Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: 1977 [1977] 3875371658

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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz: 1977 [1977]
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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung, Preußischer Kulturbesitz, 1977
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Krickeberg, Dieter - Die alte Musikinstrumentensammlung der Naumburger St. Wenzelskirche im Spiegel ihrer Verzeichnisse
König, Werner - Über frühe Tonaufnahmen der Firma Welte und die Werke für das Welte-Mignon-Reproduktionsklavier
Dahlhaus, Carl - Geschichte eines Themas/Zu Mahlers Erster Symphonie
Waeltner, Ernst Ludwig - Lieder-Zyklus und Volkslied-Metamorphose/Zu den Texten der Mahlerschen Gesellenlieder
Hesse, Horst-Peter - Klangexperimente und ihre Beziehung zur zeitgenössischen Musiktheorie
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Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz

1977

Merseburger

JAHRBUCH DES STAATLICHEN IN TITUTS Fl"R

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IKFORSCHUNG

Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz

1977

Herausgegeben von Dagmar Droysen

Verlag Merse burger Berlin

Edition Merseburger 14 7 7

© 1978 Verlag Merseburger Berlin GmbH, Kassel Alle Rechte vorbehalten · Printed in Germany Composersatz: Staatliches Institut für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz Christa Czerson, Karin Mattoni und Heidemarie Schwarz Druck: Arno Brynda GmbH, Berlin

ISBN 3-87537-165-8

INHALT

KRICKEBERG, Dieter Die alte Musikinstrumentensammlung der Naumburger St. Wenzelskirche im Spiegel ihrer Verzeichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 KÖNIG , Werner Über frühe Tonaufnahmen der Firma Welle und die Werke •... .. .. .. . .. . '. II für das Welle-Mignon -Reproduklionsklavier DAHLHAUS, Carl Geschichle eines Them as Zu Mahlers Erster Symphonie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 WAELTNER, Ernst Ludwig Lieder-Zyklus und Volkslied-Metamorphose Zu den Texten der Mahlerschen Gesellenlieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 HESSE, Horst-Peter Klangexperimente und ihre Beziehung zur zeitgenössischen Musiktheorie . . . . 96

DIE ALTE MUSIKINSTRUMENTENSAMMLUNG DER NAUMBURGER ST. WENZELSKIRCHE IM SPIEGEL IHRER VERZEICHNISSE DIETER KRICKEBERG

1890 oder 1891 gelangte ein Bestand von Blasinstrumenten aus der Naumburger Stadtkirche St. Wenzel in die Sammlung alter Musikinstrumente bei der Königlichen akademischen Hochschule für Musik in Berlin, das heutige Musikinstrumenten-Museum des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz. Diese größtenteils noch vorhandenen Instrumente haben aus mehreren Gründen besondere Bedeutung: 1. Sie stammen aus einer Zeit (1 7. Jahrhundert, hauptsächlich erste Hälfte), aus der verhältnismäßig wenig Instrumente überliefert sind. 2. Es handelt sich um Instrumente, von denen zumindest ein großer Teil zu einem Ensemble für die Kirchenmusik in St. Wenzel - einer wichtigen Stätte der Musikpflege - vereinigt wurde. 3. Sie erscheinen in drei alten Verzeichnissen, die 1658, um 1 720 und 1728 verfaßt wurden. Daß Instrumente mit zeitgenössischen Verzeic hnissen überliefert sind, ist ebenso selten wie aufschlußreich. Noch seltener ist der Umstand, daß zu einem Bestand mehrere Listen - aus einem Zeitraum von siebzig Jahren - überliefert sind, an denen bestimmte Entwicklungen sichtbar werden .

