Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung, 1969 [1969]
 311230151X, 9783112301517

Table of contents :
Inhalt
Beethoven als geschichtliche Wirklichkeit
Miszellen zur Musiktheorie des 15. Jahrhunderts
Zur Vor- und Entstehungsgeschichte von J . S. Bachs Tripelkonzert a-moll (BWV 1044)
Die Dehmel-Lieder von Anton Webern. Musik und Sprache im Übergang zur Atonalität
Konsonanz und Dissonanz als Kriterien der Beschreibung von Akkorden
Die Tonhöhenwahrnehmung und die neurophysiologischen Bedingungen des Gehörsinnes
Musikwissenschaft und Musikerziehung
Namen- und Sachregister
Über die Autoren

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JAHRBUCH DES STAATLICHEN INSTITUTS FÜR MUSIKFORSCHUNG

Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz 1970

Herausgegeben von Dagmar Droysen

Verlag Merseburger Berlin

E d i t i o n Merseburger 1 4 4 2 © 1 9 7 1 Verlag Merseburger Berlin GmbH Alle Rechte vorbehalten . Printed in Germany Druck: Arno Brynda, Berlin ISBN 3 8 7 5 3 7 0 0 4 X

INHALT OSTHOFF, WOLFGANG Beethoven als geschichtliche Wirklichkeit

7

DAHLHAUS, CARL Miszellen zur Musiktheorie des 15. Jahrhunderts

21

EPPSTEIN, HANS Zur Vor- und Entstehungsgeschichte von J . S. Bachs Tripelkonzert a-moll (BWV 1 0 4 4 )

34

GERLACH, REINHARD Die Dehmel-Lieder von Anton Webern Musik und Sprache im Übergang zur Atonalität

45

DE LA MOTTE-HABER, HELGA Konsonanz und Dissonanz als Kriterien der Beschreibung von Akkorden

....

101

HESSE, HORST-PETER Die Tonhöhenwahrnehmung und die neurophysiologischen Bedingungen des Gehörsinnes

128

REINECKE, HANS-PETER Musikwissenschaft und Musikerziehung

144

Namen- und Sachregister

152

Über die Autoren

155

7

BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT* WOLFGANG OSTHOFF

Ein J a h r nach dem Tode Ludwig van BEETHOVENs, 1828, erschienen die beiden ersten umfangreichen Würdigungen der Missa Solemnis und der 9. Symphonie aus der Feder von Joseph FRÖHLICH 1 . Fröhlich war seit 1804 in Würzburg Universitätsmusikdirektor und der erste Dozent für Musikgeschichte, er leitete zugleich das akademische Musikinstitut, aus dem das älteste deutsche Konservatorium, unser heutiges Staatskonservatorium, herausgewachsen ist. Die Universität Würzburg knüpft daher an ihre eigene Geschichte an, wenn sie Beethoven am Vorabend seines 200. Geburtstages ehrt. Beethoven als geschichtliche Wirklichkeit, d. h. als gewordene, von den Kräften der Vergangenheit gespeiste, sich an den Kräften der Vergangenheit messende, als aus dem eigenen Gesetz wirkende, weiterwirkende und verpflichtende, richtende Realität — das möchte ich zu umreißen versuchen, so wie es sich mir darstellt. Ich werde nur wenige konkrete Punkte berühren, wobei ich von einigen exemplarischen Werken und von einigen exemplarischen Worten Beethovens und seiner Zeitgenossen ausgehe. Bevor Beethoven im November 1792 seine Vaterstadt Bonn verließ, um in Wien den Unterricht bei Joseph Haydn anzutreten, schrieb ihm der befreundete Graf WALDSTEIN — derselbe, dem später die berühmte Klaviersonate gewidmet wurde — folgende prophetischen Sätze ins Stammbuch: „Lieber Beethoven. Sie reisen itzt nach Wien zur Erfiillung Ihrer so lange bestrittenen Wünsche. Mozarts Genius trauert noch und beweinet den Tod seines Zöglinges. Bei dem unerschöpflichen Haydn fand er Zuflucht, aber keine Beschäftigung; durch ihn wünscht er noch einmal mit jemanden vereinigt zu werden. Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozarts Geist aus Haydns Händen" (THAYER 3/1917, S. 2 9 0 2 ) . Beethoven soll also aus den Händen Haydns den Geist, den Genius des ein Jahr vorher verstorbenen Mozart erhalten. Mit den Namen Haydn und Mozart ist bezeichnet, was Beethoven an Bedeutendem in der Welt der Musik unmittelbar vorfand. Was lernte er von Haydn, was empfing er von der Musik Mozarts, und in welcher Weise verwandelte er dieses klassische Erbe zu etwas Neuem, Eigenem? Bei Haydn, im Unterricht, hat er offenbar nur wenig gelernt, v o n Haydn hat er unendlich viel gelernt, vor allem aber konnte er von ihm lernen, welches Element das primäre für diese neue klassische Musik war: der R h y t h m u s . Noch spät, am 8. März 1824, hat er mit Anton Schindler ein Gespräch über den Rhythmus geführt, SCHINDLERS Antworten sind in dem betreffenden Konversationsheft erhalten. Eine von ihnen, die unzweifelhaft Beethovens Ansicht spiegelt, lautet: der Rhythmus „ist unstreitig das Nothwendigste zur Verstän*Obiger Vortrag wurde am 15. Dezember 1970 in der Universität Würzburg gehalten. Die mündliche Diktion ist für den Druck nicht geändert worden, allerdings wurden die notwendigen Nachweise hinzugefügt. 1 2

Missa 1828, Caecilia 9, Heft 36, S. 27-45; Sinfonie Abbildung in B O R Y (1960) S. 58.

1828, Caecilia 8, Heft 32, S. 231-256.

WOLFGANG OSTHOFF

8

digung der Musik" (KÖHLER-HERRE 1970, S. 198). Später ist von Arsis u n d Thesis die Rede, von Hebung und Senkung, das entspricht d e m leichten u n d d e m schweren, dem u n b e t o n t e n u n d dem b e t o n t e n Teil einer musikalischen metrischen Einheit. Auf dem rhythmischen Spiel der Motive über dem gleichmäßigen Fluß von Thesis-Arsis, Thesis-Arsis usw. b e r u h e n ganz wesentlich der Geist u n d das Leben der Haydnschen Musik. Dabei k o m m t es nicht auf äußere motivische Kontraste an. Beim späten Haydn finden sich Fälle, in denen er ein und dasselbe Motiv, ein u n d dieselbe Melodie durch verschiedenartige metrische Placierung verändert u n d verwandelt. Ich gebe ein Beispiel aus dem letzten Satz von HAYDNs Sinfonie Nr. 103 in Es-Dur vom J a h r 1795. Zugrunde liegt ein gleichmäßiges Zweiermetrum von Thesis u n d Arsis, wobei Thesis u n d Arsis je einen T a k t beanspruchen. In dieses metrische Gerüst setzt Haydn sein Hauptthema derart, daß es auf einer Thesis beginnt (Tonband-Beispiel):

Notenbeispiel 1 als I. Thema ajs 2. Thema

J. T

f

-l-

4^

f 4-

Als 2. Thema, als Seitenthema, bringt Haydn keine neue Melodie, sondern er placiert das 1. Thema in metrischer Hinsicht umgekehrt, d. h. es beginnt nun auf einer Arsis (Tonband-Beispiel T. 316-335). Das Motiv bleibt in melodischer und rhythmischer Beziehung identisch, durch die metrische Verschiebung wird es aber verändert und erhält daher auch eine andere Fortsetzung. Wollen wir das, was sich hier abspielt, allgemein, philosophisch fassen, so können wir uns an SCHILLERs im selben J a h r e 1795 herausgekommene Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen halten. Schiller spricht von zwei Grundtrieben des Menschen: 1. von dem sinnlichen — dieser Trieb fordert, „daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe" (12. Brief), 2. vom Formtrieb — er „ g e h t aus von dem absoluten Dasein des Menschen . . . und ist bestrebt, . . . Harmonie in die Verschiedenheit seines Erscheinens zu bringen . . . " (12. Brief). Beide Triebe vereinigen sich aber in einem dritten, der den Menschen erst ganz zum Menschen macht (15. Brief), im Spieltrieb. Schiller schreibt: „ D e r sinnliche Trieb will, daß Veränderung sei, daß die Zeit einen Inhalt habe; der Formtrieb will, daß die Zeit aufgehoben, daß keine Veränderung sei . . . " Der Spieltrieb, ,,in welchem beide verbunden wirken, . . . würde dahin gerichtet sein, die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren" (14. Brief). Haydn vereint Veränderung (den metrischen Wechsel) mit Identität (des Motives als solchen). Dieses Spiel vollzieht sich wie alle Musik notwendigerweise in der Zeit, durch das Veränderung bewirkende Spiel entsteht aber über den bloßen Ablauf hinaus der Eindruck eines Vorgangs. Der ausdrückliche Charakter des Vorgangs ist das Kennzeichen der Wiener klassischen Musik. Haydn hat das begründet, Mozart hat es aufgen o m m e n . Wie verhält sich Beethoven dazu? In unserm Haydnschen Beispiel war die Verwandlung schon innerhalb des 1. Themas vorbereitet. Nebenstimmen d e u t e t e n die

BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT

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andere metrische O r d n u n g an. Doch in den Grundzügen blieben 1. u n d 2. T h e m a in metrischer Hinsicht voneinander geschieden. BEETHOVEN übernimmt das Haydnsche Verfahren, aber er verdichtet es. D. h. er kann die unterschiedliche metrische Halt u n g nun auch i n n e r h a l b eines einzigen Themas vorführen. So z. B. im 2. T h e m a des Allegro aus der Sonate pathétique c-moll op. 13 von 1799, also vier J a h r e nach Haydns Sinfonie. Beethoven arbeitet hier mit einem rhythmischen Impuls, der aus vier T ö n e n besteht (B-Es-F-Ges). In der hohen Lage setzt er den Impuls so ein, daß er auf der Arsis beginnt u n d auf die Thesis zuläuft. Schon das allein ergäbe ein schönes T h e m a . Das aber ist nicht das ganze T h e m a . Der Impuls erscheint auch in der tiefen Lage, hier jedoch beginnt er auf der Thesis. Zusammengesetzt heißt es (Tonband-Beispiel) :

Notenbeispiel 2

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Im Spiel mit den Impulsen, in den dadurch bewirkten Veränderungen u n d Vorgängen zeigt sich der Nachfolger Haydns, aus der Verdichtung und Intensivierung der Impulse spricht Beethoven. Das e m p f a n d GOETHE auch ganz unmittelbar an dem Menschen Beethoven, als er ihn 1812 in Teplitz traf. Er schrieb damals an seine Frau: ,, . . . Zusammengefaßter, energischer, inniger habe ich noch keinen Künstler gesehen. Ich begreife recht gut, wie er gegen die Welt wunderlich stehen muß" (LEITZMANN 1921, S. 138). Von Haydn übernahm Beethoven das Spiel, doch u n t e r seinen H ä n d e n wurde daraus zugleich mehr als Spiel. Beethoven sprach ö f t e r bei der Erklärung seiner Werke von dem Gegensatz zweier Prinzipe, der in seiner Musik ausgetragen werde (SCHINDLER 3 / 1 8 6 0 , 2. Tl., S. 222). Schindler b e m e r k t dazu in den Konversationsheften: „Tausende fassen das nicht!" (SCHÜNEMANN 1943, S. 341). Vielleicht hat man es wirklich nicht genau erfaßt. Selbstverständlich finden wir in Beethovens Gesamtwerk die verschiedensten Prinzipe gegeneinandergestellt. Ein konkretes Beispiel für ein solches gegensätzliches Paar von Prinzipen im Sinne Beethovens sind die beiden Impulse unseres Themas, wie uns Schindler versichert, der mit Beethoven die Pathétique durchgenommen hat. Er schreibt, daß wir die beiden Prinzipe in diesem Seitenthema „in gedräng-

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WOLFGANG OSTHOFF

ter Form sich neben einander wiederholt aussprechen" hören. Er fährt fort: „Selbst der vertrocknetste Ciavierlehrer dürfte nicht anstehen diesem Satze eine besondere Bedeutung zuzuerkennen..." (SCHINDLER 3/1860, 2. Tl., S. 361) 3 . Das Neue gegenüber Haydn liegt also nicht nur in der Verdichtung des Spiels, sondern auch in der Härtung der Impulse zu Prinzipen und in der damit verbundenen Profilierung der Impulse, in dem Auftreten von unverwechselbaren, gegensätzlichen Charakteren. So hat der Impuls in der tiefen Lage etwas Polterndes, Brutales an sich, in der hohen Lage etwas Klagendes, Flehendes, zwei gegensätzliche Prinzipe, die doch in der Einheit des Themas zusammengefaßt sind. Mit Prinzipen, Charakteren ist natürlicherweise Inhalt, Vorstellung, Bedeutung — wie Schindler sagt — verbunden, also etwas, das nicht in Musik als solcher liegt, sich aber mit ihr verbinden kann. Schon der Titel Sonate pathétique gibt davon einen Begriff. Nach den Worten des Grafen Waldstein sollte Beethoven aus Haydns Händen Mozarts Geist erhalten. Mozarts Geist ist schwerer zu fassen als das Spiel, das Verfahren, das Beethoven von Haydn lernte. Ich glaube in der Annahme nicht fehlzugehen, daß es die tieferen seelischen Töne Mozarts waren, die in Beethoven entsprechende Saiten zum Schwingen brachten. Z. B. liebte er besonders MOZARTs Klavierkonzert in der DonGiovanni-Tonart d-moll, zu dem er auch Solokadenzen schrieb. Es gibt Beethovensche Themen, die in ihrer schlanken Zeichnung und gedämpften Farbe eine innere und bisweilen auch äußere Verwandtschaft mit Mozart aufweisen, und zwar angefangen von den Bonner Klavierquartetten des Fünfzehnjährigen, in denen sich zuerst Beethovens Auseinandersetzung mit Mozart nachweisen läßt 4 . Was aber hat Beethoven in der angedeuteten Richtung Neues gebracht, über Mozart hinaus? Ich stelle zwei Sätze Mozarts und Beethovens einander gegenüber, die in der Tonart gleich und in Bewegung und Tonfolge ähnlich sind, beides frühe Kompositionen. Zunächst hören wir den Anfang des langsamen Satzes aus MOZARTs Serenade D-Dur KV 320, der sogenannten Posthorn-Serenade aus dem Jahre 1779 (Tonband-Beispiel Andantino, T. 1-14). Eine melancholische, ausdrucksstarke, überaus sensible und sprechende Musik, von der man gesagt hat, daß sie eine „impression funèbre" (WYZEWA/SAINT-FOIX 1936, S. 163) hervorrufe. Und doch ist das alles eingefangen in abgezirkelten, auch gegensätzlichen Gesten, deren Vornehmheit darin besteht, daß sie nie bis zum äußersten gehen. Ich möchte sagen: der Schöpfer dieses Seelengesanges bezieht die Öffentlichkeit stets in den künstlerischen Vorgang mit ein, die Öffentlichkeit etwa im Sinne des damaligen 3

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Das forte in SCHINDLERS Notenbeispiel (3/1860, 2. Tl., S. 359/60; danach auch unser Notenbeispiel 2) für den unteren Impuls fehlt in allen Ausgaben der Sonate (das Autograph ist verschollen). Andererseits nennt SCHINDLER (3/1860, 1. Tl., S. 52) im Zusammenhang mit „der Nachlässigkeit wie auch Unsauberkeit" der Wiener Musikdruckereien gerade unsere Sonate: „So hat manz. B. in der Sonate pathe'tique den Abgang einer ansehnlichen Zahl von Vortragszeichen im ersten und zweiten Satz, wichtig für richtige Auffassung, nicht blos für Färbung, zu beklagen. " Angesichts dieser Bemerkung und in Anbetracht der Tatsache, daß Schindler die Sonate bei Beethoven studiert hat, möchte ich das forte für den unteren Impuls als authentisch ansehen, zumal der Gegensatz der Prinzipe erst durch den dynamischen Gegensatz in voller Deutlichkeit hervortritt. Daß SCHINDLER die dynamischen Zeichen ganz bewußt bringt, zeigt seine Bemerkung (3/1860) 2. Tl., S. 241.

Vgl. insbesondere das Klavierquartett Es-Dur WoO 36, Nr. 1 und MOZARTs Violinsonate G-Dur KV 379 (373a) von 1781, dazu Ludwig SCHIEDERMAIR (1925) S. 290-293.

BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT

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Theaters, der Oper. Bei aller Empfindungsstärke wahrt Mozart die überlegene und distanzierte Haltung des Dramatikers, des Dramaturgen. Hören wir dagegen den Anfang des langsamen Satzes aus BEETHOVENS Streichquartett F-Dur op. 18, Nr. 1 aus dem Jahre 1799 (Tonband-Beispiel Adagio molto, T. 1-9). Ein echter, unverwechselbarer langsamer Satz Beethovens, vor ihm undenkbar ebenso wie nach ihm. Auch hier bleibt die Geste beherrscht, auch hier wird Öffentlichkeit vorausgesetzt, aber Beethoven unterwirft sie seinem Ausdruckswillen. V o n der spezifischen Theaterhaltung Mozarts entfernt sich Beethoven in Richtung auf eine unvermittelte Confessio, das zeigt sich übrigens auch in Teilen seiner einzigen Oper Fidelio. Mozart erschließt tiefere seelische Schichten als Haydn, doch auch seine Musik steht wie diejenige Haydns unter dem Gesetz des Spieltriebs. Beethoven knüpft an Haydn und Mozart an, doch beim Anhören seiner Musik stellen sich unabweisbar Bilder, Vorstellungen ein, konkrete Inhalte. Dies zeigt sich sehr deutlich im Musikschrifttum der damaligen Zeit, und die Exzesse in Form programmatischer Paraphrase und Hermeneutik sind uns allzu bekannt. Zu diesen Exzessen kam es aber gerade deshalb, weil man im fortschreitenden 19. Jahrhundert die konkrete Sprache der Beethovenschen Musik nicht mehr so verstand wie in der großen Zeit um 1800. BEETHOVEN selber äußerte sich 1823 dahingehend, „daß die Zeit, in welcher er die meisten Sonaten geschrieben, poetischer gewesen als die gegenwärtige, daher Angaben der Idee nicht nötig waren" (SCHINDLER 3/1860, 2. Tl., S. 222). Dann gibt er konkrete Beispiele für solche der Musik zugrundeliegenden Ideen, und in diesen Zusammenhang läßt sich auch unser Quartettsatz stellen. Dieses Quartett hatte BEETHOVEN dem ein Jahr jüngeren Karl Amenda gewidmet, „als ein kleines Denkmal unserer Freundschaft", wie er schrieb (THAYER 2/1910, S. 12 0 S ). Von AMENDA erfuhr ein etwas späterer Musikschriftsteller die folgende Begebenheit: „Als Beethoven sein bekanntes Streichquartett in F-Dur komponiert hatte, spielte er dem Freunde das herrliche Adagio vor und fragte ihn darauf, was er sich gedacht habe. Es hat mir, war die Antwort, den Abschied zweier Liebenden geschildert. Wohl, entgegnete Beethoven, ich habe mir dabei die Szene im Grabgewölbe aus Romeo und Julia gedacht" (THAYER 2/1910, S. 1 8 6 6 ) . Das darf man nun um Himmels willen nicht so verstehen, als ob Beethoven die 3. Szene des 5. Aktes von Shakespeares Tragödie hier abkonterfeit hätte. Nur einige Bilder und Vorgänge lassen sich vielleicht identifizieren. Gegen Schluß des Satzes dürfte die dreimal auffahrende Gebärde Julias Entschluß zum Selbstmord und das folgende fortissimo den Stoß ihres Dolches andeuten. Danach verlöscht sie. Unter den Skizzen findet sich sogar ein Entwurf Beethovens mit den Worten: „Les derniers soupirs". Hören wir nach diesen Hinweisen den Schluß des Satzes (Tonband-Beispiel op. 18,1 Adagio, T. 95-110). Ich sprach von Ausdruckswillen, von Confessio, von außer- oder übermusikalischen Inhalten. Also beginnende Romantik? Setzen wir dagegen die programmatische Vertonung derselben Sterbeszene durch einen Romantiker in der dramatischen Symphonie Romeo et Juliette von Hector BERLIOZ aus dem Jahre 1839, zwölf J a h r e nach BeetAbbildung in BORY (1960) S. 91 und LANDON (1970) S. 63 [Nr. 86], Die Skizze Les derniers soupirs bei NOTTEBOHM (1887) S. 485 und bei ZOBELEY (1965) S. 42.

