Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts / Simon Dubnow Institute Yearbook XIII/2014 9783666369438, 9783525369432, 9783647369433

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Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts / Simon Dubnow Institute Yearbook XIII/2014
 9783666369438, 9783525369432, 9783647369433

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JAHRBUCH DES SIMON-DUBNOW-INSTITUTS (JBDI) SIMON DUBNOW INSTITUTE YEARBOOK (DIYB) 2014

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369432 — ISBN E-Book: 9783647369433

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Herausgeber Editor

Dan Diner Redaktion Manuscript Editor Petra Klara Gamke-Breitschopf

Redaktionsbeirat Editorial Advisory Board Aleida Assmann, Konstanz · Jacob Barnai, Haifa · Israel Bartal, Jerusalem · Omer Bartov, Providence · Esther Benbassa, Paris · Dominique Bourel, Paris · Michael Brenner, München · Matti Bunzl, Urbana-Champaign · Lois Dubin, Northampton, Mass. · Todd Endelman, Ann Arbor · David Engel, New York · Shmuel Fei­ ner, Ramat Gan · Norbert Frei, Jena · Sander L. Gilman, Atlanta · Frank Golczewski, Hamburg · Michael Graetz, Heidelberg · Raphael Gross, London/Frankfurt a. M. · Heiko Haumann, Basel · Susannah Heschel, Hanover, N. H. · Yosef Kaplan, Jerusalem · Cilly Kugelmann, Berlin · Mark Levene, Southampton · Leonid Luks, Eichstätt · Ezra Mendelsohn, Jerusalem · Paul Mendes-Flohr, Jerusalem/Chicago · Gabriel Motzkin, Jerusalem · David N. Myers, Los Angeles · Jacques Picard, Basel · Gertrud Pickhan, Berlin · Anthony Polonsky, Waltham, Mass. · Renée Poznanski, Beer Sheva · Peter Pulzer, Oxford · Monika Richarz, Berlin · Manfred Ruders­ dorf, Leipzig · Rachel Salamander, München · Winfried Schulze, München · Hannes Siegrist, Leipzig · Gerald Stourzh, Wien · Stefan Troebst, Leipzig · Feliks Tych, Warschau · Yfaat Weiss, Jerusalem · Monika Wohlrab-Sahr, Leipzig · Moshe Zimmermann, Jerusalem · Steven J. Zipperstein, Stanford

Gastherausgeber der Schwerpunkte Guest Editors of the Special Issues Natasha Gordinsky Carolin Kosuch

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JAHRBUCH DES SIMON-DUBNOW-INSTITUTS SIMON DUBNOW INSTITUTE YEARBOOK

XIII 2014

Vandenhoeck & Ruprecht

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Redaktionsanschrift: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook Simon-Dubnow-Institut für jüdische Geschichte und Kultur an der Universität Leipzig, Goldschmidtstraße 28, 04103 Leipzig E-Mail: [email protected] www.dubnow.de Lektorat: Monika Heinker Übersetzungen: Grzegorz Dąbkowski (aus dem Polnischen ins Englische), Felix Kurz (aus dem Englischen ins Deutsche), William Templer (aus dem Deutschen ins Englische) Bestellungen und Abonnementanfragen sind zu richten an: Vandenhoeck & Ruprecht Abteilung Vertrieb Robert-Bosch-Breite 6 D-37070 Göttingen Tel. +49 551 5084-40 Fax +49 551 5084-454 E-Mail: [email protected] / [email protected] www.v-r.de Mit # Abbildungen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-36943-2 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. – Printed in Germany. Gesamtherstellung:

Hubert & Co, Göttingen

Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt Dan Diner Editorial . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Allgemeiner Teil Ruth von Bernuth, Chapel Hill, N. C. Zu Gast bei Nikolaus Selnecker: Der jüdische Konvertit Paulus von Prag in Leipzig

. . . . . . . . . .

15

Elena Keidošiūtė, Vilnius Converting to Catholicism: Jews in Lithuanian Bishoprics in the Late Russian Empire . . . . . . .

37

Christoph Schmidt, Jerusalem Die Analogie und ihr Missbrauch in der Historie – Über Albert I. Baumgartens Biografie zu Elias Bickermann . . . . . .

61

Eglė Bendikaitė, Vilnius One Man’s Struggle: The Politics of Shimshon Rosenbaum (1859–1934) . . . . . . . . . .

87

Jay Winter, New Haven, Conn. Jüdische Erinnerung und Erster Weltkrieg – Zwischen Geschichte und Gedächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Peter Tietze, Tübingen »Zeitwende«: Richard Koebner und die Historische Semantik der Moderne . . . . . 131

Schwerpunkt Der Erste Weltkrieg Natasha Gordinsky, Haifa, Carolin Kosuch, Rom Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169

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Inhalt

Reiterarmeen. Jüdische Kriegsliteraturen (1914–1918) Herausgegeben von Natasha Gordinsky Maya Barzilai, Ann Arbor, Mich. Witnessing Dying in the Tongue of Revival: Shaul Tchernikhovsky’s World War I Poetry

. . . . . . . . . . . . . 177

Eugenia Prokop-Janiec, Kraków Writing World War I: The Case of Polish-Jewish Literature . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Ilse Josepha Lazaroms, New York Borderlands – Joseph Roth’s Dystopian Imagination . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Sabine Koller, Regensburg Jiddische Literatur im Krieg: Moyshe Kulbak und Yisroel Rabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 Glenda Abramson, Oxford The Return of the Soldier: S. Y. Agnon’s Novels of the First World War

. . . . . . . . . . . . . 263

»Die letzten Tage der Menschheit.« Schriften aus dem Großen Krieg Herausgegeben von Carolin Kosuch Sigurd Paul Scheichl, Innsbruck Karl Kraus’ Weltgericht – Eine Bilanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Andreas Stuhlmann, Edmonton, AB Vom »Schlafwandler« zum Kriegsgegner: Die Wandlungen des Maximilian Harden . . . . . . . . . . . . . . . 309 Judith Große, Zürich Patriotismus und Kosmopolitismus: Magnus Hirschfeld und der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . 337 Daniel Münzner, Berlin A Twisted Road to Pacifism: Kurt Hiller and the First World War . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365

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SDI_2014_00_Inhalt / Seite 7 / 11.11.2014

Inhalt

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Elke-Vera Kotowski, Potsdam Den Ersten Weltkrieg denken: Theodor Lessings »Philosophie der Not« . . . . . . . . . . . . . . . 389 Lisa Marie Anderson, New York “Sehenden Auges und mitfühlenden Herzens:” Ernst Toller’s Witness to the First World War . . . . . . . . . . . . . 411

Gelehrtenporträt Magnus Klaue, Leipzig Mit doppeltem Blick: Max Horkheimers bürgerliche Gelehrsamkeit und wissenschaftliches Unternehmertum . . . . . . . . . . . . . . . . . 437

Dubnowiana Grit Jilek, Berlin Jenseits von Territorium – Jüdische Nation und Diaspora bei Simon Dubnow . . . . . . . . . . . 463

Aus der Forschung Felix Pankonin, Leipzig Profil einer Renegatin: Ruth Fischers exemplarische Biografie . . . . . . . . . . . . . . . . 491

Literaturbericht David Kowalski, Leipzig Polnische Politik und jüdische Zugehörigkeit: Die frühe Oppositionsbewegung und das Jahr 1968 . . . . . . . . . . 525 Abstracts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 549 Contributors . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 559

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SDI_2014_00_Inhalt / Seite 8 / 11.11.2014

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369432 — ISBN E-Book: 9783647369433

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Editorial

Das Zentenarium des Ersten Weltkriegs bestimmt in diesem Jahr das Publi­ kumsinteresse an historischen Themen. Dabei ist eine aufschlussreiche Ver­ schiebung der Perspektive zu beobachten: weg von der Schuldfrage, die vor­ nehmlich die frühe Historiografie zur Julikrise bestimmt hat, hin zu weit­ gefächerten Fragen der Kriegsverursachung. Hierdurch verändert sich auch eine traditionell deutschzentrische Sichtweise auf die Auslösung der »Ur­ katastrophe« des 20. Jahrhunderts mit der Folge, dass sich der Erste Welt­ krieg aus den Kautelen der Deutung des Zweiten Weltkriegs herauszulösen beginnt. Für die jüdische Geschichtsschreibung ist diese Entwicklung nicht unbedingt neu, vor allem weil sich die jüdische Wahrnehmung der Erfah­ rungslage während des Großen Krieges verglichen mit der während des Zweiten Weltkriegs geradezu umgekehrt ausnahm. Dies gilt in erster Linie für die östliche Front, an der die jüdische Zivilbevölkerung massiv unter der gegen sie gerichteten martialischen Militärpraxis des kaiserlichen russischen Heeres litt, Deutschland und Österreich indes als ihnen gegenüber eher wohlwollend eingestellte Mächte erlebte. Zudem empfanden Juden das Bündnis zwischen dem liberalen England und dem despotischen Russland als schlechthin widernatürlich – eine Konstellation, die die jüdische Erfah­ rung im 19. Jahrhundert gleichsam auf den Kopf stellte. Beide Teile des im Zentrum dieses Jahrbuchs stehenden Schwerpunktes Der Erste Weltkrieg befassen sich mit sogenannten »weichen« Fragen jenes katastrophischen Großereignisses – der erste Teil unter dem an Isaak Babels Erzählband angelehnten ikonischen Titel Reiterarmeen, betreut und heraus­ gegeben von Natasha Gordinsky (Haifa), mit literarischen Bewältigungen der Ereignisse an der östlichen Front, der zweite unter dem Titel »Die letzten Tage der Menschheit«, betreut und herausgegeben von Carolin Kosuch (Rom), mit den sich damals als neues Genre herausbildenden Kriegsschrif­ ten insbesondere deutscher und deutschsprachiger Autoren und Publizisten. Die Herausgeberinnen des Schwerpunkts stellen die von ihnen verantworte­ ten Teile in einer eigenen Einleitung vor. Der Allgemeine Teil steht im Zeichen der Geistesgeschichte, wobei die Konversionsforschung mit zwei Beiträgen vertreten ist. Ruth von Bernuth (Chapel Hill, N. C.) widmet sich in ihrem Beitrag der intellektuellen Begeg­ nung zwischen einem Vertreter des protestantischen Antijudaismus in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Nikolaus Selnecker) und einem jüdi­ schen Konvertiten (Paulus von Prag). Herkunft und Bildungsprofil der Prota­ gonisten werden hier in diskurstheoretischer Absicht miteinander verzahnt. Elena Keidošiūtė (Vilnius) fokussiert in ihrer Untersuchung keine individuel­ JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 9–11.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369432 — ISBN E-Book: 9783647369433

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Dan Diner

len Schicksale, sondern hat einen sozialhistorischen Trend im Auge, nämlich den Umstand, dass in der späten imperialen Zeit des russischen Zarentums interessanterweise der Katholizismus für jüdische Konvertiten eine Alterna­ tive zur Orthodoxie darstellte, was mit Tendenzen kultureller Polonisierung in Verbindung stand. Freilich nimmt die Autorin die litauischen Bistümer in den Blick. Christoph Schmidt (Jerusalem) diskutiert Albert I. Baumgartens Biografie des bedeutenden Erforschers des hellenistischen Judentums Elias Bickermann. Dabei geht es Schmidt im Wesentlichen um das Thema der his­ torischen Analogie, eine Wendung, die ihn zu Fragen jüdischer politischer Theologie führt, wie sie unter bedeutenden jüdischen Gelehrten in der Zwi­ schenkriegszeit diskutiert wurden. In ebendieser Zeit, im Grunde bereits in der Emigration, hat der Beitrag von Peter Tietze (Tübingen) seinen Ort. Hier wird mit dem großen Historiker der Begriffe und der historischen Semantik Richard Koebner der Vorläufer von Reinhart Koselleck präsentiert – der Beginn einer Forschung, auf die in Fachkreisen schon lange gewartet wird. Für den Autor zentral ist der Begriff der »Zeitwende« als historische Erfah­ rungskategorie, die nicht zuletzt für Koebner biografisch wie professionell von existenzieller Bedeutung war. Eglė Bendikaitė (Vilnius) stellt Leben und Werk des aus Litauen stammenden, 1924 nach Palästina emigrierten Rechts­ anwalts Shimshon Rosenbaum (1859–1934) vor, der zu einem international anerkannten Fürsprecher der zionistischen Bewegung avancierte. Ausgehend von seiner 1932 veröffentlichten Abhandlung über den Souveränitätsbegriff führt der Beitrag zu zentralen Fragen jüdischer Diplomatie in der ersten Jahrhunderthälfte. Im Allgemeinen Teil des Jahrbuchs findet sich zudem die ausgearbeitete Fassung der Jahresvorlesung 2013 des Simon-DubnowInstituts. Jay Winter (New Haven, Conn.) als herausragender Kulturhistoriker des Ersten Weltkriegs setzt die damalige Geschichtserfahrung der verschie­ denen Judenheiten zueinander in Beziehung, um aufzuzeigen, welche Bedeu­ tung jene Umwälzungen und die damit einhergehende Gewalterfahrung für die Juden einnahmen. Er konzentriert sich in seiner Analyse auf die Ereig­ nisse an der östlichen Front, auf das jüdische Ansiedlungsgebiet, um davon ausgehend ein weites Panorama des Ersten Weltkriegs im jüdischen Bewusst­ sein zu zeichnen. In der Rubrik Gelehrtenporträt skizziert Magnus Klaue (Leipzig) sein Vor­ haben einer intellektuellen Biografie Max Horkheimers. Im Mittelpunkt steht die in Horkheimers Persönlichkeit angelegte doppelte Berufung: Der gegen die bürgerlichen Verhältnisse aufbegehrende Intellektuelle betreibt sein eige­ nes Projekt nach Maßgaben bürgerlichen Unternehmertums. Dabei wird die individuelle geistige Arbeit des Gelehrten mit arbeitsteiligen Kooperations­ formen in einer Weise verbunden, die den Erfordernissen der Moderne ebenso wie ihrer kritischen Durchdringung standzuhalten vermag. Grit Jilek (Berlin) entwickelt in der Rubrik Dubnowiana ein Profil des Politikers Simon Dub­

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Editorial

now. Sie folgt Dubnows Konzept der diasporischen Lebensweise des jüdi­ schen Volkes von der Idee des Autonomismus über die Stufen seiner weiteren Ausprägung und Umsetzung – vom Komitee der Nationalisierung über die Etablierung der Jüdischen Folkspartej und den Züricher Rat zum Schutz der jüdischen Minderheitenrechte bis hin zu den Anfängen des Jüdischen Welt­ kongresses Mitte der 1930er Jahre –, nicht ohne mögliche Folgerungen seines Denkens für die Gegenwart im Blick zu behalten. Die Rubrik Aus der For­ schung enthält einen Beitrag Felix Pankonins (Leipzig) über die kommunisti­ sche Aktivistin und spätere »Renegatin« Ruth Fischer. Er schildert die in Leip­ zig geborene, in Wien sozialisierte und in Berlin beruflich aktive Fischer als Persönlichkeit, deren politische Energie auch nach ihrer ambivalenten Abkehr vom Kommunismus nicht versiegte und die bis zuletzt der Idee radikaler Ver­ änderung die Treue hielt. Auch die Rubrik Literaturbericht erhebt kommunis­ tische Juden zum Gegenstand. Dort präsentiert David Kowalski (Leipzig) den Stand der Forschungsliteratur zur antijüdischen und als antizionistisch ausge­ gebenen Kampagne von 1968 gegen Juden in der polnischen kommunisti­ schen Partei. Dabei werden einzelne Stadien der Beschäftigung mit dem Thema aufgezeigt, angefangen bei der Selbstbeschreibung damaliger Aktivi­ sten über frühe Untersuchungen vornehmlich politischen Charakters bis hin zu theoretisch aggregierten Zugängen, in denen sich Fragen der ethnischen und sozialen Herkunft mit solchen des politischen Engagements verbinden. So entsteht ein dichtes Panorama, in dem die Genese der Forschung mit dem Prozess nachträglicher Bewusstwerdung ehemals Beteiligter einhergeht – Geschichte erscheint hier als ein Verfahren der Bewegung zu sich selbst. Mit diesem Jahrbuch verabschiedet sich der Herausgeber von der Leser­ schaft des führenden Periodikums des Simon-Dubnow-Instituts. Von dessen Begründung an sind dreizehn Jahrgänge von ihm betreut worden. Dies wäre ohne das akademische und intellektuelle Umfeld des Dubnow-Instituts nicht möglich gewesen, ebenso wie die Herausgeberschaft als solche sich immer auch als ein kollektives Unternehmen verstanden hat. So gilt der besondere Dank den leitenden Redakteuren, Lektoren und redaktionellen Mitarbeitern – für die Ausgabe im Jahr 2014 namentlich Petra Klara Gamke-Breitschopf, Monika Heinker, André Zimmermann, Ludwig Decke und Theresa Eisele –, die in akribischer Weise Manuskripte in druckfertige Artikel verwandelten. Auch dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht sei für die jahrelange Zusam­ menarbeit gedankt und gleichzeitig der Wunsch ausgesprochen, dass dem Jahrbuch noch viele weitere Ausgaben beschert sein mögen, in denen sich die Erkenntnisse zur jüdischen Geschichte niederschlagen, unabhängig da­ von, ob es sich um Forschungen aus dem Institut handelt oder um solche, die in dessen Geist von außerhalb an das Haus herangetragen werden. Dan Diner

Leipzig/Jerusalem, Herbst 2014

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369432 — ISBN E-Book: 9783647369433

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SDI_2014_02 / Seite 13 / 11.11.2014

Allgemeiner Teil

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SDI_2014_02 / Seite 14 / 11.11.2014

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369432 — ISBN E-Book: 9783647369433

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Ruth von Bernuth

Zu Gast bei Nikolaus Selnecker: Der jüdische Konvertit Paulus von Prag in Leipzig Im Vorwort seiner 1577 gedruckten Edition von Martin Luthers »Juden­ schriften« erzählt der Leipziger Theologieprofessor und Superintendent der Thomaskirche, Nikolaus Selnecker, folgende Geschichte:1 »Zu Magdeburg ist vor etlichen Jaren ein Jüd am Sonnabend / welchs der Jüden Sabbat ist / in ein Cloack gefallen. Da sind die andern Jüden / so abergleubisch vnd auff jre Gesetze so halstarrig gewesen / das sie auch die natürliche liebe hindan gesetzt / vnnd schlechts die weltlichen Obrigkeit vnter den Christen gebeten / das die Christen wolten den armen Schelm / der ins Gemach gefallen / herausziehen / damit er beim leben bliebe. Denn jnen wolte nicht gebüren / das sie auff jrem Sabbat hand anlegen vnd arbeiten solten. Darauff hat die Obrigkeit des orts recht geantwortet / das jre Leute den Sabbat der Jüden nicht solten verhindern / noch einigen eingriff thun. Möchte derwegen der Jüd den Sabbattag im gemach gedult haben. Da nu des andern tags die Jüden jren Gesellen wollen retten / spricht der Richter zu jnen. Gestern ist ewer Sabbat gewest / nu aber ist heute vnser Sabbat. Darumb lassen wir euch heute nicht nach / das jr vnsern Sabbattag brechen oder verhindern wollet. Hat also der arme Jüd bis auff Montag im schlamm sitzen müssen / bis jhn die andern Jüden am dritten tag erlediget haben.«2

Die Anekdote war in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Literatur weit verbreitet, wurde aber sehr unterschiedlich ausgelegt. Johannes Pauli nimmt sie in seiner weitverbreiteten Schwanksammlung Schimpf und Ernst (1522) auf und interpretiert sie als eine Kritik am Christentum, denn es sei »den christen ein schand, das di iuden ir gesatz basz halten, dan di christen ir gesatz«, denn wenn die Christen am Sonntag spielten, soffen und »den hûren« nachliefen, verärgerten sie »die iuden vnd heiden«, die sich so nicht mehr bekehren ließen.3 Selnecker aber, der die Geschichte aus deutschen Schwank­

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Vorüberlegungen zu diesem Aufsatz konnte ich auf der Tagung »Jüdische Migration und Mobilität in der Frühen Neuzeit« des Interdisziplinären Forums »Jüdische Geschichte in der Frühen Neuzeit und im Übergang zur Moderne« in Düsseldorf im Januar 2008 vor­ stellen. Rotraud Ries danke ich für die Einladung, Anke Költsch, Yaakov Ariel und Michael Terry für anregende Gespräche. Nikolaus Selnecker, Vorrede, in: Martin Luther, Von den Jüden vnd jren lügen. Vom Schem Hamphoras der Jüden / vnd vom Geschlecht Christi. Wider die Sabbather / vnd der Jüden Lügen vnd betrug, hg. von Nikolaus Selnecker, Leipzig 1577, o. S. Johannes Pauli, Schimpf vnd ernst heiset das buch mit namen durchlaufft es der welt handlung mit ernstlichen vnd kurtzweiligen exempeln, parabolen vnd hystorien nützlich vnd guot zuo besserung der Menschen, Straßburg 1522, 76r, Nr. CCCLXXXIX. Moritz Güdemann verwendet diesen Schwank zusammen mit Sebastian Brants Narrenschiff JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 15–36.

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Ruth von Bernuth

sammlungen oder vielleicht durch seinen Lehrer Philipp Melanchthon ken­ nengelernt hatte, schrieb sie als eine antijüdische Legende nieder, die seiner Meinung nach belegt, wie abergläubisch und »halsstarrig« Juden seien, auch wenn die Christen sich im Laufe der Erzählung nicht anders benehmen.4 Diese Auslegung steht symptomatisch für Selneckers ablehnende Haltung gegenüber den Juden, die nicht nur an diesem Vorwort, sondern auch an anderen Publikationen und Stellungnahmen deutlich ablesbar ist. Zur gleichen Zeit aber, während Selnecker dieses Vorwort schrieb und zum Druck bei Jakob Bärwalds Erben vorbereitete, hielt sich in seinem Haus der jüdische Konvertit Paulus von Prag auf. Dieser teilt in einem mit hebräi­ schen Buchstaben geschriebenen Brief mit, er sei »izundér zu Leipzik bai dem herrn Niklos Sel nekér zu er vragn« (jetzt in Leipzig bei Herrn Nikolaus Selnecker zu erfragen).5 Aus dem Brief und anderen Schriften geht hervor,

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(1494) in seiner Geschichte des Erziehungswesens (1880–1888) als ein Zeugnis, das »die Sabbathe und Feiertage von den Juden jener Zeit ernst und streng gehalten«. Siehe ders., Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden während des Mittelalters und der neueren Zeit, 3 Bde., Wien 1880–1888, hier Bd. 3: Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der Juden in Deutschland während des XIV. und XV. Jahrhunderts, Wien 1888, 140. Verschiedene hebräische und lateinische Versionen diskutiert Güdemann in seinem Addendum Ueber die angebliche Affaire des Juden Salomo zu Magdeburg i. J. 1266 (67), in: ders., Zur Geschichte der Juden in Magdeburg. Grösstentheils nach Urkunden des Magdeburger Kgl. Provinzial-Archivs bearbeitet, Bres­ lau 1866, 29–34. Güdemanns frühester Beleg ist die Magdeburger Schöppenchronik (1360–1372), die diese Geschichte in das Jahr 1267 verlegt, wobei hier der Magdeburger Erzbischof derjenige ist, der das Urteil fällt, dass die Juden auch noch den Sonntag abwar­ ten müssen. Das Urteil wird auch in den Mund des Papstes gelegt. Siehe dazu Emek haba­ cha von Rabbi Joseph ha Cohen, aus dem Hebräischen ins Deutsche übertragen, mit einem Vorworte, Noten und Registern versehen und mit hebräischen handschriftlichen Beilagen bereichert von Meir Wiener, Leipzig 1858, 44 f. Selnecker, Vorrede, o. S. Für die Version im Wendunmuth (1563–1603) siehe auch Hans Wilhelm Kirchhof, Wendunmuth, 5 Bde., Tübingen/Stuttgart 1869, hg. von Hermann Österley, hier Bd. 1, Stuttgart/Tübingen 1869, 483. Für Philipp Melanchthon ist sie nur in der Sammlung von Aussprüchen belegt, die Johannes Manlius angelegt hat. Siehe hierzu ders., Locorum communium collectanea, 3 Bde., Basel 1563, hier Bd. 2, o. O. u. J. [Basel 1563], 40. Hier findet die Begebenheit zu Zeiten des Erzbischofs Ernst von Sachsen (1464–1513) statt. Siehe Johann Jakob Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten. Vorstellende was sich curieuses und denckwürdiges in den neuern Zeiten bey einigen Jahrhunderten mit denen in alle IV. Theile der Welt, sonderlich durch Teutschland, zerstreuten Juden zugetragen, 4 Bde., hier Bd. 2: So vor Augen leget eine vollständige Franckfurter JudenChronik, worinnen der zu Franckfurt am Mann wohnenden Juden von einigen Jahrhunder­ ten biß auff unsere Zeiten merckwürdigste Begebenheiten enthalten, Frankfurt a. M./Leip­ zig 1714, 264; Güdemann, Ueber die angebliche Affaire des Juden Salomo zu Magde­ burg, 30. Forschungsbibliothek Gotha (nachfolgend FB Gotha), Chart. A 127, Bl. 36r. Die kursiv gedruckte Transkription richtet sich nach dem von Wulf-Otto Dreeßen entwickelten und von Walter Röll und Erika Timm erweiterten System. Vgl. Erika Timm, Graphische und phonische Struktur des Westjiddischen unter besonderer Berücksichtigung der Zeit um

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Zu Gast bei Nikolaus Selnecker

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dass Selnecker seinen Gast während dessen Aufenthalts in der Universitäts­ stadt auch anderweitig unterstützte, indem er beispielsweise ein Vorwort zur dritten Auflage von Paulus’ Sammelausgabe apologetischer Schriften ver­ fasste, die auch 1577 in Leipzig und ebenfalls bei Jakob Bärwalds Erben gedruckt wurde.6 Das Zusammentreffen des protestantischen Theologen, der zu dieser Zeit eine wichtige Rolle bei dem Versuch spielte, eine gemeinsame Lehr- und Glaubensgrundlage der lutherischen Kirchen zu erstellen, mit dem jüdischen Konvertiten war nicht zufällig. Vielmehr gab es zwischen beiden biografi­ sche und berufliche Überschneidungen. Beide waren Teil eines protestanti­ schen Netzwerks, das bei Selnecker in seinen kirchlichen und akademischen Leitungsfunktionen in Sachsen, Kursachsen und Braunschweig-Wolfenbüt­ tel nicht überrascht, bei Paulus von Prag jedoch erst rekonstruiert werden muss, da über ihn nur verstreut Informationen vorliegen. Innerhalb der gro­ ßen Gruppe von jüdischen Konvertiten, die sich in der Frühen Neuzeit aus den verschiedensten Gründen taufen ließen,7 gehörte er zu denjenigen, die ihre Konversion zum Anlass nahmen, um – oft mit christlicher Mithilfe – über sie zu publizieren und sich damit beruflich zu profilieren.8 Konvertiten wie Johannes Pfefferkorn, Victor von Carben und Anthonius Margaritha ver­ öffentlichten Schriften, die ihr Wissen aus ihrer jüdischen Erziehung und ihre Hebräischkenntnisse gebrauchten, um dabei »Geheimnisse« ihres vormali­ gen Glaubens in einer oft antijüdischen polemischen Form zu vermitteln.9

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1600, Tübingen 1987. Die mit einem Akut gekennzeichneten Vokale sind im Jiddischen nicht ausgeschrieben. Einige Besonderheiten, die Paulus von Prag wiederholt gebraucht, wie zum Beispiel doppelte Konsonanten, gebe ich hier auch als solche wieder. Die zwei vorherigen Auflagen erschienen ebenfalls in Leipzig bei dem bekannten Drucker Johannes Rhambau. Zu Letzterem siehe Christoph Reske, Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf der Grundlage des gleichnamigen Wer­ kes von Josef Benzing, Wiesbaden 2007, 522. Zu den verschiedenen Beweggründen sich taufen zu lassen, siehe etwa Stefan Litt, Juden in Thüringen in der frühen Neuzeit (1520–1650), Köln/Weimar/Wien 2003, 198–208. Zu Konversionen von Juden in der Frühen Neuzeit siehe Elisheva Carlebach, Divided Souls. Converts from Judaism in Germany, 1500–1750, New Haven, Conn., 2001; Martin Friedrich, Zwischen Abwehr und Bekehrung. Die Stellung der deutschen evangelischen Theologie zum Judentum im 17. Jahrhundert, Tübingen 1988; Gesine Carl, Zwischen zwei Welten? Übertritte von Juden zum Christentum im Spiegel von Konversionserzäh­ lungen des 17. und 18. Jahrhunderts, Hannover 2007. Glaubenswechsel waren innerhalb des europäischen Christentums in der Frühen Neuzeit ein häufiges Phänomen, siehe dazu Jörg Deventer, Konversionen zwischen den christlichen Konfessionen im frühneuzeitli­ chen Europa, in: Marlene Kurz/Thomas Winkelbauer (Hgg.), Glaubenswechsel. Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 7 (2007), 8–24. Siehe hierzu Martin Przybilski, Leben auf der Grenze. Die mentale Landkarte des jüdi­ schen Konvertiten in der Literatur des europäischen Hoch- und Spätmittelalters, in: Ulrich Knefelkamp/Kristian Bosselmann-Cyran (Hgg.), Grenze und Grenzüberschreitung im Mittelalter, Berlin 2007, 188–199; Maria Diemling, Antonius Margaritha on the “Whole

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Diese getauften Juden bilden eine Gruppe für sich, denn für ihre berufliche Tätigkeit spielt sowohl ihre jüdische Herkunft wie auch ihre Zugehörigkeit zum Christentum eine wichtige Rolle. Ihre Texte werden stets autobiogra­ fisch legitimiert und befassen sich inhaltlich mit ihrem Glaubenswechsel sowie ihrer Herkunftsreligion. Obwohl sie über das Judentum publizieren, steht ihre Konversion dem christlichen Modell folgend als Trennwand zwi­ schen ihrem früheren und ihrem jetzigen Selbst.10 Diese »professionellen Konvertiten«, die in der Frühen Neuzeit vom Judentum zum Christentum übertraten, führten somit ein Leben im Grenzraum. Sie bewegten sich zwi­ schen den kulturellen Sphären und leisteten eine »kulturelle Übersetzung«,11 auch wenn diese oft aus einseitigen und abwertenden Beschreibungen der jüdischen Religion (»polemical ethnography of Judaism«12) bestand. Inwieweit Paulus von Prag diesem Modell eines professionellen Konverti­ ten entsprach und welche Rolle dabei sein Aufenthalt in Leipzig im Umfeld von Nikolaus Selnecker spielt, soll im Folgenden genauer untersucht werden.

Nikolaus Selnecker über Juden Als Nikolaus Selnecker im Herbst 1577 eine Sammlung Luthers später Schriften über die Juden herausgab, war er auf der Höhe seiner Laufbahn angekommen.13 Im Frühjahr des gleichen Jahres hatte er an der Niederschrift

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Jewish Faith.” A Sixteenth-Century Convert from Judaism and His Depiction of the Jew­ ish Religion, in: Dean P. Bell/Stephen G. Burnett (Hgg.), Jews, Judaism, and the Reforma­ tion in Sixteenth-Century Germany, Leiden 2006, 300–333; Yaacov Deutsch, Judaism in Christian Eyes. Ethnographic Descriptions of Jews and Judaism in Early Modern Europe, Oxford 2012; Jonathan Boyarin, The Unconverted Self. Jews, Indians, and the Identity of Christian Europe, Chicago, Ill., 2009. Zu verschiedenen Modellen von Konversion im Christentum und Judentum siehe Sharon Gordon, “Temura” and “Hamara”. Meanings of Conversion in Biblical and Modern Hebrew, in: Leipziger Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2003), 27–46. Siehe Walter Benjamin, Illuminationen, in: Ausgewählte Schriften, hg. von Siegfried Unseld, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1977–1988, hier Bd. 1, Frankfurt a. M. 1977, 56–69. Yaacov Deutsch, Polemical Ethnographies. Descriptions of Yom Kippur in the Writings of Christian Hebraists and Jewish Converts to Christianity in Early Modern Europe, in: Allison P. Coudert/Jeffrey S. Shoulson (Hgg.), Hebraica veritas? Christian Hebraists and the Study of Judaism in Early Modern Europe, Philadelphia, Pa., 2004, 202–233, hier 204. Deutsch modifiziert hier den von Ronnie Po-chia Hsia geprägten Begriff der »ethno­ graphic descriptions of Judaism.« Siehe dazu ders., Christian Ethnographies of Jews in Early Modern Germany, in: Raymond B. Waddington/Arthur H. Williamson (Hgg.), The Expulsion of the Jews. 1492 and after, New York 1994, 223–235. Zu Nikolaus Selnecker siehe Ernst Koch, Art. »Selnecker, Nikolaus (1530–1592)«, in: Theologische Realenzyklopädie, 36 Bde., Berlin 1977–2007, hier Bd. 31, Berlin 2000, 105–108. Siehe auch Alfred Eckert, Leben und Werk Selneckers, in: Alfred Eckert/Hel­

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der Konkordienformel mitgewirkt, einer der wichtigsten protestantischen Bekenntnisschriften, die den Versuch unternahm, eine gemeinsame Lehrund Glaubensgrundlage der lutherischen Kirchen zu erstellen.14 Sein Lebensweg war von den Auseinandersetzungen der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts geprägt, die sowohl in der reformatorischen Bewegung als auch innerhalb der lutherischen Kirche als Lehrstreitigkeiten um die Stel­ lung von Luther und Melanchthon geführt wurden. Der 1530 im fränkischen Hersbruck geborene Selnecker, der in Nürnberg aufwuchs und 1549 zum Studium nach Wittenberg ging, versuchte zeit seines Lebens verschiedene Positionen zu vereinen. Während er ein an Luther »orientiertes Profil in Christologie und Abendmahlslehre«15 entwickelte, fühlte er sich den Positio­ nen seines Lehrers Philipp Melanchthon hinsichtlich der theologischen Anthropologie, bei der Mitwirkung des menschlichen Willens an der Bekeh­ rung also, verbunden.16 Nach Leipzig kam Selnecker das erste Mal 1568, als er seine Stelle als Professor an der Universität Jena nach Unstimmigkeiten mit dem ernestini­ schen Herzog Johann Friedrich II., dem Mittleren, verlassen hatte. 1570 wurde er für zunächst zwei Jahre vom kursächsischen Dienst freigestellt und er ging als Hofprediger, Generalsuperintendent und Kirchenrat nach Braun­ schweig-Wolfenbüttel. Obgleich er dort hätte im Amt bleiben können, gab er aufgrund von Meinungsverschiedenheiten diese Stelle auf und wechselte als Generalsuperintendent nach Gandersheim. Nach kurzer Tätigkeit dort kam Selnecker im Winter 1573/74 wieder als Professor nach Leipzig, was an der Fakultät nicht unumstritten war.17 Zwei Jahre später übernahm Selne­ cker die Superintendentur und wurde damit Pfarrer an der Thomaskirche. Außerdem wurde er zum Assessor am kursächsischen Konsistorium ernannt. In den Wintersemestern 1579, 1580 und 1583 war er Dekan an der Theologi­ schen Fakultät. Da er sich weigerte, dem Edikt des Kurfürsten Christian I. Folge zu leisten, und die Calvinisten weiterhin öffentlich kritisierte und

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mut Süss/Erich Beyreuther (Hgg./Mitverf.), Nikolaus Selnecker 1530–1592, hg. im Ge­ denkjahr zum 450. Geburtstag, Hersbruck o. J. [1980], 36–61. Zur Konkordienformel und Selneckers Rolle dabei siehe Inge Mager, Die Konkordienfor­ mel im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel. Entstehungsbeitrag, Rezeption, Geltung, Göttingen 1993; Ernst Koch, Auseinandersetzungen um die Autorität von Philipp Melanchthon und Martin Luther in Kursachsen im Vorfeld der Konkordienformel von 1577, in: ders., Studien zur Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des Luthertums im 16. bis 18. Jahrhundert, hg. von Matthias Richter und Johann Anselm Steiger, Waltrop 2005, 229–265, hier 260–262. Koch, Art. »Selnecker, Nikolaus (1530–1592)«, 106. Ebd. Siehe dazu Hans-Peter Hasse, Die Lutherbiographie von Nikolaus Selnecker. Selneckers Berufung auf die Autorität Luthers im Normenstreit der Konfessionalisierung in Kursach­ sen, in: Archiv für Reformationsgeschichte 86 (1995), 91–123.

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gegen sie polemisierte, wurde er 1589 entlassen. Er verließ Leipzig im darauffolgenden Jahr.18 Nach dem frühen Tod Christians I. kehrte Selnecker schließlich noch für wenige Monate zurück – er starb 1592 in Leipzig.19 Nikolaus Selnecker war nicht nur an der Endredaktion der Konkordienfor­ mel (1577), an der Erstellung des Konkordienbuchs (1580) und an beider Anerkennung und Durchsetzung in den lutherischen Ländern beteiligt, er war außerdem ein bekannter Liederdichter und verfasste pädagogische und theologische Werke. Einige wichtige publizistische Aktivitäten galten Mar­ tin Luther, wozu auch die Edition von Werken des Reformators gehörte. Darüber hinaus verfasste Selnecker 1575 eine der ersten Luther-Biografien, die auf einem 1574 in Leipzig gehaltenen Vortrag basierte.20 Ziel dieser Pub­ likation war es, so Selnecker in der an Herzog Christian I. gerichteten Vor­ rede, die »Wohltaten Gottes« – gemeint ist hier die Reformation Martin Luthers – »nicht dem Vergessen preiszugeben«.21 Auch bei der Herausgabe von Luthers »Judenschriften« ging es Selnecker darum, diese wieder in das Bewusstsein der »Leute vnd frommen Chris­ ten«22 zu holen und zu verhindern, dass sie »heimlicher tückischer weis«23 unterdrückt werden.24 Er widmete das Vorwort dem Leipziger Verleger und Buchhändler Andreas Heil, mit dem zusammen er die Ausgabe vorbereitet hatte.25 In diese Edition aufgenommen wurden die drei Schriften Von den Jüden vnd iren Lügen (1543), Vom Schem Hamphoras vnd vom Geschlecht Christi (1543), Wider die Sabbather (1538) sowie der Brief Luthers an Josel von Rosheim vom 11. Juni 1537, in dem Luther sich dagegen aussprach, 18 Irene Dingel, Calvin im Spannungsfeld der Konsolidierung des Luthertums, in: Herman J. Selderhuis (Hg.), Calvinus clarissimus theologus. Papers of the Tenth International Con­ gress on Calvin Research, Göttingen 2012, 118–140, hier 132–135. 19 Koch, Art. »Selnecker, Nikolaus (1530–1592)«, 106. 20 Nikolaus Selnecker, Historica narratio et oratoria de D. D. Martino Luthero, postremae aetatis Elia, et initijs, causis & progressu Confeßionis Augustanae, atq[ue] Lutheri ac Phi­ lippi homonoia sancta, Leipzig 1575. Siehe dazu Hasse, Die Lutherbiographie von Niko­ laus Selnecker, 99 f. 21 Ebd., 101. 22 Selnecker, Vorrede, o. S. 23 Ebd. 24 Zu Luthers Haltung zu den Juden mit weiterführender Literatur siehe Thomas Kaufmann, Luthers »Judenschriften«. Ein Beitrag zu ihrer historischen Kontextualisierung, Tübingen 2 2013. Siehe auch ders., Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zwei­ ten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, Tübingen 2006, 141–146. 25 Hans-Peter Hasse, Zensur theologischer Bücher in Kursachsen im konfessionellen Zeital­ ter. Studien zur kursächsischen Literatur- und Religionspolitik in den Jahren 1569–1575, Leipzig 2000, 197. Auch sonst war Selnecker mit der Familie Heil eng verbunden. So hielt er etwa die Leichenpredigt für Andreas Heils Tochter. Siehe ders., Eine Christliche Leichpredigt. Bey dem Begrebnis der Erbarn vnd Tugendtsamen Jungfrawen Magdalenae, des Erbarn vnd wolgeachten Herrn Andreae Heils seligen nachgelassene Tochter, Leipzig 1589.

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Juden durch das kursächsische Territorium ziehen zu lassen.26 Hinzugefügt wurde außerdem ein zuvor schon mehrfach gedrucktes Florilegium eines anonymen Verfassers »von den erschrecklichen Gotteslesterungen / wider vnsern HErrn Christum / die Jungfraw Maria / wider alle Christen vnd welt­ liche Oberkeit / so von den Jüden teglich geübet wird«.27 Letzteres stellt eine Zusammenfassung »aus etlicher Hochgelehrter / vnd anderer Gottseliger / vnd der Hebreischen Sprach erfarner Bücher«28 dar und beschäftigt sich mit bekannten antijüdischen Topoi wie Spottnamen, die Maria und Jesus gege­ ben werden, oder der Verfluchung von christlichen Symbolen, wobei es sich auf Texte wie das Toldot Jeschu bezieht.29 Im Vorwort von Luthers »Judenschriften« zeichnet Selnecker ein erschre­ ckendes Bild, »das Deutschland / vnd Hendelstedte / noch ein grossen schrecklichen fall / stoss vnd abbruch an zeitlicher vnd ewiger wolfart wer­ den leiden müssen«,30 wenn Christen sich weiterhin mit Juden einließen, denn es sei »ja sünd vnd schand […] das noch Christen sein wollen / die sol­ chen Gotteslesterern im geringsten können hold sein / vnnd mit jnen handeln vnd wandeln / gleich als mit andern Christen«.31 Selnecker richtet seine Warnungen daher insbesondere an die »Hausuater« (Hausväter)32 in Han­ delsstädten, damit sie sich »vor den grewlichen Lesterungen der elenden Jüden«33 hüten mögen. Auch wenn er sich wünsche, dass »die Jüden from würden / weil aus jrem Stamm vnnd Blut vnser HErr vnd Heiland Jhesus Christus geboren ist«,34 sieht er für sie doch keine Rettung, da er gegen sie nicht nur den oft gebrauchten Vorwurf des Gottesmordes erhebt, sondern ihnen auch unterstellt, dass sie weiterhin über Jesus lästerten. Den Juden gleichgestellt sind in Selneckers »apokalyptischer Zeitdiag­ nose«35 auch andere, denn wenn man Juden bei sich aufnähme, so könne man gleich auch »die Türcken / vnd alle andere Feinde / ja den Teuffel vnd 26 Kaufmann, Luthers »Judenschriften«, 81 f. 27 [Anonym], Verzeichnis vnd kurtzer auszug / aus etlicher hoch gelehrter (auch vieler ande­ rer Gottseliger Männer / vnd erfarner der Hebräischen Sprache) beschreibungen von den erschrecklichen Gotteslesterungen / wider vnsern HErrn Christum / die Jungfraw Maria / wider alle Christen vnd weltliche Oberkeit / so von den Jüden teglich geübet wird, in: Martin Luther, Von den Jüden vnd jren lügen, x iijr–Cc iijr. Dieses Verzeichnis ist bereits 1560, 1562, 1565 und 1569 erschienen. 28 Ebd., x ivv. 29 Toldot Jeschu. Das jüdische Leben Jesu. Die älteste lateinische Übersetzung in den Falsi­ tates Judeorum von Thomas Ebendorfer, kritisch hg., eingeleitet, übers. und mit Anm. versehen von Brigitta Callsen, Wien/München 2003. 30 Selnecker, Vorrede, o. S. 31 Ebd. 32 Ebd. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Kaufmann, Konfession und Kultur, 143.

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sein Mutter selbs«36 dulden. Auch wenn Selnecker davon ausgeht, dass Mos­ lems wie Juden sich früher »sehr andechtig vnd abergleubisch in jhrem Geistlosen wohn«37 an Koran und Talmud gehalten haben, täten sie dies heutzutage nicht mehr, sondern würden »allein nach weltlicher Ehre / Geitz / Wucher / Gelt / Gut / Wollust / Pracht vnnd macht«38 streben. Selneckers Ablehnung und scharfe Kritik richtet sich nicht allein gegen andere Religio­ nen, sondern betrifft auch »Sacramentirer / Calvinianer / Schwermer«,39 und er polemisiert damit vor allem gegen verschiedene Strömungen in der refor­ matorischen Bewegung, insbesondere gegen Zwingli und Calvin. Schließ­ lich wendet er sich auch gegen alle anderen, die sich seiner Meinung nach maßlos verhalten und die er als »Epicurer«40 bezeichnet. In seiner Vorrede beschäftigt sich Selnecker auch mit jüdischen Konverti­ ten. Dabei bezieht er sich auf den ersten Blick auf das Vorurteil, dass diese nicht wirklich Bekehrte seien, denn ein »vngeteuffter Jüde / vnnd ein geteuffter Jüde / ist ein Bub wie der ander«,41 Selnecker fügt dem jedoch eine Definition bei, die sich anders liest. Er nimmt explizit denjenigen aus, »der aus dem Jüdenthumb zum Christlichen Glauben sich bekert hat / vnd ein Christ worden ist«.42 Unter getauften Juden versteht er dagegen alle, die meinen Christen zu sein, aber nur auf ihr eigenes Wohlergehen bedacht seien. Das kann, so Selnecker, nur zum Untergang führen: »[D]er ein Christ sein will / vnd vmb eigen nutzes willen Gottes vnd Gottes befehls ver­ gisset / sich zu den Jüden vnd andern Vngleubigen vnd Gotteslesterern gesellet / rennet vnd leuffet mit jnen zum Wucher treiben / Partit machen / vnd dergleichen vnchristli­ chen hendeln / die dem Deutschland den gar aus machen.«43

Luthers Werke werden damit in einen Kontext gestellt, in dem das Beispiel von Juden metaphorisch gebraucht wird, um Abweichungen jeder Art zu brandmarken. Fraglich ist, ob die Begegnungen mit Paulus von Prag, die in dem Zeitraum stattfanden, als Selnecker dieses Vorwort schrieb, bewirkten, dass er hier diese Unterscheidung einführt. Er hat sich jedoch verschiedentlich für ihn eingesetzt, denn er schrieb nicht nur Vorreden für zwei von Paulus’ Büchern, sondern zusammen mit Jakob Andrae setzte auch er eine Bittschrift an Kurfürsten August auf, die um finanzielle Unterstützung für den Konverti­ ten warb – die auch bewilligt wurde. Daher wird es im Folgenden darum gehen zu rekonstruieren, wie und warum Paulus von Prag nach Leipzig kam. 36 37 38 39 40 41 42 43

Selnecker, Vorrede, o. S. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

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Moses Paulus von Prag: Von Nürnberg nach Leipzig Seit dem 17. Jahrhundert finden sich unter den Namen Paulus,44 Paulus von Prag,45 Elchanon Paulus von Prag,46 Elchanan Paul,47 Elchanan Paulus,48 Paul Elchanon,49 Elhanan,50 Elchanan ben Menachem,51 Helchana ben Menahem52 oder Rabbi Elchanon Ben Menachem53 Einträge in geläufigen Enzyklopä­ dien, die von einem jüdischen Konvertiten berichten, der, so ist in einigen zu lesen, mehrfach zum christlichen Glauben übergetreten sei. Die geläufigsten Formen des Namens sind Paulus von Prag und Elchanon Paulus von Prag. Bereits Johann Christoph Wolf rätselte in seiner Bibliotheca Hebræa darü­ ber, ob Paulus von Prag und Elchanon Paulus von Prag identisch seien.54 Schwierig gestaltet sich die Darstellung auch dadurch, dass es nur eine ein­ zige eigenständige Untersuchung zu Elchanon Paulus von Prag gibt,55 eine Studie zu Paulus von Prag jedoch nicht bekannt ist. 44 Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, hg. von Johann Heinrich Zedler, 64 Bde., hier Bd. 26, Leipzig/Halle 1740, 1626. 45 Auch Paul of Prague und Paulus Pragensis. Siehe Johann Christoph Wolf, Bibliotheca Hebræa, 4 Bde., Hamburg 1715–1733, hier Bd. 3, 950, Nr. MDCCCXII, der hier zwi­ schen Elchanon Paulus und Paulus Pragensis unterscheidet. Siehe auch Isidore Singer/ Max Seligsohn, Art. »Paulus of Prague (Elhanan ben Menahem),« in: The Jewish Encyc­ lopedia. A Descriptive Record of the History, Religion, Literature, and Customs of the Jewish People from the Earliest Times to the Present Day, hg. von Isidore Singer und Cyrus Adler, 12 Bde., New York 1901–1906, hier Bd. 9, 563 f. 46 Wolf, Bibliotheca Hebræa, Bd. 3, 776–780, Nr. CCXXIV. 47 Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 26, 1627. 48 Gershom Scholem, Bibliographia Kabbalistica. Die jüdische Mystik (Gnosis, Kabbala, Sabbatianismus, Frankismus, Chassidismus) behandelnde Bücher und Aufsätze von Reuchlin bis zur Gegenwart, Berlin 1933, 119 (zuerst 1927). 49 Unter diesem Namen ist er in der Württembergischen Landesbibliothek gelistet. 50 O. A., Art. »Elhanan«, in: Encyclopaedia Judaica, 22 Bde., hg. von Michael Berenbaum und Fred Skolnik, hier Bd. 6., Detroit, Mich., 22007, 315. 51 Bibliotheca Judaica. Bibliographisches Handbuch, umfassend die Druckwerke der jüdi­ schen Literatur einschliesslich der über Juden und Judenthum veröffentlichten Schriften, hg. von Julius Fürst, 3 Bde., Leipzig 1863 (Neue Ausgabe), hier Bd. 1, 229. 52 Sabine Ahrens, Die Lehrkräfte der Universität Helmstedt (1576–1810), Helmstedt 2004, 175; Elke Niewöhner, Art. »Paulus von Prag«, in: Braunschweigisches Biographisches Lexikon, im Auftrag der Braunschweigischen Landschaft e. V. hg. von Horst-Rüdiger Jarck, 2. Bde., Braunschweig 1996 und 2006, hier Teil: 8.–18. Jahrhundert, Braunschweig 2006, 550 f. 53 Johann Friedrich Alexander de Le Roi, Die evangelische Christenheit und die Juden. Unter dem Gesichtspunkte der Mission geschichtlich betrachtet. Fotomechanischer Neu­ druck der Originalausgabe Karlsruhe 1884–1892, 3 Bde., hier Bd. 1: In der Zeit der Herr­ schaft christlicher Lebensanschauungen unter den Völkern. Von der Reformation bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Leipzig 1974, 133. 54 Wolf, Bibliotheca Hebræa, Bd. 3, 950, Nr. MDCCCXII. 55 Paul Josef Diamant, Elchanan Paulus und seine Beziehungen zu Kaiser Rudolf II., in: Archiv für jüdische Familienforschung 2 (1917/1921), H. 1–3, 17–24. Ein eigener

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Nachweisbar ist, dass in St. Sebald, einer der Hauptkirchen von Nürnberg, im Jahr 1556 die Taufe von Paulus von Prag stattfand. Der Eintrag »Paulus von Prag ein Jude Moses genandt, getaufft 30. Jenner«56 belegt, dass er einer von den vier Juden ist, die im 16. Jahrhundert in Nürnberg das Christentum angenommen haben.57 Aus welcher jüdischen Familie er stammte und ob er, wie es verschiedentlich vermutet wurde, tatsächlich aus Prag kam, ist unklar. Er selbst gibt in dem 1580 gedruckten Apostel Symbolum an, dass seine Familie »getrewe diener allezeit bey Juden und Christen im Land Fran­ cken«58 gewesen seien. Auch dieser Druck enthält wiederum eine Vorrede von Nikolaus Selnecker, der hier erklärt, dass »Paulus von Prag / ein Jud von 41. Jaren / vnd ein Christ nun die 24. Jahre«59 sei. Nimmt man die Taufe von 1556 als Anhaltspunkt, dann muss nach diesen Angaben Paulus von Prag um 1539 geboren sein und sich mit 17 Jahren taufen lassen haben. Aus den Einträgen des Kirchenbuchs von St. Sebald geht weiterhin her­ vor, dass Paulus verheiratet war. Wann allerdings die Heirat mit seiner Frau Anna stattfand, ist nicht verzeichnet, wohl aber die Taufen von drei Kindern. So wurde eine Tochter Clara am 22. Mai 1564 getauft,60 ein Sohn Johannes am 28. August 157461 und ein Sohn Ottho am 19. Juli 1576.62 Weitere Taufen oder Beerdigungen sind nicht nachweisbar, auch wenn davon ausgegangen werden kann, dass das Paar mehr Kinder hatte.63 Auf seine eigene Taufe nimmt Paulus von Prag in den zwei Werken, die unter diesem Namen gedruckt worden sind, im Titel Bezug. Die früheste bekannte Schrift, die im Laufe ihrer drei Editionen stark erweitert wurde und zu der Selnecker ein Vorwort schrieb, erschien 1574 erstmalig in Leipzig bei Johann Rhambau unter folgendem Titel: »Gründtliche vnd klare beweisung aus heimlichen Wörtern vnd Buchstaben heiliger Göttlicher schrifft / Das im Göttlichen Wesen Drey unterschiedene Personen / und das Gottes Son der verheissene Messias / von einer Jungfrawen geboren / vnd für die

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Abschnitt zu Elchanon Paulus von Prag findet sich bei Anke Költsch, Jüdische Konverti­ ten an der Universität Leipzig in der Vormoderne, in: Stephan Wendehorst (Hg.), Bau­ steine einer jüdischen Geschichte der Universität Leipzig, Leipzig 2006, 427–450; siehe auch Carlebach, Divided Souls, 94 und 122. Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (nachfolgend LAELKB), PfA Nürnberg-St. Sebald, Taufen 1556–1578, Mf.-Sign., S-3, 320. Arnd Müller, Geschichte der Juden in Nürnberg 1146–1945, Nürnberg 1968, 113. Paulus von Prag, Der Apostel / Symbolum / von wort zu wort aus / dem alten Testament probirt / vnd erweiset / in Fragstück gestellet, Wittenberg 1580, Aiiv. Ebd., Aviijr. LAELKB, PfA Nürnberg-St. Sebald, Taufen 1556–1578, Mf.-Sign., S-3, 325. LAELKB, PfA Nürnberg-St. Lorenz, Taufen 1562–1580, Mf.-Sign., L-2, 228. Ebd., 254. Auskunft aus dem Jahr 2008 von Dr. Jürgen König, Landeskirchliches Archiv der Evan­ gelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

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gantze Welt am Creutze gestorben / zu der zeit / die in der heiligen Schrifft durch die Wörter vnd Buchstaben ist bestimpt vnd angezeigt worden. Desgleichen auch Fünff starcke beweisunge aus Mose / den Propheten / vnd der Jüden eigenen Büchern / das Messias für 1574 Jarn komen / vnd aller Jüden hoffen vnd harren vmbsonst vnd verge­ bens sey / Zu sterckung Christliches Glaubens auffs kurtzte zusammen gezogen Durch Paulum von Prag / im Jar nach Christi Geburt 1556. zum Christlichen Glauben in Nürenberg bekert / vnd durch die Christliche Tauffe / der heiligen Christlichen Kirche eingeleibet. Leipzig 1574.«64

Die Gründtliche vnd klare beweisung besteht somit aus zwei verschiedenen Schriften – einer Apologie der Trinität und einem Nachweis, dass Jesus der Messias sei. Auf den neutestamentlichen Paulus als Vorbild verweisend, unterzeichnet er das Vorwort als »Paulus von Prag / ex Saulo Iudæo factus Paulus Christianus«65. Eine Neuauflage der zwei Werke wurde 1576 gedruckt, wobei die Jahreszahlen in den Fünff starcken beweisungen aktuali­ siert und um sein Taufbekenntnis mit folgendem Hinweis ergänzt wurde: »Jch habe meine vorige arbeit vbersehen vnd gebessert / vnd mein Christlich bekenntnis / so ich zu Nürnberg in meiner Tauffe zu den Predigern gethan / widerholet.«66 Außerdem wurde der Druck um einen in Form eines Kate­ chismus gehaltenen Fragenkatalog und eine Ausarbeitung zur Auferstehung der Toten ergänzt: »Jtem / kurtze Bekentnis vnd Fragstücke vom Christlichen Glauben. Auch Gründtliche lere vnd zeugnis der heiligen Göttlichen Schrifft / von der Auferstehung der Todten durch Paulum von Prag / im Jar nach Christi Geburt 1556. zum Christlichen Glauben in Nürenberg bekert / vnd durch die Christliche Tauffe / der heiligen Christlichen Kirche eingeleibet.«67

Sein Bekentnis vnd Fragstücke vom Christlichen Glauben folgt den Konven­ tionen eines solchen Dokuments wie es oft auch von anderen Konvertiten geschrieben worden ist.68 Die Fragen beziehen sich in weiten Teilen auf die Unterschiede im Glauben zwischen Juden und Christen. Im Zuge der dritten

64 Der einzige erhaltene Druck befindet sich in der Sächsischen Landesbibliothek Dresden. Nach Auskunft der Bibliothek findet sich auf der Titelseite dieses Exemplars eine Wid­ mung des Autors an den Kurfürsten August von Sachsen. 65 Paulus von Prag, Gründtliche vnd klare beweisung aus heimlich verborgenen Wörtern vnd Buchstaben heiliger Göttlicher schrifft, Leipzig 1576, Aiijv. Zur Fragwürdigkeit von Paul als Konversionsmodell siehe Paula Fredriksen, Paul and Augustine. Conversion Nar­ ratives, Orthodox Traditions, and the Retrospective Self, in: Journal of Theological Stu­ dies, N. F. 37 (1986), H. 1, 3–34. 66 Paulus von Prag, Gründtliche vnd klare beweisung, Aiijr. 67 Ebd. 68 Siehe allgemein dazu Thomas Luckmann, Kanon und Konversion, in: Aleida Assmann/ Jan Assmann (Hgg.), Kanon und Zensur. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kom­ munikation, München 1987, 38–46, hier 40 f. Zu jüdischen Konversionserzählungen siehe Carlebach, Divided Souls, 88–123, sowie Carl, Zwischen zwei Welten?, 202–237.

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Auflage dieses Werks ein Jahr später wechselte Paulus von Prag nicht nur von seinem bisherigen Verleger Johann Rhambau zu Jakob Bärwalds Erben, bei denen auch Selnecker publizierte, sondern er ließ diese Ausgabe auch noch mit einer Vorrede des Letzteren unter dem Titel An Christlichen Leser versehen.69 An verschiedenen Stellen wird in der Gründtlichen vnd klaren beweisung deutlich, dass Paulus von Prag mit Methoden der rabbinischen Bibelauslegung vertraut war und zum Beispiel Worte als Akronyme, als Notarikon, deutete. Selnecker lobte zwar Paulus’ Vorhaben, hatte jedoch Vorbehalte gegen dieses Auslegungsverfahren, das er in eine etwas eigen­ willig gedeutete kabbalistische Tradition stellte und mit dem Verweis auf die schon bei Luther den Juden vorgeworfene Magie um den Gottesnamen desavouierte: »So hat man hernach alles das jenige Cabala genennet / was von sonderlichen heimli­ chen grossen dingen / so vber alle vernunfft sind / redet / handelt / vnd weissaget. Daher auch bey den Heiden der name / Sibylla, entstanden ist / bis endlich der misbrauch daraus worden / das man Cabala allein genennet hat / wenn die Jüden aus etlichen wör­ tern gewisse rechnung vnd zaal nemen / vnd ein heimliche bedeutung darin suchen / oder haben in den Buchstaben jre sonderbare gedancken / die denn bisweilen gut / zum öfftern aber zweifelhafftig vnd vngewis sind / auch offtmals gar nichts tügen / wie jr Schem Hamphoras bezeuget.«70

Die antijüdische Haltung von Selnecker wird noch deutlicher in seinem Lob des Paulus, dem er zugesteht, diese Auslegungsmethoden zu verwenden, auch wenn sie nur »ein lustig spiel«71 seien, doch gut genug, um sich gegen­ über der jüdischen Religion abzugrenzen: »Wie man aber aus Hebreischer sprach mit solchen Cabalis in grossen hohen glaubens Artickeln sol vnd könne vmbgehen / vnd der Jüden verstockung / lesterung vnd blind­ heit mit jrer eigen kunst zu schanden machen vnd widerlege / hat mein Paulus von Prag in diesem kurtzen Büchlein fein artig / vnd Christlich / aus der Jüden eignen Büchern / gewiesen vnd angezeigt. Darumb kein zweiffel / es werde dis Büchlein vielen Christen lieb vnnd angenem sein / die auch dem Paulo für solche arbeit danck sagen werden.«72

Wenn Selnecker den Namen von Paulus entweder mit dem Possessivprono­ men verbindet – »mein Paulus von Prag« – oder auch nur auf »den Paulo« verweist, wird hier eine herablassende Distanz gegenüber dem Konvertiten sichtbar. Einen genaueren Einblick in die Leipziger Zeit des Paulus von Prag ein­ schließlich seiner Begegnungen mit Nikolaus Selnecker ermöglichen weiter­ hin drei unbekannte Briefe, die aus dem Nachlass des Humanisten und 69 70 71 72

Paulus von Prag, Gründtliche vnd klare beweisung, Avr–Aviijr. Ebd., Avv–Avjr. Ebd., Avjv. Ebd.

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Theologen Paul Eber stammen und sich heute in der Forschungsbibliothek Gotha befinden.73 Zwei der drei Briefe sind an den Schaffer von St. Sebald in Nürnberg, Leonhard Pfaler,74 adressiert und der dritte an dessen Sohn Georg Pfaler. Der seit 1545 als Diakon und ab 1573 als Schaffer an St. Sebald tätige Leonhard Pfaler stammte aus Weißenburg und war wohl auf Empfehlung von Christoph von Knobelsdorff nach Nürnberg gekom­ men.75 Sein Schwiegersohn Heinrich Schmiedel schrieb, so Würfel in seinen Lebensbeschreibungen aller Herren Geistlichen, dass »der fromme, gelehrte und sonderlich in der Hebräischen Sprache wol erfahrne Greiß M. Leonhard Pfaler« 1592 gestorben sei.76 Er sei sehr vielseitig gewesen und nicht nur an der Begegnung mit Juden und Konvertiten interessiert, denn 1589 taufte er »einen Mohren«.77 Paulus von Prag wird er vermutlich um dessen Taufjahr 1556 begegnet sein. Leonhard Pfalers Sohn Georg lernte wie sein Vater Heb­ räisch, studierte in Wittenberg und kam um 1580 als Diakon und Professor für Hebräisch an das seit 1578 von Rudolf II. zu einer Akademie privile­ gierte Gymnasium von Altdorf. Der Zeitpunkt ist unklar, da keine Beru­ fungsurkunden für ihn vorliegen.78 1581 erwarb er den Magistertitel, starb aber bereits drei Jahre später.79 Die drei an Vater und Sohn Pfaler gerichteten Briefe sind nicht datiert, aber wohl nach 1577 und vor 1579 in Leipzig in hebräischer Kursivschrift von Paulus von Prag geschrieben worden. Die Sprache selbst weist Merkmale des Jiddischen und des Deutschen auf und zeigt das Bemühen des Konvertiten, sich der deutschen Sprache seiner Adressaten anzupassen. Besonderheiten, die das Jiddische auszeichnen, sind an den getrennt geschriebenen Prä- und

73 Die Briefe zeigte mir zuerst Daniel Gehrt. Ihm, Franziska König, die mich auf einen wei­ teren Brief von Paulus von Prag an Paul Eber hingewiesen hat, und allen weiteren Mitar­ beitern der Forschungsbibliothek Gotha bin ich zu Dank verpflichtet. 74 Carl Christian Hirsch/Andreas Würfel, Lebensbeschreibungen aller Herren Geistlichen, welche in der Reichs-Stadt Nürnberg, seit der Reformation Lutheri, gedienet, benebst einer Beschreibung aller Kirchen und Capellen daselbst. Angefangen von Herrn Carl Christian Hirschen […] fortgesetzt durch Andreas Würfel, Nürnberg 1756–1763, 46 f. 75 Ebd., 46. 76 Ebd. 77 Ebd. 78 Zu Georg Pfaler siehe Magnus Daniel Omeis, Gloria Academiæ Altdorfinæ sive Ora­ tionum Fasciculus Universitatis Noricae Ortum, Altdorf 1683, 23 und 98; Georg Andreas Will/Christian Conrad Nopitsch, Nürnbergisches Gelehrten-Lexicon oder Beschreibung aller Nürnbergischen Gelehrten beyderley Geschlechtes nach Jhrem Leben, Verdiensten und Schrifften zur Erweiterung der gelehrten Geschichtskunde und Verbesserung vieler darinnen vorgefallener Fehler, 8 Bde., Nürnberg 1755–1808, hier Bd. 3, Nürnberg 1757, 137–139; Georg Andreas Will, Geschichte und Beschreibung der Nürnbergischen Land­ stadt Altdorf, Altdorf 1796, 247. 79 Siehe Wolfgang Mährle, Academia Norica. Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575–1623), Stuttgart 2000, 76.

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Suffixen ablesbar, wie beispielsweise im Wort »ver hándén« (vorhanden)80 oder auch der Schreibung »nürm burg« (Nürnberg).81 Ebenso lässt Paulus von Prag Vokale, wie im Jiddischen üblich, oft aus. Doch finden sich im gleichen Text auch Versuche, bestimmte linguistische Merkmale des Deut­ schen in die hebräische Schrift aufzunehmen, zum Beispiel Doppelkonso­ nanten wie im Wort »herr« (Herr).82 Alles in allem handelt es sich um eine Sprache des Übergangs: nicht um Jiddisch – wohl aber wird die hebräische Kursivschrift verwendet und es finden sich Merkmale des Jiddischen –, aber auch nicht ausschließlich um Deutsch in hebräischen Buchstaben. Die Briefe sind damit weder dem einen noch dem anderen Sprachraum zuzuord­ nen, sondern sie sind tatsächlich in einer Schriftsprache des Grenzraums verfasst. Eingestreut finden sich Hebraismen, die Bestandteile des Jiddi­ schen sind, jedoch auch als eine besondere Referenz an die Adressaten mit Hebräischkenntnissen verstanden werden können.83 Es ist anzunehmen, dass Paulus von Prag als Kind wie alle jüdischen Jun­ gen zunächst in hebräischen Buchstaben schreiben lernte.84 Dies gibt er auch in seinem Apostel Symbolum an, auch wenn es, wie später zu zeigen sein wird, hier wohl mehr um eine Selbstinszenierung als professioneller Konver­ tit ging, da seine Kenntnisse im Hebräischen lückenhaft waren und er in der Leipziger Zeit noch Hebräischunterricht nahm: »[A]llein das mich meine Eltern von Jugend auff mit grossem vleis vnd vnkosten / in den Hebraischen Biblischen schrifften / neben der Chaldeischen sprach zu vnterweisen / gelarten vnd erfahrnen Schulmeistern befohlen haben.«85 Die deutsche Schreibschrift beherrschte er vermutlich nicht, denn ein Bittbrief von Paulus an Paul Eber ist von einem professionellen Schreiber geschrieben worden.86 Aufgrund der zahlreichen Anspielungen auf frühere Briefe muss der Aus­ tausch zwischen Paulus von Prag und den Nürnberger Geistlichen rege gewesen sein. Die hebräische Kursiva diente vermutlich auch der Geheim­ haltung, denn Paulus von Prag gab Informationen zu Debatten um Selnecker und andere an die Pfalers weiter und erwähnt dabei mehrfach, dass er darum bitte, nicht mit seinem Namen genannt zu werden. 80 81 82 83

FB Gotha, Chart. A 127, Bl. 31v. Ebd., Bl. 31r. Ebd., Bl. 34r. Zum Altjiddischen siehe Erika Timm, Graphische und phonische Struktur des Westjiddi­ schen. 84 Zur jüdischen Kindheit und Schulbildung siehe Ivan G. Marcus, A Jewish-Christian Sym­ biosis. The Culture of Early Ashkenaz, in: David Biale (Hg.), Cultures of the Jews. A New History, New York 2002, 449–516. Siehe auch Erika Timm, Historische jiddische Semantik. Die Bibelübersetzungssprache als Faktor der Auseinanderentwicklung des jid­ dischen und des deutschen Wortschatzes, Tübingen 2005, 128. 85 Paulus von Prag, Der Apostel / Symbolum, A4r. 86 FB Gotha, Chart. A 126, Bl. 306r–v.

