kommission (im folgenden IKK) des EKKI, Sitzung vom 10.6.1933, in: RZ, f. 495, op. 4, d. 250. 4 Dieser Überzeugung war ein Mitglied der kommunistischen Jugend Portugals und der PKP (dessen Name unerwähnt bleiben muß), das Bemard Freund kannte und Mitte der 30er Jahre in der Sowjetunion lebte. Aussage vom 4.1.1996.

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dem zu der Zeit die KP gänzlich unbedeutend war, bleibt undurchsichtig. Bernard Freund kam jedenfalls im Juli 1929 in Lissabon an. Bis dahin hatte er keine Verbindungen mit portugiesischen Kommunisten. Auf seine Initiative hin gelang es ihm, über einen anarchistischen Matrosen Kontakt mit der Gewerkschaft des Marine-Arsenals aufzunehmen, deren Führer damals auch den "Wiederaufbau" der PKP anregten. 5

Portugal 1930 Unter der Diktatur seit 1926 durchläuft Portugal an der Wende des Jahrzehnts eine Phase des Übergangs von einer Militärmacht zur Gründung eines Staates faschistischen Typs, der sich erst ab 1933 konsolidiert (nach der Ernennung Salazars zum Regierungschef und mit der Einführung der neuen Verfassung und des korporativen Regimes). Es sind Jahre heftiger politischer und sozialer Unruhen, die sowohl durch die Folgen der Weltwirtschaftkrise bedingt sind als auch durch die Instabilität der Situation zwischen brutaler Unterdrückung und fortbestehenden politischen Freiräumen. Zwischen Ende 1929 und Mitte 1930 wird der Plan des korporativen Staates festgelegt und die Einheitspartei "Uniäo Nacional" eingeführt, während Salazar die Führungsrolle in der Regierung übernimmt. Es ensteht und entwickelt sich eine faschistische Bewegung ("nacional-sindicalismo"). Der Widerstand blieb jedoch bestehen, sowohl seitens der Arbeiterbewegung anarchosyndikalistischer Tradition - die sich in einer Krise befand, in der Nachkriegszeit allerdings eine zentrale Rolle im sozialen Kampf spielt^ - als auch seitens der bürgerlich-demokratischen, republikanischen politischen Kräfte, die von der Macht verdrängt worden sind. Sie rechnen weiterhin mit einiger Unterstützung durch Heer und Proletariat und im allgemeinen durch den städtischen Plebs, stets bereit, die Diktatur oder die Wiederherstellung der Monarchie zu bekämpfen. So sind die Jahre 1930 und 1931 von der Stimmung der politischen und sozialen Revolte gefärbt, die ihren Ausdruck unter anderem im Militäraufstand auf der Insel Madeira (wenig später auf die Azoren und Guiñé ausgeweitet) findet, in Studentenstreiks und Demonstrationen zum 1. Mai in den beiden größten Städten des Landes, die mehrere Todesopfer fordern, später dann in einem erneuten Militäraufstand am 26. August 1931. Die politische Krise in Spanien, vor allem seit der Ausrufung der Republik im April desselben Jahres, trägt ebenfalls entscheidend zur Radikalisierung der Opposition gegen die portugiesische Diktatur bei 7 In diesem Klima wird seit Anfang 1929 der "Wiederaufbau" der PKP vorgenommen, im Grunde eine Neugründung, deren integrierender und besonderer Bestandteil die Bildung des Kommunistischen Jugendverbandes ("Federagäo da Juventude Comunista Portuguesa") ist. Seit November desselben Jahres ist Bernard Freund, der mit der von Bento Goncalves geleiteten neuen Führungsgruppe der PKP in Kontakt steht, einer der Initiatoren der Organisation des KJVP. Es bilden sich einige lokale Zellen, die sich vor allem aus

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Im Brief vom 23.9.1929 an die Internationale Rote Hilfe, bittet "Gustavo Duräo" (i.e. Abflio Lima), damaliger Hauptverantwortlicher für die portugiesische Sektion der IRH und Mitglied des "Vorläufigen Ausschusses", die Führung der PKP, Informationen von der KP der Tschechoslowakei über Bernard Freund zu beschaffen und weiterzuleiten: "Il n'a pas de crédences ou quelque document d'identification. Avec toute la prudence nous l'avons accepté comme camarade, mais, vous comprenez bien, n'est-ce pas, il nous faut savoir, avec assurance, leur (sic) personnalité." (RZ, f. 539, op. 3, d. 1011). 6 Merten, Peter: Anarchismus und Arbeiterkampf in Portugal, Hamburg 1981. 7 Rosas, Fernando: O Estado Novo (1926-1974), (= Bd. 7 der von José Mattoso herausgegebenen Historia de Portugal, Lisboa 1994, S. 206-235.

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Studenten und Arbeitern zusammensetzen, und im April 1930 wird zum ersten Mal Presseorgan der KJVP " 0 Jovem" mit der sehr geringen Auflage von 250 Exemplaren herausgegeben.

"René" und der KJVP Gleich zu Beginn nimmt Bernard Freund, jetzt "Genosse René" genannt, eine herausragende Stellung innerhalb der Gründergruppe des KJVP ein. Im Winter 1930 wird ein Sekretariat des Verbandes eingerichtet, das sich aus vier Personen zusammensetzt, zu denen auch "René" gehört, der im Juni der Vertreter der Jugendorganisation im Parteisekretariat und als solcher auch dessen Mitglied wird. 8 Diese Führungsposition ist auf seine kulturelle Bildung zurückzuführen, die seine Freunde aus dieser Zeit bezeugen (er war schon damals ein Polyglotte, der neben seiner Muttersprache Tschechisch die deutsche Sprache beherrschte, Französisch und Englisch sprach und auch Portugiesisch schnell lernte), aber natürlich auch auf das Ansehen, das ihm seine, wenn auch nur vage bekannte, internationale Erfahrung einbrachte.^ Viele betrachteten ihn als "Beauftragten der Internationale".!® Jemand, der von Anfang an mit ihm innerhalb des Sekretariats der KJVP verkehrte und zusammenarbeitete, beschreibt ihn als "sehr effektiv, sehr aktiv, sehr lebendig, zur Arbeit anspornend... und jemand, der manchmal murrte"; oder als "eigenwilliger Typ, systematisch, ausdauernd, intelligent, sehr arbeitsam, jemand, der andere mitriß". 11 Trotz des langen Arbeitstages als Auslandskorrespondent der Konservenfirma übernimmt René mehrere vom Sekretariat der KJVP bestimmmte Aufgaben und nimmt hin und wieder an den Versammlungen des Regionalen Komitees und sogar der Zellen teil. 12 Außerdem erledigt er regelmäßig die Korrespondenz auf Deutsch und Französisch der KJVP an die Kommunistische Jugend-Internationale (KJI). Seit einer der ersten Versammlungen des KJV-Sekretariats übernimmt René die Verantwortung für den Presseausschuß und damit für die Veröffentlichung der Monatsschrift "O Jovem", das Presseorgan der KJVP. Tatsächlich war er derjenige, der im ersten Jahr die meisten Artikel verfaßte, sie mit der Schreibmaschine auf Matrize schrieb und noch beim Drucken mit einem Handkopierer h a l f . D i e ersten Ausgaben des "O Jovem" (von denen uns die ersten acht, zwischen April und November 1930 veröffentlichten Nummern bekannt sind) dienten in erster Linie als Propagandainstrument der Kommunistischen Internationale und Nachrichtenzeitung der internationalen kommunistischen Bewegung, in der den portugiesischen Ereignissen relativ wenig Platz gelassen wird. 1 4 Das Blatt veröffentlicht die wichtigsten Dokumente der KJI oder auch der RGI, (anläßlich ihres V. Kongresses), bekämpft "die schlimmsten Feinde der Arbeiterklasse, die Sozialfaschisten", und appelliert an die "Einheitsfront gegen die Sozialisten und Anarchisten". Ausführlich behandelt werden die Wahlen in Deutschland und das "Programm zur sozialen und nationalen Befreiung" der KPD, ferner wird angeregt, in Portugal eine an die Sportintern angeschlossene Sportorganisation zu gründen, und der Fünfjahresplan und die Gewerkschaftstätigkeit in Rußland propagiert. Nachrichten über Portugal erscheinen nur selten, von den wichtigsten Ereignissen wird jedoch berichtet, wie zum Beispiel von der Gründung einer Regierungspartei im Zusammenhang mit dem Problem

8 Vgl. Protokolle der Versammlungen des Sekretariats der KVJP und des Sekretariats der PKP, in: RZ, f. 533, op. 10, d. 2387, d. 2389; AP, 225/SPS. 9 Nach Aussagen von Manuel Rodrigues de Oliveira vom 6.2.1981 und von Fernando Quirino vom 11.1.1996. 10 Vgl. Anm. 4. 11 Aussage von Fernando Quirino, vgl. Anm. 9. 12 AP, 225/SPS; Aussage von Manuel Rodrigues de Oliveira, vgl. Anm. 9. 13 Aussage von Fernando Quirino, vgl. Anm. 9. 14 RZ, f. 533, op. 10, d. 2388.

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des Faschismus, von der großen Demonstration am 3./4. Oktober 1930, der darauf folgenden verstärkten Unterdrückung und selbstverständlich vom Anwachsen des KJVP ("Wettbewerbsvertrag"). Im Februar 1930 gibt es nach Aussagen Renés nur zwei Jugendzellen mit insgesamt zwischen 12 und 15 Mitgliedern. Die Zahlen steigen jedoch aufgrund eines großen Voluntarismus und intensiver Agitation relativ schnell an. Am Ende des Jahres sind 90 Aktivisten (60 Mitglieder und 30 organisierte Sympathisanten) in Lissabon zu verzeichnen und einige Organisationskeime im Süden des Landes. ^ Es zeigt sich, daß die kleine Organisation bereits fähig ist, sich in einige Ereignisse einzumischen. Dies ist zum Beispiel der Fall bei einem wichtigen Streik der Arbeiter des Bäckereigewerbes im August, bei der pro-republikanischen Demonstration am 3./4. Oktober oder einem Studentenstreik im Dezember. Die Demonstration in der Nacht des 3. Oktober, die in den Memoiren dieser Zeit 1 6 erwähnt wird, erscheint auch in Renés Bericht an die KJI sowie im "O Jovem".' 7 Eine Gruppe von Jungkommunisten nimmt die traditionelle Volksdemonstration zum Gedenken an die revolutionäre Errichtung der Republik, die zu der Zeit den Charakter eines antidiktatorischen Protests annahm, zum Anlaß, eine rote Fahne zu erheben, die Internationale anzustimmen und die UdSSR, die PKP und die Kommunistische Internationale hochleben zu lassen. Dabei findet sie großen Zuspruch. Hier besteht ein Zusammenhang zwischen der kommunistischen Agitation und der Opposition zur Diktatur, trotz der Losung "Klasse gegen Klasse": "Die Ausweitung des Einflusses und der Organisation der kommunistischen Partei ist [in dieser Zeit] Teil eines weiteren und ideologisch heterogenen Prozesses [...], in dem der Kommunismus und das Bild von der UdSSR als extreme und besonders konsequente, aber letztlich ergänzende Haltung im Rahmen des Hasses auf die Diktatur entstehen." 1 8 Der Bericht Renés über den Streik von Studenten einer Handelsschule bestätigt dies, in dem er von einer "gewissen Radikalisierung" spricht, in der sich "tiefer Haß gegen die Diktatur Carmonas 1 ^, radikaler Republikanismus, Sympathie für die UdSSR und die Arbeiterbewegung, Interesse für den Marxismus-Leninismus, etc." vereinigen.^

Auf Hochzeitsreise in Paris Wilma Abramowitsch Klein lebte 1930 in Lissabon und hatte zu Bernard Freund Kontakt. Nach Aussagen eines KJVP-Mitglieds, mit dem Bernard Freund befreundet war, "schienen sie sich schon lange zu kennen". 2 1 Wilma Klein, 1901 in Kosice (Slowakei) geboren, hatte in Ungarn gelebt und war zur Zeit der ungarischen Räterepublik Mitglied der Kommunistischen Partei Ungarns gewesen. Später emigrierte sie nach 15 "Premier Rapport (Sur le commencement de notre travail et notre activité en 1930)" (= Bericht an das ZEK des KJI vom 2.1.1931), in: RZ, f. 533, op. 10, d. 2389. 16 Vgl. Rocha, Pedro: Escrito com Paixâo, Lisboa 1991, S. 16-17; dos Santos, Manuel: Doze anos nos cârceres fascistas (unveröffentlichtes Manuskript). 17 "Premier Rapport" (Anm. 15); "O Jovem", n° 8, Novembre de 1930, S. 2. 18 Nunes, Joäo Arsénio: "Sobre alguns aspectos da evolucâo polftica do Partido Comunista Português apôs a reorganizacâo de 1929", in: Anâlise Social, n° 67/69 (1981), S. 723. 19 Präsident der Republik von 1928 bis 1951. 20 "Rapport sur la grève dans l'école comerciale Ferreira Borges (Lisbonne)": Anlage zum Brief vom 20.12.1930, in: AP, 225/SPS. 21 Aussage Fernando Quirinos (vgl. Anm. 9). In seinem im November 1932 in Moskau verfassten biographischen Text schreibt "Herbert Klein" (i.e. Bernard Freund) jedoch , er habe Wilma Klein in Lissabon über die PKP kennengelernt (RZ, f. 495, op. 253, d. 42).

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Wien, wo sie zwischen 1925 und 1929 Mitglied der Sozialdemokratischen Partei war. Nachdem sie dann wieder in der Kommunistischen Partei Ungarns, in ihrem illegalen Parteiapparat in Wien gearbeitet hatte, ging sie 1929 nach Portugal. Im folgenden Jahr kehrte sie nach ihrer ersten Begegnung mit Bernard Freund nach Wien und zu ihrer Arbeit im ungarischen kommmunistischen Parteiapparat zurück. 2 2 Im März 1931 treffen sich Bernard Freund und Wilma Klein in Paris. Bernard Freund arrangiert hier gleichzeitig im Rahmen der Beziehungen des KJVP und der PKP mit der KJI und der KI einige Treffen. Wie er selbst in seinem autobiographischen Text schreibt, "wurde ich von der KPP und dem KJVP beauftragt, mit unseren Verbindungsleuten in Paris zu sprechen. Ich traf dort Roberto /für die KI/, Paul /auch Jules/ für die KIM, Herclet wegen Gewerkschaftsangelegenheiten der Partei mit der RGI, und meine Frau sprach mit Cassiot von der KPF wegen Frauenarbeit. Eines der in Paris besprochenen Themen ist die Entsendung portugiesischer le. Folglich reist im August der erste portugiesische Schüler der Lenin-Schule, ger Arbeiter des Marine-Arsenals, via Paris nach Moskau, wo er bis Ende 1932 tere Schüler in die Schule zu schicken, wird in dieser Phase wegen finanzieller gel an verfügbaren Kadern nicht v e r w i r k l i c h t . 2 4

Schüler in die Lenin-SchuFernando Quirino, ein junbleibt. Der Plan, zwei weiSchwierigkeiten und Man-

Auf diesen Treffen wird auch die materielle und politische Unterstützung des KJVP durch die KJI besprochen. Es wird beschlossen, einen "offenen Brief' an den KJVP zu schicken, in dem die KJI Kritik üben und die politische Orientierung vorgeben würde (was im November tatsächlich geschah). Weiterhin ist die Einrichtung einer kurzlebigen Schule für Aktivisten, der die KJI einen Instruktor und materielle Unterstützung schicken solle, der Versand von Veröffentlichungen, regelmäßige Subventionen und ein Zuschuß für den Erwerb einer Schreibmaschine und eines Vervielfältigungsgerätes (über die der KJVP damals noch nicht verfügte) vorgesehen. 2 ^ Die Entsendung von Schülern in die Lenin-Schule und die Ausbildung von Aktivisten im allgemeinen hat für Bernard Freund Vorrang. Bereits in einem der ersten Briefe an das Exekutiv-Komitee der KJI bittet er um Informationen über die Zulassungsbedingungen der Schule. 2 ^ Die schlechte geistige und ideologische Schulung der meisten Aktivisten 2 ^ ist ihm sehr wohl bewußt, weshalb er auch ständig um die Verschickung von Veröffentlichungen bittet und sich wiederholt darüber beschwert, daß diese nicht erfolgt. Bernard Freund und Wilma Klein müssen in Paris geheiratet haben. Im April kehren sie bereits verheiratet nach Portugal zurück, wo sie jetzt zusammenleben. Die zur Ballettlehrerin ausgebildete Wilma Freund (sie lernte beim berühmten Choreographen Laban) gibt in Lissabon zu Hause Privatstunden. Nach den Aussagen eines Kommunisten war sie "bei den Mädchen aus gutem Hause sehr beliebt". 2 8 Sie wird aktives Mitglied der PKP und die Verantwortliche für die Anfänge der kommunistischen Frauenorganisation. Eine derjenigen, die mit ihr zusammenarbeitete und Wilma Freund ihre politische Bildung verdankte, beschreibt sie als "eine hübsche, sehr schwungvolle, sehr disziplinierte Frau, die sich stark der Partei widmete". 2 9

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Sitzung der IKK des EKKI vom 10.6.1933; Autobiographie Bernard Freunds (Anm. 2). Autobiographie Bernard Freunds (Anm. 2). Brief Renés an Roberto vom 6.9.1931, in: RZ, f. 533, op. 10, d. 2389. Brief Renés ans ZEK der KJI vom 2.4.1931, in: RZ, f. 533, op. 10, d. 2389; Picard an Tschemodanow, ebd. Brief Renés ans ZEK der KJI vom 26.11.1930, in: AP, 225/SPS. "Das geistige Niveau der verschiedenen Leitungen ist noch ziemlich niedrig" (Brief Renés an die KJI vom 29. 10.1931), in: AP, 225/SPS. 28 Aussage von Pedro Rocha vom 3.3.1982. 29 In Anm. 4 zitierte Stellungnahme.

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Revolution innerhalb der Revolution? Der kurze Zeitraum zwischen der Rückkehr aus Paris im April 1931 und der Verhaftung Renés und Wilmas im Januar 1932 stellt eine differenzierte Phase in der Geschichte des KJVP dar. Wie bereits erwähnt, war 1931 ein Jahr intensiver politischer Agitation, in dem das Überleben der Diktatur ernsthaft bedroht war. Sowohl die Partei als auch die Jugendorganisation wuchsen zahlenmäßig und verstärkten ihre Propaganda-Arbeit erheblich, die sich nicht nur in der illegalen Veröffentlichung des "Avante!" (das damals Zentralorgan der PKP wurde und es bis heute geblieben ist), sondern auch in verschiedenen anderen von den lokalen Organisationen oder von Fabrikzellen herausgegebenen Zeitungen und jeder Art von Flugblättern widerspiegelt. In diesem Zusammenhang wird anhand der Protokolle der Sekretariatsversammlungen des KJVP und der PKP sowie seiner eigenhändig verfaßten Korrespondenz, der fast fieberhafte Eifer Renés deutlich. Sowohl in der Partei als auch in der Jugendorganisation ist er ständig zugegen und informiert über die Aktivitäten der verschiedenen Organe, und in einigen Fällen trifft er sich mit Abgeordneten der in der Provinz entstehenden Organisationen. Eine der wichtigsten Initiativen, für die er seitens des KJVP verantwortlich ist, stellt der Versuch dar, kommunistische Zellen im Heer und in der Marine aufzubauen.^ In ihnen ist der Keim von Organisationen zu sehen, die später eine gewisse Breite einnehmen, nämlich die "Organizacäo Revolutionária do Exército" (ORE) und die "Organizacäo Revolutionária da Armada" (ORA). Letztere erlangte großen Einfluß in der Marine und organisierte auch 1936 einen Matrosenaufstand aus Solidarität zur spanischen Republik. 31 Aus den Ereignissen, die die politische Krise von 1931 kennnzeichnen, sind der Aufstand auf Madeira, die Studentenstreiks (beide im April), der 1. Mai und der Militäraufstand am 26. August, an dem auch Zivilbevölkerung beteiligt war, hervorzuheben. Abgesehen von Madeira, ist die kommunistische Aktivität direkt oder indirekt an diese Ereignisse gebunden. Wir wissen nicht genau, ob es vor diesem Streik schon eine kommunistische Organisation in den Universitäten gab oder nicht - Gruppen der Roten Hilfe gab es wohl - doch im Verlauf der Ereignisse werden rote Fahnen gehißt und "subversive Schreie des 'Nieder mit der Diktatur' und 'Es lebe die soziale Revolution und das sowjetische Rußland'" g e r u f e n . D i e s e Agitation fördert jedenfalls zunehmend die Bemühungen um eine kommunistische Organisation, die schon früher angestrengt wurden. In der Tat bat René schon im Januar 1931 die KJI um Vorschläge und Erfahrungswerte für ein Projekt eines "Schüler- und StudenteneinheitsVerbandes", der auf legaler Grundlage und die verschiedenen Stufen und Arten des Unterrichts berücksichtigend gegründet werden sollte. Ende des Jahres mündet diese Initiative in die Gründung der "Grupos de Defesa Académica" (Gruppen Akademischer Verteidigung), die in den folgenden Jahren als Basis der antifaschistischen Bewegung unter den Studenten beträchtliche Bedeutung gewinnen. René berichtet in seiner Korrespondenz mit der KJI nicht nur über die Ereignisse 33 , sondern nimmt auch aktiv an den Diskussionen des Parteisekretariats teil, in denen diese Frage erörtert wird. 34 Das Ausmaß und die Wirkung der Demonstration vom 1. Mai 1931 in Lissabon, die gewalttätigen Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstranten und die Rolle, die die PKP dabei gespielt hat, sind be30 31 32 33 34

Arquivo Histörico-Militar (Lissabon): Q.G.L., 2a Rep., Caixa 3, N° 254; AP, 225/SPS. Vgl. Borda, Joäo: A Revolta dos Marinheiros, Lisboa, 1974. Diärio de Noticias, 29.4.1931. Brief vom 30.4.1931, in: AP, 225/SPS. Protokolle der Versammlungen des Sekretariats der PKP vom 2.11.1931 und 4.1.1932, in: AP, 225/SPS.

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kannt.35 Weniger bekannt, trotzdem nicht weniger interessant, ist der bewaffnete Aufstand vom 26. August desselben Jahres. Der Vorfall wurde im voraus im Sekretariat der PKP besprochen, wo die "Möglichkeit der Beteiligung einiger Mitglieder an der bürgerlichen Verschwörung" 36 untersucht wurde. Obwohl nach der Meinung des amtlichen Parteiführers ("Raul Marques", i.e. José de Sousa) Kommunisten sich nicht an dieser Verschwörung beteiligen sollten, äußern sich die anderen Mitglieder des Sekretariats nuancierter, und selbst René spricht von der "Existenz einer Gruppe, die behauptet, im Namen der RGI zu h a n d e l n " . T a t s ä c h l i c h waren viele Kommunisten mit der Bewegung verbunden, und etliche wurden am Vortag oder am Tag des Aufstandes festgenommen (unter ihnen ein Mitglied des Sekretariats der KPP) und anschließend deportiert. 3 ^ Ein Brief eines Mitgliedes des Exekutiven Zentralkomitees der Partei an das EKKI im Jahr 1932 verweist auf diese Ereignisse, bezeugt die Beteiligung einer großen Zahl von Kommunisten und weist sogar die Verantwortung für den Aufbruch der Bewegung einem Offizier mit "kommunistischer Gesinnung" zu. 3 ^ Wir wissen nicht, ob es sich um den selben Offizier handelt, der in einer Versammlung des Sekretariats erwähnt wurde, weil er "in die Partei eintreten" wollte.40 René gesteht jedoch in einem Polizeiverhör, nach dem Aufstand vom 26. August einen Offizier des Heeres im Gefängnis besucht zu h a b e n d

Über Faschismus und Krieg Gerade der mißlungene Aufstand vom 26. August 1931 stellt einen entscheidenden Moment in der Entwicklung der portugiesischen Diktatur in Richtung auf einen faschistischen Staat hin dar. Wenn noch Mitte 1931 das Zentralorgan der PKP, das politische Prinzip "Klasse gegen Klasse" konsequent anwendend, erklärte, "der Faschismus stellt für uns keine größere Gefahr dar als irgendeine andere, die vom Bürgertum ausgeht'"*^, nahm das Problem des Faschismus in der Propaganda und allgemein in den politischen Vorstellungen der PKP immer mehr Platz ein. Auch auf diesem Gebiet ist die Intervention Renés interessant. Anläßlich des offenen Briefes der KJI an den KJVP schreibt er einen Text, in dem gerade das Problem des

35 Vgl. Nunes (Anm. 18), S. 716-718. 36 Protokoll der Versammlung des Sekretariats der PKP vom 24.8.1931, in: AP, 225/SPS. 37 "Aurélio sagt, daß die Masse sich in der nächsten bürgerlichen Revolution in den Kampf stürzt. José Beiräo behauptet dasselbe. Es wäre angebracht, die Massen so zu organisieren, daß die Revolution in ihrem eigenen Interesse geführt wird. Es wird beschlossen, daß Raul Marques einen Bericht über die Organisierung der proletarischen Verteidigung anfertigt" (ebd.). 38 Brief Renés an Jules vom 6.9.1931, in: AP, 225/SPS; Nunes, a.a.O. (Anm. 18), S. 724-725. 39 "Parmi ces groupes révolutionnaire de la petite-bourgeoisie il y en a pourtant un plus gauchiste dont fait partie un sympathisant communiste, un officier qui jouit de beaucoup de sympathies et qui nous dit être dans la disposition de suivre entièrement nos indications et mots d'ordre au cours du mouvement 'révolutionnaire' en préparation. C'est lui qui le 26 août de l'année dernière fit éclore d'une façon inattendue et à l'improviste le mouvement référé, mouvement un peu différent de tous ceux qui le précédèrent par les conditions dans lesquelles il s'est développé, et parce qu'il a réussi à se maintenir pendant un grand nombre d'heures simplement par l'action combative des soldats et des ouvriers, parmi eux un grand nombre de nos camarades. De là, la nouvelle s'est répandue que c'était un mouvement à tendances communistes." ("Relatôrio do PCP", 5.3.1932) (Aus Versehen wurde 1931 geschrieben), in: RZ, f. 495, op. 179, d. 26. 40 Protokoll der Sekretariatsversammlung der PKP vom 9.11.1931, in: AP, 225/SPS. 41 Verhör Bernard Freunds, 8.3.1932, in: AP, 225/SPS. 42 "Avante! ", n° 5, Junho de 1931.

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Kampfes gegen die faschistische Diktatur in den Vordergrand gerückt wird. 4 3 Es wird eingestanden, daß der Kampf gegen die Diktatur bis dahin vernachlässigt und dem Bestreben, Fabrikzellen zu gründen, untergeordnet worden war. Es wird angestrebt, die Art der Agitation zu ändern, indem die Untersuchung aktueller politischer und wirtschaftlicher Fragen stärker berücksichtigt wird. In diesem Text wird ebenfalls Kritik an den "sektiererischen" Vorstellungen des KJVP als Eliteorganisation geübt und gleichzeitig eine weitere Öffnung der Organisationsformen und die Nutzung aller Möglichkeiten legaler Aktion verteidigt. Mit dieser politischen Wendung hat sicherlich das von der kommunistischen Jugend auszuführende Projekt einer "Zeitung anti-faschistischer Propaganda" zu tun, das René in der Versammlung des Sekretariats der Partei vorlegt. 4 4 Ein weiterer interessanter Aspekt der politischen Intervention des jungen Bernard Freund ist die Aufmerksamkeit, die er Problemen der internationalen Politik schenkt. Der "Jovem" veröffentlichte, wie wir gesehen haben, viele internationale Nachrichten, die Freund möglicherweise selbst schrieb. In den Protokollen der Versammlungen des Sekretariats der PKP stammen die seltenen Beiträge über Probleme der internationalen Politik von ihm, und als der KJVP die Nachfrage nach Artikeln für die französische Ausgabe des Inprekorrs, Correspondance Internationale, erhielt, "beschloss das Sekretariat, daß der Genosse René den ersten schreibt". 4 ^ Unter den von der Polizei in Verwahrung genommenen Materialien finden wir einen französischen, von ihm unterschriebenen Artikel mit der Überschrift "Préparatifs de guerre au Portugal", datiert vom 8. Februar 1931, der höchstwahrscheinlich in der Correspondance Internationale veröffentlicht werden sollte (was übrigens nicht geschah). Anläßlich des Besuches eines englischen Geschwaders in Portugal wird hier im Rahmen der damals zentralen Themen der Doktrin und Propaganda der Komintern die unmittelbare Gefahr eines Weltkrieges analysiert und der Besuch als Vorbereitung des Bündnisses Portugals mit England im kommenden Krieg angesehen. 4 ®

Auslandskorrespondent In der bereits beschriebenen Krisenstimmung des Jahres 1931 wächst die kommunistische Organisation erheblich an und erreicht vor der großen Repressionswelle etwa 700 Mitglieder 4 7 (man vergleiche die Zahl mit den vierzehn Teilnehmern der Aktivisten-Konferenz vom April 1929). Auch der Jugendverband vergrößert sich entsprechend. 4 8 Ende 1931 soll es 23 Zellen in Lissabon gegeben haben, abgesehen von den Gruppen der Marine und des Heeres sowie etwa ein Dutzend Verbindungen im übrigen Land. 4 ^ René wird 43 "Analyse des Instruktionsschreibens der KJI an das Sekretariat des KJVP Portugals", in: RZ, f. 533, op. 10, d. 2391. 44 Protokoll der Versammlung des Sekretariats der PKP vom 28.12.1931, in: AP, 225/SPS. 45 Protokoll der Versammlung des Sekretariats des KJVP vom 13.12.1931, in: AP, 225/SPS. 46 Ein Jahr später, im Januar 1932, verteilte der KJVP anläßlich des Aufenthaltes von Schiffen der britischen Marine in Lissabon ein in englischer Sprache verfasstes Manifest an die Matrosen. Diese Aktion erregte großes Aufsehen und veranlasste einen Protest des britischen Admirals bei der portugiesischen Regierung; siehe Rocha, Escrito (Anm. 16), S. 21. Auch diese Initiative wurde von Bernard Freund in die Wege geleitet; siehe Protokoll der Versammlung des Sekretariats der PKP vom 11.1.1932, in: AP, 225/SPS; Text des Manifests in: Public Record Office (London), FO 371/16492. 47 Aussage von Manuel Alpedrinha vom 3.11.1980. Manuel Alpedrinha war 1931 Mitglied des Sekretariats der PKP. 48 Brief Renés an Jules vom 19.8.1931, in: AP, 225/SPS 49 Protokoll der Versammlung des Sekretariats der PKP vom21.12.1931; O Jovem Militante, n° 2, 30 de Setembro de 1931.

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nun sehr geschäftig, er selbst schreibt in einem Brief an die KJI, daß er, um den großen Mangel an Mitteln und Personal auszugleichen, "überall dabei sein muß". 5 0 Neben seiner Tätigkeit in den Sekretariaten der Partei und des KJVP und der Kontrolle des Militärorgans beaufsichtigt er die Arbeit des Regionalen Komitees in Lissabon, erarbeitet ein Gewerkschaftsprogramm und die Forderungen der Handelsangestellten, kümmert sich um die Gründung von Sportvereinen, die der Sportintern angeschlossen werden sollen, tritt mit Intellektuellen in Kontakt (im Zusammenhang mit der wenig später folgenden Gründung einer "Gruppe sympathisierender Intellektueller" und des Projektes eines "Gremiums intellektueller Arbeiter") etc. Außerdem bleibt er weiterhin verantwortlich für den Presseausschuß und damit für die Veröffentlichung des "O Jovem" (der jetzt auf verschiedene Mitarbeiter zählt und oft Korrespondenz aus den Betrieben veröffentlicht) und schreibt regelmäßig die Briefe des KJVP an die KJI. Außer den vielen konkreten, bereits erwähnten Fragen tauchen zwei Themen regelmäßig in der Korrespondenz auf: die schwache Unterstützung des KJVP durch die KJI (und auch der PKP durch die KI) und die nicht unproblematische Beziehung zwischen Jugendorganisation und Partei. Der erste Brief, mit dem Verbindungen zur KJI in Berlin aufgenommen werden sollen, drückt die Hoffnung aus, der KJVP werde aus Berlin effektivere Unterstützung erhalten als die PKP bisher aus Paris. Bis Mitte 1931 wird jedoch fast die gesamte Korrespondenz des KJVP nach Paris (an "Jules") adressiert. Nachdem Bernard Freund aus Frankreich zurückgekehrt ist, beschwert er sich eindringlich darüber, daß die vereinbarte Hilfe fehlt. Was die Subventionen angeht, ist nur bekannt, daß Ende 1931 oder im Januar 1932 einhundert Dollar empfangen w u r d e n . I n einem Brief, in dem René die mangelnde Initiative der PKP und des KJVP bezüglich des Internationalen Kampftages gegen den Krieg (1. August) rechtfertigt, schreibt er: "il [PKP] souffre le meme mal que nous, abandon complet jusqu'à présent de la part de l'IC depuis deux ans environ."52 Anfang August bestand René beim West-Europäischen Büro der KJI auf wirksamere Verbindungen ("depuis son existence elle n'a reçu de vous que des circulaires"), Ende Oktober schreibt er jedoch wieder, daß die Schwäche des KJVP darauf zurückzuführen sei, daß sie keinerlei moralische oder materielle Unterstützung von der KJI erhalte, was auch auf die Beziehung zwischen PKP und KI z u t r a f . I m übrigen empört sich René schon in einem Brief an "Jules" im September über die Tatsache, daß die KJI und die KI "völlig über uns hinweggehen": "De partout rien que des 'promesses' et des 'circulaires' et avec ca nous devons préparer la RÉVOLUTION PROLÉTARIENNE!!!". 5 4 Ein Versuch, die "direkte Verbindung mit drüben" (Moskau) herzustellen, scheint gescheitert zu sein. 5 5 Daraufhin beschließt das Sekretariat der Partei, einen Vertreter (José de Sousa) nach "Madrid, Paris und möglicherweise nach Berlin" 5 ^ zu schicken, die folgenden Ereignisse in Portugal (die Verhaftungswelle und die folgende Krise der Partei) erlaubten allerdings nicht, diese Absicht zu verwirklichen. Auch über die Beziehung zwischen dem KJVP und der Partei finden wir interessante Hinweise in der Korrespondenz sowie in den Protokollen. Auf einer der ersten Versammlungen des Sekretariats des KJVP berichtet Bernard Freund, in Bezug auf die Organisation im Marine-Arsenal (damals das Bollwerk der PKP), "vom Zustand dieser Zelle, die unter dem opportunistischen Einfluß der Parteizelle steht, die in der50 51 52 53 54 55 56

Brief vom 29.10.1931, in: AP, 225/ SPS. EK der KJI "An Portugal", 8.1.32, in: AP, 225/SPS. René an Jules, 31.7.1931, in: AP 225/SPS. René an "Liebe Freunde", 29.10.1931, in: AP, 225/SPS. René an Jules, 28.9.1931, in: AP, 225/SPS. KJVP an die Leitung der Jugendinternationale Berlin, 28.9.1931, in: AP, 225/SPS. Protokoll des Sekretariats der PKP vom 11.1.1932; siehe auch René an "Liebe Freunde", 3.11.1931, in: RZ, f. 533, op. 10, d. 2389.