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WOLFGANG OSTHOFF

hovens Tod. Deutlich nimmt man die Verzweiflung, das Zücken des Dolches, das Zustechen wahr. Danach auch hier das Erlöschen und Verscheiden (Tonband-Beispiel der letzten 60 Takte des Allegro vivace ed appassionato assai aus Roméo et Juliette). Auch das ist Ausdruckswille, nun aber nicht mehr gebändigt, d. h. in der Freiheit des Spiels erscheinend, sondern exzessiv als Selbstzweck, d. h. unter dem Zwang des Affektes. In der Formulierung SCHILLERs gibt uns Beethoven „eine schöne Kunst der Leidenschaft", während Berlioz nur „eine schöne leidenschaftliche Kunst" bietet (22. Brief) . Die Geste wird bei Berlioz zum naturalistischen Ausbruch, die Sprache wird zum Schrei. Diese Musik sieht im Grunde genommen von Öffentlichkeit im alten Sinne ab. Die Welt mag über ihr zugrundegehen oder angesichts ihrer versinken. BERLIOZ berichtet über die Entstehung dieser Symphonie: „Ich traute mir die Kraft zu, zur Wunderinsel zu gelangen, wo sich der Tempel reiner Kunst erhebt" (1914, S. 248). Selbstherrlicher Zauber, fernab der Wirklichkeit, reine abgelöste Kunst als Religionsersatz — wie fremd ist das alles Beethoven. Mag sich die Romantik und die aus ihr hervorgehende Moderne in Details auf Beethoven berufen — nimmt man ihn als Ganzes zum Maßstab, so wird er unversehens zu ihrem Richter. Ich sprach anhand von Haydn, und das gilt auch für Mozart, von dem Spiel, das unter Beethovens Händen verdichtet, gehärtet und intensiviert zur Auseinandersetzung von Prinzipen wird. Das ist eine Modifizierung, Weiterentwicklung, dennoch bleibt die übergeordnete Haltung des Spiels, bleibt der Spieltrieb verbindlich für die ganze Wiener klassische Musik bis hin zu Beethovens letztem Streichquartett, sogar bis hin zu seiner letzten vollendeten Komposition, dem nachkomponierten Finalsatz von op. 130. Wir hörten, daß dieser Spieltrieb — in SCHILLERs ästhetisch-philosophischer Formulierung — dahin gerichtet ist, „die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität zu vereinbaren. " Ich habe damit die Lösungen Haydns (in der Sinfonie) und Beethovens (in der Pathétique) in Zusammenhang gebracht, als eine Analogie, als eine Entsprechung. Wie aber wäre es möglich, die Zeit in der Zeit wirklich aufzuheben, Werden mit Sein zu vereinigen? Auf diese Frage ist damals parallellaufend sowohl von der deutschen Musik als auch von der deutschen Dichtung dieselbe Antwort gefunden worden: die Zeit wird in der Zeit aufgehoben, das Werden mit dem Sein vereinigt in der Fixierung des Augenblicks, des erfüllten Augenblicks. Ein solches Fixieren des Augenblicks läßt sich technisch-musikalisch bei Haydn, Mozart und Beethoven in zunehmendem Maße beobachten 8 . Als dramatische Explikation dieser Idee darf man MOZARTs Don Giovanni ansehen 9 . Expressis verbis spricht sie

Ich verkenne nicht die konstruktive Rolle, welche die Baßfolge B-F-C-G und das Intervall der kleinen Sekunde in der Episode von Berlioz spielen. Doch der konstruktive Aspekt bleibt gegenüber dem naturalistischen sekundär. 8 Die Wiener klassische Musik fixiert den Augenblick in der mannigfaltigsten Weise, es gibt dafür kein Modell oder Schema, die in diesem Vortrag angeführten Stellen sind nur paradigmatisch zu verstehen. 9

Z u m „Augenblick" bei Mozart s. GEORGIADES (1956) S. 103 ff. (über das Terzett „Soll ich dich, Teurer, nicht mehr sehn? " aus der Zauberflöte). Vgl. aus der Zauberflöte ferner die Stelle „Ihr Götter, welch ein Augenblick" im 2. Finale (nach der Wasser- und Feuerprobe) sowie aus den Nozze di Figaro die Trio-Stelle „Da questo momento" im Finale des 2. Aktes (dazu W. OSTHOFF in Vorb.) und Susannas „Giunse alfin il momento" aus dem 4. Akt. — Als Gegenbeispiel

BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT

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BEETHOVEN auf dem Höhepunkt seines Fidelio aus 1 0 . Der Gouverneur des Gefängnisses, Pizarro, ist als Bösewicht entlarvt. Der Minister fordert den Kerkermeister Rocco auf, dem edlen Florestan die Ketten abzunehmen. Plötzlich aber besinnt er sich, hält ein und wendet sich an Florestans Frau Leonore, der die Rettung zu verdanken ist: „Doch halt! — Euch, edle Frau, allein, / Euch ziemt es, ganz ihn zu befrein." Leonore schließt „in größter Bewegung" die Ketten auf, Florestan sinkt in ihre Arme, sie aber bringt nur die Worte hervor: „O Gott! o Gott! welch ein Augenblick!" Notenbeispiel 3

C o l t !

ii

Colt!

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ein

AuRi-nlilirk!

Für einen Augenblick scheint die Zeit still zu stehn, für einen Augenblick ist die Zeit in der Zeit aufgehoben, das Werden mit dem Sein vereinigt. In diesem Augenblick der Erfüllung und Gnade ist wie in einem Brennpunkt das ganze Drama konzentriert: Opfer, Tat und Sieg Leonorens. Musikalisch, von der musikalischen Deklamation des Textes her, läßt sich dieser Brennpunkt i n n e r h a l b der Stelle, die wir gehört haben, noch präziser lokalisieren: er fällt genau mit dem Aussprechen des Wortes „Augenblick" zusammen. Daß Beethoven mit dieser Stelle gerungen hat, ließe sich an den beiden frühen Fassungen der Oper von 1805 und 1806 zeigen. Die gültige Realisation gelang ihm erst in der definitiven Fassung von 1814. Wieder ist es in erster Linie der Rhythmus, dieses „Nothwendigste zur Verständigung der Musik" — wie SCHINDLER als Echo die Meinung Beethovens wiedergibt —, der Rhythmus also, der diese gültige Realisation bewirkt. Der zugrundeliegende Vers des Textbuches hieß: „O Gott, o welch ein Augenblick". Dieser leiernde Vers erlaubte es Beethoven nicht, s e i n e Konzeption dieser Stelle zu verwirklichen. Seine Konzeption besteht in einer wachsenden Intensivierung, rhythmisch gesprochen: in einer stetigen Verbreiterung der Ansätze. Deshalb ändert Beethoven den Text. Er bringt nun zweimal das „O G o t t " und läßt dafür das „ o " vor „welch" fort. Das ermöglicht ihm folgende Intensivierung: das erste „O G o t t " versieht er mit kurzem Auftakt (Achtelauftakt), das zweite „O G o t t " versieht er mit langem Auftakt (Viertelauftakt); „welch ein" kann er jetzt als ganz breiten Ansatz bringen, d. h. nicht mehr auftaktig (wie die vorangehenden Glieder), sondern abtaktig, und dieser breite Ansatz mündet in den beinahe gesprochenen „Augenblick". Dieser Intensivierung entspricht auch die Melodieführung der Stelle: die Schritte der einzelnen Anvgl. das gefühls- und stimmungsmäßige Auskosten, aber nicht Fixieren des Augenblicks im Duett Komponist-Zerbinetta aus dem Vorspiel der Ariadne auf Naxos von Richard STRAUSS. 10 Man kann Leonorens Fixieren des erfüllten Augenblicks im 2. Akt zu Pizarros (vergeblichem) Erhaschen des erfüllten Augenblicks im 1. Akt („Ha, welch ein Augenblick ") in dramatischer Beziehung sehen.

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WOLFGANG OSTHOFF

sätze werden immer weiter, und bei dem Abtakt kehrt sich die Richtung der Melodie um. Wir wollen die Stelle noch einmal in dieser Weise hören (Tonband-Beispiel Fidelio, Sostenuto, T. 1-10). Ich sagte, daß sich ein solches Fixieren des Augenblicks bei den Wiener Klassikern in zunehmendem Maße beobachten läßt, es gilt also genauso für die Instrumentalmusik. Auch nur e i n Beispiel von Beethoven hierfür zu explizieren, würde viel zu weit führen. Stattdessen zitiere ich eine literarische Spiegelung dessen, was innerhalb eines Beethovenschen Satzes vor sich geht. Die folgenden Worte Beethovens berichtet Bettina BRENTANO in einem Brief vom 28. Mai 1810. Mag einiges in Stil und Ausdruck auf Rechnung der phantasievollen Bettina gehen, im Kern ist das Zeugnis echt. BEETHOVEN sagt also (LEITZMANN 1921, S. 120): „Da muß ich denn von dem Brennpunkt der Begeisterung die Melodie nach allen Seiten hin ausladen. Ich verfolge sie, hole sie mit Leidenschaft wieder ein, ich sehe sie dahinfliehen, in der Masse verschiedener Aufregungen verschwinden; bald erfasse ich sie mit erneuter Leidenschaft, ich kann mich nicht von ihr trennen, ich muß mit raschem Entzücken in allen Modulationen sie vervielfältigen, und im letzten Augenblick da triumphiere ich über den ersten musikalischen Gedanken. Sehen Sie, das ist eine Symphonie . . . " " . Dieser Triumph im letzten Augenblick, meistens kurz vor dem Ende eines Satzes, faßt den Vorgang innerhalb des Satzes wie in einem Brennpunkt zusammen, er entspricht dem erfüllten Augenblick in unserm Sinne. Der Brief Bettinas ist an Goethe gerichtet. An GOETHE, der seinerseits im Faust die Fixierung des Augenblicks zum Hauptmotiv machte: „Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zu Grunde gehn! Die Uhr mag stehn, der Zeiger fallen, Es sei die Zeit für mich vorbei!" (Faust I, V. 1699 ff.) Daß wir uns mit einem Zitat aus Faust in Beethoven-Nähe befinden, läßt sich mit einem Ausspruch BEETHOVENs vom April 1823 belegen: „ist diese periode vorbej, so hoffe ich endlich zu schreiben, was mir und der Kunst das Höchste ist — Faust" (SCHÜNEMANN 1943, S. 149). Doch dazu ist es nicht gekommen. Der eigentliche erfüllte Augenblick erscheint erst im zweiten Teil des Faust'. „Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. Zum Augenblicke dürft' ich sagen: Verweile doch, du bist so schön! Es kann die Spur von meinen Erdetagen Nicht in Aeonen untergehn. —" (Faust II, V. 11576 ff.) 11

Vgl. als Verdeutlichung etwa die der Zeit dieses Zitates nächstgelegene Symphonie, die 7., 1. Satz, T. 391 ff. (Triumphieren über den ersten musikalischen Gedanken im letzten Augenblick).

BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT

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Nun soll der Augenblick verweilen, soll die Zeit in der Zeit aufgehoben werden. Für den sterblichen Menschen bedeutet das den Tod, doch für das Gedächtnis wird dieser Augenblick zu einem Ewigen Augenblick 1 2 . Denn er ist nun mit Sinn erfüllt, und zwar mit einem allgemeinen, verbindlichen Sinn. Für Goethe-Faust liegt der Sinn dieses Augenblickes darin, auf freiem Grund mit freiem Volke zu stehn. Enthält Beethovens Augenblick im Fidelio einen Sinn über die spezielle Handlung dieser Oper, über das persönliche Schicksal ihrer Helden hinaus? Die Melodie des Orchesters, zuerst von der Oboe angestimmt, vermittelt uns in ihrer zarten Eindringlichkeit den allgemeinen, verbindlichen Sinn. Hören wir die Melodie ein letztes Mal (Tonband-Beispiel). Wie aber läßt sich dieser allgemeine Sinn fassen? In diesem Falle besitzen wir den Schlüssel dazu, denn Beethoven hat die Melodie schon in Bonn verwendet, und zwar für eine Kantate auf den Tod Kaiser Josephs II., im Jahre 1790. In der Kantate wird berichtet, wie Joseph dem Fanatismus aufs Haupt trat (Nr. 2 der Kantate). Darauf folgt eine Arie mit unserer Melodie zu dem Text: „Da stiegen die Menschen, die Menschen ans Licht Da drehte sich glücklicher die Erd um die Sonne Und die Sonne wärmte mit Strahlen der Gottheit." Menschlichkeit, Erleuchtung, Aufklärung, Glück unter dem wärmenden Strahl der Gottheit — die Ideen, gewiß die zeitbedingten Ideen, von 1790. Was aber von diesen Ideen, wenn wir von ihren zeitbedingten Hüllen absehen, in Beethoven zentrale Kräfte seiner Kunst und Menschlichkeit freisetzte, erfahren wir im Fidelio, wenn Beethoven seine frühe Melodie mit der Erfüllung im höchsten Augenblick verbindet: die Befreiung des Menschen. Wieder erhebt sich die Frage, ob Beethoven mit einer so modernen Idee nicht eher zur Neuzeit gehört als zu der Welt, die sich musikalisch in Haydn und Mozart erfüllt. Diese Frage wäre zu bejahen, wenn bei Beethoven die Idee zum weltverbessernden Programm würde, d. h. wenn er dem freien Spiel seiner künsüerisch-menschlichen Kräfte um einer bestimmten Tendenz willen Fesseln anlegte, die Freiheit beschnitte. Um es in der Sprache SCHILLERs zu sagen: ein Widerspruch in sich selber wäre der Begriff einer „lehrenden (didaktischen) oder bessernden (moralischen) Kunst, denn nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüth eine bestimmte Tendenz zu geben" (22. Brief). Wie steht es also damit bei Beethoven, und um die Frage auf ihren problematischen Punkt zuzuspitzen: wie steht es damit beim späten Beethoven? Wir sahen, daß Beethoven den Spieltrieb, den klassischen Spieltrieb, im Sinne Haydns und Mozarts betätigte. Wir sahen, daß es ihm — wie Haydn, wie Mozart — damit gelang, Veränderung mit Identität zu vereinbaren. Wir sahen, wie er mit der Fixierung des Augenblickes, dem er einen Sinn gab, die Zeit in der Zeit aufhob. Was aber ist dieser Augenblick? Faust will ihn halten, will die Zeit zum Stillstand bringen. Das bedeutet seinen Tod, doch GOETHE lehrt uns, was über den Tod des sterblichen Menschen hinaus von diesem Augenblick weiterwirkt: l2

V g i . vom andern Pol der klassischen deutschen Dichtung her Jean PAUL: an der Ewigkeit selber ist keine andere Handhabe als der Augenblick" (Titan, 2. Zykel).

seligen

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WOLFGANG OSTHOFF

„Es kann die Spur von meinen Erdetagen Nicht in Aeonen untergehn." Der erfüllte Augenblick strahlt also aus in die Zukunft. So auch der erfüllte Augenblick im Fidelio. Florestans Befreiung durch Leonore führt zu dem verallgemeinernden Schlußhymnus „Wer ein holdes Weib errungen, / Stimm in unsern Jubel ein". Das ist nicht mehr primär die auf dem alten Theater am Schluß der Vorstellung übliche Wendung ad spectatores, an das reale gegenwärtige Publikum, sondern hier wird die Menschheit angesprochen, und zwar mehr noch eine zukünftige als die gegenwärtige Menschheit. Es schwingt aber noch mehr mit als der in diesem Schlußhymnus ausgesprochene Gedanke. Am Text des Fidelio haben im Lauf der Jahre bis zu seiner endgültigen Fassung drei Autoren gearbeitet. Doch von keinem der drei stammt der Anfang dieses Textes. Seine beiden ersten Verse stammen vielmehr aus SCHILLERs Ode an die Freude13. Ich zitiere die betreffende Strophe: „Wem der große Wurf gelungen, Eines Freundes Freund zu sein, Wer ein holdes Weib errungen, Mische seinen J u b e l ein! J a — wer auch nur e i n e Seele S e i n nennt auf dem Erdenrund! Und wers nie gekonnt, der stehle Weinend sich aus diesem Bund." Nicht eheliche Liebe und Treue allein wird gepriesen, sondern der Bund des Menschen mit dem Menschen schlechthin. BEETHOVEN verkündet diese Botschaft der Brüderlichkeit ausdrücklich in der 9. Symphonie, die 9. Symphonie endet mit dieser Botschaft. Sie richtet sich noch mehr an die kommenden als an die gegenwärtigen Menschen: „Alle Menschen werden Brüder" heißt es in der Ode an die Freude, und später — von Beethoven nicht komponiert —: „Duldet mutig, Millionen! Duldet für die bessre Welt." Die Verheißung hat etwas Imperativisches an sich, sie äußert sich sogar mit militanter Gewalt: „Froh, wie seine Sonnen fliegen Durch des Himmels prächtgen Plan Laufet, Brüder, eure Bahn, Freudig, wie ein Held zum Siegen."

13

Bisher, so weit ich sehe, nicht bemerkt.

BEETHOVEN ALS GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT

17

Beethoven unterstreicht in der 9. Symphonie den militanten Charakter dieser Stelle noch, indem er das Orchester sozusagen in eine Militärkapelle verwandelt, in eine türkische Musik, wie man es damals nannte: Bläser und dreifaches Schlagzeug (Triangel, Becken und Große Trommel). Die Streicher fungieren nur als Echo und als Verstärkung in den letzten Takten der Episode (Tonband-Beispiel 9. Symphonie, Finale, Alla Marcia). Es zittert etwas vom Elan der Revolutionstruppen in dieser Musik, zugleich weckt der gleichsam orientalische Überschwang der „türkischen Musik" Bilder von Dionysos- und Alexanderzügen in unserer Phantasie. Und das ist gar nicht abwegig, denn wir wissen, daß Beethoven eine geplante 10. Symphonie mit einer Feier des Bachus abschließen wollte (THAYER 1908, S. 19, Anm. 3 ) 1 4 . Wie dem auch sei, die Musik ist von jenem Beethovenschen Ethos getragen und beschwingt, das wir mit den Worten „Befreiung des Menschen" umschrieben. Doch was ist mit der Befreiung des Menschen gemeint? Was bedeutet diese geforderte Freiheit? Nach SCHILLERs Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (19. Brief) ist es die Freiheit, mit deren Hilfe der Mensch seine von der Natur angelegte Menschheit behauptet. D. h. die Freiheit der Wahl und die Freiheit des Ausgleichs zwischen seinen beiden Grundtrieben, dem sinnlichen und dem vernünftigen. Die beiden Oratorienpläne aus Beethovens letzter Lebenszeit (1826) bestätigen diesen Freiheitsbegriff. Das eine Oratorium sollte den Titel Die Elemente erhalten u n d „ e m reges Lebensgemälde des Menschen werden, der Kind und Sklave und Herr der Elemente ist". Das zweite Oratorium sollte, angeregt von Händel, Saul heißen und „den Sieg der edleren Kräfte über wilde Begierden" darstellen (THAYER 1908, S. 326/27). Ein solcher aus Freiheit und in Freiheit gewonnener Sieg darf aber nach SCHILLER weder „die Mannigfaltigkeit der Natur" noch „die moralische Einheit" der Vernunft verletzen. Er fordert daher,,Totalität des Charakters". Die „Totalität des Charakters muß also bei dem Volke gefunden werden, welches fähig und würdig sein soll, den Staat der Not mit dem Staat der Freiheit zu vertauschen" (4. Brief). Aus der geforderten Totalität des Charakters ergeben sich für den Menschen zwei weitere, entgegengesetzte Forderungen, zwei Fundamentalgesetze: „Das erste dringt auf absolute Realität: er soll alles zur Welt machen, was bloß Form ist, und alle seine Anlagen zur Erscheinung bringen; das zweite dringt auf absolute Formalität: er soll alles in sich vertilgen, was bloß Welt ist, und Obereinstimmung in alle seine Veränderungen bringen; mit andern Worten: er soll alles Innre veräußern und alles Äußere formen. Beide Aufgaben, in ihrer höchsten Erfüllung gedacht, führen zu dem Begriffe der Gottheit..." (11. Brief). Freiheit ist also ein Akt der Selbstverwirklichung des Menschen als Mensch. Allerdings ein Akt, der nur im Beschreiten dieses Weges zu vollbringen ist, niemals als ein Erreichen des Zieles. Dies bleibt der Gottheit vorbehalten. Befreiung des Menschen ist also, so gesehen, sein Übergang, sein nie ganz vollzogener Übergang, hin zur Gottheit. Wir dürfen einen solchen Freiheitsbegriff auch für Beethoven in Anspruch nehmen. Befreiung des Menschen als Übergang zum Göttlichen hin, eine in die Z u k u n f t weisende Aufgabe, zu realisieren in evolutionärem oder revolutionärem Elan, wie wir ihn an der

14

1815/16 befaßte sich Beethoven mit dem Plan einer „Bachus"-Opcr, vgl. THAYER (2/1911) S. 501 ff. und 557.