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Den Briefen lassen sich aber noch weitere biografische Informationen zu dem Konvertiten entnehmen. So spricht Paulus von seinem Aufenthalt in Tü­ bingen, wo er sich 1560 an der Universität immatrikulierte.87 Seine Frau hat ihn damals offensichtlich begleitet, denn er erwähnte in seinem Schreiben an Pfaler, dass er sie bald von Nürnberg nach Altdorf schicken werde, damit sie den Studenten die Wäsche wasche, wie sie es schon in Tübingen getan habe.88 Überhaupt interessierte er sich sehr für die neu gegründete »un versetet zu alt torvs« (Universität zu Altdorf).89 Er wünschte Leonhard Pfaler Glück dazu90 und gratulierte Georg Pfaler mit einem »masal u’bracha« (Glück und Segen)91 zu seiner neuen Stelle. Da der Brief undatiert ist und Unklarheit darüber herrscht, wann genau Pfaler seine Stelle antrat, kann nur vermutet werden, dass er vor 1580 geschrieben wurde, bevor Paulus von Prag Leipzig verlies. Dem Konvertiten war sicherlich bekannt, dass Georg Pfaler in Alt­ dorf Hebräisch unterrichten sollte. An den Briefen ist ablesbar, dass Leonhard und Georg Pfaler sich nach Schriften erkundigt haben, die entweder hebräische Sprachlehrbücher waren oder anderweitig in einem jüdischen Kontext standen, denn sie tauschten solche Bücher mit Paulus aus. Dazu gehörten auch Texte von anderen Kon­ vertiten. So beschwerte sich Paulus von Prag, dass er auf seine Sendung einer hebräischen Grammatik an Georg Pfaler bisher noch keinerlei Antwort vom Vater wie auch vom Sohn bekommen habe, und er vermutete, dass die­ ses Buch »im ir gént nit gevaln« (ihm irgendwie nicht gefallen)92 habe. Er selbst wollte den weiteren Austausch fördern und auch künftig Bücher erhal­ ten, allen voran die Schriften von Christoph Mandel, die er selbst nicht fin­ den konnte. Dafür bot er eine Grammatik in Hebräisch, Aramäisch und Grie­ chisch zum Tausch an. Der von ihm in zwei Briefen erwähnte Christoph Mandel wohnte ebenfalls eine Zeit lang in Nürnberg und hielt sich dort als einziger Jude auch 1529 noch einmal mit einer Ausnahmegenehmigung des Rates auf. Er stammte, wie er selbst angibt, »von Ofen«93 und gehörte zu einer jüdischen Familie, die bis zu ihrer Vertreibung aus Ungarn 1526 wich­ 87 Die Matrikeln der Universität Tübingen. Im Auftrag der Württembergischen Kommission für Landesgeschichte, hg. von Heinrich Hermelink, 3 Bde., hier Register: 1600–1817, Stuttgart 1954, 152: »Prag, Paul (Hebraeus natione)«. 88 FB Gotha, Chart. A 127, Bl. 31v. 89 Ebd., Bl. 31r. 90 Ebd. 91 Ebd., Bl. 36r. 92 Ebd., Bl. 31r. 93 Christoph Mandel, Beweisung aus der Juden Gesatz / Nemlich / aus den dreyen Jsmaels Kindere Namen / Mischma / Duma / Massa / das vnser Herr Jesus Christus / warer Gott vnd Mensch / der verhaissen Samen / Hailand vnd gelaisstet Messias sey / Jnn ain Gesprech / zwischen ainem Christen vnd Juden, Neuburg 1557, Aivv.

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tige Funktionen dort und später auch in Nürnberg ausübte.94 Mandel ließ sich um 1534 taufen und veröffentlichte später vier Bücher, die in gewisser Weise als Vorgänger der Werke von Paulus von Prag gelten können, denn auch er unternimmt den Nachweis, dass Jesus der Messias sei, in einer »Beweisung aus der Juden Gesatz / Nemlich / aus den dreyen Jsmaels Kind­ ere Namen / Mischma / Duma / Massa / Das vnser Herr Jesus Christus / warer Gott vnd Mensch/ der verhaissen Samen / Hailand vnd gelaisstet Mes­ sias sey«.95 Es ist daher nicht verwunderlich, dass Paulus von Prag sich für diese Schriften interessierte. Dieser war jedoch nicht nur in die Rezeption von polemischen Schriften über das Judentum involviert, sondern ebenso in innerprotestantische Strei­ tigkeiten, was ihn in besonderem Maße mit Selneckers Projekten verband. So fragt er nach Leonhard Pfalers Meinung zur Konkordienformel, womit ein Hinweis auf die Datierung des Briefes um 1577 gegeben ist. In ihm erkun­ digt er sich, ob diese schon in Nürnberg in den Buchläden erhältlich sei. Außerdem bezieht Paulus von Prag sich auf eine andere Debatte, in die Nikolaus Selnecker und die Nürnberger verwickelt waren. Augenscheinlich hatte Leonhard Pfaler ihn darum gebeten, dass er nachforschen solle, ob Sel­ necker dem »sakra mentirér dem German paurn« (dem Sakramentierer Ger­ man Bauer)96 geantwortet habe. Zu vermuten ist, dass es sich hier um die von Selnecker 1579 oder 1580 in Druck gegebene Publikation im Streit mit Christoph Herdesianus, der als Pseudonym den Namen German Beyer von Hall benutzte, handelte, da er in diesem Brief auf die zukünftige Stelle von Georg Pfaler in Altdorf verweist, die dieser um 1580 antrat.97

94 Zu Christoph Mandel siehe Gustav Hamann, Konversionen deutscher und ungarischer Juden in der frühen Reformationszeit, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 39 (1970), H. 1, 207–237, hier 220–230. Siehe auch Alexander Scheiber, Mendel of Buda in Nuremberg, in: The Journal of Jewish Studies 23 (1972), 191–195. 95 Mandel, Beweisung aus der Juden Gesatz. Nachweisbar sind drei weitere Werke des Autors: Das Jesus Christus sey d[a]z ewig Götlich wort / das von Got dem vater geborn / vnd der weg / die warheyt / vnd das leben, Nürnberg 1536; Rechnung der LXX. Wochen Danielis. Sampt zwayen Vermuetungen von dem Ende der Welt. Auß der hailigen Geschrifft vnd warhafftigen Historien gezogen, Dillingen 1552; Ein fein Tröstlichs gebet in der verfolgung widerwertigkeit vnnd todesnöten aus der heiligen schrifft gezogen, o. O. 1558. 96 FB Gotha, Chart. A 127, Bl. 34r. 97 Es könnte sich hier um eine Antwort auf das von Christoph Herdesianus in Neustadt an der Haardt 1579 in Druck gegebene Examen oder Notwendige gegründte verantwortung des Selneckerschen Anno 76. zu Dreßden gedruckten vnchristlichen lesterbuchs / Jntitu­ liert / Widerlegung vnd Ableinung der fürnembsten Aufflagen der Sacramentirer handeln. Selnecker publizierte seine Antwort ein Jahr später, siehe ders., Kurtze einfeltige antwort / auff das Examen und unchristlich Lesterbuch eines Sacramentirischen Mammelucken, der sich nennet German Beyer von Hall, zur Newstadt an der Hardt, Leipzig 1580.

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Paulus konnte im Hause Selnecker offensichtlich nicht frei sprechen. Er begründete seine Vorsicht damit, dass der Bräutigam von Selneckers Tochter sich auch in des Theologen Haushalt aufhielte.98 Die prekäre Situation des Paulus von Prag wird in den Briefen sehr deut­ lich: So sprechen sie von verschiedenen Bittschreiben, die er nach Nürnberg gerichtet hat, eines davon an Hieronymus Baumgartner den Jüngeren. Paulus bat Georg Pfaler, das mitgeschickte Dokument zu prüfen und es, wenn er es für gut befände, nach Nürnberg weiterzuleiten.99 Paulus von Prag schien in Schwierigkeiten zu sein, denn aus dem Brief wird zudem deutlich, dass er nicht nach Nürnberg zurückkehren konnte und eine »supl kazion« (Suppli­ kation)100 keinen Erfolg hatte. Er hoffte jedoch weiterhin auf Antwort, obgleich er pessimistisch anfügt, dass keine Antwort auch eine Antwort sei.101 Im Brief bittet er Pfaler und weitere Bürger, sich mit einer schriftli­ chen Eingabe an den Nürnberger Rat zu wenden. Zu ihnen gehörte auch Pfa­ lers Schwiegersohn Heinrich Schmiedel, der ebenfalls Theologe war.102 Offenkundig wollte Paulus wieder zurück nach Nürnberg, brauchte jedoch eine Erlaubnis dazu. Die Gründe, die ihn hinderten, zusammen mit seiner Familie zu leben, sind nicht bekannt. Seinen Lebensunterhalt versuchte Paulus mit Hebräischunterricht zu ver­ dienen, was für einen sich im akademischen Umfeld aufhaltenden jüdischen Konvertiten in der Frühen Neuzeit einen häufigen Broterwerb darstellte. Nicht ohne Eigeninteresse erkundigte er sich daher wohl auch nach dem neuen Rektor und dem Lehrpersonal an der neu gegründeten Universität Alt­ dorf. Doch hier wird ein besonderer Umstand deutlich, der nicht für alle jüdischen Konvertiten zutraf: Paulus von Prag mag zwar rudimentäre Heb­ räischkenntnisse aus seiner jüdischen Erziehung mitgebracht haben, aber nicht genügend, um als Hebräischlehrer zu arbeiten, denn er schrieb an Pfa­ ler, dass er in Leipzig seine Kenntnisse so vertieft habe, dass er nun auch andere unterrichten könne.103 Das heißt, Paulus hatte mit über Dreißig noch einmal angefangen, Hebräisch zu lernen. Im Gegensatz zu anderen jüdi­ schen Konvertiten in der Frühen Neuzeit wie zum Beispiel Antonius Marga­ ritha brachte er also dieses Wissen nicht mit. Gleichwohl spielte mehr als zwanzig Jahre nach seiner Konversion seine jüdische Herkunft wieder eine größere Rolle und er versuchte, sich dem Modell eines gelehrten Konvertiten anzupassen, der seinen Lebensunterhalt mit Publikationen über das Juden­ tum und mit Sprachunterricht verdient. 198 199 100 101 102 103

Es ist unklar, welche Tochter von Selnecker hier gemeint ist. FB Gotha, Chart. A 127, Bl. 35r. Ebd., Bl. 34v. Ebd. Siehe Hirsch/Würfel, Lebensbeschreibungen aller Herren Geistlichen, 12–15. FB Gotha, Chart. A 127, Bl. 35r.

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Seiner verstärkt betonten jüdischen Zugehörigkeit ist auch Paulus’ Ver­ such zuzurechnen, sich seiner Herkunftsfamilie zu bedienen. Das wird besonders in dem Apostel Symbolum deutlich: Der Apostel / Symbolum / von wort zu wort aus / dem alten Testament probirt / vnd erweiset / in Fragstück gestellet / durch Paulum von Prag / itzund zu Leipzig, Wittenberg 1580. In dem Apostel Symbolum finden sich zum ersten Mal Informationen zu seiner jüdischen Familie, die er vorher an keiner Stelle erwähnte: »Erstlich damit anzuzeigen / aus was ursach ich mein altes (ohn ruhm zu schreiben) gutes geschlecht / die von gewaltigen Leuten herkommen / in jrem Judenthumb sich ehrlich / from and wol gehalten / und auch bey den Christlichen Potentaten in eim gros­ sen ansehen gewesen / und als getrewe diener allezeit bey Juden und Christen im Land Francken erfunden / verlassen hab / und in das elendt gegangen / und den gecreuzigten Christum jren höchsten Feindt vor meinen Gott / Herrn und Heiland angenommen.«104

Der Apostel Symbolum von 1580 ist das letzte unter seinem Namen gedruckte Werk, in dem er bereits angibt, dass er Leipzig verlassen hat, auch wenn das Titelblatt noch davon spricht, dass er sich jetzt in Leipzig aufhalte.105 Aus den Dokumenten und Briefen wird seine unklare soziale Position deutlich: weder hatte er ein gesichertes Einkommen in Leipzig, noch konnte er mit seiner Familie zusammenleben, da seine Frau mit den Kindern in Nürnberg weilte, wohin er trotz seiner dortigen guten Verbindungen zu Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus unbekannten Gründen nicht zurückkehren konnte. Die Briefe und Publikationen zeigen außerdem, dass er sich immer mehr in die Rolle eines Konvertiten hineinbegab. Ab 1580 verschwindet Paulus von Prag von der historiografischen Landkarte und ist nirgendwo mehr nachweis­ bar. Zur gleichen Zeit tritt Elchanon Paulus von Prag auf die Bühne. Dieser ist nach seinen eigenen Angaben 1568 in Chełm getauft worden.

Elchanon Paulus von Prag Seit 1579 ist in Helmstedt ein sich Elchanon Paulus von Prag nennender Konvertit nachweisbar, der als privater Hebräischlektor arbeitete.106 Sein wohl bekanntestes Werk erschien 1580 erstmalig in Helmstedt: 104 Paulus von Prag, Der Apostel Symbolum, Aiiv. 105 Ebd., Avr. In der Widmung an den Kurfürsten spricht Paulus von der Zeit, »die ich zu Leipzig gewest bin.« 106 Zu Elchanon Paulus von Prag in Helmstedt siehe v. a. Paul Zimmermann, Album Acade­ miae Helmstadiensis, Bd. 1: Album Academiae Juliae, Abt. 1: Studenten, Professoren etc. der Universität Helmstedt von 1574–1636, Hannover 1926, 386; Rotraud Ries, Jüdisches Leben in Niedersachsen im 15. und 16. Jahrhundert, Hannover 1994, 450; Ahrens, Die Lehrkräfte der Universität Helmstedt (1576–1810), 175.

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»Mysterivm Novvm. Ein new herrlich vnd gründtlich beweiß aus den Prophetischen Schrifften / nach der Hebreer Cabala / daß der name Jesus Christus Gottes vnd Marie Son in den fürnemsten Propheceyungen von Messia verdeckt bedeutet / daß auch er warhafftig sey der verheissene Messias. Gestellet durch Elchanon Paulum von Prag / Welcher zuuor bey den Jüden ist ein fürnemer / hochgelerter Rabi gewesen / vnd gehei­ ssen Rabi Elchanon / sich aber […] Tauffen lassen […] in Polen in der Stadt Chellim im Jahr 1568. Helmstedt 1580.«107

In dieser Schrift, die in der ersten Auflage eine Widmung an Herzog Hein­ rich Julius von Braunschweig trägt, verwendet Elchanon Paulus ausführlich Gematria und Notarikon, also Zahlen- und Buchstabenkombinationen, die aus der rabbinischen Auslegungstradition stammen, um Jesus als Messias darzustellen. In dem Kolophon des Mysterium novum verweist Elchanon Paulus ebenso auf seine jüdische Herkunftsfamilie wie in der kunstvoll als Akrostichon aufgebauten hebräischen Vorrede, aus der sich ergibt: »Ich, Elchanan Sohn von Rabbi Menachem, heutzutage bekannt als Paulus von Prag, schrieb diesen Brief im Jahr 1579 und er wurde am 11. Juni hier in der Stadt Helmstedt, die sich im Staat Sachsen befindet, vollendet.«108 Dem Autor wird auch ein fünftes Werk, ein viersprachiger Jonas in Latein, Deutsch, Griechisch und Hebräisch, zugeschrieben, das 1580 in Helmstedt gedruckt worden ist. Dieses ist vermutlich ein Gemeinschaftswerk, in dem ein hebräisches Gedicht von Elchanon Paulus von Prag abgedruckt ist, das den Theologen Johannes Olearius preist, der wiederum ein kurzes hebräi­ sches Nachwort dazu beisteuerte.109 Elchanon Paulus von Prag verließ Helmstedt bereits 1580 wieder, angeb­ lich, um eine Reise zurück nach Polen zu unternehmen. Ob und wann er sich dort aufhielt, ist nicht nachweisbar. Nach Helmstedt kehrte er jedoch nicht zurück, sondern ging stattdessen nach Wien, wo 1581 eine weitere Schrift erschien, die starke antijüdische Tendenzen aufweist: »Ein tröstlich / vnd zu lesen sehr nutzliches buch / wider den grewlichen jrrthumb der verstockten Juden / sie zu vberweysen / nit allein auß den Prophetischen schrifften / sonder auch auß jren fürnembsten Rabbinern schrifften selbst / welche zum theil geschriben sein lang vor Christi geburt / vnd zum theil auch hernach. Gestelt durch ELCHANON PAVLVM von Prag. Der bey den Juden ist ein weit berümbter Rabbi gewesen / vnd geheissen mit Namen Rabbi Elchanon, vnd wunderlich zu der Erkendt­

107 Elchanon Paulus von Prag, Mysterivm Novvm. Ein new herrlich vnd gründtlich beweiß aus den Prophetischen Schrifften, nach der Hebreer Cabala, daß der name Jesus Christus Gottes vnd Marie Son in den fürnemsten Propheceyungen von Messia verdeckt bedeutet, daß auch er warhafftig sey der verheissene Messias, Helmstedt 1580. Für Hilfe bei der Übersetzung danke ich Michael Terry. 108 Ebd., Aviijr–Biijr. 109 O. A., Propheta Ionas Quadrilinguis. Hebraice, Græce, Latine, Germanice, Helmstedt 1580.

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niß des Herren Christi kommen / Getaufft worden im Landt zu Polen / in der Statt Chel­ lim. Wien 1581.«

Ein Jahr später, 1582, erschien eine überarbeitete Neuauflage des Mysterium novum in Wien, die einen veränderten Titel trug und anstatt dem Braun­ schweiger Herzog nun Erzherzog Maximilian III. von Österreich gewidmet war: »Mysterivm Novvm. EJn New herrlich / vnd gründtlich beweiß nach der Hebreer Cabala, daß aigentlich der Name vnd Tittel des Herrn Jesu Christi Gottes Son / in den fürnembsten Propheceyungen von Messia, verdeckt bedeutet inn den Hebräischen Buchstaben bedeutent ist. Gestellet durch Elchanon Paulum von Prag. Welcher zuuor bey den Juden ist ein fürnemer / hochgelerter Rabi gewesen / vnd geheissen Rabi Elchanon, sich aber in dem Namen Iesu Christi Tauffen lassen im waren Christlichen Glauben / in Polen in der Stadt Chellim. Sampt einer ernstlichen Vermanung des Authoris an alle Juden. Wien 1582.«

Doch nicht allein der Druck von Büchern weist auf den Aufenthalt des Elchanon Paulus von Prag in Wien hin, vielmehr finden sich verschiedene Notizen und Briefabschriften, die vor allem über die finanzielle Unterstüt­ zung durch den Hof Auskunft geben. Der früheste Beleg für Elchanon Pau­ lus von Prag ist im Eingangsprotokoll der Hofkammer vom 16. Mai 1582 nachweisbar, wonach »Elihanon Pauli von Prag wegen ezlichen gedruckhten pücher wider die juden zu Prag […] beim hofzalmaisterambt durch geschafftl verorndtnet 20 fl.«110 worden sind. Im Jahr darauf bat Elchanon Paulus erneut um Unterstützung für seine vielfältigen Vorhaben, zu denen eine Übersetzung des Neuen Testaments ins Hebräische gehörte, die er bereits angefertigt, aber noch nicht in Druck gegeben hatte. Dabei gibt er an, er habe sich in den vergangenen Jahren beim Bischof in Passau aufgehalten. Zu seiner persönlichen Situation führt er weiter aus: »Nun hett ich aber zwar Ursach Euer Romischen Khayserlichen Mayestät wegen mei­ nes Weibs, Khinder vnnd gütter, so mir im Landt zu Poln durch die Juden, lautt haben­ der Khöniglicher Khundtschafften entführt, vnnd auf Prag geführt, alda sy noch bey den Juden sein, vnnd mir vorgehalten werden, dann auch vmb das die Juden zu Prag meinem Sohn, so auch den Catholischen glauben annehmen wollen mit gifft verge­ ben […]«111

Im September wird das Gesuch weitergeleitet und nach Rücksprache mit dem Bischof von Wien, Johann Caspar Neubeck, bewilligt.112 Nach 1583 lässt sich auch Elchanon Paulus von Prag nicht mehr nachweisen. 110 Österreichisches Staatsarchiv (ÖSTA), Allgemeines Verwaltungs-, Finanz- und Hofkam­ merarchiv, Alte Hofkammer, Hoffinanz, Bd. 371-E [1582], 282v. 111 Diözesanarchiv Wien, Protocollum Episcopatus Viennensis Anni 1581–1587, WP 7, 392r. 112 Siehe dazu ebd., 391r–395r; ÖSTA, Allgemeines Verwaltungs-, Finanz- und Hofkammer­ archiv, Alte Hofkammer, Hoffinanz, Bd. 379-E [1583], 310v.

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Zu Gast bei Nikolaus Selnecker

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Diese Angaben sind so verschieden von denen, die über Paulus von Prag aus Nürnberg bekannt sind, dass es den Anschein hat, es handele sich hier tatsächlich um zwei (verschiedene) Personen oder aber um eine Person mit zwei verschiedenen Identitäten. Bei dem aus der Gegend von Nürnberg stammenden und dort getauften Paulus von Prag, der sich später in Leipzig aufhielt, geben Briefe und gedruckte Werke einen Einblick in das Leben eines jüdischen Konvertiten. Hebräisch hatte er erst im Laufe seines Leipzi­ ger Aufenthaltes gelernt. Er interessierte sich ausgesprochen für aus der jüdischen Tradition stammende hermeneutische Auslegungsverfahren, die auch Elchanon Paulus von Prag beschäftigten. Zudem benutzten beide teil­ weise ähnliche Beispiele, etwa indem sie die drei ersten Buchstaben des Wortes bereschit mithilfe des Notarikon als Trinität interpretierten.113 In jedem Fall verweist Elchanon Paulus von Prag von Beginn an auf eine gelehrte jüdische Herkunft und zudem benutzten seine Texte hebräische Zitate in einem weitaus größeren Ausmaß, als sie bei Paulus von Prag zu fin­ den sind. Der Umstand, dass der um 1579/80 41 Jahre alte Paulus von Prag genau in dem Moment verschwindet, in dem Elchanon Paulus zum ersten Mal nachweisbar ist, deutet darauf hin, dass Paulus von Prag sich im Zuge seiner Selbstinszenierung als professioneller Konvertit eine »jüdischere« Identität zugelegt hat. Bei Elchanon Paulus ist es wiederum erstaunlich, wie er, gerade aus Polen gekommen, sich so problemlos in Helmstedt zurechtfinden und schnell Kontakte zu wichtigen Personen wie beispielsweise Martin Chemnitz finden konnte.114 Geht man davon aus, dass er Paulus von Prag mit einer neuen Identität ist, dann lägen die Gründe auf der Hand. Das durch Paulus von Prag in seinen Leipziger Briefen gezeigte Interesse an den inner­ protestantischen Debatten hätte ihn in seiner neuen Rolle als Elchanon Pau­ lus von Prag mit einem Wissen ausgestattet, das es ihm ermöglichte, in Helmstedt sicher zu agieren. Es dürfte nicht schwer gewesen sein, in Leipzig an Hintergrundinforma­ tionen über die Helmstedter Verhältnisse zu gelangen, war doch Nikolaus Selnecker mit den dortigen Verhältnissen vertraut, die er als Generalsuperin­ tendent in Braunschweig-Wolfenbüttel kennengelernt hatte. Der Theologe hielt auch weiterhin enge Beziehungen nach Niedersachsen aufrecht. Selne­ cker war in die Pläne des Paulus von Prag sicherlich nicht eingeweiht und wusste auch nicht von dessen neuer Namenswahl Elchanon, sonst hätte der Konvertit nicht einen neuen Taufort (Chełm in Polen) angeben können. Gleichzeitig stellten die personellen Verflechtungen mit den Leipziger Theo­ 113 Paulus von Prag, Gründtliche vnd klare beweisung, Avr–v; Elchanon Paulus von Prag, Mysterivm Novvm, Bijv. 114 Siehe Ries, Jüdisches Leben in Niedersachsen im 15. und 16. Jahrhundert, 450.

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Ruth von Bernuth

logen auch eine Gefahr dar, weshalb sein kurzer Aufenthalt und seine plötz­ liche Abreise aus Helmstedt – obwohl er gute Berufsaussichten im Umfeld der Universität hatte – erklärbar wären. Es ist davon auszugehen, dass die Personen Paulus von Prag und Elcha­ non Paulus von Prag identisch sind, dass der Konvertit sich jedoch nach sei­ nem Leipziger Aufenthalt eine neue Biografie zugelegt hat, die ihn nicht nur im protestantischen Helmstedt, sondern auch im katholischen Wien erfolg­ reicher werden ließ. Dies gilt auch bei Berücksichtigung des Umstands, dass die meisten Nachschlagewerke die biografischen Eckdaten in eine chronolo­ gische Reihenfolge bringen und daher oft von einer Mehrfachkonversion gesprochen wird, die in Nürnberg und in Chełm stattgefunden habe.115 Unterschieden werden muss aber in jedem Fall zwischen dem in Nürnberg getauften Paulus von Prag und dem in Chełm getauften Elchanon Paulus von Prag. Der Glaubenswechsel des Paulus von Prag und des Elchanon Paulus von Prag wird nicht allein als ein Übertritt von einer durch religiöse Grenzen unterschiedenen Gruppe zu einer anderen verstanden: Vielmehr wird die ehe­ malige Zugehörigkeit zur jüdischen Religion Teil eines Berufsbildes und damit funktionalisiert. Die Professionalisierung wird besonders in einem Kontext von Gelehrten und Gelehrsamkeit wirksam. Im Umfeld einer zumeist protestantischen Universität wie der in Leipzig, Altdorf oder Helm­ stedt unterrichteten Konvertiten Hebräisch und publizierten – meist diffa­ mierende – Schriften über ihren alten Glauben. Prominente Konvertiten wie Antonius Margaritha waren ihnen vorausgegangen und wurden, wie aus einem Schreiben von Martin Chemnitz über Elchanon Paulus hervorgeht, als Vorbilder wahrgenommen.116 Paulus von Prag beginnt erst zwanzig Jahre nach seiner Taufe, sich verstärkt für Hebräisch zu interessieren sowie Texte unter seinem Namen zu veröffentlichen. Damit zeigt sich, dass es am Ende des 16. Jahrhunderts bereits eine eingeführte Form gab, nach der ein jüdi­ scher Konvertit seinen Glaubenswechsel mehr oder weniger erfolgreich zum Beruf machen konnte – ein Modell, dem Paulus von Prag und Elchanon Pau­ lus von Prag in Leipzig, Helmstedt und Wien folgten und mit dem sie ihren Lebensunterhalt zu verdienen suchten.

115 Vgl. Singer/Seligsohn, Art. »Paulus of Prague (Elhanan ben Menahem)«, 563 f. 116 Siehe Niedersächsisches Landesarchiv – Standort Hannover, Cal. Br. 21 Nr. 1014, 17r.

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Converting to Catholicism: Jews in Lithuanian Bishoprics in the Late Russian Empire In her statement of 1895 to the Vilna Catholic Consistory Reiza Leibovna Shnaider, a young woman of Jewish origin, wrote: “[W]hile living in the Christian environment, with my poor little mind I decided to adopt Christian duties and now wholeheartedly wish to adopt the Roman Catholic faith that has overwhelmed me so much.”1 After five months, while lay and ecclesiastical institutions were still trying to determine exactly which Jewish community the girl came from, Reiza withdrew from the process. Although without a formal resolution and unde­ terminable sincerity of her statement, Reiza’s case shows that Catholicism, despite its inferior position to Eastern Orthodoxy (the official religion in the Russian Empire – especially after the Polish-Lithuanian-Byelorussian upris­ ing of 1863), was still considered by some Jews as an alternative in order to change one’s status in a country where religious affiliation was intimately linked to one’s prospects. After 1863 harsh repressive measures were imposed on the region and the Catholic Church2 was not excluded from these: Many monasteries and churches were closed and turned into Orthodox institutions,3 clergy’s work was confined to the limits of a single parish and general restrictions on their activities were implemented, churchmen were arbitrarily persecuted and detained, forceful propagation of the Eastern Orthodoxy took place.4 Despite 1

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Lietuvos Valstybės Istorijos Archyvas [Lithuanian State Historical Archives] (henceforth LVIA), F (Fondas [Fond]) 604, Apyrašas [register] 5, byla [file] 4541, lapas [page] 1 (hence­ forth abbreviated: Ap., b., l.). On discrediting Catholicism since the 1860s, see Mikhail Dolbilov, Ruskii krai, chuzhaia vera. Etnokonfessional’naia politika imperii v Litve i Belorussii pri Aleksandre II [Rus­ sian Land, Foreign Faith. Alexander II Ethno-Confessional Policy of Empire in Lithuania and Byelorussia], Moscow 2010. In the Vilna guberniya 84 churches became Orthodox, 62 in Grodno, and 14 in Kovno. Many more churches, in addition to 52 chapels and 20 monasteries, were closed alto­ gether. Darius Staliūnas, Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863, Amsterdam/New York 2007, 150; Vytautas Ališauskas (ed.), Krikščionybės Lietuvoje istorija [The History of Christianity in Lithuania], Vilnius 2006, 359. See also Vytautas Ališauskas, Vilniaus vyskupijos valdytojai. Rusijos politikos įkaitai (1798–1918 M.) [Administrators of the Bishopric of Vilnius. Hostages of Russian Policy JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 37–59.

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all of these unfavorable conditions unfolding from the mid-1860s onwards, the Catholic community, determinately withstanding the suppression by the authorities of the other faith, exerted considerable influence on the Jewish minority and offered local Jews the most radical transformation of one’s belonging. A general line of Russian policy tolerated conversions to any of the Christian denominations. However, Catholicism in particular had the stigma of separatist inclination and so-called “Polonism” attached to it. The Eastern Orthodoxy, on the other hand, was immanently associated with the loyalty to the tsar and the empire. Despite the seemingly more privileged and, hence, more beneficial status of the Orthodoxy in the Russian Empire, conversion trends discussed in this article show that the sociocultural envir­ onment of the Lithuanian guberniyas provided Catholicism with the suffi­ cient attractiveness to bring new members to the faith. Although the question of Jewish conversions in the Russian Empire has not been overlooked,5 research in this field has so far been limited to the situation in the Kingdom of Poland.6 What is more, historians used to make no distinction between the confessional options for Jewish converts and the underlying sociocultural implications of their choices and rarely considered the complexities of the conversion trends in separate parts7 of the Pale of

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(1798–1918)], in: Lietuvos Katalikų mokslo akademijos metraštis [Lithuanian Catholic Academy of Science Annuals] (henceforth LKMA metraštis) 27 (2005), 89–139; Vytau­ tas Merkys, Romos katalikų ir jų dvasininkų teisių varžymai Rusijos imperijos Šiaurės Vakarų krašte 1864–1901 m. [Restrictions of the Rights of the Roman Catholics and their Clergy in the Northwestern Region of the Russian Empire, 1864–1901], in: LKMA metraštis 20 (2002), 247–322. To name a few studies: Mihkail Agursky, Conversions of Jews to Christianity in Russia, in: Soviet Jewish Affairs 20 (1990), no. 2–3, 69–84; Michael Stanislawski, Jewish Apos­ tasy in Russia. A Tentative Typology, in: Todd M. Endelman (ed.), Jewish Apostasy in the Modern World, New York 1987, 189–205; Eugene M. Avrutin, Returning to Judaism after the 1905 Law on Religious Freedom in Tsarist Russia, in: Slavic Review 65 (spring 2006), no. 1, 90–110. Artur Markowski, Konwersje Żydów w północno-wschodnich regjonach Krółestwa Pols­ kiego w pierwszej połowie XIX wieku [Jewish Conversions in the North-Eastern Regions of the Polish Kingdom in the First Half of the Nineteenth Century], in: Studia Judaica 9 (2006), no. 1 (17), 3–32; Todd M. Endelman, Jewish Converts in Nineteenth-Century Warsaw. A Quantitative Analysis, in: Jewish Social Studies 4 (1997), 28–59; Rachel Man­ ekin, The Lost Generation. Education and Female Conversion in Fin-de-Siècle Cracow, in: Polin 18 (2005), 189–219. Lithuanian territory has never been the focus of historical analysis. It fell under the scope of Stanislawski’s and Freeze’s research. However, the former limited his studies exclu­ sively to the YIVO in New York with its collection of the Lithuanian Orthodox Consistory and the latter did not make a distinction between the baptisms conducted by Lithuanian Catholic and Orthodox churches or answered the question of the scale of this phenomena. See Stanislawski, Jewish Apostasy in Russia, 189–205; ChaeRan Freeze, When Chava Left Home. Gender, Conversion and the Jewish Family in Tsarist Russia, in: Polin 18 (2005), 153–188. Another noteworthy study on Lithuanians converting to the Reformed

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Settlement. A first comprehensive attempt to acknowledge the multi-reli­ giousness of Russia has been made by John Klier in the volume Of Religion and Empire, where he analyzed a broad range of religious allegiances in the Russian Empire in their relation to state-building, missionary efforts and conversions.8 In his study, Klier questioned the long-time historiographical assumption of unceasing and expedient attempts to missionize and convert the Jewish minority in the empire.9 However, his research remained focused on the Eastern Orthodoxy/Russian Jewry dichotomy and a wider perspective of state policies. The inquiry into the history of Jewish conversions in the light of the complex experiences in the multiethnic Pale of Jewish Settle­ ment10 has recently been revisited in Paul Werth’s monograph The Tsar’s Foreign Faiths. Toleration and the Fate of Religious Freedom in Imperial Russia.11 The author sets out to define the limits of toleration and religious freedom in the multi-confessional empire and expands upon the issue of Jewish conversions in Russia, examining alternatives available for the imperial subjects beyond the “ruling” Orthodoxy, including Catholicism. This article will focus on the cases of Jews in the guberniyas of Vilna (today’s Vilnius), Kovno and Grodno, who converted in Catholic churches in the last decades of the nineteenth and the first decade of the twentieth cen­ tury, when the numbers of Jewish baptisms escalated. By drawing on new archival materials, and retracting from the analysis of the state policies on conversions and missionizing, the article – while centering on the experience of Jewish converts interacting with the Catholic clergy and the neighboring lay congregation in the Lithuanian provinces – intends to define the group of individuals who chose to convert to Catholicism at the turn of the century. Moreover, it will unravel and contextualize this upsurge of conversions in relation to the wider contemporary social and cultural processes. Surely, Jewish conversion has never been a mass phenomenon when compared to

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Church is Jurgita Liutvinaitė, Religiniai konvertitai Lietuvos evangelikų reformatų bažny­ čioje. Sociokultūrinio portreto bruožai (XIX a.–XX a. pr.) [Religious Converts in the Lithuanian Reformed Evangelical Church. Features of a Sociocultural Portrait (the Nine­ teenth and the Beginning of the Twentieth Centuries)], in: LKMA metraštis 26 (2005), 45–65; Elena Keidošiūtė, Missionary Activity of “Mariae Vitae” Congregation, in: Pardes 16 (2010), 57–72. Robert Geraci/Michael Khodarkovsky (eds.), Of Religion and Empire. Missions, Conver­ sion and Tolerance in Tsarist Russia, Ithaca, N. Y., 2001. John Doyle Klier, State Policies and the Conversion of Jews in Imperial Russia, in: Ger­ aci/Khodarkovsky (eds.), Of Religion and Empire, 92–112. One of the more recent works on the subject, also putting the emphasis on the personal experiences of Jewish converts, is Ellie R. Schainker, Imperial Hybrids. Russian-Jewish Converts in the Nineteenth Century (PhD Diss., University of Pennsylvania, 2010). Paul W. Werth, The Tsar’s Foreign Faiths. Toleration and the Fate of Religious Freedom in Imperial Russia, Oxford 2014.

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the overall size of the local Jewish population. Nonetheless, nearly 1,500 initiated conversion processes to Catholicism between the years 1870 and 1915 alone could not have stayed unnoticed and are indicative of the condi­ tions affecting life in the local Jewish community and aspirations of social mobility pursued by its members. They accounted for some of the major transformations taking place inside the community in the late nineteenth century with regard to its positioning towards its own peculiar status in the country as well as its relationship with the surrounding Catholic society. There are currently 1,345 files with the baptismal records of Jewish con­ versions to Catholicism available from the Catholic bishoprics of Vilna and Samogitia (Tel’shi12). A baptism record – the main source of this article – consisted of clergy’s reports, catechumens’ statements,13 police reports as well as bureaucratic correspondence. Such file allows tracing the procedure of conversion, which was initiated by a Jew expressing his wish to be bap­ tized in a written statement. A report was then issued by the local police sta­ tion and the catechumen was referred to a monastery or a parish for a pre­ paratory period at the conclusion of which he would receive two certificates confirming his good knowledge of the truths of the faith and good behavior. Eventually, the Catholic Consistory, after receiving the “blessings” from the Ministry of the Interior and the Roman Catholic Spiritual Board, would grant their permission to baptize the candidate.14 All of this was entangled in an intense correspondence between the Church and lay institutions confirm­ ing, among other things, one’s registration with a particular community, place of residence, age, and specific family circumstances. The aforemen­ tioned police reports, often accompanied by identity documents (testimony, passport, certificate from local authorities or excerpt from family lists), are of significant value since they contain comprehensive data on a catechumen: his or her age, origin, literacy and sometimes even parents’ occupation or details of the individual’s narrative of conversion. Also, clergy’s reports to the Catholic Consistories, read with the appropriate caution of course, may offer additional information on a catechumen’s personality or background. Personal statements are regrettably schematic and formulaic in most cases

12 This double name – the bishopric of Samogitia (Tel’shi) – is indicated in the agreement between Russia and the Holy See in 1847. In this article the more common one will be used – Samogitia. 13 A catechumen is a person undergoing preparation for baptism. 14 The Roman Catholic Spiritual Board was established by Catherine II in 1801 in order to institutionalize the governance of the Roman Catholic Church in the empire. It was nonca­ nonical and even the Vatican could not intervene in its business. It was designated to gov­ ern the entire Catholic Church in the country and remained active up until World War I. Ališauskas (ed.), Krikščionybės Lietuvoje istorija, 326 f.

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and rarely give any insights into the personal reasoning and rhetoric of a catechumen. In order to evaluate a whole spectrum of confessional choices available to a Jewish catechumen as well as the preferences Jews in the region devel­ oped, an overall estimation of how many people opted for the conversion to either the Catholic, Orthodox or Protestant faith would be necessary. Unfor­ tunately, there are no consistent statistics for any of the denominations (even though a sporadic practice of reports on Orthodox conversions of governors and the statistics of the Holy Synod did exist15). Despite the fact that all of the conversion process was incorporated into a rather tight bureaucratic apparatus, there was no systematic registration of the numbers of Catholic conversions being conducted. The only exceptions were the metrical books of each individual Catholic church that contained entries about baptisms. Nor have the historians dealing with the topic of Jewish conversions in Tsar­ ist Russia attended sufficiently to the comparative aspect of the confessional choices. In this light, the figures on conversion provided in this article may serve as a new reference point in historiography that allows for evaluating the scale of this phenomenon.16

15 I. Cherikover provides some general statistics of questionable reliability in historiography in: Obrazhenie v’ khristianstvo [Conversion to Christianity], in: Evreiskaia Entsiklopediia [Jewish Encyclopedia], St. Petersburg 1904, vol. 11, cols. 884–895. Genrich M. Deych summarized the results of his archival investigation including some statistical data from the Vilna, Kovno and Grodno guberniyas. However the numbers are not (or seem not) comprehensive enough and end with the year 1869. See idem, Arkhivnye dokumenty po istorii evreev v Rossii v XIX – nachale XX vv. [Archival Documents on the History of Jews in Russia in the Nineteenth and the Beginning of the Twentieth Centuries], Moscow 1994. 16 The Historiography referred to here is based mainly on the reports of the Holy Synod (which are slightly out of sync with the Ministry of the Interior data). These reports state that 69,400 Jews converted to Orthodox Christianity in the Russian Empire in the nine­ teenth century (not including Poland). Jews who chose forms of Protestantism are esti­ mated to account for 3,136, and Catholicism for 12,000 people (Johannes Friedrich Alex­ ander de le Roi, Judentaufen im 19. Jahrhundert, Leipzig 1899, 31 f., and 40 f.). Yet again, historians avoid differentiating between the tendencies in different guberniyas and districts and thus we are unable to estimate exactly the proportions of those having chosen Ortho­ doxy in the region under discussion. This would require additional research and calcula­ tions. Jurgita Liutvinaitė in her article on converts to the Reformed Church in Lithuania did not provide specific numbers, but a rather vague diagram which, apart from showing a general growth in numbers by the end of the nineteenth century, allows for the assumption that there were around 200 converts in each of the periods of 1895–1904 and 1905–1914 (Liutvinaitė, Religiniai konvertitai Lietuvos evangelikų reformatų bažnyčioje, 47). If this data were to be accurate, it would suggest that tendencies in conversional choices were similar to the ones in Kingdom of Poland, where Protestantism amongst the Jewish con­ verts eventually began to rival Catholicism (Markowski, Konwersje Żydów w północnowschodnich regjonach królestwa Polskiego w pierwszej połowie XIX wieku, 22 f.).

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Converts as a Social Group In order to discuss Jewish conversion trends and determine the social and cultural implications of their religious choices, sources that include data on Jewish catechumens as a group shall be consulted. The Jewish baptismal records from Vilna and Samogitian Catholic Consistories17 (the Catholic bishopric of Vilna covered the guberniyas of Vilna and Grodno; the Samogi­ tian bishopric encompassed Kovno and parts of the Kurlandia guberniyas) suggest a division of Jewish catechumens into two categories: converts (those who eventually received baptism) and the ones who applied for bap­ tism, but terminated the process for various reasons – of their own accord or convinced by their families. The latter group accounts for approximately 10 percent of all candidates in the Vilna bishopric and at least 18 percent18 in the Samogitian bishopric. The files analyzed for this study suggest that Jews who eventually got baptized – and little is known about their fate following the baptism – assimilated in one way or another. While the files of those who prematurely aborted the process provide historical information that is not of direct interest to this article, they are nevertheless factored into the analysis as these individuals share with the proper converts certain charac­ teristics that contribute to the understanding of the social group overall. The data derived from the baptismal records, and from the obligatory police protocols in particular, shows Jewish catechumens to have been a rather homogenous group. In both bishoprics conversion was predominantly a concern for young singles between the ages of 14 and 25 (regardless of their gender); there were barely any family baptisms.19 Considering the young age structure of the local Jewish community, half of which were chil­ dren and teenagers by the end of the nineteenth century, the aspiring con­ verts’ age average seems less surprising.20 The young age of catechumens 17 This article employs 20 percent of the total of 1,345 (1,118 Vilna and 227 Samogitia) files of individual Jewish conversions to Catholicism from the period 1870–1915. The amount of material revised so far is limited due to certain obstacles, and a greater part shall be employed in the future. However, the documents in possession are believed to be repre­ sentative of general tendencies. The gender distribution and number of conversions in separate decades however reflect 100 percent of the cases. 18 But it might be up to 29.5 percent if cases from Samogitia with incomplete files, contain­ ing only pleas (prosheniia), petitions (khodataistva) and permissions, did not eventually result in baptism. 19 Ten catechumens are known to have been married, three of them came with their off­ spring, one woman with three children out of wedlock and one widow (LVIA, F604, Ap. 5, b. 1680, 1887, 1949, 2054, 3247, 4335, 4465, 4487, 4525, 7847; F669, Ap. 3, b. 2415; Russ. and Pol.). There are five cases of siblings referred for baptism (LVIA, F604, Ap. 5, b. 2320, 2396, 2452, 4292, 4293, 5673; Russ. and Pol.). 20 In 1897 52.3 percent of the Jews in the Northwestern territories were under the age of 20. Boris Brutzkus, Statistika evreiskogo naseleniia. Raspredelenie po territorii, demografi­

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has also been noticed in the conversion patterns of the Suwałki guberniya21 and among Orthodox converts.22 To point out the potentially rebellious spirit of such young catechumens alone does not suffice to explain why the young Jewish generation did not see its native homes to be suitable anymore and was willing to exchange them for Catholic ones. Another significant characteristic to define the social group of prospective converts is literacy: Not always was information about a catechumen’s lit­ eracy included in the file or parts of the documentation are simply missing. This gap is especially problematic in the files from the Samogitian bishop­ ric, where literacy is hardly ever addressed. From what is available it is evi­ dent that the majority of candidates of both genders were considered to be illiterate. However, the formality of the documents and the lack of any perso­ nal statement by the converts themselves renders it impossible to determine the degree of their illiteracy. Of course, the inability to sign a document does not necessarily go hand in hand with the inability to read.23 The situation shifts slightly in the very beginning of the twentieth century when more of the catechumens are able to sign their statements, mostly in Russian.24

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cheskie i kul᾿turnye priznaki evreiskogo naseleniia po dannym perepisi 1897 g. [Statistics of the Jewish Population. Distribution According to Territory, Demographic and Cultural Features of the Jewish Population According to the Data of the 1897 Census], St. Petersburg 1909, chart 6, cit. in: Vladimir Levin, Socialiniai, ekonominiai, demografi­ niai bei geografiniai žydų bendruomenės Lietuvoje bruožai XIX a. [Social, Economic, Demographic, and Geographic Characteristics of Lithuanian Jewry in the Nineteenth Cen­ tury], in: Vladas Sirutavičius/Darius Staliūnas/Jurgita Šiaučiūnaitė-Verbickienė (eds.), Lietuvos žydai. Istorinė studija [Lithuanian Jews. A Historical Study], Vilnius 2012, 153– 189, here 164. However, the research is restricted to the first half of the nineteenth century. See Mar­ kowski, Konwersje Żydów w północno-wschodnich regjonach Krółestwa Polskiego w pierwszej połowie XIX wieku, 12. Stanislawski, Jewish Apostasy in Russia, 189–205. For more on the issue, see Shaul Stampfer, Families, Rabbis and Education. Traditional Jewish Society in Nineteenth-Century Eastern Europe, Oxford/Portland, Oreg., 2010, chap. 8, 190–210. In this essay the assessment of illiteracy has to be based on a candi­ date’s inability to sign him- or herself, and/or indications of illiteracy in the protocols of the baptism records. For example, in the Vilna bishopric in the 1880s 11 out of 56 catechumens were literate to an unknown degree, 31 were illiterate, 9 were able to sign in Russian and 5 in Hebrew let­ ters. In the 1890s only one out of 61 was literate, 47 illiterate, 7 and 3 signed their names in Russian and Hebrew letters respectively. However, in the first decade of the twentieth century 27 out of 62 signed their names in Russian and 2 in Hebrew letters (only in two cases literacy is unknown). A seeming overall lack of Hebrew knowledge can be partially explained by the liberty some bureaucrats took when ignoring one’s knowledge in Yid­ dish, i. e. calling somebody illiterate when he or she did not speak the “right language.” There are several examples in the records where a catechumen was registered as illiterate, but the same file contained documents with the person’s handwriting in Hebrew, LVIA, F604, Ap. 5, b. 1924, b. 3706 (Russ.).

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Nevertheless, women remain predominantly “illiterate” as late as the first decade of the twentieth century (63.4 percent) compared to only about one third of “illiterate” men (30.4 percent). Although this is no certain indicator of the group’s overall ability to read Yiddish and have some reading/speak­ ing knowledge of a Gentile language; it reveals, however, that secular educa­ tion and non-Jewish literature were not the channels of exposure to the Christian environment for the Jewish catechumens under discussion. This might also suggest that educated women chose alternative paths of self-reali­ zation in this part of the late Russian Empire. Whereas Polish Jews were liv­ ing surrounded by a relatively homogenous Polish culture, thus rendering Catholicism an obvious choice for conversion, those in the guberniyas of Vilna and Kovno saw the local Catholics to be ethnically quite diverse and from lower class backgrounds (mostly peasants). Therefore, to educated Jews, conversion to Catholicism might not have seemed an option preferable to staying in the native community. After trying to systemize the data on what the occupations of the catechu­ mens or their parents were, it appeared that the spectrum was not that broad. Sources are increasingly eloquent in the 1870s and 1880s, but in later dec­ ades bureaucrats often omitted this information. From what can be gathered, the predominant occupations amongst the conversion candidates and their parents were innkeepers or owners of other drinking establishments, produ­ cers of alcohol, peddlers and craftsmen25 – all of these professions suffered decline by the late nineteenth century due to the restrictions on alcohol pro­ duction and stiff competition in crafts and trade, which conditioned low income.26 Baptismal records27 also reveal what types of settlement (village, town, or city) most Jewish catechumens came from. The majority was registered with various Jewish communities in small towns; these towns, alternatively vil­ lages or similar settlements, were the places where most of them also lived: 141 out of 224 Vilna bishopric files indicated28 the catechumen’s home town, which he or she had left. 36 out of those 141 files named villages 25 Yet again, because of the incompleteness of sources it is impossible to give definite eva­ luation of the background of the Samogitian catechumens, one must rely on the informa­ tion provided by the Vilna records. 26 Levin, Socialiniai, ekonominiai, demografiniai bei geografiniai žydų bendruomenės Lie­ tuvoje bruožai XIX a., 165, and 170. 27 This applies at least to the records of the Vilna Consistory. Samogitian files usually indi­ cated only the Jewish community a catechumen was registered to, without specifying whether one actually lived there (few exceptions exist and concern mainly catechumens from rural areas). Most Samogitian catechumens were registered in small towns of the Kovno guberniya. 28 At times documents provide information only on the registration of a person, or parts of the file are missing that might have contained relevant information.

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(Russ. derevnia), 6 estates (Russ. imenie), and 25 the city of Vilna. The rest of the candidates were from other cities (Russ. gorod), such as Bialystok or Grodno (26), and various small towns of the region (Russ. mestechko) (48); 2 indicated to be living in suburban towns (Russ. posad). The only city that can be ascribed a more visible portion of converts who were registered or lived there was Vilna – the only city with over 100,000 inhabitants. When compared to the general distribution of the Jewish population in the region according to the census of 1897, one can see a slight discrepancy: among the catechumens were fewer individuals from the cities and more from villages than expected. The proportions in towns were more consistent with the gen­ eral distribution. All in all, approximately 30 percent lived in rural areas (census: 18 percent), 34 percent in towns (census: 37.4 percent), and 36 per­ cent in cities (43.8 percent).29 It is evident that the majority, that is, 70 per­ cent, of the candidates had their home in urban areas. This reflects a general tendency for Jews in the region to live in cities and towns. That said, it is dif­ ficult to actually assess the level of urbanization at the time, not to mention in each type of settlement. Particularly in small towns Jews were most likely to come into contact with Catholics and, thus, obtain greater knowledge about this faith; but interaction between Jews and Christians in villages could be just as dynamic as in the shtetlekh. In the cities Jews, although separated in their own areas from the rest of the population, lived in great proximity to the Catholic milieu. For them it might have been even easier to get to know each other without attracting unwanted attention. Vilna did seem to promise people much more than just the opportunity to become baptized; many of them sought new cultural and economic opportunities growing in Vilna as rapidly as the city itself in the late nineteenth century.

Encounters with and the Influence of the Catholic Environment Although the territories under discussion were predominantly Catholic, with all of the Polish, Lithuanian and Byelorussian cultural habitats intertwining, Jewish-Catholic encounters in the context of conversions have not received appropriate consideration amongst historians. The impact of the Catholic environment on the confessional decisions of the local converts became so much more evident after examining the information on the catechumens’ backgrounds and identifying the main areas they were coming from. How­ ever rare accounts of such Jewish-Gentile encounters are, their analysis 29 Levin, Socialiniai, ekonominiai, demografiniai bei geografiniai žydų bendruomenės Lie­ tuvoje bruožai XIX a., chart 10, 162.

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might suggest which cultural, religious and/or social triggers eventually lead to a Jew taking Catholic conversion into serious consideration and, on the other hand, to a Catholic becoming actively involved in a Jew’s conversion process. When it came to the preparatory period, Jews were usually referred to a church’s administrative office close to where they lived or were registered, or they travelled to a larger urban center, most often Vilna, where the Vilna Catholic Consistory was based. In the Vilna bishopric the major part of the Jewish catechumens came from the Vilna guberniya districts of Vilna, Ash­ myany (Ašmena), Lida, Svenciany (Švenčionys), Troki (Trakai) and Dzisna. According to the census of 1897, Catholics constituted the majority of the population in the aforementioned districts of Vilna guberniya.30 Many cases of conversion are known from Grodno guberniya, mainly from the districts of Grodno, Slanim, Sokulka and Bialystok, which were predominantly Catholic. Vilna bishopric also received an additional influx of candidates from other neighboring guberniyas: mainly from Kovno and Minsk,31 less often from Vitebsk, Chernigov, the Kingdom of Poland and more distant areas. This additional flow of converts from Grodno guberniya and nearby guberniyas coming to Vilna also influenced a much greater number of such cases than in Samogitian bishopric. The Samogitian Catholic Consistory mainly received application from the districts of Kovno guberniya Kovno (Kaunas), Tel’shi (Telšiai), Rossieny (Raseiniai), Ponevezh (Panevėžys) and Vilkomir (Ukmergė) districts. In the 1870s out of 29 cases where the place one was coming from was indicated, 18 catechumens came straight from their parents’ home. In the 1880s this was recorded in 19 out of 36 cases.32 Other instances differed: some people found themselves or were sent to 30 The distribution of the Catholic population in Vilna and Grodno guberniyas according to cities, districts and nationalities in 1897. See idem, Tautiniai santykiai Vilniaus vyskupi­ joje 1798–1918 [Ethnic Relations in Vilna Bishopric, 1798–1918], Vilnius 2006, 90, chart 17. 31 The Minsk bishopric, which covered the Minsk guberniyas, was incorporated into the Vilna bishopric in 1869. Later, in 1882, it was given to the bishopric of Mogilëv. Vilma Žaltauskaitė, Romos katalikų dvasininkas. Luomo apibrėžtis ir tapatybės konstravimas. Žemaičių (Telšių) ir Vilniaus vyskupijos XIX a. paskutiniaisiais dešimtmečiais – XX a. pradžioje [A Roman Catholic Clergyman. A Definition of the Estate and Construction of Identity. Samogitian (Tel’shi) and Vilna Bishoprics in the Last Decades of the Nineteenth and the Beginning of the Twentieth Centuries], in: Lietuvos Istorijos Metraštis [Yearbook of Lithuanian History] (2012), no. 2, 69–80, here 72, and fn. 17. 32 At times, information on where a catechumen’s parents lived is given without, however, clearly stating whether the child lived there, too. Therefore, the number of those arriving from their native homes could have been even higher in reality, especially since all cate­ chumens were described as unmarried. For cases in which parents tried to bring their young children back home, one can assume that the parents’ house was their last place of residence.

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Vilna from the unknown locations, and others were already based in Vilna when applying for conversion. This was mainly due to the fact that after the uprising of 1863 many monasteries and churches were closed, and in the 1870s it was the Vilna Carmelites and Vilna Benedictine sisters who pre­ pared male and female Jewish catechumens respectively for baptism.33 When the number of Jews willing to convert started rising in the 1880s, the candidates were sent to other parishes as well and from the 1890s onward there were no specific locations for the training of neophytes. At that time Vilna lost its status as the center for catechumens in the Vilna bishopric. The individuals who fled their native homes, neglasnym obrazom (Russ. for secretly), as bureaucratic rhetoric often put it, remained a dominant group (21 out of 36 with an indicated location of origin). Others (6) had already reached a certain level of acculturation, living independently and/or in unknown locations. This suggests that there were two types of converts: a handful that was estranged from their Jewish environment and made their living amongst the Catholics for a while,34 and the majority, who apparently made a more drastic parting from their native surroundings, at times receiv­ ing shelter from lay Catholics.35 It seems as though this trend continued up to the second decade of the twentieth century. However, a definitive state­ ment cannot be made since the documentation of this period was restricted to general information only, such as where a catechumen’s family was regis­ tered. It can only be assumed that most of the young unmarried people com­ ing from the small towns and villages were living in their parents’ homes.

33 It was probably no coincidence that these two monasteries subsequently assumed the main responsibility for baptism. The parish of All Saints was one of the biggest in Vilna and had the highest number of registered converts. After 1821 the church of St. Stephen, a former church of the Mariavites (a congregation dedicated to preparing Jewish girls for conversion in the second half of the eighteenth and first half of the nineteenth century – see Keidošiūtė, Missionary Activity of “Mariae Vitae” Congregation, 57–72). Meanwhile, the last Mariavites, after the closing of the Congregation in 1864, were moved to the con­ vent of the Bernardines in Vilna (Władysław Zahorski, Kościół Św. Stefana i zgromadze­ nie mariawitek [The Church of St. Stephen and “Maria Vitae” Congregation], in: Vilens­ kie kostëly [(Catholic) Churches in Vilna], LVIA, F1135, Ap. 8, b. 10. (Russ.). 34 These are catechumens who claimed to have lived and worked among Christians for some time and/or to have left native home a while ago; 7598, 4541, 7026, 4345, T2067, 2760 (Russ.). In most cases, the particular work is not indicated. In few exceptions people sta­ ted to have worked in domestic service, which was the main area of employment particu­ larly for economically independent women in Grodno, Vilna, Minsk, Mogilëv, and Vitebsk. See Inna Sorkina, Evreiskie zhenshchiny v Grodno na rubezhe XIX–XX stoletii [Jewish Women in Grodno at the Turn of the Twentieth Century], in: The Moscow Center for University Teaching of Jewish Civilization “Sefer,” Proceedings of the Twentieth Annual International Conference on Jewish Studies 2 (2013), no. 46, 17–34, here 28. 35 LVIA, F604, Ap. 5, b. 2914; F669, Ap. 3, b. 1900, 2375, 2604 (Russ.).

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After Jews had applied for Catholic baptism, Consistories entrusted them to local deans, if possible somewhere near their homes, and referred them to a monastery or parish. The clergy avoided housing Jews in areas where exposure to their former religious culture was all too likely and usually chose dominantly Catholic and ethnically homogenous neighborhoods. Con­ version narratives found in the sources show that catechumens did not neces­ sarily have to rely exclusively on the goodwill of the clergy and bureaucrats: ordinary local Catholics and the Catholic surroundings that a Jew would find him- or herself in often played an important role in the conversion process. The Catholic clergy, due to restrictions on proselytizing and the wish not to be seen to do it publicly or the lack of enthusiasm on part of individual cler­ gymen, remained more passive in this regard. On the other hand, lay mem­ bers of the Catholic Church in the Lithuanian bishoprics in the second half of the nineteenth century were freer in their activities and took on active roles in the Jewish conversions more often. This might also indicate that catechumens, and thus the Jewish community in general, were able to com­ municate freely with their Catholic neighbors in a Gentile language, which had to be a crucial skill for successful assimilation. There are hints, for example, that some Jewish catechumens preferred to talk and write in Polish as late as 1891,36 which might as well be indicative of their cultural inclina­ tions when it came to assimilating into one of the neighboring cultures. Knowledge, even if basic, of the Gentile languages catechumens were sur­ rounded by in their hometowns and cities had to be one of the major instru­ ments to settle successfully in the Catholic milieu. Significant presence of Vilna city in the “topography of conversions” also supports the hypothesis that Polish society was the preferred environment of assimilation.37 This would explain the smaller numbers of converts in Kovno guberniya, which was predominantly Lithuanian/Samogitian and inhabited by peasants. The sisters Gena and Sora Garber, 21 and 15 years old, from a village in the volost᾿ of Szkudy fall into this category. In July 1890 they were referred to the parson of Masiady and in their written appeal they indicated to have been living at a certain Christian’s house, called Adam Kozlowski’s.38 The latter, a childless man from a village in the nearby volost᾿ of Masiady, put his signature under the sisters’ request, both of whom were illiterate and unable to do so themselves. He also added a letter of his own in which he claimed 36 A request for baptism written in Polish in 1891 (LVIA, F669, Ap. 3, b. 2415); a father communicating with his catechumen son in Polish when forbidden to talk in Yiddish in 1881 (LVIA, F604, Ap. 5, b. 2396). 37 According to the 1916 census in Vilna, 50 percent of the inhabitants considered their mother tongue to be Polish, and only 3.6 percent Lithuanian (cit. in Šarūnas Liekis, A State within a State? Jewish Autonomy in Lithuania 1918–1925, Vilnius 2003, 55). 38 LVIA, F669, Ap. 3, b. 2375 (Russ.).

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that one day the girls showed up at his doorstep and told him they were will­ ing to convert. Kozlowski assured the local police that he will take them in and even adopt them if they were granted the permission to get baptized. Moreover, Kozlowski testified to be persecuted by local Jews (who lived nearby on the “war and trade road”) and would gladly protect the sisters from them, who allegedly wanted to kidnap the girls and prevent them from converting.39 Apparently, Catholics did not only possess the linguistic skills to communicate with Jews, but, more than that, they were prepared to bring upon themselves the enmity of a catechumen’s family or community when taking in Jews in the name of the “greater good,” accommodating, support­ ing and protecting them on their way to baptism. Often it would happen that a number of local Catholics were called as witnesses to confirm the identity of an applicant and his suitability to become a Christian in terms of proper behavior and attitude.40 At times, it was precisely them who signed the requests of illiterate Jews to convert. There are also testimonies in which Jewish parents complain about Catho­ lics seducing or even abducting their children. In the Jewish community of Vishnev, for example, the family of a tavern keeper called Levins tried to retrieve at least one of their three underage children who, as they claimed, were abducted from their own home at night, together with many of the family’s possessions, and taken to Vilna.41 According to the parents and other witnesses the abduction was the work of three local Christians. Even though this sort of narrative cannot be verified in each case, and might have been used tactically in order to get a child back, there is no reason to doubt that sometimes Catholics did resort to such measures, if they saw it neces­ sary to help a child. Russian authorities in the second half of the nineteenth century did not mind Jews converting to Catholicism. Amongst the documentation from the Samogitian bishopric from 1882 on we find references to a decree of the Roman Catholic Spiritual Board issued on 11 October 1882 that quoted a circular by the Minister of the Interior setting 21 as the minimum age for baptism.42 And, indeed, examples in the Samogitian conversion records, indicating that 17 and 19 year old teenagers were sent home due to their inappropriate age, attest to the clergy’s commitment to implement this 39 How many of these abduction plots and accusations of violence on behalf of the Jews to prevent conversion are grounded in facts remains unknown. However, there are numerous accounts in the baptism files that point to various manifestations of Jewish anti-conver­ sion activity that has to be reckoned with. A person helping out a catechumen was likely to encounter some sort of hostility from a catechumen’s family or community. 40 LVIA, F604, Ap. 5, b. 2518, 6405, 7155, 3544 (Russ.). 41 LVIA, F604, Ap. 5, b. 2396 (Russ. and Pol.). 42 LVIA, F669, Ap. 3, b. 2014 (Russ.).

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order.43 Files of Vilna Consistory of that period do not refer to any specific decree of that time, but it is hard to imagine that the Board would impose a restriction as such on a single bishopric. Hence it is more likely that Vilna Consistory was simply less rigorous in following the instructions. Moreover, since the Minister of the Interior could have an underage Jew baptized with­ out the permission of his or her parents as long as an appropriate statement was provided by the child,44 it seems this was exactly what Vilna Consistory resorted to. For example, in 1895 a 14 year old Rocha (Roza) Leya Meer­ ovna Anolik was baptized, despite her young age and protests on behalf of her brother,45 while her father was away getting back his other older daugh­ ter Sora from another parish.46 All Vilna guberniya’s administration, which received the complaint of Rocha’s and Sora’s brother, did was to order Vilna Consistory to ensure that Rocha Leya submitted a formal statement request­ ing her baptism in the Roman Catholic Church, and to determine whether a request for the permission of the Minister of the Interior had been issued. This may tentatively suggest that local bureaucrats, who were aware of the trend,47 preferred assimilation of the Jews into the ranks of the Catholics in the Pale of Settlement to them remaining Jewish (the analysis of more mate­ rial on certain ambiguous legal situations and how the authorities dealt with them would result in more certain conclusions). Legal loopholes were cre­ ated and convenient circumventions were offered to enable conversions of those who were very young and encountered resistance from their families. This was quite the opposite of the sentiments the Russian government was feeling towards the local Orthodox turning Catholic until 1905. As has to be seen from the example of the Garber sisters, it was not only Catholics who crossed socio-cultural borderlines. Jews were just as much interested in the Catholic environment, and, even before officially expres­ sing the intention to change their religion, they would become well accus­ tomed with their neighboring environment. Catechumens claimed to have been living and working among Catholics, and were thus not only acquainted with the culture but also inspired to become a part of it.48 The sis­

43 LVIA, F699, Ap. 3, b. 2066, 1977, 2014, 2074, 2015, 4323 (Russ.). 44 Polnoe sobranie zakonov Rossiiskoi imperii, Prilozhenie k stat᾿e 7. Pravila o priniatii Evreev v Khristianskija ispovedaniia [Complete Collection of the Laws of the Russian Empire, Addition to Article 7. Rules of Admitting Jews to the Foreign Christian Confes­ sions], item 3, vol. 11, part 1 (Russ.). 45 LVIA, F604, Ap. 5, b. 4293 (Russ.). 46 LVIA, F604, Ap. 5, b. 4292 (Russ.). 47 The increase in the number of Jewish conversions is mentioned in the report of 1894 by the governor of Vilna. See Deych, Arkhivnye dokumenty po istorii evreev v Rossii v XIX – nachale XX vv., 43. 48 LVIA, F669, Ap. 3, b. 2015, 2067, 2760; F604, Ap. 5, b. 2303, 4345 (Russ.).

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ters Beiga and Mina Bunkinov told the police that they had been intention­ ally trying to get used to the Catholic customs, for example to learn prayers, listen to the various lessons from “believers,” and had also visited Catholic households.49 Despite the fact that the Jewish community remained rather isolated and kept limited interactions with their Catholic surrounding, in the second half of the nineteenth century the borders between the communities were wearing away and opportunities for young Jews, open to the possibili­ ties to observe the Catholic way of life, to grasp it, and to even become fasci­ nated by it, were becoming more readily available. Right after the baptism, and within nine months, a convert was obliged to ascribe to one of the estates and register his or her new place of residence. Unfortunately, barely any files from the period follow the lives of neophytes and it is therefore difficult to say how many converts stayed in the location of their baptism or moved further afield. Slightly more eloquent are the files that detail individuals returning to Judaism. However, these are not frequent at all – currently 13 files from the Vilna bishopric are available dating from 1886 to 1913, and none from Samogitia. Four of these records document converts who have returned to their native surroundings soon after their bap­ tism (one of whom lived for a year at her godfather’s address), while two were still living where they got baptized at the time of the apostasy, and two, after apostatizing, wanted return to the Catholic Church yet again (convert­ ing to Judaism for a second time was legal). Speculating about the mobility of the Jewish converts after the baptisms is problematic. It can be assumed that some of them did not manage to find employment or a hospitable Chris­ tian community and thus were driven back home to their families. Others stayed in the parishes they were baptized in at least for some time; rarely were they drawn to distant regions. The lack of testimonies makes it very difficult to evaluate the extent of the success of assimilation of these con­ verts. Given the relatively low number of apostates from Catholicism back to Judaism, even after it was legalized, and the growth of conversions in numbers, it appears that most of the conversions were final. There was a ten­ dency amongst converts to try and establish oneself in the new religious environment instead of returning to one’s former Jewish community – unless one apostatized. This emphasizes the importance of the communal factor in the region. If one was to choose a confession other than Catholicism, with the intention to stay in the Catholic territory of the given guberniya, a con­ vert would have basically passed up the opportunity (although, in the case of Jewish converts, an often illusionary one) to become part of a new commu­ nity. The emigration to the Kingdom of Poland, a country that was predomi­

49 LVIA, F669, Ap. 3, b. 1208 (Russ.).

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nantly Catholic and richer in opportunities, was another option for converts who had failed to establish themselves in the guberniyas under discussion.

Conversion: An Option for Self-Reinvention at the Turn of the Century Albeit not necessarily a majority solution, Jewish conversions to Catholi­ cism were not as rare as they might have seemed to the general population at the time. In Tsarist Russia, conversions complemented, rather than deviated from, the kaleidoscope of social and cultural transformations Jews under­ went at the turn of the century in order to reinvent themselves. Attention shall first be drawn to a significant conversion trend regarding the gender distribution amongst Jewish catechumens and converts: during the whole period under discussion, approximately 67.6 percent of all candi­ dates were women.50 The striking female presence amongst Jewish converts in the Russian Empire has often been highlighted and analyzed in historio­ graphy in various contexts that concerned, for instance, their romantic invol­ vement with Gentiles, problems to marry within the Jewish community, their abandonment by husbands or employment in brothels outside of the Pale of Settlement.51 The sources employed in this article do not support commonly made assumptions about the fate of female converts, ranging from forced weddings, over abandonment to rejection due to their (too advanced) age: Freeze has shown the marriage age of Jews to have risen in the second half of the nineteenth century. In Vilna guberniya, for example, the average age was 23.2 years for women and 26.3 for men,52 and the majority of catechu­ mens did not exceed this threshold. In the same guberniya, in the period between 1900 and 1909, only four female catechumens out of 34 (of 50 This takes into account all records from both bishoprics. 51 Agursky emphasized that Jewish women from Ukraine were inclined to get romantically involved with Ukrainian peasants if they failed to find a husband within a Jewish commu­ nity (idem, Conversions of Jews to Christianity in Russia, 69–84). Paula Hyman elaborated on the East European Jewish female assimilation and embedded her argument in appealing analysis of women’s hunger for better educational and occupational opportunities, which seemed to be restricted to privileged members of society, and economic presence (idem, Gender and Assimilation in Modern Jewish History. The Roles and Representation of Women, Seattle, Wash./London 1995, 50–92, chap. 2). Schainker also eventually con­ curred that the female assimilation in the Russian empire was facilitated by economic encounters supplemented by the notion of the shtetl sociability between the Jews and the Christians in the shtetl (idem, Imperial Hybrids). 52 ChaeRan Freeze, Jewish Marriage and Divorce in Imperial Russia, Hanover, N. H., 2002, 56.