Im folgenden werden die Instrumente und Verzeichnisse aufeinander bezogen; daraus ergeben sich erste Erkenntnisse über Datierung, Terminologie, Stimmung und historische Bedeutung. Da sich bestimmte Aussagen über die Geschichte der Blasinstrumente (z.B. im Riemann Musiklexikon sowie in Musik in Geschichte und Gegenwart) auf das Naumburger Instrumentarium stützen, ergeben sich auch entsprechende Korrekturen. Von den fraglichen Verzeichnissen stand keines im Original zur Verfügung (Anfragen in Naumburg blieben bisher ohne Antwort). Der vermutlich um 1720 verfaßte Katalog liegt in einer Fotokopie (Abb. 1) vor, die beiden anderen sind in Arno Werners Aufsatz

Die alte Musikbibliothek und die Instrumentensammlung an St. Wenzel in Naumburg a,d.S. abgedruckt. Ein Vergleich von Abb. 1 mit Werners Wiedergabe zeigt, daß der Abdruck im ganzen buchstabengetreu ist. Eine gravierende (absichtliche? ) Veränderung liegt vor, wenn bei den Trompeten der Zusatz über die Stimmungen fehlt. In der Zeile „1. Chor teutsche Fagotten, 8. Stck." hat Werner das „l" offenbar übersehen. In behutsamer Modernisierung hat er die Punkte hinter denjenigen Zahlen weggelassen, die eine Menge angeben. Der gleichen Tendenz folgt die Umwandlung von „Stimwerck" in „Stimmwerck". Hier zeigt sich ein Mangel an Konsequenz, denn die Schreibweise „Krum Bogen" der Vorlage übernimmt Werner. Um Verbesserungen - korrekt

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7

auch im Sinn des 18. Jahrhunderts handelt es sich, wenn er aus „Violin Cello" „Violon-Cello" und aus „Baß Violon" „Baß-Violon" macht oder bei „uber" die Punkte über dem u zu „über" ergänzt. Ein grobes Mißverständnis in der Vorlage - „2. alt e Posaunen" statt „2. Alt-Posaunen" - hat er durch Hinzusetzung von Anführungszei chen („alte") kenntlich gemacht, ohne es zu tilgen. Die Zeilenanordnung der Vorlage ist allerdings nicht mehr erkennbar. Dennoch darf man Werners Wiedergabe der Verzeichnisse als Grundlage für eine nähere Erörterung ansehen; hierfür spricht nicht zuletzt die Beibehaltung antiquierter und befremdlicher Einzelheiten wie des zitierten Mißverständnisses bei den Posaunen oder der Schreibweisen „Schrey-Arien" statt „Schreyarien" und „Brallo" statt „Bratsche". Als Verfasser der Verzeichnisse muß man aufgrund der Angabe von Einzelheiten wie der Stimmlagen Fachleute annehmen, wahrscheinlich Naumburger Stadtmusiker, Kantoren oder Organisten (zur Zeit der Abfassung der ältesten Liste war kein Kantor im Amt, der falsche Genitiv „Rectores" schließt einen Akademiker ohnehin aus). Fehler in dem Katalog aus der Zeit um 1720 - die soeben zitierten „befremdlichen Einzelheiten" sowie „Violin Cello" - deuten allerdings darauf hin, daß hier ein Sachverständiger einem Schreiber den Text diktiert hat. Die Instrumente stammen größtenteils aus dem Nachlaß von Andreas Unger, einem Kantor der Wenzelskirche 1 . Am 24. Dezember 1657 verfaßte dieser Pin Testament, demzufolge sein Notenmaterial und seine M us1kinstrumente der Stätte seines Wirkens zufallen sollten. Er starb bereits in den Weihnachtstagen des gleichen Jahres; der Ratsbeschluß vom 26. Dezember wurde wohl nach seinem Tod gefaßt: „Weyl derselbe in seinem Testament der Kirchen alle seine partes und Instrumenta musicalia vermacht und darnach begehrt, daß man ihn in die Kirche begraben lassen wolle, als ist darüber delibriret und beschlossen worden, seinem letzten Willen vür Genüge zu thun". Unger wurde am 29. Dezember 1657 „an der Chortreppe von St. Wenzel" beigesetzt. Zu Beginn des nächsten Jahres wurde das älteste der drei oben erwähnten Verzeichnisse aufgestellt. Auf die Wiedergabe der Überschrift bei Werner (St. Wenzel, S. 403) folgt gleichfalls in wörtlichem Zitat der Titel eines weiteren Verzeichnisses von Noten aus Ungers Nachlaß sowie ein alphabetisches Verzeichnis dieser Musikalien, das in Anordnung und Formulierung teilweise von der Vorlage abweicht. Danach ist eine Aufzählung der Instrumente abgedruckt, die sich offensichtlich in fast getreuer Weise an das Verzeichnis von 1658 hält (ebenda, S. 415). Bei Werner lesen wir weitf'r: „Dieser Instrumentensammlung .>ei ein späteres Verzeichnis hinzugefügt, das keine Jahreszahl trägt, vermutlich aber der Zeit um 1 728 entstammt." Es ist mit Abb. 1 identisch. Dann folgt die Liste von 1728. Zur zeitlichen Einordnung des undatierten Verzeichnisses ist folgendes zu sagen: Anlaß für eine Inventur könnte gewesen sein, daß ein neuer Kantor sein Amt antrat. So war es 1663. Ein anderer Katalog wurde jerio.::h erst vier Jahre nach dem Amtsantritt von Unger, nämlich 1638, angefertigt. Geht man vom Wechsel der Kantoren aus, so zeigt sich, daß 1663 das Verzeichnis der Instrumente nur durchgesehen und verbessert, für die Noten dagegen ein neuer Katalog verfaßt wurde. Das lag offenbar daran, daß sich der Instrumentenbestand der Kirche nur geringfügig verändert hatte; zwei „Discantund 2 Querflöten" wurden nämlich dem Rektor als Schuleigentum übergeben. Vermutlich gehörten sie ebensowenig zu Ungers Nachlaß wie einige der „Geigen" (vgl. unten den Abdruck des Verzeichnisses von 1658). Wechsel im Kantorat fanden danach, soweit bekannt (Hoppe, Musik in Naumburg), in den Jahren 1690 . 1717. 1720 und