WOLFGANG OSTHOFF

18

Musik der 9 . Symphonie empfanden. Doch das ist nur der eine Aspekt dieses Beethovenschen Ethos, und ihn allein zu betonen, hieße Beethoven teilhaft sehen, hieße Beethoven verfälschen. Sein Befreiungsethos führt ihn ebenso und in derselben Spätzeit zu der demütigen Bitte „dona innern

und äußern

Frieden,

nobis pacem"

in der Missa Solemnis.

Diese Bitte

um

wie er den betreffenden Teil seiner Messe überschreibt, ist

gegründet wiederum auf einem Übergang zum Göttlichen hin, hier aber Übergang nicht als für die Zukunft verheißener Sieg des Menschen, sondern als das einmal vollzogene und immer wieder vollziehbare Wunder der Wandlung von Materie in göttliche Substanz. In den großen zusammenhängenden Kompositionen der Messe, welche die Jahrhunderte hervorgebracht haben, ist dieser Vorgang der Wandlung, dieser erfüllte Augenblick des Mysteriums, nicht ausdrücklich in Musik gesetzt w o r d e n 1 5 . Beethoven steht am Ende der unangefochten christlichen Jahrhunderte, aber getragen von ihrem Geist und ihrer Glut und der Macht ihrer Geschichte vermag er, in der Missa Solemnis

eine Zu-

sammenfassung zu geben, in die auch die Umschreibung des Geheimnisses hineingenommen ist: eine von der verbindlichen Haltung des ganzen Messenwerkes getragene spezifische Wandlungsmusik (Tonband-Beispiel Missa Solemnis,

Praeludium vor dem

Benedictus). 9. Symphonie

undMissa

Solemnis:

erst beides zusammengenommen ist Beethovens Bot-

schaft. Der S i e g des erfüllten Augenblicks und die G n a d e des erfüllten Augenblicks. S o greift dessen Gegenwart aus, in die Zukunft ebenso wie in die Vergangenheit 1 6 . „Doch

Vergangenes

ist, wie Künftiges,

geborene H Ö L D E R L I N (Elegie Stuttgart

heilig

den

Sängern,"

sagt der im selben J a h r

3, 1 7 ) 1 7 .

Wenn Bach zu Recht als verbindliche abschließende Zusammenfassung eines Erbes von Jahrhunderten aufgefaßt wird, wenn Mozart eine Gegenwart zu verewigen scheint und wenn später — nach dem Wort Richard WAGNERs — der Künstler der Gegenwart der „Erzeuger

des Kunstwerkes

der Zukunft

ist" ( 3 / 1 8 9 8 , S. 2 2 9 , Schluß), so könnte

Beethovens Einzigartigkeit darin gesehen werden, daß er, indem er Gegenwart

fixiert,

zugleich Zukunft (vgl. hierzu W. O S T H O F F 1 9 7 0 ) und Vergangenheit einbezieht: das Ethos der Freiheit und das geschichtliche Gedächtnis. Gerade deshalb werden Sie nun zum Schluß nicht von mir erwarten, daß ich mich auf jene selbstgefällige, nur-gegenwartsbezogene Frage einlasse: Was hat Beethoven uns im J a h r e 1 9 7 0 zu sagen? Wie besteht er vor uns? Im 2 0 0 . J a h r e seiner Geburt scheint es mir angemessener zu sein, diese Frage umzukehren. Ein solches Gedenkjahr hätte dann seinen Sinn, wenn jeder von uns sich fragte und wenn wir alle uns fragten: Was haben wir angesichts von Beethoven zu sagen, und wie bestehen wir vor ihm?

15

16

Gesonderte Musik zur oder nach der Wandlung, wenn überhaupt zugelassen, konnte aus eucharistischen Motetten oder Instrumental-, vor allem Orgelstücken bestehen, die aber nicht zum Werkganzen einer Meßkomposition gehörten (vgl. zur Praxis seit dem 17. Jahrhundert BONTA 1969, S. 54-84, und zu Beethoven KIRKENDALE 1970, S. 687/688). Im normalen Ordinarium-MissaeZyklus konnte das Benedictus nach der Wandlung erklingen.

Zu einer derartigen Deutung der Wandlung in der Messe vgl. HILLARD (1966) S. 15.

17

Vgl. in GOETHEs Vermächtnis: „Dann ist Vergangenheit beständig, / Das Künftige voraus lebendig, / Der Augenblick ist Ewigkeit."

BEETHOVEN A L S GESCHICHTLICHE WIRKLICHKEIT

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ZUSAMMENFASSUNG Der Würzburger Universitätsvortrag zeigt, wie Beethoven von Haydn lernte, seiner Musik durch Handhabung von Rhythmus und Metrum Vorgangscharakter zu verleihen. Haydns Spieltrieb, der im Sinne Schillers dahin tendiert, „die Zeit in der Zeit aufzuheben, Werden mit absolutem Sein, Veränderung mit Identität" zu vereinen, verdichtet sich bei Beethoven zum musikalisch ausgetragenen Gegensatz zweier Prinzipe (Beispiel op. 13). — Beethoven nimmt Mozarts tiefere seelische Töne auf und erfüllt sie mit konkreten Vorstellungen (Beispiel op. 18, 1 Adagio). Die Romantik steht dagegen unter dem Zwang des Affekts und führt zum Naturalismus (Beispiel Berlioz „Romeo et Juliette"). — „Die Zeit in der Zeit" wird in der klassischen deutschen Dichtung (Faust) und Musik durch die Fixierung des erfüllten Augenblicks aufgehoben (Fidelio 2. Finale), der sich mit verbindlichem Sinn erfüllt: Befreiung des Menschen. Diese Zukunftsvision wird im Finale der 9. Symphonie sogar militant verkündet (Alla Marcia). Befreiung des Menschen ist aber nicht vordergründig zu verstehn, da sie sein — nie ganz vollzogener — Ubergang hin zur Gottheit ist. Deshalb tritt Wandlung und Friedensbitte der Missa Solemnis gleichgewichtig neben die 9. Symphonie. In Gnade und Sieg des erfüllten Augenblicks bezieht Beethoven Vergangenheit und Zukunft mit ein: geschichtliches Gedächtnis und Ethos der Freiheit. Darin liegt seine Einzigartigkeit.

LITERATUR Berlioz, Hector: Lebenserinnerungen. Ins Deutsche übtr. und hrsg. von Dr. Hans Scholz. München. 1914 Bonta, Stephen: The Uses of the Sonata da Chiesa. 1969 In: J A M S 2 2 , 54-84. Bory, Robert: Ludwig van Beethoven. Sein Leben und sein Werk in Bildern. Zürich. 1960 Fröhlich, Joseph: Sinfonie, mit Schlußchor über Schillers Ode: „An die Freude". 1828 In: Caecilia 8, H. 32, 2 3 1 - 2 5 6 . ders.: Missa composita a Ludovico van Beethoven, Op. 123. 1828 In: Caecilia 9, H. 36, 27-45. Georgiades, Thrasybulos: Mozart und das Theater. 1956 In: Mozart, seine Welt und seine Wirkung. Augsburg. Hillard, Gustav: Das Recht auf Vergangenheit. 1966 In: Castrum Peregrini 75, 5-15. Kirkendale, Warren: New Roads to Old Ideas in Beethoven's Missa Solemnis. 1970 In: Musical Quarterly 5 6 , 6 6 5 - 7 0 1 . Köhler, Karl-Heinz und Grita Herre: Ludwig van Beethovens Konversationshefte. Bd. 5, H. 49-60. 1970 Hrsg. im Auftrag der Deutschen Staatsbibliothek Berlin von K.-H. K. und G. H. unter Mitw. von Peter Pötschner. Leipzig. Landon, H. C. Robbins: Beethoven. Sein Leben und seine Welt in zeitgenössischen Bildern und 1970 Texten. Zürich. Leitzmann, Albert: Ludwig van Beethoven. Berichte der Zeitgenossen, Briefe und persönliche Auf1921 Zeichnungen, gesammelt und erl. von A. L. Bd. 1. Leipzig.

20

WOLFGANG OSTHOFF

Nottebohm, Gustav: Zweite Beethoveniana. Leipzig. 1887 Osthoff, Wolfgang: „ H a u s in B o n n " — George und Beethoven. 1970 In: Castrum Peregrini 9 5 , 5-29. ders.: Die Opera b u f f a . in Vorb. In: Gedenkschrift L e o Schrade. Bern. Schiedermair, Ludwig: Der junge Beethoven. Leipzig. 1925 Schindler, Anton: Biographie von Ludwig van Beethoven. Münster. 3/1860 Schünemann, Georg: Ludwig van Beethovens Konversationshefte. Im Auftrag der Preußischen 1943 Staatsbibliothek hrsg. von G. Sch. Bd. 3, H. 23-37. Berlin. Thayer, Alexander Wheelock: Ludwig van Beethovens Leben. Nach dem Original=Manuskript deutsch bearb. von Hermann Deiters. Revision . . . von Hugo Riemann. Leipzig. 3/1917 Bd. 1. 2/1910 Bd. 2. 2/1911 Bd. 3. 1908 Bd. 5 . Wagner, Richard: Oper und Drama. 3/1898 In: Gesammelte Schriften und Dichtungen von R. W. Bd. 4. Leipzig. Wyzewa, Theodore de et Georges de Saint-Foix: W.-A. Mozart. Sa vie musicale et son oeuvre. Bd. 3 1936 (von G . de Saint-Foix): Le grand voyage — L'installation a Vienne ( 1 7 7 7 - 1 7 8 4 ) . Paris. Zobeley, Fritz: Ludwig van Beethoven. Hamburg. 1965

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MISZELLEN ZUR MUSIKTHEORIE DES 15. JAHRHUNDERTS CARL DAHLHAUS

I GUILIELMUS MONACHUS, der in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts schrieb, unterscheidet in den Praecepta artis musicae (ed. 1965, Seay, S. 38-39) zwei Arten des Fauxbourdon, des Terz-Sext-Satzes mit Quint-Oktav-Klängen am Anfang und Schluß der Absätze. In der einen Art „beherrscht" der cantus firmus in verzierter Fassung den Sopran, in der anderen unverziert („sicut stat") den Tenor. Die Beschreibung des Fauxbourdon mit verziertem Sopran-cantus-firmus ist jedoch nicht unmißverständlich. In dem Exempel, das die Darstellung illustriert 1 , weichen Sopran und Tenor durch verschiedenes Maß an Kolorierung nicht unwesentlich voneinander ab. Notenbeispiel 1

f



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^—^—

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Und es ist ungewiß und umstritten, ob der Contratenor, die nicht notierte Mittelsiimme, sich melodisch und rhythmisch nach dem reich kolorierten Sopran oder nach dem einfacheren Tenor richtet. Manfred F. BUKOFZER machte es in dem Aufsatz Fauxbourdon Revisited (1952, S. 44) Heinrich BESSELER zum Vorwurf, daß er in Bourdon und Fauxbourdo n (1950, S. 23) einen Satz des Guilielmus Monachus unvollständig zitiert und dadurch verzerrt habe. Das Satzfragment, auf das sich Besseler beschränkte: „Contra vero dicitur sicut supranus, accipiendo quartam subtus supranum" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 39), war geeignet, die These zu stützen, daß im kontinentalen Fauxbourdon der Sopran-cantus-firmus durch einen „Intervallkanon" des Contratenors in der Unterquarte verdoppelt worden sei, daß also der Contratenor sich am Sopran und nicht am Tenor orientiert habe (BESSELER 1950, S. 16 f.). Die Fortsetzung des Zitats: „quae [sc. quarta] venit esse quinta et tertia supra tenorem" (Quinte am Anfang und Schluß, Terz in der Mitte der Absätze), bezieht jedoch, in scheinbarem Widerspruch zum ersten Teil des Satzes, den Contratenor auf den Tenor statt auf den Sopran. Und aus der Anlehnung an den gering-

' Daß das Beispiel, das der Beschreibung des Fauxbourdon mit Tenor-cantus-firmus folgt, zur Beschreibung des Fauxbourdon mit Sopran-cantus-firmus gehört, ist von Jacques HANDSCHIN (1949, S. 145 ff.) gezeigt worden.

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CARL DAHLHAUS

fügig verzierten Tenor resultiert eine andere Stimmführung als aus der Quartverdoppelung des reich kolorierten Soprans 2 . (BUKOFZER scheint übrigens 1952 vergessen zu haben, daß er selbst es war, der anderthalb Jahrzehnte früher als erster das fragmentarische Guilielmus-Zitat benutzte, um zu beweisen, daß der „Contratenor dem Sopran sklavisch angeglichen" (1936, S. 78) worden sei.) An der Zusammengehörigkeit der beiden Teile des Satzes ist um so weniger zu zweifeln, als es sich um die Wiederholung oder Zusammenfassung einer früheren Beschreibung des gleichen Sachverhalts handelt. Die Parallelstelle lautet: „Contratenor vero debet tenere dictum modum suprani; sed [nota] quod habeat pro consonantiis tertiam et quintam altas, hoc est, primam quintam, reliquas tertias; ultimus vero finis concordiarum sit quinta, ut patebit per exemplum" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 38). Auch diese zweite Stelle ist jedoch, nicht anders als die erste, zerteilt worden. Edmond de Coussemaker las „sed quando habeat . . . " (GUILIELMUS ed. 1869, Coussemaker, 292 b) statt „sed quod habeat . . .". Und auf Coussemakers Textfassung stützte Brian TROWELL (1959, S. 66) die Behauptung, im zweiten Teil des Satzes („sed quando habeat . . .") sei der Supranus und nicht der Contratenor gemeint. Der Satz sei als Parallele zum unmittelbar vorausgehenden zu verstehen 3 : , , . . . sed quando [Seay: quod] habeat supranus pro consonantiis primam, octavam et reliquas sextas, et in fine concordiarum sit octava, hoc est, habeat sex et octo pro consonantiis supra tenorem, [Seay: Punkt statt Komma] contratenor vero debet tenere dictum modum suprani; sed quando [Seay: quod] habeat pro consonantiis tertiam et quintam altas, hoc est primam, quintam, reliquas tertias; ultimus vero finis concordiarum sit quinta, ut patebit per exemplum" (GUILIELMUS ed. 1965, Seay, S. 38). Trowell konstruiert einen Parallelismus membrorum („sed quando . . . sed quando . . .") mit dem Supranus als Subjekt, und er meint, der Supranus werde im ersten Absatz als Oberstimmen-cantus-firmus, im zweiten als Mittelstimmen-cantus-firmus beschrieben. Guilielmus denke also zunächst an den kontinentalen Fauxbourdon, dann an den englischen Faburden, die Improvisation von Außenstimmen zu einem Mittelstimmen-cantus-firmus. Trowells Hypothese ist jedoch brüchig. Denn erstens wäre es, wenn sie zuträfe, unverständlich, warum Guilielmus von einem „supranus" statt von einem „cantus firmus" spricht, wenn er eine vorgegebene Melodie meint, die in einem Modus des Fauxbourdon als Oberstimme und im anderen als Mittelstimme erscheint. Zweitens kann man Guilielmus schwerlich unterstellen, daß er in den zitierten Sätzen zwei Arten des Fauxbourdon unterscheiden wollte, aber den Sachverhalt nicht unmißverständlich zu formulieren verstand; denn im nächsten Abschnitt ist ausdrücklich von einem anderen Modus des Fauxbourdon die Rede („Modus autem istius 2

H A N D S C H I N ( 1 9 4 9 , S. 148) meinte d a r u m : „Es erscheint mir daher nicht unmöglich, daß dem Praktiker eine gewisse Latitüde zwischen Quartenparallelen unter dem ausgezierten Sopran und Terzen über dem nicht ausgezierten Tenor gelassen wurde". Handschins Urteil ist salomonisch, aber, wie es scheint, nicht triftig.

3

T R O W E L L ( 1 9 5 9 , S. 6 6 ) : „Surely the parallel construction ,sed quando . . . vero . . . sed quando . . . vero' and the use of the subjunctive mood imply a balanced contrast, with ,supranus' as the subject in each case". Das zweite „ v e r o " bezieht sich allerdings nicht auf eine a n d e r e Stimme, s o n d e r n auf eine a n d e r e K o n s o n a n z derselben S t i m m e , so d a ß T r o w e l l s K o n s t r u k t i o n auch in sich nicht so „ b a l a n c e d " ist, wie er meint.

MUSIKTHEORIE DES 15. JAHRHUNDERTS

faulxbordon

aliter posset

23

assumi apud nos . . . " ) . Drittens wurde die Parallelstelle,

der von Bukofzer und Besseler fragmentierte Satz, von Trowell übersehen

oder

vernachlässigt. Und viertens ist das Wort „ q u o d " (statt Coussemakers „ q u a n d o " ) in Seays Lesung des Textes — einer Lesung, an der Trowells Interpretation scheitert — durchaus einleuchtend. Zu ergänzen wäre das Wort „ n o t a " : „. . . sed nota quod . . . " (Die Verkürzung von „ n o t a q u o d " zu „ q u o d " findet sich bei G U I L I E L M U S (ed. 1 9 6 5 , Seay, S. 3 0 ) auch an anderer Stelle: „Contra

vero accipiat unisonum

quintam, tertiam, octavam, tertiam bassam, et quod penultima

et ex

sit Semper

consequenti quinta".)

Ist demnach Trowells Auslegung hinfällig oder mindestens fragwürdig, so muß auch der analoge, von Bukofzer und Besseler amputierte Satz als unteilbar begriffen werden. Und die fragmentarische Zitierung ist nicht nur philologisch illegitim, sondern sogar Uberflüssig, sofern es sich darum handelt, die These von der „sklavischen Angleichung" des Contratenors an den Sopran zu stützen 4 . Auch der unverkürzte T e x t läßt die Interpretation zu, die Bukofzer und Besseler einzig dem verkürzten geben zu können glaubten. Die Vorstellung, daß sich der Contratenor zugleich an dem reich kolorierten Sopran und an dem wenig verzierten Tenor orientiere, ist allerdings zunächst verwirrend. Und um die Schwierigkeiten zu lösen, muß man sie häufen. Außer dem Contratenor wird auch der Sopran, obwohl er Cantus firmus, also die Voraussetzung der Komposition ist, auf den Tenor bezogen, als sei er eine abhängige Stimme: „. . . sed quod supranus pro consonantiis

primam

octavam et reliquas sextas, et in fine

sit octava, hoc est, habeat sex et octo pro consonantiis

supra tenorem"

habeat

concordiarum (GUILIELMUS

ed. 1 9 6 5 , Seay, S. 3 8 ) . Die Ungleichheit der Stimmen, die Differenz zwischen paraphrasiertem Sopran und einfachem Tenor, hindert Guilielmus nicht, von Sexten und Oktaven zu sprechen, als handelte es sich um einen Satz Note gegen Note. Er beschreibt, wenn er die kontrapunktische Beziehung des Soprans zum Tenor zu charakterisieren versucht, also nicht die kolorierte Fassung der Komposition, sondern den Gerüstsatz. Und kontrapunktisch stützt sich der Sopran auf den Tenor, obwohl er genetisch die erste Stimme ist. Analog aber ist die doppelte Bestimmung des Contratenors zu verstehen. Mit den Quinten und Terzen über dem Tenor, die der Contratenor „pro consonantiis" hat, meint Guilielmus das Konsonanzengerüst des Tonsatzes. Und daß die Gerüsttöne des Contratenors auf den Tenor bezogen sind, der kontrapunktisch das Fundament der Komposition bildet, schließt nicht aus, daß sich die melodisch-rhythmische Auszierung des Contratenors am Vorbild, am „ m o d u s " des Soprans orientiert: „Contratenor debet tenere

dictum

modum

suprani"

vero

( G U I L I E L M U S ed. 1 9 6 5 , Seay, S. 3 8 ) . Mit dem

„dictus modus suprani" kann nichts anderes gemeint sein als die rhythmisch-melodische Präparierung des Soprans, die Guilielmus in den unmittelbar vorausgegangenen Abschnitten beschrieben hat: Die Mensur ist dreizeitig (vgl. T R U M B L E 1 9 5 9 , S. 6 3 ) , die erste Note des Cantus firmus wird auf das Doppelte der übrigen gedehnt, eine Tonwiederholung im Cantus firmus wird durch einen „transitus

sive passagium"

( G U I L I E L M U S ed. 1 9 6 5 , Seay, S. 3 8 ) . 4

Die These ist von Ernest TRUMBLE (1959, S. 17 f.) aufgegriffen worden.

verdeckt

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CARL DAHLHAUS

Guilielmus unterscheidet demnach die melodische Beziehung der Stimmen von der kontrapunktisch-klanglichen. Melodisch ist der Contratenor vom Sopran abhängig, den er, nach Besselers Auslegung des Sachverhalts, in einem Unterquartkanon verdoppelt. Kontrapunktisch-klanglich aber stützt er sich auf den Tenor, der zwar nicht mehr Fundament im doppelten Sinne — cantus prius factus und kontrapunktische Bezugsstimme —, aber immer noch „Klangträger" ist. Und analog zum Contratenor beschreibt Guilielmus auch den Sopran. In dem Konsonanzengerüst, das Sopran und Tenor bilden, erscheint der Tenor als Stütze und der Sopran als abhängige Stimme („. . . sed quod habeat supranus pro consonantiis primam octavam et reliquas sextas . . ."); melodischrhythmisch aber präsentiert sich der Sopran, der cantus firmus, als primäre Stimme, nach der sich der Contratenor richtet: „Modus" und „ordinatio" des Soprans werden vom Contratenor nachgezeichnet. Die Unterscheidung zwischen dem melodischen und dem kontrapunktisch-klanglichen Moment des Zusammenhangs zwischen den Stimmen bedeutet, daß die Quarten des Contratenors von Guilielmus eher unter melodischem Aspekt — als Verdoppelung der Sopranmelodie — als unter klanglich-kontrapunktischem gesehen werden. Und nichts anderes besagt Besselers Interpretation als „Intervallkanon" ohne Zeitabstand der Stimmen: eine Interpretation, für die demnach das unverkürzte Guilielmus-Zitat eine festere Stütze bildet als das verkürzte, das Besseler heranzog.