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selben Fabrik existiert". 5 7 Die Parteizelle wird auch von René kritisiert und des Opportunismus angeklagt, da sie im Oktober 1930 nicht auf die Verhaftung und Deportation des Generalsekretärs der Partei, Bento Goncalves, der selbst dem Arsenal angehörte, reagiert h a t t e t 8 In einer kritischen Betrachtung der vom KJVP und von der PKP organisierten Demonstration anläßlich des "Kampftages gegen die Arbeitslosigkeit" wird "vor allem eine Tendenz nach rechts aus den Reihen der Partei, die unserer Jugend mitgeteilt wird", beobachtet und angemerkt, daß dieses ebenso bei der republikanischen Demonstration vom 3. Oktober passierte. 5 ^ In einem Brief vom August an die KJI beschreibt René die Beziehungen zwischen dem KJVP und der PKP als "sehr schlecht" und erklärt, "die Partei mißt uns viel weniger Bedeutung bei als sie sollte, und anstatt uns zu helfen, tut sie häufig das Gegenteil".^® Da er die Hauptschuld für die Unzulänglichkeit der Arbeit der portugiesischen Kommunisten der KI zuweist, "die sich seit mehr als zwei Jahren den Pfifferling um Portugal gekümmert hat", wiederholt er, daß "unser Verhätnis zu ihr nicht das richtige ist, manchmal zu Rivalität führt, und man von einer wirklichen Leitung in den verschiedenen Instanzen seitens der Partei überhaupt nicht sprechen kann".61 Auch in den Protokollen der Versammlungen des Sekretariats der Partei finden wir Konfliktsituationen. Auf einer Versammlung schlägt René vor, gegen "Anomalien zwischen den Mitgliedern der Partei und der Jugend" Maßnahmen zu ergreifen, woraufhin "Raul Marques" (i.e. José de Sousa, Gewerkschaftsführer und Haupt-Leiter im Amt) eine vernichtende Antwort gibt: "Er sagt, daß die Partei über der Jugend steht, und wenn es im Interesse der Partei notwendig sein sollte, ein unterstützendes Organ zu opfern, darf nicht gezögert werden." 6 2 Auch was die Gründung der Gruppen Akademischer Verteidigung anging, gab es offenbar widersprüchliche Meinungen. 6 ^

Haft und Folter Am 20. Januar 1932 wird René im Büro der Firma "Algarve Exportador" festgenommen, was ihn nicht sehr überraschte. Schon in den ersten Briefen an die KJI und später wiederholt in vielen anderen sagte er, er sei davon überzeugt, früher oder später werde er festgenommen und aus Portugal verbannt. 6 ^ Während des Aufstandes am 26. August 1931 war ein Verantwortlicher der regionalen PKP-Organisation Lissabons festgenommen worden, der eine Kartei der Parteimitglieder geführt hatte. Die Umstrukturierung der politischen Polizei, die kurz zuvor erfolgt war, hatte sich als eines ihrer Hauptziele gesetzt, "die Niederdrückung der Kommunisten durchzuführen, insbesondere, was die Verbindungen von portugiesischen Elementen mit ausländischen Agitatoren b e t r a f ' . 6 5 Auch Wilma Freund wird festgenommen, und in ihrer gemeinsamen Wohnung, die gleichzeitig Sitz des Parteiarchivs und des Jugendverbandes war, werden eine Menge Materialien, Protokolle und Korrespondenzen beschlagnahmt, die die Aktivitäten Bernard Freunds eindeutig belegen und die Verhaftung an-

57 Protokoll der Versammlung des Sekretariats der SP der KJI vom 4.2.1930, in: AP, 225/SPS. 58 "Premier Rapport", Anm. 15. 59 "Santos" (i.e. Fernando Quirino): "Relatório do CCE da SP da ICJ enviado ao bureau latino da ICJ sobre o traballio nacional de 25 de Fevereiro", in: RZ, f. 533, op. 10, d. 2389. 60 René an Jules, 19.8.1931, in: AP, 225/SPS. 61 René an "Liebe Freunde", 29.10.1931, in: AP, 225/SPS. 62 Protokoll der Versammlung des Sekretariats der Partei vom 26.10.1931, in: AP, 225/SPS. 63 Protokolle der Versammlungen des Sekretariats der PKP vom 2.11.1931 u. 4.1.1932, in: AP, 225/SPS. 64 Briefe vom 18.10.1930, 20.12.30, 27.8.31 u. 20.12.31, in: RZ, f, 533, op. 10, d. 2387, d. 2389; AP, 225/SPS. 65 Verordnung Nr. 20125, vom 28.7.1931.

Genosse „René" und die kommunistische Jugend in Portugal

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derer junger Kommunisten ermöglichen. Von der für das damalige Portugal typischen Folter, der er ausgesetzt wird, hat er selbst berichtet, wenn auch ohne seinen Namen anzugeben: "Am 20. Januar wurde der Genosse R., Mitglied der KP und des KJV, verhaftet. In der selben Nacht noch begann die Folter. Zuerst wurden ihm Hangelenkschrauben angelegt, die bis zum äußersten zusammengezogen wurden. Sodann zerrte und riß man ihn an den Händen, um die Wunden zu vertiefen und den Schmerz noch zu steigern, so dass rasch die Handgelenke bis auf die Knochen durchgeschnitten waren. Daraufhin wurde er so lange geohrfeigt und mit Fäusten ins Gesicht und auf den Kopf geschlagen, bis er bewußtlos zusammenbrach. Man goß ihm einen Eimer Wasser über, und sobald er die Augen öffnete, begann die Geschichte von neuem. Dann wurde er mit großen, nassen Frottierhandtüchern, in die feste Knoten geknüpft worden waren, auf den Kopf und ins Gesicht geschlagen, bis er bewußtlos zusammenbrach. Dann zog man ihm die Schuhe aus und schlug mit starken Holzstäben zuerst auf eine Fußsohle, dann auf beide zugleich. Daraufhin hielt man ihm die Nase zu und goß ihm eine Menge Wasser in den Mund. Auch wurde er fortwährend mit den Füßen getreten und gestoßen, während andere ihn mit der Kante eines Lineals mit aller Kraft auf die Handflächen prügelten. Diese Folter dauerte 4'A Stunden. Dann wurde er 35 Tage in eine kleine Dunkelkammer ohne Fenster und Ventilation eingesperrt und erst als er zwei Tage hindurch Wahnsinnsanfälle gehabt hatte und einen Selbstmordversuch machte, in eine andere Gefängniszelle überführt." 66 Ungefähr ein Monat nach seiner Festnahme machte René unter diesen Haftbedingungen Aussagen, die dazu beitrugen, daß die Organisation der PKP und des Jugendverbandes auf weiter Ebene zerstört wurde. Am 16. August wurden Bernard und Wilma Freund des Landes verwiesen.67 Noch im Gefängnis wurde ihr Sohn geboren.

Moskau, Sebastopol und das Ende Nachdem Bernard und Wilma Freund Portugal verlassen haben, ziehen sie vorübergehend nach Wien, wo sie keine Arbeit finden. In dieser Zeit schreibt Bernard Freund zwei Artikel über Portugal, die im Inprekorr veröffentlicht werden. 68 In diesen Artikeln spiegeln sich genaue Kenntnis der Lage der portugiesischen Wirtschaft und ihrer Vorgeschichte wider und die Fähigkeit, die Lage der einzelnen Gruppen der Arbeiterklasse knapp und präzise zu beschreiben. Im November befindet er sich bereits in der UdSSR, offenbar in der Absicht, in der KJI zu arbeiten.6^ Seine Frau folgt ihm kurz darauf. Am 10. Juni 1933 berät die IKK des EKKI über die Sache (delo) Bernard und Wilma Klein-Freund.70 Bernard Freund ist angeklagt, der Polizei während seiner Haft Informationen über andere Parteimitglieder gegeben zu haben, was er selbst bestätigt. Weiterhin heißt es in der Akte, daß er "mit dem Sekretär des tschechischen Konsulats in Lissabon befreundet war, welcher mit seiner Frau Freund besuchte und den

66 Emil (i.e. Bernard Freund): "Der Klassenkampf in Portugal", in: Internationale Presse-Korrespondenz, Nr. 76, 13.9.1932 67 AP, Bernard Freund: Ordern de Servico n° 230 de 17.8.1932 da Policía Internacional Portuguesa. 68 Emil, "Die Lage der Arbeiterklasse in Portugal", in: Internationale Presse-Korrespondenz, Nr. 98, 22.11.1932, und Nr. 99, 25.11.1932. 69 Autobiographie Bernard Freunds, Anm. 2. 70 RZ, f. 495, op. 4, d. 250. Klein-Freund ist der Nachname, unter dem beide in dieser Akte stehen.

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Freund mit seiner Frau besuchte". 71 Der Beschluß der IKK lautet "Klein-Freund, Bernard, aus der KP auszuschließen, da er des Vertrauens der Partei nicht würdig sei." Wilma Freund wird, nachdem ihr Aufbruch von Wien in die UdSSR im Dezember 1932 "ohne Erlaubnis der Partei" erwähnt wird und sich die Vorwürfe, daß sie mit der Familie des Sekretärs der tschechischen Botschaft verkehre, wiederholen, darüber ausgefragt, was sie von den Aussagen ihres Mannes gegenüber der Polizei halte. Ihre Antwort ist schlicht und ergreifend: "Sie bleibe stets seine Freundin." In ihrem Fall lautet der Beschluß: "Da die Aktivität Klein-Freunds, Wilma, in der Partei nicht klar ist, vorschlagen, daß sie ihre Aktivität in der Partei beweise." Damit handelt es sich ganz offentsichtlich um eine Aufforderung, ihren Mann zu verlassen. Hier endet die Geschichte von Bernard und Wilma Freund, soweit es möglich ist, sie aus den Archiven der portugiesichen Polizei und der Komintern kennenzulernen. Die zur Zeit geltenden Bestimmungen des Russischen Zentrums für die Aufbewahrung und das Studium von Dokumenten der neuesten Geschichte über die Einsicht der persönlichen Akten (litchnie dela) des EKKI erlauben nur, die von den Archivaren ausgesuchten Dokumente einzusehen (normalerweise Fragebogen und autobiographische Texte). Es war ebenfalls nicht möglich, Auskunft über die Sterbedaten der beiden zu erhalten. Deswegen muß an dieser Stelle einem russischen Historiker, dessen Name nicht genannt werden darf, für die folgenden Informationen über das spätere Schicksal des Ehepaars Freund gedankt werden. Kurz nach der Verbannung Bernard Freunds aus der Partei wird er (über die KI selbst) in einer Konservenfabrik in Sebastopol (Krim) angestellt, wo er mit seiner Frau lebte. Im Jahr 1935 hält er sich vorübergehend in Moskau auf 7 2 , was wohl mit dem Antrag, wieder in die Partei aufgenommen zu werden, zusammenhängt. Der Antrag wird jedoch abgelehnt und Bernard und Wilma Freund leben weiterhin auf der Krim. Bis zum verhängnisvollen Jahr 1938, in dem beide wegen "Spionage" verurteilt und hingerichtet werden. Das Schicksal ihres Sohnes Sascha ist mir unbekannt. Übersetzung von Birgit Hansen Casquinho

(Lissabon).

71 Ironie des Schicksals: die Beziehungen zu dem tschechischen Diplomaten scheinen für die Arbeit des KJVP keine unerhebliche Rolle gespielt zu haben, wie Bernard Freund im übrigen in einem Brief an die KJI erklärte: "Gehen heute zwei Nummern [des "O Jovem"] als Drucksache an den Verlag /der Jugendinternationale/. Es wurden davon 2000 Nummern zu 10 Seiten MIT DER HAND AUF EINER GREIF-MASCHINE abgezogen, man arbeitete 8 Tage 11 Stunde taeglich, dies weil wir kein Geld haben, uns eine Debego oder Gestetner-Maschine zu kaufen (...). Doch auch die Greif war von einem Konsulat ausgeliehen, wir mußten sie zurückgeben und haben nichts, womit wir unsere nächsten Materialien herausgeben." 72 Information vom 4.1.1996 des in Anm. 4 genannten Mitgliedes der PKP.

Gerlinde Grahn (Potsdam)

Ein weiterer Schlüssel zum Quellenreichtum russischer Archive Seit Ende 1992 erscheint unter Chefredaktion des Leiters des Staatlichen Archivdienstes Rußlands, R. G. Pichoja, eine neue Zeitschrift, die sich der Publikation des vielfältigen Quellenreichtums der russischen Archive widmet. 1 Sie reiht sich ein in die Fülle der Veröffentlichung von Quellen aus russischen Archiven, insbesondere aus Beständen, die bislang der internationalen wissenschaftlichen Öffentlichkeit kaum oder gar nicht zugänglich waren. Mehr als siebzig Jahre nach den Oktoberereignissen in Rußland und der Gründung der Union Sozialistischer Sowjetrepubliken regen Quellen zur Neubetrachtung von Ereignissen und Sachverhalten dieser Zeit an. Aus der Sicht der heutigen Auseinandersetzungen zwischen den ehemals in der Sowjetunion vereinigten Nationen ist die Aufhellung des Hintergrundes ihrer revolutionären Bewegungen und der Motive ihres Zusammenschlusses in der Union am Beginn der zwanziger Jahre nicht unerheblich. Eine der bemerkenswertesten Umwälzungen vollzog sich in Turkestan. Nachzudenken wäre hier anhand der Quellen darüber, inwieweit eine revolutionäre militärische Einflußnahme von außen, in diesem Falle durch die Rote Armee, statt einer politischen Lösung zur Konstituierung bleibender nationalstaatlicher Gebilde beitragen kann (1994, H. 5, S. 3848). Interessant ist diese Problematik auch deshalb, weil sich, wie andere Quellen belegen,2 ein sichtbares Engagement deutscher Kriegsgefangener, die in diesem Territorium konzentriert waren, für die Revolution in Turkestan zeigte. Positive Ansatzpunkte für die Lösung der jüdischen Frage in der Sowjetunion dokumentieren einige, nicht sehr umfangreiche Schreiben Feliks Edmundowitsch Dzierzynskis (1877-1926), Vorsitzender der GPU und Volkskommissar für Inneres der RSFSR, an leitende Mitarbeiter seiner Verwaltung zum Zionismus in den zwanziger Jahren (1994, H. 4, S. 113-116). Die Führer Sowjetrußlands hielten die Lösung der jüdischen Frage im Rahmen der revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft theoretisch für möglich. In der Praxis aber waren die Juden politischen und ökonomischen Unterdrückungsmaßnahmen ausgesetzt. Die zionistischen Organisationen in der Sowjetunion wurden des bürgerlichen Nationalismus, des Chauvinismus und des Sozialdemokratismus und der Verbindung zu westlichen Ländern beschuldigt. Dabei standen wesentliche Gesichtspunkte der Programme der zionistischen Organisationen keinesfalls im Widerspruch zu den vom Sowjetstaat proklamierten Prinzipien. Jüdische zionistische Schulen und Klubs wurden geschlossen, Verhaftungen und Verbannung setzten ein. Im Bewußtsein der Sowjetbürger rief der Begriff "Zionismus" eine ganze Skala von Vorbehalten und Vorurteilen hervor. In den Jahren der NÖP gab es Versuche, eine Lösung der jüdischen Frage zu finden, die unbegründete Repressalien wegen der Teilnahme der zionistischen Bewegung hätten ausschließen können. Am 15. März 1924 schrieb Dzierzynski u.a.: "Ich habe mir die zionistischen Materialien angesehen. Offengestanden verstehe ich nicht genau, weshalb man sie wegen ihrer Zugehörigkeit zum Zionismus verfolgen soll. Ein großer Teil ihrer Angriffe auf uns stützt sich auf ihre Verfolgung durch uns. Als Verfolgte sind sie uns tausendmal gefährlicher denn als NichtVerfolgte, auch wenn sie ihre zionistische Tätigkeit unter der jüdischen Mittel- und spekulierenden Großbourgeoisie und der Intelligenz entfalten. Ihre Parteiarbeit ist deshalb 1

Istocnik. Dokumenty russkoj istorii. Beilage zur russischen historisch-publizistischen Zeitschrift "Rodina", hrsg. v. Obersten Sowjet der Russischen Föderation. Nr. 1, Moskau 1992; Nr. 1-6, Moskau 1993; Nr. 1-6 Moskau 1994. 2 Lager, Front oder Heimat. Deutsche Kriegsgefangene in Sowjetrußland 1917 bis 1920. Hrsg. v. einem deutsch-russischen Redaktionskollegium unter Leitung v. Inge Pardon u. Waleri W. Shurawljow, 2 Bde., München u.a. 1994.

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für uns insgesamt nicht gefährlich - die Arbeiter (die wirklichen) gehen nicht mit ihnen, und ihr Geschrei, verbunden mit ihren Verhaftungen, fliegt zu den Bankiers und 'Juden' aller Länder und fügt uns nicht wenig Schaden zu. Das Programm der Zionisten ist für uns nicht gefährlich, umgekehrt, ich halte es für nützlich. Ich selbst war irgendwann einmal ein Assimilator. Aber das war eine 'Kinderkrankheit'. Wir müssen nur einen unbedeutenden Prozentsatz assimilieren. Und wir sollten sie nicht behindern, unter der Bedingung der Nichteinmischung in unsere Politik. Man kann die jüdische Sektion nicht beschimpfen und sie gleichzeitig zulassen. Schonungslos muß man jedoch gegenüber den Spekulanten (dem Abschaum) sein und alle Verletzungen unserer Gesetze bestrafen. Den Zionisten sollte man entgegenkommen und sich bemühen, ihnen zwar keine Funktionen zu überlassen, ihnen aber die Möglichkeit geben, die UdSSR und nicht Palästina als ihre Heimat zu betrachten." Das Schicksal der Zarenfamilie, ihre Ermordung und das internationale Echo darauf beschäftigen bis in die Gegenwart hinein Historiker wie Journalisten. In den Jahren bis 1928 wurde die Ermordung des Zaren und seines engsten Familienkreises in der Sowjetunion als absolute Bestätigung der Sowjetmacht und der Diktatur des Proletariats betrachtet. Als Stalin 1928 von einem der Hauptbeteiligten an dem Ereignis, dem ehemaligen Kriegskommissar des Gebietssowjets des Urals, F. I. Goloscekin die Idee vorgetragen wurde, anläßlich des 10. Jahrestages der Erschießung der Zarenfamilie einen Erinnerungsband herauszugeben, war dessen Antwort: "Über die Romanows kein Wort mehr!" In der Folge fielen die Hauptbeteiligten an den Ereignissen in Ekaterinburg den Stalinschen Säuberungsaktionen zum Opfer, wurde das Museum in Ekaterinburg in den vierziger Jahren geschlossen und das Gebäude 1977 schließlich abgerissen. Erst seit 1985 beschäftigt man sich in der Sowjetunion und im Ausland wieder intensiver mit dem Ereignis. A. Awdonin aus Ekaterinburg berichtet in seinem sehr informativen Artikel "Das Geheimnis des Alten Koptjakowsker Weges. Aus der Geschichte der Suche nach den sterblichen Überresten der Herrscherfamilie" darüber (1994, H. 5, S. 60-76). Nach wie vor gilt der Person W. I. Lenins als einer der zentralen Figuren der russischen revolutionären Bewegung des ausgehenden 19. und 20. Jahrhunderts Aufmerksamkeit. Zeitzeugen und Kampfgefährten erinnern sich an Begegnungen, und neu aufgefundenen Dokumente illustrieren seine Aktivitäten. Die frühen Jahre Lenins in der russischen Arbeiterbewegung von 1895-1903 schildert sein damaliger Kampfgefährte und späterer Menschewik A. N. Potresov (1869-1934) in seinen 1937 in Paris erschienen Memoiren (1993, H. 4, S. 20-27). 3 Hintergründe, Motive und persönliche Momente des Attentats von Fanni Kaplan auf W. I. Lenin am 30. August 1918 werden u.a. anhand von Protokollen der Aussagen von Fanni Kaplan untersucht, die im Zentralen Militärarchiv der Russischen Föderation aufbewahrt werden (1993, H. 2, S. 63-88). Die kritische Durchsicht der Protokolle und die Einbeziehung weiterer, bis dahin unberücksichtigt gebliebener Dokumente führte im Juni 1992 zur posthumen Rehabilitierung Fanni Kaplans. Ein Jahr nach dem Tode Lenins faßte im Februar 1925 das Politbüro des ZK der KPR(B) den Beschluß, vermittels der Erforschung des Gehirns Lenins dessen Genialität materiell nachzuweisen (1994, H. 1, S. 7288). In die Forschungen war unter anderem der weltbekannte deutsche Hirnforscher Prof. Dr. Oskar Vogt (1870-1959) einbezogen. Da die Ergebnisse offensichtlich nicht den Erwartungen der Politiker entsprachen, wurde die damit verbundene Dokumentation jahrzehntelang geheimgehalten.

3 A. N. Potresov: Posmertny sbornik proizvedenii. Dom knig inkom, Paris 1937.

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Im Kontext des 100. Geburtstages Lenins erreichte der Kult um seine Person einen Höhepunkt. Ein typisches Beispiel dafür ist der im Dezember 1972 von einem Kollektiv von Architekten und Künstlern dem Sekretär des ZK der KPdSU, A. P. Kirilenko, vorgelegte Entwurf für einen Palast des Leninismus in Moskau, der an Größe bei weitem den Kreml überragen sollte (1993, H. 5/6, S. 82-86). Dokumente aus den Archiven des NKWD bzw. des KGB geben zu vielen Ereignissen und Personen von den zwanziger Jahren an bis in die jüngste Vergangenheit hinein detaillierte und der realen Lage häufig sehr nahe kommende Informationen aus fast allen Sphären des politischen Lebens in der Sowjetunion, aber auch aus den kommunistischen Parteien anderer Länder und nach 1945 aus den sozialistischen Staaten. Ein Protestbrief des russischen Metallurgen und korrespondierenden Mitglieds der Akademie der Wissenschaften, W. E. Grum-Grzimailow, gegen den 1928 durchgeführten "Schachty-Prozeß" verweist auf die zu dieser Zeit auch in der UdSSR vorhandenen Widerstände gegen die beginnenden stalinistischen Unterdrückungsmaßnahmen (1993, H. 3, S. 72-74). Veröffentlicht werden Dokumente zur Ermordung S. M. Kirows 1934, die die These stützen, daß er Opfer des stalinistischen Terrors wurde (1994, H. 2, S. 58-70). Briefe N. I. Bucharins an J. W. Stalin, K. E. Woroschilow u.a. aus der Zeit vom August bis Dezember 1936 vermitteln u.a. seine Haltung zu den beginnenden Terrorprozessen in Moskau und seine Überzeugung von der eigenen Unschuld (1993, H. 2, S. 4-18). Die Fortsetzung von psychischen und physischen Repressalien als Mittel der Machtausübung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges belegen vielfältige Dokumente. In die Reihe der Repressalien gehört die Ende 1945 erfolgte Verhaftung der Kundschafter und Residenten der Hauptabteilung Aufklärung beim Generalstab der Roten Armee L. S. Trepper (1904-1982), 4 A. M. Gurewic (geb. 1913)5, S. Rado (1899-?), G. Ja. Janek 6 , J. G. Wenzel (1902-1969) u.a., die unter anderem die Verbindung zwischen der Sowjetunion und der deutschen Widerstandsgruppe "Rote Kapelle" unterhalten hatten (1994, H. 4, S. 117-126). Auf Veranlassung Stalins unschuldig verhaftet wurden 1953 Persönlichkeiten der Luftfahrtindustrie und der Luftstreitkräfte (1993, H. 4, S. 91-100). 1948 verordnete der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets die "unbefristete Verbannung", zu deren Aufhebung es erst Anfang 1955 Überlegungen im ZK der KPdSU gab (1994, H. 2, S. 92-93). Eine Reihe von Dokumenten vermittelt wenig bekannte Fakten zur Vertiefung des Verständnisses der Beziehungen zwischen der KPR(B) bzw. der KPdSU und den ausländischen kommunistischen Parteien und den sozialistischen Ländern. So wird über eine von italienischen Kommunisten 1923 geplante "Italienische Legion" der Roten Armee zur Unterstützung der Weltrevolution von Italien aus informiert (1994, H. 1, S. 5254). Nicht zufällig finden sich in einem Protokoll über ein Gespräch zwischen N. S. Chruschtschow und Vertretern des ZK der Kommunistischen Partei Italiens vom 10. Juli 1956 u.a. ausführliche Wertungen des Personenkults um Stalin, der Beziehungen der UdSSR zu Italien, der KPdSU zur IKP, des Prozesses der Demokra4

Trepper war es vergönnt, seine Erinnerungen und auch die bitteren Erfahrungen nach seiner Rückkehr in die Sowjetunion niederzuschreiben. Die erste Veröffentlichung erschien 1975 unter dem Titel: Le Grand Jeu im Verlag Albin Michel Paris und im selben Jahr im Kindler Verlag München unter dem Titel: Die Wahrheit. Autobiographie. Russisch: Bol'saja igra. Gody ucenija "Krasny orkestr". Vozvrascenie. Wospominanija sovetskogo razvedcika. Moskva. Izdatel'stvo politiceskoj literatury. 1990. 5 Anatoli Markovic Gurevic auch unter dem Namen Viktor Sukulov (Decknamen Kent, Vincent Sierra). 6 Lebensdaten konnten nicht ermittelt werden.

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tisierung in beiden Ländern und der Lage in den volksdemokratischen Ländern (1994, H. 2, S. 79-91). Die IKP war für die KPdSU ein wichtiges Bindeglied zur westeuropäischen Arbeiterbewegung, wobei ihre führenden Funktionäre um eine eigenständige, den Erfordernissen ihres Landes gemäße Linie und gegen die Verabsolutierung des sowjetischen Weges rangen. Das Protokoll eines Gesprächs zwischen einer Delegation des ZK der KPdSU und der IKP vom November 1968 (1994, H. 5, S. 77-86) läßt wie in einem Prisma anhand der Einschätzung der Situation in der CSSR die unterschiedlichen Positionen der kommunistischen Parteien sichtbar werden. Enrico Berlinguer wies in dem Gespräch darauf hin, daß sich in den Jahren vor 1968 grundsätzliche Veränderungen in den Beziehungen zwischen der IKP und den sozialistischen Ländern vollzogen hatten, die v.a. mit der unterschiedlichen Einschätzung der sowjetischen Außenpolitik zusammenhingen. So brachte die Führung der IKP ihre Nichtübereinstimmung mit dem Agieren der fünf sozialistischen Länder zum Ausdruck, deren Truppen in die CSSR einmarschiert waren. Zugleich trat sie entschieden gegen jede Form von Antisowjetismus auf. Über die Situation in der CSSR im Jahre 1968 informiert die vollständig veröffentlichte Analyse des sowjetischen Komitees für Staatssicherheit vom 13. Oktober 1968 (1993, H. 5/6, S. 96-118, 1994, H. 1, S. 6271). Sie wurde dem ZK der KPdSU vorgelegt und war, wie aus dem Kontext hervorgeht, für die Organe der Staatssicherheit in der DDR und in Polen gedacht. Detailliert werden die vor und nach dem Einmarsch der verbündeten Truppen agierenden Gruppen und Persönlichkeiten beschrieben, so die sich neu konstituierenden politischen Organisationen, die Aktivitäten im Schriftstellerverband, in den Massenmedien, in der Armee und in den Einrichtungen des Ministeriums des Innern, die Verbindungen der oppositionellen Kräfte nach dem Westen und die Reaktionen in der Bevölkerung auf den Einmarsch. Von der sowjetischen Partei- und Staatsführung war 1945/46 über das Schicksal des Nationalkomitees Freies Deutschland, den Bund der Offiziere und den weiteren Umgang mit den deutschen Kriegsgefangenen zu befinden (1994, H. 3, S. 102-110). Berijas Vorschlag, das Nationalkomitee und den Bund zu liquidieren und die politische und kulturelle Arbeit mit den Kriegsgefangenen der Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte beim NKWD zu übertragen, fand keine ungeteilte Zustimmung. Ausschlaggebend war wohl der Aspekt, daß die Millionen Kriegsgefangenen als Wirtschaftskraft motiviert und genutzt werden sollten. So entstand die Idee, Generalfeldmarschall Paulus mit der Erarbeitung eines Projekts zur Schaffung eines Zentrums für propagandistische Arbeit unter den Kriegsgefangenen zu beauftragen. Paulus erklärte sich offensichtlich bereit, in seinem Projekt den sowjetischen Vorstellungen zu folgen und eine Organisation aufzubauen, die als "reguläre Sektion Bestandteil der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands" sein sollte. Zu einer Realisierung des Projekts kam es nicht. Einblicke in die Machtkämpfe und die schließlich ausgehandelte Machtverteilung zwischen den einzelnen Funktionären im Zusammenhang mit dem Tode Stalins und danach belegen sehr unterschiedliche Dokumente. Publiziert wird das Protokoll der gemeinsamen Beratung von ZK der KPdSU, Ministerrat und Präsidium des Obersten Sowjets vom 5. März 1953, kurz vor dem Tode Stalins (1994, H. 1, S. 106-111). Zum Kreis dieser Dokumente gehören die Briefe L. P. Berijas, eines der Hauptkonkurrenten um die Führungsposition im Sowjetstaat, aus dem Gefängnis nach seiner Verhaftung am 26. Juni 1953, in denen er seine politischen Positionen und schließlich sein Leben zu verteidigen suchte (1994, H. 4, S. 3-14). 7 Kein Wort findet sich in den

7

Zur Rolle Berijas in den Machtkämpfen in der Führung der KPdSU kurz vor und nach dem Tode Stalins s. auch den Beitrag: Die hundert Tage des "Marschalls der Lubjanka" in der selben Zeitschrift (1993, H. 4, S. 82-90).

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Briefen zu den von ihm als Volkskommissar bzw. Minister des Innern der UdSSR von 1938 bis 1945 mit zu verantwortenden tragischen Schicksalen von hunderttausenden russischer und ausländischer Menschen. Schließlich gerät der zeitweilige Sieger in den Auseinandersetzungen, N.S.Chruschtschow, noch nach seiner Entmachtung ins Kreuzfeuer der Kritik im Komitee für Parteikontrolle wegen seiner in den USA erschienenen Memoiren (1994, H. 4, S. 64-75). Von den Schwierigkeiten des Umgangs von Vertretern der Sowjetmacht und der Partei mit den Künstlern und Wissenschaftlern und andererseits deren Engagement und Verantwortungsgefühl für den Sowjetstaat sprechen zahlreiche Dokumente von der Oktoberrevolution an bis in die jüngste Vergangenheit hinein. In Fortsetzung der Veröffentlichung in der Zeitschrift "Izvestija CK KPSS" aus den Jahren 1989 bis 1991 wird der Schriftwechsel des sowjetrussischen Schriftstellers Maxim Gorki mit Führern des ZK der KPR(B) bzw. der KPdSU(B) und der sowjetischen Regierung veröffentlicht, so u.a. mit N. I. Bucharin, L. M. Kaganowitsch, A. I. Rykow (1994, H. 1, S. 6-20). Er erstreckte sich über den Zeitraum von 1918 bis 1935 und beinhaltete u.a. Fragen der Unterstützung der Tätigkeit der Künstler, ihrer Zeitschriften und Organisationen in Sowjetrußland und innenpolitische Probleme wie die beginnenden stalinistischen Repressalien. Briefe M. A. Scholochows an J. W. Stalin aus den Jahren 1937-1950 dokumentieren Scholochows Einsatz für die zu Unrecht den stalinistischen Repressalien unterworfenen Schriftsteller, seine kritische Stellungnahme zu vielen innenpolitischen Fragen (1993, H. 4, S. 4-19, H. 5/6, S. 4-17). Unter dem Titel der Künstler und die Macht werden Materialien veröffentlicht u.a. über die Situation unter den sowjetischen Künstlern 1975, über das zähe Ringen des international bekannten Filmregisseurs A. Tarkovskij mit staatlichen und Parteiinstanzen in der Sowjetunion um seine Tätigkeit in Italien zwischen 1981 und 1983 (1993, H. 1, S. 96-106), über den Schriftsteller A. I. Solschenizyn (1993, H. 3, S. 87-101) und den international bekannten Leiter des Ensembles der Sowjetarmee, I. A. Moiseev (1994, H. 5/6, S. 166-172). Das Schicksal bürgerlicher russischer Wissenschaftler nach der Oktoberrevolution wird aus den Tagebuchaufzeichnungen des Naturwissenschaftlers und Philosophen W. I. Werdnadski deutlich (1994, H. 2, S. 12-20, H. 3, S. 23-30). Gehören Tagebücher bedeutender Persönlichkeiten häufig zu den aus den Nachlässen veröffentlichten Dokumenten, so finden sich Tagebuchaufzeichnungen einfacher Menschen höchst selten als historische Quelle. Daher sind die Auszüge aus verschiedenen Tagebüchern, u.a. des Mechanikers E. N. Nikolaev, der in den zwanziger Jahren und 1937 wegen konterrevolutionärer Betätigung verhaftet wurde (1993, H. 4, S. 46-62), die Schilderung des Lebens der Moskauer Durchschnittsbürger vor Beginn des Zweiten Weltkrieges (1993, H. 5/6, S. 24-36) und die Aufzeichnungen des Leutnants der Roten Armee A. I. Matweew aus dem sowjetischfinnischen Krieg 1939-1940 (1993, H. 3, S. 29-44) besonders interessant für die Erforschung des Alltagslebens in der Sowjetunion. So aufschlußreich, manchmal auch sensationell die veröffentlichten Quellen, insbesondere aus den Archiven des KGB, des Politbüros der KPdSU und des Präsidenten, auch sein mögen, dürfen sie dem Historiker nicht den Blick verstellen für die Leistungen, die die einfachen Menschen in der Sowjetunion oft unter unsäglich schwierigen Bedingungen von Krieg und Bürgerkrieg vollbracht haben; sie finden sich mit Sicherheit in bisher nicht veröffentlichten Quellen und sind ebenfalls wert, publiziert zu werden.

Ruth Kibelka (Berlin)

Zur Entstehung der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR. Ein Literaturbericht Vorbemerkung Die Quellenlage zu den Anfängen der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR ist äußerst dünn. In den ersten Jahren wurden in den Gruppierungen - außer Eingaben - selten Papiere verfaßt, die Position oder Selbstverständnis beschrieben. Berichte des MfS andererseits geben in vielen Fällen Ereignisse eigentümlich verzerrt wieder. Die inoffiziellen Mitarbeiter versuchten oft, ihre Berichte in das Schema "Drahtzieher und Mitläufer" zu pressen, so daß sich diese Unterlagen auch nur sehr bedingt als Quelle eignen. Die bundesdeutschen Medien bedienten gleichfalls ihre Raster - die der bundesdeutschen Sichtweise, die sich oft mit den Schemata der Staatssicherheit deckte (überregionale Organisatoren, flächendeckende Bewegung). Bundesdeutsche Literatur, die Anfang der achtziger Jahre zu den Themen Opposition in der DDR, Friedensbewegung etc. erschien, muß heute kritisch rezipiert werden. 1 Besonders die Rolle der Kirche wurde in einem Teil der Aufsätze ganz anders gewichtet.^ In dem kürzlich erschienenen Band: Markus Meckel/Martin Gutzeit, "Opposition in der DDR" (Köln 1994) versuchen die Autoren, einen Teil der unabhängigen Friedensbewegung und deren Anfänge darzustellen, wobei vor allem die eigenen Aktivitäten in der Mecklenburger Landeskirche beschrieben werden. In dieser Darstellung steht der pastorale Aspekt stärker als erwartet im Vordergrund. Im Gegensatz zu Meckels Darstellung meint die Verfasserin, daß "Kirche" in den achtziger Jahren mehr Form und Ansatzpunkte geliefert hat als Inhalte, die deutlich von den nichtkirchlichen Aktiven eingebracht und bestimmt wurden.