1

8

Zum folgenden s. Werner, St. Wenzel, S. 395.

1 755 statt. Mehrere Gründe sprechen für eine Entstehung des undatierten Verzeichnisses der Instrumente in der Zeit um 1720, das nach Werner um 1728 - möglicherweise lag es in der Nähe oder bei Akten dieses Jahres - anzusetzen ist: 1. Vergleicht man das undatierte Verzeichnis mit dem von 1728, so zeigt sich, daß letzteres vier „teutsche Fläden" weniger aufführt, die zwei Violinen der undatierten Liste fehlen, und von je einer Alt· und Tenorposaune wird nur der Zug ~enannt. Alle diese Instrumente sind jedoch in dem Katalog von 1658 enthalten, so daß der Schluß naheliegt, daß das Verzeichnis ohne Datum zwischen den beiden anderen entstanden ist: 1 728 müßten dann ehemals vorhandene Instrumente aus bisher unbekannten Gründen aus dem Besitz der Kirche ausgeschieden worden sein. 2. Das undatierte Verzeichnis versieht die Schalmeien, Fagotte und Blockflöten 2 mit dem Zusatz „deutsch", der bei Flöten und Schalmeien auch 1728 erscheint, aber 1658 fehlt. Es dürfte sich um die Kennzeichnung der altertümlichen Bauweise handeln; bekanntlich setzten sich nach 1 700 in Deutschland französische Neuerungen im Holzblasinstrumentenbau durch. 3. 1719 und 1721 wurde das Amt des Stadtmusikers, der die Instrumente zu spielen hatte, neu besetzt (Hoppe, Musik in Naumburg, S. 15 ff.). Nachfolgend sind die drei Verzeichnisse der Naumburger Instrumente wiedergegeben:

Verzeichnis von 1658 (nach Werner, St. Wenzel, S. 403 und 415) „Demnach HE. M Andreas Ungar weyland wohlbestellter Cantor der Kirche und Schulen alhier Seel. in seinem den 24. Decemb. 165 7 aufgerichteten letzten Willen alle sein partes musicales undt lnstrumenta musicalia der Kirchen zu St. Wenzel vermacht, als seindt dieselbe uff anordnung Eines E. Rhats den 12. Febr.: 1658 in bem„lter Kirchen inventiret und befunden worden wie folgt ... 3 Dicant-, 2 Alt· und 2 Tenor-Schreiarien. Ein Stimmwerg Krumbhörner, allß 2 Baß, 2 Tenor, 2 Alt, 2 Discant. Fünff Flöten, allß 3 Discant· und 2 Querflöten, so in die Schule gehören, wie der Herr Rector benchtet. Anmerkung: Diese seindt HE. M. Töpfer, jetzigem Rector a.:n 11. Sept. 1663 biß uff eine Discantflöte ausgehändiget worden. 1 Schloß, 3 Tenor-, 3 Quart· und 1 Octavflöte. Ein Schalmey. 2 Baß-, 4 Tenor- undt 2 Discant-Dulcian. Noch ein schwartzer Zinken. Eine Alt-Posaune mit einem schwartzen Futteral. Noch eine Alt-Posaune:: ohne Mundtstück. Drey TenorPosaunen, 2 mit Mundtstücken. Eine Tenorposaune, so auch zum Baß kann gebrauchet werden mit einem krummen Bogen und Mundtstück in einem Futter. Eine Quint· Posaune ohne MundtstÜ

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er tritt erst hervor, wenn man sich an die Vorgeschichte der Motive im ersten Satz erinnert: In der Durchführung geht die früheste Fassung des (im Finale) ersten Motivs durch Augmentation aus der ursprünglichen Fassung des (im Finale) zweiten Motivs hervor, und der Konnex ist, da die Motive nebeneinanderstehen , unmittelbar sinnfällig (21,12 - 17).

48

NB. 6

Die dem nicht-augmentierten Motiv (NB. 5a) ähnlichste Version des augmentierten ist sogar diejenige, die das augmentierte erst zuletzt, am Ende des Hauptsatzes im Finale, errreicht (NB. 4d). Versucht man die Motivbeziehungen, durch die sowohl die „Einleitung" als auch der „Hauptsatz" des Finale mit der Durchführung des ersten Satzes verknüpft sind, in einer Gesamtvorstellung zusammenzufassen, so gleicht der thematische Prozeß, der sich im Finale ereignet, der Aufdeckung einer Vorgeschichte. Wenn in der „Einleitung" die beiden Motive des Hauptthemas, durch 11 Takte voneinander getrennt, exponiert werden, vermag niemand zu ahnen, daß sie sich im Verlauf des Hauptsatzes, der immer deutlicher auf die Durchführung des ersten Satzes zurückgreift, am Ende als Ableitungen aus einer gemeinsamen Wurzel erweisen werden. Der Formprozeß ist gewissermaßen „analytisch": Entscheidend und charakteristisch ist nicht, daß aus Gegebenem Konsequenzen gezogen werden, sondern daß Motive, die zunächst als Setzungen wirken, sich allmählich als Resultate zu erkennen geben. Jeder Schritt vorwärts in der Entwicklung der Motive ist zugleich ein Schritt zurück in deren Vorgeschichte.

3 Der Versuch, die Vorgeschichte der Motive zu skizzieren, aus denen sich das Hauptthema des Finale zusammensetzt, bliebe fragmentarisch und unzubnglich, wenn er sich auf die Anfangsphrasen beschrünken würde. Der Hauptsatz, der sich als tonal geschlossener Komplex in f-moll von Ziffer 6 bis Ziffer 14 erstreckt, umfaßt über 100 Takte. Und man kann - wenn man von Partien mit Epilogcharakter absieht, deren motivischer Zusammenhang mit den übrigen Teilen unerörtert bleiben darf (9,6 bis 10,5 und 12 ,l bis 14,1) - nicht weniger als sieben Abschnitte unterscheiden, in denen die Motive des Themas in wechselnden Varianten und Gruppierungen erscheinen. (Die syntaktische Struktur ist mit der gewöhnlichen Nomenklatur der Formenlehre, mit Begriffen wie „Periode", „Satz" und „Gang", kaum beschreibbar.) (1) (2) (3) II