II Die Meinung, daß die Mensuralmusik des späten 15. Jahrhunderts, die durch die Generationen Ockeghems und Josquins geprägt worden ist, eine Musik ohne Schwerpunkte, mindestens ohne Nachdrucksakzente an den Tactusanfängen gewesen sei, ist zu einer communis opinio der Musikhistoriker geworden, die um so fester wurzelt, als sie dem Bedürfnis nach einfachen Antithesen zwischen älterer und neuerer Musik entgegenkommt. Der Tactus, der Nieder- und Aufschlag der Hand des Dirigenten, diente, so scheint es, der Orientierung der Sänger, ohne eine rhythmische Funktion, die Unterscheidung schwerer und leichter Zeiten, zu erfüllen. Er war, pointiert gesagt, ein Mittel der Aufführungspraxis ohne Relevanz für die kompositorische Struktur. Ein Einwand, der von der Dissonanztechnik ausgeht, liegt allerdings nahe. Die Regel, daß eine Durchgangs- oder Wechselnotendissonanz unbetont bleiben soll, daß sie also, sofern sie Minimendissonanz ist, ausschließlich auf die zweite Hälfte des Tactus alla Semibreve — der die Norm bildete — fallen darf, ist kaum verständlich, wenn man nicht voraussetzt, daß die erste Hälfte des Tactus als schwer oder auffällig und die zweite als leicht oder unauffällig empfunden wurde. Und es scheint demnach, als sei die schroffe Alternative zwischen akzentuierender Taktrhythmik und „schwebender" Mensuralrhythmik eine Verzerrung der geschichtlichen Wirklichkeit, einer Wirklichkeit, die reich an Zwischenstufen ist. Die Extreme sind Konstruktionen von Idealtypen, und was zu beschreiben wäre, sind die Vermittlungen: das Maß an Abstufung schwerer und leichter Zeiten, das für die verschiedenen Epochen charakteristisch ist. So wenig die Differenzierung der ersten und zweiten Minima des Tactus alla Semibreve um 1500

MUSIKTHEORIE DES 15. JAHRHUNDERTS

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dazu berechtigt, von funktionaler Taktrhythmik im Sinne des 18. und 19. Jahrhunderts zu sprechen, so dogmatisch wäre es andererseits, den Ansatz zu einer Abstufung zu verleugnen, weil er nicht das ganze System impliziert. Der Zusammenhang zwischen Tactus und Dissonanztechnik ist von Johannes TINCTORIS (ed. 1876), dem repräsentativen Theoretiker der Ockeghem-Generation, 1477 im zweiten Buch des Liber de arte contrapuncti beschrieben worden. Und die Theorie des Tinctoris ist um so aufschlußreicher, als sie außer der problemlosen Norm auch einen so fragwürdigen Grenzfall wie den Sesquitactus umfaßt. Sesquitactus, Tactus in der Proportio sesquialtera, wurde das Verfahren genannt, einer dreizeitigen Mensur einen zweizeitigen Tactus aufzuzwingen. So wurde etwa in der Prolatio maior oder perfecta statt eines Tactus inaequalis, dessen Niederschlag doppelt so lang wie der Aufschlag war ( c i 1 i i ), ein Tactus aequalis geschlagen, der sich über die Grenzen der Prolatio hinwegsetzte ( c i i quer zur Mensur. I t 4- i

). Der Tactus stand gleichsam 4 t

Nach Tinctoris umfaßt der Tactus — Terminus für den Tactus ist im Liber de arte contrapuncti entweder „mensurare" oder „mensuram dirigere" — in der Prolatio maior oder perfecta entweder (als Tactus inaequalis) die dreizeitige „semibrevis integra" oder (wenn die Prolatio maior augmentiert zu lesen ist, so daß die Minima die Dauer einer Semibrevis erhält) die Minima oder aber (nach dem Schema des Sesquitactus) zwei Minimen. Wird jedoch der Sesquitactus vorausgesetzt, so muß die dritte Minima der Prolatio maior, mit der ein zweiter Tactus beginnt, eine Konsonanz sein. „Subinde quoniam cantus maioris prolationis aliquando non secundum integram semibrevem, vel secundum minimam solam, sed secundum semibrevem imperfectam, hoc est duas minimas mensuratur . . . , tunc eo quod supra tertiam minimam semibrevis mensura dirigi incipiat, necesse est supra eam totam aut primam partem ipsius assumi concordantiam" (TINCTORIS ed. 1876, 142 b). Die Dissonanzbehandlung ist nach Tinctoris also vom Tactus abhängig, und zwar auch dann, wenn er die Mensur durchkreuzt. Der "Tactus greift, statt ein bloßes Akzidens der Aufführungspraxis zu sein, in die Struktur der Komposition ein. Nicht anders als die Prolatio maior behandelt Tinctoris das Tempus perfectum diminutum. Die Proportio dupla (Proportio binaria), die Verkürzung der Zeitwerte auf die Hälfte, hat zur Folge, daß die dreizeitige Brevis des Tempus perfectum dem zweizeitigen Sesquitactus unterworfen wird. Und die dritte Semibrevis des Tempus muß, als Anfang des zweiten Tactus — der in der Diminution ein Tactus alla Breve ist —, eine Konsonanz sein (

O i o o o o o o ) . * f i i I t „Si vero quamvis praedictarum notarum in proportione binaria constitutarum pernaturam quantitatis cui subjicitur perfectam fuerit, ut brevis prolationis minoris, sed temporis perfecti in dupla . . . , quia tunc mensura non secundum totam ipsam notam, sed secundum duas eius partes tantum dirigitur, necessarium est ultimam eius partem tertiam totam aut partem primam ipsius esse concordantiam eo quod per eam mensurae directio incipiat" (TINCTORIS ed. 1876, 138 b). Das Exempel am Schluß des Kapitels illustriert die Regel:

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CARL DAHLHAUS

Notenbeispiel 2

JJ 2-e

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Die A u ß e n s t i m m e n , der Diskant u n d der Contratenor, stehen im T e m p u s p e r f e c t u m non d i m i n u t u m , die Mittelstimme, der Tenor, im Tempus p e r f e c t u m d i m i n u t u m . Und die Dissonanz in der Mittelstimme, der relativ b e t o n t e Durchgang h, fällt auf die erste Semibrevis des Tempus, die aber die zweite, unauffällige Semibrevis des Tactus ist. Am deutlichsten ist von der Nachdrucksbedeutung des Tactus in einem Kapitel über Synkopierungen die Rede. V o n der Brevis in der Proportio tripla schreibt Tinctoris: Ist sie dreizeitig — sei es durch Perfektion oder durch Augmentation — u n d geht ihr eine einzelne Semibrevis voraus, so m u ß der dritte Teil der Brevis, da er stärker als der zweite b e t o n t zu werden pflegt, entweder ganz oder mindestens zu A n f a n g konsonieren. Anders ausgedrückt: Ist eine Brevis im Tempus verschoben ( o • | o ), so ist die Grenze des Tempus, nicht die der Brevis für die Dissonanztechnik entscheidend. „Sed si ipsa nota perfecta vel augmentata sit sive per syncopam una minor eam antecedat, sive non, quoniam tertia pars eins magis quam secunda exprimi soleat, haec supra se totam aut supra primam partem sui concordantiam postulat" (TINCTORIS ed. 1876, 140 a). So trivial der Sachverhalt ist, den Tinctoris beschreibt — daß der Anfang einer Perfectio, eines Tempus, konsonieren müsse, ist eine franconische Regel aus d e m 13. J a h r h u n d e r t —, so auffällig ist die Begründung u n d Formulierung: Auf den Anfang des T e m p u s und Tactus (die in der Proportio tripla übereinstimmen) m u ß eine Konsonanz fallen, weil er einen Nachdrucksakzent trägt. Die Klarheit, mit der Tinctoris die Theorie des Tactus exponiert, bleibt allerdings nicht ungetrübt. An anderer Stelle vergleicht er die Dissonanzen mit den rhetorischen Figuren, mit denen sie die Eigenschaft teilen, geduldete u n d legitime Ausnahmen von der Regel — von den Normen der Grammatik u n d des Contrapunctus simplex — zu sein. „Verumtamen modis aliquando praedictis discordantiae parvae a musicis sicut figurae rationabiles a grammaticis ornatus necessitatisve causa assumi permittuntur. Ornatur enim cantus, quando fit ascensus vel descensus ab una concordantia ad aliam per media compatibilia, et per syncopas quae interdum sine discordantiis fieri non possunt. Quae quidem discordantiae parvae ita vehementer se non repraesentant auditui, quoniam supra ultimaspartes notarum collocantur, ut si supra primas assumantur" (TINCTORIS ed. 1876, 144 b). Die Dissonanz soll sich demnach, obwohl sie eine zulässige Abweichung, eine „figura rationabilis" ist, nicht aufdrängen u n d soll darum auf den zweiten

MUSIKTHEORIE DES 15. JAHRHUNDERTS

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Teil einer Note fallen, der schwächer als der erste ist. Tinctoris erwähnt außer der Durchgangsdissonanz auch die Synkopendissonanz; und es scheint, als verwickelte er sich in einen Widerspruch. Notenbeispiel 3

1 Als Note, die dissoniert — der Begriff der dissonierenden Note ist allerdings, streng genommen, fragwürdig —, kann bei der Synkopendissonanz entweder die Unterstimme, welche die Dissonanz herbeiführt, oder die Oberstimme, durch die sie aufgelöst wird, bestimmt werden; und zwar tendierte TINCTORIS (ed. 1876, 135 a) zur ersten Auffassung, die spätere Kontrapunkttheorie zur zweiten. Entweder fällt also die Dissonanz — als Unterstimmendissonanz — auf den ersten Teil der Note und drängt sich, entgegen dem Postulat des Tinctoris, dem Hörer auf. Oder der dissonierende zweite Teil der Note — die Oberstimmendissonanz — bildet den Anfang des Tactus und des Tempus; und wenn es als Rechtfertigung der Dissonanz gelten soll, daß der zweite Teil der Note schwächer als der erste ist, so entsteht ein Widerspruch zu der Vorstellung, daß der Tactusanfang einen Nachdrucksakzent trage: Die Synkopendissonanz kann nicht zugleich als zweiter Teil der Note unbetont und als erster Teil des Tactus betont sein. Der Widerspruch ist nicht anders auflösbar als durch die Annahme, daß Tinctoris einerseits, wie erwähnt, die Unterstimme, welche die Dissonanz herbeiführt, als dissonierend ansah, so daß die Dissonanz auf den Anfang sowohl der Note als auch des Tactus fällt, und daß er andererseits mit der Dissonanz, die dadurch gerechtfertigt sei, daß sie über dem zweiten, schwächeren Teil der Note erscheine, ausschließlich die Durchgangs- und nicht die Synkopendissonanz meinte.

III Die Dissonanztechnik im „klassischen K o n t r a p u n k t " des 16. Jahrhunderts beruht — wenn man Nebenformen von geringer Bedeutung, wie die Antizipationsdissonanz und die Cambiata, vernachlässigt — auf der Unterscheidung zwischen zwei Dissonanztypen, die sich scharf voneinander abheben: Durchgangs- und Synkopendissonanz. Deren gemeinsame Merkmale sind, daß sie durch einen Sekundschritt aufgelöst werden müssen und daß die Dissonanz nicht Note gegen Note exponiert werden darf, sondern daß die eine Stimme einen Ton festhält, während die andere eine Dissonanz herbeiführt. Die Differenz zwischen Durchgangs- und Synkopendissonanz kann als Korrelation zwischen Stimmführung und Akzentuierung beschrieben werden: Eine Dissonanz auf unbetonter Zeit muß von derselben Stimme aufgelöst werden, durch die sie exponiert worden ist (Durchgangsdissonanz); dagegen wird eine Dissonanz auf betonter Zeit von der einen Stimme herbeigeführt und durch einen Sekundschritt der anderen aufgelöst (Synkopendissonanz).

CARL DAHLHAUS

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Notenbeispiel 4

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Sucht man nach plausiblen Erklärungen, warum bedeutende Kenner von Bachs Musik (s. o. S. 34) eine Komposition so hervorgehoben haben, obwohl ihre Schwächen o f f e n zu Tage liegen, so scheint es, daß sie unter dem Eindruck des beinahe furios zu nennenden motorischen Elans der beiden Sätze deren künstlerische Mängel entweder gar nicht oder in allzu mildem Licht gesehen haben. Die Hauptfrage ist für uns indessen nicht, warum BWV 8 9 4 so oder so beurteilt worden ist, sondern warum und wozu Bach ein solches Werk überhaupt geschrieben hat. J e länger man sich damit beschäftigt, desto stärker drängt sich der Verdacht auf, daß es in der überkommenen und darin nicht völlig überzeugenden Gestalt eine Sekundärfassung darstellt und daß die beiden Sätze (oder zum wenigsten der erste) einem Klavierkonzert entnommen sein können, etwa als herausgeschriebene Solostimme mit nach Bedarf eingearbeiteten Tuttifragmenten und Klangfüllungen oder auch als klavierauszugsmäßige Transkription für reines Solospiel. Dies würde unter anderem die hin und wieder sich zeigende Dürftigkeit von Satz- und Klangbild erklären. Der langsame Satz kann bei einer solchen Bearbeitung aus verschiedenerlei Gründen weggefEtilen sein; vielleicht „vertrug" er kompositionstechnisch eine solche Transkription nicht, oder aber fand der Bearbeiter (der nicht unbedingt Bach selbst gewesen zu sein braucht), daß das Ganze als reine Solokomposition sonst zu lang geworden wäre — dreisätzige Klaviersonaten waren um 1720 noch nicht üblich. Er machte das Werk also zu „Präludium und F u g e " , ohne zu beachten oder zu berücksichtigen, daß die bewegungsmäßige Ähnlichkeit der Außensätze einen kontrastierenden langsamen Zwischensatz eigentlich unentbehrlich macht. Ehe wir diesem Gedanken weiter nachgehen, ist indessen eine andere Überlegung notwendig. J . P. Kellners Abschrift von BWV 8 9 4 ist 1725 datiert, das Werk also voraussichtlich in Weimar oder Kothen entstanden, da Bach zu Beginn seiner Leipziger Tätigkeit weder Zeit noch Anlaß zu einer derartigen konzertanten Solokomposition gehabt haben dürfte. Wollen wir die Annahme, BWV 8 9 4 entstamme einem Klavierkonzert, weiter verfolgen, so sagen wir damit, daß Bach schon vor Leipzig Klavierkonzerte geschrieben hat, und dies hat die bisherige Forschung nicht angenommen. Seit Spitta hat man die Entstehung der „eigentlichen" Klavierkonzerte in die J a h r e um und nach 1730 gesetzt, wobei diplomatische und äußere (Können der Söhne und Schüler; Bachs

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HANS EPPSTEIN

Leitung des Telemannschen Collegium Musicum) Motivierungen in die gleiche Richtung wiesen; die schriftkundlichen Untersuchungen der Autographen durch G. v. DADELSEN (1958) 1 bestätigen diese Auffassung. Dem steht indessen Bachs notorisches Interesse für das Klavier in den Köthener (und möglicherweise Weimarer) Jahren gegenüber; dieser Zeit gehören nicht nur eine Reihe bedeutender Solowerke an, sondern auch die Einbeziehung des Klaviers als obligates Element in die Kammermusik und darüber hinaus ein Concerto grosso — das 5. Brandenburgische Konzert — mit Klavier, Flöte und Violine als Soloinstrumenten, unter denen das Klavier klar dominiert. Dieses letztere Werk stellt sehr hohe Anforderungen an den Klavierspieler, und man kann sich nur schwer vorstellen, daß es wirklich Bachs ersten Versuch darstellt, das Klavier als konzertierendes Soloinstrument zu verwenden. Ein BWV 894 zugrundeliegendes Konzertwerk könnte einen solchen früheren Versuch darstellen. Dies zur allgemeinen historischen Begründung unserer Hypothese zur Entstehung des eigentümlichen Satzpaares. Die Hauptfrage, die der stilistischen Motivierung, bleibt damit noch ungelöst. Weiter oben sind zwar summarisch schon einzelne Argumente für die Annahme, daß BWV 894 keine Urfassung darstelle, genannt, vor allem die bewegungsmäßige Gleichartigkeit der beiden Sätze und ihre ungewöhnliche Länge (die bei einem Konzert mit dessen klanglicher Gliederung nichts Auffälliges an sich hätte); das Problem erfordert aber eine mehr ins einzelne gehende Aufmerksamkeit. Beginnen wir mit der Fuge, da hier bessere Vergleichsmöglichkeiten als beim Präludium vorliegen. Bach hat nämlich, zeitlich wahrscheinlich nicht allzu fern von BWV 894, noch andere derartige „große konzertante Cembalo-Fugen" (MÜLLER-BLATTAU 1963, S. 71) geschrieben, darunter zwei der unsrigen besonders nahestehende, die eine ebenfalls in a-moll (BWV 944), der nur eine kurze Einleitung in Arpeggien vorangeht, die andere zur Chromatischen Fantasie, jene 198, diese 161 Takte lang, während die in BWV 894 153 Takte zählt (jeder Takt in sämtlichen drei Fällen stark unterteilt und also „lang"). Alle drei haben sehr lange Themen, die offensichtlich nicht im Hinblick auf polyphone Steigerungsmöglichkeiten erfunden sind (kontrapunktische „Künste" kommen nirgends vor); in den beiden a-moll-Fugen prägt sich schon in den Themen die gleichmäßig pulsierende Bewegung des ganzen Stückes aus, während die bedeutend differenziertere Motorik der d-moll-Fuge teilweise aus dem anapästischen Übergangstakt zwischen dux und comes erwächst. Alle drei sind auf Entfaltung eines rauschenden Klangs angelegt und weiten ihre Dreistimmigkeit gelegentlich akkordisch aus. Betrachten wir in Fugen die Gliederung eines langen Verlaufs (der ja hier in allen drei Fällen „konzertanter" Selbstzweck ist) durch rhythmische Differenzierung sowie durch Einführung von neuen, mit dem Thema gleichzeitig oder alternierend auftretenden Gedanken (d. h. Kontrasubjekten bzw. Zwischenspielmotiven), natürlich bei bewahrter Einheit des Gesamtverlaufs, als künstlerische Bereicherung u n d damit als Ausdruck höherer Reife, so ist die „chromatische" Fuge zweifellos als die späteste dieser Reihe, die in BWV 894 aber als die früheste anzusehen. Keines der beiden ausgereifteren Werke weist übrigens Augenblicke so eklatanter satztechnischer Dürftigkeit auf, wie sie oben für BWV 894 aufgezeigt wurden.