Opposition und Friedensbewegung Durch die ideologischen Verquickungen zwischen Staat und Gesellschaft in der DDR ließ sich kaum ungestraft Gesellschaftskritik üben, da man sofort als Staatsfeind verdächtigt wurde. Der Begriff Opposition wurde in den Westmedien geprägt. Viele Anhänger der Friedensbewegung in der DDR wollten dieses Etikett nicht für sich in Anspruch nehmen, hielten sie doch auch gewisse Spielregeln ein, um zu demonstrieren, daß sie in gewisser Weise staatsloyal gesonnen waren. Wer die DDR verändern wollte, mußte - zuallererst in seinem Kopf - die BRD für sich abgeschrieben haben, was implizierte, sein Lebensziel nicht in einer Ausreise in die BRD zu sehen. Genauso wenig war der Begriff der Friedensbewegung eine Eigenbezeichnung, sondern stellte ebenfalls eine Außenansicht dar. Der Begriff täuschte immer eine Einheitlichkeit vor, die niemals existierte. Das Phänomen der zahlreichen, sehr unterschiedlichen und von einander unabhängigen Friedensinitiativen läßt sich für den gesamten DDR-Raum äußerst schwer umfassend beschreiben. 1 Wensierski, Peter/Büscher, Wolfgang (Hrsg.): Friedensbewegung in der DDR. Texte 1978-1982, Hattingen 1982. 2 Zander, Helmut: Die Folgen des Nachrüstungsbeschlusses der Bundesrepublik Deutschland für die Friedensarbeit der evangelischen Kirchen in der DDR, in: Janning, Josef/Legrand, Hans-Josef/Zander, Helmut (Hrsg.): Friedensbewegungen. Entwicklungen und Folgen in der Bundesrepublik Deutschland, Europa und den USA, Köln 1987.

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Das kritische Potential In der unabhängigen Friedensbewegung waren jüngere Leute deutlich in der Mehrzahl. Wie konnten sich kritische Haltungen in einem Land entwickeln, in dem der Staat das Bildungsmonopol inne hatte? Mit der Aufgabenstellung an die Erweiterten Oberschulen (EOS), Kaderschmieden für Lehrer und Berufsoffiziere zu sein, wuchs die Anzahl der Jugendlichen, die von Bildungsdiskriminierung betroffen waren. Auch der Zugang zum zweiten und dritten Bildungsweg (Abitur mit Berufsausbildung bzw. an der Volkshochschule) wurde Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre immer stärker eingeengt, so daß kritische Jugendliche (von stark religiös orientierten gar nicht zu reden) zunehmend weniger Bildungschancen besaßen. Studenten wurden in hohem Maße schon durch die Gewährung eines Studienplatzes diszipliniert. Die DDR war das einzige Ostblockland, das seine Bildungsschranken schon vor dem Hochschulzugang installiert hatte. In der UdSSR beispielsweise setzte das ideologische Raster erst bei der Absolventenlenkung ein. Da die meisten Absolventen dann schon eine Familie versorgen mußten, konnte sie vor allem mit ökonomischen Mitteln zum Wohlverhalten gezwungen werden. Versammelten sich in den katholischen und evangelischen Studentengemeinden Ende der sechziger und in den siebziger Jahren noch mehrheitlich kritische Hochschulstudenten, traf man Anfang der achtziger Jahre dort vor allem die noch jüngeren Fachschulstudenten. In den siebziger Jahren entwickelte sich in der DDR eine numerisch nicht bestimmbare Schicht junger Leute, die sich dem offiziellen gesellschaftlichen Kontext so weit wie möglich entzog. Die extrem niedrigen Lebenshaltungskosten in der DDR ermöglichten derartige Existenzen. Man hatte ein eher symbolisches Arbeitsverhältnis beispielsweise als Putzfrau oder Totengräber (um nicht dem Vorwurf der Asozialität ausgesetzt zu sein) und versuchte im übrigen, sich selbst in einer Art Aussteigerszene zu verwirklichen. Diese Szene läßt sich jedoch nicht als a priori politisch bezeichnen. Die Jugendlichen lehnten den Staat und das Wohlstandsdenken ihrer Eltern ab, unterstützten politisch Kritische auch ideell, artikulierten sich selbst aber vorrangig nicht politisch, weil sie "ihre Ruhe haben wollten". Weiterhin existierten kirchliche Jugendgruppierungen, die aus den Wurzeln der Jungen Gemeinden kamen. Auch dieses Potential läßt sich zahlenmäßig kaum eingrenzen. Als Anhaltspunkt sei genannt, daß Ende der siebziger Jahre bei den Landesjugendsonntagen der Brandenburgischen Landeskirche (hier mit Ausnahme von Berlin) jährlich ca. 6.000 Teilnehmer gezählt wurden. Zwischen den Junge-Gemeinde-Gruppen einzelner Orte bestanden Kontakte, gebündelt durch eine gemeinsame Interessenvertretung, dem Landesjugendkonvent, sowie zahlreiche Treffs und Freizeitangebote in kirchlichen Heimen. Auf dieser Ebene wurden vor allem 12 bis 18jährige angesprochen. In diesem kircheneigenen Raum erfuhren die Jugendlichen zu allererst, daß sie mit ihrer religiösen Einstellung, mit ihren kritischen Ansichten nicht alleine dastanden. Hier setzte ein friedenspolitischer Diskurs ein, die Jugendlichen erhielten Ratschläge, wie sie sich in schulischen Konfrontationssituationen verhalten könnten. Dieser kirchliche Freiraum der Jugendarbeit war gleichfalls für Ostblockverhältnisse sehr weit. In der UdSSR war Minderjährigen die Religionsausübung verboten, in Polen bewegte sich die kirchliche Jugendarbeit eher in dem Muster nationaler Traditionen, wie z. B. der Pfadfinderbewegung. Der Großteil der kirchlichen Jugendbewegung Ende der siebziger/Anfang der achtziger Jahre bildete dann das Fundament der kirchlichen Friedensgruppen. Diese Jugendlichen trugen als erste das Symbol "Schwerter zu Pflugscharen" und wurden auf Grund der staatlichen Reaktionen erst recht politisch aktiv. In der oben beschriebenen Aussteigerszene fanden sie dann ihre Sympathisanten. Zulauf hatte die Friedensbewegung auch

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von jungen Hochschulabsolventen, die nach wenigen Berufsjahren ihre Grenzen der Verwirklichung und den Stagnationsgrad des Systems deutlich erkannt hatten. Vertreter der mittleren Generation wagten sich weniger ins Friedensengagement.

Christ in der DDR Christsein war die einzige legalisierte kritische Existenzform in der DDR. Diese These kann an unzähligen Beispielen belegt werden, am drastischsten unterstreicht sie folgende Verfahrensweise: Der Antrag auf waffenlosen Wehrdienst - übrigens innerhalb des Ostblocks singulär - mußte in der Regel mit religiösen Motiven begründet werden.^ Pazifistische Wehrdienstverweigerer waren den DDR-Behörden suspekt, mit der Kategorie des bekennenden Pazifismus konnten sie nicht umgehen. Eine pazifistische Haltung unter religiösem Etikett zu vertreten, forderte weniger diffizilen Erklärungsbedarf. Der Waffen- oder Totalverweigerer durfte sicher sein, daß er sein Grundanliegen durchsetzen konnte.

Die Kirche In diesem Kontext sollte auch noch einmal hinterfragt werden, auf Grund welcher Überlegungen auf der staatlichen Ebene der 6. März 1978 zustande kam. Im Vorfeld dazu stand die Kirche als Podium Andersdenkender, in der Perspektive die Einführung des Wehrkundeunterrichtes in den Schulen. Übrigens gab es gegen das Agreement zwischen Staat und Kirche auf der Frühjahrssitzung 1978 der Berlin-Brandenburgischen Synode heftige Proteste - bis hin zum Vergleich mit den Deutschen Christen und Reichsbischof Müller -, die jedoch nicht in die (westliche) publizistische Öffentlichkeit drangen, da Manfred Stolpe die Synodalen in einer geschlossenen Sitzung informierte. Die evangelische Kirche der DDR - die katholische hielt sich da bedeckter - vertrat in der Mehrheit der Fälle gegenüber den Friedensbewegten Staatsinteresse: ein Doppelspiel von MfS, SED und Amtskirche. Die Kirche wurde "statt des Staates zum Adressaten kritischer Anfragen, von Klagen über politische und soziale Defizite (Ausreiseproblem, Fragen eines Wehrersatzdienstes, Friedenserziehung etc.), ihr wurde also eine Rolle im politischen System zugeschrieben, die sie selbst nicht will."4 Dabei wurde sie aber in ihren zahlreichen öffentlichen Aktivitäten "an einer sehr kurzen Leine gehalten''.^ Erhard Neubert, Soziologe der Theologischen Studienabteilung des Bundes der Evangelischen Kirchen in der DDR kritisierte schon vor der Wende: "Die jahrzehntelange Einschränkung ist tief verinnerlicht und hat bei Kirchenleuten eine kaum noch bewußte Selbstzensur bewirkt, die oft weitergegeben wird."6

"Zum Dienst in den Baueinheiten [...], die aus religiösen Anschauungen oder aus ähnlichen Gründen den Wehrdienst mit der Waffe ablehnen." Gesetzblatt der DDR, Teil I, Nr. 11 vom 16.9.1964, § 4.1. 4 Dähn, Horst/Staritz, Dietrich/Suckut, Siegfried: Tendenzen des Wandels im politischen System der DDR, in: Die DDR im vierzigsten Jahr, Köln 1989. 5 Neubert, Erhard: "Gesellschaftliche Kommunikation im sozialen Wandel" in: ebenda, S. 51. 6 Ebenda. 3

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Die unabhängige Friedensbewegung In der DDR existierten kleine kritische Zirkel, deren Mitglieder zum Teil schon gegen den Einmarsch der sowjetischen Truppen in die CSSR 1968 protestiert hatten. Die erste Phase der Ostpolitik und die KSZE-Konferenz in Helsinki 1975 gaben gerade diesen DDR-Bürgern neuen Auftrieb, glaubte man doch, daß eine Entspannung der sicherheitspolitischen Lage endlich innenpolitisch größere Freiräume bewirken könnte. Zusammenfassend läßt sich über die sehr unterschiedlichen Auffassungen in diesen Kreisen behaupten, daß man nicht an eine Reformierbarkeit der SED glaubte und andererseits auch die Kirche ablehnte. Nahm man sie überhaupt wahr, gab es vor allem Kritik an ihrer finanziellen Abhängigkeit vom Westen, durch die sie stets eine Stärke vorspiegelte, die sie gar nicht besaß. Niemand kann genau definieren, durch welche Faktoren sich diese Ablehnung entschärfte. (U.a. könnte auch das Heranwachsen einer neuen Pastorengeneration dazu beigetragen haben.) Als erstes Anzeichen einer allmählichen Positionsveränderung könnte man das Konzert Wolf Biermanns auf dem Kirchentag in Prenzlau werten (September 1976). Es mag sein, daß das Rückreiseverbot für Biermann auch in einem kausalen Zusammenhang mit seinem ersten (und einzigen) Auftritt in einer Kirche in der DDR steht. Als der Staat in diesen Jahren versuchte, protestierenden Künstlern und Schriftstellern die Öffentlichkeit zu entziehen, begannen Kirchengemeinden, Podien für kritische DDR-Künstler zu werden. Allerdings gab es kein genau definiertes Verhältnis. Etwa zur gleichen Zeit (1979) setzten beispielsweise auch in Polen Gespräche zwischen den Dissidenten um Jacek Kuron und Mitgliedern des Klubs der katholischen Intelligenz (KIK) ein.7 Robert Havemann ermunterte 1981 seine politischen Freunde ausdrücklich, sich im Rahmen der kirchlichen Friedensbewegung miteinzubringen. Diese regimekritischen Persönlichkeiten bereicherten die bis dahin geführten innerkirchlichen Diskussionen sehr stark, setzten neue gesellschaftspolitische Akzente und trugen maßgeblich zur Erweiterung der Friedensarbeit bei. Gerade durch die nichtkirchlichen Aktivisten gewannen die Aktivitäten an Konturen und deutlichen Sachbezügen. Die Ost-Friedensbewegung formierte sich vor dem Hintergrund der Nachrüstungsdiskussion und dem Entstehen der westeuropäischen Friedensbewegung im Widerstand zu innenpolitischen Problemen (Kritik am Wehrkundeunterricht, Schaffung eines zivilen Wehrersatzdienstes "sozialer Friedensdienst", Ablehnung des Wehrdienstgesetzes für Frauen [1982], Kritik am neuen Erziehungsprogramm für Kindergärten). Man lebte mit der Erfahrung, daß selbständige politische Aktionen - auch wenn sie gleichfalls von der SED vertretenen Zielen galten - vom Staat verboten wurden, da eigenständiges Handeln generell nicht genehmigt wurden. Dazu gehört auch, daß man zu einer 1. Mai-Demonstration nicht mit einer selbstverfaßten Losung, selbst wenn sie systemkonformen Inhalts war, erscheinen durfte. Meckel schreibt in seinem Buch, daß "viele Gruppen" eigentlich gar nicht die innenpolitischen Verhältnisse in der DDR thematisieren wollten.** Wahrscheinlich spricht er dabei von einigen kirchlichen Gruppen, denn die nichtkonfessionellen Engagierten hatten auf alle Fälle innenpolitische Kritik vorzubringen. In Meckels Kontext paßt auch die Beschreibung von Marlies Menge, der DDR-Korrespondentin der "Zeit", die in jener

7 Kuron, Jacek: Glaube und Schuld. Einmal Kommunismus und zurück, Berlin 1991, S. 548. 8 Meckel, Markus/Gutzeit, Martin: Opposition in der DDR. Zehn Jahre kirchliche Friedensarbeit. M. e. Vorwort v. Hermann Weber, Köln 1994, S. 37.

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Zeit, wenn sie von Mitgliedern der unabhängigen Friedensbewegung berichtete, immer über "junge evangelische Christen" schrieb.^ Meckels Aussage bedarf der Ergänzung. Einerseits wollten die meisten Friedensbewegten an der Basis nicht in die systemkritische Ecke gedrängt werden, und nur eine verschwindende Minderheit hätte 1982/83 offen formulieren können, daß sie eine Änderung der innenpolitischen Verhältnisse anstrebte. Andererseits war ihr Engagement so groß, weil sie den Zusammenhang zwischen der drohenden Nachrüstung und der Verschärfung der inneren Situation erkannt hatten und nicht dulden wollten.

Begegnungen mit der Staatssicherheit Über Aktivitäten der Staatssicherheit ist hinreichend berichtet worden. Auch über die Einschleusung von Informellen Mitarbeitern in Friedensgruppierungen sind inzwischen zahlreiche Berichte erschienen. ^ An dieser Stelle soll nur auf zwei in jenem Zeitraum wichtige Aspekte staatssicherheitlichen Verhaltens eingegangen werden. Hochgradig allergisch reagierten die Behörden, wenn Aktionen und Ziele auf dem Weg über die westlichen Medien der Öffentlichkeit bekannt wurden. Normalerweise wurde durch derartige Veröffentlichungen der angestrebte Aktionsradius innerhalb der DDR auf Null reduziert. Als Beispiel sei hier über den Kontext der Sammeleingabe gegen das Wehrdienstgesetz für Frauen vom 25. Oktober 1983 berichtet. Die Unterzeichnerinnen hatten sich darauf verständigt, daß die Eingabe nicht in den Westmedien erscheinen sollte, um einen möglichen Dialog in der DDR nicht von vornherein abzuwürgen. In den ersten Wochen nach der Unterzeichnung (während des vierwöchigen Bearbeitungszeitraums der Eingabe) wurden zahlreiche Unterzeichnerinnen von Parteileuten ihrer Betriebe bzw. von lokalen Parteifunktionären besucht, um Gespräche über den Inhalt der Eingabe zu führen. Am 6. Dezember 1982 wurde der Text der Eingabe im SPIEGEL veröffentlicht. 11 Daraufhin reagierten die Vertreter der Staatsorgane mit verschärften Methoden wie z. B. Parteiverfahren, fristlose Kündigung im Betrieb, strenge sicherheitsdienstliche Überwachung etc. 1 2 Der Dialog war ein für alle Mal abgebrochen. Die Staatssicherheit, die auf Grund ihrer Quellen genau wußte, daß eine Westveröffentlichung von Seiten der Frauen nicht geplant worden war, legte den Unterzeichnerinnen vorsätzliche Zusammenarbeit mit Westmedien zum Schaden der DDR zur Last. Im Herbst 1983, am 21. Oktober und 4. November, setzte die Staatssicherheit in Berlin für jeweils 24 Stunden mehrere Hundert Friedensengagierte fest, um sie an der Teilnahme von Aktionen zu hindern. Diese Maßnahmen hießen im Stasijargon "Zuführungen" und waren mit einem erheblichen organisatorischen Aufwand verbunden. Jede "zuzuführende Person" wurde von mehreren sicherheitsdienstlichen Mitarbeitern morgens früh abgeholt und mußte den gesamten Tag unter strikter Bewachung einzeln in Räumlichkeiten der Volkspolizei verbringen, wobei sogenannte "Befragungen", also Verhöre, durchgeführt wurden. Der unmittelbare Kontakt mit Mitarbeitern der Staatssicherheit und vor allem das aus ihren Fragen erkennbare Konstrukt der Vorstellungen, die sie von der Friedensbewegung hegten, läßt deutlich erkennen, daß sie zwar über Detail9 10 11 12

Die Zeit Nr. 37/83, Nr. 44/83. Kukutz, Irena/Havemann, Katja: Geschützte Quelle, Berlin 1991. Der Spiegel, Nr. 48/1982. Am spektakulärsten war die "Bestrafung" Vera Wollenbergers, die aus der SED ausgeschlossen wurde und ihre Arbeit verlor.

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kenntnis verfügten, den gesamten Kontext jedoch strukturell überhaupt nicht begriffen. Die direkte Begegnung mit den "Mitarbeitern der unsichtbaren Front", wie sie sich selbst gerne titulierten, löschte bei vielen den Mythos von der Allmächtigkeit des MfS aus. Man war sich bewußt, daß es existierte, aber lernte, ihm mit einer gewissen Gelassenheit zu begegnen.

Das Ende der geduldeten Friedensbewegung Es war voraussehbar, was Markus Meckel in einem Aufsatz im September 1983 beschrieb: "In der DDR wird, wenn stationiert wird, mit einer deutlichen Verschärfung der Situation zu rechnen sein [...]. Jegliche als Schwächung empfundene Kritik am System der Bedrohung wird scharf unterdrückt." 13 Allerdings herrschte bis zum November 1983 in den meisten Gruppen die illusionäre Hoffnung vor, daß sich die Durchführung des Nachrüstungsbeschlusses verhindern lasse. Zu den Kontinuitätsproblemen und den sich abzeichnenden Verschärfungen des innenpolitischen Klimas existierten in den Gruppen relativ wenig nüchterne Überlegungen.

Unter dem Dach der Kirche Die Friedensaktivitäten des Jahres 1983 lassen sich noch nicht als unabhängige Bewegung "unter dem Dach der Kirche" rubrizieren, da der Gruppenbildungs- und -findungsprozeß gerade erst einsetzte und man das Podium der Kirche zwar mehr oder minder punktuell oder spontan - der einmaligen Chance des günstigen Moments gehorchend - nutzte, aber auch die Möglichkeiten anderer gesellschaftlicher Freiräume für sich auslotete und dabei versuchte, gewissermaßen Neuland zu gewinnen. Im Herbst 1983 wurden auch Aktionen außerhalb der Kirchen initiiert, die dann von staatlicher Seite blockiert wurden (1.9. Menschenkette von USA- zur UdSSR-Botschaft, 17.10. Wehrdienstverweigerungsaktion der Frauen auf dem Postamt Rathausstraße, 4.11. gemeinsam mit den Grünen Briefübergabe an die amerikanische und sowjetische Botschaft). Kontinuitätsdenken und Langzeitstrategien, wobei das Verhältnis zum kirchlichen Dach eine wichtige Rolle spielte, entwickelten sich erst nach dem Stationierungsherbst. Inwieweit sich Friedensbewegte Anfang 1984 unter dem Eindruck der Verhaftung von zwei Frauen für den Frieden, Bärbel Bohley und Ulrike Poppe, der Aussage der evangelischen Kirche (Gunther Krusche und Manfred Stolpe), daß Friedensaktivitäten ungestraft nur noch unter dem Dach der Kirche stattfinden könnten, vorschnell beugten, läßt sich nicht genau sagen. Es liegt auf der Hand, daß der Staat die Kirche instrumentalisierte, um die unabhängige Friedensbewegung zu dämpfen und berechenbar zu halten. Es gab nur wenige Gruppen, wie "Frauen für den Frieden", die außerhalb der Kirche entstanden waren und sich dort auch zu behaupten versuchten. Meckel stellt fest, daß gerade deren Kontaktintensität "zur Kirchenleitung von Berlin-Brandenburg so groß war, wie bei kaum einer kirchlichen GruppeGerade die Außerkirchlichkeit ihrer Gruppen befähigte sie zum intensiven Dialog, da sie - im Gegensatz zu den kirchlichen Gruppen - unbefangen waren und den Gebrauch kirchlichen Herrschaftswissens deutlich in Frage stellten. Ungefähr zu dieser Zeit setzte der schwierige Diskussionsprozeß um das Wirken unter kirchlichem Dach ein. Dabei wurden - soweit die Verfasserin weiß - keinerlei Grundsatzpapiere zwischen den "asylsuchenden"

13 Meckel (Anm. 8), S. 151. 14 Ebenda, S. 53.

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Gruppen und den sie beherbergenden Kirchgemeinden erstellt, u. a. auch deshalb, weil die Friedensbewegten stets befürchteten, sich durch schriftliche Festlegungen allzu schnell eingrenzen zu lassen. Der Freiraum für Aktionen - kirchenöffentliche Veranstaltungen - wurde jeweils am konkreten Projekt neu bestimmt. In den Diskussionen wurden Ansatz, Ziel und Wirken der Kirche immer wieder stark hinterfragt. Dieser kontinuierliche Prozeß bewirkte u.a. 1985 die Gründung einerseits der strikt außerkirchlichen "Initiative für Frieden und Menschenrechte", andererseits der "Solidarischen Kirche", die in ihrem Grundsatzpapier drei wichtige Komponenten festschrieb: Gewerkschaft in der Kirche, Gesellschaftsveränderung und Kirchenreform.

Schlußfolgerangen Die politische Diskussion um die Nachrüstung der Jahre 1982/83 erbrachte in der DDR eine gegenseitig deutliche Wahrnehmung und Annäherung kritischer Potentiale kirchlicher und nichtkirchlicher Kreise. Die Regierung der DDR, die außenpolitisch behauptete, eine Friedenspolitik zu betreiben, aber innenpolitisch die Friedensbewegung unterdrückte, verlor in diesem Zeitraum bei der Bevölkerung enorm an Glaubwürdigkeit. Der Vertrauensverlust der Jahre 1982/83 ließ sich in den Folgejahren nicht mehr kompensieren. Die unabhängige Friedensbewegung (Ost) formierte sich vor dem Hintergrund der westeuropäischen Friedensinitiativen, stand jedoch stets auch im Kontext ihrer eigenen konkreten Friedensproblematik (Forderung nach zivilem Wehrersatzdienst, Ablehnung des Wehrdienstgesetzes für Frauen, Kritik am Wehrkundeunterricht und dem paramilitärischen Erziehungsprogramm für Kindergärten etc.). Die staatspolitischen Erfordernisse jener Jahre eröffneten den kritischen und friedensengagierten Bürgern neue Freiräume und Toleranzzonen (Gruppenbildung, Sammeleingaben), die auch in der Folgezeit beibehalten wurden. Es läßt sich behaupten, daß die unabhängige Friedensbewegung 1982/83 einen schmalen Freiraum besetzte, der in den Folgejahren kontinuierlich - wenn auch nur in kleinen Schritten - erweitert werden konnte. Durch organisatorische Kontinuität (institutionelle Verankerung) und Fortführung innergesellschaftlicher Themen konnte sich aus der Friedensbewegung ein vielschichtiges Oppositionsnetz entwickeln.

Tagungsberichte Berthold Unfried (Wien)

26. Jahreskonferenz der "International Association of Labour History Institutions" (IALHI) in Moskau Die International Association of Labour History Institutions (IALHI), die Internationale der Institute zur Arbeiter- und Sozialgeschichte, veranstaltet jährlich im September eine Jahreskonferenz, auf der wechselnde Themen aus dem Tätigkeitsfeld von Forschung, Archivwesen und Museologie diskutiert werden. Vom 6. bis 9. September 1995 fand sie im "Russischen Zentrum für die Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten zur neuesten Geschichte" (Rossijskij centr chranenija i izucenija dokumentov novejej istorii, RCChlDNI, dem ehemaligen "Institut für Marxismus-Leninismus", IML) statt und beschäftigte sich naturgemäß mit den Entwicklungen der sowjetischen/russischen Archive, der historischen Bibliotheken und Museen. 1 Die Konferenz wurde von dem stellvertretenden Minister für Archivwesen der Russischen Föderation, Prof. Kozlov, dem stellvertretenden Direktor des Instituts für Weltgeschichte der Akademie der Wissenschaften, Prof Narinskij, und dem Sekretär der IALHI, Jaap Kloosterman, Direktor des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte (IISG), Amsterdam, eröffnet. Sie gaben bei dieser Gelegenheit einen Überblick über archivalische Kooperationsprojekte russischer mit westlichen Forschungsinstitutionen (u.a. Publikationsprojekt zum Kominform mit Instituto Feltrinelli, Milano^; Publikationsprojekt von Komintern-Dokumenten aus der Zeit des 2. Weltkriegs mit Universität Lausanne) und die Vermittlungstätigkeit der IALHI in diesen "joint-ventures". In letzter Zeit sind durch restriktivere Tendenzen in der russischen Archivpolitik Teile solcher Projekte ins Stocken geraten, und es ist wichtig, gerade auf internationaler Ebene die Bedeutung der Forschungskooperation in bezug auf die russischen Archive hervorzuheben. Zentraler Inhalt der Konferenz war die Information über Bestände und aktuelle Situation von Archiven, Bibliotheken und historischen Museen der ehemaligen Sowjetunion. Neben den "klassischen" kritischen Quellenpublikationen in Buchform sind serienmäßige kommerzielle Mikroverfilmungen eine wichtige Form der Veröffentlichung von Archivmaterial geworden. Anne van Kemp, Hoover-Institution, Stanford, informierte über das große Mikrofilmprojekt der Hoover-Institution mit der russischen Archivverwaltung Rosarchiv aus russischen Archivbeständen, dessen erste Serie jetzt zum Kauf angeboten wird. Parallel dazu beschäftigte sich eine Sitzung mit der Problematik der historischen Museen der Sowjetunion (Revolutionsmuseen, Lenin-Museen, etc.) und ihrer Veränderungen nach deren Zusammenbruch. Svetlana Kotova, Leiterin der Museums-Abteilung des RCChlDNI, gab einen Überblick über Geschichte und Bestände des Marx-Engels-Museums. 1962 als dritte Abteilung des IML neben Archiv und Bibliothek gegründet, wurde das Museum 1992 nach dem Zusammenbruch der alten Strukturen geschlossen. Frau Kotovas Präsentation folgte eine Führung in die Räumlichkeiten des RCChlDNI, in denen die Bestände des 1 Dem Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Kunst in Wien habe ich für die Finanzierung der Konferenzteilnahme zu danken, ohne die dieser Bericht nicht zustandegekommen wäre. 2 The Cominform. Minutes of the Three Conferences 1947/1948/1949, "Annali" della Fondazione Giangiacomo Feltrinelli (Milano) XXX/1994

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Tagungsberichte

Marx-Engels-Museums jetzt deponiert sind. Unter den rund 200.000 Objekten befinden sich neben Gegenständen aus dem Privatbesitz von Karl Marx auch eine Photosammlung (rund 20.000 Stück) und eine reichhaltige graphische Sammlung zu sozialen Bewegungen seit der Französischen Revolution. Objekte dieser außerordentlich reichhaltigen und wertvollen Sammlungen, deren Grundstock aus David Rjasanovs systematischer Erwerbstätigkeit der zwanziger Jahre stammt, stehen für Ausstellungen zu Verfügung. Im Rahmen der IALHI hat sich eine "Museum Group" konstituiert, die eine Ausstellung mit einer Auswahl aus den Beständen vorbereitet (Kontakt: M. van der Heijden, c/o IISG, Cruquiusweg 31, 1019 AT Amsterdam). Auch das Zentrale Lenin-Museum am Roten Platz wurde nach dem Umsturz von 1991 geschlossen und seine Bestände dem benachbarten (seit 10 Jahren wegen Renovierung geschlossenen) Historischen Museum überantwortet. Das (1935 vom IML separierte) Lenin-Museum galt zu Recht allgemein als Kult-Ort der Legitimierung des alten Regimes. Dementsprechend kam es in den Putschtagen des August 1991, als nebenan die Statuen von Dserzinskij und Sverdlov gestürzt wurden, zu kritischen Szenen, als KP-Sympathisanten in das Gebäude eindrangen und die Errichtung von Barrikaden forderten, was unweigerlich Attacken der Gegendemonstranten provoziert hätte. Heute noch ist der Platz vor dem geschlossenen Lenin-Museum eine Art von Hyde-Park-Corner, wo Reden gehalten werden und spontane Manifestationen stattfinden. Das zeigt, wie sehr der Ort politisch aufgeladen ist. Das Gebäude wurde 1993 für die Moskauer Duma zweckgewidmet. Die Bestände des Lenin-Museums sind in einem Depot im Haus gelagert. Mitglieder der Museum-Group konnten die Lagerräume besichtigen. Auch die Objekte des Lenin-Museums stünden, solcherart politisch dekontextualisiert, für Ausstellungsprojekte zu Verfügung. Besser als den beiden vorgenannten Museen ist es dem Zentralen Revolutionsmuseum in der Tverskaja ergangen, das seine Exposition zur Geschichte der Sowjetunion schon vor 1991 den neuen Verhältnissen angepaßt hatte. Es hat seine Räumlichkeiten behalten und eine Abteilung zur Geschichte der jüngsten Jahre seit 1985 eröffnet. Am 8. September vormittags stand ein Besuch im sogen. Spezialarchiv (Osoby-Archiv) auf dem Programm. In diesem 1946 gegründeten Archiv sind von der Roten Armee im Zuge des 2. Weltkriegs erbeutete Aktenbestände aufbewahrt. Vor 1991 war es ein Depositorium für diese Akten, dessen Existenz geheimgehalten wurde. Erst nach dem Umsturz von 1991 wurde es überhaupt bekannt und tauchte sofort aus tiefster Geheimhaltung in das Scheinwerferlicht der internationalen Öffentlichkeit. Es begannen Rückgabeverhandlungen mit Ländern, deren Archive zunächst von der deutschen Besatzungsmacht und dann von der Roten Armee erbeutet worden waren. Am bekanntesten ist der Fall der Archive des französischen Geheimdienstes Sûreté Générale, die zum größten Teil an den französischen Staat restituiert wurden (der sie übrigens gleich für die Benutzung sperren ließ). Diese Rückgaben sind in allerletzter Zeit gestoppt worden, und es besteht heute de facto nur mehr die Möglichkeit von Mikroverfilmungen. Die Bestände des Osoby-Archivs, die aus nahezu allen vom Krieg berührten Ländern stammen, lassen sich thematisch gliedern in: Dokumente staatlicher Provenienz, Dokumente politischer Parteien und Massenorganisationen, Dokumente jüdischer Organisationen (z.B. das Archiv der Kultusgemeinde Saloniki, z.Zt. im Verfilmung in einem Projekt der Universität Tel Aviv), Freimaurerdokumente, Personenarchive (darunter z.B. Rathenau, Goebbels), KZ-Akten (darunter bedeutende Bestände aus Auschwitz) und eine Spezialsammlung Kriegsgefangene und Internierte (Bestände der GUPVI, der 2. Hauptverwaltung des NKWD für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten). Die Anfertigung von Kopien (Mikrofilmen) ist lt. Auskunft des Archivdirektors Muhamedzanov unproblematisch, für Mengen über 1000 Stück hinaus ist der Abschluß eines Vertrages erforderlich (ein soi-

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ches Mikroverfilmungsprojekt größeren Zuschnitts existiert z.Zt. z.B. mit dem belgischen Archief en Museum van de Socialistische Arbeidersbeweging, Gent). Anschließend fand eine Führung durch die Bestände des Russischen Zentrums für die Aufbewahrung und Erforschung von Dokumenten zur neuesten Geschichte statt. Sie gliedern sich in vier Abteilungen: Dokumente zur russischen Geschichte, Komintem-Archiv, Dokumente zur Geschichte der europäischen Arbeiterbewegung und eine Museale Abteilung (s.o.). Der bekannteste und von "westlichen" Forscherinnen und Forschern am häufigsten benützte Bestand ist das Komintern-Archiv, der mittlerweilen international allgemein bekannt sein dürfte. Nach einer Zeit großer Liberalität des Zugangs zu den Dokumenten sind in letzter Zeit einige Fonds wieder für die allgemeine Benutzung gesperrt worden. In der Abteilung zur russischen Geschichte befinden sich als Allerheiligstes der Nachlaß von Lenin, so bedeutende Bestände wie die Archive der Leitungsorgane der KPdSU (resp. WKP/B) bis 1952, Nachlässe von Parteiführern wie Stalin (kleiner Teilnachlaß), Bucharin und Dserzinskij oder von David Rjasanov, Direktor des Marx-Engels-Instituts in den zwanziger-Jahren, der den Grundstock der Archivsammlungen durch eine umfangreiche Erwerbstätigkeit auf der ganzen Welt, u.a. auch in Österreich, legte. Am Nachmittag des 8. September fand eine Besichtigung der "Staatlichen Gesellschafts-Politischen Bibliothek" (Gosudarstvennaja Obestvenno-Politieskaja Biblioteka, der ehemaligen Bibliothek des IML) in Moskau-Ostankino statt. Sie besitzt rund zwei Millionen "Konservierungseinheiten", das sind neben Bücherbänden Periodica, Illustrationen und Flugblätter zu als "Vorläufer" des Kommunismus eingestuften sozialen Bewegungen wie den Bauernkriegen, der Französischen Revolution, den britischen Chartisten, der Revolution von 1848, der Commune von Paris und der I. Internationale sowie der europäischen Arbeiterbewegung des 19. und 20. Jahrhunderts. Kern der Bibliothek bilden einmal mehr die Sammlungen von David Rjasanov. Ihre Bedeutung kann man auch daran ermessen, daß sie bis vor kurzem ein Pflichtexemplar von Publikationen zur Sozialgeschichte bekam. Heute ist der Erwerb ausländischer Literatur aus finanziellen Gründen minimal, und nur wenige Besucher nehmen den weiten und beschwerlichen Weg zu dieser für unsere Verhältnisse riesigen Bibliothek auf sich. Abschließender Programmpunkt der Konferenz war eine ganztägige Exkursion zu dem Museumskomplex an Lenins Sterbeort Gorki Leninskie außerhalb Moskaus. Das unmittelbar nach Lenins Tod zu einem Museum umgewandelte Gut, in dem Lenin seine letzten Lebensmonate verbrachte, dokumentiert eindrucksvoll die russische/sowjetische Konzeption von "Museen" als Orte, "an denen die Zeit stehenbleibt und alles so bleibt, wie es (im gegenständlichen Fall zur Stunde von Lenins Tod, an der symbolisch alle Uhren im Haus angehalten wurden) gewesen ist". Das Museum ist ein Ort voller Reliquien: Lenins Auto, Lenins Rollstuhl, seine Stiefel, Lesebrille, Mütze, die eine Atmosphäre des Sakralen verströmen, der man sich schwer entschlagen kann. In einem monumentalen Ausstellungsgebäude im Stil eines ägyptischen Tempels wird noch einmal die Geschichte Lenins und der KPdSU im alten Stil präsentiert. Allerdings gibt es praktisch keine Besucher mehr. Gehörte ein Besuch früher zum gesellschaftlichen Fixprogramm, so verirren sich heute nur sehr gelegentlich Besucher in das von der Stadt recht weit entlegene Museum. Die gegenwärtigen Machthaber würden den Komplex, der so authentisch den Geist des alten Regimes verkörpert, am liebsten zusperren. Einstweilen wird es auch als Depot benützt. In das Museumsareal von Gorki wurden neuerdings das Lenin-Arbeitszimmer und das Sitzungszimmer des Rats der Volkskommissare aus dem Kreml transferiert. Es ist eine internationale Aufgabe, auf die Bedeutung des Museumskomplexes von Gorki Leninskie als Zeugnis einer Epoche der russischen und der Weltgeschichte aufmerksam zu machen und seinen Schutz einzufordern.