III

(4) (5) (6) (7)

a1 a2 + c2 al +f d3 al a3 a2 + c2

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(6,1-12) (7,1-7) (7,8-19) (8,1-12) (8,13 bis 9,5) (10,9-16) (11,1bis12,1)

Die Zählung der Motivvarianten dient lediglich einer ersten, flüchtigen Orientierung; über innere Zusammenhänge besagt sie wenig, denn die chronologische Ordnung, die sich in den Ziffern ausdrückt, stimmt mit der logischen nicht immer überein. Und das 49

bedeutet nichts Geringeres, als daß Mahler den Begriff der Entwicklung - der unausgesprochen die Vorstellung einschließt, daß die zeitliche Folge der Motivvarianten deren substantieller Abhängigkeit voneinander entspricht - suspendiert.

NB. 7

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Die Fassung a 2 des Hauptmotivs ist eine Umkehrung von a 1 , die Kontrastfunktion erfüllt, f ein Kontrapunkt zu a 1 , der sich in der Durchführung zu selbständiger Existenz und Bedeutung erhebt, a 3 eine Variante, deren sekundäre Position im Finale darüber täuscht, daß sie, wie erwähnt, der ursprünglichen Gestalt des Motivs in der Durchführung des ersten Satzes am nächsten kommt. - Von den vier Versionen, in denen Motiv b erscheint, ist die erste die für das Finale charakteristische, die dritte jedoch die genetisch früheste: Der Sachverhalt, daß b 3 einen Kontrapunkt zu d 3 bildet (8,3-4), erscheint zwar im Kontext des Finale als nachträgliche Kombination von zunächst unabhängigen Motiven, erweist sich aber im Rückblick auf die Durchführung des ersten Satzes (21,10-11) als Entstehungsgrund von Motivb 3 (das demnach, entgegen der Chronologie im Finale, eigentlich als „b 1 " zu klassifizieren wäre). Mit anderen Worten: Motiv d 3 , wie es sich bei Ziffer 8 im Finale präsentiert: herausgebrochen aus dem Zusammenhang des ersten Abschnitts, bildet im ersten Satz der Symphonie eine Prämisse, aus der Mahler zunächst b 3 als Kontrapunkt und dann a3 als Augmentation des Kontrapunkts deduziert.