*Die Klavierkonzerte werden hier mit frühestens 1735 angesetzt.

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Solche Mängel würden natürlich weit weniger in Erscheinung treten, wenn unsere a-moll-Fuge ursprünglich mit einem Orchesterpart verbunden gewesen wäre. Fugierte Sätze mit der Formstruktur des Vivaldischen Konzertallegros (doch nicht notwendig in konzertmäßiger Besetzung) sind bei Bach häufig; sie treten indessen meistens in der Gestalt von „Tuttifugen" auf, bei denen die Tuttiabschnitte oder ihre Entsprechungen fugiert, die solistischen (bei eigenständiger Thematik) in freier Polyphonie und konzertant angelegt sind. Beispiele hierfür finden sich in den Finalsätzen der Brandenburgischen Konzerte Nr. 4 u n d 5 und des Violinkonzerts a-moll sowie im ersten Satz des Violindoppelkonzerts, darüber hinaus in zahlreichen Sonatensätzen (vgl. EPPSTEIN 1969). Mit derartigen, formstrukturell durch den Ripieno-Solokontrast bestimmten Stücken hat die Fuge in BWV 894 mit ihrem nur sehr schwach gegliederten Verlauf kaum etwas gemeinsam. Bach hat aber auch fugierte Konzertsätze geschrieben, bei denen alles Wesentliche bei den Solisten liegt, und dies so ausschließlich, daß sie — eventuell unter Einbeziehung des Continuos, der ja nicht nur dem Orchester angehört — auch ganz ohne Ripieno dargestellt werden können. Der letzte Satz des C-Dur-Konzerts für zwei Cembali wird zu Recht nicht selten in dieser Weise ausgeführt, und auch beim Finale des zweiten Brandenburgischen Konzerts wäre dies, rein strukturell gesehen, ohne weiteres möglich. Unbeschadet der untergeordneten Rolle des Orchesters heben sich auch in dem Satz für zwei Klaviere solistische, nicht-fugierte Episoden deutlich heraus, und als Ganzes ist er — in einer individuellen Ausprägung, die sich äußerst spirituell der gegebenen Besetzung anpaßt, — durchaus eine „Tuttifuge". In dem „Brandenburgischen" Finalsatz gibt es zwar ebenfalls Abschnitte, in denen die Fugierung des Hauptthemas aussetzt, doch entnehmen diese ihr Material einem Zwischenspiel des Expositionsteils und geben sich in keiner Weise als Kontraste gegenüber den übrigen. Somit könnte auch die Fuge aus BWV 894 der Solistenpart eines Konzertsatzes sein, vorausgesetzt natürlich, daß spezielle Argumente für eine solche Auffassung sprechen. Gibt es solche? Als Bach die Fuge zum Tripelkonzertsatz schrieb, ließ er die Klavierstimme als solche weitgehend unangetastet. Er umrahmte sie durch ein hinzukomponiertes, jedoch deutlich aus dem Fugenthema herausdestilliertes Tutti, das auch wenige Male innerhalb des Satzes vorkommt, und er gab dem Klavier vor Schluß eine Solokadenz von 12 Takten. Sonst aber unterbrach er — ganz im Gegensatz zu seiner Bearbeitung des ersten Satzes — den Verlauf der Klavierstimme überhaupt nicht, wahrscheinlich um ihren Perpetuummobile-ähnlichen Charakter zu bewahren. Das Orchester spielt außerhalb der Tuttiabschnitte eine sehr unselbständige Rolle, ist aber trotzdem, außer in der Fugenexposition, während der es schweigt, fast immer in Aktion. Dies ist nicht selbstverständlich: Im Finalsatz des zweiten Brandenburgischen Konzerts ist es (vom Continuo abgesehen) nur in 57 von insgesamt 139 Takten tätig, wobei es die Soloinstrumente meist nur diskret stützt. Bei der Umarbeitung von BWV 894 scheint Bach aber für nötig befunden zu haben, den Klaviersatz klanglich zu verstärken und zu bereichern (sowie Flöte und Solovioline bescheidenste Chancen zum Konzertieren zu geben). So füllte er den Klang häufig auf, wo im Klavierpart die Triolenbewegung lediglich durch einzelne Akkorde oder Akkordtöne gestützt war (Takt 20 ff. u. ä.). Sollte hier wirklich ein dürftiges Original bearbeitet sein? Ist nicht eher anzunehmen, daß Bach ein schon vorhandenes

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Klavierkonzert, dessen Originalgestalt verloren gegangen ist, formal und klanglich erweitert hat? Interessant ist auch, wie das Orchester gelegentlich im Klavierpart nur ganz schwach angedeutete Formeinschnitte verdeudicht, so in BWV 894 Takt 90 (in der Konzertversion Takt 144) durch einen Tuttieinschub und eine darauffolgende kurze Pause, in Takt 143 (199) durch einen hier neuen Klangtyp mit Orgelpunkt, und gerade dieser Orgelpunkt könnte eben an dieser Stelle sehr wohl zur ursprünglichen Konzeption gehören, denn Bach arbeitet in beiden oben genannten, BWV 894 nahestehenden Fugen gegen Schluß mehrfach mit Orgelpunkteffekten, während hier solche scheinbar fehlen. War das Orchester schon in einer früheren Fassung des Satzes entsprechend beteiligt, so wirkte sein Verlauf doch nicht ganz so gleichförmig-monoton, wie die Soloversion es erscheinen läßt. Ein beschwerlicher Faktor bei der Argumentation für die Konzertherkunft der Fuge in BWV 894 ist ihre große Ähnlichkeit mit der a-moll-Fuge BWV 944, die in vielen Zügen, angefangen vom Bau der Themen bis zum Gesamthabitus, zum Ausdruck kommt. Die letztere Fuge als Konzertsatz zu „erweisen", ist schon aus äußeren Gründen undenkbar, denn sie steht in keinerlei Beziehungen zu einem Konzert. Hier ist daran zu denken, wie intensiv Bach die Idee des Konzerts ohne Orchester beschäftigt hat; sie prägt nicht nur etwa das Italienische Konzert, sondern unter anderem auch seine Tuttifugen für kleine Ensemblebesetzung, für Soloklavier (z. B. in mehreren Präludien der Englischen Suiten) oder für Orgel (Finalsätze der Sonaten in c, C und G). Vielleicht hat sich bei der konzertanten Fuge eine Entwicklung von der orchesterbegleiteten (BWV 894) über ähnliche Gebilde für Soloklavier (BWV 944, mehrere Toccatenfugen) zu der bedeutend klarer aufgebauten Tuttifuge vollzogen. Wir würden jedoch trotz allem, was etwa dafür sprechen kann, eine solche Hypothese über die Entstehung der Fuge nicht aufzustellen wagen, wenn nicht beim ersten Satz, mit dem die Fuge ja von Anbeginn zusammengehört haben dürfte, die Verhältnisse so viel deutlicher zutage treten würden. Auch hier hat Bach bei der Tripelkonzertbearbeitung Tuttipartien hinzukomponiert, aber damit nahm er — obwohl er die Klavierstimme im wesentlichen unangetastet ließ und sie nur durch Einschübe und Zusätze formal ausweitete — einen ganz andersartigen Eingriff in die Grundstruktur des Satzes vor, denn dieser war schon vorher ein Konzertallegro gewesen 2 . Die eigentliche Tuttithematik wird in der Solofassung durch den ersten Takt des Satzes repräsentiert, welcher — immer mit Imitation des Hauptmotivs, im übrigen aber o f t verändert — ritornellmäßig den Satz beherrscht. Es gibt hier also keine längeren, ausschließlich dem „Orchester" anvertrauten Abschnitte, sondern lediglich Tuttiansätze mit nachfolgenden Soli (die natürlich vielfach orchesterbegleitet zu denken sind) als größere Blöcke, etwa Takt 1-5 und 5-18, die zusammen eine umfassendere, etwa einem „normalen" Tuttiabschnitt entsprechende Einheit bilden. Ähnliche Techniken wendet Bach auch in anderen Zusammenhängen an. Haupt- und Eckteil eines Konzertsatzes können ihrerseits schon in kleine Tutti- und Soloabschnitte gegliedert sein, obwohl sie als Ganzes wesentlich als „ T u t t i " funktionieren: Wir finden dies z. B. in den ersten Sätzen der 2

S P I T T A (1873) nennt ihn „concertmäßig angelegt" konstatiert, sie sei „ganz im Charakter eines letzten über die Fuge sagt auch H. K E L L E R (1950) S. 84.

(S. 417), wie er übrigens auch von der Fuge Concertsatzes gehalten" (S. 418). Ähnliches

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Brandenburgischen Konzerte Nr. 1 und 4. Noch größer ist aber die strukturelle Ähnlichkeit mit dem ersten Satz des Konzerts für zwei Klaviere in C-Dur; hier folgt im einleitenden „Tutti"-Abschnitt Takt 1-12 auf das eigentliche Ritornellmotiv des ersten Taktes sofort solistisches Wechselspiel, interfoliiert mit kurzen Tuttieinschlägen. Dieser Art ist also das zentrale tuttimäßige Element im Präludium in BWV 894. Bach hat bei der Umgestaltung des Satzes zum Tripelkonzert dieses Ritornellmotiv auch weiterhin weitgehend dem Solisten anvertraut und damit den ursprünglichen Tutti-Solo-Gegensatz zugunsten des durch die hinzukomponierten Partien neugeschaffenen in den Hintergrund gedrängt; das Motiv selbst hat er jedoch in diesen neuen Tuttiabschnitten als thematischen Ausgangspunkt verwendet. Der Gegensatz zwischen Ritornellen und solistischen Abschnitten wird im Klavierpräludium schon durch die bewegungsmäßige Verschiedenheit hervorgehoben: Sechzehntel gegenüber Sechzehnteltriolen 3 . Damit unterscheidet sich das Präludium wesentlich von authentischen Klaviersätzen mit konzertallegromäßigem Aufbau, wobei besonders an die Präludien der Englischen Suiten 2-6 zu denken ist. Tritt in diesen, innerhalb des einleitenden „Tuttis", ein prägnantes Kopfmotiv hervor, so ist es bewegungsmäßig normalerweise nahtlos mit dem Übrigen verbunden. Noch in einem anderen Punkt unterscheiden sich diese konzerthaften Sätze deutlich von BWV 894. Bach gibt hier den „Solo"-Teilen gern ein weicheres und feiner ziseliertes Gepräge, um ihren spezifischen Charakter herauszuarbeiten; er verzichtet aber völlig darauf, das solistische Moment durch eigentlich virtuoses Passagenwerk in kleinsten Notenwerten hervorzuheben. Dieses Spezifikum des konzertant Solistischen ist dagegen im a-moll-Präludium in einer Weise betont, wie man es sonst nur in eigentlichen Konzertsätzen anzutreffen pflegt. Es ist dies ein gegen den Hintergrund von Bachs Vorliebe für einheitliche Grundbewegung besonders auffallender Stilzug, und er ist es eigentlich mehr als alles andere, was dieses Stück als reduzierten Satz eines echten Konzerts erscheinen läßt. Besonders markant ist hier der letzte große ,,Solo"-Abschnitt, dessen langgedehnte, die Zweiunddreißigstelbewegung als wohlberechnetes Steigerungsmoment verwendende Anlage mit ihrem spannungsgeladenen Ausmünden ins Hauptthema an die Behandlung des Soloklaviers im ersten Satz des 5. Brandenburgischen Konzerts erinnert. Bei diesem Wiedereintritt des Hauptthemas vermißt man einen realen Orchestereinsatz ebensosehr wie etwa an der weiter oben zitierten Episode vor Takt 67 oder bei dem Ritornelleinschub Takt 55/56 zwischen den beiden ersten Partien mit brillantem Passagenwerk. Noch eine andere Überlegung ist hier notwendig. Bach nahm die Umgestaltung der beiden älteren Allegrosätze für das Tripelkonzert in einer sehr ungewöhnlichen Weise vor. Während er nämlich die Satzverläufe durch seine Zusätze strukturell und formal als Ganzheiten stark veränderte, vermied er es gleichzeitig aufs Genaueste, in den Klavierpart ablaufmäßig stärker einzugreifen (Detailänderungen, Klangbereicherungen und dergl. finden sich dagegen vielfach). Man hätte sich vorstellen können, daß die Umar-

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Sie stehen unverbunden nebeneinander. In einer der erhaltenen Abschriften (BB P 223) steht — laut einer Anmerkung von H. Bischoff in Band VII seiner Ausgabe von Bachs Klavierwerken (Steingräber, Leipzig 1888) — anstelle der ersten Triole jeweils ein Sechzehntelpaar mit den beiden ersten Noten der Triole. Hat hier ein Bearbeiter das Bedürfnis eines vermittelnden Übergangs gefühlt, als das klangliche Kontrastmoment wegfiel?

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beitung einer älteren Komposition in größere Besetzung wenigstens teilweise zu einer Umschmelzung oder Ersetzung gewisser Partien (oder ihrer Tilgung — eine Kürzung kommt in Wirklichkeit lediglich an einer Stelle vor und betrifft nur einen Takt) geführt hätte. Statt dessen unterwarf sich Bach dem eigentümlichen Zwang, alle formalen Veränderungen als Einschübe und Zusätze (sowie Vor- und Nachspiel) anzulegen, eine Erschwerung der Bearbeitungstechnik, die er zwar souverän und mit höchstem Gelingen bewältigte, die aber deswegen nicht einfach hingenommen werden kann, zumal die Zusätze keineswegs ausschließlich klavierfreie, besonders also Tuttipartien betreffen, sondern auch Ausweitungen des Klavierparts darstellen können. Warum ließ Bach seiner gestaltenden Phantasie keinen freieren Lauf? Es ist schwer, hierfür andere Motive als arbeitsökonomische zu finden. Die Klavierstimme mußte zwar auf Grund aller Einzelabänderungen auf jeden Fall neu niedergeschrieben werden, aber vielleicht ließen sich dank Bachs Arbeitsweise bereits vorhandene Orchesterstimmen einer älteren Konzertfassung mit Hilfe von eingeschriebenen Zusätzen oder eingelegten Blättern weiter verwenden. Jedenfalls ist die beschriebene Umarbeitungstechnik bedeutend leichter verständlich, wenn man sie sich gegen den Hintergrund eines bereits vorhandenen Konzertes mit komplettem Stimmenmaterial vorzustellen hat, als wenn man wie bisher die Umwandlung einer Solo- zu einer Ensemblekomposition a n n i m m t 4 . Dies alles sind keine Beweise, nur Argumente für eine andersartige Vorgeschichte der Ecksätze des Tripelkonzerts als die bisher gewöhnlich angenommene. Bei BWV 894 könnte es sich — trotz der Beziehungen der Fuge zu Werken ähnlicher Art — um den Ausläufer eines ersten Konzertversuchs Bachs, vielleicht aus früherer Weimarer Zeit, handeln, als ihm Struktur und Entwicklungsmöglichkeiten des Vivaldischen Konzerttyps noch nicht völlig klar geworden waren. Der Versuch dürfte ihm im Lichte späterer Erkenntnisse als nicht völlig geglückt vorgekommen sein, das Materia' als solches aber klavieristisch so brauchbar, daß er es als konzertantes Solowerk (oder dergl.;vgl. weiter oben), vor allem aber in einer größer besetzten und breiter dimensionierten Konzertkomposition, dem Tripelkonzert in a-moll, weiterverwendete. Zugleich aber reiften in ihm Ideen zu verbesserten Verwirklichungen unbegleiteten Konzertierens, die ihren Niederschlag in weiter oben diskutierten Kompositionen fanden. Die Entstehungszeit des Tripelkonzerts ist unbekannt (ein Autograph ist nicht erhalten), wird aber gewöhnlich kurz nach 1730 angenommen. Ist dies richtig, so hat Bach die Form des im 5. Brandenburgischen Konzert verwirklichten Konzertierens für sein Leipziger Collegium musicum erneut aufgegriffen. Als spezielles Argument für die genannte bzw. für die Undenkbarkeit Köthener Entstehungszeit gilt die Herkunft des langsamen Satzes aus der Orgelsonate d-moll (BWV 527), deren (endgültige) Niederschrift seit Forkels Angabe, die sechs Orgelsonaten seien für Friedemann geschrieben, in die frühen Leipziger Jahre verlegt wird. Dieses Argument steht jedoch auf schwachen Füßen. Zunächst ist das Orgelstück wahrscheinlich überhaupt kein Original, sondern Bearbeitung eines verschollenen instrumentalen Triosatzes (vgl. EPPSTEIN 1969), und damit stellt sich unmittelbar die Frage, ob der Konzertsatz von dieser Urfassung oder 4

Z u r Frage der Arbeitsökonomie als wesentlichem Faktor im Schaffensprozeß bei Bach vgl. W. NEUMANN (1938) und H. EPPSTEIN (in Vorb.).

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BACHS TRIPELKONZERT A-MOLL

der Orgelsonate herstamme. Obwohl der Sonatensatz in F-Dur steht, der Konzertsatz dagegen in C-Dur, läßt sich aus den v o r k o m m e n d e n Stimmverlegungen nichts Sicheres über eine direkte Abhängigkeit ablesen. Hinsichtlich der melodischen S t r u k t u r sind die Oberstimmen in beiden Fassungen praktisch genommen identisch, aber wie so o f t in solchen Fällen bei Bach ist das Kriterium des Idiomatischen unzuverlässig u n d m u ß beiseite bleiben. Beim Baß treten indessen charakteristische Verschiedenheiten auf. Die Orgelfassung weist hier bei Sechzehntelbewegung meistens pedalgerechte Zickzackmelodik auf, die Konzertfassung an entsprechenden Stellen bei Übergängen mehrfach

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die Bewegungsform , die an die Oberstimmen a n k n ü p f t u n d damit als die ursprünglichere erscheint, im übrigen aber eine Sekundschrittmelodik in Sechzehnteln mit Ton Wiederholungen wie z. B. in Takt 3-4:

Es liegt zwar schon an u n d für sich näher, die im Zusammenklang mit den übrigen Stimmen o f t dissonanzärmere Melodik des Orgelpedals als die transkribierte Gestalt dieser Stellen aufzufassen, aber theoretisch wäre auch die umgekehrte Metamorphose denkbar. Was indessen stark gegen die letztere Alternative spricht, ist die Einheitlichkeit der Repetitionsmelodik im Konzertsatz, die stets (Takt 3, 4, 24, 33, 34, 35, 36, die Reprisen ungerechnet), wie im eben gegebenen Beispiel, auf Sekundschritten aufgebaut ist, während die Orgelfassung an der entsprechenden Stelle (Takt 3-4) zwei verschiedene — im weiteren Verlauf nicht mehr v o r k o m m e n d e — Bewegungsformen aufweist:

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und zu diesen später eine dritte fügt:

rrrrfrrrrr iiYrr*ri Hieraus geht mit großer Wahrscheinlichkeit hervor, daß der Baß der Konzertfassung die G r u n d k o n z e p t i o n des Satzes widerspiegelt, der der Orgelfassung dagegen eine spieltechnisch bedingte Z w e i t f o r m u n g darstellt. Ist der Konzertsatz somit allem Anschein nach nicht aus dem Orgelstück hervorgegangen, sondern aus der beiden gemeinsam zugrundeliegenden Triofassung, so entfällt das bisher angenommene Argument für eine Leipziger Entstehung des Tripelkonzerts 5 . Damit ist natürlich nicht gesagt, daß das Werk wirklich schon in K o t h e n u n d eventuell sogar schon vor dem 5. Brandenburgischen Konzert entstanden ist, doch sollte künftighin auch mit dieser Möglichkeit gerechnet u n d die Frage nach der Entstehungszeit des Tripelkonzerts voraussetzungslos neu gestellt werden. Der Vollständigkeit wegen sei hier noch Hans BOETTCHERs Studie (1942, S. 95-113) erwähnt,

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H A N S EPPSTEIN

ZUSAMMENFASSUNG Die Ecksätze von J . S. Bachs Tripelkonzert in a-moll (BWV 1044) sind aus Präludium und Fuge für Klavier a-moll (BWV 894) hergeleitet. Es erscheint jedoch zweifelhaft, ob dieses Satzpaar eine Urgestalt repräsentiert: Die Gleichartigkeit der Sätze entspricht nicht Bachs Präludium-und-Fuge-Konzept, ihre Satztechnik ist teilweise skizzenhaft und dürftig; der erste Satz prägt in sich Tutti-Solo-Gegensätze aus, auch im zweiten sind gewisse Formkontraste angedeutet. BWV 894 stellt möglicherweise Klavierauszug oder Solostimme mit eingearbeiteten Tuttifragmenten der Ecksätze eines in Originalgestalt verlorenen frühen Cembalokonzerts dar. — Der langsame Satz des Tripelkonzerts gilt als Bearbeitung des langsamen Satzes der Orgelsonate in d-moll (BWV 527). Im Bach-Jahrbuch 1969 hat der Verfasser nachzuweisen versucht, daß der Orgelsatz seinerseits die Bearbeitung eines älteren Instrumentaltrios darstellt. Satztechnische Einzelheiten sprechen dafür, daß der Konzertsatz auf diese verlorene Triofassung zurückgeht. Die bisher angenommene Leipziger Entstehungszeit des Tripelkonzerts verliert damit ihre sichere Begründung, es kann auch schon in Kothen (in der Nähe des 5. Brandenburgischen Konzerts) geschrieben sein.