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unknown age) were over 23 years old. Unlike what Agursky has observed in Ukraine, there is no proof in the documentation of conversions motivated by the love for peasants or the search for a husband outside of the Jewish com­ munity. None of the records document the intent to marry immediately after the baptism, or Catholic spouses in waiting.53 Carefully examining the historiography of female conversion, and ground­ ing his research in studies conducted by Rachel Manekin, Iris Parush, Mikhail Agursky and Michael Stanislawski, Todd Endelman drew attention to what distinguished the motivations of educated and culturally exposed Eastern European girls from those of destitute Lithuanian and Ukrainian origin.54 These Jewish women in the Lithuanian guberniyas, who were considering conversion to Catholicism at the turn of the century, were young and illiter­ ate, arriving to consistories from their parents’ homes in towns and cities.55 Here they were exposed, to a varying degree, to the Catholic environment through everyday encounters, commercial activities and curious endeavors rather than secular education (since most of them were illiterate, but capable of communicating with Gentiles). It seems the minority of married women in Lithuania (with or without children) were “desperate and destitute”.56 Hence, in many cases the reasons for a conversion were much more complex and possibly defined by cultural transformations within the Jewish commu­ nity and greater society affected by modernization.57 These women did indeed come from economically troubled strata. However, there is a lack of evidence that they were clinging to the bottom rung of the economic ladder. 53 Only two cases are to be found: one woman and one man (the latter’s endeavor was unsuc­ cessful as his father managed to retrieve him). See LVIA, F604, Ap. 5, b. 5388, 6889 (Russ.). 54 See Manekin, The Lost Generation, 189–219; Iris Parush, Reading Jewish Women. Mar­ ginality and Modernization in Nineteenth Century Eastern European Jewish Society, Wal­ tham, Mass./Hanover, N. H., 2004; Agursky, Conversions of Jews to Christianity in Rus­ sia, 69–84; Stanislawski, Jewish Apostasy in Russia, 189–205; Todd M. Endelman, Gender and Jewish Conversion Revisited, in: Marion A. Kaplan/Deborah Dash Moore (eds.), Gender and Jewish History, Bloomington, Ind., 2011, 170–186, here 181 f. 55 This applied to everyone, except the aforementioned acculturated minority of Jews, who were already estranged and found working places in the Christian milieu. This can be par­ tially explained by the “temptations of the workplace.” See Endelman, Gender and Jewish Conversion Revisited, 177. 56 An often quoted description of the majority of Russian Jewish converts to Christianity coined by Stanislawski, Jewish Apostasy in Russia, 202. 57 Freeze, whose research is focused on the first half of the nineteenth century and neglects observing gender disproportions, made the tentative observation that female converts named domestic reasons while in fact bearing the wish for more self-determination (idem, When Chava Left Home, 162). Manekin’s insights into the situation in Galicia, where the number of female converts was higher during the very period this article is concerned with, were more related to women’s education and the level of acculturation (which was higher in this region). See idem, The Lost Generation, 90–191.

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Generally, Jews in the late Russian Empire, the majority of which belonged to, as Eli Lederhendler put it, “the working poor,” found themselves living under complicated conditions.58 Churchmen described many of the Jews referred to them for baptism as poor and barely dressed.59 Several catechu­ mens stated that they had left home barehanded or with only the most essen­ tial (as typical of young, dependent people fleeing their parents’ home).60 Financial struggles were definitely one of the motivating factors to convert, in addition to the striving for more self-determination. A onetime allow­ ance,61 an approximately one year long preparation period affording shelter, food and clothes, as well as the probability of continuing support by the clergy after the baptism provided incentive enough for a Jew to seek this see­ mingly more secure life as a neophyte – however illusionary that might have been considering the weak economic situation of the region. Aside from engaging in considerations on the peculiarities of female con­ version it is important to note that, according to the 1897 census data, there were more women in the guberniyas of Vilna and Kovno than men:62 The number of converts in Kovno guberniya was composed of 134 women and 100 men between the ages 20 and 29; in Vilna guberniya the proportion was 115 to 100. In the age group 10 to 19 years Kovno guberniya had 119 women to 100 men, and Vilna guberniya 118 women to 100 men. Still slightly larger was the discrepancy in the age group 30 to 39: in Kovno guberniya 135 to 100 and in Vilna guberniya 120 women to 100 men. This group was majorly underrepresented amongst the Jewish catechumens in the

58 Eli Lederhendler bases his assumption on the research of Arcadius Kahan. See idem, Jew­ ish Immigrants and American Capitalism, 1880–1920. From Caste to Class, Cambridge/ New York 2009, 7; Arcadius Kahan, Impact of Industrialization in Tsarist Russia on the Socioeconomic Conditions of the Jewish Population (1980, hitherto unpublished), see Roger Weiss (ed.), Arcadius Kahan. Essays in Jewish Social and Economic History, Chi­ cago, Ill., 1986, 1–69. 59 For more information on financial allowances received by the Vilna Carmelite monastery for supporting catechumens and preparing them for the Holy Baptism, see LVIA, F604, Ap. 5, b. 2508 (Russ.). 60 In some cases catechumens, when leaving their parental home, stole from their family, which points to the difficulty of young, unemployed people starting over in a new com­ munity. 61 After the baptism a convert received a one-time allowance. In 1842 the amount is esti­ mated to have varied between 15 and 30 rubles for an adult and half of it for a child. See V. O. Levanda, Polnyj chronologicheskii sbornik zakonov i polozhenii, kasaiushchikhsia evreev, ot Ulozheniia caria Alekseia Mikhailovicha do nastojashchego vremeni, ot 1649– 1873 gg. [Full Chronological Collection of Laws and Regulations Relating to the Jews, from the Legal Code of Tsar Aleksei Mikhailovich to the Present Time, 1649–1873], St. Petersburg 1874, 518. 62 Brutzkus, Statistika evreiskogo naseleniia, cit. in Levin, Socialiniai, ekonominiai, demo­ grafiniai bei geografiniai žydų bendruomenės Lietuvoje bruožai XIX a., chart 2, 182.

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Lithuanian guberniyas. It is plausible that religious conversion was consid­ ered to be a venture unfeasible at an older age. Young Jewish catechumens, regardless their gender, coming from precar­ ious financial backgrounds, deprived of education and a fulfilling social and cultural life, turned to Catholicism in hope of improving their situation by reinventing otherwise unsatisfactory future they anticipated. The flow of female converts could also have been the result of the emergence of a more emancipated type of woman seeking education and new professional oppor­ tunities. That said, the significant role women played in the Jewish commu­ nity and in Jewish business, through which they were largely exposed to the Christian environment, might have been a factor contributing to this phe­ nomenon.63 At the same time, Jewish girls received no formal institutiona­ lized64 education, and participated less intensively in the world of traditional Jewish practices which might have induced greater receptiveness for alterna­ tive cultural information.65 This corresponds with Stanislawski’s assumption that women had very limited options only to reform their lives when com­ pared to men, to whom other paths of self-reinvention were open.66 Other­ wise, trends concerning age, origin, and background applied to male cate­ chumens as much as they applied to women. Stanislawski was only partially right when he said that the majority of converts in Russia “failed to secure moorings in that rocky society: young people just at the point at which nor­ mal adult life begins, who could find no partner, no profession, no stable place in society.”67 For the group of converts to Catholicism there is no actual evidence for a multitude of young people in their late teens-early twenties having been completely “lost” and “unmarriageable.” To conclude, the element of self-definition did not solely concern female converts, but more broadly that part of the young generation of Lithuanian Jewry attempt­ ing to redefine their lives as Jews that was cut out for them by their parents and their country. It happened to be the time when Jews in Eastern Europe entered various political parties and organizations, expressed political views and committed

63 See Freeze, Jewish Marriage and Divorce in Imperial Russia, 35, and 63–70; Stampfer, Families, Rabbis and Education, chap. 6, 121–141; Parush, Reading Jewish Women, chap. 2, 38–56. For information and useful references on the impact of women on the economy and women’s employment, see Hyman, Gender and Assimilation in Modern Jewish His­ tory, 67–72. 64 On the challenges Eastern European Jewish women faced in education (such as stereo­ types and the resulting discrimination) and their desire to learn at the turn of the century, see Stampfer, Families, Rabbis and Education, chap. 8, 167–189. 65 On the “benefit of marginality” see Parush, Reading Jewish Women, chap. 3, 38–56. 66 Stanislawski, Jewish Apostasy in Russia, 202. 67 Ibid., 202.

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themselves to new political ideologies, which flourished at the time. In addi­ tion to radical Zionist ones, socialist and Bundist ideologies – which arose from the ranks of marginalized and poorly educated Jewish artisans and workers – promised the possibility to transform Jewish life and status in Russia. Converts, as well, were searching for their place in the empire, but differed from the internationalist section of the politically active Jews, for example, in that they did not collectively adopt a specific political set of ideas and beliefs,68 but sacrificed the last bit of their Jewish belonging in order to achieve full integration and freedom in the empire. These Jews were obviously skeptical about the Jewish tradition, situation (their own, really), and the future. The example of Harris Pearlstone (Yeshaya Heshl Perelstein), discussed in Eli Lederhendler’s Jewish Responses to Modernity, comes to mind: 19 years old in 1889, losing both economic and social status, he was first attracted by non-Jewish education (he learned Russian and German) and then driven towards an alternative urban existence that was not centered around the Torah. He is an eloquent example of “the making of a maskil” – another possibility for a troubled, but culturally aware and educated young Jew at the end of the nineteenth century to reinvent himself. Meanwhile, converts’ “cultural equipment” and/or political consciousness was limited to imagining or contributing to the creation of an alternative Jewish identity. These converts can best be compared with the emigrants to America around that time who, disillusioned with the prospects for Jews in Tsarist Russia to ever improve, took a no less radical step across the ocean. Emigrants dared the long and arduous journey to America as a last resort, without knowing what to expect, just like catechumens often chose baptism without a specific plan of action in mind, driven by their hope alone to radically and rapidly change their lives. Vilna Catholic Consistory wrote in 1899: “Lately there has been an increase of non-Christians, mostly of the faith of Moses, wishing to accept the Holy Baptism of the Roman Catholic Church.”69 A decade later, in 1909, this “znachitel᾿noe usilenie” (significant intensification) was mentioned once more in a Consistory’s circular to the dean of Vilna,70 and yet again the majority was Jewish. Based on the baptism files available, it is evident that this increase began to accelerate in the 1870s. The number of conversions reached its peak in the 1890s (302 individuals) and the first decade of the twentieth century (311 individuals), and dropped in the century’s second decade (72 individuals). In Samogitia, numbers reached a peak in the 1870s 68 See Eli Lederhendler, Jewish Responses to Modernity. New Voices in America and East­ ern Europe, New York 1994, 47–66. 69 LVIA, F604, Ap. 5, b. 5290, l. 10 (Russ.). 70 LVIA, F694, Ap. 1, b. 2912, l. 1 (Russ.).

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(93 individuals) and dropped significantly in the 1890s (33) and the begin­ ning of the twentieth century (only 18 individuals from 1900 to 1912). Over­ all, the records suggest that there were much fewer converts in the Samogi­ tian bishopric than in Vilna, which corresponds to the generally greater size of the Jewish community in Vilna.71 Vilna Catholic Consistory received incomparably more applications for baptism from Jews than Samogitia, 1,118 (83 percent) and 227 (17 percent) respectively. But then again, Vilna’s files were simply better preserved, which evokes the consideration that Samogitian Jewish catechumens are underrepresented in the records due to the incompleteness of the archive. Unfortunately, there is no comprehensive research dedicated to the Jews in Kovno guberniya at the turn of the century, but it is unlikely that they lived under radically different cultural or eco­ nomic conditions that prevented them from considering conversion. The only potentially critical moment and its devastating outcome that often led local Jews into poverty and may have spurred some of them to seek for help on the Catholic side, could have been the famine of 1869 to 1870.72 During the same time, a growing number of Jews from the Russian Empire immigrated to the United States, the movement of which peaked at the same time as the conversions in Vilna – the first decade of the twentieth century. It is worth mentioning that precisely the emigration from the North­ western part of the Pale of Settlement was the most intensive,73 followed by the flow of emigrants from the Southern territories after the Kishinëv pogrom in 1903. Men constituted the majority of the Jewish emigrants to the United States from Russia,74 while women, as mentioned before, were more 71 In the Vilna guberniya, Jews are estimated to have accounted for 12.9 percent (204,686 people) of the population, in Grodno 17.5 percent (280,489 people), and in Kovno 13.8 percent (212,666 people) (Brutzkus, Statistika evreiskogo naseleniia, cit. in Levin, Socia­ liniai, ekonominiai, demografiniai bei geografiniai žydų bendruomenės Lietuvoje bruožai XIX a., chart 1, 161). It is hard to say why Samogitian Jews were less eager to convert. An answer could be formulated based on the insights into local Jewry provided by Judah Leib Gordon who in 1866 lamented the poor knowledge of Russian amongst them, which he explained with their proximity to the Prussian border and their fascination with Germa­ nization (Michael Stanislawski, For Whom do I Toil? Judah Leib Gordon and the Crisis of Russian Jewry, New York/Oxford 1988, 77). It can therefore be assumed that the cul­ ture of the Samogitian community was shaped quite differently than the one in Vilna and showed very limited interest in Russification or, on a local level, in the integration into the predominantly Catholic society. 72 John D. Klier, Imperial Russia’s Jewish Question, 1855–1881, Cambridge u. a. 1995, 177, and 180. 73 Shaul Stampfer, The Geographical Background of East European Jewish Migration to the United States before World War I, in: Ira A. Glazier/Luigi De Rosa (eds.), Migration across Time and Nations. Population Mobility in Historical Contexts, New York 1986, 220–231. 74 Simon Kuznets, Immigration of Russian Jews to the United States. Background and Structure, in: Perspectives in American History 9 (1975), 35–123, here 95 f., table X.

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likely to opt for the “emigration” from the local Jewish to the Catholic com­ munity by means of conversion. Both groups, emigrants and converts, shared a range of comparable demo­ graphic and social features: young age, a presumably problematic occupa­ tional situation (often associated with the difficulties of shifting from the pre-modern agricultural to the modern industrialized era75) and, hence, a troubled economic background (reflective of the poverty in the region that reached devastating levels by the 1880s76). Naturally, both groups also had to be spurred by the long-standing disadvantages of Jews regarding their legal status in the empire, such as the prohibition to move outside the Pale of Settlement in rural areas, and restrictions on Jewish employment options and education that were felt especially strongly from the 1880s onward. Converts did come from the same social circumstances and were driven to such extreme measures: the husbands of Slava Kozlovska and Etle Kantsito­ vich went to the United States while they stayed behind,77 the family of two brothers called Greber moved overseas,78 Chana Shmuilevna Gontman ter­ minated her conversion process, packed her bags and left,79 Merka Gordon did not exactly excel in good behavior when, during the preparation for her baptism, she continuously threatened to pack and leave for the United States (for reasons unknown she eventually settled for conversion to Catholicism after all).80 Thus, choosing between radical life changing choices of emigra­ tion and conversion to Catholicism at times was a genuine deliberation.

Final Remarks There is no indication that the conversion to Russian Orthodoxy, and the empire-wide integration opportunities it entailed, has ever been relevant to the local Jews converting in the guberniyas of Vilna, Kovno, and Grodno. Most converts found assimilation on a local level, into their surrounding Pol­ ish, Lithuanian and Byelorussian societies, more important, and Catholic 75 Kuznets, Immigration of Russian Jews to the United States, 84. 76 Stephen M. Berk, Year of Crisis, Year of Hope, Westport, Conn., 1985, 25–27, and 35– 124; Zvi Halevi, Were the Jewish Immigrants to the United States Representative of Rus­ sian Jews?, in: International Migration (April 1978), 66–73; Lenderhendler, Jewish Immi­ grants and American capitalism, 1880–1920, chap. “Down and Out in Eastern Europe,” 1–37. 77 LVIA, F604, Ap. 5, b. 3067, 3247 (Russ.). 78 LVIA, F604, Ap. 5, b. 5673 (Russ.). 79 LVIA, F604, Ap. 5, b. 7340 (Russ.). 80 LVIA, F604, Ap. 5, b. 3840 (Russ.).

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baptism promised a new lifestyle without leaving one’s familiar environment. Moreover, it is likely that the local population would not have appreciated an individual converting to Orthodoxy, which would have made integration even more difficult. Thus, the choice of Catholicism was also a practical one, based on one’s assessment of the situation in the respective area and of what milieus offered the best chances assimilating into. More than anything, the increasing numbers of young people deciding to undergo such radical trans­ formation reflect a weakening of communal and domestic ties in the Eastern European Jewish communities at the time; a young Jewish generation was about to redefine itself in the Western parts of Tsarist Russia. Elements of a youthful desire for self-reinvention, opportunities in a new cultural and eco­ nomic environment, financial benefits and a lack thereof in the Jewish com­ munity collided and culminated in the phenomenon of conversion. For the majority of Lithuanian Jewish converts in late imperial Russia, assimilation was more of an undertaken project rather than a final resolution of a long ongoing process. Signs of acculturation were still weak among Jewish converts to Catholicism in this part of the empire. Its patterns of pro­ vincialism, low level of education and lack of exposure to secular alterna­ tives to the traditional Jewish identity were still in place and could not be reconciled with the great national narrative of the empire.81

81 I would like to thank Professors Shaul Stampfer, Darius Staliūnas, and Jurgita Verbickienė for their invaluable contributions to earlier drafts of this article, and Professor Moshe Ros­ man for his inspirational and encouraging comments. This article was made possible by a grant from the Memorial Foundation for Jewish Culture.

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Die Analogie und ihr Missbrauch in der Historie – Über Albert I. Baumgartens Biografie zu Elias Bickermann Albert I. Baumgarten hat im Jahr 2010 eine umfangreiche und detailliert recherchierte Monografie über den bedeutenden Historiker des hellenisti­ schen Judentums Elias Bickermann vorgelegt.1 Damit kommt er einer Auf­ gabe nach, die Martin Hengel in seinen Erinnerungen an den großen Histori­ ker als Desiderat bezeichnet2 und die der Historiker Arnaldo Momigliano mit einer ersten Skizze vorbereitet hat.3 Ziel seiner Studie ist es, ebenjenen Lebensweg zu rekonstruieren, den Bickermann selbst mysteriös beschwie­ gen oder zum Teil willkürlich umgedichtet hat. Hiervon verspricht er sich ein tieferes Verständnis des Werks dieses faszinierenden jüdischen Histori­ kers und in diesem Sinne versucht er, die einzelnen Lebensstationen Bicker­ manns – das russisch-jüdische Elternhaus, die Studienzeit in Russland und Berlin, sein Lehr- und Lernumfeld und seinen Lebensweg als Emigrant – genau wiederzugeben. Es ist die Biografie eines Homo universalis, der sowohl bei Michael Rostovtzeff in St. Petersburg als auch bei Eduard Nor­ den und Ulrich Wilcken in Berlin studierte, die intellektuelle Elite der Wei­ marer Republik noch kennengelernt hat und durch seine Flucht über Paris nach New York der politischen Katastrophe entkommen ist. Bickermann hat sein eigenes Weltbürgertum gern ironisch kommentiert: »I am a world-citi­ zen. In every town I visit I can speak with a classical scholar. Even in Kabul I can discuss with the director of the museum.«4 Aber es ist nicht minder die Geschichte eines Kosmopoliten, der, selbst als er in New York eine feste

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Albert I. Baumgarten, Elias Bickerman as a Historian of the Jews. A Twentieth Century Tale, Tübingen 2010. Zitate werden im weiteren Verlauf mit der Seitenzahl in Klammern angegeben. Martin Hengel, Elias Bickermann. Erinnerungen an einen großen Althistoriker aus St. Petersburg, in: Hyperboreus 10 (2004), 171–199, hier 175, (6. Mai 2014). Siehe auch Martha Himmelfarb, Elias Bickerman and Judaism and Hellenism, in: David N. Myers/David B. Ruderman, The Jewish Past Revisited. Reflections on Modern Jewish Historians, New Haven, Conn., 1998, 199–211. Arnaldo Momigliano, The Absence of the Third Bickerman, in: ders., Essays on Ancient and Modern Judaism, hg. und mit einer Einführung von Silvia Berti, Chicago, Ill., 1994, 217–224. Zit. nach Hengel, Elias Bickermann, 173. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 61–85.

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Stelle an der Columbia University erhielt, sich dort niemals wirklich zu Hause gefühlt hat. Wenn Baumgarten Bickermanns Werk wiederholt als Muster und Modell für eine positivistisch orientierte Geschichtsschreibung beschreibt, so geht es ihm gerade darum, die hinter der Beschreibung der bloßen Tatsachen verborgene, aber dennoch wirkmächtige Agenda des His­ torikers zu entdecken. Um die opaken Schichten in Bickermanns Leben bewusst zu machen, greift der Autor dabei zunächst auf die Autobiografien von Bickermanns Vater und Bruder zurück. Die Lebenswege beider Anverwandter, die er ver­ gleichend gegenüberstellt, sollen einen ersten Zugang zu den Lebensbedin­ gungen des Historikers eröffnen: die russische Herkunft, sein Selbstver­ ständnis als Jude wie auch das Leben zwischen den ideologischen Fronten von Kommunismus und Nationalsozialismus einerseits und andererseits seine entschieden ablehnende Haltung gegenüber dem Zionismus. Der Autor begründet sein Vorgehen damit, dass man Bickermanns Biografie tat­ sächlich als eine Art lebenslangen Dialog mit dem Vater lesen kann. »This book is a biography of Elias Bickerman. Yet, it is impossible to understand the son without devoting attention to the father. Bickerman’s contribution as a historian of the Jews can and should be read autobiographically, as an extended dialogue with his father.« (50)

So soll der Vater die Weltanschauung seiner beiden Söhne, Elias und Jacob, für deren ganzes Leben entscheidend geprägt haben – von seinem russischen Patriotismus bis hin zu seinem dezidierten Antizionismus. »The attitude of Joseph Bikerman and his sons to Zionism is worth attention in and for itself. It is also a good example of the father’s role in shaping the world-view of his sons and it is therefore important here, as it justifies the focus in this chapter on Joseph Bikerman, in a book devoted to his son, Elias. […] His ‘famous’ article against Zion­ ism, insisting that it was too narrow a solution to the problems of the Jewish people and calling on Jews to take an active role in revitalizing Russia […], is a good example of his ‘Russian’ perspective on Jewish issues.« (53)

Baumgarten lässt sich dabei von Anfang an von der Idee eines aus diesen Lebensbedingungen kohärent zu rekonstruierenden »Glaubens« des Histori­ kers leiten, mit dem er nicht nur dessen »Ansichten«, sondern eine in Leben und Werk sich darstellende Einheit der Überzeugungen meint, die er zuletzt in einer esoterisch anmutenden Kongruenz von historischer Forschung und religiöser Einsicht teleologisch engführen will. Bickermanns eigentliche his­ toriografische Agenda beruhe diesem Verständnis zufolge zunächst auf dem Glauben an eine spezifische Form der Vermittlung zwischen universaler griechischer und partikularer jüdischer Kultur, die sich – sowohl gegen die Gefahr von Assimilation und Selbstauflösung wie auch gegen die einer fun­ damentalistischen Selbstabgrenzung der jüdischen Kultur – als Strategie

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einer dialogischen Aneignung beschreiben lässt. Der Autor will in dieser Konzeption Bickermanns tatsächlich eine Art »postkoloniale« Historiogra­ fie avant la lettre erkennen, die auf der einen Seite Salo W. Barons Modell der Koexistenz überschreitet, auf der anderen Seite aber die Möglichkeit offenhält, sich dem Druck der Assimilation, wenn dies im Sinne der Selbst­ behauptung erforderlich ist, zu widersetzen. »Bickerman’s Jews did not want to simply coexist with or even be enriched by the dominant culture – what made Bickerman’s Jews who got it right special was their will­ ingness to ‘talk back’ to the Greeks. Sometimes, Jews turned strategies learned from the Greeks back against their original instructors, in the now conventional post-coloni­ alist sense, but at other times, they talked back in the name of their native tradition, pure and simple, as they understood it. This is a much more […] dialogic relationship than Baron’s ‘ellipse with two foci.’« (289)

Tatsächlich bestätigt diese »dialogische« Agenda, die zweifelsohne etwas mit der Exilexistenz des Historikers zu tun hat, den Ausgangspunkt für die Konstruktion von Bickermanns Leben als »permanent Émigré«. Unter der Hand verwandelt Baumgarten nun aber diese für einen europäischen Juden des 20. Jahrhunderts exemplarische Lebensgeschichte in die Saga einer exi­ lierten »Gefangenschaft«, die er mit der bekannten halachischen Figur des »captive child« beschreibt. Er erläutert diesen Topos, den Saul Liebermann schon in seiner Grabrede auf Elias Bickermann benutzte, folgendermaßen: »Jewish law knew the category of the captive child who grew up among non-Jews […]. That child’s knowledge of things Jewish might be patchy, and the child’s observance rather lax, at best. In certain circumstances, however, that child benefited for a bit of consideration if he or she did not observe the commandments correctly.« (303)

Die Tatsache, dass der Historiker, der seine antizionistische Haltung auch später nicht revidiert hat, bei einem Forschungsaufenthalt in Israel seinen Tod fand, wird in Baumgartens Biografie zu einem symbolischen Indiz für eine Art unfreiwillige und unbewusst intendierte Rückkehr nach Zion erho­ ben, zu der Baumgarten immerhin einräumt, es sei eine »individuelle« und keine ideologische Rückkehr gewesen. Die eigentliche Biografie schließt mit der Enthüllung des Grabsteins: »A simple tombstone with only Hebrew writing was unveiled. This was in conformity with regulations of the cemetery authorities then in force […]. The tombstone noted Bickerman’s name, his father’s name, date of birth and date of death. The only text was the traditional formula ‫יהי זכרו ברוך‬, ‘may his memory be blessed.’ […] The ‘captive child’ had returned home.« (304)

Zugleich stellt der Biograf diese »Rückkehr« des Historikers Bickermann in eine Verbindung mit esoterisch-theologischen Aussagen, die in Bicker­ manns brillanten Untersuchungen zur makkabäischen Revolution wie Blitze durch das Dunkel der historischen Landschaft hindurchfahren und sie für

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einen Moment in das grelle Licht der Heilsgeschichte tauchen. Baumgarten reagiert augenscheinlich auf diese Hinweise, wenn er feststellt, ein Histori­ ker vom Format Bickermanns habe im Verlauf der faktischen Geschichte die Präsenz Gottes wahrnehmen können und tatsächlich auch wahrgenommen. Hierzu bedürfe es freilich einer besonderen Intuition, von der der Autor mit Recht annimmt, dass nicht jeder über sie verfüge. Bickermann, so heißt es bei Baumgarten, »saw the hand of God working in history in a way that only a critical historian could discern.« (294) Abgesehen von dem Unbehagen, das den Leser angesichts der paternalis­ tischen Geste einer »Heimführung« befallen mag, konstruiert der Autor hier einen sehr vereinfachten historisch-theologischen Überbau. Zwar bezieht er diesen nicht direkt auf den Zionismus, doch lässt sich der Eindruck kaum vermeiden, dass die »Präsenz« Gottes in der Geschichte mit der theologi­ schen Figur der Heimkehr des »captive child« nach Zion in Verbindung steht. Auf jeden Fall sieht Baumgarten keine Notwendigkeit, die Rede von der Präsenz Gottes in der Geschichte, die sich, wie gesagt, auf Bickermanns esoterische Äußerungen beziehen lässt, näher zu erläutern oder gar zu prob­ lematisieren. Ein »kritischer Historiker« wie Bickermann würde den metho­ dischen Abgrund, der die Wahrheit der historischen Tatsachen von der Wahrheit des Glaubens scheidet, kaum bei vollem Bewusstsein überschritten haben – es sei denn, um zu provozieren, in einem Akt der Verzweiflung oder als Ausdruck eines epistemologischen Ausnahmezustands. Von der Position aus, die alle naiven Annahmen über die Präsenz Gottes in der Geschichte verwirft, lassen sich Bickermanns esoterische Hinweise vor dem Hinter­ grund der seit Samuel Pufendorf geläufigen Forderung nach »Epoche« und nach »Askese« einer jeden empirischen Geschichtsschreibung verstehen. »Etsi deus non daretur« lautet Bickermanns methodisches Credo, das er in seinen Untersuchungen streng bewahrt. Es wird aber noch genauer zu zeigen sein, wie Bickermann, der Jude, gleichsam gegen ebenjenes »Gesetz« in sei­ nen Texten ein theologisch-politisches Widerstandsrecht geltend machen will, um daraus nicht zuletzt eine Art methodisches Widerstandsrecht gegen die in der modernen Kulturwissenschaft erhobenen Normen der Geschichts­ schreibung abzuleiten. Baumgarten scheint sich von solchen methodischen Problemen und Fra­ gestellungen in seiner erweiterten Idee einer Kohärenz von Leben und Werk nicht beirren zu lassen. Tatsächlich sieht er Bickermanns »Glauben«, der diese beiden Aspekte vereinigen soll, zuletzt in einer vagen beziehungsweise esoterischen Synthese von Geschichte und Eschatologie begründet, die sich in jener Idee einer »individuellen« Heimkehr in die national-religiöse Hei­ mat zu erfüllen scheint. Die Hermeneutik, die das Werk des Autors aus sei­ nem Leben konstruieren will, hat somit keine Schwierigkeiten, in der (jüdi­ schen) Geschichte auch den Willen ihres göttlichen Autors zu erkennen.

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Auf der Spur solcher gleichsam »theo«-biografischen Indizien gelingt es Baumgarten am Ende tatsächlich, die Widersprüche, Antithesen und Brüche in der intellektuellen Biografie dieses kritischen Historikers weitestgehend zu glätten und auszublenden, wenn er sie denn – jenseits der pikanten Details – in ihrer ganzen Tragweite registriert hat. Im Gegensatz zu anderen gegenwärtigen Historikern des hellenistischen Judentums, wie Martin Hen­ gel und Martha Himmelfarb, die eher eine respektvolle Distanz zur poli­ tisch-theologischen Esoterik Bickermanns einnehmen, vereinnahmt Baum­ garten das »individuelle« Schicksal des genialen Wissenschaftlers durch eine List des (national-)religiösen Geistes für sich und sein Judentum. In der Tat, Bickermann macht es dem Leser nicht leicht, wenn er, zumal an pointierten Stellen seiner Untersuchungen zu den Makkabäern, durch gezielte Leseanweisungen den sorgfältig über die von ihm rekonstruierten historisch-politischen Schauplätze gelegten Schleier zerreißen will, so als gelte es, durch die faktischen Ereignisse hindurch einen Blick in die verbor­ genen Lichtspuren der Heilsgeschichte zu erheischen. Was bedeutet Bicker­ manns am Ende der Einführung zu Der Gott der Makkabäer (1937) vorge­ tragene Schlussfolgerung, der zufolge die positive Geschichtsschreibung der politischen Ereignisse »die Theodizee« bestätigt. Was er dem (säkularen) Leser zumutet, ist hier die ohne Umschweife vorgetragene Behauptung, die historischen Quellen entsprächen der Vision der Apokalypse Daniels. Wie um dem Leser zu bedeuten, er meine es wirklich ernst, lässt der Historiker auf diese schockierende Feststellung einen Psalm folgen – wie sich denn der Leser dieses esoterischen Buchs überhaupt bald daran gewöhnen sollte, dass Bickermann den historischen Bericht immer wieder in ein Gebet »auslau­ fen« lässt. »Die Geschichte bestätigt somit die Theodizee. Nicht von außen, sondern von innen kommt das Unglück, aber auch die Rettung, deren Voraussetzung die Umkehr ist. Er rettete sie viele Male, sie aber widerstrebten ihm mit ihrem Ratschluß, und sie wurden ausgemergelt durch ihren Fehl. Er aber sah auf ihr Bedrängtsein, wann er ihr Aufgellen hörte, und gedachte ihnen seines Bundes und ließ es leidwerden sich nach der Fülle seiner Hulden und gab ihnen, Erbarmung zu finden vor all ihren Fängern. (Psalm 106, 43–46)«5

5

Elias Bickermann, Der Gott der Makkabäer. Untersuchungen über Sinn und Ursprung der Makkabäischen Erhebung, Berlin 1937, 8.

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Der Sprengsatz, der die Kongruenz von Geschichte und Apokalypse be­ schwört, steht tatsächlich zunächst wie ein rätselhaft schockierendes Mene­ tekel über dem Eingang dieser Untersuchung, so als sollte es vor allem vor voreiligen teleologischen Konstruktionen, naiven Vereinnahmungen und Heimführungen warnen. Wenn Bickermann das Narrativ vom jüdischen Chanukka-Fest aufgreift und das makkabäische Wunder auf seine historischen Hintergründe durch­ forscht, ist er sich natürlich bewusst, welche Rolle dieser Mythos in der zio­ nistischen Renaissance spielt. Mit seiner Untersuchung setzt er geradezu einen Kontrapunkt zu der von Theodor Herzl initiierten zionistischen Inbe­ sitznahme und »Heimführung« des Mythos. Darüber lassen Bickermanns abwertende Äußerungen zu den zionistischen Sport- und Gymnastikverei­ nen, die sich nach den Makkabäern benannt und so die jüdische »Theopoli­ tik« mit den Errungenschaften des griechischen Helden- und Körperkultes verwechselt haben, keinerlei Zweifel.6 Der Hinweis, dass die historischen Ereignisse tatsächlich dem theolo­ gisch-apokalyptischen Schema der jüdischen Heilsgeschichte entsprechen, beruft sich dabei auf eine so mysteriöse wie empirisch belegbare Überein­ stimmung. Wenn die apokalyptische Vision nämlich die großen historischen Krisen der jüdischen Geschichte aus dem Abfall Israels vom Glauben herlei­ tet und damit deren Überwindung in einem Akt der Buße und Rückkehr zu diesem Glauben vorsieht, dann verlegt sie Sinn und Grund aller politischen Diskriminierung auf die Existenz eines inneren Feindes: eines Feindes im jüdischen Lager also, der mit dem Abfall vom Glauben ebenjene Verfolgun­ gen »durch die Völker« als Akt der Bestrafung Gottes hervorruft. Tatsäch­ lich ergibt Bickermanns Analyse der vorliegenden Quellen und Urkunden, dass die Verfolgungen des Makkabäerkönigs Antiochus IV. Epiphanes auf einen solchen Abfall vom Glauben zurückgehen, nämlich die Initiative der Hohepriester Jason und Menelaos, die mittels des königlichen Machtan­ spruchs eine Reform der jüdischen Religion durchsetzen wollten. Bickermanns provokative Schlussfolgerung von der Koinzidenz der histo­ risch-politischen und der theologischen Wahrheit setzt dabei immer schon einen spezifisch theopolitischen Mechanismus voraus, den er mit dem Begriff »Antinomie der jerusalemischen Theokratie«7 beschreibt und zunächst am Beispiel von Esra und Nehemia erläutert:

6

7

Siehe die sarkastische Bemerkung von Bickermann im Vorwort zur englischen Ausgabe von ders., Die Makkabäer. Eine Darstellung ihrer Geschichte von den Anfängen bis zum Untergang des Hasmonäerhauses, Berlin 1935: »Today the Maccabees are patron saints of Zionist athlectic clubs.« Ders., The Maccabees. An Account of their History from the Beginnings to the Fall of the House of the Hasmoneans, New York 1947. Ders., Der Gott der Makkabäer, 58.

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»Jerusalem war also eine heilige Stadt; aber nicht aus eigener Machtvollkommenheit der Judenheit, sondern kraft eines königlichen Befehls, der ›die Gesetze der Vorfahren‹ bestätigte und dadurch ihre Ausübung sicherte. […] Die Reihe dieser Privilegien begann mit dem Erlaß des Artaxerxes I. an Esra vom Jahre 459 v. Chr. Seit Esra waren die Juden auf das ›Gesetz des Himmelsgottes‹ verpflichtet. Dieses war, weil es ein königliches Gesetz war, verpflichtend. In diesem Widerspruch, daß die Verbindlichkeit der Thora auf dem freien Willensakt eines heidnischen Machthabers beruhte, d. h. in der Antinomie, daß eine Theokratie auf den Beschluß eines irdischen, dem Gott dieser ›Gottesherrschaft‹ fremden Herrn begründet wurde, liegt die letzte Erklärung für das Vorgehen des Epiphanes.«8

Grundsätzlich bildet diese Antinomie, auf die der Bickermann-Biograf Baumgarten nicht weiter eingeht, also eine Art Brücke zwischen der realen und der Heilsgeschichte, insofern eben dieses Verhältnis zwischen dem poli­ tischen Souverän und dem Oberhaupt der heiligen Gemeinde die Verbin­ dung zwischen der realhistorischen Dimension und ihrer heilsgeschichtli­ chen Deutung indiziert, die je auf ihre Weise sich auf dieselbe historische Realität beziehen. Bickermann hat die Logik der historischen Ereignisse jedenfalls auf der Grundlage dieser Antinomie der jüdischen Theokratie zu dekodieren versucht. Wie Esra und Nehemia die Thora nämlich mithilfe des persischen Königs als Gesetz der Gemeinde wieder einführen konnten, so hätten die Reformtheologen Jason und Menelaos mit der Hilfe von Antiochus IV. ihre Reform des jüdischen Glaubens und damit den »Abfall vom Glauben« gewaltsam durchzusetzen versucht. Es war eben diese Initia­ tive, die den Freibrief der antiochenischen Könige als Akt der inneren Feind­ schaft und so für den Abfall vom Glauben instrumentalisierte, um damit die Verfolgungen auszulösen, in deren Gefolge die makkabäische Revolte aus­ gebrochen ist. »Dieses [jüdische] Gesetz war zudem laut Freibrief des Antiochus III. auch das Staats­ gesetz Jerusalems. Nur der König durfte Abweichungen davon erlauben, wie er auch das Gesamtprivileg jederzeit aufheben konnte. Jason mußte also den König um die ent­ sprechende Verfügung bitten, und er begann sein Werk erst, ›als der König zustimmte‹. Wir verstehen nunmehr, warum die Genehmigung nur ihm persönlich erteilt wurde, und warum er dem hellenischen Herrscher Geld versprechen mußte, um die griechische Sitte in Jerusalem einführen zu dürfen. Alles dieses war vom Standpunkt des seleukidi­ schen Rechtes durchaus legal. Aber mit seiner Verfügung hob Epiphanes [Antiochus IV.] nicht nur die Vollgültigkeit des von seinem Vater erteilten Freibriefes, sondern zugleich die Alleinherrschaft der Tora in Jerusalem auf. So begann die Krise der jüdischen Theokratie, die auf dem Willensakt eines Fremdgläubigen beruhte.«9

Nun war es ebendiese »Antinomie der jüdischen Theokratie«, die das politi­ sche Leben und die Erfahrung des jüdischen Volks im Exil über die Jahrhun­ 8 9

Ebd., 53. Ebd., 63 f.

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derte prägen sollte und die damit als eine die Geschichte im engeren Sinn übergreifende Struktur auch die jüdische Historiografie bestimmt hat. Damit hat diese antinomische Struktur aber immer schon den Horizont für alle die politisch-theologischen Analogien geöffnet, die Bickermann gezielt metho­ disch einsetzt und derer sich der Leser als hermeneutische Stütze bedienen soll, um darüber ein aktualisierendes Verständnis der historischen Situation zu gewinnen. So verfährt er etwa, wenn er die Initiative der griechischen Reformtheologen in seinen Untersuchungen zur Geschichte der Makkabäer mit der deutsch-jüdischen Reformtheologie des 19. Jahrhunderts vergleicht. Mit dieser Analogie versucht er nicht nur die Situation der Makkabäer, son­ dern auch die Ursprünge der radikalen Krise des deutschen Judentums zu erklären, die bis in die Zeit der Abfassung seiner Untersuchungen zwischen 1935 und 1937 ihre Wirkungen zeitigt. Baumgarten, der die Problematik der Koinzidenz von Geschichte und Theodizee, die Struktur der theokratischen Antinomie und die von Bicker­ mann in diesem Zusammenhang entfaltete politisch-theologische Rezept­ ionsgeschichte des Makkabäermythos in seiner Biografie fast vollständig ausblendet, hat seiner Rekonstruktion von Bickermanns »Glauben« die Kri­ tik meines Essays über Bickermann folgen lassen.10 Hier hatte ich vor dem Hintergrund dieser Zusammenhänge die Valenz der Analogie zwischen der griechischen und der deutschen Reform hinsichtlich der spezifischen Funk­ tionsweise der theokratischen Antinomie einer kritischen Prüfung unterzo­ gen. Baumgarten wirft mir nun vor, diese Analogie »wörtlich« genommen zu haben, weswegen nicht der Historiker Bickermann, sondern ich mich in unhaltbare Widersprüche verwickelt hätte. Bevor ich auf die eigentliche, hier strittige Analogie zurückkommen werde, möchte ich kurz Baumgartens Kritik im Allgemeinen resümieren und ihr argumentativ entgegnen. Zu diesem Zweck werde ich Bickermanns Untersuchungen zu den Makkabäern in dem historischen Kontext verorten, zu dem auch die Forschungen von jüdischen Historikern wie Leo Baeck, Jiz­ chak Fritz Baer, Hans Lewy und Eugen Täubler gehören. Bei allen diesen Autoren wird das politisch-theologische Problem des Judentums angesichts der einsetzenden nationalsozialistischen Ausgrenzung und Verfolgung nicht 10 Christoph Schmidt, »Wa Taschlech Emet Arza …« – »Und er warf die Wahrheit zu Boden …« (Dan 8,12). Apokalypse, politische Theologie und Historiographie der Kultur in Elias Bickermanns »Der Gott der Makkabäer«, Berlin 1937, in: Jürgen Brokoff/Joa­ chim Jacob, Apokalypse und Erinnerung in der deutsch-jüdischen Kultur des frühen 20. Jahrhunderts, Göttingen 2002, 147–170. Ich bin kein klassischer Philologe oder Histo­ riker, habe es in diesem Essay jedoch unternommen, die politisch-theologische Agenda dieser faszinierenden Texte Bickermanns im Vergleich mit den in diesen Jahren publizier­ ten jüdischen Texten zum politisch-theologischen Problem – von Leo Baeck, Jizchak Fritz Baer, Martin Buber u. a. – zu beleuchten.

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nur zum zentralen Paradigma einer radikalen Neuorientierung, sondern es fungiert als Code für die spezifische Technik der historischen Analogisie­ rung, die die historische Objektzeit mit der Subjektzeit als dem Augenblick der absoluten Krise in Beziehung setzt. Aus der Rekonstruktion dieses Kontexts und der Kritik an Bickermanns Analogie zwischen der griechischen und der deutschen Reform wird sich ergeben, dass Baumgarten mich zwar der buchstabenhörigen Interpretation und der »Widersprüche« bezichtigt, tatsächlich aber meine kritische Lesart übernommen hat und mit ein paar artifiziellen Bemerkungen modifizierend voraussetzt, wenn er diese Analogie im Sinne seiner Hermeneutik der Kohä­ renz von Leben und Werk zu retten versucht, indem er sie in einen von Bickermann gar nicht indizierten Vergleich der griechischen mit der russi­ schen Reform des 19. Jahrhunderts »entführt«.

Text, Analogie und politische Theologie Baumgarten wirft mir zunächst ganz allgemein vor, dass ich Bickermanns »Glauben« mit meiner philosophisch-apokalyptischen Lesung seines Werks überhaupt verfehlt habe, weil ich ihn in die Nähe des politischen Philoso­ phen Leo Strauss gerückt und darüber hinaus zu einem orthodoxen Feind der liberalen Demokratie erhoben hätte: »Schmidt offered a philosophical/ apocalyptic reading of Bickerman’s work on the Maccabees that turned Bickerman into a ‘Straussian’ philosopher of politics, an orthodox Jew of sorts, and an opponent of liberal democracy.« (235) In der Tat versteht sich meine Deutung als Versuch, die diskursiven Be­ dingungen der beiden Untersuchungen Bickermanns zu entschlüsseln. Inso­ fern handelt es sich tatsächlich um eine »philosophische« Lesung, die sich auf den von Bickermann indizierten apokalyptischen Kontext der Ereignisse bezieht. Seine Leseanweisung, dass die historischen Ereignisse die Theodi­ zee bestätigt hätten, dient ihr hierfür als Ausgangspunkt. Dass Bickermann dabei im Licht einer orthodox bestimmten antiliberalen Haltung erscheint, ergibt sich aus sehr präzisen Äußerungen des Historikers in seinen Untersu­ chungen selbst. Abgesehen davon, dass sein Gebrauch der Begriffe »ortho­ dox« und »Reform« grundsätzlich anachronistisch ist und schon eine Analo­ gie von Moderne und Antike voraussetzt, weist er tatsächlich wiederholt und vollkommen affirmativ auf die pharisäische, also »orthodoxe« Gesetzestheo­ logie als eine für den Juden vorbildhafte Lebensform hin. Andererseits for­ muliert er in seiner Untersuchung eine gezielte Kritik des Liberalismus, die nicht nur das liberale Reformjudentum betrifft. Wo er nämlich den »orthodo­ xen« Pharisäer zum Vorbild gegen den »Reformtheologen« erhebt, geht es

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ihm immer auch darum, jeden Versuch zu kritisieren, sich einem Liberalis­ mus anzupassen, der, wie etwa Karl Marx, mit der politischen Emanzipation des Juden dessen Emanzipation vom Judentum selbst fordert. Um die Krise der jüdischen Kultur in der Moderne zu skizzieren, entfaltet Bickermann eine – von Baumgarten nicht behandelte – ebenso spannungswie aufschlussreiche Deutungsgeschichte des makkabäischen Mythos, die Liberalismus und modernes Reformjudentum als in ihrem Kern antijüdi­ sche, für ihn folglich »anti-orthodoxe«, Positionen entlarven. Bis zur Refor­ mation nämlich habe Mattatia (Mattitjahu), der Makkabäer, als religiöser Begründer der Idee einer legitimen Staatlichkeit gegolten, wogegen sich mit den religiösen Bürgerkriegen Antiochus Epiphanes als Vorbild für eine gegenüber der Religion neutrale Idee des modernen Staates durchgesetzt habe. Bei Jean Bodin erscheint Antiochus – wie Bickermann selber konsta­ tiert – als »der rechtmäßige Herrscher der Juden«.11 Der Historiker dagegen verfolgt diesen Paradigmenwechsel vom religiös legitimierten zum neutra­ len modernen Staat bis zur französischen Aufklärung Voltaires und den Pos­ tulaten der deutschen liberalen Kulturhistoriker Theodor Mommsen (1817– 1903) und Ulrich Wilamowitz-Moellendorff (1848–1931). Wo Voltaire in Antiochus den legitimen aufgeklärten König erkennt, der die Rebellion der Juden mit Recht unterdrückt habe, übernimmt für Bickermann der moderne säkulare liberale Staat ebendiese antijüdische Orientierung als Folge der paradigmatischen Parteinahme für den neutralen Staat. So habe der liberale Historiker Theodor Mommsen die Juden zwar gegen Treitschkes antisemiti­ sche Attacke offen verteidigt, ihnen aber zugleich nahegelegt, sich an den deutschen Staat anzupassen und sich taufen zu lassen.12 Bickermann zitiert in diesem Zusammenhang den bedeutenden Historiker des Hellenismus, Wilamowitz, der die seit 1870 in Deutschland wirkende Haltung für den »kulturtragenden Staat gegen eine widerspenstige Minderheit« in der unmissverständlichen Frage resümiert: »Wer hat mit der Intoleranz angefan­ gen? Antiochus oder die Juden?«13 Aus der Perspektive dieser Rekonstruktion erscheint Bickermann als »antiliberal«. Diese Zuschreibung mag angemessen sein, da er die Illiberali­ tät und Intoleranz des deutschen Liberalismus in der Judenfrage offenlegt und zugleich hinter der freiheitlichen Haltung diejenige politische Tradition erkennt, die statt der erklärten Religionsfreiheit einen faktischen Bekennt­ niszwang ausübt, also den legitimen Wahrheitsanspruch der Orthodoxie überhaupt, und damit auch den der orthodoxen jüdischen Religion, negiert. Bickermanns unbedingte Parteinahme für die »orthodoxen« Pharisäer und 11 Bickermann, Der Gott der Makkabäer, 40. 12 Siehe ebd., 46 und ders., Die Makkabäer, 20. 13 Ders., Der Gott der Makkabäer, 46.

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seine scharfe Kritik an Reform und Kulturliberalismus ergeben sich aus sei­ nen Texten selbst und bedürfen keiner Reduktion oder Verifikation durch einen extratextuellen »Glauben«. Tatsächlich treffen sich beide Tendenzen, die orthodoxe Parteinahme und die Kritik an der liberalen Kultur, in der Per­ son des Staatsrechtlers Kurt Wolzendorff, den Bickermann zitiert und der mit der Einführung eines geordneten Rechts- und Beschwerdeweges im modernen liberalen Staat die Schlussfolgerung verbindet, in diesem Staat sei das Widerstandsrecht beseitigt.14 Mit der Anpassung des religiösen Juden­ tums an den liberalen, prinzipiell antijüdischen Staat verliere die jüdische Kultur nicht nur ihren theologischen Rückhalt, sondern sie müsse zudem das Recht auf Widerstand abtreten, auf einen Widerstand, der in der Zeit der griechischen wie der sich zuspitzenden deutschen Krise unabdingbar gewor­ den ist. In diesem Sinn beschreibt Bickermann den Aufstand von Mattatia (Mattitjahu) als eine besondere Form der Ausübung des Widerstandsrechts, das angesichts der von der staatlichen Gewalt ausgehenden Gefahr für die Thora ebendiese selbst aufheben muss. Es handelt sich hier also um einen doppelten Fall der Ausübung von Widerstand: gegen den Staat und gegen das Gottesgesetz selbst, wobei Bickermann vor allem den ersteren diskutiert, indem er die politische Situation unüberhörbar rhetorisch aktualisiert: »Noch bedeutsamer aber war die Tatsache selbst, daß Mattatia das Gesetz aus eigener Machtvollkommenheit zu deuten gewagt hat. Denn das war in seiner Zeit das Privileg des Hohepriesters und seines Rates, welche Jerusalem und Judäa regierten. […] Seine Maßnahme verlieh ihm unmittelbar die Autorität eines Führers. Die ›Gemeinschaft der Frommen‹, eine für das Gottesgesetz eifernde Bruderschaft, schloß sich ihm an, und all die vor dem Unheil Fliehenden füllten seine Scharen auf. Sie, die Haus und Hof verlie­ ßen, um vom Gesetz ›weder zur Rechten noch zur Linken abzuweichen‹, wurden durch jene Maßnahme zu einer Einheit zusammengeschlossen, welche um der Tora willen die Tora verletzte.«15

In demselben allgemeinen Zusammenhang der Kritik am politischen Libera­ lismus, der Säkularisation und der jüdischen Reform in ihrem Verhältnis zur orthodoxen Theologie habe ich eine Parallele zu Leo Strauss gezogen, der an der Positivität des orthodoxen Glaubens gegenüber einer jeden totalitären Religionskritik seitens der (jüdischen) Aufklärung und Reform festhält. Man darf an das Bonmot erinnern, mit dem Strauss seine Einleitung zu Phi­ losophie und Gesetz (1935)16 abschließt und wonach es der Aufklärung trotz 14 Siehe ebd., 37, wo Bickermann den Fall des makkabäischen Widerstands gegen den Staat mit einem Hinweis auf Kurt Wolzendorff, Staatsrecht und Naturrecht in der Lehre vom Widerstandsrecht des Volkes gegen rechtswidrige Ausübung der Staatsgewalt, Breslau 1916 (tatsächlich bereits 1915 erschienen) versieht. 15 Bickermann, Die Makkabäer, 13. 16 Leo Strauss, Philosophie und Gesetz. Beiträge zum Verständnis Maimunis und seiner Vor­ läufer, Berlin 1935.

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ihrer Diskreditierung der orthodoxen Religion nicht gelungen sei, diese zu widerlegen. Damit aber hätte die Orthodoxie ihrerseits Recht behalten, wenn sie »den Abfall vom Gesetz, die Auflehnung gegen das Gesetz […] als Epi­ kuräertum charakterisiert« hat, letztlich aber habe sie den feinen Unter­ schied zwischen dem antiken und dem modernen Epikuräismus übersehen. Dessen »letzter und reinster Ausdruck ist, daß die religiösen Vorstellungen verworfen werden, nicht weil sie furchtbar, sondern weil sie wünschbar, weil sie tröstlich sind.«17 Ist Bickermann über diesen assoziativen Vergleich zu einem »Straussia­ ner« geworden? Er ist es genauso wenig wie der Historiker durch den von Baumgarten vorgeschlagenen Vergleich mit Franz Rosenzweig zu einem »Rosenzweigianer« geworden ist (226–228). Baumgartens Behauptung überzieht also das Konto meiner Argumentation. Was Strauss und mit ihm viele andere jüdische Theoretiker in diesen Jahren in die Nähe zu Bicker­ manns Unternehmen rückt, ist der Versuch, den Zusammenhang der totalen Krise der jüdischen Kultur 1933 aus der Perspektive des Religionsverlusts zu rekonstruieren, um von hier aus die von den liberalen und reformjüdi­ schen Stürmen unangefochtene Orthodoxie als für das Überleben der Nation notwendigen religiös-politischen Lebensrahmen zu rehabilitieren. Das bedeutet für Strauss und Bickermann zwar, dass sie eine solche ortho­ doxe Position in ihren Texten als notwendiges Desiderat suggeriert haben, es bedeutet aber nicht, dass sie diese in ihrem eigenen Leben auch unbedingt in die Praxis umgesetzt haben müssen. Auch kann aus der Tatsache, dass beide eben keine orthodoxen Juden waren, weder auf ihre Standpunkte in den Schriften zurückgeschlossen werden, noch können diese Verortungen einfach übergangen werden. Dabei mag die Diskrepanz zwischen textueller Position und eigenem Leben, unabhängig vom autonomen Status des Textes, moralisch durchaus kritisierbar sein. Statt aber einer antiquierten Hermeneu­ tik zu willfahren, die im Werk das Leben und das Leben aus dem Werk »ver­ steht«, um dann beide womöglich retroaktiv moralisch zu beurteilen oder umgekehrt eine harmonische Einheit von Leben und Werk zu erzwingen, empfiehlt es sich, Bickermanns Schriften zunächst an und aus seinen Texten selbst zu rekonstruieren – wobei diese Texte, wie der Fall Strauss indiziert, offenbar in einem spezifischen intertextuellen Bezug zu ihnen verwandten Untersuchungen stehen. Das bedeutet konkret im Fall des Historikers, dass man Bickermanns Untersuchungen in derjenigen neuen »Diskursordnung« verorten sollte, die bei einer ganzen Reihe zeitgenössischer jüdischer Auto­ ren in einem politisch-theologischen Paradigmenwechsel entfaltet wird, der sich allerdings infolge der anrückenden politischen Gefahr durchaus in ver­

17 Ebd., 26.

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schiedenen Perspektiven darstellt und jeweils ein besonderes analogisches Zeitenbewusstsein erzeugt. So schreibt Hans Lewy, ein enger Freund Bickermanns,18 im Vorwort zu seiner Übersetzung von Philons Von den Machterweisen Gottes (1935),19 es handele sich bei diesem Werk um eine »politisch-theologische Flugschrift«, die den »eindeutigen Sinn der Ereignisse, die sich vor den Augen aller Zeit­ genossen abgerollt hatten, aufdecken«20 wolle, um dann von der philoni­ schen Deutung der Judenverfolgungen im antiken Alexandrien aus eine aktualisierende Analogie zu konstruieren: »Wie jede im Geist der Bibel gehaltene Geschichtsdarstellung erscheint auch die Erzählung des Philon ›transparent‹; die einmaligen Fakten erhalten allgemeine, para­ digmatische Bedeutung und der Augenblick wird zum Zeichen der Vergangenheit und Zukunft. Auf dieser Transparenz beruht die zeitlose Wirkung des Werkes, dessen Ein­ druck sich gerade geschichtsnahe Perioden wie die unsrige nicht entziehen können.«21

Jizchak Fritz Baer konstatiert in Galut (1936),22 »[d]as geschichtliche Den­ ken des modernen Judentums krank[e] bis heute […] an den Wirkungen einer nicht richtig verstandenen, religiös-politischen Erbschaft«,23 um seine Untersuchung über die historischen Bedingungen des politisch-religiösen Verständnisses der Galut sodann in einem zionistischen Credo von der Not­ wendigkeit der »Aufhebung der Galut« zu aktualisieren: »Alle modernen Galutdeutungen verschließen sich der ungeheuren Tragik des Zustan­ des und der religiösen Macht der alten, damit verbundenen Ideen. Der Mensch der Gegenwart, welcher religiösen Richtung er auch angehört, darf sich nicht vermessen zu behaupten, daß er die Last der Jahrtausende im Sinne der Vorfahren weiter zu tragen imstande sei oder daß überhaupt die äußeren und inneren Bedingungen für ein derartig verstandenes Schicksal noch vorhanden seien. Die Galut ist zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt. Sie ist und bleibt, was sie immer war: politische Knechtschaft, die rest­ los aufgehoben werden muß.«24

Leo Baeck, der anders als Baer und Lewy nicht nur als Historiker spricht, zieht gegen Ende seiner Abhandlung Die Pharisäer von 193425 eine Paral­

18 Hans Lewy hat, den Angaben von Bickermann zufolge, das Manuskript und den Druck von Der Gott der Makkabäer betreut. Bickermann erwähnt im Umschlagtext des Buches, dass dieses Lewy »reiche Anregung und mannigfache Verbesserung« verdanke. 19 Philon von Alexandrien, Von den Machterweisen Gottes. Eine zeitgenössische Darstel­ lung der Judenverfolgung unter dem Kaiser Caligula, übers., bearbeitet und eingeleitet von Hans Lewy, Berlin 1935. 20 Ebd., 8. 21 Ebd., 9 f. 22 Jizchak Fritz Baer, Galut, Berlin 1936. 23 Ebd., 99 f. 24 Ebd., 101. 25 Leo Baeck, Die Pharisäer. Ein Kapitel jüdischer Geschichte, Berlin 1934.

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lele zwischen den Zeiten, die sich explizit gegen Friedrich Meineckes Lehre vom souveränen Staat26 richtet: »Die Pharisäer […] haben den ›Dämon‹ der Staatsräson sich hinwegheben heißen. Und ihre Sehnsucht war um so inniger, da ihnen, mochten sie auch in dem Staate nicht immer ihr Staatswesen sehen können, dieses Land doch ihr Land war und sein Boden ihnen ein heiliger Boden, den sie zu einem Gebiete der Reinheit, der ›Absonderung‹ machen wollten. Auch über den Staat haben sie gesiegt, mit ihrer messianischen Gewißheit gesiegt; er schwand, und sie, nicht nur als Individuen, sondern als Gesamt­ heit sind geblieben.«27

Bickermann bezieht sich übrigens in seinen eigenen Untersuchungen über die Makkabäer wiederholt auf Leo Baecks Studien zu den »orthodoxen« Pharisäern,28 ohne dass ihn der mögliche Widerspruch zwischen Baecks Par­ teinahme für die gesetzestreuen Pharisäer und seinem Reformjudentum gestört hätte. Man könnte hier noch Martin Bubers Untersuchungen über das Königtum Gottes29 anführen, in denen es zu einer gezielten kritischen Auseinandersetzung mit dem Paradigma der politischen Theologie kommt, wie es bei Carl Schmitt30 und Friedrich Gogarten31 im Sinne des Prinzips der autoritären Souveränität und Diktatur formuliert worden war. Bickermanns Texte aus den Dreißigerjahren gehören sicherlich auch in diesen diskursiven Kontext, wie in allen diesen Texten die Aktualität der Ereignisse über den Gebrauch von Analogien im Rahmen der Analyse der historischen Phänomene transparent wird. Wie bei Bickermann fungiert das politisch-theologische Paradigma als Bedingung der Möglichkeit dieser Ver­ gleiche, in denen Objekt- und Subjektzeit gleichermaßen über den Augen­ blick der absoluten Gefahr aufklären sollen. Das gilt, wie angedeutet, schon für die sehr allgemein gehaltenen Begriffe »Orthodoxie« und »Reform« sel­ ber, die, angewandt auf die Antike, zunächst anachronistisch, dabei immer 26 Ebd., 70: »Der Staat wird immer durch die Staatsraison bestimmt, sie ist, wie es ein Histo­ riker unserer Tage, Friedrich Meinecke erklärt, ›die Maxime staatlichen Handelns, das Bewegungsgesetz des Staates‹. Und das Pharisäertum ist der heldenhafte geistige Ver­ such, dem Staate nicht in der Staatsraison, sondern im Gottesgesetze seine Maxime zu geben, die Idee des Staates durch das Ideal der Gemeinde zu bestimmen, ihn, wie Jose­ phus es richtig bezeichnet hat, als ›Theokratie‹, als Gottes Herrschaft zu gestalten.« 27 Ebd., 71. 28 Siehe Bickermann, Die Makkabäer, 76: »Über die Pharisäer vergleiche man die Arbeit von Leo Baeck ›Die Pharisäer‹ (Bücherei des Schocken Verlags, 6).« 29 Martin Buber, Königtum Gottes, Berlin 1932. Ders., Die Frage an den Einzelnen, Berlin 1936, 75–89, bes. 81, setzt sich mit Schmitts und Gogartens politischer Theologie und Ethik auseinander – was im Fall der Ethik Gogartens auch durch die Tatsache gerechtfer­ tigt ist, dass sie sich ausgerechnet auf Bubers Ich-und-Du-Beziehung als Voraussetzung für eine autoritäre Politik bezieht. 30 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 1922. 31 Friedrich Gogarten, Politische Ethik. Versuch einer Grundlegung, Jena 1932.

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schon ein analoges Verhältnis zwischen Moderne und Antike suggerieren32 – ohne dass ihr affirmativer oder negativer Gebrauch sich in einer orthodoxen Lebensführung des Autors widerspiegeln müsste. Baumgarten, anstatt das Werk des bewunderten Historikers aus sich heraus, aus der in ihm entfalteten Problematik und den ihm eigenen rhetori­ schen Strategien und intertextuellen Bezüge zu begreifen, zieht es vor, dem Text immer wieder die »Lebenszeugnisse« des Autors zugrunde zu legen. Da nun Bickermann eben keine Autobiografie verfasst hat, und Lebenszeug­ nisse über ihn praktisch nicht verfügbar sind, greift Baumgarten auf die Autobiografien des Vaters und Bruders zurück. Mir wirft er dagegen vor, ich hätte ebendiese Schriften nicht gekannt, weswegen meine Lesung der histo­ rischen Texte gescheitert sei, und doch gesteht er mir zu, dass, hätte ich diese Dokumente gekannt, meine Argumente zu Bickermanns Verhältnis zu Orthodoxie, Liberalismus, Antizionismus wie auch zu Leo Strauss eine Bestätigung hätten finden können. »Schmidt made no effort to connect his interpretation of Bickerman’s faith with the details of Bickerman’s life. Schmidt simply noted that Bickerman’s main works on the Maccabees were written in the 1930s, in the shadow of the rise of Nazism, at a time when many Jews were identifying more strongly as Jews and when a number of works were written to fill the need for Jewish knowledge among those who knew very little. However, Schmidt never cited the work of Joseph and Jacob Bikerman, Two Bicker­ mans. As a result, Schmidt did not know several important points shared by Elias Bick­ erman and Leo Strauss that might have strengthened his argument, such as their antiZionism, their political conservatism, or their serious doubts about the reigning liberal­ ism.« (235)

Nicht nur insistiert Baumgarten hier auf seiner antiquierten Hermeneutik von Leben und Werk, die von Dilthey entwickelt und von Erich Schmidt, dem Mitbegründer der modernen Germanistik, auf die Literaturforschung übertragen und angewandt wurde, um das Werk eines Dichters aus dessen Lebenssituation zu erklären. Er will diese Hermeneutik des Lebens – abge­ sehen von den methodischen Schwierigkeiten, die eine solche Reduktion des Werkes auf das konkrete Leben überhaupt mit sich bringt – auf die objektiv sachliche Arbeit eines Historikers übertragen. Auch in der Litera­ turwissenschaft hat man sich längst daran gewöhnt, dem Werk seine spezifi­ sche Sprache, Rhetorik, Semantik und Autorenposition zuzutrauen, ohne dass man sich auf den methodischen Abgrund der Beziehung zwischen der Intention des Autors und dem Sinn des Werks weiter einlassen muss. Jeden­

32 Siehe etwa Bickermann, Der Gott der Makkabäer, 137: »Die makkabäische Bewegung war vor allem ein Bürgerkrieg, ein Religionskampf zwischen Orthodoxen und Reformis­ ten. Sie ist aber als Krieg gegen die Seleukiden in der Erinnerung der Nachwelt geblie­ ben«.

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falls sind Strukturalismus, Dekonstruktion und Rezeptionstheorie, selbst die Hermeneutik nach Dilthey, von der wie auch immer vorauszusetzenden Annahme einer entzifferbaren Autorenintention im Großen und Ganzen abgerückt. Statt den Sinn und die Bedeutung von Bickermanns Werk über sein Leben zu rekonstruieren, das nur aus Autobiografien erschlossen werden kann, die nicht er, sondern seine Verwandten verfasst haben, statt diese Hermeneutik dann andeutungsweise in Beziehung zu einer metaphysischen Koinzidenz zwischen Geschichte und Heilsplan zu setzen, habe ich mich an die textuelle und intertextuelle Diskursivität gehalten, um von hier aus und in Abhebung von dieser die rhetorischen, semantischen und metaphorischen Strategien der Texte Bickermanns zu analysieren und vor allem eben die Analogie zu verifizieren, die der Historiker einsetzt, um objektive Zeitverhältnisse wie den Makkabäer-Aufstand auf die im Text indizierte subjektive Zeiterfahrung zu beziehen.

Eine exemplarische Analogie: Täubler liest Mommsens römische Geschichte vom Fall Judäas Theodor Mommsen hat in seiner Untersuchung Judaea und die Juden bekanntlich den jüdischen Staat der hellenistisch-römischen Epoche mit dem modernen Vatikanstaat verglichen, der 1871 von den italienischen Nationalisten aufgelöst wurde. Eugen Täubler (1879–1953) hat diesen Ver­ gleich in einem 1936 im Schocken Verlag erschienenen Nachwort33 einer präzisen Kritik unterzogen. »Daß der Vergleich naheliegt und zunächst etwas Einleuchtendes hat«, räumt er ein, um nunmehr auf die Widersprüche dieser Analogie einzugehen.34 Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Täublers Entgeg­ nung auf den möglichen Einwand, »der Vergleich mit dem Kirchenstaat trete so nebenher auf, daß man über ihn hinweglesen« könne. Deshalb sei es gar nicht klar, warum man ihm »durch die Diskussion ein Gewicht« gebe, »das die Wirkung haben kann«, man beabsichtige, »den Eindruck von Momm­ sens Darstellung […] [zu] schwächen.«35 Tatsächlich aber weist die »beiläu­ fige Art des Vergleichs« für Täubler »eben etwas Grundsätzliches für die

33 Theodor Mommsen, Judaea und die Juden, mit einem Nachwort von Eugen Täubler, Ber­ lin 1936. 34 Ebd., 80. 35 Ebd., 88.

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Position und Haltung des ganzen Abschnitts«36 auf. Der Althistoriker er­ kennt in diesem Vergleich zunächst also die Position des Autors, ohne diese eigens auf extratextuelle Lebensäußerungen zu beziehen und sie aus diesen zu verifizieren. Gegenüber der Vergleichbarkeit, die »die Verbindung einer religiös-uni­ versalen mit einer politisch-territorialen Souveränität« betrifft,37 nennt Täub­ ler drei zentrale Unterschiede, die sich aus der Verschiedenheit zwischen der jüdischen »Tempelgemeinde« und der »universalen Kirchengemeinde« her­ schreiben. So stehe dem Tempel als Ort des zentralen Heiligtums in der Kir­ che ein geistliches Oberhaupt, dem Hohepriester als »primus inter pares« der Papst als Souverän, der nur zufälligen territorialen Bedeutung des Hohe­ priesteramts eine Souveränität des Papstes gegenüber, die noch das fehlende Territorium überdauert hat. Es würde den Rahmen dieser Überlegungen zur Analogie überschreiten, wollte man Täublers Fazit genauer analysieren, mit dem er Theodor Mommsens Analogie einer politischen Theologie zurech­ net, die den Kern des »metaphysischen Realismus« der jüdischen Gesell­ schaft nicht angemessen beschreiben könne. Es genügte an dieser Stelle, auf seine Hervorhebung und Kritik der Analyse hinzuweisen, mit denen Täubler eine angemessene Würdigung von Mommsens »vom römischen Standpunkt gegebene[r] Schilderung«38 durchaus nicht ausschließt.

Bickermanns Analogie als eine Querelle des Anciens et des Modernes Bickermanns Untersuchungen zum Aufstand und zur Geschichte der Mak­ kabäer enthalten eine andere Analogie, nämlich die zwischen der antiken griechischen und der deutsch-jüdischen Reform des 19. Jahrhunderts. Aber ähnlich wie bei Mommsen könnte man diese Analogie leicht überlesen, beschriebe sie nicht etwas Wesentliches an der Haltung des Autors. »Die Reformatoren unter Epiphanes erinnern an die jüdische Reformbewegung in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts, als Männer wie G. Riesser, A. Geiger und I. Einhorn die Sabbatreform, die Aufhebung der Speisegesetze vorschlugen und die Beschneidung für unverbindlich erklärten. Auch sie standen im Banne einer nichtjüdi­ schen Umwelt und waren beeindruckt durch Theorien der (protestantischen) Wissen­ schaft über die Entstehung des Pentateuch.«39 36 37 38 39

Ebd. Ebd., 86. Ebd., 92. Bickermann, Der Gott der Makkabäer, 132.