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Die Moskauer Konferenz der IALHI gab einen außerordentlich interessanten Einblick in Bestände von Moskauer Archiven ünd von Museen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, die von größter Bedeutung für die internationale Forschung sind. Möglichkeiten zur Nutzung und zur Kooperation ergeben sich auf verschiedenen Ebenen: im musealen Bereich durch Expositionen, im archivalischen und bibliothekarischen Bereich durch die forschungsmäßige Nutzung, den Austausch und die Mikroverfilmung von Materialien sowie die weitere Recherchierung in der Sowjetunion dislozierter europäischer Archiv-, Bibliotheks,- und musealer Bestände. Wie man sich leicht vorstellen kann, ist die finanzielle Situation aller genannten russischen Institute bitter bis dramatisch, und das gegenwärtige gesellschaftliche Interesse an ihrer Tätigkeit und ihren Sammlungen gering. Niemand von den russischen Kolleginnen und Kollegen kann im übrigen von dem gebotenen Salär leben. Internationales Interesse und internationale Kooperation sind notwendig, um dieses Stück Kulturerbe vor der Verschleuderung und dem Absinken in das Vergessen zu bewahren.

Franz-Josef Hutter (Mannheim)

Kommunistische Säuberungen Unter dem Titel "Intentionen, Methoden und Dimensionen innerparteilicher Säuberungen im kommunistischen Herrschaftssystem" fand am 25. und 26. Februar 1996 ein Workshop deutscher, russischer und tschechischer Forscher im Internationalen Begegnungszentrum der Universität Mannheim statt. Den Ausgangspunkt der Diskussionen bildete die Überlegung, daß der Kommunismus nach einem Wort von Hermann Weber "die einzige Bewegung in der Geschichte war, die selbst mehr ihrer eigenen Führer, Funktionäre und Mitglieder umgebracht hat als dies ihre Gegner taten." In seinem Eröffnungsreferat umriß Hermann Weber (Mannheim) Voraussetzungen und Entwicklungen der kommunistischen Säuberungen in der Sowjetunion, der Komintern und den darin organisierten europäischen kommunistischen Parteien. Er betonte, daß es in den Parteien nur die Alternative gab, hundertprozentig mitzumachen oder aber nicht dazu zu gehören; eine Teilopposition war nicht möglich. Dies bewirkte die Herausbildung bürokratisch-diktatorischer Strukturen in den zwanziger Jahren in der Sowjetunion und zugleich in den übrigen kommunistischen Parteien und führte zur Förderung eines neuen Funktionärstyps, "der jederzeit bedingungslos die (oft wechselnde) politische Linie mitmachte, der sich freiwillig unterordnete und als Parteisoldat Disziplin hielt". Hand in Hand mit dem ideologischen Terror entwickelte sich der organisatorische Terror, in dessen Anwendung die Begründer der kommunistischen Bewegung in der Sowjetunion von ihren Nachfolgern in Schauprozessen abgeurteilt wurden. Die drei großen Schauprozesse der dreißiger Jahre bildeten den Abschluß der gesellschaftlichen Entwicklung zum System des Stalinismus, stellten jedoch nur die Spitze eines Eisberges dar: Im Zuge der Säuberungen erfolgte der personelle Umbau des gesamten Funktionärskorps. Dieses stalinistische System, und damit auch die Säuberungspraxis, wurden nach 1945 auf alle osteuropäischen Staaten und die SBZ/DDR übertragen. Zwar gab es nach Stalins Tod keine großen Schauprozesse mehr, doch gehörten innerparteiliche Säuberungen bis zum Zusammenbruch des Kommunismus zur politischen Praxis der kommunistischen Parteien. Anknüpfend an die Ausführungen Webers hob Aleksandr Watlin (Moskau) in seinem Beitrag über "Kaderpolitik und Säuberungen in der Komintern 1929-1943" besonders den Aspekt der Kaderpolitik durch Parteisäuberungen hervor. Er sah die Stoßrichtung weniger in der Bestrafung von Funktionären als in der

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Auswahl und Erziehung der Kader; nach seinem Ansatz ist in den Säuberungen ein wesentliches Moment der Elitenrekrutierung zu sehen. Nach dem leninschen Konzept der Partei neuen Typs, das den kommunistischen Parteien eine Avantgardefunktion zuschrieb, sollte die Partei unter anderem auch den Staatsmechanismus effektiver gestalten. Damit in Zusammenhang stand stets eine Bekämpfung staats- und parteibürokratischer Tendenzen, wofür Säuberungen im Sinne einer Selbstreinigung geradezu als "Wunderwaffe" angesehen worden seien. Im Zuge der Gleichschaltung der Komintern und der kommunistischen Parteien zum sowjetischen System erfolgte die Übernahme der Säuberungsmechanismen; dies wurde auf den Kreis der Politemigration ausgedehnt, um die Voraussetzungen für deren politische Tätigkeit unter der Schirmherrschaft der siegreichen Sowjetarmee in den eroberten und befreiten Territorien zu schaffen. Gennadij Bordjugow (Moskau) präsentierte ein Phasenmodell für die Entwicklung der Sowjetunion von der Oktoberrevolution bis Ende der dreißiger Jahre. Während es 1918/19 einen klar definierten äußeren Feind für die russischen Kommunisten gegeben habe, verschwand dieser Feindbezug Anfang der zwanziger Jahre. Nun traten innerparteiliche Widersprüche, vor allem im Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik, in den Vordergrund. Dies führte Mitte der zwanziger Jahre, bei weitgehendem Fehlen eines äußeren Feindes, zu Kämpfen in der Partei. Ende der zwanziger/Anfang der dreißiger Jahre wurde dann der "Klassenfeind" innerhalb der Partei zum neuen Feindbild. In dieser Periode erfolgte parallel zu innerparteilichen Säuberungen die Zerstörung der Bauernschaft. Danach habe es eine relativ "milde" Etappe gegeben. Dominant in diesem Zeitraum war das Zentrum-Peripherie-Problem in der Verwaltung; Stalin unterstellte die Provinzen unter ein starkes Zentrum. Nunmehr sei die UdSSR keine Lokomotive der Revolution mehr gewesen, sondern "nur noch imperialistische Macht". Ab 1936 stand dann der "künstlich erfundene neue Feind Trotzkismus" im Mittelpunkt. Nun wurden die Säuberungen in der Partei und in der Gesellschaft eng miteinander verknüpft. Im Anschluß an dieses Entwicklungsmodell lieferte Natalija Mussijenko (Moskau) eine kurze Fallstudie zu den deutschen Opfern der russischen Säuberungen. Zur Kaderpolitik und den Säuberungen in der KPdSU nach 1945 führte Jelena Subkowa (Moskau) aus, daß weniger eine Kontinuitätslinie zu den Vorkriegssäuberungen von Bedeutung sei als vielmehr die großen quantitativen und qualitativen Veränderungen in der Zusammensetzung der Partei durch zahlreiche Eintritte von Mitgliedern in der Kriegszeit. Gleichzeitig waren während des Krieges die Partei und die Wirtschaftsverwaltung stärker miteinander verwachsen, und nun habe der Partei ein Kontrollverlust gedroht. Charakteristisch für die Kaderpolitik und das Mittel der Säuberungen sei jetzt ein Übergang von Massenrepressalien hin zu "Erziehungsmaßnahmen" gewesen. KPdSU und UdSSR hätten sich nun in einer Umbruchphase befunden. In der vom Krieg tief getroffenen Gesellschaft gab es zahlreiche Reformbestrebungen, die bis weit in die Partei hineinreichten. In der Parteiführung habe es einen regelrechten "Kampf um die Macht in Stalins Umgebung" gegeben, womit alle Säuberungen ursächlich auch zu tun gehabt hätten. Ulrich Mahlert (Mannheim) gab einen Überblick über den derzeitigen Stand eines laufenden Mannheimer Forschungsprojektes zu Säuberungen in Osteuropa nach 1945. Er betonte als wesentliche Moskauer Intentionen dieser Säuberungen die Gleichschaltung der kommunistischen Parteien nach dem Vorbild der KPdSU und damit die Sowjetisierung Osteuropas und der SBZ/DDR. Als wichtigste Methoden dienten dazu die Konstruktion einer angeblichen Verschwörung zur Schaffung eines Klimas des "verschärften Klassenkampfes". Damit wurde die Inszenierung von Parteisäuberungen bis hin zu Schauprozessen ermöglicht. In diesem Rahmen konnten sich die jeweiligen nationalen kommunistischen Parteien zu einer Partei neuen Typus transformieren und ihren umfassenden Anspruch auf die führende Rolle der Partei in allen Bereichen von Staat, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft durchsetzen. "Unzuverlässige" Mitglieder konnten ihrer Funktionen enthoben oder auch ausgeschlossen werden, wodurch Raum geschaffen war für die Etablierung eines neuen Funktionärskorps ohne gewachsene politische Loyalitäten; somit fand ein gesteuerter Gene-

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rationswechsel in den einzelnen Parteien statt. Neben die Durchsetzung der kommunistischen Organisationsprinzipen trat schließlich vor allem die permanente Mobilisierung der Parteimitglieder durch einen "Zwang zur Aktivität". Zu den politischen Säuberungen in der KPTsch und in der tschechoslowakischen Gesellschaft führte Frantisek Svätek (Prag) aus, daß sich die KPTsch schon in der Zwischenkriegszeit zu einer Massenpartei entwickelt hatte und zum Ende des Krieges keine bolschewistische Partei im eigentlichen Sinne mehr war. Im Lauf der Jahre hatte sich jedoch innerhalb dieser Massenpartei eine Kaderpartei herausgebildet, die rasch dominierend wurde. Wie auch in den anderen osteuropäischen Ländern seien die Parteisäuberungen nach 1945 vor allem mit dem Übergang der Partei zur Staatspartei in Zusammenhang zu sehen. Hier wurde nun das Modell der Kaderpartei auf die Gesamtpartei übertragen. Als besonders betroffene Gruppe in der Tschechoslowakei sind, ähnlich wie in Ungarn, besonders die zahlreichen ehemaligen Westemigranten und Spanienkämpfer hervorzuheben. Eine weitere Eigentümlichkeit der Tschechoslowakei ist schließlich darin zu sehen, daß dort die Säuberungen erst 1955/56 ein Ende fanden, nicht nur mit der einsetzenden Rehabilitierung der Opfer, sondern mit der Aburteilung derjenigen, die die Schauprozesse von 1949/52 initiiert hatten. Akiro Saito (Tokio) erweiterte die europäische Perspektive mit einer kurzen Skizzierung des Forschungsstandes zu kommunistischen Säuberungen in Japan. Bisher sei dieser vor allem auf Arbeiten über japanische Kommunisten beschränkt, die Opfer in den stalinschen Säuberungen in der UdSSR der dreißiger Jahre wurden. Diese Arbeiten seien oftmals von Journalisten verfaßt und würden wissenschaftlichen Standards kaum gerecht. Da jedoch Japans KP weiterhin sehr einflußreich insbesondere unter den Akademikern des Landes sei, könne mit einer Verbesserung der Forschungssituation in den nächsten Jahren kaum gerechnet werden. In den Diskussionen zu den Beiträgen war die Frage nach Kontinuitäten und Diskontinuitäten der Säuberungspraxis zwischen den zwanziger und den frühen fünfziger Jahren umstritten. Insbesondere über die Frage, ob es sich in Osteuropa und der SBZ/DDR nach 1945 um eine Art nachgeholter Entwicklung der Sowjetpolitik der zwanziger/dreißiger Jahre gehandelt habe, konnte keine Einigung erzielt werden. Für diese These spricht sicherlich, daß eine Reihe von Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen der sowjetischen Entwicklung der zwanziger und dreißiger Jahre nach 1945 auch in den anderen Staaten des kommunistischen Machtbereichs vorzufinden sind. Andererseits besteht auch die Gefahr, Parallelen überzubetonen und beispielsweise sprachliche Eigentümlichkeiten des russischen Politikstils unbesehen ins Deutsche zu übertragen. Nimmt man als zentrales Moment den Aspekt, daß Parteisäuberungen immer dann, wenn eine kommunistische Partei auch die Macht in einer Gesellschaft übernommen hatte, eine neue Qualität erhalten haben, weil ein Ausschluß aus der Partei wegen "Sabotage" oder "Spionage" dann immer auch einen "Ausschluß" aus der Gesellschaft bedeutete, dann überwiegen sicher die Gemeinsamkeiten. Egbert Jahn (Mannheim) verwies hier auf die Schwierigkeiten eindeutiger Begriffsdefinitionen und hob hervor, daß sich die Dimensionen der Säuberungen im Zeitverlauf änderten, sowohl hinsichtlich der davon betroffenen Personen als auch hinsichtlich der von ihnen ausgeübten Funktionen. Nicht immer waren sowohl Parteimitglieder als auch Funktionäre oder gar politische Führungsfiguren Objekte von Parteisäuberungen. Als Leitfragen für die kommenden Forschungen ergab der Workshop zum einen, was das Wort Säuberung zu welchem Zeitpunkt je konkret bedeutet habe, zum anderen, wann Parteisäuberungen zu staatlichen Säuberungen wurden, wann also beispielsweise aus einem "Abweichler" ein "Hochverräter" wurde.

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Clemens Burrichter (Berlin)

Nachlese zu einem historischen Datum Seit der Jahreswende 1995/96 fand eine Fülle von Veranstaltungen zur fünfzigjährigen Wiederkehr des Zusammenschlusses von SPD und KPD zur SED im April 1946 statt, die auch in den Medien und der Bevölkerung (vor allem des Ostens) vielfältige Reaktionen fanden. Inzwischen ist das Thema offensichtlich "out", obwohl das eigentliche Problem - das aktuelle und zukünftige Verhältnis zwischen der SPD und der PDS weiterhin und ungeklärt aktuell ist. Unter diesem Aspekt soll hier speziell auf zwei Veranstaltungen kurz eingegangen werden: Auf das repräsentative Forum der Historischen Kommission der SPD vom 14. und 15. März 1996 im Berliner Rathaus zum Thema "Freiheit oder Einheit? Die Zwangsvereinigung von SPD und KPD und die Folgen" und auf eine regionale SPD-Veranstaltung in Magdeburg am 30. März 1996 zum Thema "50 Jahre Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED - Ein offener Blick in die Geschichte". Der vehemente Streit um den Begriff "Zwangsvereinigung" hat zumeist das eigentliche politische Problem übersehen lassen, das Jorge Semprun einleitend zur Berliner Konferenz mit dem Hinweis thematisierte, daß die "totalitären Bewegungen dieser Epoche" dadurch gekennzeichnet seien, "das demokratische System zu zerstören", und zwar mit zynisch genutzten machtpolitischen Methoden. Hinterfragt man die heutigen (Er-)Kenntnisse über die Auseinandersetzungen zwischen der SPD und der KPD in der SBZ hinsichtlich ihrer strategischen Konzepte, dann wird deutlich, daß die Akteure der "Gruppe Ulbricht", deren sowjetische Steuerleute und deren deutsche Helfershelfer zuerst die "Machtergreifung" im Blick hatten, während die Sozialdemokraten sich dem materiellen und politischen Wideraufbau nach den Regeln (sozial-)demokratischer Prinzipien verpflichtet wußten. Die Berliner Konferenz präsentierte mit 21 (!) Referenten und Podiumsteilnehmern den Stand der Meinungen und der Forschung. Die Kernfrage (Semprun) wurde aber nicht konsequent genug gestellt. Wenn man nämlich wohlbegründet feststellen kann, daß es im Vorfeld der "Fusion" von Seiten der KPD und der SMAD "Momente des Zwangs, des Terrors, der Manipulation und der Korrumpierung" gegeben habe (Bernd Faulenbach), dann ist das Beleg für die zutiefst undemokratische Grundhaltung der KPD-Spitzenakteure. Heute wissen wir verbürgt, daß dieses antidemokratische (Macht-)Politikverständnis keine Ausnahmeerscheinung der frühen Nachkriegsgeschichte war, sondern das Wesen dieser Machtelite bis zu ihrem unrühmlichen Ende kennzeichnet. Das aber bedeutet, daß die politischen Erben der SED für ihren Eintritt in die parteipolitische Arena dieser Republik den überzeugenden Beleg erbringen müssen, einen politischen Paradigmenwechsel vollzogen zu haben. Dazu reichen wortgewaltige Programmpapiere nicht aus. Eine demokratische Grundhaltung ist nicht schon dann gewährleistet, wenn man aufgrund veränderter politischer Rahmenbedingungen das entsprechende Vokabular benutzt. In seinem abschließenden Resümee der Berliner Konferenz hat Wolfgang Thierse das Demokratieproblem angesprochen, aber zu sehr auf die "innerparteiliche Demokratie" der PDS abgestellt. Diese Fragen sind notwendig, aber nicht hinreichend: Es geht um das demokratische Bewußtsein dieser Partei, und das läßt sich nur aus ihren Aktionen und politischen Entscheidungen herauslesen. Auf der Magdeburger Konferenz standen regionale Geschehnisse im Vordergrund. Neben einer gut dokumentierten Analyse des Weges "der Magdeburger SPD in die Zwangsvereinigung" von Ingtun Drechsler waren gerade die Berichte von Zeitzeugen deswegen bedeutsam, weil dabei die Strategie der KPD und vor allem der SED belegt wurde, nämlich die systematische Vernichtung der Sozialdemokratie und der Sozialdemokraten nach der "Zwangsvereinigung". Wenn es noch der Belege über den totalitären Charakter der

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KPD/SED-Machteliten bedurft hätte, diese historischen Fakten wären ausreichend genug. Die sozialdemokratische Alternative zur kommunistisch/stalinistischen Parteiideologie und Machtpolitik sollte mit allen Mitteln systematisch ausgeschaltet werden. Hier gibt es - neben vielen Einzelstudien - noch deutlichen Forschungsbedarf und eine daran anknüpfende demokratietheoretische Auseinandersetzung mit der PDS. Es wäre politisch unklug, das Thema "Zwangsvereinigung" nun bis zum nächsten kalendarischen Anlaß ruhen zu lassen. Die Sozialdemokratie hat nämlich die demokratischen Pflicht, den eben erst mühsam begonnenen Weg der PDS in eine pluralistisch-demokratische Parteienlandschaft kritisch und herausfordernd zu begleiten. Die übrigen Parteien in dieser Republik sind dazu nicht geeignet, denn sie haben die analoge Aufgabe gegenüber ihren ostdeutschen (Block-)Parteifreunden noch nicht einmal begonnen.

Robert F. Goeckel (Geneseo, NY)

Die Russisch-Orthodoxe Kirche und der sowjetische Staat 1917-1991 Das 5. Berlin-Brandenburgische Staat-Kirche-Kolloquium des Instituts für Vergleichende Staat-Kirche-Forschung vom 22.-24. Mai 1996 in Berlin, dieses Mal gemeinsam veranstaltet mit der Berlin-Brandenburgischen Auslandsgesellschaft, mit Referenten und Gästen aus den USA, aus Rußland, Großbritannien, der Schweiz, Finnland, Dänemark und Deutschland war dem Thema "Die Russisch-Orthodoxe Kirche und der Sowjetstaat in sieben Jahrzehnten" gewidmet. Damit setzte das Institut seinen Forschungsansatz fort, die DDR-Kirchenpolitik nicht isoliert sondern im Kontext der historischen Entwicklungsprozesse im Ostblock zu analysieren - so geschehen auf der Tagung 1995 mit dem Thema "Der Weg der katholischen Kirche in verschiedenen realsozialistischen Ländern in den Jahren 1945 bis 1948/49 - ein historischer Vergleich". Nach einführenden Worten des Institutsleiters Horst Dahn (Mannheim) thematisierte Elke Scherstjanoi (Potsdam) in ihrem systematisch angelegten Eröffnungsvortrag "Grundzüge der sowjetischen Innen- und Außenpolitik" in drei Komplexen sieben Jahrzehnte sowjetische Geschichte. Zunächst erörterte sie die Frage nach dem Stellenwert von Krieg und Frieden in der sowjetischen Außenpolitik, sodann die Frage, wie die Bolschewiki mit "Revolution, Herrschaft und Macht" in ihren gesellschaftspolitischen Konzepten und in der Praxis umgingen. Welches Menschenbild und welcher Fortschrittsbegriff die Politik der Machteliten in der Sowjetunion prägten, bildete den dritten Komplex ihrer Ausführungen. Der zeitlichen Abfolge der historischen Entwicklungsetappen der Sowjetunion (1917-1939, 1939 -1953, 1953-1991)) folgten die speziellen Fachvorträge. Im Mittelpunkt des Referats von Edward Roslof (Dayton/USA) stand die innerkirchliche Auseinandersetzung zwischen den sogenannten Erneuerem, einer den Bolschewiki politisch loyal ergebenen Reformergruppe, und der Moskauer Patriarchatskirche. Dabei wurde auch die Instrumentalisierung dieses Konflikts für den Kampf des staatlichen Machtapparats gegen die "offizielle" Kirche herausgearbeitet. Bediente sich Roslof zur Deutung der Rolle der Russisch-Orthodoxen Kirche (ROK) in diesen Auseinandersetzungen mit der innerkirchlichen Opposition und dem Staat soziologischer Interpretationsansätze (Neo-Institutionalismus und Isomorphismus), so analysierte Gregory Freeze (Waltham/USA) auf der Grundlage unveröffentlichter Quellen sehr ausführlich die zunächst sehr repressive und dann etwas moderatere Religions- und Kirchenpolitik von Partei und Staat in der Ukraine während der zwanziger Jahre. William Husband (Corvallis/USA) behandelte aus der Perspektive von unten, das. heißt auf der lokalen Ebene die verschiedenen Formen des Widerstandes (wie Berufung auf die sowjetische Religionsgesetz-

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gebung, Anwendung von physischer Gewalt gegen die Schließung von Kirchen, die Verbrennung von Ikonen etc.) gegen die atheistische Agitation und Propaganda sowie antikirchliche Praxis der Bolschewiki in den Jahren 1917 bis 1934. Im 2. Weltkrieg begann eine neue Phase in den Staat-Kirche-Beziehungen, an derem Anfang der Empfang der drei leitenden Bischöfe der Russischen Kirche durch Stalin am 4. September 1943 stand. Daniel Peris (Laramie/USA) untersuchte dieses wichtige kirchenpolitische Ereignis und dessen für die ROK positive Auswirkungen in den von den deutschen Truppen nicht okkupierten Gebieten der Sowjetunion, und hier vor allem auf der lokalen Ebene. Die Reaktivierung des kirchlichen Gemeindelebens zeigte sich zum Beispiel in der Wiederzulassung von Ikonen-Prozessionen, der Erlaubnis kirchlicher Heiraten, der zunehmenden Zahl von Gottesdiensten etc. Nikolai Lissowoi (Moskau) warnte in seinem Referat "Die Verlagsabteilung/Publikationsabteilung des Moskauer Patriarchats 1945-1995") vor einer Überbetonung der kirchenpolitischen Bedeutung des Treffens von 1943 ("eine historische Unvermeidbarkeit") und wies auf Anzeichen einer "Liberalisierung" staatlicher Kirchenpolitik bereits in der Zeit ab 1941 hin - Liberalisierungstendenzen, die sich u.a. in den verbesserten Möglichkeiten der Verlagsarbeit des Moskauer Patriarchats zeigten. Das jahrzehntelange Wirken des Leiters der Verlagsabteilung, des Patriarchen Pitirim, wurde von dem Referenten positiv gewürdigt, während Gerd Stricker (Zollikon/Schweiz) in seinem Vortrag "Metropolit Pitirim von Wolokolamsk und seine Öffentlichkeitsarbeit in der Ökumene" ein sehr kritisches Bild dieses "Kirchenfürsten" zeichnete. Anhand von Archivmaterial beschrieb Olga Wassiljewa (Moskau) sehr anschaulich die Versuche der Partei-, und Staatsführung nach dem Krieg, die ROK für ihre außenpolitischen Ziele zu instrumentalisieren.. Stalin ging es dabei darum, die nationalen orthodoxen Kirchen zusammenzuschließen ("Russisch-Orthodoxer Vatikan") und auf dieses Weise ein "politisches" Gegengewicht zum Vatikan in Rom zu schaffen. Walerij Alexejew (Moskau) untersuchte die Hoffnungen der ROK nach dem Tod Stalins auf eine Fortführung des "Dialogs" mit dem Staat. Anhand von ZK-Akten erörterte der Referent die innerhalb der Parteiführung aufgetretenen erheblichen Differenzen auf dem Feld der Kirchenpolitik: Während G. Malenkow für einen gemäßigten Kurs plädierte, votierte N. Chruschtschow für eine repressive Politik gegenüber der ROK, eine Politik, die er dann auch durchsetzte, nachdem er sich 1957 gegenüber seinen innerparteilichen Widersachern, darunter Malenkow, durchgesetzt hatte. Die Politik der ROK in der Ökumene seit den sechziger Jahren, vor allem die Dialoge auf den Feldern der Theologie und Sozialethik mit der anglikanischen Kirche, der EKD, der römisch-katholischen Kirche etc. erörterte Thomas Bremer (Berlin) in einem inhaltlich dichten Referat. Die Geschichte des Mitteleuropäischen Exarchats in Berlin thematisierte Bernd Fischer (Berlin). Weitere wichtige Beiträge zu Fragen des kirchlichen Selbstverständnisses, der Zielsetzungen, Aufgabe und Praxis der ROK in der Etappe der Perestroika und in der Anfangsphase nach dem Ende der Sowjetunion leisteten Vladimir Fjedorow (Sankt Petersburg), "Theologische Schule und Gesellschaft in Sankt Petersburg in den siebziger und achtziger Jahren", Hans-Dieter Döpmann (Berlin) mit seinem Referat "Neuansätze beim Landeskongreß der ROK 1988"), Paul Steeves (Deland/USA), "Die Heiligsprechung des Patriarchen Tiphan (1989) als Ausdruck des Neuen Denkens in der Glasnost-Ära", Jane Ellis (Oxford/Großbritannien), "Die ROK von 1989-1991", Denis Alexejew (Moskau), "Positionen Gorbatschows und Jelzins gegenüber Kirche und Religion", sowie Erzbischof Feofan mit einer Gegenwartsbetrachtung zur ROK. Unter dem Blickwinkel einer vergleichenden Betrachtungsweise zeigte die Tagung, daß es in bezug auf Selbstverständnis und institutionelle Stärke der Kirchen in der Sowjetunion und in den Ostblockstaaten erhebliche Unterschiede gab, desgleichen auch in der Kirchenpolitik der Machteliten in den einzelnen kommunistischen Ländern.

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Auf dem Feld der staatlichen Außenpolitik lassen sich demgegenüber Parallelen erkennen, nämlich die Versuche der Parteien und Regierungen in den Ländern des Ostblocks, die Kirchen unter dem Zeichen eines gemeinsamen Friedensinteresses für ihre Politikziele zu vereinnahmen. Auch das Phänomen der Zusammenarbeit von Geistlichen und anderen kirchlichen Mitarbeitern mit den staatlichen Sicherheits- und Überwachungsapparaten war nicht auf die DDR beschränkt sondern auch in der Sowjetunion nachweisbar. Die Forschung auf diesem Sektor steckt noch in den Anfängen und zwar vor allem deshalb, weil - anders als beispielsweise in Deutschland - die Zugänge zu den russischen Archiven (Politbüro, KGB, Kirche) stark eingeschränkt sind. Die auf hohem Niveau und teilweise sehr kontrovers geführten Diskussionen machten deutlich, daß die Aufarbeitung der Geschichte der Staat-Kirche-Beziehungen in der Sowjetunion wie in der DDR heute in Rußland wie in Deutschland genauso nötig wie schwierig ist.

S ammelrezensionen Frank Cain (Canberra)

Australian Communism Aarons, Eric: What's Left? Memories of an Australian Communist. Penguin Press, Melbourne 1993, 253S. Freney, Denis: A Map of Days Life on the Left. William Heinermann Australia, Melbourne 1991, 403 S. Symons, Beverly/Wells, Andrew/Macintyre, Stuart (Compilers): Bibliography. National Library of Australia 1994, 260 S.

Communism in Australia. A

Resource

The Communist Party of Australia (CPA) ended 70 years of existence when it agreed to dissolve at its final congress in March 1991. Its funds were placed in a trust account and what records and papers it retained over the years were lodged in the Mitchell Library within the State Library of New South Wales in Sydney. This book tells of the experiences of Eric Aarons (born in 1919) from the time he joined the Party in the late 1930s until its dissolution in which he played an active part. Eric abandoned his career as a scientist to become a full-time official of the Party in 1946. He occupied a variety of positions rising to become national secretary and later national president. In response to the declining fortunes of the Party, Eric became the editor and printing machine operator for the Party's national paper, the Tribune. Eric remarks in the book that the high-point for the Party in Australia (as in the world generally) occured in the years between 1929 and 1949. It was a period when the Party's ideology and policy was of significant relevance to the political and economic events of those two decades. The Great Depression, the Flourishing of Fascism, the Second World War and the Party's vision of building a new social order in the post-war years inspired millions of people in Australia - as it did in other countries. The Party's membership in Australia grew to its maximum of 20,000. Its influence expanded in the trade unions and cultural areas. In some ways this success led to its undoing in Australia. Its bitterest enemies of the pre-war years re-emerged to renew the attacks on the Party and its members. The Catholic Church and right-wing groups in the Australian labour movement aided by the non-Labor Party governments exploited the tensions surrounding the events of the Cold War years to have the Party banned in Australia. They came within a few thousand votes in a national referendum of having the Australian constitution amended to provide a permanent ban on the Party. An interesting episode in the Party's history concerns its relationship with the Chinese Communist Party after it came to power in 1949. Aarons was sent to China as the leader of a group of Party members to study in Beijing at the Party's Liaison Bureau from 1951 to 1954. His chapters dealing with that experience provides interesting insights to the unique ideology and psychology that determined the nature of the relationships between the individual and the Chinese Party. The CPA maintained friendly associations with both the Moscow and Beijing Parties, but the tensions that developed between those two giants after 1960 led to some in the CPA splitting away to form a new Party with the name Communist Party of Australia

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(Marxist-Leninist). The Cultural Revolution was to heighten the hostility and isolationist policies China thereafter adopted towards the communist world. The trend of world events in the 1960s such as the Vietnam War, the destruction of the Communist Party in Indonesia and the killing of thousands of its members but more the invasion of Czechoslovakia in 1968 all had a destabilising effect on the CPA. New cultural forces were emerging such as youth radicalism, the environmental movement and feminism all of which the CPA hoped to be able to harness in some way while remaining in a vanguard role. Criticisms by CPA members of the unbending Moscow-CPSU policies led a minority of pro-Moscow members to split away in 1971 to form a pro-Moscow Party named The Socialist Party of Australia. The CPA maintained international links with other Parties. The Australian Labor Party (ALP) won government in 1972 and implemented overdue reforms. The Communist countries increased rather than lessened their bureaucratic behaviour all of which contributed to a reduction in support for the CPA. The electoral successes of the ALP led to it being perceived by political activists as the centre for introducing economic change. Because the CPA inspired many ideas in the left of the ALP, its demise has had an important effect on the ALP. This Party's parliamentary wing has been captured by the theories of the economic rationalists. This has led to the unemployment of one million people, pegged wages and a huge deficit in the balance of trade as manufacturers moved their factories to Asian countries to profit from the low labour costs. Eric ignores the impact of these significant economic changes and fails to appreciate that the CPA dissolved itself too soon. There is more need for a radical left party in the post Cold War years than ever before. Denis Freney's book represents an up-dating of Eric's book told from the view-point of the following generation of Communist Party activists. Denis was born in 1936 of working class parents but with the aid of a scholarship he completed a university arts degree and became a history teacher. He joined the CPA at University, but was expelled from it in 1956 after demanding a wider debate of Kruschev's denunciation of Stalin. He became involved with the Trotskyists (all four of them) in Sydney and their Fourth International and travelled to Germany to attend in high secrecy, the world congress of the few activists then attached to the International from Bolivia, Ceylon, India, Holland and Denmark. He then travelled to South Africa in an unsuccessful effort to revive the International's contacts there and afterwards went to Morocco where he worked for Michel Pablo and the FLN's Left Wing in the Algerian Press Service during the Algerian Revolution. After further activism he returned to Australia, rejoined the CPA and became active in the Party's opposition to Australia's participation in the Vietnamese War. This has been a high point in the history of the Australian left. It was marked by protests, demonstrations, teach-ins, street marches and had the effect of moving much of the Australian middle class away from support for the War and to becoming voters for the Australian Labor Party (ALP). The enthusiasm for mass-action faded quickly and although the CPA was in the vanguard of the protest movement against the War it gained little recognition for its efforts and continued to be regarded as a Stalinist organisation. This was a misinterpretation because all the Moscow hard liners had departed to establish their own Party (the Australian Socialist Party) and the CPA emerged as a truly nationalist radical left Party. Denis became involved in other activities then considered radical in 1972 such as supporting the demands of the Australian Aborigines for the abolition of discrimination against them and to be given land and rights. He and his fellow demonstrators, both black and white, were bashed by police on street marches. With the passage of time such issues as Aboriginal land rights have become politically accepted and a large administrative and legal establishment has been introduced to ensure their implementation.

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Support for the independence movement of the East Timorese against the invasion and occupation of East Timor by the Indonesian military was taken up by Denis and the CPA. The Australian government has unfortunately recognised the Indonesian military conquest. Like other issues, however, time is on the side of the East Timorese and the freedom that Denis and the CPA (now dissolved) were struggling for may be given back to an independent East Timor through world pressure (and the US Congress). This book is a biography of a nearly sixty-years old radical who has participated in many issues of left radicalism and Communism in the last thirtyfive years. This personal interpretation gives a more interesting treatment to the issues discussed by Eric Aarons and introduces the reader to other social issues such as the development of the gay movement, that Denis became a participant in. The two books give an excellent insight to the CPA from the viewpoint of dedicated activists. The Resource Bibliography has been prepared by the authors as a precursor to their writing of a history of the CPA. It contains a listing of 3,400 entries referring to books, pamphlets, articles and reviews dealing with the CPA from its origins before the Bolshevik Revolution. These include groups inspired by the ideas of Marxism in the 19th and early 20th century. The listings relate to material held in the public and university libraries deposited by communists or by Party branches and includes university theses. Material is also included dealing with the opponents of Communism, but only in cases where this provides insight to the CPA itself. Books, chapters in books, articles, periodicals devoted to labour history, unpublished papers and even films, videotapes and audio tapes are all listed along with libraries or depositories where these are held. The by one of the compilers which, for readers not knowledgeable about the history of the CPA, is a valuable addition to the book. The whole edition provides a tantalising glimpse of the history of the CPA which will hopefully appear soon.