LITERATUR Besseler, Heinrich: Bach als Wegbereiter. 1955 In: AfMw XII, 1-39. Boettcher, Hans: Bachs Kunst der Bearbeitung. Dargestellt am Tripelkonzert a-Moll. 1942 In: V o n deutscher Tonkunst. Festschrift zu Peter Raabes 70. Gebur'stag, hrsg. von A. Morgenroth. Leipzig. Dadelsen, Georg von: Beiträge zur Chronologie der Werke Johann Sebastian Bachs. 1958 In: Tübinger Bach-Studien, Heft 4 / 5 . Trossingen. Eppstein, Hans: Grundzüge in J. S. Bachs Sonatenschaffen. 1969 In: Bach-Jahrbuch, S. 5-30. ders.: Zum Formproblem bei J. S. Bach. In Vorb. In: Festschrift Werner Neumann. Keller, Hermann: Die Klavierwerke Bachs. Leipzig. 1950 Müller-Blattau, Josef: Geschichte der Fuge. Kassel. 1963 Neumann, Werner: J. S. Bachs Chorfuge. 1938 In: Schriftenreihe des Staatlichen Instituts für Deutsche Musikforschung IV. Leipzig. Schweitzer, Albert: J. S. Bach. Leipzig. 1908 Spitta, Philipp: Johann Sebastian Bach. Leipzig. 1873 Bd. I. 1880 Bd. II.

in der aber weder die Entstehung von BWV 8 9 4 behandelt, noch die Herkunft des langsamen Konzertsatzes aus der Orgelsonate d-moll bezweifelt wird.

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DIE DEHMEL - LIEDER VON ANTON WEBERN Musik und Sprache im Übergang zur Atonalität REINHARD GERLACH I Nicht zu bezweifeln ist, daß Webern zu den von ihm komponierten Liedertexten — anders und neuartig gegenüber dem spätromantischen Liederkomponisten Strauss zu den seinigen — ein auf rationalem V e r s t e h e n der Gedichte gegründetes Verhältnis hat. Richard STRAUSS: „Aus dem musikalischen Gedanken, der sich — weiß Gott, warum — innerlich vorbereitet hat, entsteht, wenn sozusagen das Gefäß bis oben voll ist, im Handumdrehen ein Lied, sobald ich beim Blättern im Gedichtbuch auf ein nur ungefähr im Inhalt korrespondierendes Gedicht stoße. Wenn aber in diesem entscheidenden Augenblick . . . sich nicht das ganz entsprechende Gedankengefäß eines Gedichtes findet, so wird der Drang zur Produktion zwar durch ein mir überhaupt komponierbar erscheinendes Gedicht in Töne umgesetzt; aber es geht dann langsam, weil der musikalische Gehalt der schöpferischen Minute sich ummodeln, umdeuten lassen muß, um überhaupt in die Erscheinung zu treten; . . ." (STEINITZER 191L, S. 158). Anton WEBERN: „Vorallem beweisen mir ja Deine Ausführungen, daß ich Deine Gedichte richtig gedeutet habe. Wie Du sie auslegst, an der Hand des musikalischen Geschehens, u n v e r w a n d e l t kommt es mir zurück. Wie hast Du alles dieses verstanden! J a , ist es nicht so: daß i c h D i c h verstanden, beweist Dir m e i n e M u s i k ; und Daß Du mich verstehst, m i r D e i n W o r t ! " (1959, S. 57). Diese Sätze an die Dichterin der Texte seiner späten Vokalwerke, Hildegard Jone, könnte Webern niedergeschrieben haben, um ein singuläres Einverständnis zu dokumentieren. Doch lesen wir sie eher programmatisch. Das „ja, ist es nicht so" lautet wie der Versuch, die Partnerin auf ein Verhältnis zwischen Text und Musik einzuschwören, das Webern gerade demnach doch kaum neu gewesen sein kann. Offenbar hat Webern auch schon früher Verse, etwa solche der Dichter Richard Dehmel, Stefan George, Rainer Maria Rilke und Georg Trakl, oder Texte der Karfreitagsliturgie „beim Wort" genommen, will sagen: als konkrete Aussagen über das Selbst- und Weltverständnis der menschlichen Seele aufgefaßt, und ihnen, indem er diese Verse adäquat mit Komposition, musikalischer Form, konfrontierte, die Aufgabe übertragen, den Bewußtseinsstand s e i n e r M u s i k zu reflektieren. Dieser Aufgabe vermochten sie um so eher zu genügen, als sie Dichtungen von Zeitgenossen darstellen. Webern besaß in hohem Grade ein Wissen um das Geheimnis künstlerischer Zeitgenossenschaft: „Es ist merkwürdig, einerseits Beethoven und Kant und andererseits Wagner und Schopenhauer lebten ungefähr gleichzeitig. Ich spüre da immer eine geistige Gemeinschaft. Der Einfluß Schopenhauers auf Wagner existierte tatsächlich in hohem Maße. Und bei dem anderen erlauchten Paar spüre ich eine Übereinstimmung, obwohl ein Einfluß Kants auf Beethoven gar nicht existiert, im Sinne wie bei dem anderen Paar. / Und Strindberg und Mahler? / Maeterlinck und Schönberg? / Auch Strindb e r g u n d Schönberg! / Ausstrahlungen Gottes" (WEBERN 1955, S. 23). Aus solcher Erkenntnis — bezeugt im Brief erst 1911 — mag Webern sich wohl 19061908 den Dichtungen Dehmels (geb. 1863), dann 1907-1909 denen Georges (geb.

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REINHARD GERLACH

1868) und 1910 denjenigen Rilkes (geb. 1875), endlich aber 1917-1921 solchen Trakls (geb. 1884) zugewandt haben. Während Webern mit der Komposition von Irakischen Gedichten die vollkommene Kongruenz von Musik und Sprache in seinem Werk und damit den Höhepunkt seines Liedschaffens erreichte, wobei Text und Musik nun wie Interlinearversionen sich zueinander verhalten (vgl. GERLACH in Vorb.), bildet die Vertonung Dehmeischer Lyrik den Ausgangspunkt auf dem Weg zu solchem Ziel.

II Der Kenner der Geistesgeschichte des späten 19. Jahrhunderts mag vielleicht, verwundert darüber, daß eine der Literatur Wiens zwischen 1895 und 1905 nahekommende Musik vergleichbaren Umfangs kaum hervorgetreten ist, schon einmal mit Ungeduld die Musikgeschichte befragt haben. Man weiß von der Symphonik Gustav Mahlers; seine Symphonien stehen als kolossale Panoramen in keinem Verhältnis zur Lyrik Hugo von Hofmannsthals, zum wesentlich lyrischen Kammerspiel wiederum, zuerst Hofmannsthals, dann Arthur Schnitzlers und Richard Beer-Hofmanns, zur stimmungssatten — das Modewort ist , , m u s i k h a f t e n " (HOFMANNSTHAL 1959, S. 237) - Erzählung aller dieser Dichter, der einen Leopold von Andrians nicht zu vergessen. Ein solches Verhältnis würden am ehesten das Lied und die Kammermusik eingehen können. Einige der Orchesterlieder, vor allem des späten MAHLER, in kammermusikalisch kleiner Besetzung sind als vollkommene Gegenstücke zu nennen, wie übrigens auch einige seiner Symphoniesätze, z. B. die Nachtmusiken der siebenten Symphonie; dann das Frühwerk Arnold SCHÖNBERGs, seine Lieder, das Streichsextett Verklärte Nacht op. 4 nach einem Gedicht von Richard Dehmel, die beiden Streichquartette op. 7 und 10 und die Kammersinfonien. Als eigentümlich verdient in diesem Zusammenhang auch das Liedschaffen Alexander von ZEMLINSKYs Erwähnung: In op. 7 hat Zemlinsky Gedichte von Dehmel und Jens Peter Jacobsen benutzt (Dehmeische Gedichte waren ebenfalls Vorwurf für die KlavierFantasien op. 9). An erster Stelle sei allerdings seines Liederzyklus nach Maeterlinck: Sechs Gesänge op. 13, gedacht, an dem Berg besonders gehangen hat (ADORNO 1963, S. 168). Es war aber Alban BERG, der Mitschüler Weberns bei Schönberg, der aus einer Art Sinn für Gerechtigkeit sozusagen posthum seinen beiden opera 1 und 2 die Sieben frühen Lieder als Vorgänger 1928 an die Seite gestellt und durch Kompositionen wie Nacht, Schilflied, Traumgekrönt und Sommertage aus den Jahren 1907 bis 1908 die Sicht freigegeben hat auf ein ähnlich stimmungstrunkenes, freilich in der von Berg getroffenen Auswahl sicher nicht umfassend dokumentiertes Jugendwerk, das gewisse Analogien zu dem des jungen Loris (= Pseudonym Hofmannsthals) erkennen läßt (vgl. REICH 1963, S. 101 ff., auch ADORNO 1959, S. 138 ff.). Hier bildet nun genau einiges von dem, was aus Weberns Hinterlassenschaft — von ihm selbst bis auf eine Ausnahme beharrlich verschwiegen — vor wenigen Jahren hervortrat, einen das Gesamtbild des von einer „musikhaften" Euphorie ergriffenen Wien um we-

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sentlichste Züge bereichernden Zuwachs. Dies gilt für beide Gattungen, das Lied und die Kammermusik; neben den zwischen 1906 und 1908 komponierten fünf Dehmel-Liedem für das nach Überlieferung durch Josef Polnauer von Webern in späteren Jahren selbst zur Herausgabe vorgesehen gewesene Klavierquintett in einem Satz C-Dur von 1906/07 (POLNAUER 1969) und in ganz besonderem Maße für das von ekstatischem Aufschwung, einer mystischen Allverbundenheit und einem fast hybriden Triumph des Geistes zeugende Streichquartett von 1905, das die Beziehung zu echter mystischer Literatur des Frühbarock mit dem Jugendwerk HOFMANNSTHALs (Das kleine Welttheater von 1897 und Ein Traum von großer Magie von 1895) gemeinsam hat. „Als junger Mensch sah ich die Einheit der Welt, das Religiöse, in ihrer Schönheit; die vielfältige Schönheit aller Wesen ergriff mich, die Kontraste, und daß alle doch aufeinander Bezug hat!en" (HOFMANNSTHAL 1959, S. 234). Im Zentrum des „glorreichen, aber gefährlichen Zustandes" jugendlicher „Praeexistenz" mit seinen „millenarischen Anklängen", durch die die erleuchtete Seele „einer höchsten Welt" angehört (S. 213), steht „Das Ich als Spiegel des Ganzen aber mehr als Spiegel: der Wahnsinnige" (S. 228). Das von HOFMANNSTHAL über seine hermetische Dichtung Ad me Ipsum gesetzte Zitat aus Gregor von Nyssa: „Quocirca supremae pulchritudinis amator quod jam viderat tamquam imaginem eius quod non viderat credens, ipso frui primitivo desiderabat" Vita Mösts (1959, S. 213). bezeichnet den Antrieb, aus dem heraus das den schöpferischen Prozeß jener Verfassung umschreibende Jakob-Böhme-Zitat für ihn Bedeutung bekam: „So lüstert nu je eine Gestalt nach der andern / und von der begehrenden Lust wird eine Gestalt von der andern schwanger / und bringet eine die andere zum Wesen / daß also die Ewigkeit in einer immerwährenden Magia stehet" (HOFMANNSTHAL 1959, S. 108/9). Der „Arzt" des „Wahnsinnigen" im Kleinen Welttheater weiß: „ . . . eingeboren ist ihr eignes Weh / Den Menschen: ja, indem ich es so nenne, / Verschieb: ich schon die volle Zwillingsnäh, / Mit ders dem Sein verwachsen ist, und trenne, / Was nur e i n Ding: denn lebend sterben wir. / Für Leib und Seele, wie ich sie erkenne, / Gilt dieses Wort, für Baum und Mensch und Tier" (HOFMANNSTHAL 2/1952, S. 314/15). Der „Wahnsinnige" träumt nicht den „Traum von großer Magie", er erlebt ihn: „Was aber da für ein Triumphieren im Geiste gewesen, kann ich nicht schreiben oder reden; es läßt sich auch mit nichts vergleichen, als nur mit dem, wo mitten im Tode das Leben geboren wird, u n d vergleicht sich mit der Auferstehung der Toten. In diesem Lichte hat mein Geist alsbald durch alles gesehen und an allen Kreaturen, selbst Kraut und Gras, Gott erkannt, wer er sei und wie er sei, und was sein Wille ist" Jacobus BÖHME (1575-1624). Das letzte Zitat ist nicht mehr Hofmannsthals Aufzeichnungen, sondern wortgetreu Anton WEBERNs Manuskript des Streichquartetts von 1905 entnommen, das von BEALE (1965) aus dem Nachlaß herausgegeben wurde. Bei HOFMANNSTHAL (2/1952, S. 21) hingegen lesen wir: „Cherub und hoher Herr ist unser Geist — / Wohnt nicht in uns, und in die obern Sterne / Setzt er den Stuhl und läßt uns viel verwaist: / Doch Er ist Feuer uns im tiefsten Kerne I . . . I Und redet mit den Feuern jener Ferne / Und lebt in mir wie ich in meiner Hand."

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REINHARD GERLACH

Ferne sei es, außer auf dieser Parallelität in gewissen Zuständen der Seele, noch weiter auf Gegenüberstellung zu beharren. HOFMANNSTHAL (1959, S. 214) notierte sich „Analogie mit Blakes Mystik", verwies auf Rudolf KASSNER, Englische Dichter, Lpz. 1920 (zuerst als: Die Mystik, die Künstler und das Leben, 1899), wo über Blake und über die „states" der Seele gehandelt ist (dazu HOFMANNSTHAL 1959, S. 223: „Der reinste State der Wahnsinnige"), spürte sein Jugend-Oeuvre, das ihm frühe Berühmtheit eingebracht hatte, als eine schwere Belastung für sein späteres Dasein und Dichten und war bemüht, sich weder „Zu weit ins Innere: Unmitteilbarkeit des Individuums, Idiosynkrasie;" noch „zuweit ins Äußere: Gemeinheit, Trivialität" (S. 190) zubegeben; es endete schließlich — von dem ,,eigentlich Erbarmungslosen unserer Wirklichkeit" getroffen (S. 242) - im „Turm". Hofmannsthals letzte Tragödie Der Turm existiert in zwei Fassungen (beide in: HOFMANNSTHAL 1958, S. 7 ff. und 321 ff.); ADORNO (1968, S. 35) berichtete von Gesprächen mit Alban Berg: „Einmal redete ich von Hofmannsthal und dem Turm und von der Möglichkeit, das Trauerspiel, in der Fassung der Neuen Deutschen Beiträge (1923, 1925), zu komponieren. Heute noch meine ich, [Berg] wäre kein Stoff so sehr auf den Leib geschrieben gewesen wie dieser oder der verwandte des Kaspar Hauser." Andererseits fand sich Hofmannsthal infolge einer unter etwas zweifelhaften Umständen zuwege gekommenen Liebesheirat aufs Land versetzt, in Richard Straussens bajuwarische Pseudo-Pußta, die um Arabella sich auftat. Hofmannsthals letztes Libretto für STRAUSS widerstand dem Komponisten anfänglich; er zweifelte, vom Milieu degoutiert, ob er „drei Akte lang verlumpte Naive tat heucheln" würde können, und war vom Erfolg des Werkes — „habe auch viel Mühe darauf verwenden müssen" — ehrlich überrascht: „Muß man 70 Jahre alt werden, um zu erkennen, daß man eigentlich zum Kitsch die meiste Begabung hat? " (3/1964, S. 640, 1957, S. 54-55). Webern hingegen, der die Zeugnisse jugendlicher Überhebung, vorwegnehmenden Triumphes und sektiererischer Häresie verschwieg, erlegte sich als Komponist mit einem fatalen Fanatismus die Einsamkeit eines mönchisch-dienenden Lebens auf, das er — im äußeren Dasein als Operettenkapellmeister und, wie Webern selbst empfand, als „Hausdepp" geschunden (WILDGANS 1967, S. 83) - kompromißlos dem Geist widmete, ein Freund der Berge und der Natur, scheu, durchaus weltfremd und beseelt von einem Drang nach Erkenntnis wie: „Suchen von Höchstem, Auffinden von Korrespondenzen in der Natur." Dabei bildete sein „Motiv: der tiefe, unergründliche, unausschöpfbare Sinn in allen . . . Äußerungen der Natur"-, am wertesten aber ist ihm jene Natur, „welche sich dort ,oben' äußert" in Gestalt der „Bergföhren und rätselhaften Pflanzen . . . , die mir nahe gehen" (WEBERN 1955, S. 23). Fasziniert von der Magie der Zahlen, durch die sich ihm die Welt des innerlichen Klanges zu enträtseln schien ebenso wie die der äußeren Natur, entriß ihn die verirrte Kugel aus einem Soldatengewehr einem Leben in Angst vor der Katastrophe, als der Krieg vorbei war (vgl. MOLDENHAUER 1961).

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III Für das Weitere ist aus dem Vorstehenden in erster Linie die Metaphorik, wie sie bei Hofmannsthal und bei Webern-Böhme auftritt, wesentlich: „ . . . Er ist Feuer uns im tiefsten Kerne, . . . ist hoher Herr . . . " und „Geist" und als „Cherub" bei den „obern Sternen" beheimatet, heißt es von jenem Ich bei Hofmannsthal, das den Triumph „göttlicher . . . Blicke", nämlich das „ A l l in einem, Kern und Schale, . . . " (HOFMANNSTHAL 2/1952, S. 516) ebenso kennt wie das Ich, das in WEBERNs Namen durch den Text BÖHMEs spricht: „Was aber da für ein Triumphieren im Geiste gewesen, kann ich nicht schreiben oder reden; . . . mein Geist" hat im „Lichte . . . durch alles gesehen . . . und Gott erkannt, wer er sei und wie er sei, und was sein Wille ist." Den Zusammenhang zwischen dem schöpferischen Akt, mystischer Erleuchtung und „Musik", Eins im Verbum ap/iorrco, erhellt eine Briefstelle HOFMANNSTHALs (1953, S. 44): „Ich hatte noch keinen einzigen wirklichen Arbeitstag, das ist furchtbar bei mir, wie schwer das Wiederhinein-kommen ist. Freilich wenn ich dann wieder drin bin, so umgibt mich eine solche Harmonie, es ist als hätte ich dann eine klingende schwingende Lufthülle um mich, die mich umgibt wie eine rotierende gläserne Halbkugel, durch die hindurch die äußere Welt zwar sichtbar ist, aber nicht hörbar , . . ." (26.6.1904; vgl. dazu SCHMID 1968, S. 93 und 94/5). Es ist hier nicht der Ort zu untersuchen, was musikalisch im Streichquartett von 1905 dem von Webern mit diesem Werk verbundenen Jakob-Böhme-Zitat entsprechen mag. Woher könnte aber eine derartige Offenbarung gekommen sein, wie sie das Motto des Streichquartetts bekennt? Webern selbst deutete im Zusammenhang mit einem anderen, ein J a h r später entstandenen Streichquartett auf SCHÖNBERGs Kammersymphonie op. 9: „Der Eindruck war kolossal", um der Nachwelt zu überliefern, was wie eine Initiation gewirkt hat und seine schöpferischen Kräfte äußerst stimulierte (WEBERN 1960, S. 52). Hier aber geht es vielmehr um Lieder, Kompositionen auf Texte. Und gerade für die Analyse der fünf Lieder auf Gedichte Richard Dehmels aus den Jahren 1906-1908 ist der vorangegangene Exkurs über die Erfahrung der u n i o m y s t i c a in der E r l e u c h t u n g des Geistes bedeutungsvoll: Anton Weberns nachgelassene Dehmel-Lieder sind mit einer subtilen Lichtmetaphorik durchsetzt und verdanken ihr recht eigentlich die Form eines fünfteiligen Z y k l u s .