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Beide Reformbewegungen hätten also eine radikale Reform des halachi­ schen Judentums auf der Grundlage der jeweiligen philosophischen Ver­ nunftkultur angestrebt, um damit den spezifisch jüdischen Monotheismus als notwendiges Substrat für das jüdische Leben zu zerstören. In beiden Fäl­ len sei dieser Zerstörungsprozess von »inneren Feinden«, nämlich jüdischen Theologen der Aufklärung und Emanzipation ausgegangen. Wie für beide Situationen die Antinomie der jüdischen Theokratie vorausgesetzt werden muss, haben die jüdischen Reformer, so die zu Ende gedachte Konsequenz des Vergleichs, ähnlich wie Jason und Menelaos mithilfe des Königs Antio­ chus, ihre eigenen Reformpläne über einen Befehl des preußischen Königs durchzusetzen versucht. Bickermann bedient sich – wie Mommsen – eines anachronistischen Ver­ gleichs, um von diesem ausgehend eine aktuelle Aussage über Rolle und Gefahr der deutsch-jüdischen Reform des 19. Jahrhunderts zu treffen, die allerdings wie auch im Fall Mommsens nur bedingt Geltung für sich in Anspruch nehmen kann. Wo die griechischen Reformer, Jason und Mene­ laos, den griechischen König gegen die »Orthodoxie« mobilisierten, um die für die Griechen anstößigen Gesetze zu unterbinden, wie etwa die sogenann­ ten Zeremonialgesetze von Beschneidung und Verbot des Schweinefleischs, da werden die deutsch-jüdischen Reformer gerade von der preußischen Monarchie bekämpft, und zwar auf Betreiben der jüdischen Orthodoxie. Solange nämlich Friedrich Wilhelm III. (1797–1840) König von Preußen war, wurden die Versuche, ein reformiertes Bethaus zu schaffen, auf Betrei­ ben der jüdischen Orthodoxie von ihm aus Angst vor dem »Schreckgespenst des Deismus« unterbunden. Friedrich wollte »in seinem Herrschaftsbereiche nur stockfromme Juden […] dulden«, wie Simon Dubnow feststellt.40 Seit dem sogenannten Hamburger Tempelstreit (1819/20) waren »die Juden Deutschlands in zwei erbitterte Feldlager geteilt«, wie der Reformrabbiner Abraham Geiger rückblickend traurig konstatiert.41

40 Siehe Simon Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart, 10 Bde., Berlin 1925–1929, hier Bd. 9: Die neueste Geschichte des jüdi­ schen Volkes. Das Zeitalter der ersten Reaktion und der zweiten Emanzipation (1815– 1881), Berlin 1929, 87. Siehe auch die Äußerungen Bickermanns in ders., Die Makka­ bäer, 19: »Aber die Führer der Partei verstanden sehr recht gut, dass dies alles nur eine Spielerei der oberen Zehntausend bleiben müsse, solange das Heiligtum unversehrt und das Gesetz, das die menschenfeindliche Absonderung gebot, aufrecht blieb. Wie die Emanzipation des neunzehnten Jahrhunderts n. Chr. musste die des zweiten Jahrhunderts v. Chr. mit Notwendigkeit zu einer Religionsreform führen.« Für eine ausführlichere Dar­ stellung dieser Zusammenhänge siehe Schmidt, »Wa Taschlech Emet Arza …«, 147–170. 41 Siehe Abraham Geiger, Der Hamburger Tempelstreit. Eine Zeitfrage, in: ders., Nachge­ lassene Schriften, hg. von Ludwig Geiger, 4 Bde., Berlin 1875/76, hier Bd. 1, Berlin 1875, 113–196.

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Solange die Antinomie der jüdischen Theokratie in Kraft war, und sie war eben solange in Kraft wie das monarchische System selbst, war die rabbini­ sche Führung an Wohlwollen und Befehl des Königs gebunden, sodass im deutschen Kontext also sicher nicht von einer Art »Diktatur der Aufklärung« von oben die Rede sein kann. Mit der Transformation des politischen Sys­ tems in Deutschland ergab sich aber eine völlig neue Situation, insofern der sich liberalisierende Staat die religiöse Entscheidung dem individuell auto­ nomen Gewissen des Bürgers überließ und damit natürlich der liberalen jüdischen Reform Vorschub leistete, ohne dass der Staat eigens gegen die orthodoxe Position vorgehen musste. Die jüdische Reform wurde somit nicht mit den Mitteln staatlicher Autorität von oben durchgesetzt, zugleich aber bedeutete das Prinzip der individuellen Gewissensfreiheit eine fakti­ sche Unterminierung der orthodoxen Religionsgesetzlichkeit, wie dies in der Konfrontation über die Beschneidung zwischen Gabriel Riesser (1806– 1863), dem liberalen Vorkämpfer der jüdischen Emanzipation, und dem or­ thodoxen Rabbiner Samson Raphael Hirsch (1808–1888), deutlich zum Aus­ druck kam. Als es 1843 in Frankfurt nämlich zu einigen Unglücksfällen bei der Be­ schneidung kam und das Frankfurter Sanitätsamt einen Erlass herausgab, der die Beschneidung nur den dazu bestellten Fachleuten übertrug – aber nur, wenn die jüdischen Bürger »ihre Kinder beschneiden lassen wollten« –,42 da erklärte der Führer der deutschen Orthodoxie Hirsch, dass ein »nichtbe­ schnittener Jude auf keinen Fall Mitglied der jüdischen Gemeinde werden«43 könne. Daraufhin meldete sich Gabriel Riesser zu Wort, nicht mit der Ab­ sicht, das Beschneidungsgesetz mithilfe eines königlichen Befehls zu ver­ bieten, sondern mit der Überlegung, dass es »im Hinblick auf das Prinzip der persönlichen Freiheit« unzulässig »erscheine, einen Menschen zur Be­ folgung eines seinem Gewissen widerstehenden Brauches zu zwingen.«44 Der Reformrabbiner David Einhorn (1809–1879) erregte wenig später »besonders schweren Anstoß«, indem er einen nicht beschnittenen jüdischen Knaben in das Geburtsregister der Gemeinde hatte eintragen lassen, worauf­ hin er aus seinem Amt vertrieben wurde und 1851 nach Ungarn exilierte. Auch von dort wurde er wegen seiner Reformansätze wieder vertrieben, um letzten Endes in die Vereinigten Staaten auszuwandern und dort ein Führer des amerikanischen Reformjudentums zu werden.45

42 Der Orient. Berichte, Studien und Kritiken für jüdische Geschichte und Literatur, hg. von Julius Fürst, hier Bd. 4, Leipzig 1843, 97. 43 Ebd. 44 Siehe Schmidt, »Wa Taschlech Emet Arza …«, 156. 45 Siehe Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. 9, 345.

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Die Analogie, wenn man sie für den deutsch-jüdischen Fall wörtlich nimmt, ergibt also ein komplexes Bild, das über die von Bickermann indi­ zierte Gültigkeit hinaus weiter zu entwickeln wäre und damit eine aberma­ lige Kohärenz erhalten könnte. Denn gerade das liberale Grundprinzip der Entscheidungsfreiheit wurde ja von der liberalen deutschen Kultur, wie der Fall Mommsen für Bickermann exemplarisch herausstellt, höchst illiberal als Aufforderung aufgefasst, dem Judentum überhaupt zu entsagen. So gese­ hen ist der liberale Kulturstaat auf eine Emanzipation der Juden von seinem orthodoxen wie nationalen Kollektiv hin angelegt, und so kann dieser Staat indirekt wieder als eine durch das anonyme Gesetz vermittelte Gewalt des Staates vorgestellt werden, mit dessen Hilfe die Reform ihre Ziele durch­ setzt. Bickermanns Anliegen war es vor allem zu zeigen, dass mit dem von der deutschnationalen Staatsidee dominierten Liberalismus nicht nur eine Art systemimmanenter Antisemitismus entstanden war, sondern dass gerade dessen Adoption durch die jüdische Reform zu einer konstitutiven Schwä­ che der deutschen Juden geführt habe, die den Identitätsverlust ausgelöst und damit zugleich die Möglichkeit eines jeden Widerstandes verhindert haben soll. Ohne Monotheismus, so die These Bickermanns, gibt es kein Widerstandsprinzip – und sei dieses nur als Prinzip der nationalen Umorien­ tierung aufzufassen. Im Augenblick des endgültigen Zusammenbruchs des liberalen Systems in der einsetzenden Ausgrenzung und Verfolgung wäre also gerade eine solche monotheistische Voraussetzung unbedingt vonnö­ ten – eine Bedingung, die der Liberalismus vorher schon neutralisierte. Es geht hier also um den Sinn einer problematischen Analogie, die Bickermann freilich in dem Augenblick der absoluten Gefahr einsetzt, um diesen anhand der Figur des »inneren Feindes« so zu interpretieren, dass nur politisch-theologische Umkehr und Buße diese Krise bewältigen können. Baumgarten macht es nun meiner »wörtlichen« Lesung zum Vorwurf, dass sie sich in Widersprüche verwickelt hätte. »Schmidt’s philosophical/apocalyptic perspective justified all sorts of sloppy thinking and weak arguments in support of dubious suggestions. Thus, Bickerman suggested an analogy between ancient Hellenists and Jewish reformers in 19th century, intending to employ one to discredit the other. Bickerman’s analogy was meant to be applied on the ideological [sic] level, not that ancient Hellenists and 19th century reformers acted in exactly the same way, but both groups had analogous thoughts. Yet, Schmidt under­ stood this analogy literally, and then ran into trouble, as he had to concede the differ­ ences between ancient Jerusalem and 19th century Germany […].« (235)

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Die Analogie und der Bart Tatsächlich aber hat Baumgarten nicht nur den Sinn meines wörtlichen Ver­ gleichs sehr genau begriffen, sondern er setzt ihn voraus, um nunmehr eine Analogie vorzuschlagen, mit der die von mir herausgestellten Widersprüche verschwinden sollen. Weil die von Bickermann konzipierte Parallele zwi­ schen griechischer Antike und deutscher Moderne nicht ohne Weiteres funk­ tioniert, sieht sich der Autor gezwungen, den Vergleich in einen anderen, von Bickermann gar nicht indizierten Kontext zu entführen, nämlich den der russischen Reform des 19. Jahrhunderts. Dafür begibt sich Baumgarten zunächst auf eine politisch-theologische Diskursebene. Er liest nunmehr selbst Bickermanns Text als Reaktion auf die Machtübernahme durch die Nationalsozialisten und übernimmt hier­ durch bereits eine Konsequenz, die sich aus der Analogiebildung zwischen griechischen und deutschen Reformern ergibt. Bickermanns Buch »was written in the shadow of the incipient Nazi doom. He found a measure of solace in the fact that some readers found consolation from reading his pedantic scholarly work. What was the source of this solace? Bickerman’s argument about the Hellenizing reformers put much more space between the Hellenizers on the one hand, and those who had remained loyal to Judaism on the other.« (248)

Damit gibt er nun offenbar selber zu, dass Bickermann mit seiner Untersu­ chung eine »orthodoxe« Position bezieht, um der durch den reformatori­ schen Religionsverlust und die liberale Säkularisation bedingten Gefahr ent­ gegenzutreten. Er konzipiert sogar mit Bickermann die Notwendigkeit eines Martyriums auf der Grundlage des orthodoxen Monotheismus: »More importantly, however, his book was read at the time it was written as a mes­ sage of loyalty to Judaism in the face of the impending necessity for martyr­ dom. No reader of the conclusion could miss the point« (248). Anschließend nimmt Baumgarten eine kurze Kritik an Bickermanns Ana­ logie vor, die er nun seinerseits auf einen Anachronismus zurückführt. Dabei bezieht er sich auf Samson Raphael Hirsch, wobei der eigentliche Wider­ spruch in der Differenz zwischen dem orthodoxen Hirsch und dem »unor­ thodoxen« Bickermann bestehen soll, während das oben erwähnte struktu­ relle Problem der theokratischen Antinomie hier keine Rolle spielt. Die eigentliche Rehabilitierung der Analogie durch ihren Transfer in das russische Zarenreich des 19. Jahrhunderts belegt der Autor daraufhin mit einem anderen, nicht von Bickermann intendierten Anachronismus, demzu­ folge die antiochenische Reform, neben den koscheren Speisegesetzen und dem Verbot der Beschneidung, auch das Tragen eines Barts untersagt habe. An dieser Stelle könnte Baumgarten selbst der Vorwurf gemacht werden, die Analogie allzu wörtlich zu nehmen, nur um sie mit dieser Engführung für

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seine Idee der Kohärenz zu retten – wird doch eben dieser Bart zu einem Indiz für die von Baumgarten supponierte hellenistisch-russische Analogie. »For that reason, I now focus on an anachronistic slip of the pen by Bickerman in his popular book, The Maccabees. This slip justifies a search for Bickerman’s sources of inspiration in modern times […]. According to Bickerman, King Antiochus’ decrees against the Jews were motivated by the desire of Hellenizers, Jason and Menelaos, to: ‘remove everything which smacked of separation, of the ‘ghetto’: Sabbath observance, beards […], circumcision, and that namelessness of God which was otherwise to be met with only among the most primitive peoples.’« (264)

Dieses Bartverbot entsprach keiner hellenistischen, sondern einer modernen Praxis im Zarenreich, sodass der Bart hier vom Autor als Symptom und Indiz für die Rekonstruktion von Bickermanns Analogie für den russischen Kontext eingesetzt wird. »The efforts of the maskilim [sic] penetrated all aspects of Jewish life in Russia, not only education. Throughout the reign of Nicholas I and his successors, maskilim were petitioning the government to outlaw Jewish dress. As set out in detail in a petition of the maskilim of Vilna from July 1843, government support was essential for the success of the endeavor […]. […] In the name of humanity and enlightenment, the authors of the petition requested the assistance of the government to protect them against ignor­ ance and to allow the Jews to be reborn into a new life, dressed like all other human beings. In the end, traditional Jewish dress was outlawed in May 1850. However this decree was never enforced in full«. (255)

Es ist durchaus möglich, dass die Analogie zwischen moderner und antiker Reform der historischen Situation in Russland angemessener ist als der in Deutschland. Nur gibt es für einen solchen Vergleich in Bickermanns Werk keinerlei Evidenz, einmal abgesehen von dem obsolet wirkenden Beispiel des Barts, von dem Baumgarten selber zugeben muss, dass er für dessen Gültigkeit keinen Beweis habe. Die »Entführung« der Analogie veranschau­ licht aber, dass Baumgarten meine Lesart nicht nur sehr genau verstanden und die Widersprüchlichkeit des Vergleichs als die Bickermanns erkannt hat, sondern er demonstriert mit seinem virtuosen Manöver, dass er letztend­ lich bereit ist, den Text Bickermanns für seine These der Kongruenz von Leben und Werk einem vermeintlichen »Glauben« desselben zu opfern.

Sturz oder Rettung der Wahrheit – Philosophie und Apokalypse Mit diesem Analogietransfer verfehlt Baumgarten den Zusammenhang, der Bickermanns Kritik des antijüdischen Liberalismus mit der Frage nach der Methode von Kultur- und Geschichtswissenschaft verbindet. Die Idee der

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liberalen Kultur mit ihrem aufgeklärten Ideal einer angemessenen Vermitt­ lung von Individuum und Gesellschaft – inwieweit dieses in der realpoliti­ schen Praxis widerlegt worden ist, sei dahingestellt – fand ihre methodologi­ sche Entsprechung in der Idee der Vermittlung zwischen dem individuell positiven Faktum und der Geschichtsschreibung. Ernst Troeltsch formulierte diesen Gedanken aus der Perspektive der absoluten Vermittlung von Idee und Tatsache in der hegelianischen Dialektik als aporetische Formel: »Der Widerspruch zwischen der rationalen Idee und der individuell-konkreten Geschichte bleibt daher auch bei Hegel trotz der denkbar innigsten Ineinanderziehung bestehen. Gibt man sich hin an die wirkliche Geschichte, so verschwindet die Idee; konstruiert man aus der letzteren, so verschwindet die reale Geschichte.«46

In Bickermanns Aufrechnung der drei Formen der antiken Geschichtsbe­ richte über den Makkabäeraufstand wird ebendieses Problem thematisiert. Wo die »ideenlose« positivistische Beschreibung der Tatsachen, wie sie für das 1. Buch der Makkabäer typisch sei, in eine Reihe von untereinander »unverbundenen Geschehnissen« auseinanderfällt, da gelinge der politi­ schen und religiösen Geschichtsschreibung eine Organisation der Ereig­ nisse, die dabei in der Gefahr ist, sich umso weiter von der Ebene der realen Ereignisse zu entfernen. Im Fall der rein apokalyptisch-prophetischen Dar­ stellung ist es zuletzt »gleichgültig, ob Gott zur Zuchtrute über sein Volk Assur oder Damaskos erwählt hat«.47 Bickermann hat somit von dieser Per­ spektive aus mit seiner eigenen Forschung die Weichen für eine ganz andere Koinzidenz und Vermittlung gestellt, nämlich die zwischen positiven Quel­ len, Daten und Urkunden und der theologischen Idee, der Theodizee. Dieser Theodizee zufolge entsprechen die positiven historischen Fakten nunmehr der apokalyptischen Struktur des Abfalls vom Glauben, der Strafe, Verfol­ gung und Rückkehr zum Glauben, um damit Gottes Existenz zu rechtferti­ gen. Bickermann setzt mit dieser Koinzidenz kein Ideal der Kultur als einer Vermittlung von Allgemeinem und Individualität mehr, die – wie im Fall Hegels – ihre eigene geschichtsimmanente Theodizee auf der Grundlage des geschichtlichen Leidens entfaltet; sondern er entwirft die Idee des jüdischen Monotheismus als letztes transzendentales Prinzip der Weltgeschichte im Ganzen. Mit dessen Hilfe sollen die individuellen historischen Fakten gerade im Sinne eines Protests, das heißt einer Aufhebung der jüdischen Leidensgeschichte, »organisiert« werden. Es geht ihm somit, ausgehend von der unerwarteten Kongruenz zwischen historischem Faktum und Theodizee in der Antike, um eine wie auch immer problematische historische Verallge­

46 Ernst Troeltsch, Gesammelte Schriften, 4 Bde., Aalen 1977–1981, hier Bd. 3: Der Histo­ rismus und seine Probleme, Aalen 1977, 131 (zuerst 1922). 47 Bickermann, Der Gott der Makkabäer, 25.

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meinerung der Wahrheit des Monotheismus. Dies bedeutet schließlich, über die Projektion der antiken Koinzidenz und ihrer Analogien in der Moderne die Wahrheit der »Einzigkeit Gottes« zu erhalten, wie sie sich »in ihrer tau­ sendjährigen Wanderung, durch unzählige vermeintliche Wahrheiten getäuscht und enttäuscht, als unverrückbar und ewig gefunden hat«.48 Damit scheint Bickermann, zumindest auf der rhetorischen Ebene, die Position des Historikers zugunsten des »orthodoxen« Glaubens der helden­ haften makkabäischen Märtyrer verlassen zu haben. Die Schlussfolgerungen seiner Untersuchung vollziehen den historiografisch unmöglichen Sprung, um die Analogie zwischen deutscher und hellenistischer Reform im Sinne eines durch den realen Ausnahmezustand gerechtfertigten Protests zu erwei­ tern. In dieser Zeit des Zusammenbruchs aller kulturellen Werte kann der Historiker seine methodische Distanz zu den Ereignissen auf der Grundlage der kulturwissenschaftlichen Methodologie nicht mehr einnehmen, sondern er sieht sich gezwungen, das suspendierte Ideal der kulturwissenschaftlichen Vermittlung durch die Wahrheit der Theodizee zu ersetzen. Mit der im Zuge der Aufklärung erfolgten Gleichsetzung der Idee der Kultur als Vermittlung von Individuum und Gesetz mit der Idee der Verwirk­ lichung des Reichs Gottes in der Geschichte hat sich die Kultureschatologie vom Reich Gottes auf Erden – das indizieren die von Bickermann angeführ­ ten Äußerungen Voltaires, Mommsens und Wilamowitz-Moellendorffs – in »eine täuschende und enttäuschende Wahrheit« verkehrt. Gegen die täu­ schende Wahrheit der Philosophie der Aufklärung, und damit prinzipiell gegen alle leeren Gewissheiten von einer Realisierung des Reichs Gottes auf Erden, gelte es im Augenblick des Zusammenbruchs die »einzige Wahrheit« zu erhalten. Bickermanns programmatische Diagnose von der Kongruenz von Real- und Heilsgeschichte erweist sich aus dieser Perspektive als explo­ sive Strategie der Realisierung des methodischen Ideals von der Überein­ stimmung, um mit ihr ebendieses immanente Ideal der Kultur als Realisie­ rung des Reichs Gottes zu sprengen, oder in apokalyptischer Sprache: deren Wahrheit zu stürzen (Dan 8,12). Mit diesem Sturz der kulturhistorischen Wahrheit, der im Jahr 1937 keine reale Geschichte mehr entsprach, öffnet sich die Geschichtsdarstellung von der Rettung der einen und ewigen Wahrheit tatsächlich einer anderen Ebene. Im Augenblick der selbst erlebten Gefahr setzt der Historiker auf Grundlage der heilsgeschichtlichen Hypothese auf das Gebet als letzte Hoffnung, um die reale Bedrohung vielleicht doch noch abzuwenden. Die Wirklichkeit möge sich im Sinn der Theodizee vielleicht doch noch zum Besseren wen­ den. Zwar implantiert Bickermann die Gebete in das Herz des historischen

48 Ebd., 139.

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Berichts, gleichwohl geht es ihm dabei auch um den aktuellen Bezug, von dem aus dann die verharmlosende Rede von einem »Glauben« des Autors freilich eine ganz andere Rechtfertigung erhielte. Das Gebet vermag dem verzweifelnden Leser im Augenblick der Wiederkehr der Apokalypse die Hoffnung zu eröffnen, die Theodizee möge sich auch jetzt in einer Abwen­ dung der historischen Katastrophe durch eine Rückbesinnung auf ebendie­ sen Glauben Israels wiederholen.

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One Man’s Struggle: The Politics of Shimshon Rosenbaum (1859–1934) The lawyer Shimshon Rosenbaum was, just as his contemporary Theodor Herzl, one of the preeminent but, unlike the latter, nowadays widely unknown leaders of the Zionist movement. In 1932 he published his book Der Souve­ ränitätsbegriff. Ein Versuch seiner Revision (The Notion of Sovereignty. An Attempt at its Revision),1 in which he not only advocated a novel concept of sovereignty in international law and relations guided by a limitation of the scope of powers states should lawfully have, but – although not an explicit subject of his treatise – he simultaneously honed his approach to how antiSemitism can be prevented more effectively. Rosenbaum’s endeavors to resist anti-Semitism were predicated on his principal concurrence with the conviction expressed by Herzl in his opening address at the First Zionist Congress in Basel on 29 August 1897 that the dif­ ference between the Zionist movement then and in the past was marked by the Zionists’ preference for law over toleration.2 The positions Rosenbaum took on this issue throughout his Zionist career were, however, hardly if ever the result of a deductive process in a merely theoretical exercise character­ ized by a general sense of social injustice: They were, on the contrary, the evolving outcome of an incessant examination of the phenomenon and the consequences of a hermetical system3 of anti-Jewish prejudices under the conditions of relentless personal experience and observation of its various forms, attitudes and utterances, and they were influenced by the fact that Rosenbaum himself became an object – or rather a target – of prevalent antiSemitism in most of those places in Tsarist Russia in which he resided or was active. One such characteristic event of this kind, which took place in Shimshon Rosenbaum’s native Pinsk, is recounted by his son Wladimir Rosenbaum: “I was walking with my father in the shtetl. We were walking on a narrow sidewalk, and my father was telling some story from the Bible. […] And then two very tall Cos­ sack officers were approaching us – to me they appeared as giants – and telling my

1 2 3

Shimshon Rosenbaum, Der Souveränitätsbegriff. Ein Versuch seiner Revision, Zurich 1932. Theodor Herzl, Zionistische Schriften, Berlin 1920, 141. On the functionality of anti-Semitism as hermetical system of prejudices, see Wolfgang Benz, Was ist Antisemitismus?, Bonn 2004, 236 f. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 87–109.

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father: ‘Get off the sidewalk, you lousy Jew!’ My father – a small and tiny little man with an intelligent face – stopped and looked at these two with his calm brown eyes, without fear, without unrest, without question, neither in a challenging nor in a submis­ sive way, but calmly and with philosophic serenity – and just waited. Thus, he did not obey their order. Still today I recall the choked scream of horror of the people in the street, because it was clear that these two would beat us up, regardless of if we would be lying underfoot them only hurt or even beaten to death. But my father just looked at them, upon which something peculiar happened. I recall that the facial expression of these fellows started to display human traits. The two officers stepped down from the sidewalk and passed us in silence. We continued our walk, and my father continued to tell his story. […] And then – this I also never have forgotten – he stopped, slightly shook his head, and said: ‘These poor boys.’”4

In many respects, Shimshon Rosenbaum’s book epitomized the final stage of his approach to anti-Semitism under constant reassessment and readjust­ ment. To analyze its conceptual development, which was broadly tested in his legal and political activities, is the aim of this contribution. In order to explain the complex phenomenon of Rosenbaum’s approach towards antiSemitism, it will not always be possible to uphold a strict orientation along a chronological timeline. As the extent of legitimacy of anti-Semitic patterns of behavioral and decision-making processes in legal, social, cultural and religious contexts constantly underwent alterations – often, but not exclu­ sively, as a consequence of changes and adaptations in the predominant poli­ tical framework – and as Rosenbaum several times relocated the centers of gravity of his political endeavors combating anti-Semitism, the subsequent presentation shall be subdivided into his activities in the Russian Empire, in Lithuania and in Mandatory Palestine.

Before Resettling in Vilna in 1915: Rosenbaum’s Encounters with Blunt Anti-Semitism at Home and Zionist Aspirations Abroad In a post-modern appraisal of Shimshon Rosenbaum’s curriculum vitae prior to his resettlement in Vilna in 1915, findings of the tenor that he would come to experience intolerance to difference5 appear consequential when taking into account the crucial data of his biography:6 4

5 6

Peter Kamber, Geschichte zweier Leben. Wladimir Rosenbaum und Aline Valangin, Zur­ ich 22002, 8 (first publ. Zurich 2000); Schweizerisches Sozialarchiv, Fund Ar.115.1, Wla­ dimir Rosenbaum, Tagebuch (1958–12), 61. On the notion of “intolerance to difference,” see Zygmunt Bauman, Modernity and Ambivalence, Ithaca, N. Y., 1991, 104. David Tidhar, Entsiklopedyah le-halutse ha-yishuv u-vonav [Encyclopedia of the Foun­

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Born on 3 September 1859, in Pinsk (Governorate of Minsk), Shimshon Rosenbaum grew up in a traditional Orthodox, Litvak-Jewish environment. He studied law in Vienna and in Odessa, where he received his doctorate in 1887.7 Already as a student, he had become enthralled by the idea of a renaissance of the Jewish people and involved himself in the Jewish na­ tional movement. Rosenbaum tried to convince Jews to emancipate them­ selves from their own rigid traditions without giving up their Jewish iden­ tity,8 but was in no doubt that a lot of convincing would be required before they came to see themselves not just as a religious community, but as a na­ tion as well. In these endeavors, he apparently succeeded to adapt his goals to geopolitical changes. Therefore, when the Russian Empire collapsed, he saw it as his urgent task as a moderate Zionist to support the Jews in inde­ pendent Lithuania.9 It is not easy to refute that his actions bear evidence of assimilatory efforts. But it is questionable whether he himself, in the era prior to reset­ tling in Vilna, considered them conclusive and prospective. In his under­ standing, the social configuration created by this policy of approbatory – or rather: latent – assimilation neither constituted nor remained a trap as there was an exit, which potentially prevented the Jewish nation from isolation and existential vulnerability. This exit is firmly linked to the advocacy of ter­

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ders and Builders of Israel], vol. 3, Tel Aviv 1963, 1317 f. (Heb.); Dov Levin, s. v. “Rosen­ baum, Shimshon,” in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eastern Europe, ed. by Gershon David Hundert, vol. 2. New Haven, Conn./London 2008, 1592 f.; Yehuda Slutsky, s. v. “Rosenbaum, Semyon (Shimshon),” in: Encyclopaedia Judaica, ed. by Fred Skolnik and Michael Berenbaum, vol. 17, Detroit, Mich., et al. 22007, 433 f. (first publ. 1971); Eglė Bendikaitė, s. v. “Simonas Rozenbaumas,” in: Didysis Lietuvos parlamentarų biografinis žodynas, tom. 2: Lietuvos Steigiamojo Seimo (1920–1922 metų) narių biografinis žody­ nas [Great Biographical Dictionary of the Lithuanian Parliamentarians, vol. 2: Biographi­ cal Dictionary of the Members of the Constituent Assembly of Lithuania (1920–1922)], ed. by Aivas Ragauskas and Mindaugas Tamošaitis, Vilnius 2006, 318–321. Rosenbaum was sworn in as a law practitioner at Minsk District Court; subsequently, upon moving from Pinsk to Minsk in 1890, he set up a practice as private lawyer in Minsk and was first admitted to appear as counsel at the courts in the districts of Minsk and Pinsk and later – from 1904 – also at the Vilna District Court. As far as Rosenbaum’s docket of courtroom advocacy and legal drafting can be reconstructed, it would appear that – at least before 1905 – private law matters stood for the majority of the cases, despite the fact that he had specialized in criminal law in his university studies and in his doctoral thesis. Indi­ cative of this professional orientation is the fact that he was entrusted to draft and to revise the Statutes of the Jewish Colonial Trust. See B. Iu. Ivanov/A. A. Komzolova/I. S. Ria­ khovskaia, Gosudarstvennaia duma Rossiiskoi imperii, 1906–1917 [The State Duma of the Russian Empire, 1906–1917], Moscow 2008, 529. Eglė Bendikaitė, Intermediary between Worlds. Shimshon Rosenbaum. Lawyer, Zionist, Politician, in: Ray Brandon et al. (eds.), Impulses for Europe. Tradition and Modernity in East European Jewry, Berlin 2008, 171–178, here 172. Moshe Kahan, Rozenboym als tsyenist [Rosenbaum as Zionist], in: Di idishe shtime [The Jewish Voice], 20 November 1924, Special Supplement, 3.

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ritorial rootage in Eretz Yisrael.10 Hence, when his efforts for the Jewish minority in Lithuania ultimately proved futile as a consequence of the demands for homogeneity entailed in the conception and practice of the Lithuanian nation-state, he reverted to the feasibility of establishing a Jewish State in Palestine and, upon accepting this option as realistic for both him­ self and his Jewish fellow citizens, concentrated his energies on contributing to create favorable conditions in a new homeland for the Jews without relin­ quishing his engagement for the Jewish diaspora. Rosenbaum travelled intensively throughout the Pale of Settlement, visit­ ing many towns and shtetls and calling on the Jews to take part in making the national ideal a reality.11 He was soon well-known throughout the North­ west of the Russian Empire, and it is no exaggeration to denominate him as one of the principal leaders of the Zionist movement in Russia. From the Second World Zionist Congress, which was held in Basel in 1898 and at which he participated as a delegate for Minsk, to the Thirteenth, held in Carlsbad in 1923 in his presence as a permanent member of the Congress and at the same time as Lithuanian Minister of Jewish Affairs, he assumed responsibilities in the international Zionist movement, in particular after having been elected to the Executive Committee of the Zionist Organization in 1900 at the Fourth Congress held in London. At the Third All-Russian Zionist Congress, held in Helsinki in 1906, he joined in adopting a program that called both for the promotion of Jewish immigration to Eretz Yisrael and for the intensification of “work in the present” or – in Yiddish – Kegn­ vart arbet,12 hereby alluding to the struggle for Jewish civil and minority rights in the various countries where Jews were living. Rosenbaum’s inter­ ests were not confined to the Zionist Organization; he campaigned not only 10 See Daniel Persky, Shimshon Rozenboym, in: Shlomo Even-Shushan (ed.), Minsk – ir vaem. Kerech rishon: Yahadoth Minsk me-reshitah ve-ad 1917 [Minsk – Jewish MotherCity, vol. 1: Minsk Jewry from its Inception until 1917], Tel Aviv 1975, 345–348, here 348. – Simon Dubnow ascertained that Rosenbaum in 1905, thus two years after the con­ troversy with Herzl, at the Sixth World Zionist Congress, on the so-called “Uganda Plan,” had a principled stance against a political program for the Zionist movement which would reinforce assimilatory tendencies, or prolong the Jewish nation’s exile. According to Dub­ now, Rosenbaum at that point in time conceived national autonomy as a deviation, caus­ ing detrimental retardation in the Jewish nation’s orientation towards Eretz Yisrael. See Simon Dubnow, Dos bukh fun mayn lebn. Zikhroynes un meditatsyes. Material tsu der geshikhte fun mayn tsayt, band tsvey (1903–1922) [The Book of My Life. Memories and Reflections. Material for the History of My Time, vol. 2: 1903–1922], Buenos Aires/New York 1962, 32. See also Bauman, Modernity and Ambivalence, 141, and 143. 11 Persky, Shimshon Rozenboym, 348. 12 See Eglė Bendikaitė, Sionistinis sąjūdis Lietuvoje [The Zionist Movement in Lithuania], Vilnius 2006, 40 f.; idem, “Hier und jetzt”. Über Bedingungen und Wirkungsspielräume der zionistischen Bewegung in Litauen, in: Forschungen zur Baltischen Geschichte 5 (2010), 143–167, here 147.

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for the right of the Jews to their own, remotely located country, but fought for their political and civil rights in the Russian Empire as well. This, he decided, could be best achieved in the courtroom and in the plenary hall, and until he moved to Vilna, both appeared to have become his forums of choice. It is bequeathed by contemporary witnesses that Rosenbaum did not shy away from politically motivated court cases. He is remembered to have agreed to represent the victims of pogroms as well as Zionists who were accused of “actions that threaten state order and social stability.”13 Accord­ ing to the empathic observation of the writer and journalist Daniel Persky (1887–1962), a younger contemporary observer and chronologist of Rosen­ baum’s Zionist activities in Minsk, “[l]egends were told about his wonders as a lawyer, for nothing was too wonderful for him. He was the one who arranged a permit to convene the historical convention of all Zionists of Russia in Minsk in 1902, and he was its living spirit. He was the one who received a government permit to found the Poale Zion [i. e. Socialist Zionist] party. He was the defense attorney in every famous court case against Zionist activists, and he was always victorious. In court, he took the side of the Jews who were afflicted by pogroms, and he was vindicated in judgment. […] No disputing judge or lawyer could equal him under any circumstance, with his tireless rendering of the sparks of his noisy arguments, his convincing logic, and his sharp barbs.”14

An instructive example to be cited here is the report on the so-called “Minsk Trial,” a criminal case the sheer, and quite unprecedented, procedural magni­ tude of which offered it huge publicity already at the time it was heard at the Minsk District Court. On the merits, these proceedings15 – instituted after a turmoil in Minsk on 21 March 1898, involving locally deployed Russian military on the one side and a notable number of Jewish inhabitants of this city on the other side, who were antagonized for the reason of an inconside­ rate verbal slander of minor gravity – were based on the charge of violations committed pursuant to Article 2691 of the Penal Code criminalizing internal disturbances. This provision had been introduced on 9 December 1891, as a consequence of earlier pogroms aimed at Jewish populations. Rosenbaum, co-counseling Jewish defendants in the “Minsk Trial,” insisted that the court would hear a multitude of witnesses, whose ultimate contribution to the establishment of facts substantiating the criminal offenses was of limited juridical value, but whose testimonies all the more displayed the immense 13 Bendikaitė, Intermediary between Worlds, 173. 14 Persky, Shimshon Rozenboym, 345. 15 Minskii protsess. Delo o soprotivlenii evreiskikh skopishch voennym patruliam. Rech’ prisiazhnogo poverennogo A. S. Shmakogo kak predstavitelia 119-go pekhotnogo Kolo­ menskogo polka [The Minsk Trial. The Case on the Resistance of the Jewish Crowd against Military Patrols. Pleading of Bar-Admitted Attorney A. S. Shmakii as Legal Representative of the 119th Kolomenskii Infantry Regiment], Moscow 1899.

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social tensions in the Pale of Settlement as the result of systematic antiSemitic discrimination and thus the root cause for the unfolding of such events, which could be triggered by so much as a stray spark.16 Branded by the experience of earlier anti-Jewish riots and by the memory of abandon­ ment, those tensions could be brought to rise by the mere rumor that a new pogrom might be imminent. In the aftermath of the Kishinev pogrom on 6 and 7 April 1903, the Minsk police department surmised that the Jewish population of the city could easily be agitated, if it was reached by a call for the need to prepare its selfdefense. Intelligence it had been eager to collect appeared to indicate that the Jews of Minsk seriously expected a similar pogrom to take place there in the month of May and, therefore, saw an overriding necessity to arrange forces – in particular among the Zionists – to fend off possible acts of antiJewish aggression. However, as the police were convinced that those conjec­ tures lacked any ground and that the danger of a pogrom was remote, they saw wise to contact Shimshon Rosenbaum as the leading representative of the local Zionist movement and to transmit an assuasive message while simultaneously urging the Zionists to halt with immediate effect any endea­ vors to organize a Jewish self-defense. The records17 are silent about Rosen­ baum’s reaction to this request. Rather, the superintendent of the Minsk police gave an account to the Ministry of the Interior in St. Petersburg of the motives behind his call on Rosenbaum:18 Reports on repeated meetings of local Jewish groups had alarmed him, he wrote, but at the same time the informants had reassured him that Rosenbaum had spoken in a soothing way (in Russian,19 not in Yiddish, as it was particularly annotated) at these gath­ erings, at which decisions were taken to assist the surviving victims of the 16 See also the instructive analysis by Theodor R. Weeks, Russians, Jews, and Poles. Russifi­ cation and Antisemitism 1881–1914, in: Quest. Issues in Contemporary Jewish History. Journal of Fondazione CDEC 3 (2012), (10 June 2014). 17 Donesenie nachal’nika Minskogo gubernskogo zhandarmskogo upravleniia, 30 Aprelia 1903 [Report of the Head of the Administration of the Minsk Governoratorial Gendarme­ rie, 30 April 1903], State Archive of the Russian Federation (henceforth SARF), Fund 102 osobyi otdel [special section], 3 otdelenie [third subsection] (hereinafter referred to as “F.102 os. otd., 3 otd-ie”), 1903, File 874, 64. 18 Donesenie nachal’nika Minskogo gubernskogo zhandarmskogo upravleniia, 16 Maia 1903 [Report of the Head of the Administration of the Minsk Governoratorial Gendarme­ rie, 16 May 1903], SARF, F.102 os. otd., 3 otd-ie, 1903, File 837, vol. 4, 23; Otnoshenie Minskogo gubernatora, 18 Maia 1903 [Position of the Governor of Minsk, 18 May 1903], SARF, F.102 os. otd., 3 otd-ie, 1903, File 837, vol. 4B, 42. 19 According to Persky’s eye-witness observations, Rosenbaum would express himself with great prudence at Zionist meetings, in particular when the covert presence of Russian police authorities was more likely than not. An element of his tactics would then be to speak in Russian, using codes which seemed to be innocuous in linguistic terms, but

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Kishinev pogrom financially and to declare three months of mourning of the deceased. That Rosenbaum possessed a unique gift of acting as a de-escalating force in situations carried away by the mood of agitation is witnessed by the Jew­ ish historian and writer Simon Dubnow (1860–1941) in his memoirs when he wrote about a meeting in the spring of 1905 with the Jewish leadership in Vilna, which had severely criticized the Kishinev rabbi Etinger for lack of civil courage and national dignity in his dealings with the local government after the 1903 Kishinev pogrom. Rosenbaum, fully recognizing the impact which this event had “on the Jewish street” and thus also on the Zionist poli­ tical agenda, is described to have been very reserved towards this view venti­ lated in the “Jerusalem of Lithuania.”20 On 14 April 1906, Rosenbaum was elected a representative of the consti­ tuency of the Governorate of Minsk to the State Duma of the Russian Empire, where he joined the parliamentary group of the (liberal) Constitu­ tional Democratic Party (the Kadets᾿ Party). He was almost immediately noticed for initiating or co-sponsoring legislative proposals that would give Jews political equality. Among these, the most prominent would be the bills “On Civil Equality,” “On Habeas Corpus,” “On the Abolition of the Death Penalty,” and “On the Immunity of Members of the State Duma.”21 In addi­ tion, the evaluation of the stenographical protocols of State Duma sessions uncovers his very individual oral style, which combined rhetorical skills with a remarkable quick-wittedness. In one debate on the so-called “national question” concerning the policy and status of national minorities, the Mem­ ber of the State Duma Rosenbaum is recorded to have argued that a Jew in Russia, in order to be granted some selected civil rights, would be forced to commit an offense as this would yield the right of residence – in Siberia, for sure, but a right. Assuming, the representative continued, that this person would be pardoned before having served his full term of imprisonment, he would be deprived of this right once more and forced to return to his regular life bereft of any guaranteed civil rights.22 which carried clear messages to those who were trained to listen to his speeches; see Persky, Shimshon Rozenboym, 347. 20 Dubnow, Dos bukh fun mayn lebn, band eyns (biz dem yor 1903), vol. 1: Until 1903, Bue­ nos Aires/New York 1976, 376–385; idem, Dos bukh fun mayn lebn, vol. 2, 30–36. 21 See Ivanov/Komzolova/Riakhovskaia, Gosudarstvennaia duma Rossiiskoi imperii, 1906– 1917, 529. 22 Rech’ Rozenbauma, I Sessiia, zasedanie 22, 6 VI 1906 g., Gosudarstvennaia Duma: Ste­ nograficheskie otchëty 1906 god. Sessiia pervaia, tom. 2: Zasedaniia 19–38 (s 1 iiunia po 4 iiulia), St. Petersburg 1906, 1072 [Speech by Rosenbaum, First Session, Parliamentary Meeting no. 22, 6 June 1906, State Duma: Verbatim Records for 1906. First Session, vol. 2: Parliamentary Meetings no. 19–38 (from 1 June to 4 July)], St. Petersburg 1906, 1072.

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In the parliamentary debate on 6 June 1906, Rosenbaum was noticed for the personal experience he related to the members of the House. He reverted to the issue of the arbitrariness in administrative decision-making while granting or denying the right of residence to Jews. In those professions which Jews were allowed to have, they were subjected to particularly scru­ pulous supervision. In order for a Jewish attorney to be awarded the rank of “prisiazhnyi poverennyi” (literally: sworn attorney), admitting him to the bar and entitling him to courtroom advocacy, a special permission by the Ministry of Justice was required. This permission, however, would not be given on the basis of competence and qualification, but purely arbitrarily – without possibility to determine, on what merits these permissions were granted or denied.23 The state of the education system, Rosenbaum further explicated, was particularly deplorable. For Jews, this circumstance would have an ironical side to it, as they were required to achieve the highest marks in all subjects in order to be tolerated to receive education. And only if Jew­ ish university students graduated with optimal marks could they hope for some recognition by civil society, as they had to be able to demonstrate such qualifications if they wanted their applications for the lowest positions in the public service even to be considered. Upon a heckling from the right-wing floor, urging Rosenbaum to explain what constituted “the Jewish issue,” he retorted that this intervention, for him, came quite unexpectedly, as he had not imagined the “Jewish issue” to be unclear to anybody in the House. However, Rosenbaum wanted to say right away that he and his fellow Jews knew what it meant when the gentlemen on the right wing looked down on him and his peers as the society’s third class. But, he added, the principal reason why he was here in this elected State Duma was: to prevent the par­ liament from recognizing a stratification of Russian society in first, second, and third classes, and to work for the equality of everybody. Therefore, Rosenbaum emphasized, “the Jewish issue” was in fact not an issue for the Jews, but for the Russian people. For the Jews, it had not been – and contin­ ued not to be – an issue as they had succeeded for more than thousand years to live on an equal basis in their society and with their neighbors. Civiliza­ tion was tantamount to the achievement of equality, and to adhere to this aim, Rosenbaum asserted, the Russian society in general was prepared much more broadly and forcefully than some of the first-class representatives in this House would wish. Rosenbaum stressed that “[a]lready at Mount Sinai the Jews had understood that what was required was one law, equally applic­ able to the Jews and to those who did not belong to the Jewish nation, but lived closely with them in the same territories.”24 23 Ibid., 1073. 24 Ibid., 1074.

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Following the dissolution of the State Duma four months later, Rosen­ baum and other members of the Kadets’ parliamentary group signed the Vyborg Manifesto, which called for civil disobedience against Tsarist rule and the withholding of taxes. As a result of this action, Rosenbaum was given a prison sentence in St. Petersburg and stripped of his voting rights.25 In 1913, Rosenbaum moved to St. Petersburg, apparently as the main conse­ quence of the fact that the center of gravity in the workload of his law firm had deflected to the higher courts and central authorities in the Russian capi­ tal. He stayed there only until the outbreak of World War I, at the beginning of which he moved to Vilna. There, he was active in the local committee for refugees and assumed the double-tracked task of defending Jewish inter­ ests:26 on the one side by representing Russian and Lithuanian Jews sus­ pected by the Russian authorities of spying for the German enemy, and on the other side – equally important – by asserting and defending Jewish rights against infringements by the German occupying power. For Rosenbaum, Vilna would also become the gateway to strengthen contacts with the German Zionist Organization and the scene for his dress rehearsal prior to his entry into international diplomacy. All things considered, it would be the place where he decided that the time had come to recalibrate Zionist priorities.

Recalibrating Zionist Priorities and Opting for Prevention as Means of Choice to Combat Anti-Semitism The decision of Shimshon Rosenbaum to move to Vilna was precipitated by a rapidly growing need to organize and to grant legal aid mainly – but not exclusively – to Jews, a step which was justified ex post by the lowering of legal standards to a deplorable level after the outbreak of the war.27 Since 1904, he had been admitted as counsel for courtroom advocacy at the Vilna District Court, and due to his Zionist activities he considered himself famil­ iar with this important center of Jewish life in the Russian Empire, which another – the Lithuanian – ethnic minority regarded as their historical capital in this multi-ethnical State, too. But it would be plausible also to presume 25 Prokuror Vilenskoi Sudebnoi palaty v pervyi departament Ministerstva Iustitsii po tre­ t’emu ugolovnomu otdeleniiu, 19 ianvaria 1909 g. [Public Prosecutor at the Vilna Trial Chamber to the Third Criminal Law Division in the First Department of the Ministry of Justice, 19 January 1909], Lithuanian State Historical Archives, Fund 446, Inventory 10, File 292, 50–versus. 26 Bendikaitė, “Simonas Rozenbaumas,” 318. 27 Shimshon Rozenboym, Yuridishe hilf [Legal Aid], in: Tsemakh Shabad (ed.), Vilner zamelbukh, ershter band [Vilna Anthology, vol. 1], Vilna 1916, 108–111, here 110.

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that he had been requested to move in order to reinforce the Zionist cause in the city, in which the Russian Zionist movement was headquartered. After the German occupation of Vilna in 1915 and the introduction of an occupa­ tional regime which in many respects was very favorable to the Jewish popu­ lation, organized Zionism in Russia might have seen a merit in being repre­ sented on site by a personality who was trusted by the international Zionist movement and who could communicate easily with the occupying power owing to his excellent command of the German language. Nothing seems to contradict that several of these reasons might have simultaneously directed his decision to resettle in Vilna and that they are compatible with an emer­ ging approach adopted by Rosenbaum to combat anti-Semitism by general prevention, which is relying on the concept of autonomy and the rule of law. The Lithuanian Zionist Organization did not exist as an independent body in the country; its activities were concentrated in the circle of its most dedi­ cated members, led by Rosenbaum. He explained his influence on the Jew­ ish community by objective circumstances, mentioning in the first place the retreat from Lithuania of expert Zionists, whose political and social influ­ ence on the Jewish community was very strong, but also his authority as a for­ mer Member of the State Duma, and his merits as an attorney in serving the remaining local Jewish community and Jews in need of legal assistance.28

Combatting Anti-Semitism by Legal Assistance In a detailed article entitled Yuridishe hilf (Legal Aid), which was published in 1916,29 i. e., already during the German occupation of Vilna, Rosenbaum reported on the scope of legal assistance, which had been extended both by himself and in cooperation with other lawyers. The legal subject matters of the cases reported therein were in their majority rather typical for wartimerelated criminal proceedings which – in Rosenbaum’s presentation – would preferably engage in accusations of treason, espionage and illegitimate fa­ voritism towards the wartime enemy and be vulnerable to traits of show trials if not held strictly pursuant to criminal procedure law. Simultaneously, they would tend to eliminate entire groups which the predominant power structures considered unreliable. Rosenbaum illustrated the change in the public mood immediately before the outbreak of war and in its aftermath by 28 See Central Zionist Archive in Jerusalem (henceforth CZA), Fund Z3, File 509, n. p., Rosenbaum’s Report to the Central Zionist Bureau in Berlin, 22 March 1916; Eglė Bendi­ kaitė, The Zionist Priorities in the Struggle for Lite, 1916–1918, in: Vladas Sirutavičius/ Darius Staliūnas (eds.), A Pragmatic Alliance. Jewish-Lithuanian Political Cooperation at the Beginning of the 20th Century, Budapest 2011, 159–180, here 161. 29 Shimshon Rozenboym, Yuridishe hilf, 108–111.

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highlighting how the Russian leadership in the imminence of the war again and again emphasized that they did not know of any difference between Jews and non-Jews, as the entire Russian population consisted of true Rus­ sian patriots only. However, once the war had broken out – and especially after the occupation of Vilna by the German troops – anti-Semitism flour­ ished once more in Russia. After he began to grasp the extent of the problem of judicial injustice, Rosenbaum decided – together with his attorney colleagues Bramson and Gruzenberg – to encourage the establishing, in several places, of committees for the provision of legal aid to Jewish defendants. Quite soon, committees were formed in Vilna, St. Petersburg, Kiev, and Warsaw. Further, negotia­ tions to launch such activities took place in Baku, Rostov, and Kharkov. In Vilna, St. Petersburg and Warsaw, both Jewish and Christian attorneys agreed to provide legal assistance to Jewish and non-Jewish defendants. Rosenbaum himself, together with attorney Gruzenberg, was mandated to defend persons accused in Vilna and Warsaw.30 Rosenbaum took pride in the fact that thanks to this system of legal aid there had been no convictions of Jewish defendants in criminal proceedings, which were heard before ordinary courts of law. At length he reported that he had succeeded, in a case of alleged crimes against provisions of war econ­ omy in Šiauliai,31 in proving the false testimony of the main witness of the prosecution against a Jewish defendant. The Vilna District Court had acquitted the accused and, instead, sentenced the witness for false testimony while not under oath to a three years’ imprisonment. Also, it had initiated an investigation against the public prosecutor who had called this witness. Rosenbaum also extensively reported on cases, in which Russian officers had accused Jews of having committed fraudulent acts against them during German attacks. He described in detail an individual case,32 in which a Rus­ sian officer had a Jew from Stallupönen charged with such fraud. Hearing about this accusation, the non-commissioned soldiers serving under him had contradicted this false accusation “in the true spirit of soldiers” – so that truth would prevail.33 Rosenbaum underlined that the real problems of anti-Semitic acts by judi­ cial institutions, which could not be solved with the help of committees for the provision of legal aid, were constituted, on the one hand, by the massive ordering of administrative detention of Jews in Siberia and, on the other hand, by the Russian field courts-martial, as in both types of proceedings 30 31 32 33

Ibid., 109. Ibid., 110. Ibid., 109 f. Ibid., 110 f.

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representation or defense by lawyers was not compulsory. It was common practice in these proceedings not even to allow the defendants to speak up for their own cause. Rosenbaum described as particularly offending to the sense of justice those cases, in which the ordinary court of law had acquitted a Jewish defendant, but in which he, once declared free to leave the court­ room, was immediately taken into indefinite administrative detention in Siberia.34

Combatting Anti-Semitism by Prevention in Solid Political Structures Based on the Principle of the Rule of Law The correspondence of the World Zionist Organization (WZO) proves that Rosenbaum’s opinion and influence on the Jewish community were highly esteemed. Arthur Hantke and Paul Nathan, the leaders of the Zionist move­ ment in Germany and intermediaries between the Zionist groups operating in the territory of the “Supreme Commander of All German Forces in the East” – commonly referred to as Ober Ost – and the leadership of the WZO, considered Rosenbaum the most important contact person, the most reliable partner, and the faithful executor of Zionist policy in Lithuania.35 Looking at the bigger picture, it would appear justifiable to contend that the policies of the Lithuanian Zionists were for the most part developed or at least coordi­ nated in Berlin.36 The favorable attitude of Jews towards the German mili­ tary administration was caused by the latter’s policy of equal rights princi­ ple, allowing them, as Rosenbaum reported to the Central Zionist Bureau in Berlin on 22 March 1916, “to stop feeling like pariahs,” and “to launch a vigorous struggle for their political, civic, and national rights.”37 According to this report on the Jewish situation in Lithuania, the highest officials of the occupational administration treated representatives of various nations as equals.38 Rosenbaum elaborated that neither in the front zone nor in the terri­ tory occupied by Germany did Jews have to be afraid of pogroms or to be “publicly whipped or declared spies and informers without any grounds, be

34 Ibid., 111. 35 CZA, Fund Z3, File 131, 133, 135, 824, 825, et al., Correspondence of the CZA. 36 CZA, Fund Z3, File 10, n. p., Political Memoranda of and to the EAC [“Engeres AktionsComité,” the Smaller Actions Committee, i. e. the executive body of the Zionist Organiza­ tion as created by the First Zionist Congress in 1897], 1915–1918; CZA, Fund Z3, File 11, n. p., Minutes of Meetings of Zionist Leaders with Politicians and Statesmen, 1914– 1919. 37 CZA, Fund Z3, File 509, n. p., Rosenbaum’s Report to the Central Zionist Bureau in Ber­ lin, 22 March 1916. 38 See ibid., Hantke’s Letter to Rosenbaum, Berlin, 4 April 1916.

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hanged without court, or sent to Siberia.”39 This, however, he continued, were exactly the experiences of the Jews for the past 150 years, when they were subjects of the Russian Empire. This new situation and a fairly liberal attitude of the Ober Ost administration made the Jews anxious, as at each step they encountered opposition that protected “the former [i. e., Russian] understanding of equality.”40 Rosenbaum anticipated that this policy towards the national minorities might trigger a course of events neither foreseen nor desired by the occupying power: “The Germans should be very cautious in seeking to guarantee equal rights for all national groups, as any equality with regard to Jews would be seen as protecting us and can provoke even stronger hostility towards the Jews.”41 According to the reports by Rosenbaum to the Central Zionist Bureau, Germany’s policy in Ober Ost had caused an emergence of anti-Semitism in spheres where it had never existed, and an increase in societal sectors where the notoriety of anti-Semitism previously was of a much lesser degree. Rosenbaum was particularly concerned about the growing distance between Lithuanians and Jews, largely due, as he saw it, to a broadening gap between their views on prospective developments, which Jews alone were incapable of narrowing, unless “they [i. e., the Jews] rejected their most sacred inher­ ent rights.”42 Rosenbaum realized the Germans’ increasing sympathies for, and connivance with, the Lithuanian interests, and contemplated ways how to assert the Zionist position without antagonizing other groups of the popu­ lation in the Ober Ost territory, whose national ambitions were also pushing for political realization. From 12 to 17 October 1917, Arthur Hantke visited Vilnius, where his meeting with the local leaders of the Jewish community had the purpose to form an opinion about the economic, social, and cultural situation of the Jews living there. While seeking to use his visit for the propaganda of Zio­ nist ideas too, local Zionists held a meeting in Vilnius on 14 October, which confirmed that the hopes of the Jewish nation to have a national home in its historical lands had not changed in the war years, and that they had not aban­ doned their aspirations of a return to Palestine. In his address to the partici­ pants of the meeting, Rosenbaum stressed that “Zionism has been finally transferred to the domain of the ministry of foreign affairs rather than that of home affairs, that is, in addition to other problems, the war raised the Jewish issue in a new way, not as an issue of a separate community, but as an issue of a

39 40 41 42

Ibid., Rosenbaum’s Report to the Central Zionist Bureau in Berlin, 22 March 1916. Ibid. Ibid. Ibid., Rosenbaum’s Letter to Hantke, Vilnius, 21 November 1917.

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united nation with all its characteristic attributes. At this moment it has become a Euro­ pean issue, a global question that finally has to be answered.”43

He was convinced that equality was not enough anymore, as the question of equality belonged, like the Tsarist Empire, to the past. On 2 November 1917, Lord Arthur Balfour, the then Foreign Secretary of the United King­ dom, announced a declaration, which became one of the crucial points of reference in the history of Zionism and the Jewish people scattered all over the world. By this declaration, the Jews were granted their political rights to the historical land of their ancestors – Eretz Yisrael.44 However, the proclamation of Lithuania’s independence on 16 February 1918, in absence of representatives of the national minorities, disrupted the Jewish confidence in Lithuania as political ally and put the representatives of the Jewish interests in an awkward situation. According to Rosenbaum, the Zionists did not have anything against the declaration of Lithuania’s independence in itself. They would have, however, welcomed it, if this move had not been done unilaterally, but rather upon coordination with the national minorities in the new republic, including the Jewish minority, in a solid and robust system of checks and balances based on a concept of auton­ omy, equality, and the rule of law. What made the situation even more intri­ cate was that this autocratic step was recognized by Germany, which resulted in privileging the representatives of one out of four nationalities cohabitating in the country – i. e., the Lithuanians. Rosenbaum assessed the negotiations with the Lithuanians in the follow­ ing way: “The Lithuanian gentlemen know that it would be better for them to have more Jews in the Council, as Jews would support them not only against the Polish aspirations, but also against everyone else’s aspirations. With all their energy they will support the country’s independence. If the Lithuanians offer us a number of seats in the Council not satisfying our requirements, like they did for other minorities, it will mean that they are unable to distance themselves from their autocratic aspirations and seek themselves to be recognized as the sole ‘elected’ people of the country. […] If this happens, we cannot accept it.”45

After negotiations with the German Plenipotentiary Commissioner General for Lithuania, permission was obtained to assemble a conference of the

43 Tsyenistishe miting in Vilne [Zionist Meeting in Vilnius], in: Letste nayes [Latest News], 16 December 1917, 1. 44 Adolf Böhm/Itzchak Ben-Zvi, Geshikhte fun tsyenizm. Fun dr. Hertsl biz nokh der Bal­ fur-deklaratsye [The History of Zionism. From Dr. Herzl to the Balfour Declaration], Kaunas 1935, 90. 45 CZA, Fund Z3, File 509, n. p., Rosenbaum’s Report to Paul Nathan, Vilnius; ibid., Rosen­ baum’s Letter to Paul Nathan, confidentially, Vilnius, 6 May 1918.

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country’s Zionists, which was held in Vilnius from 5 to 8 December 1918. In the first conference of the Lithuanian Zionists, four “Political Resolu­ tions” and six “Decisions concerning Lithuania” on the coordination of Jew­ ish politics and representation of national interests were adopted.46 The establishment of a world Jewish representative office as well as a Jewish representative office in each country – in this way recognizing that Jews belonged to one nation – and the participation of their nation as a member of the League of Nations with full rights, was considered one of the most urgent tasks of the moment.47 The goal to seek proportional representation of Jews in the administrative and legal institutions and ensure their civil, political, and national rights, to be confirmed by the country’s constitution, had already been advanced by the Zionist leaders in their negotiations with the Lithuanian Council and was now distinguished among the conference decisions.48 In addition, as Rosen­ baum stressed in his speech, “[l]aw itself does not guarantee the rights. Jews themselves must become lawmakers. The proportional election principle should guarantee that Jews be represented in authority institutions of all levels.”49 In his speech given at the 1918 Zionist Conference in Vilnius, Rosen­ baum, referring to the general opinion of the executive committee of the WZO, insisted that Jews side with Lithuanians and protect the interests of independent Lithuania, as only in that case would Jews have a possibility of “free development.” Owing to the efforts of the leaders of the organization, Rosenbaum and Dr. Jacob Wygodzki, it was decided at the Zionist confer­ ence that under the current circumstances Jewish representatives could tem­ porarily participate in the activity of the country’s government institutions by agreeing to be co-opted into the Lithuanian Council, though without offi­ cially representing the Lithuanian Zionist organization. This was a step which entailed the appearance of Shimshon Rosenbaum on the scene of international diplomacy. However, for those who wanted – and there are rea­ sons to believe that Rosenbaum was amongst them50 – signs were discernible 46 The texts of these resolutions and decisions, originally drafted in the German language, are presented in an English-language translation, with a commentary, by Eglė Bendikaitė: idem, The Lithuanian Zionist Conference, Vilnius, 5–8 December 1918, in: Sirutavičius/ Staliūnas (eds.), A Pragmatic Alliance, 257–270. 47 Political Resolutions No. 1 and 3, in: ibid., 264. 48 Political Resolution No. 4, in: ibid., 264. 49 Manuscript Department of the Wróblewski Library of the Lithuanian Academy of Sciences, Fund 255, File 929, 31, Die Rede des Rechtsanwalten [sic] Herrn S. Rosenbaum auf der Zionistischen Konferenz in Wilna. 50 Not only did Rosenbaum’s correspondence with Hantke and Nathan repeatedly ventilate reasons for skepticism or concern, most of which were suspended or retracted for the ben­ efit of tactical gains, but it would appear that he perceived the general aspects of this chal­

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already from very early on that the gap between the project of homogeneity inherent in the idea of the Lithuanian nation and taken aboard by the newly independent Lithuanian Nation-State, and the practical heterogeneity of cul­ tural forms within the realm under unified Lithuanian State administration, constituted a challenge and a problem. Still it was too early to predict whether this would trigger responses – comparable to well-documented his­ torical evidence elsewhere in Europe – by the Lithuanian Nation-State aimed at the rendering dysfunctional, if not at repealing or destroying, autonomous mechanisms of reproduction of cultural unity, and if it did, what degree of cultural non-endurance of, and impatience with, all difference it would display.51

Jewish Autonomy Put to Test in Lithuania: Why Minister Rosenbaum Could not Favor its Cause More Sustainably For approximately five years, from 1919 to 1924, it is fair to say that Rosen­ baum was at the zenith of his Zionist career and in the focus of the public interest, both nationally and internationally. He served first as Deputy For­ eign Minister (1918–1919) and then as Minister for Jewish Affairs (1923– 1924) in the newly independent State of Lithuania while assuming the tasks of a member of the Seimas, the Lithuanian Parliament, and, particularly influ­ ential, of the Chairman of the Jewish National Council of Lithuania. He repre­ sented the Jewish minority as a member of the Lithuanian delegation to the Paris Peace Conference in 1919, which would oblige Lithuania to establish a rule of national autonomy – preferably of constitutional valence – for the non-Lithuanian groups of the country’s population, hence also for the Jews. From a historiographical point of view, substantial and important parts of Rosenbaum’s activities are adequately covered,52 while the following three lenge already at this early stage. Indications to that respect are identifiable in his treatise Der Souveränitätsbegriff. Ein Versuch seiner Revision (The Notion of Sovereignty. An Attempt at its Revision). 51 See Bauman, Modernity and Ambivalence, 141. 52 See Margaret MacMillan, Paris 1919. Six Months that Changed the World, New York 2001; Shimshon Rosenbaum, La question juive en Lithuanie, in: Comité des délégations juives auprès de la Conférence de la paix (ed.), Les droits nationaux des Juifs en Europe orientale. Recueil d’études, Paris 1919, 69–91; Leon Reich, Żydowska delegacja poko­ jowa w Paryżu. Sylwetki działaczy żydowskich [The Jewish Peace Delegation in Paris. Silhouettes of Jewish Key Persons], Lwów 1922; Nathan Feinberg, La question des mino­ rités à la Conférence de la paix de 1919–1920 et l’action juive en faveur de la protection

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aspects, which are intimately connected to combating anti-Semitism as the underlying theme for most of Rosenbaum’s political activities, have not attracted the attention they deserve: (i) the differences in the trends to assess Jewish autonomy in Lithuania among high-level Jewish profiles, exempli­ fied in the difference of the evaluations made by Rosenbaum and by Dr. Jacob Robinson (1889–1977); (ii) Rosenbaum’s interventions in the Sei­ mas, when it became clear that the Jewish National Council chaired by him would not muster sufficient political support in order to anchor constitu­ tional provisions warranting a strong system of national autonomy; and (iii) the practically unaddressed issue whether the non-ratification, by the Seimas, of the Declaration made by Lithuania on 12 May 1922, on the clauses on the protection of minorities – notwithstanding its constitutionality under domestic law – did not amount to a breach of international law by Lithuania. In a legal article entitled Der litauische Staat und seine Verfassungsent­ wicklung (The Lithuanian State and its Constitutional Development),53 Dr. Jacob Robinson, attorney and former chairman of the Jewish faction in the Lithuanian Parliament, wrote in 1928 – i. e., well four years after Rosen­ baum’s resignation from the post of Minister for Jewish Affairs and after the Minister’s Chancellery had long been disbanded – that “[t]he provisions in Sections 73 and 74 of the Lithuanian Constitution of 6 August 1922 on the rights of national minorities go far beyond those pursuant to Lithuania’s declaration on the rights of national and religious minorities, made on 12 May 1922, before the League of Nations.”54 A critical evaluation of certain international legal aspects concerning the implementation of the obligations under international law emanating from the Covenant of the League of Nations to protect minorities as well as a thor­ ough analysis of the reactions from Jewish circles in Lithuania to the process that resulted in Sections 73 and 74 of the Lithuanian Constitution of 6 August 1922, are, in many respects, still pending. Rosenbaum, in his capacities in internationale des minorités, Paris 1929; Aldona Gaigalaitė, Lietuva Paryžiuje 1919 metais [Lithuania in Paris in 1919], Kaunas 1999. 53 See Jacob Robinson, Der litauische Staat und seine Verfassungsentwicklung, in: Jahrbuch des öffentlichen Rechts 16 (1928), 295–326. 54 Ibid., 304 f. Sections 73 and 74 of the Constitution of the State of Lithuania dated 6 August 1922 stipulate the following: “Section 73. The national minority groups that make up a significant part of the total population have the right to autonomously be in charge of their national culture, education, and welfare; they have their representative bodies, which they elect as indicated by the law. – Section 74. According to the aforementioned Article 73, the national minorities have the right to levy taxes on the members of their communities, to cover the needs of their national culture, and to use a fair part of the money allotted by the state and municipalities for educational and charity needs, if these are not covered by the state and municipalities.”

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Lithuania at his time, had, in fact, actively challenged – both in the Seimas and on behalf of the Jewish National Council – the design of the constitu­ tional provisions on the rights of national minorities. He was of the clear opinion that with the deletion of draft Section 80, which was based on the 1919 Paris Treaty, the remaining provisions in Sections 73 and 74 lacked any meaningful substance. His endeavors by all means to lay a legal basis to the institutional structure of national autonomy by separate laws also were in vain.55 The subsequent remarks made by Shimshon Rosenbaum on interventions in the crisis of national autonomy in Lithuania in the public discourse, which took place in 1922, are expected to contribute to an elucidation of the latter topic. They are also an additional element to answering the question of why the approach of combating anti-Semitism by dint of legal and political pre­ vention within the perimeter of League of Nations law failed in Lithuania. As the Seimas, on 10 April 1922, finally turned down four of the seven provisions, proposed by the Jewish National Council under the leadership of Rosenbaum and introduced as bill by the Jewish faction upon consultation with Prime Minister Kazys Grinius, on a system of effective autonomy in a new constitution and merged the remaining three in what later would become Sections 73 and 74,56 Rosenbaum in his capacity as Chairman of the Jewish National Council found himself prompted to take a position, not only in the Seimas, but also in public. His interventions were abstracted in detail in the Yiddish-language daily newspaper Di idishe shtime (The Jewish Voice).57 On 21 April 1922, Rosenbaum, in a signed article, wrote: “First of all, we have to make clear for ourselves that we have to deal not with yielding just the one paragraph, but with the breaking of our national autonomy and the protec­ tion of our rights in general. Without Section 80, which was given up as a consequence of the decisions on 10 April, all other paragraphs, which concern our rights, have been affected. […] And our demand that the competence of the national organs would be increased already at the very beginning of its existence was deleted. […] It should be noticed that after breaking down the separate parts of our rights, our situation is, in some point of view if it will stay in the same way as it is, worse than in Poland. Why do 55 See Eglė Bendikaitė, “Įstatymas teisių dar negarantuoja”. Žydų frakcijos veikla Steigia­ majame Seime [“Law Does not Guarantee the Rights.” The Activities of the Jewish Parlia­ mentary Group in the Constituent Assembly of Lithuania], in: Saulius Kaubrys/Arūnas Vyšniauskas (eds.), Steigiamajam Seimui – 90. Pranešimų ir straipsnių rinkinys [On the Occasion of the 90th Anniversary of the Constituent Assembly of Lithuania. Anthology of Papers and Articles], Vilnius 2011, 100–107. 56 See Šarūnas Liekis, A State within a State? Jewish Autonomy in Lithuania 1918–1925, Vilnius 2003, 151–157. 57 Shimshon Rosenbaum, Tsu unzere lage (teyl I) [On our Status (Part I)], in: Di idishe shtime, 21 April 1922, 1; idem, Tsu unzere lage (teyl II), in: ibid., 23 April 1922, 3.