Franz-Josef Hutter (Mannheim)

Die Anfänge der SED in Berlin und die Rolle Otto Grotewohls Otto Grotewohl und die Einheitspartei. Dokumente, Bd. 1: Mai 1945 bis April 1946. Mit einer Einführung v. Wolfgang Triebet. Auswahl und Kommentierung v. Hans-Joachim Fieber, Maren Franke u. Wolfgang Triebet (Leitung); Bd. 2: Mai 1946 bis Januar 1949. Mit einer Einführung v. Marianne Braumann. Auswahl und Kommentierung v. Marianne Braumann, Maren Franke u. Wolfgang Triebet (Leitung). Edition Luisenstadt, Berlin 1994, 383 S. u. 445 S. Die SED in Berlin. Dokumente zur Vereinigung von KPD und SPD. Bearb. u. eingel. v. Manfred Teresiak. Edition Luisenstadt (Marginalien zur politischen Geschichte Berlin-Brandenburg), Berlin 1994f, 4 Bde., 192 S., 200 S., 215 S., 235 S. Podewin, Norbert: Vereinigung oder Vereinnahmung? Untersuchungen zum Zusammenschluß von KPD und SPD in Friedrichshain. Edition Luisenstadt (Marginalien zur politischen Geschichte Berlin-Brandenburg), Berlin 1993, 109 S.

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Meyer, Bernhard/Podewin, Norbert: Die SPD in Friedrichshain. Von den Oktoberwahlen bis zur Spaltung im November 1948. Edition Luisenstadt (Marginalien zur politischen Geschichte Berlin-Brandenburg), Berlin 1993, 124 S. Heuer. Lutz/Podewin, Norbert: Der Vereinigungsprozeß in Lichtenberg. KPD und SPD auf dem Weg zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Edition Luisenstadt (Marginalien zur politischen Geschichte Berlin-Brandenburg), Berlin 1993, 91 S. Podewin, Norbert: Zwischen Aktionseinheit und Observation. Ostberliner SPD im SED- und VP-Visier. Edition Luisenstadt (Marginalien zur politischen Geschichte Berlin-Brandenburg), Berlin 1994, 92 S. Meyer, Bernhard: Sozialdemokraten in der Entscheidung. Biographien und Chronologie. Edition Luisenstadt (Marginalien zur politischen Geschichte Berlin-Brandenburg), Berlin 1994, 304 S. Podewin, Norbert/Teresiak, Manfred: "Brüder, in eins nun die Hände..." Das Für und Wider um die Einheitspartei in Berlin. Dietz Verlag, Berlin 1996, 346 S. Die hier vorzustellenden Editionen befassen sich unter verschiedenen Aspekten mit der Gründungsgeschichte der SED in Berlin. Der erste, von Wolfgang Triebet eingeleitete, Grotewohl-Band vereint 32 Dokumente aus dem Zeitraum Mai 1945 bis April 1946, dem Zeitpunkt der Vereinigung von SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands. Im Anhang beigegeben sind auszugsweise Berichte über die Konferenz von Wennigsen am 5. und 6. Oktober 1945 und das Treffen von Otto Grotewohl und Gustav Dahrendorf mit Kurt Schumacher und Herbert Kriedemann am 8. Februar 1946 in Hannover, wobei allerdings keine Kriterien für die Auswahl und Erstellung der Auszüge beziehungsweise für den Verzicht auf die vollständige Wiedergabe der Originaltexte genannt werden. Der von Marianne Braumann eingeleitete zweite Band umfaßt 23 Dokumente aus dem Zeitraum von Mai 1946 bis Januar 1949. Weitere 250 Dokumente enthalten die von Manfred Teresiak herausgegebenen und eingeleiteten vier Bände zur Gründungsgeschichte der SED in Berlin 1945/46, denen jeweils neben einem Personenregister auch ein Verzeichnis der wichtigsten Personen und ihrer Funktionen sowie eine stichwortartige Chronik beigegeben sind. Als Resultat der intensiven Quellenarbeiten von Norbert Podewin und Manfred Teresiak liegt nunmehr auch eine Gesamtdarstellung beider Autoren zum Vereinigungsprozeß in Berlin vor. Ergänzt ist die Darstellung durch eine ausführliche Chronik, durch 47 ausgewählte Dokumente sowie durch ein Personenregister. Die Dokumente sind jedoch nicht, wie der Klappentext glauben machen will, "größtenteils bislang unbekannt", sondern sämtlich in den vier von Teresiak herausgegebenen Bänden zur SED in Berlin bereits enthalten. Noch immer wirft die Person Otto Grotewohl und seine Rolle im Vereinigungsprozeß von SPD und KPD Fragen auf, noch immer polarisiert er die Meinungen. Wie erklären sich seine öffentlichen Positionswechsel gerade in Fragen der Einheitspartei, was waren seine wirklichen Absichten und haben sich diese geändert, wieso wurde er schließlich gar zum Stalinisten? Handelte er aktiv oder bloß reaktiv, getrieben durch die Umstände, "umgedreht" durch die Sowjetrussen oder im Stich gelassen durch Schumacher?' Dieser Be-

1 Vgl. zu Letzterem Caracciolo, Lucio: Grotewohls Positionen im Vereinigungsprozeß (1945-1946), in: Staritz, Dietrich/Weber, Hermann (Hrsg.): Einheitsfront, Einheitspartei. Kommunisten und Sozialdemokraten in Ost- und Westeuropa 1944-1948, Köln 1989, S. 76-107; Sühl, Klaus: Kurt Schumacher und die Westzonen-SPD im Vereinigungsprozeß, in: Ebd., S. 108-128.

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Wertung neigen auch Podewin/Teresiak zu (vgl. v.a. 66ff. u. 90ff.). Triebet kommt insgesamt zu der Einschätzung, daß es die Umstände gewesen seien, zu denen er auch die abweisende Haltung Schumachers rechnet, die Grotewohl schließlich hätten resignieren lassen (60ff.), wobei er die "generalisierende Feststellung" von "massivem Druck der Besatzungsmacht auf schnelle Vereinigung" zumindest relativiert wissen möchte (52). Als Beleg für diese neue Einschätzung dienen ihm lediglich Gespräche mit dem damaligen Rotarmisten Stefan Doernberg (ebd.).2 In der Tat fehlt aber noch immer der Zugang zu Dokumenten, die belegen oder widerlegen könnten, daß Grotewohl von den Russen "gekauft" worden ist. Es steht allerdings zu vermuten, daß solche Quellen auch nur für den Fall in den Archiven vorhanden sein werden, daß seitens der Besatzungsmacht auf Grotewohl geplant und gezielt Einfluß über das normale Maß hinaus genommen wurde. Grotewohl teilte 1945 die weit verbreitete Einschätzung, daß der Machterwerb Hitlers wesentlich mit der uneinigen Arbeiterklasse am Ende der Weimarer Republik in Zusammenhang gestanden hätte (z.B. Dok. 4, hier 82), woraus sich für ihn zwangsläufig die Forderung nach "der organisatorischen Einheit der deutschen Arbeiterklasse" ergab (so schon in seiner ersten Rede, Dok. 2, hier 74). Auch mit dieser Forderung stand er nicht allein, andere - siehe Gustav Dahrendorf - redeten einer Einheitspartei sogar viel vehementer das Wort. Er betonte aber auch schon früh, öffentlich in einer Rede in Leipzig am 25. August 1945, daß der Prozeß einer Vereinigung von SPD und KPD "einer längeren Zeit bedarf" (Dok. 7, hier 101), bis dann ein Punkt erreicht sei, an dem "gleichsam zwangsläufig die Parteischranken von selbst fallen, weil sie überflüssig geworden sind" (102). Dabei ging er freilich davon aus, daß eine solche vereinigte Arbeiterpartei im großen Ganzen der SPD von vor 1914 ähneln und die SPD als die größere der beiden Parteien darin auch das Übergewicht haben würde. Der Grund für seine Einschätzungen ist einerseits darin zu sehen, daß er das kommunistische Bekenntnis zur Demokratie offenbar ernst nahm, andererseits darin, daß er einer Äußerung von Marschall Schukow enormes Gewicht beimaß, in der ihm dieser nach seinem eigenen Zeugnis gesagt haben soll, daß er, Schukow, sich zur Schaffung eines demokratischen Staatslebens in der SBZ nicht in erster Linie auf die Kommunisten stützen könne, weil die Sozialdemokratie die Massen hinter sich habe (so Grotewohl in einer internen Rede vor SPD-Funktionären am 6. September 1945, Dok. 8, hier 107). Triebeis Behauptung jedenfalls, daß Grotewohls politischer Spielraum in der SBZ "tatsächlich größer als der der Parteien in den Westzonen" war (44), ist wohl völlig aus der Luft gegriffen. In diesem Punkt sprechen die Dokumente aller vorliegenden Bände eine andere Sprache, nicht zuletzt aber Grotewohl selbst auf der sogenannten Sechzigerkonferenz von SPD und KPD am 20. Dezember 1945 (Dok. 15).3 Diese nach der Konferenz von Wennigsen - wo die Vertreter des Zentralausschusses mit ihrer Forderung nach einem möglichst baldigen Reichsparteitag der deutschen Sozialdemokratie gescheitert waren (Anhang 1) - gehaltene 2 Diese Einschätzung jedoch kann durch andere Quellen nicht belegt werden, diese stehen im Gegenteil in einem krassen Widersprach dazu. Vgl. z.B. im gleichen Band S. 386, vgl. ferner die grundlegende Quellensammlung Malycha, Andreas: Auf dem Weg zur SED. Die Sozialdemokratie und die Bildung einer Einheitspartei in den Ländern der SBZ. Eine Quellenedition, Bonn 1995 (= Archiv für Sozialgeschichte, Beiheft 16) mit den dortigen ausführlichen Quellen- und Literaturangaben. Vgl. zum massiven Druck der Besatzungsmacht auf lokaler Ebene z.B. auch die Monographie zu Magdeburg: Drechsler, Ingrun: Nun sagt schon ja. Der Weg der Magdeburger Sozialdemokraten in die Zwangsvereinigung (Sommer 1945 - April 1946). Hrsg. v. SPD-Landesverband Sachsen-Anhalt, Magdeburg o.J. [1996], 3 Vgl. zu den heftigen Kontroversen auf dieser Konferenz am 20. und 21. Dezember 1945, die hier nicht erörtert werden können, die beiden Editionen des Protokolls: Gruner, Gert/Wilke, Manfred (Hrsg.): Sozialdemokraten im Kampf um die Freiheit. Die Auseinandersetzungen zwischen SPD und KPD in Berlin 1945/46, München 1981; Krusch, Hans-Joachim/Malycha, Andreas (Hrsg.): Einheitsdrang oder Zwangsvereinigung? Die Sechziger-Konferenzen von KPD und SPD 1945 und 1946, Berlin 1990.

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Rede belegt, daß Grotewohl zu diesem Zeitpunkt kein Vertreter einer Einheitspartei um jeden Preis war. Ausführlich reflektiert er in dieser Rede die Entwicklung der vergangenen sechs Monate und übt heftige Kritik an der KPD. Er betont die Ungleichbehandlung von KPD und SPD durch die Besatzungsmacht, konstatiert sich mehrende "Zeugnisse eines undemokratischen Drucks auf Sozialdemokraten" (235) und spricht über "zunehmende Zweifel an der Ehrlichkeit des Bekenntnisses der KPD zur Demokratie und des Willens zur Zusammenarbeit und zur Einheit ohne betonten Führungsanspruch der KPD" (ebd.). Er benennt als Bedingungen einer Einheit die Abstellung der angesprochenen Mängel und die Erfüllung der genannten Voraussetzungen, ferner die Abhaltung einer sozialdemokratischen Reichskonferenz bzw. eines Reichsparteitags, da sich nur eine "reichsweite" SPD mit der KPD vereinigen könne. Außerdem spricht er sich gegen die Bildung gemeinsamer Listen für die anstehenden Kommunalwahlen aus (235ff.). Andererseits aber offenbart auch diese Rede Grotewohls grundlegenden Mangel an taktischer Begabung, weil er ohne Not - und ohne Gegenleistung! - mehrfach betont, daß es sich dabei nicht um eine Beratungsgrundlage für die Konferenz handle, sondern lediglich sozialdemokratischen Bedenken Ausdruck verliehen werden soll (234, 237, 238). Diese Bereitschaft, statt harter Forderungen an die KPD Bitten und Erwartungen zu formulieren, an den guten Willen zu appellieren und vagen Bekenntnissen einen immensen Vertrauensvorschuß entgegenzubringen, durchzieht die meisten Äußerungen Grotewohls von Kriegsende an. Die Ausgangssituation für die Sozialdemokratie in der SBZ war bekanntlich eine völlig andere als in den westlichen Besatzungszonen. Sowohl das Verhältnis zur Besatzungsmacht, die mit der KPD eine andere Partei präferierte, als auch zur eigenen "Basis" waren grundverschieden von der Lage in den Westzonen. Auch in der Vereinigungsfrage stand die Parteiführung unter erheblichem "Druck von unten" - der der SMAD durchaus gelegen kam und von ihr nach Kräften gefördert wurde - und Spielräume von vornherein einschränkte. Dennoch hat nach Lage der Dinge Grotewohl die Grenzen dieser Spielräume nicht auszuloten versucht. In einem zweiten Gespräch mit Schumacher, das Grotewohl und Dahrendorf am 8. Februar 1946 in Braunschweig führten, benannten sie diesen Druck von zwei Seiten: Sie erklärten einerseits deutlich, daß sie sich einer Einheitspartei nicht mehr widersetzen könnten, da der Zentralausschuß sonst in der Partei isoliert wäre: "Die Bezirke der Partei würden sich dann ohne den ZA mit der KP vereinigen." (Anhang 2, hier 368) Andererseits sahen sie die Gefahr, daß Abmachungen und Bindungen seitens der Kommunisten nicht eingehalten würden, daß aber "eine gewisse Lockerung des machtpolitischen Druckes [...] doch einmal zu erwarten sei." (ebd.) Eben diesen Druck, der ja vorhanden sein muß, damit er gelockert werden kann, will Triebel nicht wahrhaben (vgl. 54). Genau dieser Druck jedoch ist ganz wesentlich die Ursache dafür, daß viele Sozialdemokraten dem Gedanken einer Einheitspartei zunehmend skeptischer gegenüberstanden. Generell ist ja der nach dem Kriege festzustellende Trend zu einer 'Einheit der Arbeiterklasse' nicht gleichzusetzen mit einem 'Trend zur Einheitspartei'. Diese notwendige Unterscheidung wird von den Herausgebern und Bearbeitern der hier anzuzeigenden Bücher durchweg vernachlässigt. In allen vorliegenden Dokumentenbänden wird in den Einleitungen das Moment der Freiwilligkeit des Zusammenschlusses auf Seiten der Sozialdemokraten sehr stark betont, das Moment von Repression und Zwang dagegen hintangestellt. Die abgedruckten Dokumente hingegen vermitteln bei weitem nicht immer dieses eindeutige Bild, sie verweisen vielmehr auf die Heterogenität der Berliner Sozialdemokratie. Beispielhaft kann das Dokument Nr. 33 im dritten Band "Die SED in Berlin" (119-148) herangezogen werden. Es handelt sich dabei um einen ausführlichen Auszug aus dem "Protokoll der Konferenz der Kreis- und Abteilungsleiter der Berliner SPD am 17. Februar 1946". Helmut Lehmann, Fritz Barthelmann, Hermann Harnisch, Rudolf Zimmermann, Werner Rüdiger, Otto Grotewohl, Willi Schwarz und Erich Gniffke geben in ihren von vielen und teilweise heftigen Zwischenrufen unterbrochenen Referaten die unterschiedlichen Positionen innerhalb der Partei wieder. Daß die Sozialdemokratie

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unter Druck stand, wurde beispielsweise drastisch von Fritz Barthelmann formuliert, der auch die Zukunft einer Einheitspartei klar voraussagte: "Aber wir sehen mit ernster Sorge, daß das Zusammenprügeln der beiden Parteien nicht das Ende ist, sondern wir sehen mit ernster Sorge, daß das Zusammenprügeln der Parteien in die richtige Linie nachher in der neuen Einheitspartei auch erfolgen wird. Man wird uns also benutzen als Instrument der russischen Politik." (123) Der gemeinsame Nenner, der in einer Resolution Ausdruck fand (150f.), sah erstens die gesamtdeutsche Einheit der SPD, zweitens die darauf aufbauende "Einheit der beiden Arbeiterparteien" (150) und dadurch drittens die "Einheit des antifaschistisch-demokratischen Deutschland" (ebd.) vor. Dem Berliner Bezirksvorstand und dem Zentralausschuß wurden in dieser Resolution wegen Mandatsverletzung das Mißtrauen ausgesprochen, was jedoch bekanntlich ebenso folgen- und bedeutungslos blieb wie der vorgeschlagene 'Stufenplan'. Diese Konferenz fand wohlgemerkt am 17. Februar statt, also nachdem Grotewohl Schumacher mitgeteilt hatte, daß an der Einheitspartei kein Weg mehr vorbei führe. Seine Genossen sahen dies offenbar (noch) anders. In der Folgezeit wandelte sich Grotewohl zum Stalinisten und wurde "zum Wegbereiter der Bolschewisierung der SED, wenn er auch nicht ihr Initiator war" (Bd. 2: 17). Auch Marianne Braumann bleibt jedoch weitgehend auf Spekulatives angewiesen, wenn sie in der Einleitung über seine Entwicklung schreibt, da persönliche Materialien von Grotewohl kaum vorliegen (vgl. 10). Das Gerücht über einen Selbstmordversuch Grotewohls im Jahre 1949 wird von ihr nicht einmal erwähnt. 4 Im Gegensatz zu vielen Anderen machte er jeden Schwenk in der SED-Politik mit und wurde vom rasch wieder modischen Vorwurf des "Sozialdemokratismus" nicht nur nicht getroffen, sondern gebrauchte ihn sogar selbst, beispielsweise gegen Erich Gniffke (vgl. 44). Generell gilt wohl, daß Vieles in bezug auf Otto Grotewohl ungeklärt bleiben muß, solange der Zugang zu den einschlägigen sowjetischen Akten nicht uneingeschränkt möglich ist. Noch aber sind seine Rolle und seine Entwicklung nicht einmal anhand des heute frei zugänglichen Materials gültig dargestellt. Es bleibt ein Desiderat. Wie schon erwähnt, dokumentieren auch die anderen Bände durchweg die heterogene Situation innerhalb der Berliner Sozialdemokratie, betonen aber in den Einleitungen - Podewin/Teresiak auch im Text ihrer Darstellung - insgesamt sehr stark einen 'Trend zur Einheit', wobei die Autoren zu wenig zwischen der oft von Sozialdemokraten gewünschten Einheit der Arbeiterklasse und einer zunehmend weniger populären Einheitspartei unterscheiden. Diese Einheit der Arbeiterklasse sahen nicht wenige Sozialdemokraten im antifaschistischen Parteienbündnis in der Sowjetischen Besatzungszone bereits erreicht, und es fehlte auch nicht an Stimmen, die - wie Werner Rüdiger auf einer erweiterten Sitzung des Bezirksvorstandes der SPD mit den Kreisvorsitzenden am 29. Dezember 1945 - die Auffassung vertraten: "Wer eine Einheitspartei will, der soll zu uns kommen" (SED in Berlin, Bd. 2, Dok. 58, hier S. 163). Dieser Standpunkt erklärte sich einerseits aus der Tatsache, daß es sich bei der KPD historisch um eine - nach 1945 von vielen Sozialdemokraten bedauerte - Abspaltung der SPD handelte, andererseits aus der offenbar ja auch von Grotewohl geteilten Einschätzung eines bleibenden sozialdemokratischen Übergewichts wegen der weit größeren Stärke der SPD sowohl im Hinblick auf ihre Mitgliederzahlen als auch mit Blick auf die mobilisierbaren Wähler. Zwei Stadtbezirken, Friedrichshain und Lichtenberg, sind bisher eigene kurze Studien von Podewin und Heuer/Podewin gewidmet, die dieses differenzierte Bild der Berliner Sozialdemokratie ergänzen. Anders als in der übrigen SBZ blieb in Berlin aufgrund des Vier-Mächte-Status die SPD auch nach der Vereinigung von SPD und KPD weiter bestehen. Damit befanden sich die Berliner Vereinigungsgegner in der besonderen Situation, daß sie ihrer Gegnerschaft auch organisatorischen Ausdruck verleihen konnten. Bausteine zu

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Vgl. Caracciolo, Grotewohls Positionen, a.a.O. (Anm. 1), S. 103.

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einer Geschichte der Ost-Berliner SPD bis zu ihrer Auflösung nach dem Mauerbau im Jahre 1961 liefern nun neben den beiden angesprochenen Studien und einigen Bemerkungen in Podewin/Teresiak (bes. 150ff.) die vorliegenden Bände von Podewin und Meyer/Podewin sowie die Kurzbiographien von 116 Berliner Sozialdemokraten der Nachkriegszeit im Band von Bernhard Meyer. Während die Friedrichshainer Sozialdemokraten mehrheitlich für die Schaffung einer Einheitspartei votierten (vgl. Podewin: 32ff.), standen die Lichtenberger Sozialdemokraten von Anfang an "sowohl programmatisch als auch personell in entschiedenem Gegensatz zum Zentralausschuß" (Podewin/Teresiak: 44f.) bis hin zur Forderung nach dessen Abwahl. In einer Gesamtmitgliederversammlung der Friedrichshainer SPD am 27. März 1946 sprachen sich die Teilnehmer für die Schaffung einer Einheitspartei und gegen eine Urabstimmung über diese Frage aus; in der Literatur ist der demokratische Charakter dieser Veranstaltung umstritten, Podewin gelangt jedoch aufgrund der Quellen zu dem Schluß, daß "der Mitgliederentscheid vom 27. März durchaus als echtes Votum angesehen werden [darf]" (Podewin: 41), wofür nicht zuletzt die Übertrittszahlen in die SED ein Beleg seien (ebd.). Die Lichtenberger SPD hingegen versuchte, die Urabstimmung über den sofortigen Zusammenschluß der beiden Arbeiterparteien unter allen Umständen durchzuführen, was jedoch von der Besatzungsmacht unterbunden wurde. Auch der Versuch, noch am 7. April 1946 eine Urabstimmung unter den Mitgliedern in Lichtenberg abzuhalten, wurde durch die Besatzungsmacht vereitelt (vgl. Heuer/Podewin: 43). Die Durchführung der Urabstimmung in den Berliner Westsektoren hatte eine eindeutige Ablehnung der sofortigen Schaffung einer Einheitspartei ergeben. Dadurch, daß eine solche Entscheidung in den Ostsektoren Berlins nicht möglich gewesen war, kam den Wahlen zur Berliner Stadtverordnetenversammlung und den Bezirksvertretungen am 20. Oktober 1946 besondere Bedeutung zu. Bei einer Wahlbeteiligung von 92,3 Prozent stimmten 48,7 Prozent für die SPD (in den Westsektoren 51,8 Prozent, im Ostsektor 43,6 Prozent), nur 19,8 Prozent wählten die SED (auch im sowjetischen Sektor Berlins nur 29,9 Prozent). Damit war die SED auch im Osten Berlins nur die zweitstärkste Partei hinter der SPD, in Groß-Berlin lag sie sogar noch hinter der CDU (die 22,2 Prozent erreicht hatte) an dritter Stelle.^ Der Wahlsieg der SPD wurde durchaus zu recht als Ablehnung der Einheitspartei interpretiert. Auch im Bezirk Friedrichshain war die SPD vor der SED zur stärksten Partei geworden. Damit wurde die "Konfrontation feindlicher Brüder" (Meyer/Podewin: 62) zum Dauerthema bis zur Spaltung Berlins im Jahre 1948. Danach verschwand die SPD von den Ost-Wahllisten, da sie sich nicht in den "Block der antifaschistischdemokratischen Parteien" einordnen und damit der SED unterwerfen wollte. Nun war sie nicht mehr wählbar. Die Repressionen, denen die Friedrichshainer SPD schon vorher, von nun an aber weit massiver, ausgesetzt war, skizziert Norbert Podewin. Geht man davon aus, daß eine Reihe von Sozialdemokraten für die Einheitspartei votierten, um eine Vertrauensbasis mit der Besatzungsmacht herzustellen oder sogar um deren rascheren Abzug herbeizuführen,6 und berücksichtigt man ferner, daß die Ost-Berliner SPD vom Zeitpunkt des Einheitsparteitages an besonderen Schikanen ausgesetzt war, dann sind die Mitgliederzahlen der SPD in Friedrichshain und den anderen Ost-Berliner Stadtbezirken nach dem 22. April 1946 (Meyer/Podewin: lOf.) eindrucksvoll. Sie erreichten 1947 weit mehr als ein Drittel des Mitgliederstandes der SPD vor der Vereinigung. Wahlergebnisse, Mitgliederzahlen und die Ergebnisse der Urabstimmung in den West-Berliner Sektoren legen jedenfalls einen Ausgang einer Urabstimmung in Ost-Berlin nahe, in der auch unter starkem Einfluß der sowjetischen Be5 Zahlen nach Ritter, Gerhard A./Niehuss, Merith: Wahlen in Deutschland 1946-1991. Ein Handbuch, München 1991, S. 150 (teilweise eigene Berechnungen F.-J.H.). Die bei Podewin/Teresiak: 161 angegebenen Zahlen weichen davon zum Teil ab. 6 Vgl. Malycha, Auf dem Weg zur SED, a.a.O. (Anm. 2), S. CIX.

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satzungsmacht die sofortige Schaffung einer Einheitspartei keine Mehrheit gefunden hätte. Die Angaben in den biographischen Skizzen Berliner Sozialdemokraten in dem Band von Meyer stellen eine anregende Ergänzung zu den Bänden über die Ost-Berliner SPD dar. Sie verweisen darauf, daß hier ein Stück deutsche Widerstandsgeschichte zu sehen ist, die bisher insbesondere im öffentlichen Bewußtsein noch viel zu wenig gewürdigt worden ist. Gerade für die stets wünschenswerte Verbindung von Forschung und politischer Bildung ist hierin noch ein weites Feld zu sehen. Die mit dem Ende der DDR verbundene Öffnung der Archive hat zu einer wahren Flut von Dokumenteneditionen geführt, die oftmals den Eindruck nahelegen, nun müßten wesentliche Kapitel der Geschichte dieses Staates neu geschrieben werden. Dabei wird häufig übersehen, daß es auch vor 1989 bereits eine DDR-Forschung gegeben hat, deren Ergebnisse nun nicht einfach zum Altpapier gelegt werden können. Generell wird doch vieles, was die bisherige bundesdeutsche DDR-Forschung geleistet hat, durch den ungehinderten Zugang zu den Archiven eher bestätigt denn widerlegt. Nicht selten jedoch zeichnen sich neuere Dokumentenedititonen dadurch aus, daß sie den bis 1989 erreichten Forschungsstand nicht immer zur Kenntnis nehmen und sich stattdessen mit der DDR als einer terra incognita der wissenschaftlichen Zunft zu beschäftigen scheinen. So liefern auch die hier vorgestellten Bände keine wesentlich neuen Erkenntnisse, die Anlaß zu einer völligen Neuinterpretation der Gründungsgeschichte der SED in Berlin liefern würden. Sie untermauern Bekanntes jedoch mit einer Fülle neuer Quellen.

Jan Osers (Mannheim)

Literatur zum deutsch-tschechischen Verhältnis Mommsen, Hans/Koralka, Jin (Hrsg.): Ungleiche Nachbarn. Demokratische und nationale bei Deutschen, Tschechen und Slowaken (1815-1914). Klartext Verlag, Essen 1994, 136 S.

Emanzipation

Hoensch, Jörg KJKoväc, Dosan (Hrsg.): Das Scheitern der Verständigung. Tschechen, Deutsche und Slowaken in der Ersten Republik 1918-1938. Klartext Verlag, Essen 1994, 179 S. Brandes, Detlef/Kural, Vaclav (Hrsg.): Der Weg in die Katastrophe. Deutsch-tschechoslowakische hungen 1938-1947. Klartext Verlag, Essen 1994, 255 S.

Bezie-

Jech, Karel/Kaplan, Karel (Hrsg.): Dekrety prezidenta republika 1940-1945. Dokumenty. Ustav pro soudobe dejiny AV CR. Nakladate tvi Doplnek, Brno 1995, 1-2, 1071 S. (Die Dekrete des Präsidenten der Republik. Dokumente. Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Verlag Doplnek, Brno 1995). Die hier vorgestellten Arbeiten zum deutsch-tschechischen Verhältnis erscheinen in einer besonders kritischen Phase der zwischenstaatlichen Beziehungen, in einer Zeit, wo tiefsitzende Vorurteile und noch immer nicht bewältigte Ressentiments eine neue Blütezeit erleben. So gesehen erscheinen sie zum rechten Zeitpunkt. Sie sind gut geeignet, die Vergangenheit besser zu verstehen und damit die Zukunft sicherer zu fundieren, zumal sie die Produkte von Gemeinschaftsarbeiten deutscher, tschechischer und slowakischer Historiker darstellen. Dabei werden neue, bislang weitgehend unbekannte Quellen offengelegt, deren Interpretation bis heute umstritten ist.

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Mit den drei Sammelbänden zur Geschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen zwischen 1815 und 1947 leitet das Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Osteuropa an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf seine Reihe zur "Geschichte der Deutschen im östlichen Europa" ein. Sie enthalten Vorträge, die auf Konferenzen der Deutsch-Tschechisch-Slowakischen Historikerkommission in Prag (17. bis 30. Juni 1991), Göttingen (6. bis 8. April 1992) und Stirin (7. bis 9. Oktober 1992) gehalten wurden. Ziel der Tagungen war, wie die Kommissionsvorsitzenden J. Kren (Tschechische Republik) und R. Vierhaus (Deutschland) einleitend betonen, "die vorurteilsfreie Betrachtung der gemeinsamen Geschichte". Dieses Vorhaben ist, so erscheint es zumindest dem Rezensenten, voll und ganz gelungen. Der erste Band thematisiert die deutsch-tschechischen Beziehungen vor 1918 und gelangt zu dem Ergebnis, daß die Deutschen in ihren Siedlungsgebieten aus politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Gründen schon sehr früh eine dominierende Rolle zu spielen begannen, auf die sie später nicht mehr verzichten wollten. Daher kam es schon bei der Gründung der t S R , wie im zweiten Band dargestellt, zu zahlreichen Konflikten. Zwar räumte die neu gegründete Republik als konsequent demokratischer Staat den Minderheiten alle individuellen Rechte im Sinne des Vertrags von St. Germain ein, tat sich aber, das sie sich selbst als Nationalstaat der Tschechen und Slowaken definierte, schwer, anderen Volksgruppen kollektive Minderheitenrechte zu gewähren. Dies wurde insbesondere in der Wirtschaftskrise der dreißiger Jahre zum Problem, als die überwiegend in der exportabhängigen Leicht- und Konsumgüterindustrie beschäftigten Sudetendeutschen in eine eklatante Notlage gerieten. Durch sie wurden die Spannungen zwischen den beiden Nationalitäten weiter verschärft. In dieser Situation fand die nationalistische Politik der Sudetendeutschen Partei (SdP) unter K. Henlein starke Resonanz und entwickelte sich mehr und mehr zu einem Instrument des Hitlerschen Expansionsstrebens. So fiel es nicht schwer, die Deutschen in der CSR für den Nationalsozialismus zu gewinnen. Unter diesen Umständen konnte auch das Münchner Abkommen, das die territoriale Integrität der ¿ S R zerstörte, keine dauerhafte Lösung bedeuten, da Hitler schon längst weiterreichende Pläne, die Beherrschung ganz Osteuropas, ins Auge gefaßt hatte. Ein Schritt auf diesem Weg war die Liquidierung der Rest-Tschechoslowakei. Sie brachte nicht nur das definitive Ende der durch den Versailler Frieden geschaffenen Strukturen, sondern auch die Vernichtung des letzten parlamentarischen Regimes in Mitteleuropa. Die deutsche Okkupationspolitik im "Protektorat Böhmen und Mähren" - Thema des dritten Bandes leitete unter dem geschäftsführenden Reichsprotektor R. Heydrich und seinem sudetendeutschen Staatssekretär K. H. Frank eine rücksichtslose Germanisierungspolitik ein. In ihrem Rahmen wurden sämtliche tschechische Hochschulen und ein Teil der übrigen Lehranstalten geschlossen. Die Reaktion auf das auf Heydrich verübte Attentat (1942) verschärfte die Repressionen und gipfelte in der Vernichtung der beiden Ortschaften Lidice und Lezäky, wo im Sinne der damals praktizierten These von der Kollektivschuld alle männlichen Einwohner erschossen und die Frauen in Konzentrationslager gebracht wurden. Diese und ähnliche Ereignisse führten zur Stärkung jener tschechischen Kräfte, die in einem homogenen Nationalstaat, d.h. ohne Minderheiten, die verläßlichste Garantie für die künftige Sicherheit der Nachkriegstschechoslowakei sahen. So wurde im ersten Nachkriegsprogramm der tschechoslowakischen Regierung (Programm von Kosice) der Transfer der deutschen Minderheit verankert, wobei man sich auf die ausdrückliche Zustimmung der Alliierten auf den Konferenzen von Teheran und Jalta berufen konnte. Die erste Aussiedlungsphase zwischen Mai und Ende 1945 verlief spontan und höchst grausam. In der zweiten (ab 1946) wurde hingegen die Forderung der Potsdamer Konferenz hinsichtlich "einer ordnungsgemäß und human zu verlaufenden Aussiedlung" mehr oder weniger eingehalten. Nun sollten Familien gemeinsam ausgesiedelt, die Mitnahme von

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Gepäck, Nahrungsmitteln, Bettwäsche und Medikamenten gestattet und diese Regelungen von den alliierten Militärbehörden kontrolliert werden. Bei der Unterscheidung der beiden Etappen setzte sich die gemischte Historikerkommission im Gegensatz zu den in der deutschen Fachliteratur fast ausnahmslos benutzten und suggestiv anmutenden Bezeichnungen "Vertreibung" oder gar "Austreibung" für eine deutliche begriffliche Differenzierung der beiden Etappen ein. Sie schlug für die erste den Terminus "Vertreibung" vor, für die zweite "Aussiedlung". Fragen wie diese thematisiert auch die kürzlich erschienene Dokumentation der wichtigsten Präsidialdekrete aus den Jahren zwischen 1940 und 1945. Sie ist eine höchst wichtige Ergänzung der eben besprochenen Entwicklungsgeschichte der deutsch-tschechischen Beziehungen und gibt Auskunft über Meinungsbildungsprozesse im Londoner tschechoslowakischen Exil und insbesondere in der Exilregierung. Behandelt werden Fragen des gemeinsamen Kampfes der Alliierten gegen Deutschland, die sich aus der Befreiung des tschechoslowakischen Territoriums ergebenden Probleme (Errichtung einer Zivilverwaltung, die Einführung neuer Zahlungsmittel, die Bestrafung von Naziverbrechern) sowie die künftige Wirtschaftsordnung und die bis heute heiß umstrittene Minderheitenregelung. Für den deutschen Leser sind die beiden letztgenannten Problemkreise von besonderer Relevanz. So entkräftet die in Band 2 der Dokumentation enthaltene Rede des damaligen Ministers für den Wirtschaftsaufbau, F. Necas, die hierzulande auch in Fachkreisen weitverbreitete Ansicht, daß Benes seine Vertreibungspläne "mit der vollkommenen Abhängigkeit der Tschechoslowakei von Moskau [habe] erkaufen müssen" (Hervorhebung J.O.). 1 Demgegenüber beweisen Necas' Ausführungen vom 16. Februar 1942, also lange vor den Verhandlungen mit der Sowjetunion, daß die Londoner Exilregierung schon damals gewisse Sozialisierungsmaßnahmen befürwortete. Mit der Zustimmung aller in der Emigration vertretenen Kräfte wurde für die Nachkriegszeit eine grundsätzlich neue wirtschaftliche und politische Orientierung mit eindeutig sozialistischen Elementen angestrebt. Als Ziel wurde ein "sozial gerechtes Wirtschaftssystem mit möglichst hohem Lebensstandard und fest verankerten Bürgerrechten" definiert, wobei die Verstaatlichung resp. Vergesellschaftung wichtiger ökonomischer Schlüsselbereiche sowie die Unterordnung des Privatprofits unter gesamtgesellschaftliche Interessen eine wichtige Rolle spielen sollte. Für die Akzentuierung solcher sozialistischer Tendenzen gibt es nach Ansicht des Rezensenten (und Zeitzeugen) folgende Erklärung: Zum einen war es Benes selbst, der unter dem Einfluß seines Lehrers T. G. Masaryk eine Entwicklung auf eine "sich sozialisierende Demokratie" postulierte, zum anderen befürwortete ein nicht geringer Bevölkerungsteil aufgrund seiner Erfahrungen in der Vorkriegszeit und der Wirtschaftskrise eine Veränderung der früheren sozialen Gegebenheiten, was sich auch im Jahre 1946 - zumindest indirekt - in den ersten und einzigen freien Wahlen zwischen 1945 und 1989 manifestierte, bei denen mehr als fünfzig Prozent der Wähler ihre Stimmen den Kommunisten und Sozialdemokraten gaben. Auch bei der Behandlung des Minderheitenproblems zeichnete sich ein weitgehender Konsens zwischen allen in der Emigration vertretenen Richtungen ab. Er reichte von den Sozialdemokraten über die tschechischen Sozialisten und die katholisch orientierte Volkspartei bis zu den rechts gerichteten Agrariern und dem als konsequenten Demokraten bekannten Jan Masaryk. Alle diese Kräfte plädierten für die Abschiebung zumindest eines Teils der Sudetendeutschen. Eine Ausnahme bildete lediglich eine Gruppe innerhalb der Moskauer kommunistischen Emigration unter J. Sverma, die den Transfer insgesamt ablehnte. Unterschiedliche Positionen gab es jedoch hinsichtlich der konkreten Regelungen. Dies gilt sowohl für die Festlegung der Kategorien der Auszusiedelnden als auch für die Definition der "Antifaschisten", d.h.