50

NB. II

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Motiv c, anfangs als c 1 eine selbständige Phrase, ist als c 2 mit a 2 , der Umkehrung von a 1 , kontaminiert. Die Fassung c 3 erscheint, im Sinne von Mahlers „gestischer" Variantentechnik, als „überbietung" von c 1 . - Daß Motiv d zwischen einer Dur- und einer Moll-Version wechselt (d 1 und d 3 ), ist im ersten Satz ebenso vorgezeichnet wie die Spreizung der Sexte zur Oktave (d 2 ) und die Vertauschbarkeit mit der Endung von Motiv b, die sich von einer Quarte (6,4) zur Quinte (6,12) und schließlich zur Oktave (8,8) dehnt. - Zu erwähnen wäre noch, daß der Kontrapunkt zu a 1 und b 1 in den 2 2 Takten 8,13-16 an die melodischen Umrisse der Verschränkung von a mit c erinnert und die Kadenzphrase h (9,1 - 5) aus der „Einleitung" (3,7) stammt. In der Gruppierung der Abschnitte zeichnet sich eine Zusammengehörigkeit von 1-3, 4- 5 und 6-7 ab. In Gruppe 1 stellt Abschnitt 2, abgehoben durch die Umkehrung von a und durch e, einen Mittelteil dar und Abschnitt 3 eine modifizierte Reprise. Die Gruppen II und III münden jeweils in Partien mit Epilogcharakter (9,6 bis 10,5 und 12,l bis 14,1), die untereinander motivisch eng verwandt sind. Außerdem ist die thematische Ähnlichkeit von II und III größer, als das Buchstabenschema erkennen läßt: Neben der sinnfälligen Wiederkehr von b 4 (8,7 - 10 = 10,13 - 16) ist es die erwähnte Assoziation des Kontrapunkts zu a 1 und b 1 mit der Umkehrungsform von a 2 +c 2 , die einen Zusammenhang stiftet (8,13 - 16 und 11,1 - 4). Schließlich entsteht noch ein latenter Konnex zwischen den Gruppen II und III durch Beziehungen zur Durchführung des ersten Satzes: In den Takten 8,1-4 tritt die ursprüngliche Relation zwischen d 3 und b 3 zutage, und in den Takten 10,9- 12 nimmt Motiv a die Gestalt an, in der es als Augmentation von b 3 kenntlich wird, sofern man in der musikalischen Vorstellung die äußere Distanz der Motive im Finale in Erinnerung an deren unmittelbares Nebeneinander im ersten Satz zu überbrücken vermag. Daß die f-moll-Partie der Durchführung des ersten Satzes mit ihren Konsequenzen in das Finale hineinreicht, ist gewissermaßen die Kehrseite der „exterritorialen" Stellung, die sie im Kontext der Durchführung einnimmt. Gerade weil sie in ihren ursprünglichen Zusammenhang nicht restlos integriert ist, wird ihre Wiederkehr im Finale, so überraschend sie zunächst sein mag, als zwingende Folgerung empfunden. Mit den Hauptgedanken des ersten Satzes hängt die „exterritoriale" Partie - sofern man unter „Hauptgedanken" die „Gedanken des Hauptteils", des Allegro im Unterschied zur langsamen Einleitung versteht - weder unmittelbar noch indirekt zusammen. Die Allegro-Thematik, die aus dem zweiten der Lieder eines fahrenden Gesellen, „Ging heut' morgens übers Feld", entlehnt wurde, macht jedoch nur einen Teil des Motivbestandes aus, der dem Satz zugrundeliegt; und es steht keineswegs fest, ob die Adagio-Thematik, die in der langsamen Einleitung exponiert wird - einer Einleitung, die immerhin 58 Takte umfaßt -, lediglich einen Hintergrund für die Entfaltung der Liedthematik bildet oder ob umgekehrt die Allegro-Thematik eine bloße Fassade darstellt, hinter der sich überhaupt erst die eigentliche symphonische Entwicklung, getragen von Motiven der langsamen Einleitung, abspielt. Jedenfalls ist es die Adagio-The-

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matik, die über die Grenzen des ersten Satzes hinauswirkt und den ganzen Zyklus von innen heraus - durch „Substanzverwandtschaft" - zusammenschließt. Mit der Adagio-Thematik ist denn auch die Motivik der Durchführungspartie, die später zum Modell des Finale wird, eng verknüpft (so daß von „Exterritorialität" nur im Hinblick auf den Allegroteil, dessen „Temporegion" die f-moll-Partie allerdings angehört, die Rede sein kann). Von den Motiven der Takte 21,8 bis 22,3 ist das zweite, wie erwähnt, ein Kontrapunkt zum ersten, und das dritte entsteht einerseits als Augmentation des zweiten (gleichzeitig mit einer Diminution in einer anderen Stimme), entlehnt aber andererseits dem ersten die weiblichen Endungen.