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Jewish organs in Poland, according to Article 8 of the Versailles Treaty, have autono­ mous rights even in these subject matters, which were deleted by the Seimas, i. e., to deal with, and control, the religious and social issues? The situation must be considered from the other, the symptomatic side. First of all it shows us the moods of Parliament towards us [i. e. Jews]; second, it shows us how inse­ cure our situation is despite all previous promises. Even the own interests of the country, which are so essential, cannot serve as the fac­ tor to push us to a disenfranchised position. Unwillingly one has to recall the expres­ sion of the Russian Tsarina: ‘Ot vragov Khristovykh ne zhelaiu korystnoi pribyli.’58 Such is our situation.”59

Rosenbaum pointed out that the Lithuanian Parliament had its own “pogromchiks” with whom there was nothing to talk about, but that there were reasonable parliamentarians from democratic parties, too, and they had to be aware of why Lithuania should live up to the given promises and why the principle of national autonomy should be as important as the principle of autonomy itself. Rosenbaum endeavored to put that situation in a broader context, noticing that Lithuania’s demand that Poland shall fulfill the Suwałki Treaty could not be taken seriously in the international arena, while Lithuania herself was not keeping agreements with her own citizens. In other words, Rosenbaum remained faithful to his own line, i. e., to appeal that jus­ tice and the rule of law would prevail, even though he realized that the ques­ tion of law was seen by the dominant nation – the Lithuanians – as question of power. He stressed that “[t]he minorities should not, and would not need to, have some special rights, but the majority should not have them either. In our constitution, as adopted by the Seimas after the second reading, it is clearly expressed that all citizens are equal before the law, so they should be treated equally as well. […] These who create opposition and hatred among different national groups of the State, they are burying the fundaments of the State. These who are ruining, they are deepening the conviction among the affected citi­ zens of being ruled unjustly, of living in a State without care of their interests, as it is caring of the interests of the majority only. It should be known to all nations where it has proven impossible to associate freely and to develop freely [this is an allusion to the national movement of Lithuania and its demands], and it should be remembered how to find the graves excavated for States. States like Russia, Austria, and Turkey have already tumbled in theirs.”60

Finally, it would appear worthwhile turning to the issue whether the imple­ mentation of the obligations under international law, emanating from the

58 Literally, this sentence, which Rosenbaum quoted in the Russian language and which is ascribed to Tsarina Elizabeth (1741–1762) as reply to merchants requesting her to allow Jews to trade in Russia, means: “From the enemies of Christ, I do not want any benefit.” 59 Rosenbaum, Tsu unzere lage (teyl I). 60 Idem, Tsu unzere lage (teyl II).

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Covenant of the League of Nations to protect minorities,61 by Lithuania stands the test of conformity with international law as it stood at the time of the decision by the Seimas not to ratify the Declaration made by Lithuania on 12 May 192262 on the clauses on the protection of minorities. Nothing in the deliberations in the Seimas and its competent committees reveals that the contention of constitutionality would have been tested against the interna­ tional law doctrine, pursuant to which a party to a treaty may not invoke the provisions of its internal law – not even its constitution – as justification for its failure to perform a treaty. On 17 August 1923, the Permanent Court of International Justice in its judgment in the case of the steamship “Wimble­ don” confirmed that this doctrine was well-established since long ago and recognized as customary international law.63 As such it was binding also upon the State of Lithuania.

Der Souveränitätsbegriff. Ein Versuch seiner Revision: Shifting the Focus of how to Deal with Anti-Semitism Shimshon Rosenbaum was well-trained in legal drafting. Decades of exer­ cise had fostered an ability to present a legal argument in a clearly structured and straightforwardly understandable way. In brief, his legal writing cannot be said to be circumlocutory. This assessment applies also to his opus mag­ num, in which Rosenbaum argues for a revised concept of sovereignty brought about by the League of Nations. This treatise is a parenthesis of a professional life at the service of interna­ tional law: Written already in 1920, Rosenbaum’s manuscript at an early stage voices reservations, of a fundamental nature, regarding the protection of minorities in Lithuania.64 Rosenbaum, as he explains,65 saw neither a need 61 The issue of the non-ratification, by the Seimas, of the Declaration made on 12 May 1922, has been analyzed in light of the compatibility of this parliamentary decision with Arti­ cle 30 of the Constitution of the State of Lithuania of 6 August 1922; see Jacob Robinson et al., Were the Minorities Treaties a Failure?, New York 1943, 166, and 174. Whether this decision was in conformity with international law as it stood at the time of the decision or possibly a breach of that law merits a more thorough analysis. 62 Journal Officiel de la Société des Nations 1922, 586–588. 63 See Case of the S. S. “Wimbledon,” Permanent Court of International Justice, Series A No. 1, 29, where the Court ruled that “a neutrality order, issued by an individual State, could not prevail over the provisions of the Treaty of Peace,” while founding its judgment on the precedence set in the 1872 Alabama Claims Arbitration (United States v. United Kingdom) case. 64 Rosenbaum, Der Souveränitätsbegriff, 139. 65 Ibid., 143.

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for, nor a necessity of, updating it; he contended himself with a brief adden­ dum, in which he commentated on legal works published since 1920 by legal authors who had particularly put their focus on the re-evaluation of the dogma of sovereignty in international law in the era of the League of Nations.66 One of the central findings in this international law treatise is his defini­ tion of “protection of minorities as tantamount to protection of sovereignty.” When Rosenbaum wrote that “[h]enceforth the State may not do and order everything. […] Sovereignty is not a justification for States to commit injus­ tice, neither towards other States nor towards their own citizens,” he advo­ cated a novel concept of sovereignty guided by limitation.67 With direct reference to the attitude of the Lithuanian government, he qualified the view that protection of minorities would rather constitute a diminution of sover­ eignty as “fundamentally erroneous” and as a violation of the Covenant of the League of Nations and its modern concept of sovereignty.68

In Lieu of Conclusions – International Law at the Service of Combating Anti-Semitism: The Sisyphean Task Will Remain Rosenbaum’s perception of anti-Semitism was basically generated in the Russian Empire and in Lithuania. It is imperative to emphasize that it is lar­ gely not tantamount to Herzl’s, which was gained from experiencing and analyzing anti-Semitic trends in Central and Western European countries. When Herzl in his book Der Judenstaat (The Jews’ State) contended that “[i]n the principal countries where anti-Semitism prevails, it does so as a result of the emancipation of the Jews,”69 it would appear that the precondi­ tions for Rosenbaum to adhere to this conclusion were rather poor as the emancipation of the Jews assumed in Herzl’s reflection would still have to

66 The approach by Rosenbaum that the era of the League of Nations necessitated a reassessment of the dogma of sovereignty in international law was not a solitary one. In 1929, Wilhelm F. Schubert, a German diplomat and international lawyer serving in Gene­ va, published a monograph entitled Völkerbund und Staatssouveränität (League of Nations and State Sovereignty; Berlin 1929), which in many respects came to legal con­ clusions identical with, or very similar to, Rosenbaum’s. 67 Rosenbaum, Der Souveränitätsbegriff, 139. 68 Ibid. 69 Theodor Herzl, Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Zurich 2006, 31 (first publ. Leipzig/Vienna 1896).

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come about in that part of Europe, in which he stood up for the Zionist cause.70 Thus, Rosenbaum’s tireless efforts to attenuate, to curtail and to defy anti-Semitism – be it in the plenary hall, in the courtroom, in interna­ tional negotiations, or with the commentator’s pointed pen and passion – always also sought to create, or to use, a momentum for emancipation of the Jewish nation in the countries of his activities. While anti-Semitism essen­ tially meant something quite different for Herzl and for Rosenbaum in terms of political program and strategy, it is worthwhile noting that both saw it needful to submit to the general as well as to the Jewish public their propo­ sals of a State philosophy and of a concept in international law which they were convinced would bring leverage to bear on a durable solution that would fundamentally change the essence of the problem of anti-Semitism, despite the circumstance that it was reasonable to expect that the hallmark of this problem would continue to be its indestructibility.71 Whereas Herzl almost entirely refrained from defining his vision of a Jewish State in terms of international law,72 Rosenbaum considered it indispensable to contem­ plate Jewish statehood with a clear understanding of the element of sover­ eignty that should apply to such subject in international law. In terms of functionality, Der Judenstaat and Der Souveränitätsbegriff arguably are complementary to each other. Like Herzl, Rosenbaum held the truth that in the beginning there was law. This law stems from the multi­ layered interpretations of emblematic agreements, promises and dreams and is originally reflected through a legal covenant which endorses difference in equality as conceptual image looming in the background of the secular con­ sciousness of international law. Methodically, Rosenbaum’s treatise antici­

70 It is not overlooked here that “emancipation” in the usage by Herzl displays the intrinsi­ cally individual character of this process, while Rosenbaum arguably tried to subordinate this aspect in favor of perceiving the necessity of emancipation as a process addressing a group or a fraction of the Jewish nation. In this respect, Der Judenstaat furnishes evidence of the extent to which Herzl had internalized the discourse on Jewish emancipation in Western European countries, in light of which Rosenbaum’s perspective would appear ante-modern in the sense that it obviously remains aloof the emancipatory credo of the French Revolution as expressed by Stanislas Marie Adélaïde, Count of Clermont-Ton­ nerre, in the National Assembly on 23 December 1789: “Il faut tout refuser aux juifs comme nation et tout accorder aux juifs comme individus. Il faut qu’ils ne fassent dans l’État ni un corps politique ni un ordre. Il faut qu’ils soient individuellement citoyens.” See I. H. Hersch, The French Revolution and the Emancipation of the Jews, in: The Jew­ ish Quarterly Review 19 (1907), 540–565, here 554; Bauman, Modernity and Ambiva­ lence, 142; and Shulamit Volkov, Das jüdische Projekt der Moderne, Munich 2001, 19. 71 See Marcel Bernfeld, Le sionisme. Étude de droit international public, Paris 1920, 246 f. See also Frederick M. Schweitzer, International Law and Antisemitism, in: Journal for the Study of Antisemitism 4 (2012), 2101–2145, here 2143 f. 72 See Bernfeld, Le sionisme, 80, and 245 f.

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pated a future state of international law as “gentle civilizer of nations,”73 with a sovereign Jewish nation among civilized nations. It anticipated the initial nucleus of the status in international law of the State of Israel as grand blue­ print for a sustainable solution of the problem of anti-Semitism. Seen from this perspective, Rosenbaum did not need to detach himself from the argu­ ment that Jewish sufferings gave the right to independence,74 as he himself never had embraced it. Instead, by indicating the future role of a State of Israel in the “community of nations,” he pledged a Jewish State’s support to the international community.75

73 See Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations. The Rise and Fall of Interna­ tional Law 1870–1960, Cambridge 2001. 74 See Reut Yael Paz, A Gateway between a Distant God and a Cruel World. The Contribu­ tion of Jewish German-Speaking Scholars to International Law, Leiden/Boston, Mass., 2013, 286. 75 The sources referred to in this article were collected and assessed while the author pur­ sued a biennial research project entitled “The Life, Times, and Work of Shimshon Rosen­ baum. A Political Biography of a Preeminent Leader in the Zionist Movement” at the Glo­ bal and European Studies Institute, University of Leipzig. The research project was funded by the Fritz Thyssen Stiftung. The author wishes to extend her sincere gratitude to the University of Leipzig and to the Fritz Thyssen Stiftung for their support of this research project.

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Jüdische Erinnerung und Erster Weltkrieg – Zwischen Geschichte und Gedächtnis Am Beginn des folgenden Beitrags, der einem Gegenstand von erdrücken­ dem Umfang gewidmet ist, steht die Beschäftigung mit einem zentralen begrifflichen Problem, das anschließend in drei seiner Facetten erörtert wird. Sie betreffen die veränderte Position jüdischer Gemeinschaften zum Staat. Diese drei Aspekte bilden nicht den einzigen Zugang in der Annäherung an dieses letztlich globale Thema, aber sie schneiden Fragen an, die im Hin­ blick auf die Gedenkveranstaltungen anlässlich des Kriegsausbruchs vor 100 Jahren als wesentlich zu erachten sind. Der Erste Weltkrieg hat – so die These – Yosef Hayim Yerushalmis be­ rühmte Unterscheidung zwischen »Geschichte« (history) und »Gedächtnis« (memory) im jüdischen kulturellen Leben zunichte gemacht. Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis kollidierten im Zeitraum von 1914 bis 1918 in einer Weise, die die beiden Kategorien umformte und eine neue Kategorie hervorrief; sie ist – wie ich vorschlage – als »historisches Erin­ nern« (historical remembrance)1 zu bezeichnen. Dieses historische Erinnern bezieht sich nicht so sehr, wie Yerushalmi meint,2 auf den Glauben säkularer Juden, sondern auf die Suche nach Sinn in jener Revolution der Gewalt, die 1914 ausbrach und bis in die Gegenwart andauert. Ein apokalyptisches Den­ ken, in dem sich das ganz Alte und das ganz Neue vermischten, wandte sich in frappierender, unerhörter Weise dem Phänomen des industrialisierten Tötens zu. Vergegenwärtigt man sich nur einen Augenblick lang, wie Cha­ gall den gekreuzigten Juden als Metapher für das jüdische Leiden im 20. Jahrhundert verwendet, parallel dazu ähnliche Vorstellungen in den Wer­ ken von Uri Zvi Greenberg und H. Leivick, oder denkt man an Kafkas Neu­ erzählung des Mythos des Sisyphos und chassidischer Geschichten oder an seine surreale Landschaft der Strafkolonie, so bekommt man eine Vorstel­ lung von der Tragweite dessen, wovon hier die Rede ist. Insofern unterschei­ det sich das Thema dieses Artikels, der Erste Weltkrieg und das jüdische Gedächtnis, nicht so sehr von Paul Fussells »klassischer« Darstellung The Great War and Modern Memory.3 Im Konflikt von 1914 bis 1918 prallten in 1 2 3

Dieser Begriff integriert sowohl den diskursiven wie auch den performativen Aspekt kul­ tureller Erinnerungsformen. Yosef Hayim Yerushalmi, Zakhor. Jewish History and Jewish Memory, Seattle, Wash., 1996, 86. Paul Fussell, The Great War and Modern Memory, New York 1975. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 111–129.

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Jay Winter

jüdischen wie in nichtjüdischen Welten Mythos, Gedächtnis und Geschichte aufeinander und so entstand ein komplexes Verständnis von Vergangenheit, das Juden und Nichtjuden bis heute teilen. Ab dem beginnenden 20. Jahrhundert und zunehmend mit dem Zeitalter des totalen Krieges vermischten sich jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis; und es entwickelte sich ein neuer Umgang mit Vergangenheit, in der Geschichtsschreibung zu einer wesentlichen Sprache des Erinnerns wurde. Das entscheidende Thema hierbei war nicht der immanente Gott; wichtiger war, wie sich ein jüdisches Verständnis der (von James Joyce geteilten) Überzeugung herausbildete, wonach die Geschichte ein – glei­ chermaßen aus schönen und schrecklichen Bildern bestehender – Albtraum sei, aus dem die Menschheit noch immer zu erwachen versucht. In diesem Sinn wird bis heute über Krieg geschrieben. Davon ist das Wissen, von Juden oder Nichtjuden, darüber, was industrielle Kriegsführung ist, geprägt; ausgehend nicht vom Holocaust, sondern von der Katastrophe, die ihn mög­ lich machte – dem Krieg von 1914 bis 1918. Dass diese für jüdische Formen des Erinnerns prägende Phase von der Schoah und dem Kampf für die Gründung des Staates Israel überdeckt wurde, ist kaum verwunderlich. Wie im Fall der deutschen Geschichte stand die spätere Katastrophe der wissenschaftlichen Untersuchung einer früheren im Weg. Heute aber ist es höchste Zeit, der immensen Bedeutung der Geschehnisse von 1914 bis 1918 für das jüdische Leben und Denken Rech­ nung zu tragen. Wie David Roskies und Alan Mintz Mitte der 1980er Jahre gezeigt haben, gab es vor 1914 gewichtige und differenzierte Reflexionen von Juden über Katastrophen.4 Die Katastrophe stellt im jüdischen Leben ein altes Thema dar. Meine These lautet nun, dass der Erste Weltkrieg eine graduelle Diffe­ renz des Katastrophischen in eine qualitative verwandelte. Das ist es, was Großer Krieg eigentlich bedeutet: nicht einen weit ausgreifenden, sondern einen alles verändernden Krieg. Das ist mit dem Begriff »totaler Krieg« gemeint: Er ist totalisierend in der Art und Weise, in der er die Tötungskraft industrialisierter Nationen im Krieg exponentiell steigert. Was von 1914 bis 1918 in den osteuropäischen jüdischen Gemeinden geschah, war nicht ein­ fach eine Variante des Pogroms von Kischinjow in größeren Ausmaßen, son­ dern eine neue Art von Krieg, die die Welt bis dahin noch nie gesehen hatte. Dieser Krieg begann 1914, aber er endete nicht 1918. Nicht nur im östlichen Europa ging das Töten weiter, in den Regionen, die Timothy Snyder Blood­ lands nennt, wurde der kommenden Katastrophe der Boden bereitet. Ohne 4

David Roskies, Against the Apocalypse. Responses to Catastrophe in Modern Jewish Cul­ ture, Cambridge, Mass., 1984; Alan Mintz, Hurban. Responses to Catastrophe in Hebrew Literature, New York 1984.

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Verdun und die Schlacht an der Somme wäre Auschwitz undenkbar gewe­ sen. Es wäre niemals geschehen. Der Bruch mit älteren Vorstellungen von einem begrenzten Krieg, vom Schutz der Nichtkombattanten und – trotz internationaler Gesetze – von der Vernichtung von Menschen, wie im Fall des Genozids an den Armeniern, erfolgte vor Hitlers Mein Kampf, vor der Machtübertragung an die Nationalsozialisten und vor dem Zweiten Welt­ krieg. Es ist also geboten, die Radikalisierung der Kriegsführung bis zur Vernichtung der europäischen Juden in den 1940er Jahren drei Jahrzehnte zurück zu verfolgen, als ein totaler Krieg der kommenden Katastrophe den Weg bahnte. Um dieses Versinken in die Barbarei zu erfassen, reichten für sich genom­ men weder Geschichtsschreibung noch Gedächtnis hin. Die industrialisierte Kriegsführung bereitete das Feld für das künftige Töten und hat uns gedank­ liche Probleme hinterlassen, mit denen wir bis heute zu kämpfen haben. Kann sich irgendjemand die 17 Millionen Toten des Ersten Weltkrieges vor­ stellen, bevor er an die sechs Millionen Jüdinnen und Juden denkt? Können wir ein Töten in solchen Größenordnungen erfassen? Vielleicht nicht, aber Künstler, Schriftsteller, Dichter, Komponisten, Bildhauer, Architekten und andere waren entsprechend ihren jeweiligen Möglichkeiten aufgefordert, alles zu versuchen, der Sinnlosigkeit dieses totalen Krieges einen Sinn abzu­ trotzen, ihn zu begreifen. Durch diese Bemühungen wurden Geschichte und Gedächtnis überall, auch in der jüdischen Welt, neu konfiguriert.5 Ich teile die von Maurice Halbwachs bei Pierre Nora und anderen vertre­ tene antinomische Auffassung, wonach Geschichte und Gedächtnis, gleich­ sam in majestätischer Isolation auf zwei Gipfeln existierend, grundverschie­ den seien, nicht. Vielmehr scheinen sie sich zu überschneiden. Geschichte beziehungsweise Geschichtsschreibung ist Gedächtnis durch Dokumente gesehen. Geschichte ist Gedächtnis durch Affekte gesehen. Beide prägen Narrative über die Vergangenheit, und dies seit dem Krieg 1914 bis 1918 in wachsendem Maße. Die Verbindung beider ist tatsächlich eines der kulturel­ len Vermächtnisse des Ersten Weltkrieges. Deutlich wird dies nicht zuletzt an der Lawine des Gedenkens, die über uns hinwegrollt – und zu der zugegebenermaßen auch dieser Beitrag zählt. Doch des Kriegsausbruchs zu gedenken, ist etwas ganz anderes als ihn zu feiern. Dafür gemahnt die Bezeichnung »der Große Krieg« zu sehr an Trüm­ mer und Zerstörung. Stattdessen soll dem Erbe eines bekannten Meisters sowohl der Geschichtsschreibung als auch des Gedächtnisses, Simon Dub­ now, Respekt gezollt werden. Und wie könnte man dies an dieser Stelle bes­ ser tun als durch eine Betrachtung des Krieges, den er erlitt und überlebte, 5

Siehe ausführlicher dazu Jay Winter, Remembering War. The Great War between History and Memory in the Twentieth Century, New Haven, Conn., 2006.

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und durch den Versuch, den revolutionären Charakter und die revolutionären Folgen dieses Krieges wenigstens in winzigen Ausschnitten zu vermessen? Die Spuren dieses Krieges in Gedächtnis und Geschichte sind allgegenwär­ tig. Die Struktur dieses Artikels folgt Erkenntnissen einer deutlich problema­ tischeren Figur: Carl Schmitts. Er verstand den Ersten Weltkrieg als das, was er war – als den Beginn jenes permanenten »Ausnahmezustands«, jenes ausgedehnten Moments, in dem die Unbewaffneten ebenso wie Millionen Männer in Uniform zu bloßem »nackten Leben« wurden, um es mit Giorgio Agamben zu sagen,6 zu Schachfiguren der Biopolitik des totalen Krieges. Walter Benjamin fasste das historische Erinnern an diesen Krieg und seine Folgen für das menschliche Individuum in seinem Essay Der Erzähler (1936) wie folgt: Er schreibt, dass seit 1914 »nicht nur das Bild der äußern, sondern auch das Bild der sittlichen Welt über Nacht Veränderungen erlitten hat, die man niemals für möglich hielt. Mit dem [Ersten] Welt­ krieg begann ein Vorgang offenkundig zu werden, der seither nicht zum Stillstand gekommen ist. Hatte man nicht bei Kriegsende bemerkt, daß die Leute verstummt aus dem Felde kamen? nicht reicher – ärmer an mitteilbarer Erfahrung. […] Denn nie sind Erfahrungen gründlicher Lügen gestraft worden als die strategischen durch den Stel­ lungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die körperlichen durch die Mate­ rialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber.«7

Mit »Erfahrung« zielt Benjamin in Richtung dessen, was Reinhart Koselleck mit der Unterscheidung von »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« bezeichnet.8 Beides zusammen bringt unser Verständnis geschichtlicher Zeit hervor, und ebendieses, so Benjamin, wurde auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges gesprengt: »Eine Generation, die noch mit der Pferde­ bahn zur Schule gefahren war, stand unter freiem Himmel in einer Land­ schaft, in der nichts unverändert geblieben war als die Wolken und unter ihnen, in einem Kraftfeld zerstörender Ströme und Explosionen, der win­ zige, gebrechliche Menschenkörper.«9 Ebenso präsentiert sich diese neuar­ tige Mischung aus Geschichte und Gedächtnis: Die Menschen erscheinen reduziert als arme, nackte Tiere, überwältigt von Maschinen der Zerstörung, mächtiger als die Welt sie je kannte.

6 7 8 9

Giorgio Agamben, Homo Sacer. Sovereign Power and Bare Life, Stanford, Calif., 1998 (dt.: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002). Walter Benjamin, Der Erzähler. Betrachtungen zum Werk Nikolai Lesskows, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M. 1977, 385–410, hier 385 f. Reinhart Koselleck. Futures Past. On the Semantics of Historical Time, Cambridge, Mass., 1985. Benjamin, Der Erzähler, 386.

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Ausgehend von diesem Gedanken werden im Folgenden drei Facetten der Geschichte der Juden in dieser neuen Machtkonstellation, der des Krieg führenden Staates, vorgestellt. Die erste bezeichne ich als die zentripetale Bewegung von Millionen Juden zur Verteidigung ihres im Krieg befindli­ chen Heimatlandes – eine Bewegung von Australien über Österreich-Ungarn bis hin zu den Vereinigten Staaten; die zweite als die zentrifugale Bewegung von Millionen Juden, die im östlichen Europa und auch andernorts durch Krieg und Pogrome zu riesigen Flüchtlingsströmen zusammengetrieben wurden. Viele Zeitgenossen nannten die Ermordung von möglicherweise 250 000 Juden durch russländische Truppen 1915 auf ihrem Rückzug den »dritten Churban«. Dies war in der Tat eine Katastrophe, aber nicht das Ende der Geschichte jüdischen Leidens und Überlebens im Krieg.10 In Mittel- und Osteuropa war der Krieg ein wirtschaftlicher Feuersturm, der durch Mangel aller Art, Missernten und massive Inflation die Ersparnisse und die Kauf­ kraft von Juden wie auch die Wirksamkeit ihrer karitativen Einrichtungen auslöschte. An deren Stelle trat nun eine neue transnationale jüdische Phi­ lanthropie, verkörpert unter anderem durch das 1914 in New York gegrün­ dete Joint Distribution Committee, das notleidenden Juden in Palästina und im östlichen Europa Hilfe bot. Als Staaten zusammenbrachen und die Infla­ tion einheimische jüdische Ressourcen vernichtete, schuf amerikanisches Geld Abhilfe. Als eine Folge des Krieges gewann Amerika in der Verteidi­ gung jüdischen Lebens eine neue, bedeutsame Rolle, die es seitdem nicht mehr verloren hat. Die dritte wesentliche Auswirkung des Krieges auf das jüdische Leben resultierte aus den katastrophalen Folgen für das internationale politische System und für die mit dem Friedensvertrag von 1919 geschaffenen Nach­ folgestaaten. Der Erste Weltkrieg transformierte Länder in kontrollierende zentralisierte und autoritäre Staaten. Sowjetrussland bzw. die Sowjetunion haben nie eine Demobilisierung vorgenommen. Der Staat befand sich von 1917 bis 1945 im Kriegszustand: Auf den erfolgreichen Bürgerkrieg gegen die Konterrevolutionäre folgten ein Krieg gegen die eigene Bevölkerung, der die erste von Menschen verursachte Hungersnot (in der Ukraine) nach sich zog, und dann die Säuberungen der 1930er Jahre mit dem millionenfa­ chen Mord an Bürgern des eigenen Landes. Hervorgegangen aus dem Krieg führenden deutschen Staat der Jahre 1914 bis 1918, stellte der NS-Staat eine noch viel mächtigere Tötungsmaschine dar, angetrieben durch eine radikale Ideologie, die 1914 noch kaum erkennbar war. Die Nationalsozialisten ver­ lagerten die damals von der deutschen Bevölkerung erlittene materielle Not nun ganz bewusst auf die Schultern von Millionen sogenannter »Untermen­ 10 Siehe S. Ansky, The Enemy at his Pleasure. A Journey through the Jewish Pale of Settle­ ment during World War I, New York 2002.

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schen«. Ihr Erfolg drängte liberale politische Kräfte in ganz Europa in die Defensive und nach Kriegsausbruch 1939 schließlich vollends in das Abseits. In der Kulturgeschichte der Jahre 1914 bis 1939 spiegeln sich alle drei Tendenzen – zunächst eine Flucht in Richtung Staat, dann eine Flucht weg von den Schlachtfeldern und schließlich eine Flucht in den von Carl Schmitt beschriebenen »Ausnahmezustand«,11 den Boris Pasternak als Eiszeit be­ zeichnete. Der jüdische »Große Krieg« unterschied sich aber sehr deutlich von dem Krieg, der 25 Jahre später folgte. So katastrophisch der Erste Welt­ krieg für das europäische Judentum war, so wenig darf der Holocaust als Teil dieses von 1914 bis 1945 währenden dreißigjährigen Krieges gesehen wer­ den; er stellt eine eigene infernalische Geschichte dar. Das ist der entschei­ dende Grund dafür, den Ersten Weltkrieg und das jüdische Gedächtnis als festen Bestandteil dessen zu verstehen, was Paul Fussell »modernes Ge­ dächtnis« nennt, eine Verbindung von Geschichtsschreibung und mythi­ schem Erinnern, vermittels derer Juden und Nichtjuden gleichermaßen jenes Jahrhundert der Gewalt betrachten.

Zentripetale Kräfte Das Wissen darüber, wie der Erste Weltkrieg in Europa und anderen Regio­ nen der Welt Juden ins Zentrum des nationalen Lebens beförderte, ist wei­ testgehend bekannt. Der deutsche Kaiser selbst sagte mit Blick auf sein Volk, er kenne nur noch Deutsche. Freud stellte anfangs seine Libido in den Dienst der österreichischen Kriegsanstrengung, bevor er in den folgenden Monaten wieder zu Sinnen kam. Die Gelegenheit, vom Rand in die Mitte der Nation zu rücken, verführte auch andere jüdische Intellektuelle. Auch sie bereuten später manche ihrer eigenartigen Bekenntnisse zu nationalen oder imperialen Zielen. Jenseits großer Gesten organisierte Walther Rathenau, der Sohn des AEGGründers Emil Rathenau, als Leiter der Kriegsrohstoffabteilung bis 1915 de facto die deutschen Kriegsanstrengungen. Im selben Jahr verhalf Fritz Haber Deutschland zu einer neuen Waffe – dem Giftgas – und trotz des Aufschreis über diese barbarische Erfindung wurde ihm 1919 für seinen Beitrag zur Naturwissenschaft der Nobelpreis für Chemie verliehen. Eine vergleichbare Bedeutung für die britischen Kriegsanstrengungen hatte Chaim Weizmanns 11 Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Ein kooperativer Kommentar, hg. von Reinhard Mehring, Berlin 2003; ders., Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souve­ ränität, Berlin 71996.

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Arbeit als Chemiker. Sein Destillationsverfahren für die Synthese von Ace­ ton steigerte die britische Dynamitproduktion um das Zehnfache. Im Gegen­ zug für diese Leistung war das britische Außenministerium bereit, seiner Bitte um Unterstützung des zionistischen Programms zur Errichtung einer jüdischen Heimstätte im osmanisch besetzten Palästina nachzukommen. Sir John Monash war ein bedeutender Befehlshaber der Australian Imperial Force und vermutlich einer der fähigsten Generäle im Ersten Weltkrieg. Er war der Enkel eines Rabbiners und Talmudgelehrten, deutscher Herkunft und familiär verbunden mit dem deutschen Historiker Heinrich Graetz. All dies fiel angesichts seines organisatorischen Talents nicht ins Gewicht. Juden dienten in sämtlichen am Krieg beteiligten Armeen. Das überrascht nicht, schließlich hatten Juden seit dem 19. Jahrhundert weithin Militärdienst geleistet. Wie der kanadische Historiker Derek Penslar jüngst zeigte, ist es nicht angebracht, dem israelischen Mythos Glauben zu schenken, die europä­ ischen Juden hätten das Militär rundweg gemieden, und die Gründung der zionistischen paramilitärischen Untergrundorganisation Hagana im Jischuw und später der israelischen Armee seien folglich revolutionäre Ereignisse gewesen, die einen Wandel des jüdischen Charakters von frommer Passivität zu bewaffneter Wachsamkeit bewirkt hätten. Juden hatten schon lange vor 1914 in allen Rängen des Militärs gedient, auch als Generäle.12 Die brutale Rekrutierung junger Juden durch die zarische Armee war sicherlich eine Realität, doch es verwundert kaum, dass Juden 1914 auf den Einberufungs­ befehl oder auf Appelle, sich freiwillig zu melden, mit derselben Entschlos­ senheit wie ihre nichtjüdischen Landsleute reagierten. Die jüdische Präsenz in den Armeen beider Kriegsseiten ist auch durch Fotografien umfänglich belegt. Sie zeigen etwa die geordneten Reihen deut­ scher Soldaten bei einem Jom-Kippur-Gottesdienst 1915 in Brüssel, wobei propagandistische Erfordernisse wohl eher im Vordergrund standen als die Entscheidung der Soldaten, den heiligen Tag zu begehen. In der deutschen Armee waren dreißig jüdische Geistliche tätig, darunter Leo Baeck, in der österreichischen Armee 76. Schätzungsweise 320 000 österreichische und 100 000 deutsche Juden nahmen am Krieg teil; für die russländische Armee ist die Zahl nicht überliefert, aber sie war wahrscheinlich doppelt so hoch wie die der in Österreich-Ungarn und Deutschland mobilisierten Juden zusammengenommen. Die exakte Zahl der jüdischen Kriegsteilnehmer und -opfer ist zumal angesichts der Zerstörung von Archiven und der politischen Tabuisierung 12 Derek Penslar, Jews and the Military. A History, Princeton, N. J., 2013; siehe auch den von Christhardt Henschel herausgegebenen Schwerpunkt »Juden im Militär. Verheißung und Erfahrung im 19. und 20. Jahrhundert« im Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/ Simon Dubnow Institute Yearbook 12 (2013), 93–262.

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des Krieges im nachrevolutionären Russland und den angrenzenden Gebie­ ten schwierig zu ermitteln. Sehr grob geschätzt kamen 170 000 von rund zwei Millionen Juden, die in Uniform dienten, ums Leben. Die meisten von ihnen, rund 90 000, waren Russen, aber auch 40 000 österreichische bezie­ hungsweise ungarische, 12 000 deutsche, 8 000 britische und 7 000 französi­ sche Juden starben für ihr Land.13 Mit circa 8 Prozent aller mobilisierten Juden war der Anteil der Gefalle­ nen niedriger als der allgemeine Durchschnitt von etwa 12 Prozent. In Deutschland erhoben Antisemiten entsprechende Vorwürfe, doch dort deckte sich die Rate der Todesopfer unter den jüdischen Soldaten mit dem Heeresdurchschnitt. Als diese Ergebnisse vorlagen, wurde die »Judenzäh­ lung« von 1916 stillschweigend begraben. In einer Reihe von Ländern zeugen Kriegsgräber und -denkmäler von der jüdischen Beteiligung am Ersten Weltkrieg. Beispiele dafür finden sich in ganz Europa. In Grabsteine von deutsch-jüdischen Kriegsgefallenen wurde der Davidstern graviert; dasselbe gilt für jüdische Soldaten der französi­ schen und der britischen Armee. Es ist eine Ironie, dass die Nationalsozialis­ ten diese Spuren jüdischen Kriegsdienstes während der Besatzung Frank­ reichs im Zweiten Weltkrieg nicht auslöschten – tote Juden konnten in Frieden gelassen werden. Gedenktafeln mit den Namen der Männer, die in den Krieg zogen und nicht zurückkehrten, zieren die Synagogen von Perth über Merthyr Tydfil in Wales bis London. Das British Board of Deputies (ein Abgeordnetenaus­ schuss der britischen Juden) erstellte unter anderem auch ein Gebetbuch für Soldaten und verteilte es an Synagogen, die ihren Gemeindemitgliedern empfahlen, es Söhnen, Brüdern und Ehemännern zu schicken.14 Die Folgen des Krieges für das jüdische Leben im Osten sind in Archiven umfangreich dokumentiert. Dabei wird zumeist das zweite angesprochene Moment deutlich – die zentrifugalen Kräfte, die die jüdischen Ansiedlungen im östlichen Europa erfassten. Kontakt mit dem Staat bedeutete in diesem Kontext entweder Kontakt mit der eigenen Armee oder mit der Besatzungs­ macht. Die ersten Begegnungen der deutschen Soldaten mit den osteuropäi­ schen Juden fanden 1914 statt und wurden von letzteren oftmals als Befrei­ ung empfunden. Dafür bezahlten sie bei dem mörderischen Rückzug der russländischen Armee im Jahr 1915, die in einer ersten Phase der Auseinan­ dersetzungen an der Ostfront eine Niederlage erlitten hatte. Dieser gewaltige Pogrom, »dritter Churban« genannt, war eine Katastrophe noch größeren 13 Veronique Chemla, Les Juifs dans la Grande Guerre, 1914–1918, (5675–5679), 20. Mai 2013, (5. Mai 2014). 14 Ein solches Exemplar, das ein britischer Soldat während des Krieges bei sich trug, befin­ det sich z. B. im Imperial War Museum in London.

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Ausmaßes als die Pogrome in Kischinjow und an anderen Orten ein Jahr­ zehnt zuvor. Überraschenderweise wurde der Befehlshaber der russländi­ schen Truppen, der diese Tötungen geduldet hatte, unehrenhaft entlassen und bis zum Zusammenbruch des Zarenreichs am Ende des Krieges wieder­ holte sich nichts dergleichen. Die deutsche Militärverwaltung in Nordostpolen und Litauen, kurz Ober Ost, führte 1916 und 1917 ein kulturelles Programm zur »Zivilisierung« der Bevölkerung durch. Die Region wurde wie eine von Barbaren besiedelte Region behandelt, in der Elemente deutscher Kultur und Verwaltung einge­ führt werden sollten. Im Zuge dessen wurden die Einwohner fotografisch und durch Ausweispapiere erfasst und in Gegenden, in denen man die Ansteckung deutscher Soldaten mit Krankheiten befürchtete, wurde ein rudimentäres Gesundheitswesen geschaffen. Zu dieser Zeit hatte der Krieg gegen Krankheiten noch keinen mörderischen Beiklang. Besatzungsarmeen gehen so vor; die deutschen und österreichischen Truppen beabsichtigten nicht, die dortigen jüdischen Gemeinden auf unbegrenzte Zeit zu beherr­ schen oder sie zu vertreiben. Das geschah 25 Jahre später. Die Begegnung zwischen Besatzungssoldaten und osteuropäischen Juden lässt sich anhand einiger beachtenswerter Archivbestände nachvollziehen. Einer befindet sich im Leo Baeck Institute in New York. Bernhard Bardach war ein Wiener Arzt, der von der österreichischen Armee in Polen und in Wolhynien, heute in der Westukraine gelegen, eingesetzt wurde. An diesem Frontabschnitt blieb es lange Zeit ruhig und so sammelte Bardach für seine Familie in einem Kriegsalbum Fotografien und Bilder, die von ihm selbst stammten. Auf diese Weise entstand ein außergewöhnliches Dokument, das mitunter so eindrucksvoll wirkt wie Roman Vishniacs elegische Porträts des polnisch-jüdischen Lebens am Rande der Vernichtung. Bardachs Intention war eine andere, und diese Fotos sollten betrachtet werden, ohne in ihnen einen Vorschein der Schoah zu sehen. Am ehesten lassen sich die Bilder als anthropologische Dokumente ver­ stehen.15 Bardach war ein kultivierter und begabter Wiener Arzt, der in eine ziemlich entlegene Gegend an der Ostfront geschickt wurde. Er verfügte über viel freie Zeit, die er dazu nutzte, seine Begegnung mit einer ganz eige­ nen Art von Menschen zu dokumentieren, die als Juden zwar eine gewisse oberflächliche Ähnlichkeit mit ihm zu haben schienen, sich aber auf einer völlig anderen Stufe der kulturellen Entwicklung befanden. Der französischjüdische Bankier Albert Kahn finanzierte zur selben Zeit ein Foto- und Film­ projekt, um das Leben indigener Völker in entlegenen Winkeln der Welt 15 Das Leo Baeck Institute hat den Bestand von Bernhard Bardach digitalisiert: (17. November 2013).

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festzuhalten, bevor der Kontakt mit »dem Westen« es veränderte oder gar zum Verschwinden brachte. Bardach tat etwas Ähnliches und hinterließ ein fotografisches Profil eines aus den Fugen geratenen jüdischen Lebens. Er war assimilierter Jude, aber die Möglichkeit, auch in Wolhynien Jom Kippur zu begehen, war ihm gleichwohl willkommen. Den 7. Oktober 1916 schil­ dert er wie folgt: »Versöhnungstag/: Jom Kipur:/. Auf Einladung des Feldrabbiners D. Levi fuhr ich schon um 9h 30 p. Auto, das mir der General selber antrug – nach Wladimir Wolynski […]. Den ganzen Tag verbrachte ich im Bethaus auf einem Ehrenplatz neben D. Levi mit Einnahme der Nachmittagspaus von 2–4h […]. Sodann kehrte ich ins Bethaus zurück und blieb bis zum Schluss 5h 30, worauf ich zurückfuhr und beim Kodo [Kom­ mando] um 7h eintraf./: Das Auto stand mir den ganzen Tag zur Verfügung:/ Ich fastete bis dahin, sogar sehr leicht, ich verspürte gar keinen Hunger. Die Predigt war diesmal viel besser als zu Neujahr bei uns. Das Beten selbst war andächtig u. hebräisch – ein vorzüglicher Kantor – nur die Gesellschaft war recht minder, lauter gewöhnliche Solda­ ten und arme russ. Juden.«

Beachtenswert ist die Überheblichkeit – gewöhnliche deutsche Soldaten und russische Juden werden als »minder« eingestuft. Es ist dieses einfache Leben, das Bardach dann im darauffolgenden Jahr mit Pinsel und Kamera dokumentierte. Das Fotoalbum veranschaulicht mehrere Aspekte des Lebens im besetzten Wolhynien. Es enthält Bilder von Städten und Kirchen, dane­ ben Porträts einzelner Juden in ihrer Umgebung – so etwa das Porträt eines wandernden Juden, ein Symbol für die zentrifugalen Kräfte des Krieges, die den alten Mann Gott weiß wohin treiben. Bardach hielt auch fest, wie gefährlich die unhygienischen Bedingungen für die einheimische Bevölke­ rung und für die Besatzer waren. Auch mehrere jüdische Ärzte starben an Cholera; Bardach war gegen die Krankheit geimpft. Er sorgte dafür, dass die jüdische Herkunft seiner Kollegen auf ihrem Grabstein gewürdigt wurde. Bardachs Interesse am jüdischen Leben erstreckte sich auch auf die Syna­ goge in Wladimir Wolynski, in der er an Jom Kippur gebetet hatte, und den angrenzenden jüdischen Friedhof. Bardach lernte noch weitere Seiten des Krieges kennen. Er war für die Untersuchung von Prostituierten – wahrscheinlich jüdischer Herkunft – zuständig, die in der Nähe seines Feldlagers lebten. Ihre Dienste wurden von den dort stationierten Männern regelmäßig in Anspruch genommen, und Bardachs Aufgabe war es, die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten zu verhindern. Eine andere Form von Unterhaltung bot das örtliche Soldaten­ kino. So war 1918 erstaunlicherweise Charlie Chaplin in der Ukraine zu sehen – ein hervorragendes Beispield dafür, was globale Kriegsführung bedeutet. Im Kampf gegen die russländischen und irregulären Truppen gin­ gen deutsche und österreichische Soldaten in Bardachs Einsatzgebiet dazu über, Häuser niederzubrennen und Dörfer zu zerstören, (vermeintliche)

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Spione hinzurichten und Infanterie- und Kavallerieeinsätze nach alter Art durchzuführen. Noch 1917 verwendeten die Ulanen beispielsweise Lanzen. Eine Mischung von Altem und Neuem: Aufklärungsflugzeuge wurden teil­ weise von Pferden zu ihrer Basis gezogen; wobei Pferde überall an der Ost­ front eingesetzt wurden, denn ohne sie wäre der Krieg sofort zum Erliegen gekommen. Bardachs Tagebuch und Fotoalbum bieten kaum Hinweise darauf, dass er die ansässige jüdische Bevölkerung als Brüder betrachtete oder eine Art Seelenverwandtschaft spürte. Er befand sich hier in einer fremden Welt, die von extremer Armut und endlosen Strömen jüdischer Flüchtlinge geprägt war – einer Welt, die er 1918 ihrem Schicksal überließ, als seine Einheit in eine ungewisse Zukunft abberufen wurde. Der Zusammenbruch ÖsterreichUngarns quälte Bardach. In einem Tagebucheintrag vom 21. Oktober 1918 machte er für diese Katastrophe sowohl einheimische Politiker als auch Woodrow Wilson verantwortlich: »Die sosehr ersehnte Antwort Wilsons an unsere Monarchie kam endlich u. machte alle unsere Hoffnung zu Schanden. Viele waren der Meinung, Wilson werde gegen uns gnä­ dig verfahren, um uns von Deutschland abwendig zu machen. All diese haben sich geirrt, die Antwort überschritt vielmehr an Gemeinheit alles bisher Dagewesene, er meint, er verhandelt mit Oesterreich überhaupt nicht, sondern nur mit Tschechoslowaken!! Auf den angebahnten Zerfall Oesterreichs in Bundesstaaten antwortet Ungarn mit der Separation von Oesterreich und der Gründung einer Personalunion. Unsere Völker scheinen überhaupt den Kopf verloren zu haben. In einer Zeit, wo die Völker der Entente immer mehr sich zusammenschliessen, drängen unsere auseinander – das wird sich noch gewaltig rächen u. ich wünsche das unseren Krakehlern aus vollstem Herzen. Ist doch jeder davon überzeugt, das auch unsere Völker am liebsten auch weiter fried­ lich nebeneinander in dem gemütlichen Oesterreich wohnen möchten, aber die Krakeh­ ler, diese Vaterlandsverräter wollen es anders!«

Faszinierend an dieser Quelle ist, wie deutlich Bardach die zur Spaltung drängenden Tendenzen in der Kriegsführung zeigt und dass sein Nachlass es erlaubt, die Konturen einer aus dem Gleichgewicht und in eine Krise gerate­ nen Welt mit den Augen eines österreichischen Beobachters zu sehen. Was Bardach sah, war nur ein winziger Ausschnitt jener Lawine von Menschen, die aus den Gefechtszonen flohen, fort von den Kämpfen, die Häuser und Menschen vernichteten. Ein Historiker schätzte, dass 1917 jeder fünfte Ein­ wohner der westlichen Provinzen des Russischen Reichs auf der Flucht war.16 Was in Wolhynien geschah, geschah ebenso in Litauen, in Weißruss­ land, in Russland, dem Kerngebiet des alten Ansiedlungsrayons. Dieses jahrhundertealte Ansiedlungsgebiet wurde gleichsam mit den Wurzeln aus­ gerissen, es wurde Opfer der zentrifugalen Tendenzen eines globalen Krie­ 16 Peter Gatrell, Refugees, in: Jay Winter (Hg.), Cambridge History of the First World War, Bd. 3: Civil Society, Kap. 10, Cambridge 2014.

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ges. Bernhard Bardachs Porträt einer jüdischen Familie auf der Flucht, die für das Morgengebet Schacharit an einem Feld nahe Lublin Rast macht, gibt einen Einblick in diese entwurzelte, in Bewegung geratene Welt, voller Ungewissheit einerseits, erfüllt von Glauben andererseits.

Fragmentierungen: Die neue Weltordnung Die Notlage europäischer Juden wurde durch wirtschaftliche Schwierigkei­ ten und Nahrungsmittelengpässe während des Krieges und nach dem Krieg noch erheblich verschlimmert. Der Krieg löste eine massive und unumkehr­ bare Inflationsspirale aus. In Deutschland lag die Inflationsrate 1918 bei rund 400 Prozent, im folgenden Jahr stieg sie auf 600 Prozent und wuchs dann exponentiell weiter, um 1922/23 schwindelerregende Höhen zu errei­ chen. Alte und Kranke waren besonders hart betroffen, da die Inflation auch die Vermögen von Wohlfahrtseinrichtungen auslöschte. Was 1914 Hunderte ernährt hätte, ernährte fünf Jahre später nur ein oder zwei Menschen und auf dem Höhepunkt der Inflation niemanden mehr. Diese Krise jüdischer Wohlfahrtseinrichtungen löste eine Entwicklung aus, die im Lauf des Jahrhunderts große Bedeutung für das jüdische Leben gewann. Die grenzüberschreitenden Phänomene Hunger und Armut veran­ lassten amerikanische Hilfsorganisationen, grenzüberschreitend zu reagie­ ren. Als die Juden in Palästina mit Hunger konfrontiert waren, weil die osmanischen Türken keine ausreichende Versorgung gewährleisten konnten und den ansässigen jüdischen karitativen Organisationen das Geld ausging, und als Juden im östlichen Europa Gewalt und Vertreibung erlitten, nahmen amerikanische Philanthropen diese Herausforderungen an. Bereits 1912 ver­ suchte eine russisch-jüdische medizinische Hilfsorganisation, die OZE, not­ leidende jüdische Gemeinden zu unterstützen. Nach dem Krieg siedelte sie zunächst nach Berlin und später nach Paris um, wo sie während des Zweiten Weltkrieges als OSE ein bedeutsames Kapitel in der Geschichte humanitärer Hilfe schrieb, indem sie mehrere zehntausend jüdische Kinder in Frankreich rettete. Im Ersten Weltkrieg ging sie eine Partnerschaft mit ihren amerikani­ schen Brüdern im 1914 gegründeten Joint Distribution Committee ein. Zu den namhaften Juden, die der heute als Joint oder JDC bekannten Organisation Leben einhauchten, zählte Henry Morgenthau, der amerikani­ sche Botschafter in Konstantinopel. Seine Konsuln schickten ihm regelmä­ ßig Berichte über die verheerenden wirtschaftlichen Folgen, die der Kriegs­ ausbruch im gesamten Osmanischen Reich hatte. Ähnlich dramatische Leidensgeschichten wurden ihm von jenseits der Grenze zu Russland mitge­ teilt. Morgenthau wandte sich mit einem Telegramm an prominente Juden in

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New York und bat sie um Hilfe für den notleidenden Jischuw. Die Reaktion erfolgte sofort und fiel großzügig aus: Wenige Monate später konnten Nah­ rungsmittel und Medikamente nach Jerusalem geliefert werden. Es flossen private Spenden in die Organisation, die eine Vergabeabteilung einrichtete, um einzelnen Städten und Familien Hilfe zukommen zu lassen. Als der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten 1917 die finanziellen Verbindungen in das besetzte Polen und das feindliche Palästina erschwerte, gründete der Joint ein Komitee in den neutralen Niederlanden, das Mittel in beide Regio­ nen weiterleitete. Morgenthau fuhr in seiner Kampagne zur Unterstützung der Juden in sämtlichen Kriegsgebieten fort und erklärte, es müsse gehandelt werden, da das jüdische Volk dem Tod nahe sei. Man könne vielleicht nicht jeden Einzelnen retten, schrieb er, aber immerhin »können wir uns als Juden und als ihre Brüder erweisen«. Die Mittel flossen schnell und finanzierten Nahrungsmittel für Waisenkin­ der in Palästina sowie bei Kriegsende einen Teil der von Herbert Hoover organisierten amerikanischen Hilfsleistungen in Mitteleuropa und Russland. Mit Mitteln des Joint wurden Gesundheitskomitees nach Polen entsandt und sogar die Falaschen – äthiopische Juden – unterstützt. Dies war in der Tat praktizierte jüdische Brüderlichkeit. Diese Verlagerung von Macht über den Atlantik hatte auch für den Zionis­ mus langfristige Folgen. Viele amerikanische Juden waren russischer und polnischer Herkunft und hatten deshalb Grund, Juden bei der Flucht vor dem zarischen Regime und später vor der Gewalt und den Hungersnöten des Bürgerkrieges zu helfen. Die einsetzende Erstarrung der Revolution unter Lenin und später Stalin bot weiteren Anlass zu der Annahme, dass die Zukunft der Juden des östlichen Europas nicht in Russland, sondern in den Vereinigten Staaten oder in Israel läge. Amerikanisches Geld erlangte auch für die Entwicklung des Jischuw wesentliche Bedeutung, wobei wiederum Morgenthaus anfängliche Initiative zu einer ständigen finanziellen und poli­ tischen Plattform ausgebaut wurde, die dem jüdischen Leben in Palästina Wachstum ermöglichte. Die ständige Flucht vor Kampfhandlungen und der Hunger bedeuteten für die osteuropäischen Juden eine Zeit des Elends, das internationale Hilfe nur partiell zu lindern vermochte. Als ob Krieg und Bürgerkrieg nicht schon furchtbar genug gewesen wären, erlebten die Ukraine und Weißrussland von 1921 bis 1923 eine Hungersnot, der einige Jahre später unter Stalin eine noch verheerendere folgte. Der Krieg hatte eine gewaltige Migrationswelle ausgelöst, doch diejenigen, die nach dem Krieg ein neues Leben beginnen wollten, wurden von weiteren Katastrophen heimgesucht, lange bevor sie im Holocaust ermordet wurden. Die Nachkriegszeit war nicht weniger schreck­ lich als die Jahre von 1914 bis 1918.

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Vom totalen Krieg zur totalen Vernichtung Es war eine verwüstete Landschaft, der sich jüdische Schriftsteller im Ersten Weltkrieg und während seiner lang andauernden, schmerzhaften Nachwehen gegenübersahen. Dies war die Welt von Isaac B. Singer und Arnold Zweig, Joseph Roth und Isaak Babel, von Martin Buber und Franz Rosenzweig, von Gershom Scholem und Walter Benjamin. Manch ältere Überzeugung hielt sich, und noch konnten Rosenzweig und andere ihren Glauben an den »Stern der Erlösung« neu fassen. Doch nur für eine Weile, nur bis der von 1914 bis 1918 geführte totale Krieg neue Gestalt annahm und die im Ansiedlungs­ rayon verbliebenen Juden auslöschte. Einmal mehr wurde die Katastrophe des Krieges durch einen mangelhaf­ ten Frieden vertieft. Ironischerweise brachte ein Krieg zwischen globalen Imperien ein System von Nationalstaaten hervor, die über deutlich stärkere Mittel verfügten, Krieg gegen ihre Nachbarn oder die eigenen Landsleute zu führen. Totaler Krieg von 1914 bis 1918, das bedeutete die Vergrößerung der Reichweite des Staates bis hin zu dem Grad, dass alle seine Bürger be­ obachtet und kontrolliert werden konnten; die Bolschewiki und später die Nationalsozialisten machten sich diese Werkzeuge zunutze. Moderne Kom­ munikations- und Transportmittel boten Herrschaftsinstrumente, die sich in einer Konstellation, die ich mit Carl Schmitt bereits als jenen »Ausnahmezu­ stand« bezeichnet habe, in dem das Wort des Herrschers Gesetz war, leicht jeglicher rechtlichen Kontrolle entzogen. Bis 1914 konnten Verfolgte in den Westen fliehen. Nach 1914 war dies nicht mehr möglich. Tatsächlich kam damals die erste Phase dessen an ein Ende, was wir Globalisierung nennen. Der gewaltige Migrationsstrom in das westliche Europa, nach Amerika bis auf die Antipoden-Inseln wurde durch den Krieg abrupt zum Stillstand gebracht. Auch die freie Bewegung von Gütern und Kapital fand ein Ende. So brachte ein globaler Krieg paradoxer­ weise die Globalisierung zum Erliegen und schuf ein System schwacher neuer Nationalstaaten in Europa und zerfallender Reiche in anderen Regio­ nen. Großbritannien und Frankreich waren zu erschöpft vom Krieg, um ihre Kolonialbesitzungen fest im Griff zu behalten; immer mehr Menschen erwarteten, die Unabhängigkeit zu erlangen. Dieser Übergang vom Ersten Weltkrieg als dem Gipfelpunkt imperialer Macht zum Ersten Weltkrieg als dem Anfang von deren Ende war von Gewalt begleitet. 1919 brachen Unruhen in Kairo, in Amritsar, in Seoul und in Peking aus, gefolgt von anhaltender Gewalt in Palästina, in Irland und im gesamten östlichen Europa. Kirjat Schmona wurde zur Ehrung von Opfern solcher Gewalt errichtet; nicht weit entfernt befindet sich das Denkmal für Joseph Trumpeldor, der im Russisch-Japanischen Krieg für Russland und später auf britischer Seite im Zion Mule Corps in der Schlacht von Gallipoli

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kämpfte, wo er verwundet wurde. 1920 wurde er in Tel Chai getötet. Im Jahr darauf wurde der bedeutende hebräische Schriftsteller Yosef Haim Brenner in Jaffa getötet. Der Krieg, der 1912 auf dem Balkan begonnen hatte, setzte sich in Polen, den baltischen Ländern, Russland, Irland und der Türkei fort. Dort erklärte ein neues Regime den Vertrag von Sèvres, der imperiale Interessen über eine unabhängige Türkei gestellt hatte, für ungültig und gewann einen Krieg gegen griechische Truppen, in dem mehr als eine Million Christen aus der Türkei vertrieben wurden – sie flohen gen Westen, so wie ihre muslimischen Nachbarn ein Jahrzehnt zuvor gen Osten geflohen waren. Ethnische Säube­ rungen wurden durch das Völkerrecht legitimiert. Der eigentliche Gewinner des Krieges waren die Vereinigten Staaten, doch deren wirtschaftliche Macht fand nicht ihr Gegenstück in einem politischen Willen, Europa eine neue Ordnung aufzuerlegen, so wie dies 1945 der Fall werden sollte. Außerhalb des Völkerbunds stehend, verlor Amerika an inter­ nationalem Rang, als 1929 seine Wirtschaft zusammenbrach und große Teile der Welt in eine Schuldenspirale zwang, die allseitigen Ruin zur Folge hatte. Mit einem schwachen Völkerbund, dem während des Großteils der Zwi­ schenkriegszeit weder Amerika noch die Sowjetunion angehörten und auch Deutschland nur sieben Jahre lang, war die internationale Ordnung kein Garant für den Frieden oder die Sicherheit für Juden in den Mitgliedstaaten. Vielmehr führte der verfehlte Friede zum Aufstieg des Faschismus in Italien und Deutschland, auf den außenpolitisch nicht entschlossen genug reagiert wurde (charakterisiert mit dem Begriff »Appeasement«), und schließlich über eine zynische Übereinkunft zwischen Deutschland und der Sowjet­ union (den sogenannten Molotow-Ribbentrop-Pakt) zum Ausbruch eines zweiten totalen Krieges im Jahr 1939. Der Erste Weltkrieg und die Friedensverträge machten einen zweiten Weltkrieg sehr wahrscheinlich, wenn auch nicht unvermeidbar. Welche Fol­ gen hatte der Krieg für die Juden und was bedeutete er für sie? Zunächst hat­ ten sich Millionen von Juden auf beiden Seiten in seinen Dienst gestellt. Grob geschätzt legten zwei Millionen Juden eine Uniform an, rund 170 000 von ihnen wurden getötet oder starben im Krieg. Die Zahl der Verletzten war vermutlich doppelt so hoch. Weltweit wurden Tausende jüdische Kinder, so wie auch Kinder anderer Konfessionen, zu Waisen. Jüdische Industrielle und Bankiers hatten aber auch Kriegswaffen geschmiedet. Und der »Krieg der Chemiker« hatte beiden Seiten vollkommen neuartige Vernichtungsmittel verschafft. Doch all dies spielte keine Rolle, als die neuen Staaten Mittelund Osteuropas sich einem aggressiven Deutschland auf der einen und dem revolutionären Russland auf der anderen Seite gegenübersahen. Der Antisemitismus der Staatsführung im neuen Polen war eklatant, und andernorts sahen Antikommunisten ihre Feinde in »jüdischen Bolschewis­

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ten« in Berlin wie in Moskau. So verstärkte der Erste Weltkrieg den politi­ schen Antisemitismus, indem er ihm die Zielscheibe einer »kommunisti­ schen Weltverschwörung« bot. In der Propaganda in Deutschland konnte das Bild der räuberischen Alliierten, die gierig nach dem Reichtum des Landes griffen, mühelos durch das von Juden und Bolschewisten ersetzt werden, die vermeintlich exakt dasselbe taten. Die durch »ungerechte« Frie­ densbedingungen Verbitterten konnten eine solche Verschwörung hinter den Kulissen deutlich erkennen. Die Art und Weise, wie der Krieg geführt wurde, sowie seine Ergebnisse boten viele Gründe, der zionistischen Behauptung zuzustimmen, dass der eigentliche Ort der Juden nicht in Europa, sondern in Palästina läge. Wenn­ gleich kompromittiert durch andere außenpolitische Initiativen, die den Ara­ bern gegenüber anderes vertraten, stellte die Balfour-Deklaration eine bedeutende Errungenschaft dar, die in ihrem Wesen vor dem Krieg vermut­ lich undenkbar gewesen wäre. Dennoch versäumte es die Mehrheit der ost­ europäischen Juden, diesem Ruf zu folgen.

Anstelle eines Schlusses Ein vorläufiges Fazit dieses Überblicks kann nur lauten, dass die zentripetale Kraft des Ersten Weltkrieges, seine Tendenz, die Juden ins Zentrum ihrer jeweiligen Staaten zu rücken, diesen keine dauerhaften Vorteile einbrachte – abgesehen von der Balfour-Deklaration, die für die jüdische Gemeinschaft im östlichen Europa jedoch wenig bedeutete. Hingegen verursachten die zentrifugalen Kräfte des Krieges in großen Teilen Osteuropas Hunger und Instabilität und schufen mit dem Völkermord an den Armeniern einen furchtbaren Präzedenzfall, der den Nationalsozialisten nur zu bewusst war. Denn was das jungtürkische Triumvirat 1915 getan hatte, war, einen alten ethnischen Konflikt ein für allemal zu beenden. Ebendies hatte ein totaler Krieg ermöglicht – das Gleiche taten dreißig Jahre später die Nationalsozia­ listen. Sie beendeten oder versuchten zu beenden, was sie als einen Kampf auf Leben und Tod zwischen Deutschen und Juden ansahen. Diese apoka­ lyptische Vision existierte seit Jahrhunderten; der Beitrag des totalen Krie­ ges bestand darin, die erforderlichen Waffen und Bedingungen hervorzu­ bringen, um – wie 1915 im türkischen Anatolien – zur Tat zu schreiten. Es ist ein schwer abweisbarer Gedanke, dass die Kriege im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts über das Schicksal der Juden 25 Jahre später entschie­ den. Zur Verdeutlichung möge ein kontrafaktisches Beispiel genügen. Es ist schmerzhaft, sich vorzustellen, was aus der kulturell eindrucksvollen jüdi­ schen Gemeinde in Thessaloniki geworden wäre, wäre sie nach den Balkan­

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kriegen von 1912 nicht unter griechische Hoheit gekommen. Die 50 000 Juden der Stadt wären türkische Bürger geblieben, so wie sie es 1881 waren, als Mustafa Kemal Atatürk dort geboren wurde. Ein bestimmter Antisemitis­ mus war in der Türkei der 1920er Jahre nicht unbekannt, doch die türkische Neutralität im Zweiten Weltkrieg hätte die Juden Thessalonikis vor der nationalsozialistischen Besatzung und den Deportationen bewahrt, durch die sie praktisch vollständig vernichtet wurden. Die Juden Thessalonikis waren griechisch, weil die Türkei 1912 einen Krieg gegen ihre Nachbarn auf dem Balkan verloren hatte. Und dennoch ist Vorsicht geboten, wenn manche Historiker die zwei Weltkriege in einen »dreißigjährigen Krieg« zusammenfließen lassen. Dieje­ nigen, die während des Ersten Weltkrieges und danach schrieben, hatten den Holocaust nicht vor Augen; diese Generation durchlebte eine andere Kata­ strophe, eine, die sich von den späteren Ereignissen abhebt. Gewiss, die Unterminierung von Tropen des Opfers und der Erlösung, die Alan Mintz im Gefolge der Pogrome im Russland der 1880er Jahre untersucht hat, ver­ stärkte sich während des Ersten Weltkrieges und danach. Vorstellungen von Märtyrertum – die Tradition, jüdische Opfer als bekidusch ha-schem zu ver­ stehen – waren noch gegenwärtig. Doch verloren diese Vorstellungen für das jüdische Denken, wie David Roskies gezeigt hat, durch den Ersten Welt­ krieg und sein gewaltsames Nachbeben an Bedeutung. Es erübrigt sich zu sagen, dass selbst unmittelbar vor dem Holocaust niemand vorhersehen konnte, wie grauenvoll die Zukunft sein würde. Was zwischen 1914 und 1918 geschehen war, war schrecklich genug. Wir müssen Verzerrungen durch das vermeiden, was Freud als »Deckerinnerung« bezeichnete – die Tendenz, die entfernte Vergangenheit durch die Linse der jüngeren zu sehen. Der »dritte Churban« und die anderen Grauen des Ersten Weltkrieges dür­ fen durch die Schoah nicht verdunkelt werden. Die Katastrophe von 1914 bis 1918 offenbarte im millionenfachen Kriegsdienst von Juden einen Anspruch auf Bürgerschaft und Gleichheit, und sie untergrub ihn zugleich. Deutsch­ land im Krieg gedient zu haben, hatte im nächsten Krieg keine Bedeutung mehr. Die genaue Zahl der französischen Soldaten des Ersten Weltkrieges, die nach Drancy und Auschwitz gebracht wurden, obwohl sie das Croix de Guerre trugen, ist nicht bekannt. Der Krieg zerriss riesige jüdische Sied­ lungsgebiete im östlichen Europa, und während des Bürgerkrieges von 1918 bis 1921 sowie in den 1920er und 1930er Jahren waren diese wiederum von mörderischen Übergriffen, von Vertreibungen und Drangsal betroffen. Dennoch überlebte vieles den Ersten Weltkrieg. Im neuen Muzeum Histo­ rii Żydów Polskich (Museum zur Geschichte der polnischen Juden) in War­ schau sind zwei Rationskarten für Matze von 1916 zu sehen. Das Pessach­ fest überstand den Krieg ebenso wie das intensive jüdische Leben, an dem meine Familie teilhatte, bis sie bei der Liquidierung des Warschauer Gettos

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vom Erdboden verschwand. Oder das unter den Ruinen des Gettos begra­ bene Oneg-Shabbat-Archiv: Das Überleben einer so reichen Sammlung jüdischer Poesie und Prosa, von Dokumenten ist eine Art Wunder. Es bestärkt den Glauben an Kiddush Ha-Chaim, die Heiligung des Lebens, mindestens ebenso sehr wie den Glauben an Kiddush Ha-Shem, das Märty­ rertum. Emanuel Ringelblum und Shimon Huberband verstanden es meister­ haft, Geschichte und Gedächtnis zu verbinden, und ihre Anstrengungen las­ sen uns die Kraft beider spüren und erkennen.17 Dass während des Ersten Weltkrieges eine Mischform von Geschichte, Geschichtsschreibung und Gedächtnis geschaffen wurde, scheint mit Blick auf die Ausführungen also offenkundig zu sein. Das eindrucksvollste Bei­ spiel dafür ist Salomon An-Skis auf Jiddisch verfasste Erinnerungsschrift über die Zerstörung Galiziens, 2002 in englischer Sprache erschienen unter dem Titel The Enemy at His Pleasure. A Journey through the Jewish Pale of Settlement during World War I. An-Ski war ein Universalgelehrter – Dichter, Dramatiker, Sozialrevolutionär, Ethnograf, Märchenerzähler, jiddischer und jüdischer Patriot zugleich. Er kannte jeden in der jüdischen Welt, auch Simon Dubnow, oder er behauptete dies wenigstens. Abgesehen von seinem Theaterstück Der Dibbuk ist seine Darstellung der galizisch-jüdischen Welt inmitten des Großen Krieges unübertroffen, was den Umfang der Quellen und deren dokumentarischen Wert betrifft. Doch wie viele vom eigenen Können überzeugte Schriftsteller konnte er auf Ausschmückungen nicht ver­ zichten. Der Sturm des Krieges sorgte für gewisse Übertreibungen und Erfindungen in An-Skis Darstellung. Vielleicht machte ihn seine Kenntnis volkstümlicher Kultur sensibel für den Unterschied zwischen »wahrer Erzählung« und »der Wahrheit«, der vielen Soldaten des Ersten Weltkrieges ebenso vertraut war. Der britische Schriftsteller Robert Graves bemerkte ein­ mal, nur wer über den Krieg lüge, könne die Wahrheit über ihn sagen. Log An-Ski, oder schmückte er aus? Wir wissen es nicht. Und doch bleibt sein gesamtes Werk von unschätzbarem Wert, auch wenn es stets anhand anderer Quellen zu überprüfen ist. An-Skis Schrift The Enemy at his Pleasure18 ist genau dies: Lebenserinne­ rung, die Sprache des Gedächtnisses, seine Erinnerung an unternommene Anstrengungen, nicht nur in Galizien, sondern quer durch den Ansiedlungs­ rayon humanitäre Hilfsgüter zu verteilen. Doch sein in der Ich-Form verfass­ ter Bericht ist zugleich eine Geschichte der osteuropäischen Juden im Hexenkessel des Krieges. Aufschlussreich ist das Vorgehen An-Skis, wenn 17 Samuel Kassow, Who will Write our History. Emanuel Ringelblum and the Oyneg Shabes Archive, Bloomington, Ind., 2007. 18 Salomon An-Ski, The Enemy at His Pleasure. A Journey through the Jewish Pale of Set­ tlement during World War I., ed. and trans. by Joachim Neugroschel, New York 2002.

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er die Kluft zwischen Geschichte und Gedächtnis zu überbrücken sucht. So berichtet er von einer Begegnung mit Lipo Schwager, der in Chorostkow, südöstlich von Lemberg, eine Buchhandlung besaß. Schwager erzählte ihm, der Rabbiner von Kospehinjez habe ihm vor dem Eintreffen der Russen 1915 Briefe des Baal Schem Tov anvertraut. Er versteckte die Briefe tatsäch­ lich und kehrte später dorthin zurück, um sie zu holen. Nach längerer Suche fand er die Kiste, in der er sie versteckt hatte. Das Papier war da, die Buch­ staben aber waren verschwunden. Für An-Ski versinnbildlichten diese »fliegenden Buchstaben« das »Schick­ sal der galizischen Juden«. An anderer Stelle verwendet er eine ähnliche Meta­ pher der Zerstörung, wenn er von »zerbrochenen Tafeln« schreibt. An-Ski plä­ dierte indes nicht für eine Rückkehr zum Gedächtnis, sondern dafür, es in der Geschichte singulärer Ereignisse zu entfalten. In den Jahren 1914/15, schrieb er, sei die Katastrophe des Krieges für die Juden greifbar gewesen, habe aber »nicht die Tiefen der Seele erfasst«. Danach jedoch änderte sich alles. »Die Helden der nationalen Tragödie waren professionelle Bettler geworden. Sie hatten die Vergangenheit vergessen, sie hatten Angst, in die Zukunft zu bli­ cken […]. Sie trieben dahin, vernachlässigt, stumm, verzweifelt, gleichgültig gegenüber ihrer furchtbaren Situation«. »Und alle diese lebenden Leich­ name«, fügte er hinzu, »trotteten nicht als zerbrochene Tafeln an mir vorbei, sondern als Tafeln, von denen die Buchstaben gelöscht waren«. Sie hatten ihre Würde verloren.19 Zur Verdeutlichung dieses Gedankens wären auch viele andere Passagen anzuführen. Die hier ausgewählten verbinden An-Ski jedoch direkt mit einem anderen Chronisten des historischen Erinnerns, mit Primo Levi. Wem könnte die Parallele zwischen An-Skis wandelnden Chiffren und Levis »Muselmän­ nern«, die in Auschwitz ihre menschliche Würde verloren hatten, entgehen? Beide Autoren beschreiben einen Moment, in dem zuerst die Geschichts­ schreibung zerbrach und danach das Gedächtnis. Ebendarin bestand die Wir­ kung des totalen Krieges: Er verwandelte sowohl Geschichte wie Gedächtnis in Sprachen des Grauens, die eine untrennbar von der anderen. Wenn in unse­ rer vom Krieg gepeinigten Welt die Buchstaben des Baal Schem Tov ver­ schwinden, dann verschwinden sie für immer. Ihre Abwesenheit ist nichts Vorübergehendes. Die von ihnen hinterlassene Leere bietet keinen Raum für das Narrativ von Hoffnung und Erlösung. Doch mit dem Verlust von Hoff­ nung verschwindet das jüdische Gedächtnis nicht einfach; stattdessen geht es in die jüdische Geschichtsschreibung ein. Wie in An-Skis Narrativ fließen Geschichte und Gedächtnis in einem Strom zusammen, in dem wir uns alle befinden, in einem Strom, den ich historisches Erinnern nenne. Aus dem amerikanischen Englisch von Felix Kurz 19 Ebd., 250 f.