IV Webern könnte für die Zusammenstellung der Texte seines Liederzyklus zwar aus Gründen der Chronologie nicht allein, wohl aber auch die Ausgabe Richard DEHMEL, Gesammelte Werke in 10 Bänden, Berlin 1906-1909, benutzt haben. Die folgende Übersicht verschafft Einblick in die ziemlich verworrene Quellenlage, die durch Dehmels Umarbeitungen seiner Gedichtbücher von Auflage zu Neuauflage entstanden ist — eine kritische Ausgabe von Dehmels Werken liegt bis heute nicht vor —, und weist Fundstellen nach:

REINHARD GERLACH

50 Nr. I:

Ideale Landschaft, komponiert 1906, findet sich noch in der 2. veränderten Ausgabe der Erlösungen, Stuttgart 1898, S. 3 1 1 ; aber nicht mehr in der 3. Ausgabe = Bd. 1 der Ges. Werke, Berlin 1906, sondern in: Weib und Welt. Ein Buch Gedichte von R. DEHMEL, 3. Ausgabe = Bd. 3 der Ges. Werke, Berlin 1907, S. 50.

Nr. II:

Am Ufer, komponiert 1908, findet sich in: Weib und Welt. . . (wie Nr. I), S. 142.

Nr. III: Himmelfahrt, komponiert 1908, stand zuerst als Sternzauber in: Erlösungen. Gedichte und Sprüche, Stuttgart 1891, S. 48-49; mit der neuen Uberschrift Himmelfahrt findet es sich in: Weib und Welt. . . (wie Nr. I u n d II), S. 31. Nr. IV: Nächtliche Scheu, k o m p o n i e r t 1907, findet sich in: Aber die Liebe. Zwei Folgen Gedichte, 2. Ausgabe = Bd. 2 der Ges. Werke, Berlin 1907, S. 4 0 ; zuerst als: Aber die Liebe. Gedichte und Geschichten, München 1893. Nr. V:

Helle Nacht, komponiert 1908, findet sich in: Weib und Welt . . . (wie Nr. I, II und III), S. 33; Zusatz: Nach (vgl. DEHMEL 1963, S. 6 7 / 6 8 ) .

Verlaine

Hingegen steht außer Zweifel, daß Webern den Band: Richard DEHMEL, Ausgewählte Gedichte, Berlin 1901, der sich mit der Widmung seines Vetters Ernst Diez: ,,S[einem] //.[ieben] Toni für Compositionsversuche zum 4/XII 1901. Ernst." im Webernschen Nachlaß b e f a n d u n d heute im Moldenhauer Archive, Spokane (Washington), a u f b e w a h r t wird, zur Textwahl herangezogen hat. Ihm e n t n a h m er wahrscheinlich, zunächst für seine dilettantischen Jugendversuche, die Gedichte Nachtgebet der Braut (S. 20) und Aufblick (S. 47), beide k o m p o n i e r t 1903. Das Gedicht für das früheste Dehmel-Lied, Tief von fern, komponiert am 21. IV. 1901, hingegen steht nicht in diesem Band, m u ß Webern woanders begegnet sein u n d hat vielleicht jenen Sinn für Dehmeische Lyrik überhaupt geweckt, den dann das Geschenk Ernst Diezens zu Weberns achtzehntem Geburtstag, k n a p p acht Monate später, weiter nähren sollte. Jedenfalls kannte Webern die Poesien Dehmels vor seiner Begegnung mit Schönberg, dessen Schüler er erst 1904 geworden ist, mindestens doch aus diesem Band bereits, dem er dann auch wohl das Gedicht Am Ufer (S. 148) e n t n o m m e n hat, um es später als Nr. II der fünf Dehmel-Lieder zu komponieren. Die übrigen vier Gedichte (I, III, IV und V) hat aber Webern augenscheinlich nicht aus dieser Quelle (wo sie nicht enthalten sind), sondern aus den verschiedenen Quellen, die schon genannt sind, oder von anderen Fundorten her — etwa Zeitschriften — zusammengetragen, was im übrigen beidemal die gleiche Mühe des Sichtens u n d Wählens gekostet haben dürfte. Richard DEHMELs Gedichtbücher Erlösungen, Aber die Liebe und Weib und Welt enthalten ein schier unbeschreibliches Chaos von Widerwärtigem, ungestalt R o h e m und zart Sublimem, von Sprachschwulst u n d subtiler Poesie. Der Dichter, der sich aus Friedrich HEBBELS Tagebüchern notierte: „Keimen und Verfaulen ist identisch" (Brief an Fr. Servas, 1894, in: DEHMEL 1922, S. 152), ist offensichtlich außerstande gewesen, zu sondern u n d abzutrennen. Das Unvermögen gründet in seinem Begriff von All-heit, die e i n T r i e b , erfahren als Natur = G o t t , durchwaltet:

DEHMEL-LIEDER VON WEBERN

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„Es ist in uns ein Ewig Einsames — Es tut sich kund als Urgemeinsames, je eigner es die Seele meint" (DEHMEL 1908, S. 165). „Nur noch in sich sucht die Allmacht der Mensch . . ." (DEHMEL 1913, II, S. 134). „(Gott) ist mein Ich, mein zwiefach-eines . . . Tierheit und Menschheit in Einem" (Brief an A. Mombert, 1898, in: DEHMEL 1922, S. 272). „Was es gibt, muß darum, weil es es gibt, auch natürlich sein" (zit. nach REICHERT 1931, S. 143). „(Die Seele) wurzelt rings im grenzenlos Alleinen;. . ." (DEHMEL 1908, S. 165). „Gott ist ein Geist, der klar zu Ende tut, was er zu Anfang nicht gedacht hat — dann sieht er Alles an, was ihn gemacht hat, und siehe da: es ist sehr gut! —" (ebda. S. 170). Aus Dehmels Panerotik resultiert eine grenzenlose Lust zur Hingabe, ohne Rückhalt, ohne Wahl; sie brachte ihn in genauen Gegensatz zu Stefan George. Dessen dichterische Position ist von Rudolf BORCHARDT (1952) in seiner Kritik Stefan Georges Siebenter Ring so bestimmt worden: „Es ist nicht Stil an und für sich, denn Stilvolleres . . . besitzt die Sprache nicht. Es ist das kleine Element von Imponderablem, . . . das vollkommene innerliche Aufgehen in die letzten Vereinzelungen des Erlebnisses, restloses Mitleben — es ist dies . . . , was George fehlt" (S. 154). Georges Parole heißt: Verweigerung; seine gnadenlose Verachtung für Dehmel ist bekannt aus seinem Briefwechsel mit Hofmannsthal. Die Auseinandersetzung eröffnete HOFMANNSTAHL ohne zu ahnen, was er tat, als er schrieb ([Wien] 3ten J u n i 97): „Von allen den neueren Producten in deutscher Sprache ist mir nichts irgendwie nahe gekommen, als allenfalls die Gedichte von Dehmel: in welchen ich, neben vielem, woran ich mich nie gewöhnen könnte, nicht weniges von großer Schönheit, tief aufregende Wendungen und einzelne Verse finde, die mir unübertroffen erscheinen. Zu der Production des Dichters als Ganzes genommen . . . habe ich nie irgend welche Beziehungen gefunden oder auch gesucht." GEORGE antwortete Hofmannsthal ([Bingen] juni 97): „was Sie immerhin mit einem beträchtlichen lob ausstatten gehört für mich zum schlechtesten und widerwärtigsten was mir in die hände kam. und vielleicht beurteile ich das am schärfsten was Ihnen das gute ist — wegen seines täuschevermögens. die einzelnen wenigen lichtblicke können in einem solchen dunst von kunstarmut und seelenniedrigkeit nicht entschädigen, ja werden erst recht verdächtig. . . . Die von Ihnen hocherhobenen erzeugnisse leiden — nach mir — nicht nur sammt und sonders unter . . . zügellosigkeit und stil-verquickung: der Verfasser verrät seinen völligen mangel an künstlerischer begabung dadurch dass er beständig und wider seinen willen ,seine gestalten mit den geheimen gebrechen seiner natur befleckt' Ich möchte gern wissen wen Sie damals meinten als aus Ihrer feder floss: ,von den schlechten büchern die keine entfernung vom leben haben' . . . " HOFMANNSTHAL seinerseits erwiderte ([Bad Fusch] 28ten Juni. [1897]): „Ich kann Ihren Folgerungen nun wirklich nichts entgegensetzen als nur dies: daß jener Mensch mir immerhin doch auf einem Weg zu sein scheint, . . . Und obwohl ich Ihnen nichts Starkes entgegensetzen kann, verlangt doch etwas in mir danach, diesen Geist, der über die Sprache und das tief andeutende Gleichnis hie und da Ge-

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REINHARD GERLACH

walt hat, nicht ganz verloren zu geben. Vielleicht erweisen Sie mir, wenn nicht ihm, die Herablassung und prüfen in seiner letzten Sammlung jenes längere Gedicht, . . ." GEORGE verweigerte sie mit der Begründung ([Bingen, 16.] juli 97): „doch Sie wissen wenn wir überhaupt ein amt haben dass es gewiss nicht dies ist an alten verknorrten bäumen den geringsten ausschlag zu preisen sondern dies: jungen noch biegbaren Stämmen unsre sorge zuzuwenden" (2/1953, S. 118-124). Welcher Art diese Sorge sein konnte, zeigen Verse aus den Sprüchen an die Lebenden wie: „Sieh drohend sieh flehend die hand! Du warst wie ich heute dich wollte . . . Bist morgen du noch der gesollte Geliebter - welch fest und welch land!" (GEORGE 1958, I, S. 444). Webern, der sich der Mühe unterzogen hat, das Dehmeische Gedicht — „ Traumerzeugnis" einer ,,sonderbaren anschauenden Versunkenheit" (Brief an C. du Prel, 1891, in: DEHMEL 1922, S. 54) — zu retten und durch Komposition vorm Untergang im Fäulnisprozess des Lebens zu bewahren, folgte darin dennoch nur der Einsicht Stefan Georges: „Die kunst ergreift am meisten, in der man das atemholen neuer, noch schlafender geister spürt ..."•, dabei gilt: „Schönheit ist nicht am anfang und nicht am ende, sie ist höhepunkt..." (GEORGE 1958, I, S. 531). Weberns Wahl fiel — soweit man sehen kann — frei, ohne Beeinflussung oder Vorbestimmung durch den Dichter oder einen vermittelnden Gewährsmann, auf die fünf Gedichte Richard Dehmels. Inwiefern sie sinnvoll war, bleibt zu untersuchen. Der Weg, der eingeschlagen wurde, um der F o r m von Weberns Dehmel-Liederzyklus — von dem es noch fraglich ist, ob er überhaupt so genannt zu werden verdient — von der sprachlichen Seite her beizukommen und damit die Idee, die gerade zu dieser Textwahl geführt haben könnte, aufscheinen zu sehen, war der, den Spuren bestimmter Schlüsselworte und -Vorstellungen durch alle fünf Gedichte hindurch gewiesen haben (s. hierzu Tabelle 1, S. 54/55). Die Auswertung der tabellarisch erfaßten Zusammenhänge in Form von Wort- und Vorstellungsketten zwischen den Gedichten I-V läßt die Aufstellung von folgenden Matrices (s. S. 53) geraten sein, an denen die Texte in der von Webern komponierten Reihenfolge nacheinander gemessen werden können. An der mit Hilfe von M 1—43 aufgeschlüsselten Tabelle ist nunmehr ablesbar: von Gedicht I—V eine stetige Abnahme von empirisch verbürgter, mit der Ratio durchdringbarer Wirklichkeit, dichterisch umschrieben in I durch Landschaft, Tages- (bzw. Abend-) licht und Individuum, das sich als solches kundgibt, und eine stetige — gegenläufige — Zunahme von durch die Ratio nicht kontrollierbarer, empirisch nicht zu bewährender Un- (oder Über-) Wirklichkeit, Traum„welt", dichterisch beschworen in V durch paradoxe Aussagen über Zeit und Ort, Aufhebung der Ich-Grenzen in einer Allverbundenheit und -beseeltheit und Entrückung aus der Sphäre des Lebens in eine von Geistern. Aus der Tatsache, daß zwischen Gedicht I und V dieses Gefälle besteht, das von den Gedichten II-IV lückenlos überbrückt wird, geht hervor, daß man es bei den DehmelLiedern Weberns von 1906-1908 zunächst textlich mit einem Zyklus im strikten Verstand, einer formvollendeten Verkettung von fünf Gedichten zu tun hat, wie sie vom Dichter keineswegs intendiert war.

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DEHMEL-LIEDER VON WEBERN

III

II

I

IV

V

M 1

Licht (= Sonnenwärme)

Schein

Bleiche (= Mondeskühle)

M 2

Tag (Abend)

Dunkel

Nacht (mondhelle ~ )

M 3

Meer, Flut

Quellen

Fluß

(spiegelnder) Weiher feuchte Schleier

Rationalität

Irrationalität (des Traumes)

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örtlichkeit, b e s t i m m t

örtlichkeit, unbestimmt

42

personale Identifikation

Allheit, -bezogenheit

43

(Aus-) Sprache als Vehikel zur Übermittlung von Faktischem

Sprachlosigkeit, aber magisches Kommunizieren

M 4

In einen Zusammenhang so abstrakter A r t hat Richard Dehmel selbst lyrische P r o d u k t e offenbar nicht gebracht; er bevorzugte in seinen Gedichtbüchern als Bindemittel zwischen den einzelnen Gedichten r o m a n h a f t e Handlungen, die er durch Abfolge von lyrischen Zustandsbildem suggerierte. Das Abbilden u n d damit Konkretisieren von Zuständen der Seele durch optische Färb- u n d Lichtreize ist ein Hauptprinzip Dehmeischen Dichtens. Statistische Untersuchungen am lyrischen Gesamtwerk des Dichters ergaben, daß „ v o n allen Sinneseindrücken die optischen, speziell die koloristischen, weitaus überwiegen"-, von insgesamt ca. 1 0 0 8 5 0 Wörtern in den ersten fünf Bänden der Gesammelten Werke bezeichnen 2452 optische Werte (ausschließlich Färb- und Lichtreize), hingegen nur 1 4 8 4 akustische (nach M Ü L L E R 1957, S. 77/78). „An erster Stelle sind Lichterscheinungen wie ,Glanz, Glut, Schein' zu nennen, die die Höchstzahl von 992 stellen. Dehmels Lichtfreudigkeit grenzt an einen Lichtkult. Rechnet man die neutralen Farben von ,hell' (242), Lichtnuancen von Gold und Silber oder s t u m p f e F a r b t ö n e wie .bleich', ,fahl' (190) hinzu, so wird die S u m m e beträchtlich hoch. Es ist für Dehmel . . . bezeichnend, d a ß in seiner Farbskala gleich danach die Kontrastfarbe ,dunkel, schwarz' (407) f o l g t " (ebda., S. 78). Lichterscheinungen in den fünf Gedichten Dehmels nach der Wahl Weberns waren bei der Analyse für eine differenzierte Aussage über die zyklische Bindung an erster Stelle ergiebig. Es scheint zumindest nicht ausgeschlossen, d a ß Webern gerade im Hinblick auf sie die Auswahl getroffen hat. Die Analyse der Lieder wird darüber ein sichereres Urteil erlauben; ein Ausspruch Weberns kann schließlich sogar eine Bestätigung liefern (vgl. unten). Die Wahl Weberns trägt zudem sehr persönliche Züge; er steht zwar als Komponist Dehmeischer Gedichte keineswegs allein da. Unter denjenigen, die Lyrik Dehmels ebenfalls vertonten, n e h m e n einen Rang ein: Richard Strauss, Hans Pfitzner und Max Reger, und aus d e m engeren Wiener Kreis u m Schönberg, der selbst Dehmeische Gedichte benutzte, vielleicht noch Zemlinsky. Keiner von den Genannten — über Zern-

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REINHARD GERLACH

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DEHMEL-LIEDER VON

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Exposition Reprise Durchführung Einleitung Strophe

r. H. 1. H. Singst. 1

Klavier, rechte Hand Klavier, linke Hand Singstimme Motiv 1 (Zählung gemäß der Reihenfolge des Auftretens)

Kommentar zur Analyse des Dehmel-Liedes Nr. I: Tonika ist kein moll- oder Dur-Akkord, sondern ein vagierender Akkord, der übermäßige Dreiklang e-gis-c. In der Komposition des Liedes betrachtet Webern jeden seiner Töne als einen möglichen Grundton des Liedes. Ausgenommen davon scheint der Ton gis; tatsächlich ist jedoch ein Schluß des Liedes, der voll befriedigt, ebenso in Gis wie in E oder C denkbar. Eben darum ist die Schlußkadenz des Liedes nach E-Dur nicht unproblematisch. Nicht nur ist durch die häufigen Kadenzen auf Stufen terzverwandter Tonarten das Gleichgewicht des tonalen Zusammenhangs ein bewegliches, sondern durch die Anlage des Schlusses in diesem Sinn geradezu noch gesteigert, sozusagen provozierend labil: Der kadenzierende Quartsextakkord (Takt 34) steht auf G; der Ton c liegt in der Oberstimme, wenn die Tonika erreicht sein sollte (Takt 35). Indes ist Gis zu diesem Zeitpunkt der Baßton; nach Gis-Dur weisen beide, gis und c (= his), und e ertönt einen Augenblick lang wie eine Wechselnote zu dis (vgl. Notenbeispiel 1,1). Im übermäßigen Dreiklang gis-e-c ist aber auch gleichberechtigt E-Dur enthalten; daß das Lied in diese Tonart mündet, entspricht einem Tonalitätsbewußtsein, dem die entschiedene Tonart einigermaßen gleichgültig ist und dem es, daß sie am Schluß erklingt, kaum mehr als Zufall bedeutet. Nicht aber die Form, sondern die Tonart E-Dur entbehrt am Schluß der überzeugenden Notwendigkeit, es sei denn, man versteht sie als

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DEHMEL-LIEDER VON WEBERN

einen der Fixpunkte eines Netzes sich gegenseitig in Beziehung erhaltender Tonarten, zwischen denen die Tonalität unentschieden in der Schwebe bleibt. Außerdem behandelt Webern den übermäßigen Dreiklang so, daß jeder seiner Töne als Leitton fungiert: dis/

V

8

a

Aus den verschiedenen „Auflösungs"möglichkeiten — innerhalb der funktionalen harmonischen Tonalität — ergeben sich die verschiedenen Kadenzstufen: E e Die Ziffern bezeichnen die Reihenfolge des Auftretens im Liedsatz

eis:X) f . Gis. a_ F gis A Cis 3

4

1

C c

x

)Parallele: b

2

5*) 6 9 13

8x)

7 (12) 10

11

Folgende Auftritte sind im Zusammenhang mit dem Text bedeutungsvoll: 2 als „Aufleuchten" entsprechend der vom Text evozierten Vision „Glanz" nach dem vorausgegangenen Ganztonakkord; 5 6 7 als Mediantenfolge B-Des = Cis-a; die Akkordfolge ist Klangsymbol für „hohe Abendklarheit war"-, 8 als fortschreitendes „Abdunkeln" Cis-a = 1. Sequenzglied -b = 2. Sequenzglied zugleich durch die Rückung von a nach b als Ausdeutung der Bewegung „weg von mir ; 9 als intensives (bedeutungsvolles; vgl. die Vortragsbezeichnung „sehr ausdrucksvoll") „Aufleuchten" nach einem an harmonischer Dichte zunehmenden strebenden Sequenzengang in kontinuierlicher Sechzehntel-Bewegung (wobei es sich um den bewegtesten Abschnitt des ganzen Liedes handelt) und dissonanter Eintrübung eines wie bei 2 vorausgehenden Ganztonakkordes; 11 (12) 13 als Stufen der Tonika c-gis-e, auf denen die musikalische Form des Liedes beruht; 1 3 4 und 10 dagegen sind ausgesparte Stellen im Satz und fungieren als Zäsuren der Form; daraus ergibt sich die bemerkenswerte Folgerung: Dreiklänge sind je nach dem formalen Zusammenhang, in dem sie auftreten, in Weberns Musik von intensiver „Licht"wirkung oder reiner Leere. Ferner beruht auf den verschiedenen „Auflösungs"möglichkeiten die — harmonische — Stimmigkeit des Satzes: Seine Stimmen können, prinzipiell nebeneinanderherlaufend, jeweils in einer besonderen Tonart stehen. Die Harmonik ist an dichten Stellen daher polytonal komplementär in dem Maße, wie nebeneinander verschiedene tonale „Sinn"zusammenhänge aufrechterhalten und durchgeführt werden (vgl. Notenbeispiel 1,2). Hinzuweisen ist auf die funktional vieldeutigen Akkorde, die eine Schlüsselposition einnehmen. Solche „kadenzierenden" polyvalenten fünftönigen Ganztonakkorde treten im ganzen Lied zweimal und jeweils an besonderen formalen Einschnitten auf: a) bei