NB. 9

Motiv 1 löst sich am Anfang der Durchführung {12,8-9) - einem langsamen Teil in Analogie zur langsamen Einleitung - aus einer Akkordfolge heraus (12,4 und 12,6-7), in der die fallende Sexte im trochäischen Rhythmus zwar enthalten, aber halb verdeckt ist, weil aus der Gegenbewegung von fallender Sexte (cis 2 -e 1 ) und aufsteigender Quarte (fis 1 -h 1 ) ein Sekundschritt resultiert (cis 2 -h 1 ), der die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Andererseits kann man aus der fallenden Sexte eine Reminiszenz an die Hornmelodie der langsamen Einleitung {1,15 und 2,5) heraushören. Im Allegroteil der Durchführung wird Motiv 1 in die Verarbeitung oder Wiederaufnahme sowohl des ersten als auch des zweiten Seitengedankens der Exposition {6,1 und 8,1) hineingezogen, und zwar als Kontrapunkt (16,3-4 und 18,1 - 2). (Die Seitengedanken sind in der Exposition wechselnde Nachsätze zum Hauptgedanken als wiederkehrendem Vordersatz: Die Liedthematik entzieht sich den Normen der Sonatenform.) Da Motiv 1 zunächst als Hauptstimme erscheint (15,15-16), ist es dann auch als Nebenstimme und in Metamorphosen kenntlich {16,3-4). Motiv 2 ist, wie gesagt, unmittelbar ein Kontrapunkt zu Motiv 1, indirekt jedoch eine diatonische Variante der chromatischen Gänge, die den Schluß der langsamen Einleitung bilden {3,4). Im langsamen Teil der Durchführung stehen die chromatische Fassung {14,1-2) und die diatonische (14,7-8) - als Kontrapunkt zu Motiv 1 - durch nur vier Takte getrennt nebeneinander, so daß sich der Zusammenhang aufdrängt. Und die Hornmelodie der Zwischentakte ist eine vorweggenommene Umkehrung von Motiv 2. {Die in den Takten 14, 7-8 abgespaltene Endung der Hornmelodie ist wiederum mit Motiv 1 verwandt.) Die diatonische Fassung ist gleichsam die Auflösung des Rätselbildes, zu dem die chromatische Version und die Umkehrung zusammentreten. {Aus dem Quartenmotiv, der Gegenstimme zu dem chromatischen Gang, und der diatonischen Variante erwächst die Thematik des dritten Satzes der Symphonie, die andererseits ein Liedzitat ist.) Die Durchführungspartie in f-moll, in der das Finale seinen Schatten vorauswirft, ist demnach, obwohl Motiv 1 in die Verarbeitung der Allegro-Thematik verflochten wird, im Wesentlichen mit der Adagio-Thematik verknüpft, die im Kontext des ersten Satzes sekundär, in dem der ganzen Symphonie jedoch primär ist. Man kann - mag auch die Quarte, das „Grundintervall" des Zyklus insgesamt, in die Allegro-Thematik hineinwirken - von zwei getrennten „Schichten" der symphonischen Entwicklung sprechen. 52

NB. 10

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Dieser Veränderung der Situation entsprechen grundlegende Veränderungen in der musikalisch-kompositorischen Anlage, denn der Vortrag der Singstimme auf „Ist's nicht eine schöne Welt? " in gleichmäßigen Vierteln bringt die Stelle in ganz unerwarteter Weise in Bezug zu dem Beginn (a) des Gesellen-Themas: Dem nun nach oben gerichteten Kopfintervall der Quarte folgen die absteigenden Viertel, so daß die Phrase gegenüber der a-Gestalt des Gesellen-Themas wie eine Art varianter Umkehrung erscheint. Was ist aus dem fröhlich-schreitenden Viertelrhythmus und aus der zügigen Melodie geworden! Wie haben sich beide in sich selbst zur Gebrochenheit hin verwandelt! Der Bezug dieser Stelle auf das Gesellen-Thema beruht aber nicht etwa auf subjektiv-assoziativer Empfindung des Hörers, sondern ist von Mahler bewußt kompositorisch realisiert: Die 1. Violine spielt zu „Ist's nicht eine schöne Welt? "die Weiterführung (b) des Gesellen-Themas (NB. 4c). Doch auch diese Weiterführung ist hier an einer ganz wesentlichen Stelle gegenüber ihrer ursprünglichen Gestalt variiert, denn sie schließt nun mit einem abwärts gerichteten Ganzton: ais-gis, also nicht, wie analog der ursprünglichen Form zu erwarten wäre: ais-h. Durch diese Veränderung verliert die b-Gestalt ihren melodisch weiterdrängenden Charakter. Die Möglichkeit des unbekümmert fröhlichen Sequenzierens, welche in der ursprünglichen b-Gestalt des GesellenThemas angelegt war, ist ihr an dieser Stelle durch den absinkenden Schluß nach gis genommen. Sie ist, und gleichzeitig ist es ihr letztes Auftreten im Lied, in eine