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»Zeitwende«: Richard Koebner und die Historische Semantik der Moderne Ende 1952 beklagte sich der Jerusalemer Professor für allgemeine neuere Geschichte Richard Koebner (1885–1958) gegenüber dem Philosophen Hugo Bergmann (1883–1975), dass die Bedeutung »des besonderen, neuar­ tigen Charakters« seiner Arbeit nicht angemessen gewürdigt werde.1 Doch anlässlich Koebners Emeritierung attestierte Bergmann ihm nur drei Jahre später, dass, obwohl er kein Zionist sei, seine Aneignung der semantischen Methode für die Geschichtswissenschaft einen wichtigen Beitrag zur Be­ gründung einer »israelischen Kultur« leiste. Koebners Methode könne dazu beitragen, die in Israel aufgewachsene Jugend mit den grundlegenden geschichtlichen Begriffen der westlichen Zivilisation vertraut zu machen. Denn mehr noch als der Historiker habe der Philosoph Koebner anhand des Begriffs »modern« zeigen können, dass die Moderne das erste Zeitalter sei, in dem Menschen ihre Kultur bewusst neu gestalten, und dass dieses moderne Geschichtsbewusstsein so lange bestehen werde, wie Menschen Verantwortung für die Zukunft einer Gesellschaft übernehmen.2 Koebners Werk, sein Transfer zentraler methodologischer und theoretischer Diskus­ sionen der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft in den Jischuw, genoss in Bergmanns Augen mithin hohe Geltung, und es ist das Anliegen des im Folgenden unternommenen Versuchs, die Entstehungsgeschichte der »Historischen Semantik« Koebners nachzuvollziehen.3 1

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National Library of Israel, Jerusalem (nachfolgend NLI), ARC 4° 1809-9: Richard Koeb­ ner an Hugo Bergmann, 3. September 1952. – Hinweis zur Zitation: Verwendete Quellen aus dem Hebräischen werden in der Standardumschrift angeführt. Übersetzungen sind, soweit nicht anders angegeben, vom Verfasser. Hugo Bergmann, Richard Koebner. Likerat kanas ha-historinim ha-narach likevod [Ri­ chard Koebner. In Vorbereitung eines historischen Symposiums zu seinen Ehren], in: Davar [Das Wort], 24. Juni 1955. Wenig wurde bislang zu Koebners Werk publiziert. Hinzuweisen ist v. a. auf Jehoshua Arieli, Richard Koebner. Zeitwende und Geschichtsbewußtsein, in: Richard Koebner, Geschichte, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende. Vorträge und Schriften aus dem Nach­ laß, hg. vom Institut für Deutsche Geschichte der Universität Tel Aviv in Zusammenarbeit mit dem Richard-Koebner-Lehrstuhl für Deutsche Geschichte an der Hebräischen Univer­ sität Jerusalem und H. D. Schmidt, London, Redaktion: Frank Stern, Gerlingen 1990, 22– 48, sowie Dieter Langewiesche, »Zeitwende« – eine Grundfigur neuzeitlichen Geschichts­ denkens. Richard Koebner im Vergleich mit Francis Fukuyama und Eric Hobsbawm, in: ders., Zeitwende. Geschichtsdenken heute, Göttingen 2008, 41–55. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 131–165.

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»Die ›semantische Methode‹, die Untersuchung des Einflusses von Wor­ ten auf Taten und das Studium von Veränderungen des Wortsinnes im Laufe der Geschichte, kann sehr wohl eine gewisse Art von historischem Skepti­ zismus erzeugen.«4 Mit dieser Aussage umriss Koebner gegen Ende seiner wissenschaftlichen Karriere die Kernideen seiner langjährigen Arbeit an einer »Historischen Semantik«. Er war überzeugt, dass es zwar sein mag, »daß eine wissenschaftliche Geschichte niemals mehr ist als ein kritischer Kommentar zum populären Geschichtsbewußtsein, das fälschlicherweise als Geschichte gilt, doch haben philosophische Begriffsanalyse und kritischer Geschichtskommentar ihre Wirkung. Sie machen uns weniger anfällig für destruktive und verschwommene Schlagworte und Phrasen und weniger geneigt, Ausdrücke eines populären Geschichtsbewußtseins mit historischen Tatsachen zu verwechseln.«5 Drei zentrale Themenkomplexe in Koebners Werk, die sich über die Jahre herauskristallisiert haben und immer stärker miteinander verwoben wurden, werden in diesen beiden Zitaten berührt: Das ist erstens die Faszination von der Entstehung, Wandelbarkeit, aber auch Wirkmächtigkeit kollektiver Zuge­ hörigkeitskonstruktionen, wie sie etwa im sozialen Bewusstsein einer Nation und dem korrespondierenden Geschichtsbewusstsein zum Ausdruck kom­ men. In der Betonung der Geschichtlichkeit dieser »Wir«-Identitäten6 ist vieles von dem heutigen Konzept des »kollektiven Gedächtnisses«7 schon vorweggenommen. Eng damit verbunden ist zweitens Koebners Interesse an der Denkpsychologie und dem Einfluss der Sprache auf das Handeln. Rein­ hart Kosellecks spätere These von der Indikator- und Faktorfunktion von Grundbegriffen lag hier bereits als methodischer Anspruch vor. Den dritten Themenkomplex schließlich machen Koebners Vorstellungen von Kulturpo­ litik und dem gesellschaftlichen Auftrag der Geschichtswissenschaft aus. Aus wissenskritischen Anfängen heraus entwickelte Koebner gesellschafts­ kritische Interventionen, in denen der kontingente und sozial konstruierte Charakter der kollektiven Identitäten verhandelt und damit insbesondere auch die Kontingenz der Moderne in der »Idee der Zeitwende« sichtbar ge­ macht wurde.

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Richard Koebner, Wortbedeutungsforschung und Geschichtsschreibung (1953), in: ders., Geschichte, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende, 260–274, hier 274. Ebd. Zum Konzept der »Identität« siehe Aleida Assmann, Das Problem der Identität aus kultur­ wissenschaftlicher Sicht, in: Leviathan 3 (1993), 238–253. Zur jüdischen Identität siehe Yfaat Weiss, Das Fremde in uns selbst. Über Identität und Wahrnehmung, in: Marion Kaplan/Beate Meyer (Hgg.), Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Göttingen 2005, 361–372. Siehe etwa Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999.

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Koebners Forschungen zur spezifisch modernen Denkfigur der »Zeit­ wende« bilden einen Knotenpunkt, in dem diese drei Themenkomplexe, also die geschichtstheoretische, methodologische und kulturkritische Dimension seiner Historischen Semantik miteinander verflochten wurden. Dieser semantische Ansatz darf in der Tat bis zu einem gewissen Grad als neuartig innerhalb der hermeneutischen Strömungen seiner Zeit gelten. Denn bis in die 1960er Jahre hinein dominierten Paul Ricœur zufolge innerhalb der westlichen Moderne zwei entgegengesetzte »Interpretationen der Interpreta­ tion«: einerseits die Schule des Vertrauens, der es in erster Linie um die »Sammlung des Sinns« gehe (wie etwa in Gadamers Begriffsgeschichte), und andererseits die Schule der »Hermeneutik des Verdachts«, die sich den »Abbau von Illusionen und Lügen des Bewußtseins« zum Ziel gesetzt habe.8 Letztere ist demnach eine Schule des »Zweifelns« und des »Skeptizismus«, die maßgeblich geprägt wurde von sonst so grundverschiedenen Denkern wie Marx, Nietzsche und Freud. Paul Ricœur hingegen setzte sich mit seiner hermeneutischen Anthropologie zum Ziel, beiden Seiten in gleichem Maße gerecht zu werden: dem Vertrauen, das die Vielfalt der Traditionen bewah­ ren will, ebenso wie dem Verdacht, der unter der Oberfläche das Verborgene vermutet, das als Machtinteresse oder als Begierde den »eigentlich« ent­ scheidenden Kern bildet. Richard Koebner, so meine These, hatte zumindest in diesem Punkt ein ähnliches Grundanliegen: Er richtete sich sowohl »gegen das Vergessen [als auch] gegen das Verfälschen«.9 Das populäre Geschichtsbewusstsein war für Koebner nicht nur der Gegenstand historiografischer Kritik, vielmehr war es für ihn das Untersuchungsobjekt der Geschichtswissenschaft schlechthin und damit zugleich eine Grundvoraussetzung jeglichen historiografischen Arbeitens. Denn er war überzeugt, dass durch das Geschichtsbewusstsein dem Historiker die Auswahl der zu behandelnden Themen und Quellen vor­ gegeben wird. Es ist demnach ein soziales Produkt, das aber selbst zugleich auch Sinn produziert. Entsprechend sei es »fast unvermeidlich, daß wir die Geschichte nach Gegenwartswerten umdeuten«.10 Daraus erwachse der Geschichtswissenschaft die »Pflicht«, das Geschichtsbewusstsein mit kriti­ schem Blick und nicht zuletzt mittels der semantischen Methode zu pflegen, das heißt seinen Facettenreichtum vor zerstörerischen Illusionen und homo­ genisierenden Mystifikationen zu bewahren.11

18 Paul Ricœur, Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt a. M. 1969, 45 (zuerst frz.: De l’interprétation. Essai sur Freud, Paris 1965). 19 Richard Koebner, Vom Begriff des historischen Ganzen (um 1933), in: ders., Geschichte, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende, 49–128, hier 90. 10 Ebd., 85. 11 Siehe Koebner, Wortbedeutungsforschung und Geschichtsschreibung, 274.

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Hier soll der bislang noch nicht behandelten Frage nachgegangen werden, welchen Weg Koebners umfassendes Verständnis von »Historischer Seman­ tik« als Theorie, Methode und Kritik des Geschichtsbewusstseins genom­ men hat und in welcher Beziehung dies zu seinen politischen Auffassungen und persönlichen Erfahrungen stand. Dabei wird zunächst auf die ge­ schichtstheoretischen Grundüberlegungen zum »Geschichtsbewusstsein« eingegangen, die im »Zeitwende«-Konzept gipfelten. Es folgt eine Darstel­ lung der auf diesem aufbauenden semantischen Methode, die schließlich in eine kurze Beschreibung seiner gesellschaftskritischen Positionen übergeht. Koebners Weg war der eines liberalen Denkers in der Auseinandersetzung mit einem Jahrhundert der Extreme, dessen Beschwörungen einer »neuen Zeit« er historisierte und zugleich als gefährliche Mythologisierungen ent­ larvte.

Kulturgeschichte, Bürgerlichkeit und das Problem des Historismus Richard Koebner wurde am 29. August 1885 in eine jüdische Familie des gehobenen Breslauer Bürgertums hineingeboren.12 Seine Familie galt als weitgehend nichtreligiös und als »akkulturiert«.13 Koebner besuchte das pro­ testantische Maria-Magdalenen-Gymnasium und studierte anschließend an den Universitäten Breslau, Genf und Berlin Geschichte, Germanistik und Philosophie. Sein Studium schloss er 1911 mit einer Dissertation über die spätmittelalterliche Eheauffassung ab. 1919 erfolgte in Breslau seine Habili­ tation; hier wurde er 1924 auch zum außerordentlichen Professor für Mittel­ alterliche Geschichte berufen.14 In seinen beiden Qualifikationsschriften hat Koebner sich vor allem der Herausbildung eines »bürgerlichen Selbstbewusstseins« gewidmet, und zwar sowohl im Sinne eines »Streben[s] nach einer innerweltlichen Moral«15 als auch im Sinne einer relativen Selbstregierung einer städtischen »bürger­ lichen Volksgemeinschaft« gegenüber der weltlichen und kirchlichen Herr­ 12 Siehe Eva Telkes-Klein, L’Université hébraïque de Jérusalem à travers ses acteurs. La pre­ mière génération de professeurs (1925–1948), Paris 2004, 242; Till van Rahden, Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925, Göttingen 2000, 114 f. 13 Siehe Telkes-Klein, L’Université hébraïque de Jérusalem à travers ses acteurs, 242. 14 Ebd., 240–242. 15 Siehe Koebners Dissertation, die in drei Teilen veröffentlicht wurde: die ersten drei Kapi­ tel in Richard Koebner, Die Eheauffassung des ausgehenden deutschen Mittelalters, in: Archiv für Kulturgeschichte 9 (1911), Teil 1: 136–198; Teil 2: 279–318; und ders., Die Eheauffassung des ausgehenden deutschen Mittelalters. Vorbemerkungen und Kap. 4: Die religiöse Beurteilung des ehelichen Lebens, Breslau 1911 (hier Zitat auf 69).

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schaft.16 Den Anstoß zu diesen Studien über die Herausbildung eines moder­ nen bürgerlichen Selbstverständnisses gab der Kulturhistoriker Kurt Breysig (1866–1940),17 mit dessen innovativen, aber zeitgenössisch auch heftig umstrittenen sozial- und verfassungsgeschichtlichen Ansätzen Koebner sich bereits während seines Studiums intensiv befasst hatte.18 Wenn auch Koeb­ ner als einer der wenigen Historiker gelten darf, die den »kulturgeschichtli­ chen Diskurs« in der Weimarer Zeit weiterführten,19 und obwohl er bereits während seines Studiums für Breysig kleinere Forschungsarbeiten über­ nahm,20 so hat dieser trotz Bitten Koebners die Betreuung seiner Dissertation nicht übernommen. Auch danach scheint kein engerer Kontakt mit Breysig oder anderen bekannten Kulturhistorikern, wie Karl Lamprecht, zustande gekommen zu sein.21 Vielmehr wurde für die Herausbildung des kulturgeschichtlichen Ansat­ zes der Forschungen Koebners die zeitgenössische Diskussion über das Problem »Historismus« mindestens ebenso wichtig wie der Einfluss Brey­ sigs. Als Mitarbeiter der unter der Leitung des Breslauer Staatsarchivars Victor Loewe herausgegebenen Jahresberichte der deutschen Geschichte22 befasste Koebner sich intensiv mit den »Revisionen der kulturwissenschaft­ lichen Grundbegriffe«,23 wie sie durch die im weiteren Sinne zum Neukan­ tianismus zählenden Ansätze von Heinrich Rickert (1863–1936), Max Weber

16 Siehe ders., Die Anfänge des Gemeinwesens der Stadt Köln. Zur Entstehung und ältesten Geschichte des deutschen Städtewesens, Bonn 1922. Vgl. bes. §10: »Das bürgerliche Ver­ bandswesen und die bürgerliche Volksgemeinschaft«. 17 Siehe den Lebenslauf in ders., Die Eheauffassung des ausgehenden deutschen Mittelal­ ters. Vorbemerkungen und Kap. 4, 80. 18 Die meisten Veranstaltungen in seiner Berliner Studienzeit zwischen 1905 und 1907 belegte Koebner nach eigenen Angaben bei Breysig. Ferner besuchte er vier Veranstaltun­ gen bei Otto Hintze. Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, AZ 6/2786: Handschriftliche Erklärung Koebners zum Studienverlauf, 25. April 1907. 19 Siehe Stefan Haas, Historische Kulturforschung in Deutschland 1880–1930, Köln/Wei­ mar/Wien 1994, 128. 20 Koebner bat Breysig darum, eine für diesen verfertigte Forschungsarbeit zur Dissertation ausbauen zu dürfen. Vermutlich handelte es sich hierbei um das tatsächlich gewählte Thema. Staatsbibliothek zu Berlin, NL Breysig, Kurt, Kasten 8, Richard Koebner an Kurt Breysig, 10. April 1907. 21 Lediglich an der Festschrift zum 60. Geburtstag Breysigs beteiligte sich Koebner, wo er aber zugleich Bedenken gegenüber der ahistorischen Statik in Breysigs Kategorienbil­ dung und Methodik äußerte. Siehe ders., Die Geschichtslehre James Harringtons, in: Geist und Geschichte. Kurt Breysig zu seinem sechzigsten Geburtstage, 3 Bde., hier Bd. 3: Vom Denken über Geschichte, Breslau 1928, 4–21, hier 12, Anm. 1 f. 22 Nicht zu verwechseln mit den ab 1926 unter der Leitung von Albert Brackmann und Fritz Hartung herausgegebenen Jahresberichten für deutsche Geschichte, für welche Koebner bis 1933 die Forschungsberichte über das »Städtewesen des Mittelalters« verfasste. 23 Ders., Geschichtsphilosophie. Methodenlehre. Historiographie, in: Jahresberichte der deutschen Geschichte 4 (1921), Breslau 1923, 2–17, hier 5.

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(1864–1920) und Richard Hönigswald (1875–1947) unternommen wurden. Diese Revisionen erfolgten unter dem Eindruck der »Historisierung unseres ganzen Wissens und Empfindens der geistigen Welt, wie sie im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts geworden ist«,24 die in der bekannten Formulie­ rung des protestantischen Theologen Ernst Troeltsch zu einer »Krisis des Historismus« geführt habe. Unter »Historismus« verstanden die Zeitgenos­ sen indes nicht in erster Linie jene spezifisch deutsche historiografische Schule,25 die durch die Kulturgeschichte Lamprechts und Breysigs zunächst wenig erfolgreich herausgefordert wurde, als vielmehr »das rasend-unbe­ dachte Zersplittern und Zerfasern aller Fundamente, das unermüdliche Zer­ spinnen und Historisieren alles Gewordenen«,26 das Friedrich Nietzsche bereits in den 1870er Jahren zum Grundübel der Moderne erklärt hatte. Gerade der westliche Liberalismus wurde mit diesem »Trennungsdenken«27 assoziiert, das sowohl auf synchroner als auch auf diachroner Ebene die ganzheitliche Frage nach dem »Wesen« der Dinge durch die Frage nach ihrer konkreten raum-zeitlichen »Funktion« ersetzte.28 Die »Historisierung« als temporale funktionale Differenzierung und allgegenwärtige Relativie­ rung kann mithin als ein zentrales »Kulturmuster« der Moderne aufgefasst werden, das als Denkweise die menschliche Praxis prägt und sich dadurch selbst stabilisiert.29 Koebner zufolge sind deshalb »continuous changes and differentiations […] processes of history by definition«.30

24 Ernst Troeltsch, Die Krisis des Historismus, in: Die Neue Rundschau. 33. Jg. der Freien Bühne 1 (1922), 572–590, hier 573. 25 Erst durch Friedrich Meineckes einflussreiches Werk Die Entstehung des Historismus (1936) erhielt das Wort eine »völlig neue Bedeutung« (Georg G. Iggers) und bezeichnete fortan die deutsche Historiografietradition des 19. Jahrhunderts. Siehe Georg G. Iggers, Historismus im Meinungsstreit, in: Otto Gerhard Oexle/Jörn Rüsen (Hgg.), Historismus in den Kulturwissenschaften, Köln/Weimar/Wien 1996, 7–27, hier 7. 26 Friedrich Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874), in: ders., Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 15 Bde., hier Bd. 1, München/New York 1980, 313. 27 So ein von dem Volksgeschichtler Otto Brunner häufig benutzter Begriff. Siehe Gadi Algazi, Herrengewalt und Gewalt der Herren im späten Mittelalter, Frankfurt a. M./New York 1996, 107, Anm. 38. 28 Siehe Stephen Holmes, Differenzierung und Arbeitsteilung im Denken des Liberalismus, in: Niklas Luhmann (Hg.), Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Opladen 1985, 9–41. Niklas Luhmann erkannte in der funktionalen Differenzierung, die auf sozia­ ler, sachlicher und zeitlicher Ebene operiert, bekanntlich das zentrale Charakteristikum der Moderne. Siehe Armin Nassehi, Die Theorie funktionaler Differenzierung im Hori­ zont ihrer Kritik, in: Zeitschrift für Soziologie 33 (2004), 98–118. 29 Siehe Daniel Fulda, Historicism as a Cultural Pattern. Practising a Mode of Thought, in: Journal of the Philosophy of History 4 (2010), 138–153. 30 Richard Koebner, The Concept of Western Civilization, in: The Cambridge Journal 4 (1951), 207–224, hier 212.

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Koebners Schüler Jehoschua Arieli (1916–2002) berichtet, dass im Mittel­ punkt von Koebners Werk die Frage stand, wie dem »Dilemma des Histori­ zismus [zu] entrinnen [sei], der das historisch Wandelbare auf alle Denkund Wertinhalte ausdehnt und damit die Möglichkeit der objektiven Erkenntnis zu verneinen scheint«.31 Denn Koebner erkannte wie viele seiner Zeitgenossen, dass die im 19. Jahrhundert vorherrschende bürgerlich-libe­ rale Fortschritts- und »Geschichtsreligion« (Wolfgang Hardtwig)32 mit ihrem idealistischen Wahrheitsdiskurs überzeitlicher, aber geschichtlich wirksamer »Ideen« das Kulturmuster der »Historisierung« in seiner relati­ vierenden Wirkung nicht mehr begrenzen konnte. Doch er teilte nicht das durch die Infragestellung des liberalen Fortschrittsglaubens spätestens im Ersten Weltkrieg aufgekommene resignative Gefühl »transzendentaler Obdachlosigkeit«.33 Vielmehr erkannte er in dieser von nicht wenigen als »Krise der Wirklichkeit«34 wahrgenommenen Situation, die sich nicht zuletzt auch im Bewusstsein des Verlusts sprachlicher Eindeutigkeit und unmittelbarer sprachlicher Abbildfunktion manifestierte,35 eine Chance für eine »Revision«. Koebner stand diesem Wandel des Weltbildes aufgeschlos­ sen gegenüber und mahnte seine Leser in Anlehnung an Rickert, historische Tatsachenerkenntnis nicht vom Blickwinkel eines »naiven Realismus« zu begreifen, sondern zu akzeptieren, dass »jeder Auswahl, die der Historiker unter dem Tatsachenmaterial treffen kann, eine Formung dieses Materials logisch vorausgeht, die den historischen Gegenstand erst konstituiert«.36 Die Formung des Materials sei wiederum abhängig von der Sprache, dem

31 Jehoschua Arieli, In memoriam Richard Koebner, in: Yedioth hayom [Tagesnachrichten], 13. Juni 1958. 32 Siehe Wolfgang Hardtwig, Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht, in: ders., Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters, Göttin­ gen 2005, 51–76. 33 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik (1916), Neuwied 1963, 35. Siehe auch Anselm Doering-Man­ teuffel, Mensch, Maschine, Zeit. Fortschrittsbewußtsein und Kulturkritik im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2003, München 2004, 91– 119. 34 Siehe auch Otto Gerhard Oexle, Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne, in: ders. (Hg.): Krise des Historismus – Krise der Wirk­ lichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880–1932, Göttingen 2007, 11–116, hier 12. 35 Siehe etwa die Diskussionen über eine »Sprachkrise« um 1900 und Fritz Mauthners berühmte Feststellung: »Und die ganze Geistesarbeit unserer Gegenwart scheint mir, der ich außerhalb der Kritik der Sprache nichts Wißbares erblicke, die weitverbreitete Ahnung zu sein, […] daß die Wirklichkeit etwas sei und die Sprache etwas anderes.« Ders., Beiträge zu einer Kritik der Sprache, 3 Bde., hier Bd. 1 (1901), Stuttgart/Berlin 3 1921, 175. 36 Koebner, Geschichtsphilosophie (1921), 3.

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Gemeinschafts- und Geschichtsbewusstsein, und damit der Kultur insge­ samt. Ernst Troeltschs Forderung, die »Geschichte durch Geschichte zu über­ winden«,37 wurde insbesondere in völkischen Kreisen zu einem vielfach missverstandenen Leitmotiv, um mit einem ganzheitlichen, »radikalen Ord­ nungsdenken«38 einen Ausweg aus jenem liberalen, alles relativierenden »Trennungsdenken« zu finden, von dem die »Historisierung« ein entschei­ dender Teil war. Koebner teilte zwar auch, wie Troeltsch, das Anliegen, »trotz aller methodologischen Einsicht in die Relativität der historischen Erkenntnis zu einer Ansicht des historischen Ganzen, zu einem Entwick­ lungsbegriff zu gelangen«.39 Zugleich lehnte er es allerdings ab, in der »ge­ schichtlich-individuellen Wirklichkeit ein überpersönliches Etwas – hieße es Geist und Idee oder Blut und Schicksal«40 – zu suchen. Damit stellte er sich auch gegen die wesentlich radikalere Strömung des »Antihistorismus«, die Benedetto Croce wenige Jahre später im Faschismus und im völkischen Den­ ken erkennen sollte, »als Scheu vor der Gewalt des Geschehens, als Gefühl, daß erst jetzt die echte Geschichte beginne und erst heute man aus der drang­ vollen Enge der falschen Geschichte endlich ins Freie komme«.41 Stattdessen urteilte Koebner in Anlehnung an Max Weber über die Tätigkeit des Histori­ kers: »[D]er Erkenntniswert seiner Forschung hängt davon ab, daß sie des Abschlusses in einer historischen Weltanschauung nicht bedarf.«42 Koebner fand in der anthropologischen Minimaldefinition des Menschen als ein durch Kommunikation Gemeinschaft stiftendes Wesen eine bestän­ dige Grundlage für die immer von Neuem zu bestreitende wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Geschichtsbewusstsein.43 Men­ 37 Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe, im Auftrag der Kommission für Theologiege­ schichtsforschung der Bayerischen Akademie der Wissenschaften hg. von Friedrich Wil­ helm Graf, hier Bd. 16, Teilbd. 2: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch. Das logische Problem der Geschichtsphilosophie (1922), Berlin/New York 2008, 772. 38 Siehe Lutz Raphael, Radikales Ordnungsdenken und die Organisation totalitärer Herr­ schaft. Weltanschauungseliten und Humanwissenschaftler im NS-Regime, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 5–40. 39 Koebner, Geschichtsphilosophie (1921), 7. 40 Ders., Geschichtsphilosophie. Methodenlehre. Historiographie, in: Jahresberichte der deutschen Geschichte 5 (1922), Breslau 1924, 2–17, hier 3. 41 Benedetto Croce, Antihistorismus. Vortrag, gehalten von Benedetto Croce auf dem inter­ nationalen Philosophenkongress in Oxford am 3. September 1930, übersetzt von Karl Vossler, in: Historische Zeitschrift 143 (1931), 457–466, hier 459. 42 Koebner, Geschichtsphilosophie (1922), 3. Siehe dazu den Brief des niederländischen Kulturhistorikers Johan Huizinga an Richard Koebner, 14. Januar 1925, zit. in Koebner, Geschichte, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende, 289: Dieser Satz, so Huizinga, »ist mir vom Herzen gegriffen; man könnte diese Worte sehr oft als Motto oder Leitspruch verwenden.« 43 Wie stark derartige anthropologische Geschichtsentwürfe mit der Frage nach Zugehörig­ keit westeuropäischer Judenheiten und einem säkularen Zeitverständnis verknüpft sind,

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schen werden nie aufhören, »soziale Formen zu schaffen, die sinn- und bedeutungsvoll für sie sind«,44 womit er Richard Hönigswalds »Leistung für die Wissenschaftstheorie der Geschichte« besonders hervorhob.45 Denn Hönigswalds Denkpsychologie und Sprachphilosophie haben demnach im Kontrast zu der von Rickert und Weber vertretenen »Entgegensetzung des psychologischen und des historischen Objektes« gezeigt, dass die grundle­ genden Kategorien der Geschichtswissenschaft und selbst »die entsprechen­ den Zeitbestimmtheiten, mit denen Geschichte unablässig operiert, vor allem der Begriff der Vergangenheit, letzten Endes psychologischer Natur«46 sind und damit in Abhängigkeit zum Bewusstsein und zur Sprache stehen.47 Was Koebner aus der Diskussion über das Problem des »Historismus« von Hönigswald übernahm, kann als halber »linguistic turn« aufgefasst werden, der einerseits schon wie die moderne Sprachphilosophie die relative Eigen­ ständigkeit von Worten gegenüber Dingen betonte, andererseits aber noch an der alten cartesianischen Tradition des Mentalismus festhielt.48 Diese Vorstellung wird Koebner in seinem 1933 fertiggestellten ge­ schichtstheoretischen Hauptwerk Vom Begriff des historischen Ganzen, das zeitlebens unveröffentlicht blieb, zu einer Theorie des historischen Be­ wusstseins weiterentwickeln. In dieser Schrift stellte Koebner die These auf, dass Geschichte »Gemeinschaftswissen« sei und damit »Kulturgeschichte als Geschichte des Sich-geordnet-Wissens« verstanden werden müsse.49 Koebner vertrat mithin einen dynamischen Begriff von »Kultur«, wonach diese »ein stets Lebendiges, ständig sich Gestaltendes« sei.50 Die »letzten

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zeigt Dan Diner. Ders., Historische Anthropologie nationaler Geschichtsschreibung, in: Michael Brenner/David N. Myers (Hgg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002, 207–216. Arieli, In memoriam Richard Koebner: »Koebner fand den archimedischen Ruhepunkt der objektiven Erkenntnis in der Erscheinung, die das Gemeinsame des historischen Bewusstseins und der Geschichte darstellt, in dem unablässigen Drang der Menschheit, soziale Formen des Lebens zu schaffen, die sinn- und bedeutungsvoll für sie sind.« Koebner, Geschichtsphilosophie (1921), 5. Ebd. Siehe auch Martin Heideggers offen antisemitische Diffamation der hönigswaldschen Philosophie als einer dem »Liberalismus auf den Leib zugeschnittene[n]« Auflösung des Menschen in ein »freischwebendes Bewußtsein«, wodurch der Blick abgelenkt werde »vom Menschen in seiner geschichtlichen Verwurzelung und in seiner volkhaften Überlie­ ferung seiner Herkunft aus Boden und Blut«. Zit. in Martin Heidegger, Gesamtausgabe, 132 Bde., hg. von Hermann Heidegger, hier Abteilung 1, Bd. 16: Reden und andere Zeug­ nisse eines Lebensweges, Frankfurt a. M. 2000, 132. Siehe Manuel Bremer, Richard Hönigswald über die Unhintergehbarkeit der Sprache, in: Aufklärung und Kritik 18 (2011), H. 3, 153–163, hier 154. Koebner, Vom Begriff des historischen Ganzen, 60 und 117. Richard Koebner, Zur Begriffsbildung der Kultur-Geschichte, Teil 1: Kulturform und Kulturbewegung (Jan Huizinga und Jacob Burckhardt), in: Historische Zeitschrift 149 (1934), 10–34, hier 10.

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Erkenntnisziele der Geschichtswissenschaft« seien folglich »kulturge­ schichtlicher« Natur,51 insofern die sich stets wandelnden Sinngebungen sozialer Zusammengehörigkeit im Zentrum stehen: »Geschichte erscheint zwar nicht als ›Sinngebung‹ des Sinnlosen, aber als das Gegen­ teil objektiver, erkenntnismäßiger Sinnbestimmtheit. Von Generation zu Generation, von Land zu Land, von Partei zu Partei – und also in mehr als einem Sinne von Mensch zu Mensch muß das, was Geschichte genannt wird, ein Verschiedenes sein. Es ist nichts völlig Verschiedenes, denn Traditionen der Epochenschematik und der Bewahrung des Denkwürdigen halten sich zäh aufrecht. Aber diese Kontinuität, diese Beharrung im Wandel der Geschichtsbilder ist nicht ein Gerüst von Grundtatsachen […], sondern sie ist eher eine Regel, um die Willkür möglich zu machen.«52

Dass die Vergangenheit nicht nur verschieden interpretiert, sondern auch ex post verändert, mithin konstruiert und »umgeschrieben« werden kann und damit »Kontinuität« nicht als Determination, sondern als bewusste Weiter­ führung kontingenter Sinngebungen verstanden wird, kann für diese Zeit als radikal neuer Gedanke gelten und hat in der Geschichtswissenschaft erst mit den Schriften Walter Benjamins und Reinhart Kosellecks großen Anklang gefunden.53 Es war dies Koebners Lösungsversuch für die Krise des Histo­ rismus – nicht wie bei vielen Volksgeschichtlern die Flucht in ein antihisto­ ristisches »radikales Ordnungsdenken«, sondern das Bewusstsein, dass als einziger erreichbarer Ausgangspunkt, von dem aus der Historiker die Ver­ gangenheit in den Blick nehmen könne, stets nur das jeweilige, beständig sich wandelnde historische Bewusstsein einer Gesellschaft zur Verfügung stehe. Johan Huizinga, dem Koebner diesen Text schickte, hat darin allerdings die Gefahr erkannt, dass die starke Orientierung am Geschichtsbewusstsein einer »Auslieferung des Wahrheitsgehaltes der Geschichte an die Tagesmei­ nung«54 einer nationalen Gemeinschaft gleichkäme. Eine kulturkritische, aber auch eine selbstkritische Position wird Koebner erst nach der Emigra­ tion nach Jerusalem entwickeln.

51 Ders., Vom Begriff des historischen Ganzen, 67. 52 Ebd., 86. 53 Siehe etwa Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Hermann Schweppenhäuser und Rolf Tiedemann, 14 Bde., hier Bd. I/2, Frankfurt a. M. 1991, 690–708; Reinhart Koselleck, Historik und Hermeneutik, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, 97–118. 54 Huizinga an Koebner, 4. März 1934, in: Koebner, Geschichte, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende, 292.

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»Deutschtumsarbeit« als »Spezial-Kenner« der Ostforschung Huizinga mag bei seinem Einwand nicht zuletzt Koebners enge Verbindun­ gen zu einflussreichen »Ostforschern« vor Augen gehabt haben, von denen nicht wenige sich bereits während der Weimarer Republik bemühten, die Bedeutung des Deutschtums für die historische Entwicklung Osteuropas dar­ zulegen, um damit nicht zuletzt auch künftige Gebietsansprüche ableiten zu können.55 Dementsprechend wird Koebner gerade für diese Zeit als »proche de la droite«56 oder gar als »deutschnational«57 charakterisiert. Wie konnte Koebner ein Engagement in der »Ostforschung« mit seinen geschichtstheo­ retischen Überlegungen in Einklang bringen, die eine weltanschauliche Fun­ dierung der Forschung ablehnten? In einem Brief an den Kanzler der Hebräischen Universität Jerusalem, Judah L. Magnes (1877–1948), schrieb Koebner, dass in seinen empirischen Studien in den Jahren vor 1933 die »sozialen und geistigen Grundlagen der modernen bürgerlichen Gesellschaft«58 im Zentrum des Interesses standen. Auch wenn darin eine gewisse Rechtfertigungsstrategie gelegen haben mag, so findet sich in dieser Aussage doch der Kern, dass es Koebner um die Genese der Problemstellungen seiner eigenen, bürgerlich-rechtsstaatlich verfassten Gegenwart und damit um die Entwicklung des aktuellen Geschichtsbewusstseins seines Lebenszusammenhangs ging, in allen seinen empirischen Forschungsarbeiten bestätigt. Koebner hatte bereits gegen Ende des Ersten Weltkriegs Max Schelers Nachkriegseuropa-Vision offen be­ grüßt, in der die Gegensätze der verschiedenen Nationen durch eine an modernen demokratischen Prinzipien orientierte »übernationale Lebensein­ heit« ausgeglichen werden sollten.59 Auch die Untersuchung der »bürgerli­ 55 Zur »Ostforschung« siehe die noch immer grundlegenden Studien von Michael Burleigh, Germany Turns Eastwards. A Study of “Ostforschung” in the Third Reich, London 2 2002, sowie Ingo Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissen­ schaft und der »Volkstumskampf« im Osten, Göttingen 2000. 56 Telkes-Klein, L’Université hébraïque de Jérusalem à travers ses acteurs, 243. 57 Christian Tilitzki, Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, 2 Bde., hier Bd. 2, Berlin 2002, 280, Anm. 360: »Richard Koebner zählte in der Fakultät zu den profilierten Deutschnationalen.« Siehe auch Thomas Meyer, der an Tilitzkis Schrift die »zahllosen Ungeheuerlichkeiten« kritisiert, »die sich vornehmlich in Fußnoten finden«. Ders., Von der Einfühlung des Gedankens. Tilitzkis Geschichte der Philosophie von 1918 bis 1945 übergeht den Zivilisationsbruch und verkennt den Beitrag jüdischer Denker, in: Die Zeit, Nr. 24, 6. Juni 2002. 58 Hebrew University Jerusalem Archives (nachfolgend HUJ), Richard Koebner Vol. 1, 1933–1948: Richard Koebner an den Kanzler der Hebräischen Universität Jerusalem [Judah L. Magnes], 4. Oktober 1933. 59 Siehe Richard Koebner, Rez. zu Max Scheler, »Krieg und Aufbau« und »Die Ursachen des Deutschenhasses«, in: Literarisches Zentralblatt für Deutschland 69 (1918), Teil 1: H. 3, 19. Januar 1918, Sp. 51–53; Teil 2: H. 4, 26. Januar 1918, Sp. 71–73; Teil 3: H. 5, 2. Februar 1918, Sp. 95–96, hier bes. Sp. 72 und 95.

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chen Volksgemeinschaft« der mittelalterlichen Stadt Köln, welche den zent­ ralen Gegenstand seiner 1922 veröffentlichten Habilitationsschrift bildete, war keinem völkischen Gedankengut verpflichtet.60 Vielmehr ging es Koeb­ ner in seiner Darstellung um die »Selbstbestimmung der Volksgemeinde« unter der Führung einer meritokratischen Elite.61 Wenn auch eine anonyme städtische Bürokratie bereits im ausgehenden 13. Jahrhundert die »Grundbe­ griffe der ursprünglichen Willensordnung zerstört« habe,62 seien ohne dieses »bürgerliche Gemeinschaftsprinzip« des mittelalterlichen Städtewesens »weder die Demokratie noch der Nationalstaat der Neuzeit denkbar«.63 Koebners Versuch, den Nationalstaat als Gemeinschaft gleichberechtigter Bürger aus der städtischen Selbstverwaltung abzuleiten, entsprach damit einem seit Langem verfolgten Ziel liberaler Politik.64 Koebners entscheidender inhaltlicher Beitrag zur »Ostforschung« lag ebenfalls in der Untersuchung der Herausbildung eines »bürgerlichen Selbstbewusstseins«. Anhand der Verwendung des Begriffs »locatio« im Kontext von Siedlungsgründungen nach »deutschem Recht« wollte Koebner nachweisen, dass das »Grenzland« des Deutschtums mit »entscheidende[m] Anteil slavischer [sic] Fürstenpolitik«65 und im Verbund mit deutschen »bür­ gerlichen Siedlungsunternehmern«, sogenannten Lokatoren,66 stetig erwei­ tert wurde. Indem Koebner beide Seiten betrachtete und noch 1935 auf die vielfachen, stets dem Wandel unterworfenen Verknüpfungsformen »deut­ schen« und »slawischen« Rechts verwies,67 unterschied er sich von »Ostfor­ 60 Wie Norbert Götz und Wolfgang Hardtwig zeigen, war dieser in der unmittelbaren Nach­ kriegszeit heftig umstrittene Terminus kein exklusiver Kampfbegriff der politischen Rechten. Vielmehr schien er zeitweilig sogar zur Bezeichnung eines »demokratischen Gründungsmythos des postmonarchistischen Deutschland« zu avancieren. Siehe Norbert Götz, Volksgemeinschaft, in: Michael Fahlbusch/Ingo Haar (Hgg.), Handbuch der völki­ schen Wissenschaften. Personen – Institutionen – Forschungsprogramme – Stiftungen, München 2008, 713–721, hier 713; Wolfgang Hardtwig, Volksgemeinschaft im Über­ gang. Von der Demokratie zum rassistischen Führerstaat, in: Detlef Lehnert (Hg.), Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept »Volksheim« im Vergleich 1900–1938, Köln 2013, 227–253, hier 234. 61 Koebner, Die Anfänge des Gemeinwesens der Stadt Köln, 247 f. (Hervorhebung im Origi­ nal). 62 Ebd., 548, Anm. 1. 63 Ebd., 5 und 1. 64 Siehe Dieter Langewiesche, Liberalismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1988, 200. 65 Richard Koebner, Staatsbildung und Städtewesen im deutschen Osten, in: Forschungen und Fortschritte 6 (1930), H. 20, 263 f., hier 264. 66 Ders., Locatio. Zur Begriffssprache und Geschichte der deutschen Kolonisation, in: Fest­ gabe der Oberlausitzischen Gesellschaft der Wissenschaften zur Feier ihres 150-jährigen Bestehens dargebracht vom Verein für Geschichte Schlesiens, Breslau 1929, 1–32 (zugleich erschienen im Band 63 (1929) der Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schle­ siens). 67 Siehe ders., Die Entstehung der Zaudengerichte und der Ausgang der Kastellanei-Verfas­

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schern« wie Hans Rothfels oder Hermann Aubin, welche propagierten, dass die »überzeitlich gedachte völkische Überlegenheit«68 des Deutschtums im Osten in einem Drang zur Kolonisation von Lebensraum ihre gleichsam natürliche Erfüllung gefunden habe. Koebners Auffassungen waren damit jedoch keineswegs inkompatibel mit denjenigen der völkischen »Ostforscher«, vielmehr war sein aus seman­ tischen Analysen aufgebautes Modell des »bürgerlichen Siedlungsunterneh­ mers« anschlussfähig für völkische Deutungen, ohne dass Koebner selbst einen ontologisch-rassistischen Volksbegriff verwendete. Denn Koebner vertrat zum einen die Grundvorstellung eines ex post betrachtet einheitli­ chen und zusammenhängenden Kolonisationsprozesses. Zum anderen war er angesichts des »eigentümlich schroffe[n], zentralistische[n] und autokra­ tische[n] Zug[es] des slawischen Regiments« von der Überlegenheit »bür­ gerlicher« Rechtsinstitutionen und »deutscher« Kultur überzeugt.69 Entspre­ chend hat etwa Albert Brackmann (1871–1952), einer der einflussreichsten »Ostforscher« in der Frühzeit der NS-Herrschaft,70 Koebner noch im Dezember 1934 versichert, »daß wir von Ihren Darlegungen sehr großen Nutzen haben werden«71. Aber auch von entgegengesetzter Seite kam Zustimmung; so zeigte sich der französische Historiker und Mitbegründer der Annales-Schule Marc Bloch von Koebners semantischer Methode be­ geistert, denn sie sei »un des plus sûrs parmi les chemins capables d’attein­ dre des réalités«.72

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sung in Schlesien, in: Das Zaudengericht in Böhmen, Mähren und Schlesien. Zwei Unter­ suchungen von Paul Diels und Richard Koebner, Breslau 1935, 31–82. Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, 127. Richard Koebner, Das Problem der slawischen Burgsiedlung und die Oppelner Ausgra­ bungen, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 65 (1931), 91–120, hier 101. Brackmann als »höchstrangiger deutscher Historiker« in Wolfgang J. Mommsen, Vom »Volkstumskampf« zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik in Europa. Zur Rolle der deutschen Historiker unter dem Nationalsozialismus, in: Winfried Schulze/Otto Ger­ hard Oexle (Hgg.), Deutsche Historiker im Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. 1999, 183–214, hier 183. Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin (nachfolgend GStA PK), HA VI, NL Brackmann, A., Nr. 17, Bl. 117: Brackmann an Koebner, 17. Dezember 1934. Herr­ mann Aubin schrieb an Siegfried Kaehler, dass die Entlassung Koebners 1933 als »umso härtere[r] Verlust« erscheint, »als man derzeit mehr wie je die ernste und auf historischphilosophischer Einsicht basierte Aussprache braucht«. (Aubin an Kaehler, 12. Mai 1933, zit. in Eduard Mühle, Für Volk und deutschen Osten. Der Historiker Hermann Aubin und die deutsche Ostforschung, Düsseldorf 2005, 101.) Theodor Goerlitz lobte an Koebner die »Fülle wertvoller Anregungen und Hinweise«, die »im Schrifttum über das Kolonial­ zeitalter Schlesiens immer eine besondere Stellung einnehmen« werden (ders., Rezension zu Paul Diels/Richard Koebner, Das Zaudengericht in Böhmen, Mähren und Schlesien. Zwei Untersuchungen, Breslau 1935, in: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schle­ siens 70 [1936], 491–493, hier 493). Marc Bloch, À propos de la colonisation de l’Allemagne orientale. Histoire d’un mot, in:

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Die zunächst widersprüchlich erscheinende Kombination aus liberaler Geschichtstheorie und einem »außergewöhnlich starke[n] Gefühl der natio­ nalen Zugehörigkeit«73 verweist nicht nur auf Koebners damalige nationalliberale politische Einstellung, sondern auch auf seine Lebenssituation als jüdischer Bildungsbürger und seine Beschäftigung mit Fragen von Akkultu­ ration und Assimilation. Darauf gibt nicht zuletzt die Zueignung seiner 1922 veröffentlichten Habilitationsschrift einen wichtigen Hinweis. Denn Koeb­ ner widmete seine Studie seinem langjährigen Freund und Kollegen, dem Rabbiner und Religionsphilosophen Julius Guttmann (1880–1950), der bis zu seiner Berufung an die Berliner Hochschule für die Wissenschaft des Judentums im Jahr 1919 in Breslau und ab 1934 in Jerusalem lehrte.74 Guttmann hatte bereits im Januar 1914 im Publikationsorgan des »deutsch-vaterländischen« Kartell-Convents der Verbindungen deutscher Studenten jüdischen Glaubens75 gegen die seit der Jahrhundertwende ver­ stärkte Verwendung von essentialistischen Identitätskonstruktionen sowohl aufseiten national-liberaler Juden als auch aufseiten mancher Zionisten Posi­ tion bezogen,76 indem er die ganze Streitfrage, ob das Judentum als »Volk« und/oder als »Nation« anzusehen sei, als ein primär semantisches Problem offenlegte.77 Aufgrund der historisch variierenden Bedeutungen des Begriffs »Nation« habe demzufolge keine Gesellschaftsform »ein höheres Recht auf den Namen der Nation als die andern«. Allein zu wissenschaftlichen Unterschei­ dungszwecken sei es legitim, einen »›normalen‹ Typus nationaler Gemein­ schaft« zu beschreiben, wobei »als konstanter, allen Nationen gemeinsamer Faktor lediglich die Einheit einer geschichtlichen Lebensgemeinschaft über­

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Annales d’histoire économique et sociale 4 (1932), 223. Siehe auch Peter Schöttler, Marc Bloch. Lettres à Richard Koebner (1931–1934), in: Cahiers Marc Bloch 5 (1997), 73–82, hier 75. Ein Artikel Koebners sollte schließlich in den Annales veröffentlicht werden: ders., Dans les terres de colonisation. Marchés slaves et villes allemandes, in: Annales d’histoire économique et sociale 9 (1937), 547–569. Arieli, Richard Koebner. Zeitwende und Geschichtsbewußtsein, 24. Siehe Fritz Bamberger, Julius Guttmann. Philosoph des Judentums, in: Robert Weltsch (Hg.), Deutsches Judentum – Aufstieg und Krise. Gestalten, Ideen, Werke. Vierzehn Monographien. Veröffentlichung des Leo Baeck Instituts, Stuttgart 1963, 85–119. Siehe hierzu Miriam Rürup, Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886–1937, Göttingen 2008, insb. 87–97 und 119–132. Siehe Yfaat Weiss, Identity and Essentialism. Race, Racism, and the Jews at the Fin de Siècle, in: Neil Gregor/Nils Roemer/Mark Rosemen (Hgg.), German History from the Margins, Bloomington, Ind., 2006, 49–69. Siehe Julius Guttmann, Der Begriff der Nation in seiner Anwendung auf die Juden, in: K. C.-Blätter 4 (1914), Teil 1: 69–79; Teil 2: 109–116. Siehe auch Bamberger, Julius Gutt­ mann, 112.

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haupt und ihr Ausdruck in einem entsprechenden Gemeinschaftsbewußt­ sein« infrage kämen.78 Im Falle der »israelitischen Volksgemeinschaft« sei diese Einheit von Kultur- und Religionsgemeinschaft allerdings mit dem Ende der ständischen Gesellschaftsform und der einsetzenden »Säkularisierung der Kultur« zer­ brochen und nur ein auf der Religion basierendes Gemeinschaftsverständnis habe weiter bestanden. Folglich musste fortan das allgemeine Zugehörig­ keitsgefühl des modernen Judentums in der Diaspora gleichsam notwendig der jeweiligen außerjüdischen Kultur gelten.79 Damit hatte Guttmann die Frage nach dem relativierenden Historismus, mithin die »Säkularisierung der Kultur«, mit der Frage der jüdischen Assimilation verbunden, und zwar über die Thematisierung des semantischen Wandels. Ähnlich wie Guttmann – und in gewisser Weise auch ähnlich wie Max Weber80 – definierte Koebner wiederum »Volk« als »eine Gemeinschaft, die sich in der Erinnerung an ihre Vergangenheit vereinigt«.81 »Völker« bilden somit aus geschichtswissenschaftlicher Sicht, wie Koebner noch 1940 ange­ sichts der »gegenwärtigen Weltkatastrophe« glaubte, die »Einheiten der historischen Wirklichkeit«, deren »Organisation der Macht« durch die Poli­ tikgeschichte untersucht wird, während deren »Organisation des Gesell­ schaftslebens und Kulturlebens« in den Bereich der Sozial- bzw. Kulturge­ schichte fällt. Weder von überzeitlichen Wesenheiten wie Blut und Rasse noch von einem rein voluntaristisch konzipierten Gemeinschaftsbegriff müsse die Geschichtswissenschaft ausgehen. Vielmehr sei in »den Wechsel­ beziehungen von Machtorganisation und sozialer Organisation« das »tiefste Problem der historischen Erkenntnis« zu suchen.82 Diesen Vorstellungen entsprechend zeigte sich Koebner in seiner 1933 fertiggestellten geschichts­ theoretischen Hauptschrift überzeugt, dass der Lebenszusammenhang des Historikers die »Nation« zu einer unumgänglichen epistemologischen Kate­ gorie mache: »Keine Geschichtsauffassung, die sich in einen nationalen Rahmen stellt, hat eine Gemeinschaft von Nationen als Ausgangspunkt.

78 Guttmann, Der Begriff der Nation in seiner Anwendung auf die Juden, 70 (Hervorhebung im Original). 79 Siehe ebd., 75 und 78. 80 Siehe Zenonas Norkus, Max Weber on Nations and Nationalism. Political Economy before Political Sociology, in: The Canadian Journal of Sociology 29 (2004), 389–418, demzufolge Webers politisch-soziologische Theorie der Nation in Wirtschaft und Gesell­ schaft zwei zentrale Eckpunkte hatte: »[T]he nation is understood as a status group united by common historical memory and fighting for the prestige of power and culture with other nations.« (389) 81 Richard Koebner, Über den Sinn der Geschichtswissenschaft (1940), in: ders., Geschich­ te, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende, 131–145, hier 136. 82 Ebd., 143.

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Immer ist die eine Nation der Gipfelpunkt der Geschichte.«83 Mehr noch: Letztlich müsse die Geschichtsschreibung als »Selbstbesinnung« sich dem »Tatbestand eines gesellschaftsgestaltenden Wollens« unterwerfen.84 Diese Einstellung mag auch dazu beigetragen haben, dass Koebner, obgleich er nicht wie sein Breslauer Kollege Hermann Aubin eine »methodi­ sche Wendung zur Volkgeschichte« vollzogen hatte,85 innerhalb des Bres­ lauer Historischen Seminars als »Spezial-Kenner«86 so sehr geschätzt war, dass die Fakultät sich nach seiner Beurlaubung aufgrund des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« vom 7. April 1933 für seinen Verbleib oder zumindest für die finanzielle Unterstützung seiner Forschun­ gen durch die Vergabe eines Lehrauftrags aussprach, da er neben Aubin an vorderster Front der »Deutschtumsarbeit« stehe und im »erbitterten Kampf mit den polnischen Historikern wegen der Probleme der deutschen Koloni­ sation« unentbehrlich sei.87 Auch am VII. Internationalen Historikerkongress Ende August 1933 in Warschau hat Koebner trotz seiner »Beurlaubung« von der Universität Breslau noch teilgenommen. Koebner war an den bereits seit Ende der 1920er Jahre laufenden Vorbereitungen des Historikerverbands, verschiede­ ner Reichsbehörden und historischer Kommissionen als ausgewiesener Fach­ vertreter beteiligt, wie etwa auch Hermann Aubin, Albert Brackmann, Karl Brandi oder Hans Rothfels.88 Er war damit fest eingebunden in die Bestre­ bungen der deutschen Delegation, den »Kampf um den Osten auch mit geis­ tigen Waffen zu führen«.89 Die zugrunde liegende Strategie für den Histori­ kerkongress bestand allerdings in äußerster Zurückhaltung gegenüber revanchistischen Forderungen, um keinen Zweifel an der vermeintlich rein sachlichen Argumentation der deutschen Seite aufkommen zu lassen und um wieder gleichberechtigt in die »Ökumene der Historiker« aufgenommen 83 84 85 86

Ders., Vom Begriff des historischen Ganzen, 85. Ebd., 128. Siehe Mühle, Für Volk und deutschen Osten, 479 f. Bundesarchiv Koblenz, NL Rassow N1228, Nr. 98: Peter Rassow an Hermann Aubin, 23. Dezember 1930. 87 GStA PK, HA I, Rep. 76, Va, Sekt. 4, Tit. IV, Nr. 51, Bl. 305: Ernst Kornemann [im Auf­ trag der Philosophischen Fakultät] an den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, 5. Mai 1933. Siehe auch Mühle, Für Volk und deutschen Osten, 102. 88 Karl-Dietrich Erdmann, Die Ökumene der Historiker. Geschichte der Internationalen His­ torikerkongresse und des Comité International des Sciences Historiques, Göttingen 1987, 197–202; Haar, Historiker im Nationalsozialismus, 116–126 und 135–149; Eduard Mühle, »Von den wilden Schlachzizen glücklich wieder zurückgekehrt.« Hermann Aubin und der Internationale Historikerkongress in Warschau 1933, in: Bernhard Symanzik (Hg.), Studia Philologica Slavica. Festschrift für Gerhard Brikfellner zum 65. Geburtstag, Teilbd. 2, Berlin 2006, 477–494. 89 Karl Brandi, Denkschrift über den VII. Internationalen Historikerkongreß in Warschau vom 4. Mai 1933, zit. in Haar, Historiker im Nationalsozialismus, 136.

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zu werden.90 In diesem Zusammenhang hatte auch die seit Langem geplante Teilnahme der beiden Historiker jüdischer Herkunft, Koebner und Rothfels, eine neue Bedeutung bekommen, da, wie der Vorsitzende des Historikerver­ bands und »Reichsbeauftragte« der Delegation, Karl Brandi, nicht ohne Zynismus erklärte, »an diesen Beispielen praktisch dargetan werden konnte, wie wenig man nichtarischen Dozenten zu Leide tut«.91 Im Gegensatz zu Rothfels stand Koebner dem Liberalismus allerdings wesentlich näher und war auch nicht zum Christentum konvertiert, weshalb Rothfels trotz gewisser Bewunderung für Koebners »Verbindung von Gelehrsamkeit und wesenhafter, an M. Weber geschulter Fragestellung«92 erklärte, dass er in der Angelegenheit seiner Berufung auf eine ordentliche Professur in Königsberg sowie später in Breslau »keine Initiative« für ihn nehmen wolle, »schon allein wegen der Konfessionsfrage«.93

Die »Politik der Idee« und die Emigration nach Jerusalem Als Koebner unmittelbar nach dem Warschauer Historikerkongress den Ruf an die Hebräische Universität in Jerusalem erhielt, hatte er zunächst Beden­ ken, ihn anzunehmen. So schrieb er etwa an den Sekretär des Londoner Aca­ demic Assistance Council (AAC),94 Walter Adams (1906–1975): »Die geis­ tige Atmosphäre von Jerusalem dürfte für mich sehr fremdartig sein, da ich der zionistischen Bewegung fern stehe.« Ein weiterer Grund für sein Zögern war die Hoffnung, »von England aus mit der deutschen Wissenschaft, wie mit der europäischen überhaupt, wesentlich besser in Fühlung bleiben zu können, als dies von Jerusalem aus möglich ist«.95 Adams konnte Koebner indes nur eine auf ein Jahr befristete Anstellung in England vermitteln,96 weshalb Koebner nach einem kürzeren Aufenthalt in London den Ruf nach Jerusalem schließlich zum Oktober 1934 annahm.97 Was für viele »Heim­ kehr« war, blieb für Koebner zunächst Emigration in ein unvertrautes Land. 90 Haar, Historiker im Nationalsozialismus, 119 und 123. 91 Vertraulicher Bericht Karl Brandis, zit. in Mühle, Für Volk und deutschen Osten, 100. 92 Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Cod. Ms. S. A. Kaehler 1:205,1: Hans Roth­ fels an Siegfried Kaehler, 24. Januar 1929. 93 Hans Rothfels an Siegfried Kaehler, 11. November 1928, zit. in Eckel, Hans Rothfels, 184. Es ging um die Nachfolge des Mediävisten Erich Caspar in Königsberg 1928. 94 Siehe hierzu David Zimmerman, The Society for the Protection of Science and Learning and the Politicization of British Science in the 1930s, in: Minerva 44 (2006), H. 1, 25–45. 95 Bodleian Library Oxford, MS S.P.S.L. 255/1, Bl. 16 f.: Richard Koebner an Walter Adams, 5. September 1933. 96 Ebd., MS S.P.S.L. 255/1, Bl. 18: Adams an Koebner, 9. September 1933. 97 HUJ, Richard Koebner Vol. 1, 1933–1948: Richard Koebner an den Kanzler der Hebräi­ schen Universität Jerusalem [Judah L. Magnes], 4. Oktober 1933.

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Auch in Jerusalem galt Koebner unter seinen Zeitgenossen als »Fremder« gegenüber dem Zionismus und dem Judentum insgesamt. Sein Schüler Jacob L. Talmon (1916–1980), der aus einer osteuropäischen orthodoxen Familie stammte, sprach gar von einem »lack of a specific Jewish heritage and training«.98 In seiner Breslauer Zeit hatte Koebner sich zwar im CentralVerein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.-V.) und im freimaure­ rähnlichen Orden B’nai B’rith engagiert,99 aber auch Breslauer Bekannte wie etwa der Historiker Willy Cohn (1888–1941) waren überzeugt, dass Koebner es »immer abgelehnt« habe, »Beziehungen zum Judentum zu unterhalten«. Entsprechend empfand Cohn es als geradezu »grotesk«, dass Koebner an die Hebräische Universität in Jerusalem berufen wurde, denn er sei ein »gänzlich unpolitischer Mensch« gewesen, »der weder jüdisch noch politisch hervorgetreten ist«.100 Koebner war vor 1933 der öffentlichen Meinung jedoch keineswegs völlig unkritisch ergeben oder politisch gänzlich untätig gewesen. Denn ab Mitte 1931 hatte er sich in der als besonders »liberal«101 geltenden Breslauer Orts­ gruppe des C.-V. als Vertrauensmann an der Universität Breslau betätigt, um angesichts der »zunehmende[n] Radikalisierung an den Hochschulen«102 den antisemitischen Strömungen entgegen- und für Gleichberechtigung ein­ zutreten. Vom Vorhaben der Ortsgruppe, zu diesem Zweck einen Vortrag Ludwig Holländers, des »betont patriotisch, fast deutsch-national«103 einge­ stellten Direktors des C.-V., vor ausgewählten Professoren zu organisieren, riet Koebner allerdings »nach Fühlungnahme mit den Dozenten« ab und empfahl stattdessen, nur »Aufklärungsmaterial« an ausgesuchte Personen zu verteilen.104 Bereits im April 1932 machte Koebner sich keine Illusionen 198 NLI, ARC 4° 1593, RS-39: Jacob L. Talmon, A Master of History [Zeitungsausschnitt aus unbekannter Zeitung], 24. Juni 1955. Siehe dagegen Arieli, Richard Koebner. Zeit­ wende und Geschichtsbewußtsein, 24 f. Zum Verhältnis Talmon – Koebner siehe Arie Dubnov, Priest or Jester? Jacob L. Talmon (1916–1980) on History and Intellectual Enga­ gement, in: History of European Ideas 34 (2008), H. 2, 133–145. 199 Laut Telkes-Klein hatte Koebner in der Breslauer Loge von B’nai B’rith den Rang eines Großmeisters. Dies., L’Université hébraïque de Jérusalem à travers ses acteurs, 243. 100 Willy Cohn, »Kein Recht, nirgends.« Tagebuch vom Untergang des Breslauer Judentums 1933–1941, 2 Bde., Köln/Weimar/Wien 2006, hier Bd. 1, 36 (Eintrag vom 29. April 1933) und 104 (Eintrag vom 19. November 1933). 101 So klagte angeblich Ludwig Foerder, ein Mitglied der Breslauer Ortsgruppe: »[M]uß die Breslauer Ortsgruppe ausgerechnet liberal sein?« (Central Archive of the History of the Jewish People, Jerusalem (nachfolgend CAHJP), HM2/8705-401, Bl. 133: Paula Ollen­ dorf an Alfred Wiener, C.-V. Berlin, 9. Januar 1932). 102 Ebd., HM2/8705-401, Bl. 326–330: Protokoll der Vorstandssitzung vom 7. Juli 1931, hier Bl. 328. 103 Hans Lamm, Art. »Holländer, Ludwig«, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 9, Berlin 1972, 537 f., hier 538. 104 CAHJP, HM2/8705-403, Bl. 248: Protokoll der Arbeitsausschusssitzung vom 4. April 1932.

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mehr über die Beeinflussbarkeit des zunehmend antisemitisch eingestellten wissenschaftlichen Feldes durch große Worte und pathetische Reden. Er setzte, wie auch in seinen wissenschaftlichen Forschungen, auf sachliche Argumentation und hoffte, wie er noch 1936 sagen wird, auf den Erfolg einer »Politik der Idee«.105 Entsprechend favorisierte Koebner im Sinne des C.-V. die Rechtsstaatlichkeit, wenn er die diversen Stufen der »Assimila­ tion« als »Resultate des Experiments der Eingliederung der Juden auf der Grundlage der Gleichberechtigung in der westlichen Welt« definierte.106 Doch diese Hoffnung Koebners auf eine »Politik der Idee« wurde im Juni 1938, also einige Monate vor dem Münchner Abkommen und den Novem­ berpogromen, auf die Probe gestellt, als er erkennen musste, dass der »anti­ semitic fanatism« den Juden nur noch »the right of death« gelassen habe, denn »the British policy of professing patience has not proved to be fruit­ ful«. Zudem drohe gerade dieses Scheitern der britischen Politik auch schwerwiegende Probleme für Palästina mit sich zu bringen, denn »Arab ter­ rorists are hoping for World-Antisemitism«.107 Als der Zweite Weltkrieg unvermeidlich zu werden schien, sollte sich zumindest Koebners politisches Engagement verstärken, denn es kam – wie sein Mitarbeiter Helmut Dan Schmidt sagte – zu einer »geistigen Neuorien­ tierung«.108 Koebner, der noch bis 1937 regelmäßig im Sommer nach Deutschland reiste, um seine Forschungen zur mittelalterlichen Ostsiedlung weiterzuführen,109 musste nun endgültig erkennen, dass sein auf Rechtsstaat­ lichkeit und Interessenausgleich beruhendes »bürgerliches« Geschichts- und Gemeinschaftsbewusstsein sich sowohl als realitätsfern als auch politisch unwirksam erwiesen hatte. Koebner war nunmehr überzeugt, dass nicht nur die allgemeine Politik, sondern auch eine wirksame Kulturpolitik, die mit seinem Habitus eines »deutschen Mandarins« aufs Engste verbunden war,110 tiefer ansetzen müsse, nämlich an den grundlegenden Strukturmerkmalen des modernen Ge­ schichts- und Gemeinschaftsbewusstseins: Die Wissenskritik musste zur Grundlage einer Gesellschaftskritik werden. 105 NLI, ARC 4° 1809-2: Tagebuch, undatierter Eintrag (zwischen dem 6. September 1936 und dem 16. Februar 1937). 106 Archives of the Leo Baeck Institute, New York, Robert Raphael Geis Collection, AR 7263, box 2, folder 42, p. 758: Richard Koebner an Robert R. Geis, 5. Oktober 1941. 107 Bodleian Library Oxford, MS S.P.S.L. 255/1, Bl. 94–97: Koebner an Adams, 23. Juni 1938, hier Bl. 95. 108 Helmut Dan Schmidt, Richard Koebner (1885–1958). Von Breslau nach Jerusalem, in: Koebner, Geschichte, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende, 11–21, hier 15. 109 Bodleian Library Oxford, MS S.P.S.L. 255/1, Bl. 94–97: Koebner an Adams, 23. Juni 1938, hier Bl. 95. 110 Siehe Paul Mendes-Flohr, The Mandarins of Jerusalem, in: Naharaim. Zeitschrift für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte 4 (2011), H. 2, 175–182.

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Die »Idee der Zeitwende« als Charakteristikum des modernen Geschichtsbewusstseins Die entscheidende geschichtstheoretische Wandlung in Koebners Denken erwuchs aus der selbstkritischen Beschäftigung mit der Diskussion über die Krise des Historismus, die er nun gewissermaßen selbst historisierte, indem er nach den gesellschaftlichen und politischen Wirkungen dieses scheinbar zunächst nur geschichtstheoretischen Problemdiskurses fragte. Koebner zufolge verbarg sich hinter dem nach dem Ersten Weltkrieg besonders heftig einsetzenden »Prozeß materieller Umwühlung und geistiger Krise« eine »Ideologie der Zeitwende«, die das zentrale Charakteristikum des neuzeitli­ chen Selbstverständnisses darstelle.111 Seine in den frühen 1940er Jahren einsetzenden Forschungen zur »Ideolo­ gie der Zeitwende«, die nur einem kleinen akademischen Publikum zugäng­ lich wurden, sind zum Verständnis von Koebners politischen Vorstellungen und der Entwicklung seiner semantischen Methode von entscheidender Bedeutung. Ihren Ursprung fand die »Ideologie der Zeitwende« demnach in einer Reaktion auf »eine kontinuierliche Wandlung der technischen, ökono­ mischen und sozialen Lebensbedingungen, die das Bewußtsein einer von Grund aus veränderten Zeit in jedes Einzelleben hineintrug«. Insbesondere politische Veränderungen hätten diesem »Gedanken einer gänzlichen Welt­ veränderung um 1800 und dann wieder im 20. Jahrhundert Nahrung gege­ ben«.112 Mithin beschrieb Koebner eine an der Schwelle zum 19. Jahrhundert einsetzende Ideologisierung des Geschichtsbewusstseins, welche sich in der kollektiv geteilten Überzeugung manifestiert, in einer »neuen Zeit« und einer von der Vergangenheit radikal unterschiedenen Gegenwart zu leben beziehungsweise eine solche herbeiführen zu müssen. Das Konzept dessen, was Reinhart Koselleck später »Sattelzeit« nennen sollte, war hier bereits im Ansatz vorhanden.113 Mit dem Unterschied, dass Koebner das »Auseinander­ treten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont« nicht in dem Maße wie Koselleck als fundamentalen epistemischen Bruch mit der Vergangenheit deutete,114 sondern gerade in seinen späteren Forschungen zur Geschichte 111 Richard Koebner, Die Idee der Zeitwende (1941–1943), in: ders., Geschichte, Geschichts­ bewußtsein und Zeitwende, 147–193, hier 148. 112 Ders., Über den Sinn der Geschichtswissenschaft, 142. 113 Siehe Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe, 8 Bde., Stuttgart 1972–1997, hier Bd. 1, Stuttgart 1972, XIII–XXVII. Siehe auch Langewiesche, »Zeit­ wende« – eine Grundfigur neuzeitlichen Denkens, 43. 114 Die Inflexibilität des »Sattelzeit«-Konzepts ist vielfach kritisiert worden, siehe z. B. Aleida Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne, München 2013, 243. Gegen diesen Vorwurf wendet sich Helge Jordheim, Against Periodization. Koselleck’s Theory of Multiple Times, in: History and Theory 51 (2012), H. 2, 151–171.