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REINHARD GERLACH

durch Auftakt vorbereitetem — Takt 8 — Aufklingen der Singstimme; b) auf dem zur Scheinreprise überleitenden Höhepunkt der Durchführung — Takt 22 —; dieser Akkord, durch Umlagerung des übermäßigen Dreiklangs b-d-fis mittels gis (= as) und c in seiner Struktur verändert und zudem durch den Sextengang g -

f -

h - a -

(e)

(gis)

kontrapunktiert, ist als Trübung dem nachfolgenden Quartsextakkord, entsprechend dem Fall a), kontrastiert. Die geschichtete komplexe Diatonik — selten durch chromatische Züge von kurzer Ausdehnung (Takt 18-19; 20-21) bereichert — dient dabei zur Vermittlung einer chromatischen Vollstimmigkeit als hintergründiger Idee, der entgegen der polytonale Satz zu streben scheint (vgl. Notenbeispiel 1,3). Die Entstehung einer echten Polyphonie als Mittel zur Darstellung der ,,Tiefen"-Dimension kann im Ansatz beobachtet werden. „Tiefe" als Dimension wesentlich des mehrstimmigen, nichtharmonischen Satzes ist sowohl Schönberg wie Strawinsky eine geläufige Vorstellung. „Die Perspektive und die Tiefe des Klangs könnte es sein, die uns an den einfachen Drei- und Vierklängen fehlt" (SCHÖNBERG 3/1922, S. 505); und: „In einem tonalen Werk sind wir fortwährend zeitlich lokalisiert, während wir ein polyphones Werk nur, durchschreiten' können, . . ." (STRAWINSKY 1961, S. 177, Nr. 120). Diese Dimension zu erschließen, wird der Dissonanzenbestand aufgeboten. Er dient zur Aufspaltung der Harmonien, will sagen zur Konturierung der harmonischen Einzelstimme innerhalb des — auf dem Stand einer mediantisch zur Polytonalität „erweiterten" Tonalität — wesentlich harmonischen Satzes. Vorhalte und Durchgänge sind in diesem Sinn freier gehandhabt als üblich, aber ohne Willkür. Dissonante Höhepunkte sind teils rein musikalisch-formal gesetzt (Takt 13: bitonal, „forte"), teils musikalischformal und poetisch-ausdeutend in Einklang gebracht (Takt 22: übermäßiger Dreiklang, „stark") und schließlich, wenn auch subkutan mit der rein musikalischen Tendenz in Zusammenhang, anscheinend bloß illustrativ gemeint (Takt 27: atonal, < ) . Die Tonalität des Liedes ist „schwebend" im Sinne Arnold SCHÖNBERGs gehalten: „Der Grundton tritt von vornherein nicht eindeutig bestimmend auf, sondern läßt die Rivalität anderer Grundtöne neben sich aufkommen. Die Tonalität wird sozusagen schwebend erhalten, der Sieg kann dann einem der Rivalen zufallen, muß aber nicht" (3/1922, S. 185). Die Verteilung der teils kadenzierend, teils durch plötzliche „Auflichtung", d. h. Rükkung erreichten Dreiklänge auf die durch Ableitung aus der Tonika e-gis-c hergeleiteten Tonarten ist, den verschiedenen Stellenwert innerhalb der Form in Anschlag gebracht, einigermaßen gleichmäßig (vgl. Tabelle S. nn). Die Schlußkadenz erfolgt in die Tonika e-gis-c auf die Weise, daß — wie schon gesagt — zuerst Gis als Grundton gehört, c (= his) aber zuletzt durch h ersetzt wird. Webern interpretiert die harmonische Form als e/E in der Art, wie SCHÖNBERG es verstanden wissen wollte, wenn man tonal kadenziert: Es ist lediglich die „Ausführung eines Kunstgriffs, . . . den Anschein von Geschlossenheit zu verleihen" (S. 156). In diesem Sinn bleibt das Lied in Wahrheit „offen" auf das folgende hin.

DEHMEL-LIEDER VON WEBERN

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Kommentar zur Analyse des Dehmel-Liedes Nr. II: Dem Lied ist offensichüich keine Tonika, gleich welcher Art, vorgegeben. Die beiden ersten Takte der Einleitung bringen den übermäßigen Dreiklang as-c-e; der vorletzte Akkord im Takt 19 lautet g-h-es. Auf beide Akkorde als Verkürzungen der zwei einander zur zwölftönigen Leiter ergänzenden Ganztonleitern as (b) c (d) e (fis) und (a) h (eis) es (f) g gründet sich die Harmonik; über die beiden ausgesparten übermäßigen Dreiklänge vgl. weiter unten. Die Mitte des Liedes (Takt 10) nimmt der Baßton E ein; symmetrisch flankieren ihn zwei Baßtöne A (Takt 3 und 4, bzw. 17 und 16). Die Takte 1-2, die Einleitung sind,

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haben zum tiefsten Ton as, die Takte 18-20 als Coda zum tiefsten Ton d. Symmetrisch sind die Verteilungen der Häufigkeitsmaxima beider Töne um die zentrale Achse (Takt 10); vor Takt 10 („links") tritt d dreimal auf, nämlich in Takt 5, 7 und 9. Leider ist der von Leonard Stein edierte Text offensichüich nicht fehlerfrei; vgl. in diesem Lied z. B. Takt 16, r. H., zweite Triole, übergebunden an die dritte Triole, wo es entweder f oder " heißen muß, auf jeden Fall aber nicht Manche Stellen können, leider auch in den folgenden Liedern, durch die Analyse zwar nicht einwandfrei geklärt, so doch begründet in Zweifel gezogen werden; wieder andere muten seltsam an, ohne einen Anhaltspunkt für ihre Kritik zu liefern. Zu letzteren gehört Takt 7, r. H., wo aller Vermutung nach die leere Quinte über dem Baßton H in fis-b (? ) zu emendieren wäre. Nach Takt 10 („rechts") tritt d neunmal auf in den Takten 11-15, weitere dreimal in den Takten 18-20. CD

~

CD

Zentral-Achse

(To)

(uj)

Bass:

(n) tiefster Ton:

tiefster Ton: as

-

A

Bass: E

Bass:

A

D

Wir verstehen die harmonische Form als Umschreibung der d-Tonalität, deren Grundton bewußt in der ersten Hälfte des Liedes umgangen wurde. „Dieses Umkreisen — das die Dinge nie beim richtigen Namen nennen — lauter Stellvertreter für die Grundakkorde einsetzen — alles, was gemeint ist, lieber offenlassen - das ist der Charakter der Komposition in zwölf Tönen!" (WEBERN 1960, S. 51). Dieser Charakter nimmt im Lied die ersten prägnanten Züge an. Die symmetrische Zweiteiligkeit überlagert Dreiteiligkeit der auskomponierten Form. Der Exposition (mit besonderer Häufigkeit des Tones as) entspricht eine um die Takte 6-9 der Exposition verkürzte Reprise (mit entsprechend weniger auftretendem as). Die Takte 10 und 15, einander weitgehend ähnlich, aber — weil auf den übermäßigen Dreiklängen g-h-es (Baßton: E) und as-c-e (Baßton: A) fußend — zwar strukturgleich, nicht jedoch tongleich, rahmen einen abweichend strukturierten Durchführungsabschnitt ein. In ihm ist 3-(4-) stimmig volle Chromatik, teils kanonisch streng, teils imitierend kontrapunktisch auskonstruiert. Das belegt die Verteilung der Häufigkeit der einzelnen Töne innerhalb des chromatischen Totais (nicht gezählt sind unmittelbar aufeinanderfolgende Tonwiederholungen in e i n e r Stimme): d 8

es e f fis g as a b h c eis 4 3 3 6 6 6 4 5 2 8 7

(dis und es, gis und as, des und eis = dasselbe)

Die Häufigkeit von d, fis, b erklärt sich aus der Strebigkeit des Durchführungsabschnitts nach d, die von es, g und as, c sowie a, eis aus ihrem Charakter von „Leittönen" innerhalb dieser Strebigkeit des Satzes (vgl. Notenbeispiel 11,1). Ausgesprochen tonsymbolisch scheint der Quartenakkord in Takt 7 gemeint zu sein; indes trügt der Anschein. Die Singstimme exponiert in Takt 2 die Quarte es-b; eine Sept tiefer versetzt hebt die Singstimmen-Melodie im Takt 6 von neuem an; beide Einsätze in die Gleichzeitigkeit projiziert ergeben den Quartenakkord es-b-f-c. Derjenige

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des Taktes 7 lautet: e-h-fis-cis, ist also um eine kleine Sekunde erhöht. Die rein formalmusikalischen Mittel der Steigerung und Verdichtung führen die Exposition auf ihren Höhepunkt: es-t b J

r -I

die Welt

verstummt"

in (des Blutes)

hellen"

e h fis'

,Abgrund

(versinkt der ferne

Tag)'

eis •

Weniger in die intentionslose Form eingegangen ist die „äusserst zart" im pianissimo vorzutragende Melodie (r. H., Takt 5 ff.) bei dem Textwort „erklingt"; sie steht in bloß durch Akzidenzienschreibung kaschiertem E-Dur. Hier, besonders ai ch an der Oktavparallele zu Anfang des Taktes 6, erwachsen Bedenken gegen die Fertigung des Liedes Nr. II, die im ganzen gesehen noch nicht zu Ende gediehen scheint. Das Ringen der Elemente — „die Glut umschlingt das höchste Land, im Meere ringt die ferne Nacht" — wird im ganztönigen, von chromatischen Zwischenstufen jedoch durchsetzten Durchführungsabschnitt in Kanontechnik Klang. Ihn fassen die zwei übermäßigen Dreiklänge auf die Textworte „Glut" und „(der Flut entspringt) ein Sternchen" ein. Auch in diesem Abschnitt, obwohl offensichtlich intendiert, befremden beiläufig auftretende Drei- und Vierklänge in Terzenaufbau (Takt 12, 13 und 14); sie wären in den meisten Fällen leicht zu vermeiden gewesen, wenn die Melodie (r. H.) konsequent ausgeterzt worden wäre, wozu überall Ansätze zu erkennen sind. Aber Webern gedachte ohne Zweifel, zum Ende zu vermitteln. Eigentümlich ist der Schluß des Liedes (Coda) komponiert, wie ein Heimkehren, das keine Heimat mehr hat. Die Klänge: as-c-e und g-h-es sparen a-cis-f und b-d-fis aus; sie könnten als cis-f-a und d-fis-b wie Dominante und Tonika zueinander stehen. Zum Text „deine Seele trinkt das ewige Licht" scheiden die Stimmen (Singst., r. H., 1. H.) voneinander im gleichen Geist, aber jede für sich. Das Gehörige der Schlußkadenz nach konventioneller Art erstattet, lautete das Ende derart (vgl. Notenbeispiel 11,2). In der Verschweigung der Kadenz — während die Stimmen einzeln im phrygischen Modus verklingen — transzendiert Tonalität. Darüber ging die Form in Brüche.

Exkurs: Kommentar zur Analyse des Liedes Am Ufer, komponiert von Richard STRAUSS (1899): Straussens Vertonung des Dehmeischen Gedichtes Am Ufer steht in ungetrübtem FisDur. In dem Tonarten-System, das das Achsenkreuz für des Komponisten erinnernde Phantasie bildet, liegt Fis-Dur in dem Bereich von „Verzauberung", dem Augenblick der Entrückung, auch der Ekstase, von dem aus es der „Rückkehr in die Wirklichkeit" stets noch bedarf (SCHUH 1964, S. 24). Straussens Lied ist wohlproportioniert dreiteilig mit einem Teil A als erweiterter Kadenz, einem modulierenden Teil B und einer variierten Wiederholung von A (= A'), gleichfalls einer erweiterten Kadenz.

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A hat eine Rückung in die Untermediant-Region D-Dur, die tonsymbolisch ausdrückt: in „hellen Abgrund sinkt (der Tag)". A' kadenziert über eine Zwischendominante zur 9 7 Subdominante, die in der doppelt alterierten Form: 3>

gleichklingt mit a-moll (mit Septe). Der a-moll-Akkord wiederum wird kontrastiert von Dis-Dur als Zwischendominante zur Subdominantparallele gis-moll; diese zu gis-moll gehörige Zwischendominante — ein verminderter Septakkord — ist tritonusverwandt mit a-moll und damit Mittel zur Darstellung einer „mystischen" Akkordbeziehung innerhalb einer strikten Funktionalität der Klänge; sie ist außerdem noch mit H zu einer Doppelfunktion vereint. Die Komplexion im Textwort ,,Seele" bedarf weiter keiner Erörterung; man hört und begreift die Musik an dieser Stelle als Schnittpunkt vielfältiger Beziehungslinien im funktionsharmonischen Klangraum. B steht nach einem Terminus Straussens in „schwankender" Tonalität (vgl. GERLACH 1966, S. 284). Die Außenstimmen des Klaviersatzes verlaufen in Gegenbewegung: fis Cis

-

g C

— -

gis 'H

— -

(ais=)b 'B



h 'A

— -

(his) 'Gis

Die Akkorde sind in die Rahmenintervalle nach dem Prinzip des möglichst farbigen Kontrastes eingepaßt. Visionär heben sich die Textworte „(das höchste) Land" über dem Quartsextakkord E-Dur heraus. Im „schwankenden" tonalen Gleichgewicht gibt Strauss einen Eindruck vom Ringen der Elemente miteinander, geht aber mit Stimmführung strebsam auf das Da capo zu, ohne auch nur einen Augenblick die Gesamtform aufs Spiel zu setzen. Solche Zielstrebigkeit drückt sich durch zwei Mittel aus, durch Klangfarbe und Motivik. Die einzige motivische Tonfigur ist eine auftaktige Sechzehntel-Sextole mit anschließender Achtel-Triole, in der der Fis-Dur-Akkord arpeggiert und mit None und Sext versehen ist. Sie dient zur Illustration von: „dein Blut (erklingt)" in Teil A und, mit oktavversetzter Wiederholung in hoher Lage, zur Symbolisierung des Sprunges: „der Flut entspringt (ein Sternchen)" in Teil A', wobei im Rhythmus eines punktierten Achtels drei Töne lang Klavier und Singst, unisono gehen („ent-springt ein . . ."). In Bezug auf Klangfarbe gibt es von A nach A' einen Fortgang von tiefer hin zu hoher Lage im Klavier; er gleicht dem Schema des „per aspera ad astra". Im übrigen ist der Zustand des Klavierparts ein derartiger, nur vergleichbar dem einer nicht über die Skizzierung hinaus gediehenen Vorform des Liedes. Ausgeformt als frei schweifende Guirlande und damit reizvoll erscheint der Singstimmenpart. Er durchmißt den Umfang ais-fis" in meist weiten Intervallen. Das Stimm-Material und die Tonbildung des Sängers sind sicher von entscheidender Wichtigkeit für die Wirkung eines Liedes, das einen Sensualismus verrät, dem mystisches Klangerlebnis vertraut ist, aber oberflächlicher Schein stets unwiderstehliche Versuchung bedeutet hat. Richard Dehmel, der sich Richard Strauss gegenüber „in technologischer Hinsicht einen unmusikalischen Böotier" genannt hat und auf eine Sendung mit Liedern — STRAUSS opus 41 — antworten mußte, er stehe da „wie weiland Buridans Esel, aber ich werde schon dahinterkommen", ist für die Komposition von Am Ufer besonders dankbar

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gewesen: „Das [Gedicht] ist mir eins meiner liebsten", schrieb er Strauss, freilich noch ohne das Lied gehört zu haben. An anderer Stelle behauptete der Dichter von sich: „Ich kenne nämlich einigermaßen Ihre Musik." Daher konnte Dehmel gegen einige der Strauss-Vertonungen trotz eingestandener Unzulänglichkeit durchaus Kritik anmelden; die Musik zu Befreit fand er „etwas zu weich für das Gedicht", und ACT Arbeitsmann war ihm durch den Komponisten „nicht einfach genug aufgefaßt; zu convulsivisch" (vgl. NZZ-uh = SCHUH 1964a). Aus dem Briefwechsel Schönberg-Dehmel weiß man aber, daß Dehmel, wenn ihn eine Musik wirklich traf wie das „wundervolle" Streichsextett op. 4 nach seinem Gedicht Verklärte Nacht, sich „bald . . . vergaß". Hier vermochte er nicht, wie er sich „vorgen o m m e n " hatte, „die Motive meines Textes in Ihrer Composition zu verfolgen;" —: „ich wurde so von der Musik bezaubert" (BIRKE 1958, S. 281). Weberns Lieder zu hören, kann Dehmel nie Gelegenheit gehabt haben; es ist auch nicht eine öffentliche Aufführung nur eines der fünf Dehmel-Lieder nachweisbar.

Zu Lied II II, I

[2. I v a a i B . r i i B

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Kommentar zur Analyse des Dehmel-Liedes Nr. III: a) Zur Harmonik Die Tonart des Liedes könnte ebenso gut e/E wie Es sein; beide Tonarten sind im Liede nur umschrieben; jene erscheint, anfangs aus Es entwickelt, wie eine Art Lösung aus Verwicklungen, aber kaum merklich angedeutet, diese am Schluß - wenn sie auch das

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Lied eröffnet hat — ganz unbefestigt, so daß sie willkürliche Setzung oder zufälliges Ereignis dünkt. Das erweist vollkommen der Vergleich des Liedanfangs mit dem augmentierten Schluß (vgl. Notenbeispiel 111,1). Die Austauschbarkeit der Tonika Es mit E gründet wiederum in der Mehrdeutigkeit des übermäßigen Dreiklangs, hier des Akkordes:

es

-

e

g

b i h

-

(gis)

mit „ambivalenten" Terzen. Hinter solch tonaler Ambivalenz verbirgt sich aber nichts anderes, als daß der Liedsatz ohne Einschränkung volle Chromatik entfaltet, wie sie aus der Kombination der Es-Dur- und E-Dur-moll-Leiter resultiert (vgl. Notenbeispiel 111,2). Daß beide Leitern gleichzeitig die Harmonik des Liedes mit ihren Stufen bestimmen, sei im folgenden nachgewiesen. Auf dem „äußeren" Höhepunkt, dem auch dynamischen Gipfel des Liedes, erklingt nach ausgedehnter Steigerung zu den übermäßigen Dreiklängen: d I b I fis

und

es I h I g

das Motiv: f — e — gis — a — fis — es als Komplement (und zwar sofort im doppelten Kontrapunkt, wobei r. H. und 1. H. tauschen). Dieser Stelle (Takt 31, Beginn der Reprise, ff, „sehr breit") entspricht der „innere" Höhepunkt, der durch stetige Zurücknahme vom „ f o r t e " über „sehr zurückhaltend" bis zum p p p der Singstimme (bei p p des Klaviers) als der Moment größter Verhaltenheit (Takt 42) erreicht wird. Voraus geht bei „sehr langsamem" Tempo eine Kette von fünf übermäßigen Dreiklängen (vom letzten Viertel des Taktes 39 an), die ein zwölftöniges Feld (= umrandet) bildet:

— —

f I eis I a

und damit auch die variierte Umkehrung des Motivs von Takt 3 1 : f — fis — d — (b — g — e) — es enthält. Durch Selektion sind im Augenblick der intensivsten Ruhe von den insgesamt sechs Tönen der beiden übermäßigen Dreiklänge fis-b-d und g-h-es lediglich noch es — fis im Zusammenklang übrig.

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Sie bilden Exponenten von:

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und

A

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