NB. 4:

Die Formen derb-Gestalt des Gesellen-Themas T. 4 8 und entsprechend T. 32 - 36

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„resignierte" Form umgebogen, eine Form der b-Gestalt, die ihr Analogon in der Veränderung von a (T. 105) erhält. Aber gerade diese ,,resignierte" Form ist auf eine ganz spezifische Weise mit dem Schluß der Gesangs-Zeile: „schöne Welt? "verbunden, der durch den Sextsprung dis-h stellvertretend mit dem als Schlußton derb-Gestalt zu erwartenden Ton h endet, worauf die folgende zweimalige melodische Floskel auf „Ei, du! Gelt? "ebenfalls.Ton h umspielt. Die b -Gestalt des Gesellen-Themas erlebt im Lied bis hin zu ihrer „resignierten" Form Veränderungen, die in Notenbeispiel 4 wiedergegeben sind: In den ersten beiden Musik-Strophen findet sich die ursprüngliche Gestalt mit sequenzierender Weiterführung (NB. 4a}. In der dritten Musik-Strophe (1. Violine, T. 67 - 69} ist der Schluß der b-Gestalt so verändert, daß keine Sequenzierung erfolgt. An deren Stelle fügt sich als kolorierte Wiederholung der Schlußtöne von (b} ein Motiv an (2. Violine, T. 69 - 71}, das zu früheren Motiven des Liedes in enger varianter Beziehung steht und im Schlußteil der dritten Musik-Strophe strukturelle Bedeutung erlangt (NB. 4b). Wie durch Assoziation entwickelt (1. Violine, ab T. 87}, entsteht gleichsam aus diesem Motiv die „resignierte" Form der b-Gestalt (NB. 4c). In der beschriebenen Stelle des Liedes finden sich beide Teile des Gesellen-Themas gleichzeitig, aber beide als Varianten mit einem ins Negative gewendeten musikalischen Sinn. Die eigenartige und aus der Führung der Singstimme im ganzen Lied herausstechende melodische Gestaltung der Gesangszeile „Ist's nicht eine schöne Welt?" erklingt zwar gleichzeitig mit der „resignierten" Form der b-Gestalt, doch ist dies nicht etwa so zu verstehen, daß die b-Gestalt die Begleitung übernehmen würde, sondern eher so, daß der Sänger, unsicher den Tonraum austastend, in gemessenen Vierteln einzelne Töne zur b-Gestalt hinzusingt. Daraus resultiert auch das mixturhaft „Irreale" der Stelle. Im Gesang ergibt sich dabei nach dem aufsteigenden Quartsprung eine Verbindung der absteigenden Dreiklangstöne von Fis- und H-Dur: cis-ais-fis-dis-h über dem Fis-Dur-Baß der Harfe, während zwischen der 1. Violine und der Singstimme Quarte und Quinte als Zusammenklänge bestimmend sind. Darüber hinaus hat die Singstimme aber auch noch einen eindeutigen Bezug zur b-Gestalt des GesellenThemas, denn der durch den Quartsprung aufwärts erreichte Hochton dis und die beiden folgenden Töne cis und ais sind identisch mit den umspielten Kerntönen des diese Stelle einleitenden kolorierten Motivs aus (b), wobei diese Kerntöne in der „resignierten" Form von (b) im Abstand von zwei Vierteln in der 1. Violine nach der Singstimme erneut wieder kehren, im ganzen also dreimal (NB. 5). Hier, wo sich der

T. 87 - 91, Singstimme und 1. Violine

NB. 5:

87 " u II

Vl.I

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