1 Vgl. z.B. Kuhn, H.: Die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei und ihre Folgen, in: Lobkowicz, N./ Prinz, F. (Hrsg.): Schicksalsjahre der Tschechoslowakei 1945-1948, München 1981, S. 45-63, hier S. 54.

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derjenigen, die nicht ausgewiesen werden sollten. Hier differierten die Vorstellungen erheblich: Während eine moderate Richtung lediglich für die Umsiedlung jener plädierte, die sich als aktive Kollaborateure schuldig gemacht hatten, forderten radikalere Kreise den Transfer aller Deutschen mit Ausnahme derer, die sich nachweislich gegen das NS-Regime betätigt hatten. Benes selbst nahm ursprünglich eine relativ milde Position ein; er wollte eine Aussiedlung von loyalen Deutschen verhindern. Das 1945 beschlossene Dekret Nr. 33/1945 entstand offensichtlich unter dem Einfluß der sich gegen Kriegsende allgemein radikalisierenden Massenstimmung. Es verfügte die Ausweisung fast aller Deutschen mit Ausnahme von "aktiven Freiheitskämpfern", der politischen Häftlinge sowie deijenigen Deutschen, die sich nach 1938 zur tschechischen oder slowakischen Volkszugehörigkeit bekannt und so ihre Ablehnung des Nationalsozialismus manifestiert hatten. Alle hier besprochenen Bände können sehr positiv bewertet werden. Sie bieten wohl zum ersten Mal eine zugleich umfassende wie höchst kompetente und objektive Darstellung der deutsch-tschechischen Beziehungen. Bemerkenswert ist v.a. die völlige Übereinstimmung der Historiker der betroffenen Nationalitäten in allen Grundsatzfragen, insbesondere bei der Bewertung der überaus diffizilen Periode 1938-1947, für die sie einvernehmlich einen engen Zusammenhang zwischen der deutschen Besatzungs- und Vernichtungspoltik und der unmittelbar darauf folgenden Aussiedlung der Sudetendeutschen sehen. Dies ist eine Sicht, die auf deutscher Seite bedauerlicherweise noch nicht allgemein akzeptiert worden ist. Deswegen tun sich Deutsche auch heute noch so schwer mit der Akzeptanz des tschechischen Standpunktes, der die "antideutschen" Dekrete als direkte Folge der Kriegsereignisse und des NS-Terrors begreift und sie als integrale Bestandteile des tschechoslowakischen Rechtssystems interpretiert. Das gilt auch für die Absprache der Alliierten in Potsdam, die übereinkamen, daß die "Überführung der deutschen Bevölkerung [aus der] Tschechoslowakei [...] nach Deutschland durchgeführt werden muß". (Hervorhebung J.O.). Diese Formulierung kontrastiert deutlich von jenen Interpretationen, nach denen die Alliierten den Transfer der Deutschen allenfalls billigend zur Kenntnis genommen hätten (vgl. die Sendung "Auslandsjournal" im ZDF am 4.3.1996). Bei der Bewertung der gesamten hier angesprochenen Problematik sollte jedoch nicht übersehen werden, daß die damals gefaßten Beschlüsse keineswegs dem heutigen Verständnis von Menschen- oder Bürgerrechten entsprechen. Ihre Formulierung, insbesondere das den hier diskutierten Regelungen zugrunde liegende Prinzip der Kollektivschuld, stand zweifelsfrei unter dem Einfluß chauvinistischer Tendenzen. Andererseits darf aber auch nicht übersehen werden, daß diese These in den vorangegangenen sechs Kriegsjahren von Deutschen in grausamster Weise praktiziert wurde. Ebenso sind andere antideutsche Erlasse nach Kriegsende zu bewerten: Sie waren gewissermaßen Kopien der vorangegangenen antijüdischen Maßnahmen (Personenkennzeichnung, beschränkte Nahrungsmittelzuteilungen, besondere Geschäftszeiten und Amtsstunden u.ä.), allerdings mit einem gravierenden Unterschied: Die jüdischen Verfolgten wurden nicht nur Opfer ethnischer Säuberungen, sondern mit Wissen und Zustimmung der höchsten deutschen Stellen im Rahmen eines industriell organisierten Tötungsprozesses ermordet. Trotz ihrer bestechenden Objektivität und ihres hohen Informationswertes kann nicht erwartet werden, daß die Bände hierzulande überall widerspruchslos aufgenommen werden. Gleichwohl hofft der Rezensent, daß ihre Lektüre zu einem besseren Verständnis und zur Aussöhnung zwischen Deutschen und Tschechen führen mag.

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Kurt Schilde (Berlin)

Die Entstehung der Freien Deutschen Jugend vor 50 Jahren. Analysen und Erinnerungen nach der Wende Mählert, Ulrich: Die Freie Deutsche Jugend 1945-1949. Von den "Antifaschistischen Jugendausschüssen" zur SED-Massenorganisation: Die Erfassung der Jugend in der Sowjetischen Besatzungszone. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn/München/Wien/Zürich 1995, 386 S. Modrow, Hans (Hrsg.): Unser Zeichen war die Sonne. Gelebtes und Erlebtes. Verlag Neues Leben, Berlin 1996, 320 S. Herms, Michael: Heinz Lippmann. Portrait eines Stellvertreters. Mit einem Vorwort von Hermann Weber. Dietz Verlag Berlin, Berlin 1996, 322 S. Poßner, Wilfried: Immer bereit! Parteiauftrag: kämpfen, spielen, fröhlich sein, edition ost, Berlin 1995, 324 S. Mühlen, Patrik von zur: Der "Eisenberger Kreis". Jugendwiderstand und Verfolgung in der DDR 19531958. Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger, Bonn 1995, 256 S. Krönig, Waldemar/Müller, Klaus-Dieter: Anpassung - Widerstand - Verfolgung. Hochschule und Studenten in der SBZ und DDR 1945-1961. In Memoriam Wolfgang Natonek (1919-1994). Verlag Wissenschaft und Politik, Köln 1994, 566, 10S. Kaufmann, Christoph: Agenten mit dem Kugelkreuz. Leipziger Junge Gemeinden zwischen Aufbruch und Verfolgung 1945-1953. Mit einem Vorwort von Dieter Auerbach. Evangelische Verlagsanstalt, Leipzig 1995, 128 S„ 8 Bilds. Sedler, Karin/Schumann, Frank/Schurich, Frank-Rainer: Glaubenskrieg. Kirche im Sozialismus. Zeugnisse und Zeugen eines Kulturkampfes. Mit einem Beitrag von Christian Stappenbeck, edition ost, Berlin 1995, 320 S. Schulze; Edeltraud (Hrsg. unter Mitarbeit von Noack, Gert): DDR-Jugend. Ein statistisches Handbuch. Akademie Verlag, Berlin 1995, 264 S. Zilch, Dorle: Millionen unter der blauen Fahne. Die FDJ. Zahlen - Fakten - Tendenzen - Mitgliederbewegung und Strukturen in der FDJ-Mitgliedschaft von 1946 bis 1989 unter besonderer Berücksichtigung der Funktionäre. Band 1. Mitgliederbewegung der FDJ von 1946 bis 1989. Verlag Jugend und Geschichte/ Norddeutscher Hochschulschriften Verlag, Rostock 1994, 116 S. Foitzik, JanJGotschlich, Helga/Häder, Sonja/Küchenmeister, Daniel/Lange, Katharina/Mählert, Ulrich/ Skyba, Peter (Hrsg.): Jahrbuch für zeitgeschichtliche Jugendforschung 1994/95. Redaktion: Ulrike Schuster. Metropol Verlag, Berlin 1995, 383 S.

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Als vor 50 Jahren nach dem Ende des Nationalsozialismus die Freie Deutsche Jugend entstand, glaubten junge Menschen nicht nur in der sowjetischen Besatzungszone an eine Chance für eine demokratische und antifaschistische Jugendarbeit. Auf dieses Thema geht eine Vielzahl an Publikationen ein, von denen hier nur eine Auswahl vorgestellt wird, die Höhen und Tiefen des derzeitigen Informationsniveaus ausdrücken. Eine der wichtigsten Arbeiten ist die von Ulrich Mählert verfaßte Entstehungsgeschichte der Freien Deutschen Jugend 1945-1949, die sich den Ereignissen in der SBZ von den demokratischen Ausgangsmöglichkeiten her nähert. Es war unübersehbar, daß es fundamentale Unterschiede zwischen kommunistischen Jugendpolitikern und den Vorstellungen übriger Parteien gab. Da klang es zunächst beruhigend, wenn Walter Ulbricht erklärte: "Wir verzichten auf die Schaffung eines kommunistischen Jugendverbandes, denn wir wollen, daß eine einheitliche, freie Jugendbewegung entsteht." (36) Ausgangspunkt der von der KPD als antifaschistisch proklamierten Jugendarbeit war ein tiefes Mißtrauen gegenüber der nationalsozialistisch erzogenen Jugend. Diesen Jugendlichen, soweit sie "aufrichtig mit der nazistischen Ideologie gebrochen" hatten, sollte Gelegenheit gegeben werden, wieder gut zu machen, "was die Naziführer an unserem Volk und der ganzen Welt versündigt haben". Bei der Jugend selbst stießen die Bemühungen der überwiegend erwachsenen Funktionäre auf Zustimmung, Gleichgültigkeit und Abwehr. Nachdem die KPD "von oben" ihre Vormachtstellung ausgebaut hatte, setzte sie - kurz darauf als SED die Gründung einer einheitlichen Jugendorganisation auf die Tagesordnung: Die Einheitskampagne endete im Juni 1946 mit dem in Brandenburg an der Havel tagenden ersten Parlament der Freien Deutschen Jugend. Die folgenden Jahre bis zur Gründung der DDR 1949 waren von der Durchsetzung des kommunistischen Hegemonieanspruchs bestimmt. Der neue Jugendverband stieß bei den nichtkommunistischen Kräften und ebenso SED-intern auf Zurückhaltung oder sogar Ablehnung. Dort fanden die einen die FDJ nicht sozialistisch genug, und die anderen fürchteten eine Neuauflage der Hitler-Jugend, wenn die vormaligen Hitler-Jungen und BDM-Mädel in die FDJ aufgenommen würden. Damit war schon in der Anfangsphase des Verbandes ein Vergleich mit der HJ thematisiert. Der Konflikt endete damit, daß aus den nur nominellen HJ-Angehörigen und unteren Funktionären FDJ-Mitglieder werden durften. Ebenso wie ab 1933 die HJ entwickelte sich die FDJ bestens: Aus 300.000 Mitgliedern des Jahres 1946 waren 1949 fast eine Million geworden. Der demokratische Anspruch ging in der sozialistischen Massenorganisation - der "Kampfreserve der Partei" - allerdings verloren, und Jugendliche, die versuchten, der Indoktrination zu widerstehen, wurden wegen "antidemokratischer Provokationen" diskriminiert und verfolgt. Anders als Mahlerts fundierte Überblicksdarstellung der Basisaktivitäten der FDJ und des Handelns der Spitzenfunktionäre lesen sich die biographisch orientierten Berichte aus dem Kreis der letztgenannten Leute, die auf der "richtigen Seite" standen. Herausgeber der vierzehn Beiträge des Bandes "Unser Zeichen war die Sonne" ist Hans Modrow, der als überzeugter Hitler-Junge in die Krieg zog und in einem Antifa-Lager zu einem überzeugten Antifaschisten umerzogen wurde. Seit 1949 hauptamtlich für die Jugendorganisation tätig, lieferte er einen als Reflexion verstandenen Beitrag, der allerdings nur wenige grundsätzliche und selbstkritische Überlegungen enthält. Dies ist möglicherweise von einem aktiven Politiker nicht unbedingt zu erwarten, aber auch die Texte von Hans Bentzin, Alfred Dellheim, Heinrich Fink, Klaus Herde, Gerhard Holtz-Baumert, Gerhard Kirner, Helmut M. Schulz und Jochen Willerding sind alles andere als angefüllt mit Fragen nach der Verantwortung für das eigene Handeln in den vergangenen Jahrzehnten. Nur als ein Mysterium kann ein von Andrea Grimm, Martina Holzinger und Mathias Rudolph verfaßter Versuch bezeichnet werden, eine Kontinuität zwischen der "alten" Freien Deutschen Jugend und der "neuen" von ihnen vertretenen freien deutschen Jugend zu suggerieren. Lesenswert ist der freimütige Beitrag von Hans Coppi, dessen Vater und Mutter der Widerstandsgruppe "Rote Kapelle" angehört hatten und ihr Engagement mit dem Leben bezahlen mußten. In seinem "Mein Antifaschismus" betitelten Aufsatz denkt er über sein Leben nach

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und fragt sich, warum er 1963 in den FDJ-Zentralrat geriet: "Heute denke ich, sie meinten wohl weniger mich, sondern ein antifaschistisches Erbe, was sich mit meinem Namen verband." Neben diesen kritischen wie selbstkritischen Ausführungen steht der ähnlich argumentierende Text von Hans-Dieter Schütt, von 1984-1989 Chefredakteur der FDJ-Tageszeitung "Junge Welt". Er reflektiert unter dem vielsagenden Titel "Treu bis zur Geschichtslosigkeit" beispielsweise seine Funktion als Journalist, in der er Menschen zum Schweigen gebracht hat, indem Leserbriefe nicht abgedruckt wurden, sondern zur Denunziation der Absender dienten. Der Band kann durchaus als ein "Stück erlebte Geschichte" (8) angesehen werden, wie es der Herausgeber formuliert, aber er bildet ebenso das große Problem der Verdrängungen ab: Weil die FDJ-Geschichte für die Autoren ein wesentlicher Teil der persönlichen Geschichte gewesen und geblieben ist, werden deren Überlegungen in der Regel sehr zurückhaltend, wenn die eigenen Lebensziele in Zweifel geraten könnten. Dann erfolgen Rechtfertigungen, eigene Wirkungsmöglichkeiten werden heruntergespielt und Machtstreben und Karrieredenken von anderen Funktionären als Ursache von Verformungen erklärt. Wenn die Genossen nicht mehr weiter wußten, konnten sie sich mit der Redewendung beruhigen: "Wir schwanken am besten mit der Linie der Partei." Unsicherheit und Skepsis kennt der in den fünfziger Jahren in West-Berlin aktive Eberhard Schröder ebenfalls nicht: Noch heute schreibt er zum 17. Juni 1953, daß "vom Westberliner Territorium aus alles getan wurde, um den Aufstand zu schüren". Ebenso fest auf seinem Standpunkt beharrt Jupp Angenfort, ab 1950 Leiter des Zentralbüros der westdeutschen FDJ und mehrere Jahre im bundesdeutschen Zuchthaus gewesen. Sein im Geist des "kalten Krieges" abgefaßter Text läßt sich auf folgendes Wunschdenken zuspitzen: "Die FDJ Westdeutschlands hat eine eigenständige Politik betrieben, die den wesentlichen Interessen der westdeutschen Jugend entsprach." (74) Für ihn war eigentlich alles, wie es sein sollte. Er äußert nur die Kritik, daß dem 1953 in den Westen gegangenen Heinz Lippmann zu viel Vertrauen geschenkt wurde. Was für Angenfort eine "zwielichtige Person" (74) war, stellt sich im Portraät des ehemaligen FDJFunktionär Michael Herms als ein außergewöhnlicher Mann heraus. Durch ein informatives und einfühlsames Vorwort von Hermann Weber eingeführt, zeigt das mit großem Gewinn in die Hand zu nehmende Buch über "Heinz Lippmann. Portrait eines Stellvertreters" die Lebensgeschichte eines Bürgersohnes aus dem assimilierten Berliner Judentum. Nach den rassistischen Vorstellungen des NS-Regimes galt der 1921 Geborene als "Mischling 1. Grades", der Vater war "mosaisch" und die Mutter "arisch". Heinz Lippmann hatte das Glück, sein Leben nicht im Konzentrationslager Auschwitz oder Buchenwald beenden zu müssen und war sich bewußt, daß er sein Überleben kommunistischen Häftlingen zu verdanken habe. Damit begann seine Wandlung zum Kommunisten: "Dir ans Überirdische grenzender gläubiger Optimismus war mein größtes Erlebnis im Lager. Ich wurde ein anderer Mensch." (41) Nach der Befreiung arbeitete er zunächst als Regierungsinspektor der neu aufgebauten Bildungsverwaltung und gelangte als deren Vertreter in den Antifaschistischen Landesjugendausschuß von Thüringen. Bei seiner Arbeit lernte er den damals fast unbekannten Erich Honecker kennen, der ihn 1952 zu seinem Stellvertreter als FDJ-Vorsitzendem ernannte. In der Zwischenzeit erwies sich Lippmann als erfolgreicher "Cheforganisator" der nicht im entferntesten autonomen Westarbeit der FDJ. Mit tatkräftiger Unterstützung aus der sowjetischen Zone gelang es tatsächlich, Teile der westlichen Jugend zu beeinflussen, was sich in Massendemonstrationen zeigte, bei denen in den zwei Jahren vor dem FDJ-Verbot 1951 "bis zu dreihundert" instruierende FDJ-Kader aus der Ostzone eine wichtige Rolle spielten. Die Mobilisiemngskampagnen entsprachen Lippmanns Persönlichkeit: "Er genoß den Aktionismus, die Spontanität und die Aura des Geheimnisvollen." (106) Die Beförderung zum Honecker-Stellvertreter wertete er nachträglich als Beginn der Kaltstellung und erahnte damit wohl schon, daß seine "oppositionelle Haltung" - so die 1956 erfolgte Selbstaussage in einem unveröffentlichten Lebenslauf (133) - bekannt war und damit eine Überprüfung durch die

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Staatssicherheit anstand. Da er sich vor den Folgen einer solchen Untersuchung fürchten mußte, ging er im September 1953 in den Westen. Bei dieser "Gelegenheit" nahm er eine "Aktentasche voll Westgeld" mit, womit er die Verurteilung durch seine ehemaligen Genossen nachträglich rechtfertigte. In der Bundesrepublik blieb er lange Zeit ohne Wurzeln und lebte unter falschen Namen. Er weigerte sich standhaft, zum Verräter zu werden, und im Osten wie im Westen wurde gerätselt, warum er die Grenze überschritten hatte. Seine Vergangenheit erwies sich als große Belastung für die persönliche und berufliche Zukunft. Erst im Sommer 1955 deutete sich eine Wendung zum Positiven an, als er Zugang zu einem Kreis von DDR-Flüchtlingen bekam und die Perspektive entstand, sich polit-journalistisch zu betätigen. Die Suche nach einer neuen weltanschaulichen Konzeption mündete episodenhaft in publizistischer Beschäftigung für einen "dritten Weg" zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Gleichzeitig versuchte er, antistalinistische Aktivitäten und Gespräche mit früheren Genossen miteinander zu vereinbaren. Jahrelang schlug sich der profilierte DDR-Experte als freier Publizist mit finanziellen Problemen herum. Lippmann engagierte sich in der SPD und erhielt 1973 - ein Jahr vor seinem Tod - endlich eine feste Beschäftigung im Gesamtdeutschen Institut. Die ihm gebührende Anerkennung fand Lippmann 1971 mit dem weltweit ersten Honecker-Portrait. Dieses viel beachtete Buch erschien gerade rechtzeitig zu seinem 50. Geburtstag, war jedoch auch schon der letzte Höhepunkt seines Lebens. Die letzten Wochen waren mit politischen und persönlichen Turbulenzen angefüllt, und mitten in der Arbeit versagte am 11. August 1974 sein Herz. Damit endete das mit Sensibilität und Respekt dargestellte Leben eines Mannes, welches die zeitgeschichtliche Entwicklung in Deutschland zwischen Weimarer Republik, Drittem Reich, Deutscher Demokratischer Republik und Bundesrepublik in tragischer Weise widerspiegelt. Unsicherheiten über das eigene Wirken prägen die Erinnerungen eines jüngeren FDJ-Funktionärs der Endphase der DDR. "Immer bereit! Parteiauftrag: kämpfen, spielen, fröhlich sein" hieß es jahrelang für Wilfried Poßner und die von ihm als letzten Vorsitzende angeführten Jungen Pioniere. Es ist ein Versuch, selbstkritisch mit sich, der Kinderorganisation, dem Jugendverband, der SED und seinem Staat umzugehen. Das Ergebnis ist widersprüchlich: Einerseits klingt mancher Satz couragiert, anderes hat eher den Charakter des unverzagten Beharrens, daß es doch auch viel Gutes in seinem Einflußbereich gegeben habe. "Vor allem an die Kindheit haben viele sicher gute Erinnerungen, verbinden sich doch damit auf ganz persönliche Weise Stichwörter wie Ferienlager, Wanderungen, Arbeits- und Sportgemeinschaften, Altstoffsammlungen, Solidaritätsaktionen, Pioniertreffen, Lernpatenschaften..." (8) Es klingt so, als ob der Autor für sein Handeln gerade stehen will: "Ich habe nichts gewußt, ist kein Argument, das uns von Verantwortung freispricht." (80) Stolz darauf, nicht die für einen Jugendfunktionär typische Laufbahn von der Grundorganisation in die Zentrale durchlaufen zu haben, wundert er sich gleichzeitig, warum gerade er von Margot Honecker protegiert wurde, zu der er eher eine disharmonische Beziehung hatte. Sein Leben war oft bestimmt von einem "Spagat zwischen quälendem Selbstzweifel und dem politischen Auftrag". (200) Die Erinnerungen sind nicht mehr als ein erster Schritt, sich mit eigener Verantwortung und persönlichem Fehlverhalten auseinanderzusetzen. Die bisher behandelten Texte ehemaliger FDJ-Funktionsträger verschweigen, daß es gegnerische Individuen und Gruppen gab. Deshalb muß die von Patrik von zur Mühlen vorgelegte Pionierstudie zum widerständigen Verhalten von Jugendlichen auf große Aufmerksamkeit stoßen. Der nachträglich nach dem Namen einer ostthüringischen Kleinstadt als "Eisenberger Kreis" bezeichnete Zusammenhang entstand zunächst aus befreundeten Oberschülern und Lehrlingen, aus dem sich eine studentische Gruppierung entwickelte. Ungewöhnlich ist, daß sich die Jugendlichen überwiegend mittelständischer und kleinbürgerlicher Herkunft von 1953 bis 1958 fast vier Jahre lang gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr setzen konnten. Die erste Motivation war eigentlich gar nicht besonders politisch: "Klassenkameraden erhielten trotz schlechterer Leistun-

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gen bessere Noten, wenn ihre Eltern Mitglieder in der Partei waren oder sie selbst sich der politischen Linie anpaßten." (22) Ein konkreter Ausgangspunkt für die fundamentaloppositionelle Vereinigung war der Schulausschluß von Mitgliedern der Jungen Gemeinde, über den einige Jungen des örtlichen Gymnasiums diskutierten. Die Folge war: Sechs Schüler gründeten eine oppositionelle Gruppe. Hier zeigt sich ein wichtiger, das jugendliche Handeln kennzeichnender Bezug: Von Anfang an wurde - aus den Erfahrungen des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus lernend - streng konspirativ gehandelt. So kannten sich beispielsweise nicht alle Jugendlichen untereinander, auch blieb die parallele Existenz einer weiteren in Eisenberg vorhandenen oppositionellen Jugendgruppe vorerst verborgen. Später fand aus taktischen und konspirativen Gründen zwar eine Zusammenarbeit, jedoch keine Verschmelzung statt. Zu den konkreten Aktivitäten gehörten kleine Plakate, mit denen im Oktober 1954 zum Boykott der Scheinwahlen zur Volkskammer aufgefordert wurde. Vorsichtig, wie die Jugendlichen waren, berührten sie die Blätter nur mit Gummihandschuhen, um keine Spuren zu hinterlassen. Im wesentlichen konzentrierten sich der Betätigungsdrang auf das Anbringen von Plakaten und Wandparolen (durchgestrichene Sowjetsterne) und die Verteilung von Flugblättern. Um sich nicht - wie die Geschwister Scholl - unnötig in Gefahr zu bringen, wurden die Schriften mit Hilfe von Apparaturen, wie sie von kommunistischen Gruppen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus Verwendung fanden, unter die Leute gebracht. Programmatisch - insoweit bei oppositionellen Jugendlichen davon gesprochen werden kann - gab es keine politische Homogenität, nebeneinander existierte konservatives, liberales, sozialdemokratisches und auch reform-marxistisches Gedankengut sowie eine unreflektierte SED-Gegnerschaft. Auffällig an dem Kreis ist die Abwesenheit von Mädchen, bei denen die Befürchtung bestand, "daß ihre Anwesenheit Eifersüchteleien in die Gruppe tragen würde, was die konspirative Struktur der Gruppe gefährdet hätte". (48) Nach dem Schulabschluß verlagerte sich der Aktionsradius an die Universität Jena, wo einige Eisenberger studierten, bis es durch einen Spitzel zur Aufdeckung der oppositionellen Aktivitäten kam. 1958 erhielten 24 Personen mehijährige Haftstrafen. Nach der Haftentlassung blieb ein Teil der Verurteilten in der DDR und wurde weiter schikaniert, andere wurden von der Bundesrepublik freigekauft. Selbstverständlich konnten die Aktionen des Kreises aufgeweckter und zu riskanten Unternehmungen bereiter Jugendlicher nicht das SED-Regime beseitigen. Da es bisher keine grundlegenden Forschungen gibt, wird der "Eisenberger Kreis" noch eine Weile die einzige Fallstudie über widerständige Jugendliche und Studenten bleiben. Es ist zu vermuten, daß es nicht nur diese Gruppe gab. Die Geschichte von Anpassung, Widerstand und Verfolgung an den Hochschule in der SBZ und DDR von 1945-1961 haben Waldemar Krönig und Klaus-Dieter Müller der Erinnerung an den 1948 verschleppten Leipziger Philosophiestudenten Wolfgang Natonek (1919-1994) gewidmet. In der auf Fragebogen- und Interviewauswertung beruhenden Dokumentation geht es um den studentischen Widerstand gegen den SBZ/ DDR-Sozialismus in seiner gesamten Breite und aus der Sicht der Betroffenen. Neben einem Exkurs zur Hochschulentwicklung und Einblicken in den studentischen Alltag kommt die "Sowjetisierung" ausführlich zur Sprache: In einer exemplarischen Chronologie werden authentische Aussagen zum studentischen Widerstand von 1947 bis 1958 wiedergegeben. Zur Sprache kommt Jahr für Jahr eine Fülle von oppositionellen Aktionen, zum Beispiel gegen die Bevorzugung von Arbeitern- und Bauernkindern beim Hochschulzugang. Hierbei spielten ständische Dünkel eine nicht unwichtige Rolle. Zusammengefaßt ist festzuhalten, daß der Band insbesondere durch seine vielen, wenn auch meist anonymen Beispiele - so werden allein im Anhang 20 exemplarische Vitae präsentiert - sehr instruktiv ist. Auf die Konflikte der Jungen Gemeinden der evangelischen Kirche von 1945-1953 geht die lokalhistorische Beschreibung zu den Leipziger "Agenten mit dem Kugelkreuz" ein. Das Kreuz auf der Weltkugel war das Symbol einer eigenständigen kirchlichen Jugendarbeit, die mit dem Vorwurf verfolgt wurde, eine von

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der FDJ unabhängige Vereinigung zu sein: Demgegenüber lautete die Position der Kirche: "Die Junge Gemeinde ist keine Organisation, sondern ist kirchliche Arbeit an den jugendlichen konfirmierten Cremeindegliedern." (14f.) Öffentlich getragen wurde das Kugelkreuz nur von besonders engagierten und mutigen Jugendlichen, denn wer das Bekenntnisabzeichen trug, mußte mit Repressionen - z.B. Schulverweis - rechnen, weil sich - so ein propagandistischer Text - dahinter "Agenten, Spione, Faschisten im Priesterrock" (17) verbargen. Einen Vergleich zur Zeit des Nationalsozialismus versucht auch der Verfasser dieses Buches, wenn gesagt wird: "Gerade die Erinnerung an die Zerschlagung der kirchlichen Jugendarbeit durch die Hitlerjugend ließ christliche Jugendliche besonders sensibel auf jede Form einer neuerlichen Einheitsorganisation reagieren." (39) Hierbei ist allerdings Wunschdenken im Spiel, ebenso bei einer zitierten Aussage, daß es "innerhalb der Kirche eine starke Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus" (21) gegeben habe. Aber solche nach Ansicht des Rezensenten beschönigenden Aussagen schmälern den Verdienst des ansonsten informativen und mit Dokumenten aus der "Opferperspektive" angereicherten Bändchens wenig. Ebenfalls um die Kontroversen zwischen Staat, Partei und Jugendorganisation auf der einen und der Kirche auf der anderen Seite geht es bei einer Auswahl von Papieren der "Täter" aus dem Archiv des FDJZentralrats. Die Dokumente, die Aufdrucke wie "Streng vertraulich", "Vertrauliche Post" oder "Verschlußsache" trugen, hat der erste Nach-Wende-Chefredakteur der Jungen Welt, der bis 1992 amtierende Frank Schumann, zusammengestellt. Die Schreiben und Vermerke dienten der Information der FDJ-Spitze und enthielten so "interessante" Themen wie die "Entlarvung" der Jungen Gemeinden als "Agenturen amerikanischer Dienststellen", die sich in der DDR eine "Basis für ihre Sabotage- und Diversionstätigkeit" (196) schaffen wollten. Unbekannt ist, ob der Auftrag aus dem Sekretariat des Zentralkomitees der SED an die "Genossen im Zentralrat der FDJ", zur Rückgewinnung der christlichen Jugendlichen Lektionen zu Themen wie "Wo finde ich einen Lebensgefährten?" herauszugeben, ausgeführt wurde und welchen "Erfolg" er hatte. Den Dokumenten als lebendes Pendant beigegeben sind mehrere von Karin Sedler und Frank-Rainer Schurich für das ZDF aufgezeichnete Gespräche über den "Glaubenskrieg" mit manchmal aufschlußreichen biographischen Mitteilungen. Ansonsten bleiben Sinn und Zweck des publizistischen Unternehmens zum "Glaubenskrieg" etwas im Dunkeln. Es hat den Anschein, als ob mehrere Konzepte nebeneinander verfolgt werden sollten und das Projekt kein Lektorat gefunden hat. Im Gegensatz zu dem zuletzt besprochenen Band ist das statistische Handbuch über die demographische und soziale Struktur der "DDR-Jugend" sorgfältig ediert. Das Nachschlagewerk soll "neue Forschungen zu den Jugendgenerationen der DDR anregen" (10), und es ist davon auszugehen, daß es diese Aufgabe erfüllen könnte. Die drei Kapitel werden jeweils mit fundierten Erläuterungen eingeleitet und enthalten weiterführende Angaben zur Literatur. In den insgesamt 170 Tabellen und 19 Abbildungen ist eine Vielzahl aussagefähiger und teilweiser bisher unveröffentlichter bzw. schwer zugänglicher Daten enthalten, deren erschöpfende Auswertung weiteren Forschungen vorbehalten bleibt. Der erste Teil behandelt die demographische Struktur der jugendlichen DDR-Bevölkerung, u.a. aufgeschlüsselt nach Bezirken und Geschlecht sowie dem Familienstand. Detailliert nachgewiesen wird ebenso der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung. Aufmerksamkeit wird auch den Eheschließungen und -trennungen gewidmet. Der nächste Abschnitt über das Bildungssystem klärt im wesentlichen über die geschlechtsspezifische Verteilung der Schüler (und Schülerinnen!) nach Schularten, den Anteil der Lehrlinge an der Gesamtbevölkerung und die Verteilung der Studierenden nach Studienformen, -fächern und Hochschulen bzw. Fachschulen sowie die soziale Zusammensetzung usw. auf. Bei der letzten Fragestellung zur Organisiertheit spielen neben den Mitgliedern der Freien Deutschen Jugend die jugendlichen Angehörigen in den Gesellschaften für Sport und Technik bzw. für Deutsch-Sowjetische Freundschaft sowie der Sportorganisationen eine Rolle: Sie "besaßen einen erheblichen jugendlichen