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des (Britischen) »Empire« auch ein Geschichtsbewusstsein zu entdecken glaubte, das von der modernen »Ideologie der Zeitwende« nicht so stark geprägt worden sei. Eine solche Ideologisierung hatte nämlich zugleich die kulturgeschichtli­ che Voraussetzung, dass »von Generation zu Generation größere Mengen von Menschen nur noch gelockerte Beziehungen zu den bestehenden Kul­ turwerten und politischen Bindungen unterhalten sind«.115 Mit anderen Wor­ ten sind, politisierbare »Massen«, aber auch neue Verfassungsstrukturen wei­ tere Vorbedingungen, die zu unterschiedlichen Ausformungen des modernen Geschichtsbewusstseins führen. Zwei voneinander unabhängige Motivkomplexe können in dieser »sozial und kulturell wirksame[n] Geisteshaltung« der »Zeitwende« verhandelt wer­ den: Das ist zum einen ein historisches Selbstbewusstsein, das seine Gegen­ wart in Kontrast zu anderen Zeiten setzt, und zwar in einem revolutionären oder reaktionären Sinn. Zum anderen kann mit der »Zeitwende« auch ein »endzeitliches Bewusstsein« verbunden sein, das in der Gegenwart auf Lö­ sungen hofft, »die den Charakter der Endgültigkeit in sich tragen«.116 Beide Motivstränge lassen sich Koebner zufolge bis auf Francis Bacon zurückver­ folgen und stellen eine Säkularisierung religiöser Eschatologien dar, inso­ fern die Vorstellung vorherrscht, dass die »Zeitwende« im Diesseits von Menschen selbst herbeigeführt werden könne.117 Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts stand demnach für den ständigen Wandel und die Verbindung von wissenschaftlich-technischem und sozialem Fortschritt, während die tatsächlich radikale Gewalt durch das eschatologi­ sche Bewusstsein des Sozialismus und des Nationalismus ausgelöst wurde. Gerade im nationalsozialistischen Deutschland, im faschistischen Italien und in der Sowjetunion sei nach der »Krisis des Fortschritts« zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine »Ideologie des totalitären Zwangsstaates«118 entstan­ den, die »alles Privatleben in den Dienst der Vollstreckung der Zeitwende treten ließ« und damit »die höchst potenzierte Macht entweder als Mittel und Durchgangsstadium oder als einen der Sinngehalte des vollendeten Menschseins« proklamierte.119 Ihr Ziel war es, eine »Entscheidung« herbei­ zuführen, um mit der Vergangenheit zu brechen und eine »endgültige Erneuerung«120 oder – wie Benedetto Croce sagte – eine »anti-historisti­ sche« Ordnung zu schaffen. Hier setzt auch Koebners Kritik an, die er als

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Koebner, Über den Sinn der Geschichtswissenschaft, 142. Ders., Die Idee der Zeitwende, 150. Ebd., 153. Ebd., 170. Ders., Über den Sinn der Geschichtswissenschaft, 143 f. Ders., Die Idee der Zeitwende, 147.

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»Dämonologie« gegen die »Geisterschlacht der Zeiten« verstand, welche in der Neuzeit losgetreten wurde.121 Die Geschichtswissenschaft müsse sich gegen die Mythologisierungen einer neuen Zeit und die Verheißungen ewi­ ger Lösungen stellen, wozu nicht zuletzt auch das Konzept der »Nation« gehöre: »Wo heute Menschen und Seelen im nationalen Bürgerkrieg ge­ opfert werden […], da ist immer einem Dämon aus der Klasse der Zeitgeister geopfert worden.«122 Mit der »Ideologie der Zeitwende« entstanden zudem solche »Grundbe­ griffe« wie etwa »volonté générale«, »Fortschritt«, »Geschichte«, »Kultur«, »Bildung«, »Humanität« und diverse »Ismen«, die allesamt von zwei Moti­ ven beherrscht sind: zum einen von der Vorstellung eines einheitlichen Gan­ zen, das die Vielfalt menschlicher Lebensäußerungen in einen größeren Zusammenhang stellt und zugleich den Ausdehnungsraum der eigenen Gegenwart bestimmt, und zum anderen von der Vorstellung einer »Einord­ nung des Einzelnen in die Aufgaben, welche die so verstandene Gegenwart stellt«.123 Aufgabe des Historikers ist es also, die temporale Logik hinter den modernen Begriffen zu erkennen, die im Dienst des »Symbols der Zeit­ wende« stehen, dem selbst wiederum aber kein einziger dieser Begriffe voll­ kommen entspricht.124 Die Geschichtswissenschaft selbst hingegen sollte die »Geschichte« nur als eine »kontinuierliche Zeitwende« betrachten und es gelte, die Kontingenz, Wandelbarkeit und gesellschaftliche Konstruiertheit ihrer Periodisierungen zu verstehen, sie gegebenenfalls zu kritisieren und zu verändern.125 In der Beschreibung der »Ideologie der Zeitwende« versuchte Koebner demnach nicht weniger als die diskursive Macht der Debatte über die »Krise des Historismus« darzustellen, an der er zwanzig Jahre zuvor selbst beteiligt gewesen war. Die »Idee der Zeitwende« ist Koebners Inter­ pretation der damals viel beklagten »Historisierung« im Sinne einer funktio­ nalen temporalen Differenzierung. Es ist die Vorstellung, dass in einem Akt der »Entscheidung« mit der Vergangenheit gebrochen werden könne, die dann auf die nunmehr beginnende Gegenwart keinen Einfluss mehr habe und damit von ihr funktional getrennt sei: »Die Welt hat sich gewandelt; eine Gegenwart ist angebrochen, die das Überlieferte teils entwertet und ihm teils einen neuen Sinn gibt.«126 121 Ders., Thomas Sprat. Historiker der Royal Society for the Improvement of Natural Know­ ledge, in: ders., Geschichte, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende, 217–240, hier 217. Siehe auch Langewiesche, »Zeitwende« – eine Grundfigur neuzeitlichen Geschichtsden­ kens, 52 f. 122 Koebner, Thomas Sprat, 217. 123 Ders., Die Idee der Zeitwende, 184. 124 Ebd., 150. 125 Ders., Über den Sinn der Geschichtswissenschaft, 141. 126 Ders., Die Idee der Zeitwende, 151.

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Ähnlich wie später der Soziologe Zygmunt Bauman postulierte Koebner, dass die Moderne von einem Bewusstsein von »Ordnung als Aufgabe« beherrscht sei,127 dass also die »politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Zukunftskonstruktionen, die dem Begriff der Zeitwende ihren Inhalt gaben, […] die Mannigfaltigkeit des sozialen Lebens als eine be­ herrschbare Ordnung«128 imaginierten, und schließlich, und dass gerade in dieser Vereinfachung eine gefährliche Radikalisierungsdynamik liege.

Eine Programmschrift zur Wortbedeutungsforschung In seiner Jerusalemer Abschiedsvorlesung im Jahr 1955 hat Koebner der Geschichtswissenschaft »eine lebenswichtige Aufgabe in der Bereinigung des historischen Bewußtseins«129 zuerkannt, zumal er glaubte, dass sie einen »Willen zur Selbstkritik«130 befördern könnte. Der Historiker selbst habe dabei jedoch auf jede Ideologie zu verzichten und auch »Produkte syntheti­ scher Geschichtsauffassungen als Mythologien« abzulehnen, selbst wenn das eine »innere Isolierung« für den Historiker mit sich bringe.131 Der einzig objektive Leitfaden sei allein die »Geschichte des historischen Bewußt­ seins« und damit – anders ausgedrückt – die Orientierung an der Entwicklung der jeweils in der breiten Öffentlichkeit kollektiv gepflegten Semantik, ins­ besondere an den in ihr verhandelten Diskursen über die Vergangenheit.132 Um jedoch eine solche Orientierung an vergangenen Geschichts- und Gemeinschaftskonstruktionen methodisch zu realisieren, aber auch, um zuletzt etwa die Ausbildung wissenschaftlichen Nachwuchses zu gewähr­ leisten, veröffentlichte Koebner im Jahr 1953 eine methodologisch-theoreti­ sche Programmschrift unter dem Titel Semantics and Historiography in einer von dem konservativen englischen Philosophen Michael Oakeshott herausgegebenen Zeitschrift. Koebner führte hierin seine Vorstellung davon aus, dass Worte »für ganz große Gesellschaftskreise zu Symbolen ihrer Auf­ fassung von Gegenwart und Geschichte« werden, die wiederum dem Histo­ 127 Siehe Zygmunt Bauman, Moderne und Ambivalenz. Das Ende der Eindeutigkeit, Ham­ burg 2005. 128 Koebner, Die Idee der Zeitwende, 171. 129 Ders., Das historische Bewußtsein als Gegenstand der Geschichtswissenschaft (»Gewis­ sensprüfung«). Abschiedsvorlesung in Jerusalem (1955), in: ders., Geschichte, Geschichtsbewußtsein und Zeitwende, 275–285, hier 276. 130 Ders., Was sind die Lehren der Geschichte? (Juli 1946), in: ders., Geschichte, Geschichts­ bewußtsein und Zeitwende, 248–259, hier 258. 131 Ders., Das historische Bewußtsein als Gegenstand der Geschichtswissenschaft (»Gewis­ sensprüfung«), 280 f. 132 Ebd., 281.

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riker als Orientierungspunkte für die Wandlungen auf der »historischen Landkarte des historischen Bewußtseins« dienen können.133 In diesem programmatischen Text benutzte Koebner zum ersten Mal die Bezeichnung »Semantik«, wofür er bislang »Kulturgeschichte« oder, wie in der deutschen Originalfassung, »Wortbedeutungsforschung« gesetzt hatte.134 Der seinerzeit vor allem in der englischsprachigen Linguistik verwendete Fachterminus »semantics« besaß zwei Bedeutungsebenen, die für Koebner aus historiografischer Sicht besonders attraktiv waren – er vermittelte näm­ lich einerseits die Vorstellung, dass Worte Einfluss auf menschliche Hand­ lungen ausüben können, und andererseits, dass die Semantik den Bedeu­ tungswandel von Worten zum Gegenstand habe.135 Koebners semantischer Ansatz war jedoch nicht nur durch die englisch­ sprachige Tradition geprägt, sondern wies zugleich große Ähnlichkeiten mit der bereits 1920 von dem Wiener Historiker Wilhelm Bauer (1877–1953) entworfenen »Schlagwortforschung« auf.136 Koebners »semantische Ge­ schichtsforschung« war allerdings umfassender angelegt als Bauers metho­ dische Überlegungen zum Einfluss von Schlagworten auf die »öffentliche Meinung«, mit denen Koebner sich während seiner Mitarbeit an den Jahres­ berichten der deutschen Geschichte befasst hatte.137 Denn Koebners Inte­ resse richtete sich, zumindest dem Anspruch nach, nicht nur auf einzelne politische Schlagwörter, sondern auf alle Worte oder Ausdrücke, die entwe­ der ein Gemeinschafts- oder ein noch grundlegenderes Geschichtsbewusst­ sein bilden können und somit Einfluss auf menschliche Handlungen haben.138 »Politische Worte«, häufig erkennbar als Schlagwörter oder »Ismen«, die Handlungsprinzipien und -absichten bezeichnen, waren für Koebner »Sym­ bole der Solidarität«, denen die Eigenschaft zukommt, »als ein Instrument in der Formung gesellschaftlicher Bande und Gegensätze, Loyalitätsgefühle und Konflikte zu wirken«. »Historische Worte« bildeten hingegen den »Wortschatz des historischen Bewusstseins«. Sie seien »Bekenntnisse des

133 Ebd., 284. 134 Siehe ders., Semantics and Historiography, in: The Cambridge Journal 7 (1953), H. 3, 131–144; ders., Wortbedeutungsforschung und Geschichtsschreibung, 260–274. 135 Ders., Semantics and Historiography, 131. Siehe auch ders., Wortbedeutungsforschung und Geschichtsschreibung, 260. 136 Siehe Wilhelm Bauer, Das Schlagwort als sozialpsychologische und geistesgeschichtliche Erscheinung, in: Historische Zeitschrift 122 (1920), 189–240. 137 Siehe Koebner, Geschichtsphilosophie (1921), 12. 138 So bezeichnete Koebner das Wort »wir« als »nachdrücklichste[n] Ausdruck sowohl des politischen als auch des historischen Bewußtseins«. Ders., Wortbedeutungsforschung und Geschichtsschreibung, 265.

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gesellschaftlichen Glaubens«, indem sie den »Platz des Menschen im Fort­ schritt der Zeiten und in den Wechselfällen der Geschichte betreffen.«139 Mit Bauer gemein war erstens die Vorstellung, dass politische und histori­ sche Worte eine massenhafte Verbreitung und Resonanz haben müssen, damit eine »gegenseitige Einwirkung von sozialen Situationen und Ereignis­ sen auf Worte und umgekehrt«140 zustande kommen könne. Zweitens waren Koebner und Bauer sich einig darin, dass es »zum Wesen dieser Ausdrücke [gehöre], daß sie mit leidenschaftlichen Gefühlen und gegensätzlicher Auf­ fassung ausgelegt werden können«.141 Und drittens sahen beide aufgrund dieser emotionalen Färbung und Umstrittenheit politische und historische Worte als grundsätzlich mehrdeutig an. Koebner leitete daraus die »Dienst­ pflicht des wissenschaftlichen Historikers« ab, darauf zu achten, »die Unklarheiten und Zweideutigkeiten in ihren Grenzen zu halten und zu ver­ hindern, daß unnütze und gefährliche Illusionen in Umlauf kommen.«142 Was Koebner neu in die Diskussion hineinbrachte, war die Beschäftigung mit der Struktur des Geschichtsbewusstseins und seiner tief greifenden Ver­ änderung in der Neuzeit, wie sie in der »Ideologie der Zeitwende« zum Aus­ druck kam. Koebner beschrieb das historische Bewusstsein als »ein[en] bestimmende[n] Faktor in der Gestaltung der individuellen und kollektiven Persönlichkeiten und ein[en] bewegende[n] Faktor für die Richtung ihres Willens«.143 Das Geschichtsbewusstsein habe deshalb eine »empirische Seite«, in der die »Erfahrungen«, »Erlebnisse« und »Bilder« der »Um­ schwünge und Kämpfe« im »Gedächtnis der Allgemeinheit« an die komm­ enden Generationen vererbt würden. Es habe aber zudem eine »spekulative Seite«, in der stets aufs Neue eine simplifizierende »spekulative Synthese des historischen Verlaufs« unternommen werde, da jeder Einzelne seinen Platz im Gang der Geschichte bestimmen müsse.144 Mit anderen Worten wurde hier bereits die in heutigen Theorien des »kollektiven Gedächtnisses« vorgenommene Unterscheidung thematisiert zwischen einerseits einem »Speichergedächtnis«, in dem Quellen, Objekte und Daten unabhängig von ihrer je aktuellen Bedeutung bewahrt werden, und andererseits einem

139 Ebd., 261. Der Unterschied zwischen »Worten«, »Ausdrücken«, »Begriffen« und »Sym­ bolen« wurde von Koebner nicht thematisiert, entscheidend war für ihn allein die Vorstel­ lung, durch die Analyse der Sprache auf die zugrunde liegenden Bewusstseinsebenen zugreifen zu können. 140 Ebd., 260. 141 Ebd., 261. 142 Ebd., 274. 143 Ders., Das historische Bewußtsein als Gegenstand der Geschichtswissenschaft (»Gewis­ sensprüfung«), 282. 144 Ebd., 279.

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»Funktionsgedächtnis«, das als aktives Gedächtnis die Identität eines Kol­ lektivs stützt.145 Anders als Bauer, der aus einer deutschnationalen Position heraus auf eine Rückkehr zur sprachlichen Eindeutigkeit unter einer starken politischen Führung hoffte,146 kam Koebner zu der Überzeugung, dass seit der Neuzeit eine erhebliche Intensivierung der Wechselwirkung zwischen Worten und soziopolitischen Ereignissen oder Situationen beobachtet werden könne, und dass damit die Worte des politischen und historischen Bewusstseins immer unentbehrlicher und unumgänglicher für den modernen Menschen werden.147 Entsprechend sei mit der Neuzeit eine neue Art des historischen und soziopolitischen Bewusstseins entstanden, das auf sprachlicher Umstrit­ tenheit und emotionaler Beeinflussung basiere und so eine »Politik als Kampf zwischen Unklarheiten«148 fördere. Dies bedeute zwar keine voll­ kommene Loslösung von anderen »sozialen Mächten« etwa »de[m] Recht, der nationalen Solidarität, de[m] Klassenbewußtseins [und] de[m] politi­ schen Machtwillen«,149 führe aber doch zu einer Zunahme des spekulativen Elements des Geschichtsbewusstseins, »die Gegenwart im Lichte histori­ scher Synthesen« zu verstehen. Am Überhandnehmen in die Zukunft projek­ tierter historischer Synthesen kritisierte Koebner implizit deren Diskrepanz zum erfahrbaren und empirisch belegbaren historischen Geschehen, obgleich Koebner nie, wie später Koselleck, die anthropologischen Katego­ rien von »Erfahrung« und »Erwartung« systematisch in sein Werk ein­ führte.150 Koebner wollte vielmehr darauf aufmerksam machen, dass das »historisch-ideologische Denken« im Sinne der »Zeitwende« eine politische Macht darstellt, »deren volle belebende und tötende Bedeutung erst unsere eigene Zeit kennengelernt hat«.151 145 Siehe etwa Aleida Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, The­ men, Fragestellungen, 3., neu bearb. Aufl. Berlin 2011, bes. 188. Für Anregungen hierzu danke ich Nicolas Berg. 146 Siehe zur Person Martin Scheutz, »Deutschland ist kein ganzes Deutschland, wenn es nicht die Donau, wenn es Wien nicht besitzt«. Der Wiener Neuzeithistoriker Wilhelm Bauer (1877–1953), ein Mann mit vielen Gesichtern, in: Karel Hruza (Hg.), Österreichi­ sche Historiker 1900–1945. Lebensläufe und Karrieren in Österreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftsgeschichtlichen Porträts, Wien 2008, 247–281. 147 Koebner, Wortbedeutungsforschung und Geschichtsschreibung, 261: Insbesondere die historischen Worte sind »Ausdrücke gesellschaftlicher Einstellung, die deshalb unent­ behrlich wurden, weil es für einen Menschen wichtig ist, seinen Platz in der Geschichte zu bestimmen«. 148 Ebd., 274. 149 Ders., Das historische Bewußtsein als Gegenstand der Geschichtswissenschaft (»Gewis­ sensprüfung«), 281. 150 Siehe zu dem Kategorien »Erfahrung« und »Erwartung« Niklas Olsen, History in the Plu­ ral. An Introduction to the Work of Reinhart Koselleck, New York/Oxford 2012, bes. 220–226. 151 Ebd., 280 und 284.

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Der »Prediger in der Wüste« für das »Empire« und die britische Politik Doch welchen Ausweg sah Koebner? Paradoxerweise fand er eine Antwort auf dieses Problem in der englischen Kultur und britischen Politik, obgleich er bereits früh das Scheitern der britischen Appeasement-Politik vorausgese­ hen hatte. Koebner hatte sich schon 1936, wie er gegenüber dem Kaufmann und Ver­ leger Salman Schocken (1877–1959) freimütig bekannte, unter dem Einfluss britischer »Kulturpropaganda« mit deren »aufrichtige[m] Bestreben, […] durch Diskussion und Selbstkritik zu einheitlichen Grundsätzen zu kom­ men«,152 davon überzeugen lassen, dass die Hebräische Universität Jerusa­ lem sich der Association of the Bureau of the Universities of the British Empire anschließen153 und zugleich der »Notwendigkeit einer Ausbildung in englischer Sprache und Literatur« Genüge tun sollte, um den Kontakt zum westlichen Wissenschaftsbetrieb nicht zu verlieren.154 Seit Anfang 1940 vertrat Koebner in öffentlichen Vorträgen die Ansicht,155 dass das Britische Empire seine imperialistische Politik nach dem Buren­ krieg nicht länger verfolge und nach dem Ersten Weltkrieg zur Verfassungs­ form des Commonwealth of Nations als einem »instrument for lasting peace« übergangen sei. Durch den, wie er es umschrieb, »militant nationa­ lism in Central Europe« sei ihm jedoch erneut ein Krieg aufgezwungen wor­ den.156 Die von der Peel-Kommission 1937 vorgeschlagene Teilung Palästi­ nas unter britischer Kontrolle galt Koebner deshalb noch zehn Jahre später als die beste Lösung des jüdisch-arabischen Konflikts.157 Im Oktober 1944 bezeichnete er sich als einen »Prediger in der Wüste«,158 der den populären Mythos vom geplanten expansionistischen Machtstreben Großbritanniens

152 Schocken Archive, Jerusalem, 054/7-1: »Bericht Prof. Koebner über seine Tätigkeit in London. Teil III: Association of the Bureau of the Universities of the British Empire« (Anlage zu Koebner an Salman Schocken, 31. Juli 1936). 153 Ebd. 154 Ebd., 054/7-1: »Bericht Prof. Koebner über seine Tätigkeit in London, Teil I: Friends of the Hebrew University« (Anlage zu Koebner an Schocken, 31. Juli 1936). 155 Siehe The Palestine Post vom 28. Februar 1940, 6: Ankündigung eines Vortrags Koebners auf Hebräisch: »The British Empire and British Foreign Policy« im Universitätsclubhaus unter der Schirmherrschaft der Hebräischen Universität. 156 Lecture in Series »England and the English«, in: The Palestine Post, 4. März 1940, 2. 157 Siehe Richard Koebner, Ha-nacha Ha-muteit. Ha-interes shel Anglia be-Eretz Israel [Die falsche Hypothese. Englands Interesse an Eretz Israel], in: Haaretz, 4. April 1947, 3 und 6, hier 6. 158 Central Zionist Archives, Jerusalem, A530/39: Richard Koebner an Martin Plessner, 6. November 1944, 4 Seiten, hier 3.

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kritisierte und stattdessen für die Vielfalt und Kooperation gewährende briti­ sche Politik des Commonwealth warb. Koebner erkannte sowohl im Begriff selbst als auch in der Verfassungs­ tradition des britischen »Empire«, wie sie vor allem von dem konservativen Philosophen Edmund Burke geprägt worden war, eine politische Organisa­ tionsform, die eine Alternative zum modernen Geschichtsbewusstsein der »Zeitwende« biete: »Die Engländer zeigen sich in der neueren Geschichte immer wieder als das Volk, das von Haus aus das moderne historische Bewusstsein am wenigsten braucht. […] Dank der Continuität seiner constitutionellen [sic] Einrichtungen konzentriert sich das genuine historische Bewusstsein Englands immer wieder auf Re-Interpretation der nationalen Vergangenheit.«159

Aus dieser Position heraus stand Koebner auch dem zionistischen Projekt einer Nationalstaatsgründung und dem damit verbundenen Willen zur Schaf­ fung eines »Neuen Menschen« skeptisch gegenüber und kritisierte die »kol­ lektive Selbstgerechtigkeit«, die in der zionistischen Variante der »Idee der Zeitwende« zum Ausdruck komme. In einem nicht veröffentlichten Entwurf zu seiner Abschiedsvorlesung im Jahr 1955 monierte er am nationalstaats­ orientierten Zionismus pauschal die letztlich sterile Geisteshaltung, »dass der einzelne Jude und die Welt draußen nichts von ihnen [den Zionisten] zu fordern, sondern sie nur zu achten hat«.160 Was der Zionismus aus Koebners Sicht verkannte, waren die neuen globalen Lebenszusammenhänge und Interdependenzen, die aus dem radikalen Willen zur »Zeitwende« entstan­ den seien und die ein neues, globales Bewusstsein notwendig machten. Auch Koebners Jerusalemer Kollege Gershom Scholem (1897–1982) hatte 1946 den Versuch aus messianisch gesinnten Teilen des Zionismus, mit der Vergangenheit zu brechen, als »dead end« bezeichnet.161 Ebenso wie Koebner in seinen Ausführungen zur »Zeitwende« erkannten Scholem und später auch Jacob L. Talmon in der Frage nach Kontinuität oder Bruch das zentrale Problem des modernen Geschichtsbewusstseins.162 Scholem setzte sich dabei in Anlehnung an Walter Benjamin für einen Zionismus ein, des­ sen Geschichtsbewusstsein sich der Verantwortung stellen sollte, die »unpa­ 159 NLI, Jerusalem, ARC 4° 1809-56, o. T. [beginnt mit »Kollektive Selbstgerechtigkeit«], ms. 8 Seiten, hier 6 (erste Hälfte 1955). 160 Ebd., 1. 161 Siehe Gershom Scholem, Memory and Utopia in Jewish History (1946), in: ders., On the Possibility of Jewish Mysticism in Our Time & Other Essays, Philadelphia, Pa., 1997, 155–166, hier 159. Siehe auch etwa Moshe Idel, Messianic Scholars on Early Israeli Scholarship, Politics and Messianism, in: Modern Judaism 32 (2012), 22–53. 162 Siehe Jacob L. Talmon, Political Messianism. The Romantic Phase, London 1960. Tal­ mon bezeichnete den Zionismus zudem als »messianische Ideologie«. Siehe Idel, Messia­ nic Scholars on Early Israeli Scholarship, Politics and Messianism, 39.

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ralleled catastrophe« stets aufs Neue zu interpretieren, ohne zu endgültigen Antworten zu gelangen.163 Koebner hingegen stellte die Schoah nicht expli­ zit in das Zentrum seines Geschichtsbildes. Er beließ es bei Andeutungen über die radikale Gewalt, die vom modernen Willen zur »Zeitwende« aus­ gehe. Stattdessen glaubte er insbesondere während des Israelischen Unab­ hängigkeitskriegs, dass der Zionismus in eine »unreale Zukunft«164 führe und dass der Jischuw in Palästina nur in der Orientierung an den durch die beiden Weltkriege entstandenen übernationalen Zugehörigkeitskonstruktio­ nen wie der Verfassungsform des Commonwealth und dem Konzept der »Western Civilization« eine Möglichkeit zum Fortbestand habe. Denn gerade der Begriff »Westliche Zivilisation«, den Koebner zur Konkretisie­ rung der westlich-neuzeitlichen »Idee der Zeitwende« verwendete und in den er entsprechend auch die sozialistischen Staaten des Ostens mit ein­ schloss, sei als Resultat der Weltkriege zu einem unverzichtbaren »requisit of public life« geworden, da er den neuen, globalisierten Lebenszusammen­ hang zum Ausdruck brachte: »one public diversified in many countries.«165 Der Gedanke einer »nationalen Existenz als volle politische Autarkie der Nation« habe hingegen »keine Wirklichkeit mehr«, befand Koebner bereits im Juli 1946, denn die »Abhängigkeit kleiner und sogar mittelgroßer Völker von den wirklichen Großstaaten hat sich vermehrt«.166 Es handelte sich somit um die Annäherung an eine Position, die man heute als transkulturell beziehungsweise transnational bezeichnen könnte,167 insofern in Koebners Analysen immer stärker die tatsächlichen Beziehungsgeflechte in den Vor­ dergrund traten, um die festen Kategorien überkommener Geschichtsbilder zu hinterfragen. Entsprechend beschrieb er in seiner Studie über das Kon­ zept der »Western Civilization« das »complex fabric« des Geschichtsbe­ wusstseins als Produkt der »cross-currents of historical contingency« und betonte, dass die »Western society and civilization« durch »multifarious interlacing with […] other communities and their vital interests« verbunden

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Scholem, Memory and Utopia in Jewish History, 157 und 162. NLI, ARC 4° 1751-2785: Koebner an Ernst Simon, 5./6. März 1948. Koebner, The Concept of Western Civilization, 219 und 214. Ders., Was sind die Lehren der Geschichte?, 259. Siehe etwa Wolfgang Welsch, Was ist eigentlich Transkulturalität?, in: Lucyna Darowska/ Claudia Machold (Hgg.), Hochschule als transkultureller Raum? Beiträge zu Kultur, Bil­ dung und Differenz, Bielefeld 2010, 39–66, der den Terminus wie folgt definiert: »›Trans­ kulturalität‹ will, dem Doppelsinn des lateinischen trans- entsprechend, darauf hinweisen, dass die heutige Verfassung der Kulturen jenseits der alten (der vermeintlich kugelhaften) Verfassung liegt und dass dies eben insofern der Fall ist, als die kulturellen Determinanten heute quer durch die Kulturen hindurchgehen, so dass diese nicht mehr durch klare Abgrenzung, sondern durch Verflechtungen und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet sind.« (41)

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sei. Und er fügte hinzu: »To unravel the strands of confluent influences will be […] the historian’s task.«168 Als nach 1945 die zionistischen Angriffe auf die britische Mandatsherr­ schaft in Palästina zunahmen, warnte Koebner, die Gewalt könne zwar am Ende den Abzug der Briten erreichen, aber dies wäre nur der Beginn weite­ rer Gewalt, nun zwischen Juden und Arabern.169 Koebner stand auch in Kon­ takt zu der von Judah Magnes, Martin Buber und Ernst Simon gegründeten politischen Vereinigung Ihud (Union), deren Engagement für eine jüdischarabische Kooperation allerdings politisch wenig einflussreich war.170 Obwohl Koebner auch in offiziellen Organen der Ihud publizierte, wurden seine Verteidigungen des britischen »Empire« zwar nicht von allen aus die­ sem Kreis als »unimpeachable doctrine« wahrgenommen, letztlich aber doch wegen seines »serious tone« als Versachlichung der Debatte akzep­ tiert.171 Spätestens im Frühjahr 1947 musste Koebner jedoch erkennen, dass die britische Mandatsregierung jegliches Interesse daran verloren hatte, weiter­ hin ihre Funktion als Schutzmacht und »Wächter« über beide Konfliktpar­ teien auszuüben, und dass man nur noch auf eine Verständigung der beiden Konfliktparteien hoffen könne.172 Trotzdem hielt er an der Vorstellung des »Empire« als Union heterogener, aus verschiedenen historischen Traditio­ nen erwachsener Gemeinschaften fest – und damit gleichsam an einer politi­ schen Umsetzung der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.173 Er erkannte darin das beste Vorbild für eine von ihm nunmehr angestrebte globale Kooperations- und Organisationsform. So entwarf zumindest Koebners Schüler Helmut Dan Schmidt in der auf der Grundlage von Koebners Noti­ zen erstellten Studie zur Geschichte des Begriffs »Imperialismus« das Fern­ 168 Koebner, The Concept of Western Civilization, 211 und 217. 169 Ders., Ireland. The False Analogy, in: Martin Buber/Judah L. Magnes/Ernst Simon (Hgg.), Towards a Union in Palestine. Essays on Zionism and Jewish-Arab Cooperation, Jerusalem 1947, 41–50. 170 Siehe etwa Sasson Sofer, Zionism and the Foundations of Israeli Diplomacy, Cambridge 1998, 337–356. Koebner trat nach anfänglichem Zögern im September 1942 dem Ihud bei (Schmuel Hugo Bergmann, Tagebücher und Briefe, 2 Bde., hier Bd. 1: 1901–1948, hg. von Miriam Sambursky. Mit einer Einleitung von Nathan Rotenstreich, Königstein/ Ts. 1985, 591). Siehe auch Rory Miller, “An Oriental Ireland.” Thinking about Palestine in Terms of the Irish Question, in: ders. (Hg.), Britain, Palestine, and Empire. The Man­ date Years, Farnham, Surrey, 2010, 157–176, hier 173. 171 HUJ, Richard Koebner Vol. 1, 1933–1948: Ernst Simon, Instruction in Palestine in the History of the Gentile Nations. Written on the Occasion of Professor R. Koebner’s Six­ tieth Birthday, [August 1945], ms. 4 Seiten, hier 3. 172 Siehe Koebner, Ha-nacha Ha-muteit, 6. 173 Siehe Reinhart Koselleck, Geschichte, Geschichten und formale Zeitstrukturen, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1988, 130– 143.

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ziel einer dezentralen, föderalen, anonymen, aber ubiquitären »globalen Sicherheitsbehörde« (global security authority),174 die Sicherheit durch Rou­ tine und nicht durch emotional aufgeladene Politik aufrechterhalten solle.175 Bis zur Erreichung dieses Ziels müsse man jedoch auf die Kooperation der noch verbliebenen »Empires« vertrauen, dass sie die Weltordnung bewahren und Formen regionaler Zusammenarbeit fördern werden, indem sie auf die ständige »Re-Interpretation« der gegebenen demokratischen Strukturen ent­ sprechend den globalen Herausforderungen setzen und nicht auf eine Aus­ blendung der Lebenszusammenhänge und die Begründung einer vermeint­ lich »endgültigen Erneuerung«.

Schlussbemerkungen Koebners Historische Semantik war zugleich eine Historische Pragmatik, was sich in der Vorstellung von einer Indikator- und Faktorfunktion von Begriffen äußerte, die im Kontext einer spezifischen Problemwahrnehmung entstand. Das zugrunde liegende Problem war der »Historismus«, und zwar in zweifacher Hinsicht: einerseits als dominierende geschichtswissenschaft­ liche Matrix, die auf einer am Deutschen Idealismus geschulten und an Indi­ vidualität und Wirkkraft überzeitlicher Ideen orientierten Hermeneutik basierte. Nur vor dem Hintergrund dieser Ideenlehre erschien die Konzentra­ tion auf einzelne, sich wandelnde Begriffe und Schlagwörter und nicht etwa auf ganze Texte und Diskussionen attraktiv. Andererseits war der Historis­ mus lange vor seiner Verwendung als Epochenbezeichnung ein Schlagwort für eine in den Geisteswissenschaften Zentraleuropas intensiv geführte Debatte über die Geschichtlichkeit, Zeitgebundenheit und Relativität jegli­ chen Wissens. Koebner warnte in diesem Zusammenhang vor den Gefahren jener in der Nachfolge Nietzsches unternommenen Versuche, sich dieses »Historismus-Problems« mit der Beschwörung des »Dämons« einer »Zeit­ wende« zu entledigen. Bei Koebner hingegen lässt sich eine »reproblematisierende« Haltung zum Historismus als Kulturmuster ständiger Historisierung feststellen.176 Koebners »reproblematisierende« Einstellung entwickelte sich auf drei Ebe­ 174 Richard Koebner/Helmut Dan Schmidt, Imperialism. The Story and Significance of a Political Word, 1840–1960, Cambridge 1964, 340. 175 Ebd., 341. 176 Siehe Reinhard Laube, »Perspektivität«. Ein wissenschaftssoziologisches Problem zwi­ schen kulturbedingter Entproblematisierung und kulturwissenschaftlicher Reproblemati­ sierung, in: Otto Gerhard Oexle (Hg.), Das Problem der Problemgeschichte 1880–1932, Göttingen 2001, 129–179.

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nen: Erstens unterwarf er in Jerusalem sein früheres nationalliberal motivier­ tes Interesse an der Entstehung des modernen »bürgerlichen Selbstbewussts­ eins« einer kritischen Prüfung und erkannte in ihr eine Variante der moder­ nen »Ideologie der Zeitwende«, die seine Interpretation des »HistorismusProblems« darstellte. Indem er nach den gesellschaftlichen und politischen Funktionen dieses zentralen temporalen Diskurses der Moderne fragte, des­ sen radikale Wirkmächtigkeit sich gerade im 20. Jahrhundert manifestierte, historisierte und kontextualisierte er gleichsam den »Historismus«-Diskurs, an dem er in den 1920er Jahren selbst teilgenommen hatte, und legte seine gesellschaftliche Konstruiertheit und Kontingenz offen. Mit dem Begriff des pluralistischen »Empire«, den er als Gegenstück zum Begriff der homogeni­ sierenden »Nation« in Stellung brachte, zeigte er zudem die parallele Exis­ tenz anderer, historisch weiter zurückreichender temporaler Muster und damit die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in der Moderne auf. Mit die­ ser Vorstellung von einer stets aufs Neue zu unternehmenden Problematisie­ rung der Dominanz eines einzigen temporalen Ordnungsmodells und mit der Sichtbarmachung der »multiple modernities«177 entwarf er eine pragma­ tische Mittelposition, die weder dem Extrem eines enthistorisierenden mythisch-synthetischen Ordnungsdenkens noch dem Extrem eines aus­ schließlich historisierenden und individualisierend-fragmentarisierenden Geschichtsbildes folgte. Zweitens versuchte Koebner, diese zwischen individualistischer und kol­ lektivistischer Geschichtsbetrachtung vermittelnde und sich gegen Verabso­ lutierungen richtende reproblematisierende Position auch in einer semanti­ schen Methode umzusetzen, die aus dem kulturgeschichtlichen Diskurs der Jahrhundertwende erwuchs und in Richard Hönigswalds »halbem linguistic turn« eine entscheidende Inspirationsquelle fand. Politische (Freund und Feind unterscheidende) und historische (traditionsstiftende) Wörter178 sind demnach für einen gewissen Zeitraum unverzichtbar für ein bestimmtes kol­ lektives Geschichts- und Gemeinschaftsbewusstsein, gerade weil sie als »Symbole« keine feste Bedeutung haben und unablässig individuell ange­ eignet, verteidigt oder abgelehnt werden. Mittels der Analyse dieser sprach­ lichen Mittel sozialer, sachlicher und temporaler Differenzierung wollte Koebner das Wechselverhältnis von sozialgeschichtlichen Entwicklungen und kollektiven Sinngebungen sichtbar machen, das durch die konstante Problematisierung von Wörtern und den emotional aufgeladenen »Kampf zwischen Unklarheiten«179 vorangetrieben wird. Die ständige Reproblemati­ sierung und nicht die starre Festschreibung von kollektiven Sinngebungen 177 Shmuel N. Eisenstadt, Die Vielfalt der Moderne, Weilerswist 2000. 178 Siehe Koebner, Wortbedeutungsforschung und Geschichtsschreibung, 264 und 269. 179 Ebd., 274.

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ist mithin ein entscheidender Motor gesellschaftlicher Entwicklungen. Das historische Bewusstsein, welches auf diese Weise in jedem vergesellschafte­ ten Individuum vorhanden ist, macht laut Koebner also »keine intellektuelle Orientierung« aus, »sondern ein[en] Gefühlstrieb, gewisse Ziele zu verwirk­ lichen und gewisse Gegenkräfte zu unterdrücken«.180 Drittens vertrat Koebner bereits in den 1920er Jahren auch ein reproble­ matisierendes Verständnis der Geschichtswissenschaft, insofern er sich der Verpflichtung der Historiografie gegenüber den aktuellen Geschichtsdiskur­ sen der breiten Öffentlichkeit bewusst war und aus dieser Zeitgebundenheit die Notwendigkeit ständigen Umschreibens und »Reinterpretierens« histori­ scher Narrative ableitete. Seit den späten 1930er Jahren entwickelte Koebner diese Skepsis gegenüber absoluten geschichtswissenschaftlichen Erkennt­ nisansprüchen weiter zu einer gesellschaftskritischen Position und ver­ suchte, sich sowohl in der historischen Zunft als auch im öffentlichen Leben allen aus der Geschichte abgeleiteten Mythisierungen kritisch entgegenzu­ stellen. Koebner war überzeugt, dass wir »uns selbst nicht durch historische Erkenntnis ein Selbstbewußtsein diktieren«181 können, wie es etwa Ernst Troeltsch unter dem Slogan »Geschichte durch Geschichte überwinden« als Lösung des »Historismus-Problems« vorgeschlagen hatte. Vielmehr sollte nach Koebner das Erkenntnisinteresse der Geschichtswissenschaft darin bestehen, als »kritischer Kommentar zum populären Geschichtsbewußt­ sein«182 zu fungieren. Es war dies gleichsam der Versuch, »Historisierung durch Historisierung zu überwinden« und damit den vermeintlichen neuzeit­ lichen Bruch mit der Vergangenheit und die daraus entstandene starre Dichotomie von objektiver Geschichte und subjektivem Gedächtnis in ein dynamisches Wechselverhältnis zu überführen.183 Gerade der Historischen Semantik kam deshalb aus Koebners Sicht eine entmythologisierende Aufgabe zu: die öffentliche Meinung »weniger anfäl­ lig für destruktive und verschwommene Schlagworte und Phrasen« zu machen und sie davor zu bewahren, »Ausdrücke eines populären Ge­ schichtsbewusstseins mit historischen Tatsachen zu verwechseln«.184 Wäh­ rend Koebner in den frühen 1920er Jahren glaubte, dass »die Sinndeutung der Geschichte […] immer in einer Sinndeutung der Gegenwart« gipfele 180 Ebd., 264. 181 Ders., Vom Begriff des historischen Ganzen, 103. 182 Ders., Wortbedeutungsforschung und Geschichtsschreibung, 274. Siehe auch ders., Vom Begriff des historischen Ganzen, 91. 183 Darin nahm Koebner u. a. auch eine Entwicklung vorweg, die in der Historiografie des Judentums erst wieder mit Yosef Yerushalmis Zachor: Erinnere Dich! (1982) größeren Anklang gefunden hat. Siehe David N. Myers, Selbstreflexion im modernen Erinnerungs­ diskurs, in: Brenner/ders. (Hgg.), Jüdische Geschichtsschreibung heute, 55–74, bes. 68 f. 184 Koebner, Wortbedeutungsforschung und Geschichtsschreibung, 274.

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Peter Tietze

und damit »in eine Anweisung an die Mitlebenden über[gehe], sich in die Bewegung des Weltgeschehens mit ihren Gesinnungen einzuordnen«,185 so erwuchsen zwei Jahrzehnte später gerade aus der Enttäuschung über die nunmehr globalisierten Strukturmerkmale des modernen Geschichtsbe­ wusstseins seine kulturkritischen Überlegungen, die im Kern auf die tempo­ ralen Ordnungsmuster abzielten und damit eine Art »Chronopolitik« dar­ stellten.186 Dem modernen temporalen Paradigma der »Zeitwende«, auf dem auch der moderne Nationalismus mit seinem Erneuerungsanspruch auf­ baute, stellte Koebner das Paradigma der »Reinterpretation« entgegen, das durch die unüberschaubare Vielzahl der synchronen und der diachronen Ver­ flechtungen ermöglicht wird. Wie er zum Begriff »Empire« beispielhaft dar­ gelegt hatte, glaubte Koebner, dass das letztlich nie vollständig darstellbare »multifarious interlacing« immer wieder aufs Neue durch das je aktuelle Geschichtsbewusstsein einer Gesellschaft ohne totalisierende Homogenisie­ rungen und radikale Negationen angeeignet werden soll. Gertrud Koebner wird einige Jahre nach dem Tod ihres Gatten für diese auf Verflechtungen und Kontinuität beruhende Geschichtsvorstellung das Bild eines Ozeans wählen, dessen Wellen die nur scheinbar irreversiblen Ereignisse darstellen, da sie rückgebunden bleiben an das »Ganze« des stets sich in Bewegung befindenden Meeres.187 Seinem Schüler Shmuel N. Eisenstadt zufolge hatte Koebner in seiner Jerusalemer Zeit die Rolle eines unfreiwilligen pädagogisch-kulturellen Pio­ niers inne.188 Koebner war nie ein glühender Verfechter des Zionismus und auch ging es ihm nicht darum, zu einer verklärten (vormodernen) Vergan­ genheit zurückzukehren oder sich der Tragik des Unvermeidlichen hinzuge­ ben, sondern zu einer neuen globalen Organisationsform jenseits national­ staatlicher Autarkiebestrebungen zu gelangen. Koebner wurde sich immer mehr der Tatsache bewusst, dass dafür eine »deskriptive Kritik der Kul­ tur«189 vonnöten ist, die sich »gegen das Vergessen und gegen das Verfäl­ schen«190 stellt und die Notwendigkeit eines steten selbstkritischen »Um­ schreibens« der Geschichte anerkennt. Erinnerung und Wiederaneignung der Vergangenheit können demnach aber auch die »Ideologie der Zeit­

185 Koebner, Geschichtsphilosophie (1922), 3. 186 Siehe hierzu Peter Osborne, The Politics of Time. Modernity and Avant-Garde, London/ New York 1995. 187 Siehe Richard und Gertrud Koebner, Wellen, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 17 (1972), H. 2, 262. 188 NLI, ARC 4° 1593 RS-39: Shmuel N. Eisenstadt, Leyovalo shel Professor Koebner [Zum Jubiläum Professor Koebners]. 189 Siehe Ralf Konersmann, Das kulturkritische Paradox, in: ders. (Hg.), Kulturkritik. Refle­ xionen in der veränderten Welt, Leipzig 2001, 9–37, hier 18. 190 Koebner, Vom Begriff des historischen Ganzen, 90.

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»Zeitwende«

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wende« in ihrer Wirkung beschränken und den im »Zeitwende«-Gedanken abgetrennten »Erfahrungsraum« mit dem »Erwartungshorizont«, um die Kategorien Kosellecks zu verwenden, wieder vereinen.191 In diesem Sinne vertrat Koebner, wie Jehoschua Arieli sagte, einen »realistische[n] und kriti­ sche[n] Idealismus, der das Geschichtliche als geistige Wirklichkeit auffasst, als Wandel der Sinngebung des menschlichen Daseins«.192 Am Beispiel Richard Koebners wird deutlich, welches Innovationspotenzial die kritische Auseinandersetzung mit dem »Historismus-Problem« bot, das seinerseits zugleich auch wichtige Zugänge für die aktuelle Historiografiegeschichte bereithält. Seine reproblematisierende Haltung zum »Historismus« und die damit verbundene Historisierung sprachlicher Sinngebungen kann als Aus­ druck der Erkenntnis aufgefasst werden, dass sich kein Halt und kein Heil in den ganzheitlich-überzeitlichen Geschichtsmythen und den teleologischen Metanarrationen der Moderne finden lässt. Gerade in dem hieraus gewonne­ nen Kontingenzbewusstsein liegt vielleicht Koebners geschichtstheoretische Aktualität für einen selbstreflexiven Erinnerungsdiskurs.

191 Siehe Assmann, Ist die Zeit aus den Fugen?, 243. 192 Arieli, In memoriam Richard Koebner.

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Schwerpunkt Der Erste Weltkrieg

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Natasha Gordinsky und Carolin Kosuch

Einführung Im August 2014 jährte sich der Ausbruch des Ersten Weltkriegs zum 100. Mal. Die fortbestehende Aktualität dieses Krieges ist nicht zuletzt über seine Funktion als markanter Scheidepunkt jener beiden Jahrhunderte gege­ ben, die mit ihren Entwicklungslinien, Konstellationen und Konflikten wesentlichen Einfluss auf die Gegenwart genommen haben. Die in zahlrei­ chen Publikationen, Veranstaltungen und Webprojekten zum Ausdruck kommende Auseinandersetzung mit der Zeit zwischen 1914 und 1918 scheint so im Gedenkjahr 2014 endgültig aus dem bis zur Jahrtausendwende vorherrschenden Interpretationsraum des Zweiten Weltkriegs hervorgetreten zu sein und fragt nach einer Neugewichtung. Am Simon-Dubnow-Institut haben zwei aufeinanderfolgende Kolloquien daran erinnert, dass der Erste Weltkrieg auch als Ereignis der jüdischen Geschichte zu betrachten ist.1 Der Krieg, so konnte das Forschungskollo­ quium Reiterarmeen. Jüdische Kriegsliteraturen, 1914–1918 zeigen, schrieb sich, häufig bedingt durch die Fronterfahrung jüdischer Soldaten oder die Kriegsgräuel, die unzählige Zivilisten unmittelbar erlebten, in die jüdischen Literaturen ein. Er wurde, unter anderem, in jiddischer, hebräischer, polni­ scher, russischer und deutscher Sprache verhandelt und in Dramen, Roma­ nen und Gedichten zum Gegenstand der Reflexion. Die Zeit zwischen 1914 und 1918 fand ferner, so stellte das zweite dem Krieg gewidmete Kollo­ quium »Die letzten Tage der Menschheit«. Schriften aus dem Großen Krieg heraus, Eingang in das Werk von Wissenschaftlern, Satirikern, Journalisten und Philosophen jüdischer Herkunft. Die Wucht, mit der der Erste Weltkrieg in den Wahrnehmungshorizont seiner Beobachter und Kommentatoren ein­ schlug, markierte nicht selten eine tiefe Zäsur in ihrem Denken und Schrei­ ben. Dieser Einschnitt blieb bestehen und beeinflusste Positionen und Texte auch nach Kriegsende weiter. Das Spektrum der neuesten Publikationen zum Thema Erster Weltkrieg ist weit gefasst: Neben großen Überblicksarbeiten wie jenen von Christopher Clark, Herfried Münkler, Manfried Rauchensteiner oder Jay Winter, die militär-, wirtschafts-, sozial-, kultur- und erinnerungsgeschichtliche Aspekte zu einer Gesamtschau auf die Jahre 1914–1918 vereinen,2 werden in Einzel­ 1 2

Der Erste Weltkrieg aus jüdischer Perspektive ist 2014 auch Thema der Vorlesungsreihe »The Jews and the Great War« des Londoner Leo Baeck Institute. Christopher Clark, Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013; Herfried Münkler, Der Große Krieg. Die Welt 1914–1918, Berlin 2013; Manfried JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 169–174.

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Natasha Gordinsky und Carolin Kosuch

studien sowohl regionale, nationale als auch transnationale Fragestellungen berücksichtigt.3 Ein Blick auf den Ersten Weltkrieg aus der Perspektive jüdi­ scher Geschichte und Literatur heraus erhellt demgegenüber die Erinnerun­ gen an eine jüdische Lebenswelt, deren Brüchigkeit im Laufe der Kriegs­ jahre zunehmend sichtbar wurde. Auch erweisen sich die Urteile der Schreibenden in literarischen Texten, Essays, Glossen, Zeitungsartikeln, wissenschaftlichen Studien, Dramen oder philosophischen Deutungen als Zeitdiagnosen, in die die jüdische Erfahrung als Erfahrung des Partikularen mit einfließt. Der anlässlich des Jahrestages des Kriegsbeginns neu über­ dachten Forschung zum Ersten Weltkrieg werden damit oft ungehörte, gleichwohl aus dem Zentrum des Zeiterlebens berichtende Stimmen hinzu­ gefügt. Der Krieg formte Sprache und Schreiben der Zeitzeugen, die ihm über die Abbildung und Reflexion seiner Wirklichkeit gewissermaßen Kon­ tur und erste Deutung gaben. In diesem Sinn fragt Maya Barzilai in ihrem Beitrag Witnessing Dying in the Tongue of Revival. Shaul Tchernikhovsky’s World War I Poetry nach der Möglichkeit, als Kriegsüberlebender Zeugnis abzulegen und in der Sprache darzustellen – eine der Hauptfragen in der Forschung über Literarisierung von Kriegserfahrungen. Diese Frage wird im Fall von Saul Tschernichowski, einem der bedeutendsten hebräischen Dichter der Moderne, besonders präg­ nant, weil sie auch auf kulturideologischer Ebene eine entscheidende Rolle spielt: das Hebräische wurde zu seiner Zeit in eine säkulare Sprache der Dichtung transformiert. Barzilai macht deutlich, dass in Tschernichowskis Lyrik die Darstellung eigener Kriegserfahrung – der Dichter diente als Arzt in der russischen Armee – sowohl zu einer ethischen als auch einer poetolo­ gischen Aufgabe wird. So wird die Spannung zwischen der Erneuerung der hebräischen Sprache und der Darstellung des Todes im Krieg in ein und der­ selben Sprache zum epistemischen Kern der Dichtung Tschernichowskis in der Zeit des Krieges. Der Beitrag von Eugenia Prokop-Janiec bietet ein Panorama polnischjüdischer Literatur und setzt sich mit der Darstellung des Ersten Weltkrieges in den verschiedenen Gattungen zwischen den Jahren 1918 und 1939 ausei­

3

Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914–1918, Wien 2013; Jay Winter (Hg.), The Cambridge History of the First World War, 3 Bde., New York 2014. Siehe dazu etwa Adrian Gregory, The Last Great War. British Society and the First World War, Cambridge 32011; Hermann J. W. Kuprian/Oswald Überegger (Hgg.) (mit einem Beitrag von Quinto Antonelli), Katastrophenjahre. Der Erste Weltkrieg und Tirol, Inns­ bruck 2014, oder die am Zentrum Moderner Orient (Berlin) seit Längerem betriebene For­ schung zur Wahrnehmung des Ersten Weltkriegs an den »Peripherien« – Asien, Afrika und dem Nahen Osten –, die zum Jubiläum verstärkt in Themenheften und Veranstaltun­ gen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde: (17. April 2014).

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Einführung

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nander. Prokop-Janiec zeigt, dass die meisten jüdischen Autoren das von polnischen Schriftstellern geschaffene Narrativ vom Krieg adaptiert haben. Die Kriegsereignisse wurden nicht isoliert wahrgenommen, sondern als Teil der polnischen Geschichte; nach der Russischen Revolution und dem Sowje­ tisch-Polnischen Krieg wurden sie retrospektiv neu gedeutet. Im Zentrum des ersten Teils des Beitrags steht die Lyrik von Karol Rosenfeld, dessen Gedichte aus der Perspektive eines Soldaten unbekannter Herkunft geschrie­ ben sind. Mittels traditioneller Formen der polnischen Literatur transformiert Rosenfeld seine Kriegserfahrung, die er in Tagebüchern dokumentiert hatte, in Lyrik. Im zweiten Teil werden polnisch-jüdische Romane der 1930er Jahre diskutiert, die die historischen Katastrophen vornehmlich aus der Perspektive der Zivilbevölkerung darstellen. Ilse Lazaroms’ Beitrag widmet sich den frühen Werken Joseph Roths und untersucht hier die nostalgische Darstellung einer nicht mehr existierenden Welt – ein poetologischer Aspekt, den die Forschung bislang kaum berück­ sichtigt hat und der mit Blick auf die Nachkriegsliteratur insgesamt betrach­ tet werden sollte. Roths Prosawerke speisen sich aus der Erkenntnis des Bruchs, den der Krieg zwischen Vergangenheit und Gegenwart hervorgeru­ fen hat. Die Selbstinszenierung als Offizier der habsburgischen Armee er­ möglichte es Roth, so Lazaroms, seine Weltanschauung deutlich zu machen. Roth betrachtete den Ersten Weltkrieg wie auch die nachfolgenden Ereig­ nisse als einen Teil des geschichtlichen Zyklus, der katastrophische Ereig­ nisse in sich trägt. Das Europa der Nachkriegszeit wird in Roths Romanen als Asyl für jene heimatlosen jüdischen Protagonisten verstanden, die zwi­ schen den Zeiten und Zugehörigkeiten existieren müssen. Roth deutet die Vergangenheit und projiziert sie in seinen Romanen auch auf die Zukunft; die Folgen des Krieges sind sowohl für Europas Gegenwart als auch für seine Zukunft bedrohlich. Sabine Koller befasst sich in ihrem Beitrag mit der jiddischen Literatur und rückt dabei einen anderen wesentlichen Aspekt der Literarisierung des Krieges ins Zentrum, nämlich die Darstellung von Gewalt in poetischer Sprache. Koller untersucht die Werke zweier jiddischer Autoren – Moyshe Kulbak und Yisroel Rabon –, die auf radikale Weise auf die antijüdische Kriegsgewalt reagierten. Sie macht deutlich, dass die experimentelle Ästhe­ tik beiden Autoren dazu dient, die Vernichtung des Individuums im Krieg darzulegen und das Ende des metaphysischen Subjekts zu markieren. Kul­ bak beschreibt in seinem experimentellen Roman die zerstörte Welt aus der Perspektive von Randfiguren. Rabons grotesker und teils surrealer Roman schildert die ersten Monate nach dem Krieg im Leben eines heimatlosen, aus der polnischen Armee entlassenen jüdischen Soldaten. Beide Texte ver­ weigern die Möglichkeit der Transzendenz und konstituieren ein fragmen­ tiertes und entfremdetes Subjekt.

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Im Zentrum von Glenda Abramsons Aufsatz steht die Diskussion einer viel späteren Reaktion auf den Ersten Weltkrieg als in allen anderen hier behandelten literarischen Texten. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich S. Y. Agnon in zwei Romanen mit seinen Erfahrungen im Ersten Welt­ krieg auseinander, als er in Berlin und Leipzig lebte. Agnon verdichtet den Blick der Zivilisten auf die totale, unumkehrbare Veränderung, die die alte Welt durch Modernisierung und Krieg erfahren hat. Die Industrialisierung des Krieges wird vor allem in Ad hena sehr detailliert und »anschaulich« beschrieben. In Agnons zweitem Roman Ba-hanuto shel Mar Lublin, der in Leipzig spielt, wird die Kriegserfahrung nicht durch den Erzähler vermittelt, sondern sie wird indirekt durch die Wahrnehmung der jüdischen und nicht­ jüdischen Einwohner der Stadt beschrieben. In beiden Romanen, so Abram­ son, wird auch die Unterminierung der Grundlagen des jüdischen Glaubens und Gesetzes durch den Krieg dargestellt. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Aspekt der Prosawerke Agnons zu beachten: Der Krieg repräsentiert für ihn auch das Ende einer bedeutenden Epoche der jüdischen Geschichte – der des Zusammenlebens von Juden und Deutschen. Hier wechselt die Perspektive in Richtung Essay, Glosse, Feuilleton und wissenschaftliche Abhandlung und doch wechselt sie nur bedingt. Vielmehr fließen das Zeitgeschehen, ein Austarieren der persönlichen Position, wachsende Kritik, ein immer drängenderer politischer Auftrag und die Lite­ ratur in jenen Modi der Kriegsschau ineinander, besonders auch in den Dra­ men Ernst Tollers, die ein qualitativ ganz eigenes politisch-aktives Literatur­ schaffen markieren. Wesentliche Problemstellungen, etwa Sprache und Krieg, Tradition und Moderne, Zugehörigkeit und Ressentiment, bleiben indes auch in diesen Auseinandersetzungen mit dem Krieg bestehen. Einen Zeitdiagnostiker par excellence stellt Sigurd Paul Scheichl in sei­ nem Beitrag Karl Kraus’ »Weltgericht«. Eine Bilanz vor. Entlang der gesam­ melten Kriegsaufsätze des bekannten Wiener Publizisten zeigt der Autor, dass sich Kraus, der dem Krieg von Anfang an mit Ablehnung begegnet war, in seinen Aufsätzen weniger auf große Feldmanöver als vielmehr auf die Doppelmoral und die Dummheit der etablierten Gesellschaft im Krieg konzentrierte – seiner Gesellschaft, könnte hinzugefügt werden. Kraus’ Diagnose ist eindeutig: Moral und Wertebewusstsein lösen sich spätestens mit dem Jahr 1914 in Profitdenken und Amüsement der Konservativen auf, die er nicht selten und in Verkennung der semantisch-politischen Spreng­ kraft dieser Zuschreibung mit dem Epitheton »jüdisch« versah. Über den von Kraus erhofften »sittlichen Zweck« seines Schreibens zeichnet Sigurd Paul Scheichl die durch den Ersten Weltkrieg beschleunigte Entwicklung des Satirikers zum Republikaner nach. Gleichsam dem Berliner Gegenspieler Kraus’ widmet sich Andreas Stuhl­ mann in seinem Aufsatz Vom »Schlafwandler« zum Kriegsgegner. Die Wand­

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Einführung

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lungen des Maximilian Harden. Anders als Kraus hatte der Berliner Kritiker und Publizist Harden den Krieg ursprünglich begeistert begrüßt. Nachdem er sich mit seiner Zeitschrift Die Zukunft einen Namen als unerbittlicher Investigator gesellschaftlicher Missstände und Affären gemacht hatte und dabei doch selbst nicht frei von Tendenz und Manipulierbarkeit geblieben war, drängte er 1914 auf die »Saturierung« deutscher Interessen. Erst Ende 1915 nahm Harden nach der Zensur seiner Schriften und angesichts einer allgemein nachlassenden Kriegseuphorie in der Rolle des Mahners dem Kriegsgeschehen gegenüber eine kritischere Position ein. Seine prominente Affiliation zur Friedensbewegung hatte ein Nachspiel: Harden, dessen ambi­ valente Haltung zur eigenen Herkunft in Andreas Stuhlmanns Beitrag behandelt wird, wurde nach Kriegsende fortgesetzt antisemitisch angefein­ det und durch ein entsprechend motiviertes Attentat schwer verletzt. Eine jener »Affären«, die Harden aufdeckte, bildet die Brücke zu Magnus Hirschfeld: Judith Grosse analysiert in ihrem Beitrag Patriotismus und Kos­ mopolitismus. Magnus Hirschfeld und der Erste Weltkrieg die Kriegsschrif­ ten des Sexualwissenschaftlers und Arztes, der im von Harden angestoße­ nen, medienwirksamen »Eulenburg-Prozess« als Sachverständiger fungiert hatte und dadurch unliebsame Prominenz erlangte. Die Autorin beschreibt den Wendepunkt, den der Erste Weltkrieg im Leben des als Homosexueller und jüdischer Deutscher doppelt stigmatisierten Hirschfelds markiert war. Von seiner ursprünglichen patriotisch-chauvinistisch unterfütterten Kriegs­ befürwortung distanzierte sich Hirschfeld in seinen späteren Kriegsschriften. Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Kriegszeit wirkten bis an sein Lebensende fort und machten aus dem Sexualreformer einen sozialistisch orientierten, kosmopolitisch denkenden und international engagierten Pazi­ fisten – eine Kombination, die ihn zum Objekt nationalsozialistischer Propa­ ganda und Hetze werden ließ. Eng mit Hirschfelds Institut für Sexualwissenschaft verbunden ist ein wei­ terer, anfänglich kriegsbegeisterter, wenig später aber zum maßgeblichen Exponenten der Deutschen Friedensgesellschaft avancierter Kriegskommen­ tator. In seinem Beitrag A Twisted Road to Pacifism. Kurt Hiller and the First World War vollzieht Daniel Münzner die Entwicklung des Expressionisten und Vorkämpfers sexueller Minderheitenrechte während der Kriegsjahre nach, die der Autor als prägend für das Gesamtwerk des Schriftstellers betrachtet. Hillers gesellschaftliche Außenseiterposition ließ ihn einerseits empfänglich für elitistisch-avantgardistische Konzepte werden, andererseits kurzzeitig in den 1914 grassierenden Kriegstaumel geraten. Angesichts des Sterbens vertrauter Freunde an den Fronten forderte Hiller wenig später hin­ gegen eine Assoziation der Intellektuellen und Außenseiter für eine neue Kultur und vertrat rätebasierte sozialistische Positionen – ohne indes seine

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Natasha Gordinsky und Carolin Kosuch

ursprüngliche Bewunderung für militärische Attribute aufzugeben, wie Daniel Münzner herausarbeitet. Eine vergleichbare Begeisterung für den Rätegedanken brachte auch der politisch aktive Schriftsteller Ernst Toller auf. Lisa Marie Anderson verfolgt in ihrem Essay »Sehenden Auges und mitfühlenden Herzens.« Ernst Toller᾽s Witness to the First World War den tiefen Einschnitt, den das Kriegsgesche­ hen und die Novemberrevolution für Tollers Schaffen bedeuteten. Immer wieder tauchen in seinen zahlreichen, den Krieg thematisierenden Dramen und Gedichten machtlose, gezeichnete, ja »entmannte« Figuren auf, die Tol­ ler als Anklage gegen die Kriegsrhetorik und -praxis, aber auch als Hinweis auf die Existenz eines anderen Deutschlands platzierte. Die Autorin macht in ihrer Analyse mehrere Wandlungen des Schriftstellers aus: Zum einen jene vom Soldaten zum Gefühlspazifisten, wenig später zum pazifistischen Kapitalismuskritiker und daran anschließend zum Sozialisten und Rätever­ treter, der in Haft zum Dramenautor heranreifte. Herkunft und Haltung bedingten Tollers Verbannung ins Exil, wo er den Freitod wählte. Elke-Vera Kotowski schließlich verfolgt in ihrem Beitrag Den Ersten Welt­ krieg denken. Theodor Lessings »Philosophie der Not« die Auseinanderset­ zung eines Arztes und kulturkritischen Philosophen mit dem Krieg. In seinen Schriften ging Lessing über einige von anderen Zeitdiagnostikern geäußerte Aspekte hinaus: Wie Kraus trat er als Mahner auf, kam dem Krieg wie Toller sehr nahe – er diente als Freiwilliger im Lazarett –, warnte in seinen philoso­ phischen Arbeiten vor dem kulturellen und menschlichen Ruin, wie es anders motiviert auch Hiller getan hatte, und sympathisierte aus einem starken Ge­ rechtigkeitsempfinden heraus mit Unterdrückten und Minderheiten. Während Hirschfeld einem solchen Impuls folgend noch die Rechte Homosexueller eingefordert hatte, wurde Lessing zum Anhänger der Frauenbewegung und des Zionismus. Dem Krieg selbst begegnete er aber vor allem in seiner »Phi­ losophie der Not«, aus der heraus er die Maxime des aktiven Tuns ableitete. Dieser Einstellung entsprechend wandte er sich etwa auch gegen Umweltzer­ störung und Lärmbelastung, die er mit Krieg und Rüstung assoziierte. Nach dem Krieg akademisch mundtot gemacht und verfemt, engagierte sich Les­ sing in der SPD und für eine Bildungsreform. Im Exil trafen den unbeque­ men Kritiker 1933 tödliche Schüsse nationalsozialistischer Schergen.

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Reiterarmeen. Jüdische Kriegsliteraturen (1914–1918)

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Maya Barzilai

Witnessing Dying in the Tongue of Revival: Shaul Tchernikhovsky’s World War I Poetry

Writing War in Hebrew By 1914, Hebrew poetry was already reaching the tail end of its first wave of modernization, but the events of World War I raised dramatic new chal­ lenges for Hebrew writing, challenges both aesthetic and ethical. Among the war’s many unprecedented aspects was the enthusiastic participation of Jew­ ish soldiers on both sides of the conflict: “On this side and on that side stood Jews and Gentiles who were at war with other Gentiles and Jews,” wrote S. Y. Agnon. “They did not know each other, but they were told that these were their enemies, and in all innocence they risked their lives to kill and to die.”1 If Jews suffered a representative share of battlefield losses and wit­ nessed the same scenes of mass destruction as their non-Jewish comrades, they often chose to respond to these events in languages that were not the tongues of modern war and that could not be comprehended by the majority of society. Hebrew poets in particular needed to consider how their language of choice, possessed of a vast historical echo chamber, could be wielded in response to contemporary warfare. Complicating matters further, many nations prohibited Hebrew-language publication during World War I. As Joseph Klausner writes, “A short time after the war began, not only was the Hebrew word banned in Russia, but also the Hebrew letter.”2 When respond­ ing to the war at the time of its occurrence, Hebrew poets literally could not be heard or read, for their own minority audiences were denied access to cur­ rent works in the language. Adding to the problem of writing in an outlawed language was the issue of bearing witness to atrocity, to mass death as it unfolded every day in the trenches. The complexity of Jewish witnessing has been most thoroughly explored and theorized in the context of World War II and the Holocaust, by writers and critics from Primo Levi and Victor Klemperer to Shoshana Fel­ man and Giorgio Agamben. A number of their insights into the paradoxes of witnessing nonetheless prove exceedingly relevant for the analysis of earlier 1 2

Shmuel Yosef Agnon, Me‘atsmi el ‘atsmi [From Myself to Myself], Tel Aviv 1976, 250. Yosef Klausner, Shaul Tcherniḥovsky. Ha-adam ve-ha-meshorer [Shaul Tchernikhovsky. The Man and the Poet], Jerusalem 1947, 147. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 177–191.

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history, such as the mass casualties on the battlefields of the Great War. In Remembering War, Jay Winter likewise contends that while the experiences of soldiers fighting other soldiers are in no way comparable to those of Jews incarcerated and murdered by the Nazis and their henchmen, the two groups of witnesses shared certain modes of narrating and approaches to testifying. Witnesses of the battlefield horrors of World War I were often determined to give the most truthful, even if necessarily harsh, account of their experience and their suffering. “Their testimony,” in Winter’s words, “had a moral pur­ pose; they ensured that what they took to be a truthful story about the war was told.” In doing so, moreover, they were not trying to rake in any “politi­ cal capital.”3 Levi argues, more radically, that the very fact of survival creates a “lacuna in every testimony,” since those who survived “are not true witnesses” and “did not touch bottom.” If “the past belongs to the dead,” according to Agamben, one therefore bears witness “in the name of the impossibility of bearing witness.” This essay intends to demonstrate a similar recognition of the impossibility of witnessing in Hebrew writing about the events of World War I. Because the medium of testimony is language, moreover, we need to bear in mind not only the irrecoverable nature of past events but also the his­ tory of the particular language and its capacity to represent the deceased on whose behalf the witness testifies. Toward the end of Remnants of Ausch­ witz, Agamben revisits the paradoxes of witnessing in the particular context of individual languages and their histories. His basic claim is the following: when a poet decides to write in a long-“dead” language, to position himself as a speaking subject in this tongue, an act of testimony occurs whereby the dead language is resurrected, surviving those who once spoke it as a living tongue. Agamben generalizes this point to suggest that “to bear witness is to place oneself in one’s own language in a position of those who have lost it, to establish oneself in a living language as if it were dead, or in a dead lan­ guage as if it were living – in any case, outside both the archive and corpus of what has already been said.”4 How, then, are we to understand poetic testimony in Hebrew, a language that had just begun to be used as an everyday spoken tongue at the turn of the twentieth century – and that only by small and highly dedicated groups in Palestine and the diaspora? As a language of scripture, prayer, and poetry, Hebrew never entirely “died,” but it still needed to be reworked and moder­ nized in order to describe the phenomena of modernity: urbanization, indus­ trialization, and, in our case, technological warfare. Furthermore, bearing 3 4

Jay Winter, Remembering War. The Great War between Memory and History in the Twentieth Century, New Haven, Conn., 2006, 244 f. Giorgio Agamben, Remnants of Auschwitz. The Witness and the Archive, trans. by Daniel Heller-Roazen, New York 2002, 34, and 161.