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Mitgliederbestand", darüber hinaus hatte die SED ein "nennenswertes jugendliches Potential". (156) Dies ist wohl kaum bekannt. Auf einen Vorbehalt bei der Verwendung der Zahlenreihen weisen die Herausgeberin Edeltraud Schulze und ihr Mitarbeiter Gert Noack hin: An der Basis war die Mitgliederregistrierung oft ungenau und in der Zentrale gab es künstliche Überhöhungen, aber "keine bewußten Fälschungen". (157) Mit ihrer enormen Fleißarbeit haben sie den zukünftigen Forschungen zur Geschichte der DDR-Jugend einen wertvollen Dienst erwiesen. Eine entsprechende Anerkennung kann ferner Dorle Zilch für die Zusammenstellung ihrer Zahlen über die "Millionen unter der blauen Fahne" beanspruchen. Ihre Veranschaulichung von Mitgliederbewegung und Strukturen in der FDJ-Mitgliedschaft ist auf zwei Bände angelegt. Der vorliegende erste Teil geht ausfuhrlich auf die quantitative Seite ein, während sich der Folgeband mit der historischen Entwicklung der Mitgliederstruktur befassen soll. Eine wichtige Erkenntnis nimmt Zilch auf den ersten Seiten vorweg: "Trotz der Millionen auf dem Papier vertritt die Autorin die These, daß die FDJ für lange Zeit gar nicht und in den letzten zwanzig Jahren der DDR nur knapp die Mehrheit der Jugendlichen der DDR in sich vereinigen konnte." (8) Dies demonstrieren ihre Datenreihen auf bestechende Weise. Wie bei dem Band "DDR-Jugend" geht Zilch von der grundsätzlichen Glaubwürdigkeit der Daten aus und versucht darüber hinausgehend, so etwas wie einen "tatsächlichen Organisierungsgrad" (12) zu ermitteln. Aber sogar bei Verwendung der Indikatoren Beitragszahlung, regelmäßige Teilnahme an Mitgliederversammlungen und dem FDJ-Studienjahr ist diese Messung aufgrund ungenügenden Zahlenmaterials nur bedingt zuverlässig. Die ermittelten Kennzahlen liegen für die Jahre ab 1970 bei 55-65 %, die offiziellen Angaben waren im Schnitt um ein Zehntel höher. Die Verfasserin verfolgt des weiteren die regionale Mitgliederentwicklung zu Zeiten politischer Zäsuren (1956, 1961 und 1968) und fragt nach den Motiven zum Austritt aus der FDJ. Dabei kommt sie zu dem Schluß, daß der Aussagewert der Daten "relativ gering" (57) ist. Bemerkenswert ist ein jugendspezifisches Charakteristikum: Viele Jugendliche sind "einfach ferngeblieben". (57) Im Gegensatz dazu kann in Bezug auf die Funktionäre, die eine Rate von 20-30 % an der Mitgliedschaft hatten, durchaus davon gesprochen werden, daß der Anteil der Mandatsträger fast schon an "Selbstbeschäftigung" (99) grenzte. So betrug die für 1988 genannte Zahl 39,6 %. Nach der Auswertung von 73 Tabellen und weiteren Schaubildern lautet ein Resümee: Die seit den achtziger Jahren zunehmenden und nicht nur statistisch wahrnehmbaren Warnsignale wie sinkende Beitragsmoral und Verweigerung der Teilnahme an Veranstaltungen blieben unbeachtet. Mit der Geschichte der DDR-Jugend befassen sich auch viele Beiträge des Jahrbuchs für zeitgeschichtliche Jugendforschung, mit dem die Jahresberichte 1990/91 bis 1993 des Instituts für zeitgeschichtliche Jugendforschung eine Fortsetzung und Erweiterung in Richtung auf ein "Forum für die Jugendforschung zum gesamten 20. Jahrhundert" (5) gefunden haben. Neben grundsätzlichen Aufsätzen von Heinz-Elmar Tenorth zu bildungshistorischen Fragen und Arno Klönne über die Schul- und Jugendpolitik der Besatzungsmächte nach 1945 ist unter dem hier behandelten Gesichtspunkt "50 Jahre FDJ" auf folgende Themen hinzuweisen: Julius Hoffmann untersucht die staatliche Kinder- und Jugendpolitik und beschreibt den 1945 beginnenden Aufstieg der Jugendämter in der SBZ, dem nach der Gründung der DDR 1950 der Fall folgte. Weitere behandelte Gegenstände sind die SED-Jugendkommuniques von 1961 und 1963 (Ulrike Schuster) und ein ereignisgeschichtliches Resümee zu Rockmusik und Politik in den achtziger Jahren (Michael Rauhut). Sehr erhellend ist weiterhin der Aufsatz der beiden Mitherausgeber Peter Skyba und Ulrich Mählert über die FDJ als Gegenstand der zeitgeschichtlichen Forschung. Sie stellen u.a. dar: Während die westdeutsche Forschung anfanglich stark am Mangel auswertbarer Informationen litt, galt in der DDR die vom SED-ZK formulierte ideologische Prämisse, "daß die Wahrheit über die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Arbeitetjugendbewegung nur vom Standpunkt des Marxismus-Leninismus wahrheitsgetreu

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ausgearbeitet werden kann." (107f.) Die in der DDR-Zeit festgestellten Forschungsergebnisse zur Geschichte der FDJ, die sich in vielen veröffentlichten und noch mehr in unveröffentlichten Arbeiten niederschlugen, können - bedingt u.a. durch "mangelnde quellenkritische Herangehensweise an Archivmaterialien" - nur als "unzuverlässiger Faktensteinbruch" (118) benutzt werden. Neben den genannten und weiteren Aufsätzen enthält das Jahrbuch unter den Rubriken "Forum", "Dokumentationen" und "Konferenzen, Tagungen, Symposien" weitere anregende Texte. Hervorzuheben ist bei den "Forschungs- und Archivberichten" der von Katharina Lange zusammengestellte Report über die zeitgeschichtliche Jugendforschung zur SBZ/DDR mit einer großen Menge an Hinweisen. Wie in den eingangs erwähnten Jahresberichten enthält das Jahrbuch einen Arbeitsbericht von Helga Gotschlich über das Institut für zeitgeschichtliche Jugendforschung, dessen übergreifende Forschungsfelder die jugendpolitischen Konzepte sowie die Geschichte der Jugendgenerationen in der SBZ/DDR beinhalten. Zu den bereits bearbeiteten Projekten gehören Editionen zur Geschichte der FDJ, d.h. eine Längsschnittbetrachtung und Dokumente zur Westarbeit. Weitere Projekte befassen sich mit dem sowjetischen Einfluß auf die FDJ-Gründung, das Selbstverständnis der Aufbaugeneration, die Führung der Jugendorganisation, Hochschulpolitik und Rockmusik und Politik. Abgerundet wird das Periodikum mit über 15 Sammel- und Einzelrezensionen zur Geschichte der FDJ und darüberhinausgehend zur zeitgeschichtlichen Jugendforschung. Bilanzierend ist 50 Jahre nach der Gründung der FDJ festzustellen, daß fundierte repräsentative Aussagen über das Leben und Handeln von Jugendlichen spärlich gestreut sind. Den derzeitigen Informationsstand repräsentieren weniger analytische, sondern eher deskriptive Arbeiten. Allenfalls jugendgeschichtliche Teilaspekte - wie der Anfang der FDJ oder die Lebensgeschichte des in den Westen geflüchteten Jugendfunktionärs Lippmann und die Fallstudie über den "Eisenberger Kreis" - dürften über den Tag hinaus Gültigkeit besitzen. Die mannigfaltige Erinnerungsliteratur gibt zwar Einblicke in gegenwärtige Sichtweisen auf die Vergangenheit aus der Sicht von Funktionären und Opfern der Verfolgung, Allgemeingeltung können und wollen diese Schriften nicht haben. In mehreren Publikationen werden ausdrücklich Vergleiche mit der Zeit des Nationalsozialismus angestellt bzw. drängen sich entsprechende Fragen praktisch auf und bleiben ohne Antwort: Wie gelang es beispielsweise Hitler-Jugend und Freie Deutsche Jugend, Jugendliche zu gewinnen, wie versuchten sie, an die Bedürfnisse der Jugendlichen anzuknüpfen und in welchem Verhältnis standen dabei werbendes und repressives Vorgehen?

Gerd-Rüdiger Stephan (Berlin)

Ein vorläufiges "Urteil" über die DDR-Geschichte? Die Ergebnisse der Enquete-Kommission des 12. Deutschen Bundestages Materialien der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" (12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages), hrsg. vom Deutschen Bundestag, neun Bände in 18 Teilbänden, Nomos Verlag/Suhrkamp Verlag, Baden-Baden/Frankfurt a. M. 1995, 15200 S„ 198 DM (kartonierte Buchausgabe). Getrennte Vergangenheit, gemeinsame Zukunft. Ausgewählte Dokumente, Zeitzeugenberichte und Diskussionen der Enquete-Kommission "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" des Deutschen Bundestags 1992-1994 (dtv Dokumente), hrsg. von Ingrun Drechsler, Bernd Faulen-

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back, Martin Gutzeit, Markus Meckel und Hermann Weber, Deutscher Taschenbuch Verlag, 1996, vier Bände, ca. 800 S.

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Im Mai 1992 setzte der Deutsche Bundestag eine Enquete-Kommission ein, die sich mit der Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland beschäftigen sollte. Sie wurde vor dem Hintergrund der seit 1990 geführten öffentlichen Debatten über die Notwendigkeit einer Bewältigung der DDRVergangenheit gegründet. Der Kommission gehörten 16 Bundestagsabgeordnete (7 von der CDU/CSU, 5 von der SPD, 2 von der FDP, je einer von Bündnis 90/Grüne und PDS) und 11 Sachverständige (ebenfalls nach dem Parteienschlüssel besetzt) an. Das Ziel bestand - so die Absichtserklärung der Initiatoren aus den Parteien - in der Klärung von Grundfragen des SED-Systems, in der Öffnung der festgefahrenen Diskussion, in der Erarbeitung von Beiträgen zur politisch-historischen Bewertung der Vergangenheit. Die gleichermaßen formulierten politischen Zielstellungen, von denen sich das deutsche Parlament leiten ließ, verhießen für manchen Beobachter allerdings nichts Gutes. Was sollte schon dabei herauskommen, wenn eine Kommission, nach dem Bonner Parteienproporz zusammengesetzt aus Berufspolikern und Fachwissenschaftlern, die DDR-Geschichte untersucht? Die Aufnahme der Tätigkeit weckte jedoch nicht nur Vorurteile und Anfeindungen. Die Aktivitäten wurden in der Öffentlichkeit zunächst sehr aufmerksam verfolgt. Vor allem die zahlreichen öffentlichen Anhörungen, welche in Berlin, Bonn, Leipzig und anderen Städten stattfanden, erhielten großen Zuspruch. Sowohl Wissenschaftler wie politische Zeitzeugen traten auf und legten ihre Meinungen bzw. Erinnerungen dar. Darüber hinaus vergab das Gremien an Wissenschaftler Aufträge für 148 Expertisen im Rahmen der selbstgesetzten Schwerpunktthemen. Die vorgelegten Studien wurden zunächst allerdings nur auszugsweise, eher zufällig und nur in einzelnen Medien bekannt. Um so wichtiger erschien es, gerade diese Materialen einem breiteren Interessentenkreis zugänglich zu machen. Auf ca. 15.000 Seiten liegen die Ergebnisse der Arbeit der Enquete-Kommission inzwischen fast gänzlich vor. Damit ist der Betrachter in die Lage versetzt, nicht nur den - sowieso nicht unumstrittenen und mit Minderheitenvoten ergänzten - Abschlußbericht vollständig zur Kenntnis nehmen zu können, hier finden sich sowohl die Bemühungen im Vorfeld der Einsetzung wie die abschließende Bundestagsdebatte zum Bericht im Mai 1994; vor allem aber sind die Sitzungsprotokolle, die Berichte, Expertisen und Gutachten sowie die Vorträge zu den neun Hauptthemen nachlesbar. Über die gewählten Schwerpunkte (und ihre Formulierung) ließe sich trefflich streiten; in den Themen spiegeln sich trotz aller Einwände und Proportionsverschiebungen die meisten brennenden Fragen der Diskussionen um die Geschichte der DDR wider. Die Schwerpunkte lauten (etwas verkürzt formuliert): Machtstrukturen und Entscheidungsmechanismen im SED-Staat; Rolle und Bedeutung der Ideologie; Recht, Justiz und Polizei; Deutschlandpolitik und internationale Beziehungen; Rolle und Selbstverständnis der Kirchen; Opposition und Widerstand bis zur friedlichen Revolution im Herbst 1989 und zur Wiedervereinigung Deutschlands; Ministerium für Staatssicherheit; Seilschaften, Altkader, Regierungs- und Vereinigungskriminalität, Archivprobleme; Formen und Ziele der Auseinandersetzung mit den beiden Diktaturen in Deutschland. Als wesentliche inhaltliche Untersuchungsschwerpunkte hatte sich die Kommission, ergänzend zu den Themengruppen, folgende Problemkreise gewählt: die diktatorischen Machtstrukturen und Herrschaftsinstrumente des Partei- und Staatsapparates sowie die Mechanismen ihrer Anwendung in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Entwicklungsphasen der DDR, den Aufbau der Machthierarchie und die Funktionsweise der Entscheidungszentren, die Verantwortung der Machthaber und der nachgeordneten Kader auf den verschiedenen Handlungsebenen, die Wirkungsweise der Repressionsmechanismen, die Methoden der Einflußnahme der SED auf die politischen und gesellschaftlichen Institutionen, die Auswirkungen

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der Herrschaftsstrukturen auf das alltägliche Leben und das seelische Befinden der Menschen sowie die Folgen der SED-Diktatur für die Bürger der neuen Bundesländer nach der deutschen Einheit. (Vgl. Bd. I, 185) Der offizielle, vom Bundestag bestätigte Endbericht versuchte die Zusammenfassung der zweijährigen Arbeit. Die gesamte Tätigkeit der Kommission wurde dafür auf 600 Seiten zusammengefaßt. Verständlicherweise fiel das Urteil in manchen Fragen - so in der Deutschland- und in der Kirchenpolitik - durch die beteiligten Parteien kontrovers aus. Dadurch wurde es notwendig, zahlreiche Mehrheits- und Minderheitenvoten aufzunehmen, die eben die aufgetretenen unterschiedlichen Positionen reflektieren. Entsprechend der neun genannten Schwerpunkte versuchte eine Redaktionskommission, die Fülle der vorgelegten Fakten und Zusammenhänge zusammenzufassen und in einer überschaubaren Form zu präsentieren. Eine genauere Betrachtung bestätigt, daß mit dem Bericht ein "Grundriß" der DDR-Geschichte freilich nicht vorliegt, auch gar nicht angestrebt wurde. Der weitestgehende Verzicht auf detaillierte Analysen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik der SED oder auch in der Militärpolitik beeinträchtigt im übrigen eine differenzierte Gesamtsicht. Dennoch liegen jetzt nicht nur 15.200 Seiten Papier (fast 16 Kilogramm Bücher) vor, sondern eine Fülle von Anregungen, sich seitens der sozialwissenschaftlichen Forschung weiterhin der DDR- und Kommunismusgeschichte auf der Grundlage der inzwischen erreichten Positionen zu stellen. Dazu gibt der Abschlußbericht weitere wichtige Hinweise. Zum einen werden berechtigt und recht präzise die Desiderate der Forschung an verschiedenen Stellen genannt. Zum anderen verweisen die Sondervoten der jeweiligen parteipolitischen Gruppen auf Lücken, Mängel bzw. "weiße Flecken". Die Arbeiten zur DDR-Geschichte sind also - so bleibt zu hoffen - keineswegs beendet, in manchen Fragen haben sie wohl gerade erst begonnen. Erwähnt werden muß, daß die redaktionelle Zusammenstellung des Textes manche Unkorrektheit oder Widersprüchlichkeit hervorbrachte (vgl. z.B. die Passage über die Wissenschaftspolitik; Bd. I, 318 f.) und daß der Einbau von z.T. recht umfänglichen Sondervoten die Lesbarkeit des Berichts ziemlich erschwert. Für die Forschung überaus interessant stellt sich der Teil zur Lage in den Archiven dar. Er enthält viele wichtige Fakten und nützliche Details. (Bd. I, 647ff.) Auf der Grundlage der seit 1990 zugänglichen und umfangreichen Quellenüberlieferung zur DDR-Geschichte vor allem in den ostdeutschen Archiven präsentieren sich sowohl die Berichte, Expertisen, Gutachten als auch die Vorträge, die wichtige, neue Ergebnisse der Forschung über die DDR, die Entwicklung des kommunistischen Herrschaftssystems nach dem Zweiten Weltkrieg sowie über deutsche Zeitgeschichte enthalten. Viele Fachkollegen haben in ihren Beiträgen die aktuellsten Erkenntnisse präsentiert und auch hiermit Anregungen für weitere Analysen gegeben. Gerade in den erstgenannten Problemkreisen, SED-Machthierarchie, Ideologie und Deutschlandpolitik, finden sich hochinteressante und impulsgebende Beiträge. Innerhalb der Entwicklung des SED-Herrschaftssystems untersuchten Hermann Weber, Fritz Schenk, Wolfgang Seiffert und Thomas Ammer das Verhältnis von Partei und Staat in den verschiedenen zeitlichen Phasen. (Bd. II, 415 ff.) Hier finden sich Studien über die Rolle der Blockparteien und die Funktion der Massenorganisationen (z.B. von Peter Hübner, Christel Nehring, Siegfried Suckut, Michael Richter). In diesem Themengebiet gibt es zumindest auch einige Arbeiten zum Planwirtschaftssystem (Bd. II, 2692 ff.) Im Bereich der Ideologie beschäftigen sich mehrere Vorträge bzw. Expertisen, so von Wolfgang Leonhard, Johannes L. Kuppe und Hermann Weber/Lydia Lange, mit der Funktion des Marxismus-Leninismus (Bd. III, 33ff., 1370ff. sowie 2034ff.). Rüdiger Thomas analysiert Ursachen und Folgen der Gesellschaftspolitik im SED-Staat (Bd. III, 1844 ff.), Irma Hanke die Sozialstruktur und Gesellschaftspolitik sowie ihre geistig-seelischen Folgen (Bd. III, 1144 ff.). Außerdem finden sich wichtige Studien zur Jugendpolitik sowie zum Bildungs- und Erziehungssystem (u.a. von Barbara Hille, Ulrich Mählert und Udo Margedant, Bd. III, 1275ff.)

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Zu den Elementen und Phasen der Deutschlandpolitik und den internationalen Beziehungen legen ausgewiesene Experten, wie z.B. Wolfgang Benz, Wolfgang Jäger, Christoph Kleßmann, Wilfried Loth, Fred Oldenburg oder Gerhard Wettig, ihre z.T. in der Diskussion befindlichen Thesen vor. In diesem Zusammenhang hat der Leipziger Jugendforscher Peter Förster eine brisante Dokumentation empirischer Untersuchungsergebnisse der Jugendforschung der DDR aus dem Zeitraum von 1966 bis 1989 zur deutschen Frage im Bewußtsein der Bevölkerung vorgelegt (Bd. V, 1212ff.) Angesichts des kaum vorhandenen Quellenmaterials aus DDR-Meinungsumfragen (lediglich in den siebziger Jahren führte das wenige Jahre existierende Ost-Berliner ZK-Institut für Meinungsforschung solche durch, darüber hinaus existieren hier lediglich Tendenzen anzeigende Berichte der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit) wurden damit wertvolle Informationen zugänglich. Einen Vergleich mit westdeutschen Entwicklungen gestattet eine ähnlich angelegte Studie von Anne Köhler (Bd. V, 1636ff.) Leider kamen in diesem überaus komplizierten Themenfeld nur wenige, zudem nicht wirklich entscheidungsbefugte Akteure der DDR-Politik in den Anhörungen zu Wort (aus dem ZK-Apparat und einer Institution der SED-Politikberatung). Diese Verfahrensweise führte offensichtlich zu Schieflagen. Der beträchtliche Gesamtumfang der achtzehn Bände erschwert die schnelle Orientierung. Ein Personensowie ein Sachregister finden sich nur im letzten Band (Bd. IX, 779ff.), Wer spezielle Details sucht, wird Mühe aufwenden müssen. Die meisten Vorträge enthalten zudem keinen Anmerkungsapparat. Da nicht jeder Interessierte an deutscher Zeitgeschichte die achtzehn Bände zur Kenntnis nehmen wird, dürfte die zusammenfassende Publikation über die Enquete-Kommission im Deutschen Taschenbuch Verlag eine größere Leserschaft finden. Hier wird eine auszugsweise, knapp kommentierte Veröffentlichung der Ergebnisse der Kommissionstätigkeit vorgenommen. Als Herausgeber fungieren Wissenschaftler und Politiker, die auf Vorschlag der SPD in der Enquete mitarbeiteten. In zehn Kapiteln, die eng an die o.g. Themenschwerpunkte angelehnt sind, werden wichtige Materialien und Dokumente vorgestellt. Jeweils ein Autor führt kapitelweise in das Thema ein, verbindet die einzelnen Auszüge und resümiert die Ergebnisse. Einen besonderen Schwerpunkt bilden neben den Passagen aus dem Abschlußbericht (einschließlich der Texte von Sondervoten) die Statements aus den 44 ganztägigen öffentlichen Anhörungen (insgesamt gab es 81 Plenarsitzungen), bei denen 186 Wissenschaftler und Zeitzeugen - mit oft gegensätzlichen oder doch unterschiedlichen Perspektiven - zu Wort kamen. Ausführlich (auf 250 Seiten) werden, kommentiert von Bernd Faulenbach, die Debatten und Anhörungen zur Deutschlandpolitik von der Ära Adenauer bis zur deutschen Einheit 1990 nachgezeichnet, und dabei sind die Meinungen zu den deutsch-deutschen Beziehungen in den siebziger und achtziger Jahren freilich außerordentlich kontrovers. Hier gaben u.a. Timothy Garton Ash und Wjatscheslaw Daschitschew Gutachten ab, hier traten die westdeutschen Politiker Egon Bahr, Rainer Barzel, Erhard Eppler, Hans-Dietrich Genscher, Helmut Kohl, Wolfgang Mischnick, Walter Scheel, Helmut Schmidt, Hans-Jochen Vogel, Dorothee Wilms und Heinrich Windelen vor die Mikrofone und legten ihre Auffassungen und Beweggründe dar. Trotz der unproportionalen Quellenlage (die ostdeutschen Archive sind zugänglich, die westdeutschen Sammlungen und außerdem die Akten den DDR-Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, nunmehr im Außenamt in Bonn untergebracht, blieben bisher verschlossen) verdichteten sich durch die Zeitzeugenschaften und die Vorlage schriftlichen Quellenmaterials die Gewißheiten über die oft intem gebliebenen Entwicklungen. 1 1 Vgl. Potthoff, Heinrich: Die "Koalition der Vernunft". Deutschlandpolitik in den 80er Jahren. München 1995 (auf der Grundlage einer Expertise für die Enquete-Kommission erarbeitet); Nakath, Detlef/Stephan, Gert-Rüdiger: Von Hubertusstock nach Bonn. Eine dokumentierte Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen auf höchster Ebene 1980-1987. Berlin 1995.

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Im von Hermann Weber eingeleiteten Abschnitt zur Machtstruktur und den Entscheidungsmechanismen im SED-Staat wird eine Podiumsveranstaltung in Berlin am 26. Februar 1993 dokumentiert, auf der die SEDSpitzenfunktionäre Hans Modrow, Günter Schabowski, Karl Schirdewan, Gerhard Schürer und Manfred Uschner aus ihren Erfahrungen berichteten und Strukturen und Formen der Machtausübung der SEDFührungsspitze belegten. Schließlich diskutierten und stritten am 3./4. Mai 1994 zum besonders brisanten Vergleich zwischen Nationalsozialismus und SED-Diktatur sowie zur Aufarbeitung der Geschichte zweier deutscher Diktaturen im 20. Jahrhundert Experten wie Horst Möller, Jürgen Kocka, Eckhard Jesse, Rainer Lepsius, Karl Dietrich Bracher und Jürgen Habermas. Die Debatten sind in einem Abschnitt nachzulesen, der wiederum von Bernd Faulenbach bearbeitet wurde. Die hier nachlesbaren Meinungen könnten durchaus Impulse für künftige Forschungen geben. Ihre Bewertung bleibt jedoch im einzelnen den Rezipienten überlassen. Erwähnenswert ist die Feststellung der Herausgeber in ihrer kurzen Einleitung, daß das Programm der Kommission für die relativ kurze Arbeitsphase von zwei Jahren "zu umfangreich" war. Außerdem bemerken sie: "In der Schlußphase der Arbeit, in der die Wahlkämpfe des Jahres 1994 bereits ihre Schatten warfen, wurden die Debatten - etwa über die Beurteilung der Deutschlandpolitik - heftiger. Tendenzen einer Überpolitisierung waren hier und da unübersehbar, etwa wenn versucht wurde, isolierte Quellenbefunde parteipolitisch zu instrumentalisieren." (9) Diese Bemerkungen der Kommissions-Insider sollte der Leser berücksichtigen und sich bei vielen Passagen vor Augen halten. Die knapp 800 Seiten Auswahlmaterialien der Enquete-Kommission geben einen repräsentativen Einblick in ihre Tätigkeit und in ihre Bilanz. Sie können gleichwohl, gerade für das Fachpublikum, die zuweilen schwierige, weil umfassende und etwas unübersichtliche Lektüre der gesamten achtzehn Bände nicht ersetzen. Die dort vollständig gedruckten Expertisen bleiben für die weitere DDR-Forschung nahezu unersetzlich. Die Materialien der Enquete-Kommission des 12. Deutschen Bundestages waren noch gar nicht erschienen, da legte sich das neue Parlament auf eine Weiterführung der Geschichtsarbeit fest. Am 22. Juni 1995 wurde die neue Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit", ähnlich zusammengesetzt wie ihr Vorgängergremium, per Bundestagsentschließung konstituiert. In dem Beschluß wurde zudem festgelegt, das bewährte Instrumentarium (Expertisen, Vorträge, Anhörungen) weiterzuführen. In Auswertung der offensichtlichen Desiderate sollen nun folgende thematischen Schwerpunkte in das Blickfeld gerückt werden: a) Bildung, Wissenschaft, Kultur (u.a. Ziele und Methoden des ideologischen Einflusses der SED, Militarisierung der Gesellschaft und Bedeutung von Feindbildern, Fortwirkung von Strukturen und Inhalten des Erziehungswesens und der Jugendpolitik im Transformationsprozeß), b) Wirtschafts-, Sozial- und Umweltpolitik (Strukturen der sozialistischen Planwirtschaft, außenwirtschaftliche Beziehungen der D D R , Sozialpolitik und soziale Situation), c) das geteilte Deutschland im geteilten Europa (Einbindung von DDR und B R D in die beiden Blöcke und die Frage nach der Möglichkeit selbständiger politischer Entscheidungen, Westarbeit der SED und des Ministeriums für Staatssicherheit, Ostpolitik der Bundesregierung und der bundesdeutschen Parteien). Inwieweit sich durch die Arbeit der neuen Enquete-Kommission die Urteile über die DDR-Geschichte und über die gesamte deutsche Zeitgeschichte nach 1945 weiterentwickeln, verändern oder stabilisieren, darf mit einer gewissen Spannung abgewartet werden.

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Schräder, Fred. E.: Der Moskauer Prozeß 1936. Zur Sozialgeschichte eines politischen Feindbildes. pus Verlag, Frankfurt a.M./New York 1995, 552 S.

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In vielen Totalitarismustheorien werden die Moskauer Schauprozesse als Triumph der persönlichen Herrschaft Stalins interpretiert. Stalin sei es gelungen, die alte revolutionäre Garde der Gefolgsleute Lenins und mögliche Machtkonkurrenten zu vernichten, sich selbst als legitimen Nachfolger Lenins zu präsentieren und ein totalitäres Regime sui generis zu etablieren. Schräder verweist darauf, daß dieses Interpretationsparadigma wesentlich von dem (abwesenden) Hauptangeklagten des ersten großen Schauprozesses von 1936, nämlich Trockij, stammt. Sowohl Trockij wie die Totalitarismustheorien hätten, so Schräder, die interne Logik dieses Schauprozesses wie der auf ihn folgenden nicht erkannt. Diese interne Logik des Schauprozesses von 1936 sei wesentlich von den Konstruktionsprinzipien eines imaginären Feindbildes (Trotzkismus) bestimmt gewesen, dessen inhärente Chiffren, Codes und Mentalitätsschichten erst entziffert und freigelegt werden müßten, um ein angemessenes Bild von den Großen Säuberungen der Jahre 1936 bis 1938 zu gewinnen. Die verschlungenen Interpretationsschneisen, welche Schräder im ersten theoretischen Hauptteil (9-172) seiner Studie schlägt, lassen sich in folgenden Thesen zusammenfassen. 1. Die absurden Anklagen im ersten Moskauer Prozeß besitzen einen wahren Kern (bes. 47). Es gab 1932 kurzfristig einen Block zwischen Trockij und den Anhängern Zinov'evs ("vereinigtes Zentrum"). Trockij und die Anklage benutzen diesen wahren Kern des Feindbildes unterschiedlich: Trockijs Sohn Sedov klammert in seiner Verteidigungsschrift diesen heiklen Punkt aus, während die Anklage ihn zu monströsen Erfindungen ausweitet. Die Aufforderung Trockijs, Stalin abzusetzen, wird von der Anklage als Planung eines Mordkomplotts inszeniert. 2. Die Konstruktion des abstrusen Feindbildes ("Trotzkismus") demonstriert nicht die omnipotente Machtfülle Stalins, sondern verhüllt seine Ratlosigkeit angesichts einer chaotischen gesellschaftlichen Entwicklung. Stalin und seine politische Klasse interpretieren die chaotischen wirtschaftlichen Verhältnisse, die desolaten Zustände innerhalb der Partei und vor allem ihre Ohnmacht, die unteren und mittleren Kader der Befehlsgewalt der Zentrale zu unterwerfen, als Werk einer weitverzweigten trotzkistischen Schädlingsorganisation, welche Grubenunglücke herbeiführt, die Parteimoral zerrüttet und Produktionskrisen verursacht. Paradoxerweise bindet und deformiert dieses monströse Feindbild sowohl Stalin wie seinen Gegner Trockij: Stalin vermag nicht die tatsächlichen Ursachen der chaotischen gesellschaftlichen Entwicklung zu erkennen, sondern beharrt auf der Entdeckung geheimer Sabotageaktionen durch häretische Akteure, während Trockij sich bemüht, seine Unschuld zu beweisen und Stalin Manipulationen nachzuweisen. Vor allem der Schauprozeß gegen führende Wirtschaftskader und Ingenieure des Produktionsapparates, welcher Ende November 1936 in Novosibirsk stattfindet, demonstriert die Blindheit und Ohnmacht der stalinschen Industrialisierungspolitik. Statt sich um die Verbesserungen der technischen Sicherheitsanlagen in den Bergwerksgruben

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zu kümmern, werden kompetente Wirtschaftsfachleute als "Sündenböcke" präsentiert und gezwungen, sich "trotzkistischer Schädlingsarbeit'' zu bezichtigen. Die wirtschaftliche Desorganisation wird noch durch die permanente Denunziationsepidemie verschärft und ausgeweitet. Der verordnete Bürgerkrieg von oben schafft sich seine eigene self-fulfilling prophecy. Die "ezovscina" wird zum virtuellen Bürgerkrieg, in dem sich politische Opponenten mit dem beliebig austauschbaren Feindbild des Trotzkismus bekämpfen und der chaotische Zustand von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Fiktion von Sabotage und Verschwörung plausibilisiert wird (126f.). Der Schauprozeß von 1936 wird so zum "metaphorischen Vehikel", welches "zur Identifizierung des aktuellen endogenen Widerstandes in der Staats- und Parteimaschinerie" (127) dient. 3. Dem von oben entfesselten Bürgerkrieg entspricht eine Rechtsrevolution, welche in der Inszenierung des Moskauer Prozesses im Rahmen eines formalen Rechtsverfahrens ihren imaginären Ausdruck findet. Die "Willkürherrschaften des fehlfunktionierenden Apparates" (135) sollen ausgeschaltet, der gesellschaftliche Protest gegen das System von Partei und Staat abgelenkt und in Zivil- und Strafrechtsnormen kanalisiert werden. Vysinskij, der Chefankläger des Moskauer Prozesses, liefert die rechtsrevolutionäre Interpretation: nicht die vollzogene kriminelle Handlung, sondern schon "die Unterlassung ihrer Verhinderung" (134) wird zum denunziationswürdigen Straftatbestand. Die hier referierten Thesen Schräders lesen sich in weiten Passagen als eine Aktualisierung der Einsichten, welche E. E. Evans-Pritchard 1937 in Witchcraft, Oracles, and Magic among the Azande eindrucksvoll präsentiert hatte. Die Produktion fiktiver Kausalagenten zur Erklärung von unerklärbaren Unglücksfällen wird als eine naheliegende Möglichkeit beschrieben, die eigene Handlungsunsicherheit durch die Reduktion komplexer Handlungsabläufe auf plausible Kausalfaktoren aufzulösen. Schräders Hinweise auf die Hexenprozesse im Kontext von Strukturkrisen des mittelalterlichen Europa zielen also in eine Richtung, welche durchaus als interessante Interpretation der Moskauer Prozesse gelten könnte. Die im Anschluß an Getty und Rittersporn gewonnene Einsicht in den chaotischen Verlauf der sowjetischen Industrialisierungsprozesse, welche es der stalinschen politischen Klasse unmöglich gemacht habe, komplexe Ursachen zu reflektieren statt fiktive Verschwörungsphantasien als Entlastungsoffensive ins Spiel zu bringen, bedarf einer kritischen Nachfrage. Stimmt es, daß Stalin der Eigenlogik seiner Feindbildkonstruktion bis zu dem Punkt der blinden Selbstzerstörung verhaftet war? Sind Verschwörungsfiktionen nicht der symbolische Ausdruck von Virtuosengemeinschaften (M. Weber), gleichgültig, ob sie mit einer gesteigerten oder lediglich geringen Umweltkomplexität konfrontiert sind? Wie gelang es Stalin, die Denunziationsepidemien zu stoppen, obgleich er doch angeblich davon überzeugt sein mußte, daß die weitere Aufdeckung von Verschwörungen die gestörten Funktionsmechanismen von Staat, Partei und Wirtschaft beheben könnte? Stehen die gesellschaftlichen Krisen und die Produktion von fiktiven Kausalagenten in einem notwendigen inneren Zusammenhang? Diese und ähnliche Fragen stellen sich, wenn man die interessanten und weitreichenden Spekulationen Schräders auf nachprüfbare Hypothesen zurückzuführen sucht. Erstes empirisches Material bietet Schräder selbst im Teil II (Quellen und Materialien) an, in dem insbesondere die Pravda-Artikel zum Schauprozeß von 1936 dem an der Entschlüsselung moderner Hexerei interessierten Leser erste Anhaltspunkte für eine kultursoziologische Interpretation bieten. Klaus-Georg Riegel (Trier)

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Naimark, Norman M.: The Russians in Germany. A History ofthe Soviet Zone of Occupation, Harvard University Press, Cambridge (Mass.j/London 1995, 586 S.

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1945-1949.

Dieses Buch in die Hand zu nehmen, bereitet ästhetischen Genuß. Es kann wie ein Kriminalroman gelesen werden, und wegen der Spannung fällt es manchmal schwer, es wissenschaftlich auszuwerten. Verfasser wie Verlag darf man gratulieren. Auch zu dem voluminösen Quellenapparat von fast 100 Seiten, der allein etwa 170 archivalische Einheiten sowjetischer Provenienz enthält. Ein Dutzend Archive wurde insgesamt konsultiert, darunter alle wichtigen deutschen Quellensammlungen. In der knappen Zusammenfassung heißt es, daß die sowjetische Besatzung in Deutschland keine langfristigen Ziele, sondern zunächst die Befriedigung eigener ökonomischer Interessen verfolgt habe (Reparationen, Uran, Technologie). Als konfligierende Determinanten erlaubten bolschewistische Prädisposition und Großmachtinteresse der Siegermacht drei Alternativen - Sowjetisierung der Zone, Einheit unter SEDFührung oder ein neutrales Deutschland - und verursachten auch innersowjetische Zielkonflikte. Zwar habe der sowjetische ZK-Apparat großes Interesse an einem Kompromiß mit den Westmächten gezeigt, aber weder die Westmächte noch westdeutsche Politiker nahmen diese Chancen wahr. Nur wenige Hinweise hätten darauf hingedeutet, daß die sowjetische Führung emsthafte Schritte in Richtung auf ein kommunistisch dominiertes Deutschland unternommen hat. Im Hinblick auf die Zukunft Deutschlands verließ man sich vielmehr auf die Vier-Mächte-Mechanismen. Andererseits meint Naimark, sehr früh eine politische Verbindung Tjulpanow-Ulbricht zu erkennen, die unbeirrt die erste Alternative präferiert haben; als Antipoden werden Malenkow-Berija oder auch MolotowSemjonow genannt. So folgte die "sehr komplexe" sowjetische Besatzungspolitik in Naimarks Interpretation zwar keinem Plan, sie war aber durch eine Vielzahl von systemimmanenten Fundamentalprinzipien determiniert. Die Sowjets "bolschewisierten" die Zone auch ohne Plan, weil es ohnehin die ihnen einzig bekannte Art war, wie eine Gesellschaft organisiert werden kann. Zur Sowjetisierung gab es daher laut Naimark keine Alternative. Diesen Prozeß beeinflußte nicht nur der Ost-West-Konflikt. Von den innerdeutschen Determinanten werden genannt: die innere Schwäche der SED und der starke Antisowjetismus der Bevölkerung. Die SMAD sei zunächst unfähig gewesen, verschiedene moskaufixierte deutsche Gruppen zu kontrollieren, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit durch ihren Radikalismus Moskaus langfristige Interessen in Deutschland unterminierten. Generell wandte die SMAD, unfähig zu kooperativen Arbeitsformen, auch gegenüber Linken ihre Methoden der Kontrolle und der Administration an. In der Bevölkerung war die Ablehnung, auf die die Besatzungsmacht stieß, eine Folge des Verhaltens sowjetischer Soldaten während und nach der Eroberung, Ergebnis der Repression und der wirtschaftlichen Ausbeutung. Davor wird in acht Kapiteln, die zentralen Bereichen der Besatzungspolitik gewidmet sind, der Prozeß der "Sowjetisierung" im Detail untersucht. Die relativ selbständigen Kapitel sind zum Teil auszugsweise vorab veröffentlicht worden. Neben stärker referierenden Teilen über wirtschaftliche Aspekte der Besatzungspolitik stehen sehr detailreiche Beiträge beispielsweise über Kultur und Erziehung. Einen herausgehobenen Platz nehmen die Kapitel über sowjetische Soldaten und deutsche Frauen ein, über die sowjetische Haltung gegenüber der deutschen Linken und der KPD/SED, über das sowjetische "Policy-making" in der Zone - konzentriert auf die Person Tjulpanows - sowie über die Polizeientwicklung in der SBZ (unter der Überschrift "Aufbau des ostdeutschen Polizeistaats"). Das Buch macht deutlich, wie die "neue Archivsituation" eine starke Spannung zwischen Materialfülle und Bewältigungsanstrengung, zwischen analytischem Aufwand und Zwängen der synthetischen Darstellung erzeugt. Es ist legitim und im vorliegenden Fall sogar kompositorisch hervorragend gelungen, diesen Kon-

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flikt zugunsten der Plastizität zu lösen. Dennoch darf unvermittelt der methodische Einwand erlaubt sein, daß einzelne Tiefenstudien nur Aussage und Struktur des Ganzen bekräftigen. Ein Bild von Stromlinienförmigkeit drängt sich stellenweise auf, wenn man dem dichten Quellenstakkato der letzten Kapitel folgt. Es sei hier auch gleich auf ein Quellenproblem hingewiesen: In Berichten Tjulpanows an die außenpolitische Abteilung des ZK der KPdSU wird nicht von ungefähr vor allem von eben solchen "Sowjetisierungs"Leistungen und Erfolgen die Rede gewesen sein. Und - allein von den Signaturen her - ein Drittel der von Naimark benutzten sowjetischen Quellen sind Materialien dieser ZK-Abteilung. Doch nicht nur bei "Sowjetisierung", sondern auch bei ihrer wissenschaftlichen Erforschung hat die Methode Einfluß auf das Ergebnis. Es ist fraglich, ob Tjulpanow als Berichterstatter nach Moskau auch als der "Macher" dieser Politik in der SBZ vorgestellt werden kann. Gegenüber früheren Thesen differenziert Naimark zwar sein TjulpanowBild, doch kann er sich der Faszination der Quellen immer noch nicht gänzlich entziehen. Angesichts des gezeichneten deterministischen Charakters der "Sowjetisierung" der SBZ könnte dieser "Persönlichkeitskult" auch irritieren. Vorbehalte weckt auch das Stichwort Polizeistaat im Kapitel 7: Die Tatsache, daß die DDR wie alle anderen Staaten im sowjetischen Machtbereich zu einer polizeistaatliche Züge tragenden Diktatur wurde, muß nicht notwendigerweise als genuine Folge von "Besatzungs-Sowjetisierung" begriffen werden. Die Polizeipolitik der SMAD kennzeichnete vielmehr bis 1948 ein Nebeneinander von "neuen demokratischen" Zielen (im Hinblick auf Methoden und Verfahren zwangsläufig sowjetisch metastasiert), aber auch ein sie stark hemmendes großes Mißtrauen gegenüber Deutschen, zunächst bei gleichzeitiger Beachtung der alliierten Beschlüsse. Die "Sowjetisierung" war ein komplexer Prozeß auch in seiner zeitlichen Dimension. Eine - aus darstellerischen Gründen oft angebrachte - perspektivische Verkürzung in der einen oder anderen Form kann ungewollt zu Fehlern führen. Ein Beispiel: Erich Mielke, der an leitender Stelle den Polizeistaat nach sowjetischem Vorbild aufbaute, muß, um der Sowjetisierungsthese Genüge zu tun, 1945 aus Moskau mit GRU- und NKWD-Kontakten in der Roten Armee kämpfend heimkehren (S. 355f)- Tatsächlich aber lebte er während des Krieges in Frankreich. Dort verlor er 1942 sogar jeden Kontakt mit seiner Parteigruppe und kehrte im Dezember 1944 als der Franzose "Richard Hebel" mit der Organisation Todt nach Deutschland zurück. Dies fand zumindest kürzlich Wilfriede Otto heraus. 1 Mehr Skepsis hätte auch der Umgang mit absoluten Zahlen verdient, weil ihre Suggestivkraft in unterbelichteten komplexen Zusammenhängen oft unterschätzt wird. Die nach einer amerikanischen Quelle auf S. 375 für 1948 mit 81.000 Mann angebene Polizeistärke in der SBZ bezieht sich wohl auf das genehmigte Planziel, nicht auf die tatsächlichen etwa 51.000 IstStellen vom April 1948 (ohne Berlin). Und auch wenn es gelungen wäre, den Personalbestand innerhalb weniger Monate gleich um die Hälfte aufzustocken 2 , wäre zumindest ein Hinweis auf den Unterschied zwischen Beschluß und "Durchführung" hilfreich gewesen. Doch solche Fehler relativieren den Wert der synthetischen Darstellung nicht. Für die zerklüftete deutsche Forschungslandschaft ist die amerikanische Perspektive anregend. Daß zentrale Begriffe nicht näher thematisiert werden, mag deijenige bedauern, der den Aufwand empirischer Forschung nicht einzuschätzen weiß. Neue Erkenntnisse wie die zum Verhältnis zwischen Sowjets und der deutschen Linken, vor allem den linken "Sektierern" in der KPD, verdienen besondere Aufmerksamkeit. Jan Foitzik (Potsdam) 1

2

Vgl. Otto, Wilfriede: Zur Biographie von Erich Mielke. Legende und Wirklichkeit. Forscher- und Diskussionskreis DDR-Geschichte, hefte zur ddr-Geschichte 23, Berlin 1994,9f. In: "Reorganisation der Polizei" oder getarnte Bewaffnung im kalten Krieg?, hrsg. und eingel. von Günther Glaser, Frankfurt/M. u.a. 1995, ist im Dokument auf S. 211 ebenfalls von der "Sollstärke" von 81.000 Mann im November 1948 die Rede, in der Einleitung wird dies aber auf S. 47 mit "Gesamtstärke" gleichgesetzt.

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Lesnik, Avgust: Razcep v mednarodnem sozializmu (1914-1923) [slowenisch; d.i. Die Spaltung des internationalen Sozialismus]; mit Zusammenfassungen in deutscher, englischer und italienischer Sprache. Knjiznica Annales, Koper/Capodistrija 1994, 380 S. Diese erweiterte Fassung einer 1993 verteidigten Dissertation des Historikers und Sozialwissenschaftlers Avgust Lesnik ist der Spaltung der internationalen sozialistischen Bewegung gewidmet. Sie wird vor dem Hintergrund des Zerfalls der II. Internationale untersucht, wobei der Autor die Auffassung vertritt, daß die "ideologischen Schemata" des Streites über "Revolution oder Reform", der zu diesem Zerfall führte, und die schon dabei zur Wirkung kommende "typische ideologische Reduktion" auch die spätere Geschichtsschreibung und die Forschung über diesen Zerfall bestimmt hätten. Auf breiter Quellenbasis zeichnet der Verfasser nach, wie aus einem "theoretischen Konflikt" allmählich ein politisches Dilemma und schließlich unversöhnlich gegeneinander stehende exklusive politische Konzepte entstanden, die 1914 beim Kriegsausbruch zur Lähmung und mit der Oktoberrevolution zur offenen und endgültigen Spaltung führten. Besonders wertvoll ist, daß gleichzeitig die zahlreichen Verästelungen und die Vielfalt der "Nebenströmungen" dokumentiert werden, einschließlich ihrer realen Entwicklungszusammenhänge. Insbesondere die individuelle Perspektive ihrer Protagonisten veranschaulicht, in welchem Maße sie sich in ihren Analysen dem bloßen politischen Interesse zeitweilig entziehen konnten, ohne daß allerdings objektiv eine reale Möglichkeiten der Realisierung ihrer Alternativen gegeben war. Während die solchermaßen ablaufende Diskussion um ein Schein-Dilemma anschaulich nachgezeichnet wird, bleibt die Dimension der äußeren Determinanten unterbelichtet. Daß Lesnik der ideologischen Dimension mehr Aufmerksamkeit widmet als den realen historischen Ereignissen, ist umso bedauerlicher, als er selbst die ironische Feststellung zitiert, daß Historiker gern bei Soziologen nach Erklärungen suchen, um ihnen Irrtümer vorzuwerfen, wenn sie die Wirklichkeit anders sehen. Kritisch wäre anzumerken, daß die schon aus methodologischen Gründen resultierende dritte Alternative stärker hätte betont werden können. Zwar kehrt Lesnik in den abschließenden Gedanken auf diese beispielsweise durch Rosa Luxemburg vertretene Position zurück. Hätte er diese Leitlinie konsequenter durchgehalten, so hätte er klarer seinen Standpunkt präsentieren können, daß der Begriff der "sozialen Revolution" einzig auf seine politische Dimension reduziert wurde. Dann hätte er auch politische und soziale Bewegungen stärker auf ihren gesellschaftlich-historischen Kontext rückbeziehen können, statt sie im historischen Raum als "leere Utopien" zu positionieren. Ratimir Britvec (Remagen)

Litvän, György; Bäk, Jänos M. (Hg.): Die Ungarische Revolution 1956. Reform - Aufstand - Vergeltung. Mit einer Einleitung von Jörg K. Hoensch. Passagen Verlag, Wien 1994, 211 S. Gleich eingangs darf festgehalten werden, daß es verdienstvoll war, die 1991 auf Ungarisch veröffentlichte Monographie der Mitarbeiter des Instituts für Geschichte der Ungarischen Revolution 1956 der deutschen Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Nutznießer sind nicht nur Fachleute. Die populärwissenschaftliche Darstellung, die gleichzeitig (fast) alle wissenschaftlichen Bedürfnisse befriedigt, ist auch für ein breiteres interessiertes Leserpublikum verständlich. Jörg K. Hoenschs Einleitung verdient diesen Namen: Knapp und präzise werden die Entwicklungslinien und Strukturmerkmale der ungarischen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg in Erinnerung gerufen. In wei-

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teren sieben Kapiteln zeichnet das Autorenkollektiv den Weg zur Revolution von 1956 nach, untersucht ihren Verlauf wie ihre internationalen Zusammenhänge. Es folgt die Darstellung der Nachhutgefechte der Revolution, des nachrevolutionären Terrors und der Resonanz des ungarischen Volksaufstands im Osten wie im Westen. Eine informative Zeittafel, ein Glossar der Institutionen und Presseorgane, ein Namensregister mit Kurzbiographien und eine Auswahlbibliographie fremdsprachiger Veröffentlichungen runden das Bild ab. Aus wissenschaftlicher Sicht erscheint allerdings der Verzicht auf Fußnoten unverständlich, Quellen werden bedauerlicherweise nicht ausgewiesen. Zwar leidet darunter die Glaubwürdigkeit der Darstellung nicht, doch wertvoll wären auch darin mittelbar enthaltene Auskünfte zur Lage des ungarischen Archivwesens und damit gewissermaßen über die "amtliche Haltung" zur Geschichte dieser Revolution. Das auch in ästhetischer Hinsicht benutzerfreundliche Buch informiert in erster Linie ausführlich über die interne Geschichte und Vorgeschichte des Ungarischen Volksaufstandes. Zwar wird dessen internationale Resonanz thematisiert, doch überwiegt dabei der Blick nach dem Westen, wobei die blockinternen Disziplinierungswirkungen der ungarischen Erfahrung von 1956 unterbelichtet wirken. An der Tatsache, daß die in nationaler Katastrophe einmündende brutale terroristische Unterdrückung der ungarischen Selbstbestimmung die Geschichte des "realen Sozialismus" nachhaltig mitgeprägt hatte, lassen die Autoren allerdings keinen Zweifel zu. Vor allem wegen dieser Nachwirkung ist dieses Buch weit mehr als nur ein Beitrag zur ungarischen Nationalgeschichte. Es handelt sich vielmehr um einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der terroristischen Herrschaft über Ostmitteleuropa, die in ihrer realen Vielgestalt weder an Personen noch an begrenzten Zeiträumen oder Ereignissen festgemacht werden kann. Jan Foitzik (Potsdam)

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Hatschikjan, Magardisch A./Weilemann, Peter R. (Hrsg.): Parteienlandschaften in Osteuropa. Politik, Parteien und Transformation in Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei und Bulgarien 1989-1992. Verlag Ferdinand Schöningh (= Studien zur Politik, Bd. 25), Paderborn/München/Wien/Zürich 1994, 194 S. Peter R. Weilemann, Andräs Körösenyi, Helga Hirsch und Magarditsch A. Hatschikjan untersuchen mit politikwissenschaftlichen Fragestellungen Ungarn, Polen, die Tschecho-Slowakische Föderative Republik bzw. Tschechien und die Slowakei sowie Bulgarien. Konzis werden die problematischen Spannungsverhältnisse zwischen Parteien, Eliten und Gesellschaft der einzelnen Staaten während der Umbruchphase zwischen 1989 und 1992 analysiert. Ergänzend beigegeben sind tabellarische Übersichten über die dortigen Wahlen in den Jahren 1990 bis 1992. Kocka, Jürgen/Sabrow, Martin (Hrsg.): Die DDR als Geschichte. Fragen - Hypothesen - Perspektiven. Akademie Verlag (= Zeithistorische Studien, Bd. 2), Berlin 1994, 254 S. Der Sammelband vereinigt die Referate, Thesen, Kommentare und Diskussionsbeiträge prominenter Teilnehmer einer vom „Forschungsschwerpunkt Zeithistorische Studien" in Potsdam veranstalteten Fachtagung zu den Themenfeldern „Die DDR als Thema der Zeitgeschichte", „ D i k t a t u r u n d Gesellschaft", „Das gescheiterte WirtschaftsmodeH", „Staatsideologie und Kultur", „Deutsche Handlungsspielräume und sowjetische Hegemonie" sowie „Der zukünftige Platz der vergangenen DDR". Dabei wird insbesondere auch der Frage nach dem Ort der DDR in der deutschen und europäischen Geschichte nachgegangen. Minholz, Michael/Stirnberg, Uwe: Der Allgemeine Deutsche Nachrichtendienst (ADN). Gute Nachrichten für die SED. K.G. Saur Verlag (= Kommunikation und Politik, Bd. 27), München 1995, 486 S. Der Untertitel des Bandes kennzeichnet die Funktion des ADN: Die 1946 gegründete Agentur war vier Jahrzehnte lang das Sprachrohr der SED. Sie sorgte dafür, daß in den Medien nur die Sicht der DDRStaatspartei Verbreitung fand. Ihre Entwicklung bis 1989 schildert diese Studie, die im Anhang auch Dokumente und biographische Informationen enthält. Lemke, Michael: Die Berlinkrise 1958 bis 1963. Interessen und Handlungsspielräume der SED im OstWest-Konflikt. Akademie Verlag (= Zeithistorische Studien, Bd. 5), Berlin 1995, 295 S. Im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung stehen die Analyse der politischen Interessen der SED-Führung im Zusammenhang mit Berlin und dem Thema des angestrebten Friedensvertrages. Insbesondere fragt der Autor nach den Entscheidungsfreiräumen der SED im Spannungsfeld von sowjetischer Vormacht und westlicher Anziehungskraft seit Mitte der fünfziger Jahre. Den größten Raum nimmt die detaillierte Analyse der Positionen der SED zur Berlinregelung und zum Abschluß eines Friedensvertrages vor und nach dem Mauerbau ein. Darüber hinaus werden die deutsche Frage und die Entwicklung der innerdeutschen Beziehungen über die Krise hinweg gewürdigt.

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Mehringer, Hartmut (Hrsg.): Von der SBZ zur DDR. Studien zum Herrschaftssystem in der Sowjetischen Besatzungszone und in der Deutschen Demokratischen Republik. R. Oldenbourg Verlag ( = Schriftenreihe der Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Sondernummer), München 1995, 315 S. Die sieben Beiträge des Sammelbandes behandeln zentrale Aspekte von Staat, Parteien, Kirche und Militär in der SBZ/DDR zwischen 1945 und den achtziger Jahren anhand neuer Quellen. Gunter Ehnert thematisiert die Wiedergründung der SPD in Thüringen, Michael Schwartz die Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler und Frank Tschaler die Entstehung der zentralen Finanzverwaltung. Die Einführung der Jugendweihe behandelt Hermann Wentker, die Naumburger Kadettenschule der NVA als Verbindung von Militär- und Jugendpolitik analysiert Michael Buddrus. André Steiner dokumentiert zwei Briefe Walter Ulbrichts an Nikita Chruschtschow aus dem Jahre 1961. Die katholische Kirche in der DDR zu Beginn der achtziger Jahre ist Thema des Beitrags von Ute Haese. Allen Beiträgen gemeinsam ist die Analyse des Weges von der Intention zur Durchsetzung politischen Handelns. Quellen zur deutschen politischen Emigration 1933-1945. Inventar von Nachlässen, nichtstaatlichen Akten und Sammlungen in Archiven und Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. im Auftr. der Herbert und Elsbeth Weichmann Stiftung von Heinz Boberach, Patrik von zur Mühlen, Werner Röder u. Peter Steinbach. Bearb. von Ingrid Schulze-Bidlingmaier unter Mitwirk, von Ursula Adam, Volkmar Elstner u. Mitarb. in den Archiven ( = Nachlaßverzeichnisse zur deutschsprachigen Emigration/Schriften der Herbert und Elsbeth Weichmann Stiftung). Verlag K. G. Saur, München/New Providence/London/Paris 1994, XXII u. 368 S. Das Inventar gibt eine Übersicht über in deutschen Archiven verwahrte nichtstaatliche Quellen zur deutschsprachigen politischen Emigration 1933-1945. Ursprünglich als Bestandsaufnahme einschlägiger Sammlungen in DDR-Archiven geplant und begonnen, wurde das Vorhaben nach der Vereinigung zugunsten eines gesamtdeutschen Verzeichnisses erweitert, das zugleich frühere Quellennachweise zum deutschen Exil in Archiven der alten Bundesländer aktualisiert. Im ersten Teil werden Akten von Exilorganisationen (Parteien, Gewerkschaften, parteinahe Verbände, parteiübergreifende Organisationen, Presse) und archivalische Sammlungen zur Geschichte der politischen Emigration verzeichnet. Der zweite, weit umfangreichere Teil listet in alphabetischer Reihenfolge insgesamt 312 Nachlässe politischer Emigranten auf, die mit biografischen Daten vorgestellt werden. Ein umfangreiches Personenregister sowie ein Index der Organisationen und Institutionen ergänzen eine quellenkundliche Veröffentlichung, die die Grundlagen für die Erforschung der deutschen Emigration, aber auch des antifaschistischen Widerstands aus dem Exil vortrefflich erweitert. Widerstand als „Hochverrat" 1933-1945. Die Verfahren gegen deutsche Reichsangehörige vor dem Reichsgericht, dem Volksgerichtshof und dem Reichskriegsgericht. Mikrofiche-Edition. Hrsg. vom Institut für Zeitgeschichte München. Bearb. von Jürgen Zarusky u. Hartmut Mehringer. Verlag K. G. Saur, München/New Providence/London/Paris 1994, ca. 80000 S. auf850 Fiches, 2 Registerbände. Für die Erforschung des politischen Widerstands gegen das NS-Regime bilden die Anklage- und Urteilsschriften der entsprechenden „Hochverrats"-Verfahren vor den zuständigen zentralen Gerichten eine der wichtigsten Quellengruppen. Diese Akten konnten bislang nur eingeschränkt genutzt werden, da sie durch Kriegseinwirkungen und die politische Entwicklung nach 1945 hochgradig fragmentiert sind. Sofern sie sich in DDR-Archiven, in Prag oder in Moskau befanden, waren diese Quellen überhaupt nicht oder aber nur

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wenigen Benutzern zugänglich. Es ist das Verdienst des Münchener Instituts für Zeitgeschichte, die verstreut überlieferten Anklage- und Urteilsschriften aus rund 2500 Prozessen gegen etwa 7500 deutsche Reichsangehörige aus dem ,Altreich" und Österreich in einer Mikrofiche-Edition zusammengeführt zu haben. Erschlossen wird dieses umfangreiche Aktenmaterial durch ein sechsgliedriges Register: Es erfaßt die Angeklagten, sonstigen Tatbeteiligten und Zeugen; es führt die Decknamen auf, verweist auf die in den Akten genannten Widerstandsgruppen, nennt Aktionsorte der Angeklagten und bietet somit ein wichtiges Hilfsmittel für die regionale und lokale Widerstandsforschung. Registriert werden überdies die zitierten illegalen Schriften. Eine Konkordanz der Anklage- und Urteilsaktenzeichen erleichtert schließlich das Auffinden zusammengehöriger Aktenbestandteile. Die Edition macht eine Fülle bisher unbekannter Quellen zugänglich, in denen sich das soziale und politische Spektrum des antifaschistischen Widerstands in seiner ganzen Breite und Vielfalt spiegelt. Häfner, Lutz: Die Partei der Linken Sozialrevolutionäre in der Russischen Revolution von 1917/18. Bühlau Verlag (= Beiträge zur Geschichte Osteuropas, Bd. 18), Köln/Weimar/Wien 1994, 816 S. Die quellengesättigte Studie untersucht die bisher kaum erforschte Partei der Linken Sozialrevolutionäre, ihre Rolle und ihre Bedeutung im Rahmen der Russischen Revolution. Breiten Raum nehmen die Analysen der politischen Taktik der Partei, ihres Kampfs um die Bauernschaft und der Versuch ihrer Standortbestimmung zwischen Teilnahme an der Opposition oder Kooperation mit den Bolschewiki ein. Das Lavieren der Partei zwischen beiden Optionen fand mit ihrer Zerschlagung in der zweiten Jahreshälfte 1918 ein Ende. Durch den sozialhistorischen Ansatz und die breite Quellenbasis stellt Häfners Arbeit auch einen Beitrag zur Sozialgeschichte der Russischen Revolution von 1917/18 dar.

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Aksjutin, Jurij, Dr., Historiker, Moskau. Bassistow, Jurij W., Dr., em. Professor für Politologie an der Universität St. Petersburg, war nach Kriegsende Mitarbeiter der SMAD und GSSD. Becker, Jens, Dipl.-Politologe, Promotionsstipendiant der Hans-Böckler-Stiftung, Dietzenbach. Braun, Günter, Dr., wiss. Mitarbeiter am Arbeitsbereich Konflikt- und Kooperationsstrukturen in Osteuropa, Forschungsschwerpunkt DDR-Geschichte, im Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Britvec, Ratimir, Dipl.-Philosoph, Remagen. Burrichter, Clemens, Prof. Dr., Zentrum für Zeithistorische Forschung e.V. in Potsdam. Cain, Frank, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter an der University of New South Wales in Canberra. Dähn, Horst, Prof. Dr., wiss. Mitarbeiter am Arbeitsbereich Konflikt- und Kooperationsstrukturen in Osteuropa, Forschungsschwerpunkt DDR-Geschichte, im Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Erler, Peter, wiss. Mitarbeiter im Forschungsverbund SED-Staat an der Freien Universität Berlin. Fingerle, Stephan, Dipl.-Soz., Doktorand am Arbeitsbereich Konflikt- und Kooperationsstrukturen in Osteuropa, Forschungsschwerpunkt DDR-Geschichte, im Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Foitzik, Jan, Dr., wiss. Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte München - Außenstelle Potsdam. Giesecke, Jens, M.A., wiss. Mitarbeiter der Abteilung Bildung und Forschung des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR in Berlin. Goeckel, Robert F. : Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Universität Geneseo, zur Zeit Fulbright-Scholar in Berlin. Grahn, Gerlinde, Dr., Dipl.-Archivarin, Potsdam. Hodos, George Hermann, Prof. Dr., im Rajk-Prozeß verurteilt, ab 1956 in der Emigration in Österreich und in den USA. lebt in Sherman Oaks, CA.

Mitarbeiterinnen

und

Mitarbeiter

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Hutter, Franz-Josef, M.A., wiss. Mitarbeiter am Arbeitsbereich Konflikt- und Kooperationsstrukturen in Osteuropa, Forschungsschwerpunkt DDR-Geschichte, im Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Ito, Narihiko, Prof. Dr., Professor an der Universität Tokio. Jahn, Egbert, Prof. Dr., Professor für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim, Leiter des Arbeitsbereichs Konflikt- und Kooperationsstrukturen in Osteuropa im Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Jakowlew, Alexandr N., Prof. Dr., Historiker, Moskau. Jentsch, Harald, Dipl.-Politologe, Doktorand in Frankfurt a.M. Kaiser, Josef, M.A., wiss. Mitarbeiter an der Universität Mannheim, Referent für wissenschaftliche Weiterbildung. Kibelka, Ruth, Doktorandin an der Humboldt-Universität in Berlin. Kilian, Achim, Weinheim.

Dipl.-Kaufmann,

Kowalczuk, Ilko-Sascha, Berlin.

1945-1948 NKWD-/MWD-Gefangener Nr.

80932;

Historiker, Mitglied des unabhängigen Historikerverbandes in

Lorenz, Richard, Prof. Dr., Professor an der Gesamthochschule/Universität Kassel. Mählert, Ulrich, Dr., wiss. Mitarbeiter am Arbeitsbereich Konflikt- und Kooperationsstrukturen in Osteuropa, Forschungsschwerpunkt DDR-Geschichte, im Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. McCauley, Martin, Prof. Dr., Professor für Sowjetische und Osteuropäische Studien an der Universität London. Mencl, Vojtech, Prof. Dr., Historiker, Prag. Müller, Reinhard, Dr., wiss. Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung. Müller, Werner, Prof. Dr., Professor für Geschichte seit 1945 an der Universität Rostock. Müller-Enbergs, Helmut, Dipl.-Politologe, Mitarbeiter beim Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR. Naimark, Norman M., Prof. Dr., Direktor des Zentrums für Russische und Osteuropäische Studien an der Stanford University. Nunes, Joäo Arsenio, Historiker, Lissabon. Osers, Jan, Dr., Dozent an den Universitäten Mannheim, Heidelberg und Karlsruhe. Ostermann, Christian F., Dr., Researcher am National Security Archive in Washington, D.C. Polakowska-Kujawa, schule Warschau.

Jolanta, Prof. Dr., Professorin für Soziologie an der Handelshoch-

Riegel, Klaus-Georg, Prof. Dr., Professor für Soziologie an der Universität Trier.

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Mitarbeiterinnen

und

Mitarbeiter

Rüge, Wolf gang, Prof. Dr. Dr., früher Mitarbeiter (ab 1958 Forschungsgruppenleiter) im Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften, Berlin. Samus, Pawel, Prof. Dr., Historiker, Lodz. Schilde, Kurt, Dr., Lehrbeauftragter am Fachbereich Politische Wissenschaft der Freien Universität Berlin. Stephan, Gerd-Rüdiger, Historiker, Stipendiat des Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft, Berlin. Tych, Feliks, Prof. Dr., Historiker, Warschau. Unfried, Berthold, Dr., wiss. Mitarbeiter des Vereins für Geschichte der Arbeiterbewegung in Wien Weber, Hermann, Prof. Dr., em. Professor für Politische Wissenschaft und Zeitgeschichte an der Universität Mannheim, Leiter des Forschungsschwerpunkts DDR-Geschichte im Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung. Zagladin, Vadim V., Dr., war Leiter der ZK-Abteilung für internationale Beziehungen und persönlicher Referent Gorbatschows; geschäftsführender Direktor des Gorbatschow-Fonds in Moskau.

Aus dem Inhalt der früher erschienenen Bände Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1993 Bernd Bonwetsch (Bochum): Der Stalinismus in der Sowjetunion der dreißiger Jahre. Leonid G. Babitschenko (Moskau): Die Kaderschulung der Komintern. Kees N. Boterbloem (Montreal): Aspekte der stalinistischen "Säuberungen" in der russischen Provinz. Aleksandr Watlin (Moskau): Die Russische Delegation in der Komintern. André Steiner (Berlin): Sowjetische Berater in den zentralen wirtschaftsleitenden Instanzen der DDR. Carola Tischler (Kassel): Über die Rehabilitierung von Stalin-Opfem in der Sowjetunion. Mustafa Haikai (Leipzig): Das Internationale Kolonialbüro der Komintern in Paris. Panagiotis Noutsos (Ioannina): Die Generation der "Bolschewisierer" in der KP Griechenlands. Wolfgang Kießling (Berlin): Paul Merkers "Unverständnis" für den Hitler-Stalin-Pakt. Wolfgang Rüge (Potsdam): Gedanken zu Lenin (über die Mittel-Zweck-Relation in der Politik). Hermann Weber (Mannheim): Die Instrumentalisierung des Marxismus-Leninismus. Erwin Lewin (Berlin): Neue Dokumente zur Kursänderung 1934/35 in der KPD. Vera Mujbegovic/Ubavka VujosevicfBelgrad): Die Kommunistische Partei Jugoslawiens und die Komintern. Dokumente zur "jugoslawischen Frage" 1936. Rainer Eckert/Mechthild Günther/Stefan Wolle (Berlin): "Klassengegner gelungen einzudringen...". Fallstudie zur Anatomie politischer Verfolgungskampagnen am Beispiel der Sektion Geschichte der HumboldtUniversität zu Berlin. Aleksandr N. Jakowlew (Moskau): Blutige Vergangenheit. Werner Dietrich (Halle): Der Fall Dattan - eine Skizze zu den KPD-Opfern Stalins und ihrer Rehabilitierung Peter Huber (Genf): Berta Zimmermann - eine Schweizer Kommunistin im Geheimapparat der Komintern. Vanda Kasauskiené (Wilnius): Verbannungen der Einwohner Litauens in den Jahren 1941 und 1945-1952. Andrea Hoffend/Carsten Tessmer (Mannheim): 25 Jahre nach dem "Prager Frühling". Eine Auswahlbibliographie der im Westen erschienen Literatur zum "Sozialismus mit menschlichem Antlitz" und seiner Zerschlagung.

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1994 Galina P. Muraschko/Albina F. Noskowa/Tatjana W. Wolokitina (Moskau): Das Zentralkomitee der WKP(B) und das Ende der "nationalen Wege zum Sozialismus". Tosio Iwamura (Kobe): The 1932 Theses of the Japanese Communist Party. Markus Wehner (Berlin): "Die Lage vor Ort ist unbefriedigend". Die Informationsberichte des sowjetischen Geheimdienstes zur Lage der russischen Bauern in den Jahren der "Neuen Ökonomischen Politik". Alexander Kan (Uppsala): Bolschewistischer "Revolutionsexport" und die schwedischen Linkssozialisten. Fritz Keller (Wien): Die KPÖ 1945-1955. Gerhard Wettig (Köln): All-German Unity and East German Separation in Soviet Policy, 1947-1949. Jan Foitzik (Potsdam): Aus der Buchhaltung der Weltrevolution. Finanzhilfen der "regierenden kommunistischen Parteien" für den internationalen Kommunismus 1950-1958. Berthold Unfried (Wien): Rituale von Konfession und Selbstkritik: Bilder vom stalinistischen Kader.

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Aus dem Inhalt

JHK1993-1995

Hermann Weber (Mannheim): Zum Umgang mit DDR-Archivalien - am Beispiel von Berichten über die Weltjugendfestspiele 1959. Helmut Fleischer (Darmstadt): Lenin historisch lesen. Wolfgang Mühlfriedl/Edith Hellmuth (Jena): Das Tagebuch des Betriebsrates der Firma Carl Zeiss in Jena. Achim Kilian (Weinheim): "Brauchbar für Arbeiten unter Tage". Der MWD-Befehl Nr. 001196-1946. Juri W, Basistow (St. Petersburg): Die DDR - ein Blick aus Wünsdorf. Jürgen Mothes (Leipzig): Artur Ewert und die Wandlung von Luis Carlos Prestes zum Kommunisten. Brigitte Studer (Lausanne): Ein Prozeß in Rom und seine Wiederholung in Moskau. Der Fall des Schweizer Komintern-Instrukteurs Karl Hofmaier. György Borsdnyi (Budapest): Ernö Gerö. Aus dem Leben eines Apparatschiks. Akira Saitö (Tokio): Neuere Kominternforschung in Japan. Michal Sliwa (Krakow): The Image of the Communist Movement in Contemporary Polish Historiography.

Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1995 Vojtech Mencl (Prag): Die Unterdrückung des "Prager Frühlings" im Lichte der neuesten Archivforschungen. Ter je Halvorsen (Lillehammer): Die kommunistischen Parteien Europas im zweiten Jahr des deutschsowjetischen Paktes am Beispiel Norwegens und Frankreichs. Dimitar Sirkov (Sofia): On the Policy of the Communist International on the Eve and at the Beginning of World War II. Milos Hajek (Prag): Die Beziehungen zwischen der Komintern und der bolschewistischen Partei in den Jahren 1919-1929. Peter Hübner (Potsdam): Syndikalistische Versündigungen? Versuche unabhängiger Interessenvertretung für die Industriearbeiterschaft der DDR um 1960. Egon Gräbel (Berlin): Realsozialistische Schönschrift. Hana Mejdrovä (Prag): Die Entstehung der Kommunistischen Partei in der Tschechoslowakei. Peter Huber (Genf): Der Moskauer Apparat der Komintern. Gerhard Wettig (Köln): Neue Aufschlüsse über Moskauer Planungen für die politisch-gesellschaftliche Ordnung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Wolfgang Leonhard (Manderscheid/Eifel): Der unbekannte Marx und Engels in der DDR. Klaus Schönhoven (Mannheim): Drittes Reich und DDR: Probleme einer vergleichenden Analyse von deutschen Diktaturerfahrungen. Pierre Broue (Grenoble): Volkogonov's "Lenin". Patrick Major (Warwick): "Mit Panzern kann man doch nicht für den Frieden sein": Die Stimmung der DDR-Bevölkerung zum Bau der Berliner Mauer am 13. August 1961 im Spiegel der Parteiberichte der SED Rolf Wörsdörfer (Frankfurt/M.)/Peter Huber (Genß/Berenice Manac'h (Ludwigsburg): Zwei Briefe des italienischen Anarchisten Francesco Ghezzi an Stalin und Manuilski. Hans Schafranek (Wien): Franz Koritschoner (1892-1941). Karin Hartewig (Jena): Sehnsucht nach einem dogmatischen Prinzip. Recha Rothschild in Selbstzeugnissen. Günter Braun (Mannheim): Die Geschichte der SBZ im Spiegel der Forschung. Eine Bestandsaufnahme der neueren Literatur. Brigitte Studer (Palezieux): Über den Prozeß historischer Erkenntnis am Beispiel des Komintemarchivs.