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witness to death on the battlefield required Hebrew poets to place them­ selves in their own language “in a position of those who have lost it” even while remaining fully committed to the project of Hebrew’s literary “revi­ val.” In other words, besides meeting the challenge of evoking modern war­ fare in a language that till then had depicted only ancient battlefields, these poets also needed to establish themselves outside the archive of what had already been said in Hebrew in a more fundamental way. By writing about the events of World War I in Hebrew, they bore witness not only to the hor­ rors of that war, but also to the modernization of Hebrew and to the need to transform the language into an adequate medium for addressing current his­ torical upheavals. To understand better this set of unique conditions on Hebrew writers, this essay turns to the Russian Jewish poet Shaul Tchernikhovsky (1875–1943). Often mentioned in the same breath as Ḥayyim Naḥman Bialik, Tcherni­ khovsky is considered one of the “founding fathers” of Hebrew poetry in the revival period (late nineteenth to early twentieth century). Having studied medicine in Switzerland and passed his medical examinations in Russia, Tchernikhovsky enlisted as an army physician in the Russian army upon the outbreak of the war and served from 1915 to 1918 in a hospital in Minsk. As the hospital’s chief medical registrar, he made numerous trips into the war zones; he was a close observer of the harsh conditions on the front despite never participating in the battles himself. Tchernikhovsky was thus a privi­ leged witness, one who did not “touch bottom,” even if his own life was sometimes endangered by his activities. According to his biographer, Klaus­ ner, the doctor-poet received many letters of gratitude from soldiers whose lives he had saved as well as medals of commendation from the Russian government for his courageous work on the frontlines. During the war, his original literary output was limited to a handful of poems. Toward the end of the hostilities, Tchernikhovsky was hard at work on two translations: a mod­ ern German anatomy book for “Mada,” a publication society that prepared educational materials and science books for the Hebrew University, and the Iliad for A. Y. Shtibel and David Frishman, a translation he began in 1917 and completed only in 1924.5 Hence, in addition to treating wounded sol­ diers (and often saving their lives), Tchernikhovsky was also pursuing the revitalization of the Hebrew language along two quite disparate translational tracks: contemporary medical terms and ancient, classical literature. In his original compositions, however, he was repeatedly returning to the themes of dying and the powerlessness to save lives, thus pitting the futility of the physician’s “craft” against the art of reviving poetic forms in Hebrew.

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Klausner, Shaul Tcherniḥovsky, 144 f.

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In 1916 Tchernikhovsky composed Mi-manginot ha-zeman (From the Melodies of the Time), a poem bitterly addressed to contemporary affairs. The poem opens with the notion of personal sacrifice for the speaker’s homeland or birthplace (mekhorati): “I shall sate you with my blood in my time / Oh, my birthplace.”6 In the second stanza, Tchernikhovsky localizes this sacrifice to the specific context of this war, of its trenches and tunnels, but he portrays the forfeit of the “blood of [his] heart” as a pathetic and mis­ erable variety of death, rather than a heroic act.7 The battlefield is depicted as an arena of death, a place where the “carcasses of the killed” are found alongside men who, though alive, are bent solely on killing. The poem’s speaker does not know where he belongs, among the dead or among those still fighting and killing. He perceives himself as one about to die, posing a series of questions about the details of his future death: “Where shall I silently lie, / Among the dead, and the killers in their innocence / And where my last bed will be, / Who will witness my dying?”8 Not knowing when “his place and hour” are to come, the speaker is also unable to affirm the pre­ sence of witnesses who might communicate his death to others. In place of human witnesses, then, Tchernikhovsky enlists the inanimate elements of nature – “morning stars,” “silver mists,” and a “setting sun” – as the possible companions to the man dying in a “forsaken trench” (maḥporet ‘azuvah). But these celestial objects offer no comfort and no sense of continuity; they suggest only degeneration and loneliness, prolonged from earliest morning till sunset. Running through a list of the baleful and unholy places where he can see himself dying, the speaker also depicts the “corner of a suffocating, stinking hut / on the cloth of the stretcher.” Tchernikhovsky, a physician, imagines the speaker in this place as a patient in the throes of death; he portrays a man who does not receive medical attention, dying in the corner of an abandoned hut. The rhetorical power of this second stanza thus derives above all from the paradox of witnessing. The speaker is a kind of living dead: though still alive and capable of communication, he broods on his forthcoming death, knowing full well that he cannot survive as a witness to his demise but none­ theless conjuring multiple possible images of his own death. This soldier yearns to die a more honorable death, declaring in the following stanza that 6 7

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Glenda Abramson, Hebrew Writing of the First World War, London 2008, 115. During this same period, Tchernikhovsky also wrote Manginah li (I have a Melody), in which the speaker declares that he would rather die on the battlefield, in self-defense, and not be passively murdered. He compares his restless blood to that of the Canaanites, describing a melody of “blood and fire.” Shaul Tcherniḥovsky, Shirim u-baladot [Poems and Ballads], in: idem, Kol kitvei Shaul Tcherniḥovsky [The Collected Poems], 10 vols., here vol. 1, Tel Aviv 2004, 184 f. Abramson, Hebrew Writing of the First World War, 115.

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“no holy, warm drop will have reddened in vain […] without breaching the walls of slavery / and the generations’ chains.”9 At the same time, it is not the speaker’s own Jewish sister, brother, or beloved who will reap the fruits of his sacrifice, but rather “strangers, only strangers.” The poem ends with a foreboding image of suffering in exile: a field grown over with thorns and thistles, instead of flowers and wheat; the man’s blood having been shed in vain, his sick mother must shuffle her feet in exile while the thorns tear at his father’s banished flesh.10 The absence of a witness has severe consequences for the Jewish soldier in particular: not only will his manner of dying never be known, but his death will do nothing to prevent the subsequent oppression and persecution of his people. The pessimistic speaker would like to believe that his blood will not be shed in vain, but he knows otherwise. Using rhyming couplets and alternating long and short lines, Tchernikhovsky tempers his disillusion­ ment – with the ideals of homeland, community, and sacrifice – through the use of a highly structured Hebrew poetics. Glenda Abramson suggests that in this poem “he ignored modernism and retained traditional structures, images and language.”11 The effect is a dissonant one: Tchernikhovsky’s for­ mal choices clash with the chaos of the battlefield. His strategy is one of con­ tainment through form, rather than of expression through the disruption of formal conventions. But the end result in no way mitigates the horror of anon­ ymous and futile death on the battlefield; it intensifies it. The overall cohe­ siveness of the poem’s structure, alongside the dialogue promoted between long and short lines, frames and accentuates the speaker’s battlefield solitude and underscores the absence of any witness who, by relating his manner of dying, could ensure that his kin will be protected from persecution.

The Doctor as Guilty Witness With his corona of sonnets La-shemesh (To the Sun) – composed in Odessa in 1919 during the Russian civil war and published in 1921 – Tcherni­ khovsky took the aesthetic system of formal constraints several steps further. Consisting of fifteen rhyming Petrarchan sonnets, the corona cycle displays an intricate pattern of repetition whereby “the last line of each sonnet becomes the first line of the next one, with the fifteenth sonnet made up of

19 Ibid., 116 f. 10 Tcherniḥovsky, Shirim u-baladot, 187 f. 11 Abramson, Hebrew Writing of the First World War, 117.

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all the first lines in sequence.”12 While returning to and celebrating the Eur­ opean humanistic tradition through this form, as well as drawing on a highly archaic Hebrew diction, Tchernikhovsky still uses his poetry as a means for addressing the violence of modern war. His revival of the corona-sonnet form was an act of defiance and transgression in face of the ruptures and dis­ continuities occasioned by World War I, the Russian Revolution, and the ensuing civil war. The poet also dedicated the entire corona to his brother, Dov-Ber, “who died in the war in the year 1914.”13 Though he prevented the deaths of so many others, Tchernikhovsky could not save his own brother, and he had to come to terms with both the latter’s death on the battlefield and his continued absence. The corona, with its delicately interwoven struc­ ture, is a verbal mourning wreath placed on his brother’s grave; its momen­ tous form and content match the solemnity of the occasion and the poet’s desire to erect a lasting cultural memorial to his deceased brother. In its broad geographical-temporal scope and its adherence to the intricate and strict Renaissance poetic form, To the Sun shows Tchernikhovsky’s overall faith in Hebrew as a flexible and precise instrument of poetic expres­ sion and historical remembrance. In these fifteen interlocking sonnets, Tchernikhovsky invokes, according to Robert Alter, “the whole range of his­ tory, from the cultic practices of early man to his own recent memories of trench warfare on the Eastern front.”14 The poem traverses a vast geo-cul­ tural world and evokes the different realms of science, art, religion, and his­ tory; all its pronouncements are filtered through the viewpoint of a first-per­ son speaker, a poet or creator. At the very heart of the cycle, in the line shared between the seventh and eighth sonnet, Tchernikhovsky repeats the question: “Did I come too soon or was the Rock late who created me?” This temporal uncertainty is intimately related to Hebrew’s status as at once an ancient and belatedly resuscitated language. Precisely through its contem­ porary ambiguous status and long historical standing, Hebrew becomes the poet’s tool for accessing a past that would otherwise belong to the dead. Tchernikhovsky strives not only to renew Hebrew, therefore, but to explore the possibility of bearing witness in that language.

12 Robert Alter, Saul Tchernikhovsky’s “To the Sun.” A Corona of Sonnets, in: Literary Ima­ gination. The Review of the Association of Literary Scholars and Critics 3.2 (2001), 159– 178, here 168. As Alter explains, “Oddly but also instructively, Hebrew was the first lan­ guage after Italian in which sonnets were composed, beginning with the fourteenth-cen­ tury poet Immanuel of Rome (to whom Tchernikhovsky would devote a 1925 Hebrew monograph) […] Tchernikhovsky was affirming the continuing vitality of the European humanistic tradition he cherished and was also announcing […] his own role as its supre­ mely accomplished heir.” Ibid., 169. 13 Klausner, Shaul Tcherniḥovsky, 161. 14 Alter, Saul Tchernikhovsky’s “To the Sun,” 170.

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To the Sun chronicles the maturation of a speaker – a poet; Tchernikhovsky opens the entire cycle with the image of an angel addressing the speaker, bidding him: “Rise and grow, sproutling, and burst forth / with your song, festive song, in the jagged thorn.” The song here is that of the anointed indi­ vidual, and it will burst forth (u-fetsaḥ) in or through the thorn, rather than in the “hyacinth or mallow” of the opening line. In the sixth sonnet, Tcherni­ khovsky similarly identifies the production of song with manual labor and its sharpened implements. He depicts the harvest, when “the shovel’s ring split[s] furrow and scythe sing[s] in the grain.” It is these sounds, the song of the thorn and the scythe, which the speaker has “soaked up” in his native vil­ lage and which stand “by [him] in straits, in the battle […] as [he] stood between the living and one already dying.”15 While these sounds are all con­ nected to ancient agriculture rather than modern war, they are nonetheless sounds produced by “jagged,” piercing tools. The same root (pey-lamed-ḥet) used to describe the shovel “splitting” furrow (pole’aḥ) recurs in the eighth sonnet, when Tchernikhovsky uses – in reference to mother jackals – a rare verb for giving birth, tefalaḥnoh, which usually means “to split apart.” Vio­ lence is thus located in the realms of agriculture and animal birth; but this splitting of the land or the birthing body is transformed into a source of spiri­ tual sustenance when the speaker confronts man-made destruction. Already in the sixth sonnet, the speaker depicts two distinct voices within him – one of a “soul wrapped in light” and the other of a “wanderer in for­ eign darkness.” As yet not properly consecrated, he also finds himself sur­ rounded by “doubting-doubt, the certain doubt.”16 As Abramson’s transla­ tion conveys, Tchernikhovsky uses the term doubt, safek, three times (“safek-safek, safek-vaday”). The first and third appearances of the word safek are part of an idiom that suggests that the two opposing conditions, “doubt” and “certainty,” are both plausible in this situation. The poet thus intensifies the overall uncertainty enveloping the speaker. To explain further, in Tractate Yoma of the Mishna (8:7), the phrase “safek ḥay safek met” (it is doubtful whether he is alive or dead) is used in a discussion regarding the status of a man buried under collapsed stones. In this case, the rabbis declare that he should be attended to until proven dead, even on the Sabbath. The sixth sonnet, concluding with the line “as I stood between the living and one already dying,” thus alludes to this Talmudic turn of phrase. In other words, the speaker’s hesitation between “doubting-doubt” and “certain-doubt” sug­ gests a nightmarish reality in which he (the doctor) is called upon only to 15 Ibid., 159, and 162. 16 Abramson, Hebrew Writing of the First World War, 125. In Alter’s translation the line reads as follows: “A realm of sheer doubt, doubt of what is certain.” Idem, Saul Tcherni­ khovsky’s “To the Sun,” 162.

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affirm uncertainty as to whether a soldier is dead or alive.17 The prolonging of the process of dying is one way in which Tchernikhovsky conveys, in both From the Melodies of the Time and To the Sun, the bewildering uncer­ tainty of the battlefield and the doctor’s position within it. He focuses on the time when life can still be discerned yet appears to be running out; for him, this in-between zone of dying becomes associated with the paradoxes of wit­ nessing, just as it heightens the drama of the inability to save the life of an individual. Importantly, it also remains unclear in the above-quoted Mishnaic teach­ ing whether the person buried under the pile of stones is “a worshipper of the stars” or one of Israel. In the eighth sonnet, the speaker explicitly refers to himself as a pagan believer: “Stars are my gods, I pray to them bewitched / By their faces, light of day and pale moon.”18 In other words, the resolution of uncertainty, of the wavering between life and death, is attained through a pantheism in which the sun, moon, and stars endow both animate and inani­ mate beings with their life force. This represents a noticeable shift from the 1916 poem, in which these same celestial objects were unsatisfactory wit­ nesses. But before the speaker can join the cosmic choir celebrating these celestial gods, he must come to terms with the events of a war that appears to disrupt the harmonious co-existence of all life forms. The seventh sonnet, located at the center of this corona cycle, is the most autobiographical of them all. Here the speaker wields the physician’s “sharp scalpel,” reminiscent of the earlier sharp instruments (thorn, shovel, scythe) that previously sustained him. But the scalpel neither elicits songs nor enables the harvest; it is, rather, an ineffectual tool and, to the speaker, his “craft” (umanut) is “terrible.” “Be-‘omdi bein ha-ḥay u-vein ha-goses kevar (umanut me-nora’ah!) ve-izmel ḥad be-khapi, yesh bokhe mitokh gil ve-yesh mekalel be-api, safagti aḥaron ’or tokh ishon goses zar. El ra‘am toteḥei-’on mitgalgelim ba-kar, le-esh notsetsah be-eshun minharti li ve-gapi hitveti aḥaron-kav, maḥakti ḥay mi-dapi, mi-saf meshoham kakh te‘aker ‘even-yekar.

17 For Zvi Luz, these lines “echo” the First World War and the Russian revolution. The dream-like quality of this realm of doubt, he claims, becomes in this sonnet an unwanted condition, suggestive of the “irrationality” of war and revolution, rather than a desirable state. Idem, Aḥdut u-ba‘ayatiyut taḥat ha-shemesh [Unity and Discord under the Sun], in: idem (ed.), La-shemesh. Masot ‘al klil sonetot le-Shaul Tcherniḥovsky [To the Sun. Essays about Shaul Tchernikhovsky’s Corona of Sonnets], Ramat Gan 1996, 119. 18 Alter, Saul Tchernikhovsky’s “To the Sun,” 163.

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Ve-’ulam be-’oto zik ba-‘ayin ha-‘omemet, ba-’or ha-sofeg ’or u-veterem kam la‘ad; ve-’ulam be-’oto barak esh kodḥah ve-tsoremet, ba-esh ha-kor’ah le-esh, ha-metsavah ‘eid u-shemad, – hayita atah vam; ze hodkah hamamani; – ha‘im kidamti bo ’o eḥar tsur bera’ani?” “As I stood between the living and the one already dying (What a terrible craft), a sharp scalpel in my hand, Some would weep for joy, some would curse me roundly, I soaked up the last light in a dying stranger’s pupil. By the thunder of potent cannons rolling through the meadow, By the fire flashing in the pitch-black of my bunker to me only, I traced the last line, erased the living from my page, From a bejeweled threshold thus a precious stone is torn. And yet in that spark in the guttering eye, In the light soaking up light before blanking out forever; And yet in that fire-flash burning and shrieking, In the fire calling to fire that bids disaster and destruction – It was you who were in them, this your glory that stunned me; – Did I come too soon or was the Rock late who created me?”19

The seventh sonnet depicts a man who is dying and cannot be saved, not unlike the poet’s own brother to whom the entire corona is dedicated. The doctor wielding the scalpel appears tortured by his inability to help this “stranger,” and he describes himself as alternately crying out for joy and cur­ sing, reactions one cannot help but associate with the turmoil of feelings experienced by soldiers on the front lines. Whereas the speaker of From the Melodies of the Time foresees his own death and bemoans the absence of a witness, the speaker in the corona becomes a helpless witness to another man’s life fading away, but he focuses on the effects of this demise on him­ self: “I soaked up the last light in a dying stranger’s pupil.” Just as the speaker previously soaked up (sefagtim bi) the smells of “rich crumbly soil,” the heat of the “chaff,” and the song of the scythe in the grain, now he inter­ nalizes (safagti) this “last light.” Recalling, nonetheless, that the previous things he had soaked up “stood by [him] in straits, in the battle,” we need to ask, how can a dying stranger’s last sparks of life affect the speaker as doctor and witness?

19 Ibid. In Abramson’s translation of this sonnet, the third line of the first stanza reads as fol­ lows: “Weeping with joy and cursing in fury.” See idem, Hebrew Writing of the First World War, 126.

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In the second stanza of the octave, the doctor is already alone in a “pitchblack” tunnel or trench, where he hears the thunder of cannons. There, in the last light of the stranger’s pupil, he performs the task of noting down the man’s death; he erases the living from his page. The act of tracing a “last line” (aḥaron-kav) links the writer’s pen and the doctor’s scalpel, since both trace (bloody) lines – the former on the page and the latter on the body. This connection appears even more evident when we consider the intricate conca­ tenation of first and last lines in To the Sun, with each sonnet taking up the line where the previous sonnet left off. The cycle as a whole transforms the finite act of tracing the line to erase the living into a chain of varying repeti­ tions, so that no line is ever a “last” line. Similarly, after the erasure has already taken place in the octave, the sestet of the seventh sonnet returns to the image of a “spark in the guttering eyes.” Thus, even while the stranger appears to have died, the poet prolongs his death for the remainder of the sonnet, with the result that the speaker continues to stand between the living and the dying. The prolongation of dying through song is in itself an act of violence, one that not only suggests “rebirth […] into a possible future,”20 but also the infliction of further suffering. This excess of dying underscores the doctor’s position as “a passive witness,” one who has been, in Eyal Peretz’s words, “overwhelmed” by an excessive event that does not depend on the will of the witness and that therefore cannot be controlled. Alongside this inherent pas­ sivity of the witness vis-à-vis the “unmasterable excess” of the event wit­ nessed, there also exists an imperative to communicate the event to others, to become an active transmitter of this overwhelming experience, thereby transforming the second-degree witnesses – the readers – who participate indirectly in the event.21 Tchernikhovsky’s speaker is doubly overwhelmed, by the unpreventable death of the soldier and by the revelation of the divine on the battlefield, and he bears testimony as well to the moment of being summoned as a witness on the battlefield. But the speaker can only do partial justice to this summons, because he is blinded by the revelation of war. Beginning with a “spark” and progressing to “light,” and the burning “fireflash” of war, the speaker (within the narrative frame of the poem, the physi­ cian) draws a clear connection between the more metaphorical “light” of the dying and the fires of wartime destruction. He locates “you” and “your glory” – identified in the eighth sonnet as the warming “sun,” a divine force – both in the spark that is about to be extinguished and in the cannon fire responsible for this death. This is the central revelation of the seventh son­ 20 Abramson, Hebrew Writing of the First World War, 129. 21 Eyal Peretz, Literature, Disaster, and the Enigma of Power. A Reading of Moby-Dick, Stanford, Calif., 2003, 11.

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net; it leads, in the following sonnet, to a celebration of these cosmic forces through song. The phrase “fire calling to fire” (esh ha-kor’ah le-esh) rewrites Ps. 42:2, where “deep [tehom] unto deep calls out at the sound of Your channels.”22 Rather than identifying the divine with the forces of water, Tchernikhovsky finds a “you” in light and fire. And in contradistinction to the speaker of Ps. 42, who remains distant from God and unable to see God’s presence, the poem’s speaker can sense the presence of a divine element and bear witness to “his” appearance even in the most intense moments of battle and on the most modern battlefield. He further locates this awesome “you” precisely in the calling fire that “bids disaster and destruction”; it is there that the divine appears in all its stunning “glory.” This revelation is nonetheless problematic given the conditions under which it appears: following on the heels of death and taking place in the face of a destructive fire. “The poet appears to be impressed by death and to push aside its cruelty and terror,” Boaz Arpali contends, “and this fact renders him, in the best case (if we do not take into account all the ethical pitfalls) a strange man, an anachronistic creature.”23 The revelation of a divine “you” on the battlefield appears in the penulti­ mate line of the seventh sonnet, which is followed by the speaker’s question that stresses the temporal problem entailed in his revelation. Either he has come “too soon” and therefore expounds a truth or revelation that we are not yet ready to receive, or else the “Rock […] who created [him]” has come too late and is the relic of an innocent generation. As a closure to the seventh sonnet, the question “did I come too soon or was the Rock late” also refers to the doctor’s inability to save the dying man; he could not prevent death when it occurred and therefore finds himself disconnected from the present moment. This last line of the seventh sonnet and first line of the eighth per­ form, furthermore, the recuperation in Hebrew song that links the archaic past with a future linguistic trajectory. The modern Hebrew language itself, not merely the speaker, is both a relic of the past and a new arrival, perhaps too early, on the scene of modernity. It is not quite up to the task of depicting the modern battlefield or the current moment of dying, but it does possess a vast echo chamber where the bleakness as well as the magnitude of World War I can resound. The aesthetic and ethical problems that arise with the attempt to transform the battlefield and mass death into a revelatory experience prevail already in

22 The Book of Psalms. A Translation with Commentary by Robert Alter, New York 2007, 149 f. 23 Boaz Arpali, Tom ve-yedi‘ah be-klil ha-sonetot “La-shemesh” [Innocence and Knowl­ edge in the Corona of Sonnets “To the Sun”], in: Luz (ed.), La-shemesh, 217–278, here 246.

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the octave of this seventh sonnet. From Klausner’s rave review of 1919 to the work of Zvi Luz, Hillel Barzel, and Glenda Abramson, interpretations of To the Sun have glossed over the speaker’s inability to save the dying and, and to an even greater degree, the speaker’s implication in the violence described. The witness, as Peretz has explained, is not a spectator, observing events purely from the outside; s/he participates in them and is therefore implicated by them and changed thereby.24 Klausner, for example, does not read the erasure of the living in the octave literally, but rather suggests that the speaker erases the “old” that is “still full of life.”25 For Barzel, the speaker experiences a personal “sadness” at the sight of death, comparing the dead to a “precious stone” torn from a “bejeweled bowl.” Barzel further emphasizes that the physician attains creator status, since he appears to determine the fates of people (sentenced to life or death), though he does so unwillingly.26 Similarly, Abramson contends that the speaker is “endowed with an almost god-like function” when he absorbs the dying man’s spark of light and erases him from the page. At that moment, “the ordinary actions of a ministering doctor assume cosmic proportions within the world’s upheaval” and the doc­ tor becomes a “mystical entity,” a “representative of the sun.”27 However, this transformation of the witness into a near divinity is limited; he is capable only of erasing the living from the page, not of saving the man’s life. He transforms death into a source of poetic and mystical redemp­ tion, but this is an act that is suspect from the start, for it elides the personal, even intimate nature of dying and undermines the task of the witness. The survivor-poet of this cycle lives to tell the horrors of the battlefield, but he must use the dying man’s last spark of life to do so. He wields his scalpel not to heal but to repeat for posterity the futility of modern medicine in the face of the mass destruction wrought by technological warfare. The instrument of healing thus becomes a “sharp,” even murderous weapon, one that betrays the horrific nature of the “crafts” of medicine and poetic writing. Most tellingly, if in the seventh sonnet the poet focuses on the instrument of the doctor that then becomes a writing implement used to trace the final line of death, in the eighth stanza he shifts his attention to the sounds and voices of prayer rather than the roar of cannons. The drama of death and era­ sure is thereby recuperated through the seeming immediacy of song. In this manner, Tchernikhovsky’s corona brings to the fore a type of literary metawitnessing, for it bears testimony to the birth of language out of the death

24 Peretz, Literature, Disaster, and the Enigma of Power, 10. 25 Klausner, Shaul Tcherniḥovsky, 163. 26 Hillel Barzel, Shirat ha-teḥiyah: Shaul Tchernikhovsky [The Poetry of Revival: Shaul Tchernikhovsky], Tel Aviv 1992, 188. 27 Abramson, Hebrew Writing of the First World War, 128.

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and violence of war, to the transformation of modern artillery explosions into biblical battle-trumpeting, now rendered as the “voice of [Hebrew] prayer.” The fullness of the universe surrounding the speaker in the eighth sonnet (“‘Gods’ are around me and fill all existence”) stands in utter contrast to the emptiness of the tunnel or trench in the previous sonnet as well as to the soli­ tariness of the dying man. Instead of the “last light in the dying stranger’s pupil,” the speaker is now surrounded by stars, sun, and moon. All of Earth’s animate and inanimate beings become “sun-children,” “avatars of light and heat.” In the sestet of this sonnet, the universe of light is portrayed as being the “voice of prayer, the prayer of all”; here Tchernikhovsky uses two words that are homonyms (in the Ashkenazi pronunciation) kol (voice) and kol (all), to convey the unity of voice and existence. The repetition of tefilah (prayer) creates a chiasmus within the first line of the sestet, further empha­ sizing the unity and circularity of the cosmos. Nonetheless, by evoking the sounds of she-jackals birthing and of battle trumpets, the prayer portrayed here is not harmonious or pastoral but instead replete with the violence of procreation and war.28 This evocation of violence-infused song is grounded, in the eighth sonnet, through multiple allusions to the Book of Job. Tchernikhovsky draws the verb tefalaḥnoh from Job 39:3, where gazelles “push out their young in the throes of labor [yaldehen tefalaḥnoh].” These are the words God utters from the whirlwind as a response to Job’s suffering, and the emphasis of these passages is on the natural world rather than on human beings. Furthermore, in the penultimate line – “In the chorus of the infinite I’ll sing out and not be still” – Tchernikhovsky uses the singular form of the verb to sing out, ero­ nah, which he previously used to describe the call of the battle-trumpet (yaron shofar kerav). Alluding here to the song of the “morning stars” in Job 38:7, when “all the sons of God shouted for joy” (be-ron yaḥad kokhvei boker),29 he writes not of “sons of God” but of the “sons of the Sun,” envi­ sioning the celestial forces, “suns in the spheres,” engaged in harmonizing prayer. If God’s speech in Job surveys the creation of the inanimate world and the natural order of life within it, Tchernikhovsky’s sonnet opens and closes with its human speaker ready to join the “chorus of the infinite” – that is, the chorus of God – rather than remain still. Hence, Tchernikhovsky borrows from the Bible a “vision of a harmonious order to which violence is nonetheless intrinsic and where destruction is part of creation,” to quote Alter. Excluding the Jewish God from the cosmic pic­ ture, the poet still retains the logic of a universe suffused with violence 28 Ibid., 163, and 173. 29 Robert Alter, The Art of Biblical Poetry, New York 1985, 95, and 103.

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already on the level of animal birth. Still, if God’s response challenges Job to think beyond his human misery and fathom the contradictions of the world surrounding him, the “immense world of power and beauty and awe­ some warring forces,” Tchernikhovsky goes so far as to subsume human death on the battlefield within a higher cosmic order, thereby making sense of it.30 What is more, he implicitly depicts the “rebirth” of Hebrew from such modern wars and revolutions, drawing on the archaic lexicon of Job as well as rabbinical language in order to modernize Hebrew and bring it to bear on the events of World War I. Violence becomes in this manner an intrinsic part both of the cosmic order and of Hebrew writing of the period. Nonetheless, Tchernikhovsky’s literary achievement with the corona of sonnets can be understood as rare and esoteric, especially upon recalling that, in Arnold Band’s words, “by 1919 the closing of horizons for a Hebrew writer in the Soviet Union had become painfully obvious. […] [T]he political currents […] left him no alternative but exile.”31 And indeed, To the Sun was not pub­ lished in Odessa, the city where it was written, but in Jerusalem. The poem not only bears witness to and prolongs the dying of an anonymous stranger on the Russian front, but it also celebrates the last brilliant light of Hebrewlanguage culture in the nascent Soviet Union.

Epilogue: Generations of Dying In his famous poem Le-nokhaḥ pesel apolo (Facing the Statue of Apollo), written twenty years prior to To the Sun, Tchernikhovsky attributes the pro­ cess of “dying” to the generations of Jews spanning the period of the con­ quest of Canaan to his own day. The speaker who wanders away from “everything that came before him” describes how he “has had enough of this dying for generation after generation [gesisa le-dorot].” His living soul seeks to break out of the diasporic Jewish mold and enable his “bound emotions [to come] to life.” Such revival, at once both personal and national, is to be achieved by returning to an ancient Jewish God, a divine being closer to the Hellenistic tradition; he emphatically rejects the “dying” Judaism that has held sway in the interim. In To the Sun, Tchernikhovsky strove to translate these ideas and this ideology to the modern battlefield; it is to this end that he renews the Renaissance form of the Hebrew sonnet. His doctor, standing between “the living and one already dying,” recalls the Jew who turns to face 30 Ibid., 106, and 110. 31 Arnold J. Band, To the Sun, in: Alan Mintz (ed.), Reading Hebrew Literature. Critical Discussions of Six Modern Texts, Hanover, N. H./London 2003, 81–91, here 90.

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the statue of Apollo in order to discard the current traditions of his people and rediscover more ancient and, for him, energetic forms of worship. Still, the speaker pays a high price to establish this new order in To the Sun. Absorbing the last light of the dying, he transforms it into the life force of the sun while erasing the dying man from his page. This double action is intimately linked to poetic creation, not only through the image of line and page, but also through the theme of light itself, which Tchernikhovsky equates with life and revival already in his poem from 1899. Following the violent act of erasure from the page and the unresolved witnessing at the heart of this poem, Tchernikhovsky discovers the divine precisely within the forces of destruction. Even if the man’s death is not overtly desired, it is nonetheless a necessary precondition for revelation. Similarly, in order to bow down before the statue of Apollo and accept all that it symbolizes, the speaker must pronounce his predecessors and contemporaries a dying people and declare himself “the first to return [to Apollo].” Death is the logical pre­ condition for renewal on a religious, cultural, and linguistic level, and to wit­ ness dying becomes almost a prerequisite for the modern Hebrew poet. Tchernikhovsky nevertheless conveys the moral dilemmas of such an attempt to transform death into cosmic song and a totalizing pantheistic vision. He prolongs the period of dying and reveals the witness’ sense of guilt, and at the same time asks his readers to continue along the chain of lines and sonnets rather than hesitating to contemplate the last stroke, the last line of death. Whereas the biographical Tchernikhovsky saved many men’s lives and was honored and thanked for his valiant wartime service, his speaker as both doctor and artist must lose a life and witness an inevitable death for the sake of crafting a monument for Hebrew poetry. In To the Sun as a whole, the poet overcomes the crisis of witnessing and ultimately weaves an intricate linguistic wreath that negates the singular lines of death. Tchernikhovsky recognizes the physician’s feckless, even murderous incli­ nations, only to transform them into a (formal) poetic triumph that reaffirms human endeavor and reframes death and violence through the life of the Hebrew language.

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Writing World War I: The Case of Polish-Jewish Literature

Poles and Jews in the Face of World War I Philosophical analyses concerning the act of experience agree that experi­ ence is always a relation between the subject and the thing experienced. “Experience always has an object […] To experience means to undergo something, to be affected by, or to partake of something”1 – observes the philosopher Barbara Skarga. In the Polish language, the term “experience” is very closely associated with testimony. In her essay Doświadczenie (Experience), Skarga argues that the Polish etymology of the word doś­ wiadczenie “leads us in a somewhat different direction than, for example, the German Erfahrung […] or the French expérience.” The concept’s differ­ ent connotations, she maintains, are peculiar to Slavic languages. The words doświadczenie and świadectwo (testimony) share the same root and are therefore semantically related. “Thus, an experience is a testimony to some­ thing, and people who experience are witnesses, those who can testify.”2 In literary studies the concept of experience is associated primarily with the perception and cognition of reality, and, hence, their literary representation.3 It also involves existential and expressive aspects. This essay addresses the representations of World War I in Polish-Jewish literature published between 1918 and 1939 against the background of this concept of experience, touching upon a variety of genres – from lyric poetry to journalistic writing, from popular mainstream to experimental novels. In Polish literary studies and criticism the term “Polish-Jewish literature” has a much narrower meaning than in Western European-Jewish literatures. Lit­ erary programs of Polish-Jewish literature formulated between the 1860s and 1930s define Polish-Jewish literature as encompassing all literary works 1 2 3

Barbara Skarga, Doświadczenie [Experience], in: idem, Kwintet metafizyczny [Metaphy­ sical Quintet], Kraków 2005, 119. Ibid.,119 f. This is discussed extensively in Teresa Walas, Literatura (kultura) jako selekcja i projekto­ wanie doświadczenia [Literature (Culture) as the Selection and Planning of Experience], in: idem/Ryszard Nycz (eds.), Kulturowa teoria literatury [Cultural Theory of Literature], 2 vols., here vol. 2: Poetyki, problematyki, interpretacje [Poetics, Issues, Interpretations], Kraków 2012, 273–276. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 193–214.

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written by and addressed to Jews. Literary scholars place this literature within the polysystem of tri-lingual modern Jewish culture, consisting of the Yiddish, Hebrew, and Polish language systems.4 Thus, from both the inter­ war and the contemporary perspective, authors such as Julian Tuwim, Boles­ ław Leśmian, Józef Wittlin, and Bruno Schulz, who sought to establish themselves throughout the wider literary scene and address the general Pol­ ish public, cannot be considered Polish-Jewish authors sensu stricto. Only those whose declared objective it was to communicate first and foremost with the Jewish reader and who collaborated with the Jewish press published in Polish were recognized as Polish-Jewish authors.5 In today’s historical and literary studies alike, the experience of the Great War is interpreted above all as a watershed that concluded the “long nine­ teenth century” and ushered in the “short twentieth century.”6 One must not forget, however, that, notwithstanding all its shared or universal features, this European experience varied considerably, not only from state to state, but on regional and local levels as well.7 Consequently, twentieth century European-Jewish literatures reflect a variety of viewpoints and assessments of the events between 1914 and 1918. In its depictions of the Great War, Polish-Jewish literature has a lot in common with Polish literature, as in the first decades of the twentieth cen­ tury, the two stateless nations of Central and Eastern Europe, Jews and Poles, found themselves exposed to similar historical and political circum­ 4

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Chone Shmeruk, Hebrew, Yiddish, Polish. The Trilingual Jewish Culture, in: Yisrael Gut­ man et al. (eds.), The Jews of Poland between the Two World Wars, Hanover, N. H./Lon­ don 1989, 285–311. The communicative aspect of Polish-Israeli or Polish-Jewish literature – as it was alter­ nately called in the nineteenth century – was already emphasized in its nineteenth century definitions, formulated in critical programs and commentaries. A discussion of the nine­ teenth and twentieth century definitions of Polish-Jewish literature at greater length is to be found in Eugenia Prokop-Janiec, Literatura polsko-żydowska. Nowe perspektywy badawcze [Polish-Jewish Literature. New Research Perspectives], in: idem, Pogranicze polsko-żydowskie. Topografie i teksty [Polish-Jewish Frontier. Topographies and Texts], Kraków 2013, 285–302. This interpretation is suggested in Modris Eksteins, Święto wiosny. Wielka Wojna i nar­ odziny nowego wieku [Rites of Spring. The Great War and the Birth of the Modern Age], trans. by Krystyna Rabińska, Warsaw 1996 (first publ. in Engl. 1989). His interpretative model is applied to Polish literature by Dorota Kielak, Wielka Wojna i świadomość prze­ łomu. Literatura polska lat 1914–1918 [The Great War and a Sense of Crisis. Polish Lit­ erature of 1914–1918], Warsaw 2001. See discussions on English, German and French experiences of the war in Peter Münz, Contrary Experiences. Attitudes to the German Enemy in English Great War Literature, Marburg 2004; Frank Field, British and French Writers of the First World War. Compara­ tive Studies in Cultural History, New York 1991; Franz Karl Stanzel/Martin Löschnigg (eds.), Intimate Enemies. English and German Literary Reactions to the Great War 1914– 1918, Heidelberg 1993.

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stances. Polish and Jewish attitudes towards the Great War and related experiences, both among militaries and civilians, were, thus, radically differ­ ent from those of the citizens of the warring powers, such as Germany, France, or Russia. To begin with, Polish Jews, living in the Diaspora, and Poles, deprived of their state at the end of the eighteenth century, joined the war under flags of empires that many of them could not necessarily identify with. They were not swept away by the general wave of collective patriotic euphoria or mili­ tary exaltation at the outbreak of the war, nor did they usually go to war voluntarily or on their own initiative. They were subject to conscription and drafted into the armies of the countries they happened to live in. The powers at war did not regard them as important allies, but, at best, as minority groups that should be won over and exploited for their leaders’ political pur­ poses. Moreover, the armies Poles were now required to serve in belonged to the same powers that had partitioned Poland towards the end of the eight­ eenth century. Therefore, it is hardly surprising that at the outbreak of the war that pitted the three invaders against each other “[t]he dominant […] way of looking [at the war from the Polish perspective] was through the prism of fratricidal struggle – a tragic and inevitable consequence of the fact that the Poles were about to fight on both sides of the frontline, in the armies of the belligerent countries. […] Hundreds of thousands of Poles in Russian, German, and Austrian uniforms fell on various fronts of the war – for foreign causes.”8

A similar tragic awareness that Jewish soldiers, drafted into the opposing armies, would have to fight against their fellow believers was also present among Jews.9 In his book Churban ha-Jehudim be-Polin, Galicia u-Buko­ wina (The Enemy at His Pleasure. A Journey Through the Jewish Pale of Settlement During World War I), S. An-sky (i. e. Shloyme Zaynvl Rapoport) quotes a story that was told in many versions during the war about Jewish soldiers having to fight each other. Its popularity, he said, was rooted in the fact that “[w]hat happened was one of the greatest tragedies that can possi­ bly befall a people: fratricidal struggle.”10 18 Tomasz Burek, Problemy wojny, rewolucji i niepodległości w zwierciadle prozy narracyj­ nej [Problems of War, Revolution, and Independence as Reflected in Narrative Prose], in: Alina Brodzka/Helena Zaworska/Stefan Żółkiewski (eds.), Literatura polska 1918–1975 [Polish Literature 1918–1975], 3 vols., here vol. 1: Literatura polska 1918–1932, Warsaw 1975, 463 f. 19 Gabriella Safran, Wandering Soul. The Dybbuk’s Creator, S. An-sky, Cambridge, Mass., 2010, 225. 10 Szymon An-ski, Tragedia Żydów galicyjskich w czasie I wojny światowej. Wrażenia i refleksje z podróży po kraju [The Tragedy of the Galician Jews during World War I. Impressions and Reflections from a Tour through the Country], ed. by Krzysztof Dawid Majus and Stanisław Stępień, trans. by Krzysztof Dawid Majus, Przemyśl 2010, 56.

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The hostilities exchanged between 1914 and 1918 by the belligerent powers had a dramatic impact on the civilian population. In addition to the tragedy of fratricidal struggle, the war caused enormous economic losses and suffering among civilians, who were exposed to intense and devastating military activity, particularly on Polish territories (from the Carpathians to East Prussia). Direct frontline experiences, the passage of foreign troops, the brutal regime of the martial law, executions, and rapes became part of every­ day civilian life, including Polish and Jewish communities.11 Due to the peculiar history of Central and Eastern Europe, Poles and Polish Jews did not perceive the events of World War I in isolation, but rather as part of a longer sequence of equally groundbreaking and dramatic developments, which shaped their understanding of the period: the Russian Revolution, the Polish struggle to regain independence, and, subsequently, to establish its borders, such as in the Polish-Soviet War 1919/20 and other armed conflicts. Suffice it to say that in Poland November 1918 is called the most beautiful November in Polish history,12 and 11 November is a holiday celebrating the restoration of independence after one hundred twenty-three years of national bondage. In the years between 1918 and 1939 the account of the Great War was inseparable from the narrative about the rebirth of the country and the legend of Piłsudski’s legions: 11 November, the day on which Piłsudski as head of the emerging state took over military power from the Regency Council, became the symbol of national “resurrection” and freedom. State institutions, including those of the education system, eagerly propa­ gated this narrative. Its influence can be clearly seen in the Polish-Jewish vernacular literature of the interwar years, such as in periodicals or occa­ sional newssheets edited by Jewish schoolchildren. A school chronicle cov­ ering the years between 1933 and 1939 and written by Jewish schoolgirls from Public Elementary School no. 15 on Miodowa Street in Cracow, for instance, includes a newssheet (jednodniówka) issued in 1934 on the National Independence Day. It contains not only occasional articles, but also poems praising 11 November as the holiday of freedom and Marshal Pił­ sudski as the restorer of the homeland.13 With the Second Polish Republic establishing its sovereignty, the political balance in Central and Eastern Europe was radically altered, as was the poli­ 11 Burek, Problemy wojny, rewolucji i niepodległości w zwierciadle prozy narracyjnej, 464. 12 Andrzej Romanowski, Przed złotym czasem. Szkice o poezji i pieśni patriotyczno-wojen­ nej lat 1908–1918 [Before the Golden Time. Sketches on the Patriotic and War-Themed Poetry and Song, 1908–1918], Kraków 1990, 327. 13 Kronika Szkolna uczennic żydowskich z lat 1933–1939 Miejskiej Szkoły Powszechnej nr. 15 im. Klementyny Tańskiej-Hoffmanowej przy ul. Miodowej w Krakowie [The School Chronicle of 1933–1939 by Jewish Girl Students of Klementyna Tańska-Hoffma­ nowa Public Primary School on Miodowa Street in Cracow], Kraków 2006, 75–78.

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tical status and situation of Poles and Jews. It was only then that Polish and Jewish experiences became increasingly divergent – not merely different, but contradictory – as events were observed through the eyes of an ethnic majority on the one hand, and a minority on the other, of a people building their own state and a people remaining stateless.

Wartime Literature and its Evolution: Polish-Jewish Poetry in the 1920s Between 1918 and 1939 Polish-Jewish literature about the Great War evolved “from journals of personal experience to the epic treatment of the subject.”14 In the early phase of wartime literature, documentary and chroni­ cle-like approaches prevailed, and the dominant genres were the reportage and the personal diary. The second phase saw the appearance of psychologi­ cal analyses, social panoramas as well as philosophical and historical com­ mentaries. A similar evolution can be observed in poetry. Polish literary scholars emphasize the value of wartime poetry as “a unique record of a historic moment” and a historical source.15 Noteworthy is the emergence of docu­ mentary-style writing in that period, such as the so-called documentary sol­ dier poetry. One example is the volume Pożar krwi (Blood on Fire), a poetic chronicle of fighting or a “lyrical journal from the trenches of the Great War” by Karol Rosenfeld.16 Rosenfeld was known before 1914 as the author of popular cabaret songs and monologues.17 The war, however, brought about his astonishing meta­ morphosis from a light-hearted servant of Melpomene, the Muse of Tragedy into a thoughtful bard of war, following the pattern described by Czesław 14 Burek, Problemy wojny, rewolucji i niepodległości w zwierciadle prozy narracyjnej, 461. About documentary tendencies see also Irena Maciejewska, Proza polska lat 1914–1918 wobec wojny światowej [Polish Prose on the World War, 1914–1918], in: Rewolucja i niepodległość. Z dziejów literatury polskiej lat 1905–1920 [Revolution and Indepen­ dence. On History of Polish Literature, 1905–1920], Kielce 1991, 161. 15 Romanowski, Przed złotym czasem, 6. 16 For a biographical note on Karol Rosenfeld see Eugenia Prokop-Janiec, Międzywojenna literatura polsko-żydowska jako zjawisko kulturowe i artystyczne [The Interwar PolishJewish Literature as a Cultural and Artistic Phenomenon], Kraków 1992, 314. 17 Władysław Prokesch mentions this in a sketch published in Nowa Reforma [New Reform]. Rosenfeld’s volume includes the collection of passages from the articles by lit­ erary critics. Z głosów prasy [From the Press], in: Karol Rosenfeld, W ciszy łez. Poezye golusu. Z portretem autora [In the Silence of Tears. The Poetry of Galuth. With the Author’s Portrait], Kraków 1920, 125–127, here 125.

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Miłosz in Traktat poetycki (A Treatise on Poetry): Many writers and artists of the early twentieth century completed their literary and artistic paths marching “in soldiers’ boots.”18 Rosenfeld’s volume was published in 1919. Well received in literary cir­ cles (praised by Stanisław Przybyszewski, one of the most eminent moder­ nist writers of the time), the collection comprises several cycles of poems in the style of a soldier’s diary or letters from the frontline. In the opening poem Motto (Motto), the author describes them as reports straight from the battlefield, “written on a soldier’s pack:” “From the trenches, where battles rage And Death stalks its prey, I’m sending you these paltry lines Written on a soldier’s pack. In the rumble of guns and the whistle of bullets, After a storm, with blood on fire, Among ruins that weep at night, I’m telling you about the war.”19

There are several reasons to consider this volume a valuable historical docu­ ment. Especially Rosenfeld’s descriptions of the preparations for the battles have the character of a first-hand journalistic report. Some of the texts are annotated by the author with information about the places where they were written. The inclusion of the names of cities and villages makes it possible to follow the combat trail of an officer in the Austrian army fighting against the Russians in Volhynia and Podolia in 1915/16. The poems form a tale that begins with the departure of the regiment from the barracks in Hungary and draws a vivid picture of the soldiers’ miserable life in the trenches, terrifying battles with the enemy, and the experiences of the wounded in the nearby field hospitals. Scenes of the horrors of the battlefield take turns with images of the army’s march through the villages of Volhynia and Podolia, campsite episodes as well as epitaphs and threnodies for fallen friends, brothers-inarms, unknown soldiers, or enemies. Rosenfeld consistently maintains the perspective of a participant in the events, a soldier of unknown nationality. It has been pointed out by some lit­ erary critics that his account equally reveals a supranational perspective of 18 Czesław Miłosz, Traktat poetycki [A Treatise on Poetry], in: idem, Wiersze [Poems], 2 vols., here vol. 2, Kraków 1984, 12. This pattern was noted and pointed out by contempor­ ary literary critics. See Z głosów prasy [From the Press], in: Rosenfeld, W ciszy łez, 126. 19 Karol Rosenfeld, Motto, in: idem, Pożar krwi. Poezye z okopów Wielkiej wojny. Z portre­ tem autora [Blood on Fire. Poetry from the Trenches of the Great War. With the Author’s Portrait], Kraków 1919, 7 f, here 7. The original poem rhymes in an abab pattern, and the rhyming lines have the same number of syllables.

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“a member of intelligentsia on a military campaign.”20 While Rosenfeld’s Jewish belonging had previously been reflected in the frequent usage of Jew­ ish motifs in his cabaret songs, the composition of Zionist poems W ciszy łez. Poezje golusu (In the Silence of Tears. The Poetry of Galuth), and the translation of Yiddish lyrics,21 in his poems “from the trenches of the Great War” he adopts the tone of national and religious non-attachment. His reli­ gious poems are universalistic in nature and free from any too specific theo­ logical themes or statements: “Our Father! […] I wish to pray to You this one more time, I’m calling You, I wish to talk to You! You, who kindles and extinguishes the light of day Hear me, my God!”22

Rosenfeld’s wartime poetry draws on many models and conventions of writ­ ing about war. On the one hand, Pożar krwi contains characteristics of the Polish war narrative described by the Polish literary scholar Maria Janion as “the lancer western.”23 Such a narrative is optimistic in tone and follows the “mythical” pattern of the struggle between good and evil. War is presented as an arena in which to demonstrate personal courage, participate in great adventures, and defend a supported system of values. Rosenfeld draws on this tradition by employing motifs derived from Polish lancer songs and the militant patriotic poetry of Polish Romanticism. The protagonist of his poems is a lancer, portrayed, in accord with the traditional conception, as “a sprightly lad to whom girls flock.”24 Rosenfeld also uses motifs typical of war-themed literature in general, such as the parting of a dying soldier with his horse or a horse mourning a killed horseman, and resorts to characteristic settings of “white manor houses” and peasants’ “whitewashed cottages.”25 Moreover, Rosenfeld᾿s poems refer to elements of Polish folklore: folk soldier songs (the motif of a young peasant saying goodbye to his native vil­ 20 Z głosów prasy, 127. 21 Rosenfeld’s Zionist poems were collected and published in the volume W ciszy łez. Poezye golusu. It comprises tributes to Theodor Herzl, tales of national resurrection, and visions of Eretz Israel, as well as the songs of Zionist students᾿ organizations. His translations from Yiddish include, among others, works by Yitshok Leybush Peretz, Shalom Ash, Morris Rosenfeld, and Abraham Reisen. 22 Karol Rosenfeld, Modlitwa przed szturmem [A Prayer before an Attack], in: idem, Pożar krwi, 36–38, here 36 f. The poem is modelled on the lyric Smutno mi Boże (How Sad I Am, My God) by Juliusz Słowacki, one of the eminent Polish Romantic poets. 23 Maria Janion, Płacz generała. Eseje o wojnie [The Crying of the General. Essays about War], Warsaw 1998, 33. 24 Ludwik Szczepański, cit. from Romanowski, Przed złotym czasem, 49. 25 See ibid., 53.

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lage when going to war), folk songs that mourn the fallen as well as lamenta­ tions of mothers and widows. Rosenfeld’s adherence to this tradition roots him firmly in Polish war poetry, in which, as pointed out by scholars, Romantic and folk poetry models play an important role.26 The volume also contains expressionistic, apocalyptic rhetoric: Warfare is interpreted on a cosmic and metaphysical level as a descent into hell, a triumph of Satan, who “has stolen the reins of power from the Eternal One.”27 Although drawing on various elements of Polish literary tradition, Rosen­ feld deliberately integrated his poetic wartime journal into the broader stream of European-Jewish lyric poetry dealing with the experience of the Great War. A separate section in the volume is devoted to translations of lyrics by the Austrian Zionist poet Hugo Zuckermann, killed in 1914 in the battle of Radymno in Eastern Lesser Poland. Rosenfeld also included trans­ lations of war lyrics from all over the world – from Germany to China – by such authors as Heinrich Lersch, Alfons Petzold, Shi King, and Li Tai Pe. In his poems, Rosenfeld juxtaposes contrasting moods: The joy of the troops marching out and the enthusiasm of the first days of war are intruded upon by the foreboding of death. In Wymarsz … (Marching Orders …),28 for example, a lancer’s dreams of adventurous exploits are overshadowed by the premonition of an unknown soldier’s forgotten grave; the lancer’s sense of duty is confused by his taedium belli. The ambivalence of wartime experi­ ence primarily manifests in the tension between the author’s horror at the inconceivable cruelty of warfare and the search for the meaning of war. But the images of frontline horrors, the terrifying scenes that unfold during and after the battle, and the omnipresence of death are brightened here and there by glimmers of hope to wrest the power from the hands of the tyrants, bring justice to the oppressed, and achieve future peace: “From tears on a smoking cornfield Where war is raging today Brotherhood shall rise from the dead And armed envy shall cease! On hatred’s tomb A column of Peace shall rise And the golden dream shall come true Of an eternal spring of nations!”29

26 Andrzej Romanowski notes that this poetry is also related to the songs of Polish gentry and to cabaret songs. See ibid., 8. 27 Karol Rosenfeld, Wojna, in: idem, Pożar krwi, 13. 28 Idem, Wymarsz … [Marching Orders …], in: idem, Pożar krwi, 16 f. 29 Karol Rosenfeld, O krwi żołnierska … [On a Soldier’s Blood …], in: idem, Pożar krwi, 14 f., here 15.

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“And may this give comfort: Thought it hurts so much, That young souls depart – Through soldiers’ blood and tears We’re marching into a future bright!”30

Overall, the experience of war recreated in Rosenfeld’s poetry conforms to the classic pattern of the dualism that has the fighters for the good cause bat­ tling the forces of evil. The soldiers, “through war, give death – to war,” and their sacrifice will not be in vain. Owing to its redeeming power, humanity will be restored and peace and brotherhood rebuilt on “the ruins of the world.”31 In addition to the poems from a field diary, Pożar krwi also includes pieces from a field cabaret. Several of those lyrics, which are composed in a stylized barracks slang characteristic of the Austrian army, were delivered as monologues on the stages of Galician cabarets and revue theaters.32 This slang is a unique combination of the dialect of the Polish Eastern Border­ lands, the lower-class dialect of Lvov (bałak) as well as German military terms and commands. The barracks are portrayed as a meeting place for peo­ ple of all nationalities and social strata of the multinational monarchy. These monologues are yet another example for how Rosenfeld sought to portray an authentic experience of war, which had already been characteristic of his wartime poetry.

Polish-Jewish Prose in the 1930s Nowhere else in Polish-Jewish literature became the Great War a topic as cen­ tral and frequently addressed as in the Polish-Jewish prose of the 1930s. This popularity of the war theme clearly coincided with the second wave of pacifist literature abroad, much of which was translated into Polish soon after – also by authors from the Polish-Jewish literary circles.33 One of the most active 30 Idem, Motto, 7–8, here 8. 31 Idem, Modlitwa przed szturmem, 37. 32 Idem, Piosenki kabaretowe. Strofki z za kulis uciesznej nadscenki [Cabaret Songs. Strophes from the Merry Backstage], Kraków 1919, 37. 33 About popularity of the war theme in Polish literature see Mirosław Lalak, Proza polska lat 1914–1936 wobec wojny i sposobów jej wyrażania [Polish Prose, 1914–1936. On the War and on the Ways of its Rendition], in: Włodzimierz Bolecki/Erazm Kuźma (eds.), Literatura wobec niewyrażalnego [Literature and the Question of Unexpressed], Warsaw 1998, 187–194; Maria Jolanta Olszewska/Jadwiga Zacharska (eds.), Literatura wobec I wojny światowej [Literature and World War I], Warsaw 2000.

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was Wanda Kragen,34 who translated, among others, Arnold Zweig’s novel Der Streit um den Sergeanten Grischa (The Case of Sergeant Grischa). Ten years later, in the late 1930s German-Jewish and Yiddish works on the Great War likewise received the attention of the Polish publishers.35 It is worth noting that the war theme appears both in prose with artistic or even experimental aspirations, and in popular novels serialized in the PolishJewish press. Characteristically, commentaries on these works place the greatest emphasis on the documentary value of the narrative. In advertise­ ments and notes, newspaper editors repeatedly assured their readers that the stories being presented are based on true events. For example, the novel Krwawe dni (The Bloody Days), written under the pen name of S. Wysocki, is advertised as “an historical document of recent years, based on true events, which narrates the struggle of people thrown into the whirlwind of war, occupation, large-scale post-war speculations. […] [It depicts] [a]ll the miseries of the [Jewish] population in Poland, from their suffering under the whips of Cossacks and Russian gendarmes to the persecution by German invaders.”36 It can be argued that the prose writers and their audience were absorbed not so much by the Great War in itself, as rather by the confluence of bloody events that put an end to the old era and inaugurated the new one in this part of Europe. These included the cataclysms of World War I, the Bolshevik Revolution, and the Polish-Soviet War from 1919/20 along with the antiJewish violence and persecution they entailed. It is therefore a series of events that destroyed the old order in Central and Eastern Europe in all aspects of political, social, and everyday life, according to these writers. A similar perception of the historical events is evident in the Yiddish novel of that time, for example in the works of Israel Joshua Singer, the elder of the Singer brothers. In his novel Di brider Ashkenasi (The Brothers Ashkenazi),

34 Wanda Kragen (1893–1982) was a translator, poet, prose writer, and a critic who pub­ lished in the Polish-language Jewish press. 35 For these publications see the novel by Henry William Katz, Strody nad rzeką Stryj … [Strody on the Stryj River], Warsaw 1938 (Germ.: Die Fischmanns, Amsterdam 1938; engl. The Fishmanns, New York 1938). See also the diary Kalmen Chaim Hajszryk, Gdy kule świszczą (pamiętnik z czasów wojny) [When Bullets Whistle (Wartime Memories)], Warsaw 1935. The volume by Hajszryk was reviewed by the Polish-Jewish poet Maurycy Szymel. See idem, Gdy kule świszczą [When Bullets Whistle], in: Nowy Dziennik [The New Daily] 218 (1935). On Katz’s novel see Edna Pedersen, Persecutions, Exile, and the Mental Ghetto in Henry William Katz’s Novel “Die Fischmanns,” in: Anne Fuchs/Florian Krobb (eds.), Ghetto Writing. Traditional and Eastern Jewry in German-Jewish Literature from Heine to Hilsenrath, Columbia, S. C., 1999, 156–170. 36 S. Wysocki, Krwawe dni [The Bloody Days], in: 5-ta Rano [Five in the Morning] 241 (1932) – 65 (1933), here 243 (1932).

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war, revolution, and the Polish-Soviet conflict irreversibly change the life of a Jewish family from Łódź, ending its era of prosperity and forcing its mem­ bers to take on new roles. The Polish-Jewish novel of the thirties mostly represents and comments on historical catastrophes from a local and civilian point of view. The plot usually focuses on the lives of ordinary people swept along by the tide of turbulent events, of which they unexpectedly become “witnesses, partici­ pants […], victims.”37 Thus, the developments in the great theatre of history are made part of the characters’ biographies. And from this individual, per­ sonal perspective, they appear to be a powerful elemental force in which it is futile to search for a pattern, meaning, or principle. Their destructive power reaches also the peripheral, provincial world and shatters the existing order. One example, which illustrates this interpretation of the events as cata­ clysms that destroyed the old world order and established the new one, is Emil Tenenbaum’s novel Tła … (Backgrounds …), published in the late 1930s. The author was a prose writer and dramatist active in the literary cir­ cles of Lvov and associated with the literary group Rybałci.38 According to the prose writer Lew Kaltenbergh, befriended with Tenenbaum at that time, the novel had two editions, the second of which was probably titled Burzliwy żywot Hersza Tortena (The Stormy Life of Hersh Torten).39 The story about Torten opens with a panorama of Jewish life in Eastern Galicia at the end of the nineteenth century. In the local towns, settlements, and inns, the traditional Jewish way of life continues, though slowly under­ mined by modernization. It is seamlessly interwoven with the order of the multiethnic world, which is based on the coexistence of differences. The local people – to quote the narrator – “daily assure one another: we are stran­ gers, let us respect this strangeness.”40 From today’s perspective, this novel can certainly be interpreted as a harbinger of the future myth of Galicia and the idealization of the Austro-Hungarian Monarchy. In the interwar period, however, it was seen above all as a manifestation of the Galician sense of

37 Jerzy Jedlicki, Usprawiedliwienie [Justification], in: idem, Źle urodzeni, czyli o doś­ wiadczeniu historycznym. Scripta i postscripta [Badly Born. On the Experience of His­ tory], London/Warsaw 1993, 6–8, here 6. 38 For a biographical note on Emil Tenenbaum (1897–1943) see Prokop-Janiec, Międzywo­ jenna literatura polsko-żydowska jako zjawisko kulturowe i artystyczne, 320. 39 This would suggest that the book enjoyed some local popularity. See Lew Kaltenbergh, Ułamki stłuczonego lustra. Dzieciństwo na kresach. Tamten Lwów [Fragments of a Bro­ ken Mirror. Childhood in the Polish Eastern Borderlands. The Then Lviv], Warsaw 1994, 134. Thus far I have been unable to find the second edition mentioned by Kaltenbergh. Its altered title is an obvious reference to Ilya Ehrenburg’s novel Burnaia zhizn’ Lazika Roitshvanetsa (The Stormy Life of Lasik Roitschwantz). 40 Emil Tenenbaum, Tła … [Backgrounds …], Lwów 1937, 5.

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identity, which was very strong at the time.41 The fall of the monarchy was regarded as the end of the existing world, ruined by a paroxysm of destruc­ tive forces and an explosion of insane hatred. Galician provinces, peaceful until then, were going to be ravaged by successive storms of the Great War, Polish-Soviet and Polish-Ukrainian conflicts, and bloody pogroms. “With­ out Austria […] the world is not going to calm down. She was perfectly structured.”42 – repeat the characters of the novel, looking back with nostal­ gia at the lost values of the old world. To refer to Nietzsche’s well-known typology and his reflections Vom Nut­ zen und Nachteil der Historie für das Leben (On the Uses and Disadvan­ tages of History for Life),43 Tenenbaum is not interested in monumental his­ tory – in its grand and extraordinary elements, in what inspires awe or admiration, in the actions of heroes and leaders. The author presents the war and all the subsequent bloody incidents from a provincial and local perspec­ tive, through their reverberations and repercussions observed in the town of Zbarazh near the Austrian-Russian border. The town was captured by suc­ cessive armies, it passed from one state to another, while the local Jews cooperated and negotiated in each case, entered into alliances, and came into conflicts with the men in charge. Triumphant national particularisms and nationalisms irreversibly destroyed the old balance of power. The struggle to create nation states inevitably led to conflicts over the demarcation of new borders and the partition of the old common, multinational territory. Poles and Ukrainians fought against each other, while Jews suffered from pogroms carried out not only by Russian forces, but also by the local population. In this world of belligerent nations, the Jews asked themselves the question about their own place in the unfolding European history. In Tenenbaum’s Galicia their responses to this question are different: some Jews fight in Pił­

41 For the discourse about a Galician sense of identity see Początek “krótkiego wieku.” Z Andrzejem Chwalbą rozmawiają Przemysław Stanisławski i Marcin Żyła [The Beginning of the “Short Century.” Przemysław Stanisławski and Marcin Żyła Interview Andrzej Chwalba], Znak [The Sign] 642 (2008), 26–38, here 36 f. For further information about the picture of Galicia in Polish-Jewish literature see Eugenia Prokop-Janiec, Literatura polsko-żydowska. Konteksty galicyjskie [Polish-Jewish Literature and its Galician Con­ texts], in: Urszula Jakubowska (ed.), Galicyjskie spotkania [Galician Encounters] 2008, Warsaw 2009, 23–34. On the distinctive traits of Jewish communities in Galicia see Ezra Mendelsohn, The Jews of East Central Europe between the World Wars, Bloomington, Ind., 1987; Joshua Shanes, Diaspora Nationalism and Jewish Identity in Habsburg Gali­ cia, New York 2012. 42 Tenenbaum, Tła …, 61. 43 Friedrich Nietzsche, Pożyteczność i szkodliwość historii dla życia [On the Uses and Dis­ advantages of History for Life], in: idem, Niewczesne rozważania [Untimely Meditations/ Unzeitgemäße Betrachtungen], trans. by Leopold Staff and with an afterword by Dawid Misztal, Kraków 2003, 63–122.

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sudski’s Polish Legions, others take the side of the Russian revolutionary utopia, still others think about the Jewish rights to national sovereignty in Palestine. One of the central events portrayed in the novel Tła … is a pogrom:44 an outburst of hatred and aggression towards the Jews in the new era of chaos. Tenenbaum describes the historical, ethnic, and religious background of the pogrom. He interprets its crimes as a consequence of the post-war and postrevolutionary turmoil, an effect of the growing political instability and con­ flicts that followed the collapse of the monarchy. The bloody incidents are triggered by a quarrel between women, an ordinary squabble at the town’s market, the likes of which often took place, also before the war. However, the configuration of power in the ethnic triangle of Jews, Ukrainians, and Poles has changed and, as conflicts become exacerbated, a trivial, private disagreement instantly snowballs into a dangerous ethnic clash: A Jewish woman is accused by a Ukrainian woman of favoring the Poles. As often before, the position of the Jews turns out to be fragile, making them a conve­ nient scapegoat when stronger communities fight one another. Their situa­ tion as easily victimized strangers is summed up by their neighbors as fol­ lows: “You are like stones by the roadside that do not belong to anyone. […] You are knocked and trodden upon. You have no relatives among us […].”45 The pogrom in Zbarazh broke out on the day Western Ukraine (RightBank Ukraine) was unified with Trans-Dnieper Ukraine (Left-Bank Ukraine). The jubilation and euphoria of the national holiday ended in pil­ lage and murder on the very same day. The Ukrainian soldiers, who had attended official military celebrations and a religious service, proceeded immediately afterwards to massacre those who, as it seemed to them, “smell of some sort of guilt”46 and whom they might now judge as they saw fit. The coincidence of festivities and crime, of excesses of rejoicing and excesses of murder, is a recurrent theme in the novel. One of the Polish witnesses to the pogrom “[s]ometimes had […] the impression as if some festivities were taking place in that impenetrable darkness. Occasional shots sounded like salutes fired by young people having fun. Even screams didn’t stir any emo­ tion […]. There was something lewd in those screams. As if they were feigned.”47 The depiction of the pogrom features quite prominently throughout Tenenbaum’s novel and is described from different and often opposing per­

44 Literary depictions of pogroms are analyzed by Joachim Beug, Pogroms in Literary Representation, in: Fuchs/Krobb (eds.), Ghetto Writing, 83–96. 45 Tenenbaum, Tła …, 86. 46 Ibid., 95. 47 Ibid., 98.

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spectives offered by his characters – the attackers, the victims, the wit­ nesses – as well as in a series of crowd scenes. The most important technique that Tenenbaum applies in his descriptions – the one that is also evident in the above quotation – is putting the emphasis on acoustic impressions. Many scenes are registered mainly as the sounds of blows, the screams of victims, and the shots of firearms. Both the Polish witnesses to the pogrom and the Jews in hiding hear them from a distance. One of the Jewish women for example “was sitting scared in the darkness, listening out for the screams growing louder every now and then, or the fading voices of people being beaten and robbed.”48 Thus, the picture of the pogrom in Tła … mainly consists of voices in the dark. In the gloom that envelops the town, one can hear “a loud shouting of men or screaming of women or a thud of a falling body,”49 “clatter and inces­ sant screaming.”50 As a matter of fact, the impulse to the massacre is also a voice, a cry. A seemingly “plaintive, feminine” cry uttered by a Ukrainian woman – “Zhidi shcho vi robite zi mnoyu …” (“Jews, what are you doing to me …”)51 – becomes a signal for the pogrom. Interpreted as a plea for help, as a sign that “the Jews are harming our folks,”52 the cry causes Ukrainian soldiers to rush to the rescue of the woman and to beat the Jews, as “the heat radiating from the human mass must result in a fire.”53 Generally, Tenenbaum’s representation of the pogrom does not depart from the classic literary model in Jewish literatures:54 He introduces pictures of violence, destruction, rape and juxtaposes crowd scenes with the story­ lines of individual characters. The course of events fits the typical historical and literary pattern: The slaughter, initially regarded as an incident “impro­ vised by the Ukrainians,”55 is later discovered to have been plotted by a Cos­ sack ataman, who bribed a poverty-stricken woman to falsely accuse the Jews of having assaulted her. In focusing on the story of a Galician town and on disasters that befall it as a result of war, revolution, and the Polish-Ukrainian conflict, Tenen­ baum’s narrative resembles to some extent the stories about “the ruins of

48 Ibid., 102. 49 Ibid., 94. 50 Ibid., 98. There are many more examples of such descriptions: “Something is happening in the town […]. First of all, his ears ache from the clatter […] the constant banging of rifle butts and bars against wooden gates and iron blinds.” (Ibid., 97) “Suddenly he heard shots, and at some point along the way he recognized a scream […].” (Ibid., 103). 51 Ibid., 89. 52 Ibid., 91. 53 Ibid. 54 Beug, Pogroms in Literary Representation. 55 Tenenbaum, Tła …, 89.

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Galicia,” the foremost example of which, in Yiddish literature, is S. An-sky’s report. The journal of his travels in Galicia and Bukovina comprises lists of dangers, damage, persecutions, and pogroms that afflicted the Jewish towns of these regions and their inhabitants during the war.56 A different perspective on the Great War is adopted by the Polish-Jewish popular novel. One of its main structural principles is to combine local ele­ ments with European or global ones. By presenting events occurring on var­ ious local and supra-regional levels, by interweaving the images of Jewish life with scenes from the lives of European politicians, military leaders or international spies, the authors endeavor to provide their readers with both thrills and historical knowledge. This is because the popular novel makes promises not only to record the local Jewish experience of history and to provide formulas for its understanding, but also to initiate the readers into the exciting sphere of world politics and lead them behind the scenes of the great theater of history. Beyond the stage, individuals wrestle for power and influence, resorting to various plots and intrigues. Hence it is easy to present events in a sensationalized form as spy scandals or criminal acts. Essentially, the Polish-Jewish popular novel seems to oscillate between Nietzsche’s concept of monumental, antiquarian, and critical history.57 It depicts both the extraordinary and the mundane elements of events, those that inspire admiration, those that attract affection, and finally those that cause suffering. It also shows various attitudes towards history: activity and passivity, detachment and involvement, deliberate causation of events and submission to them. Passing from the broad historical perspective to the events on the local level is one of the methods of introducing various threads of modern Eur­ opean and Jewish history, and of indicating relationships between them. The rhythm of political developments on the main European stage determines all local rhythms. In such novels as Pogrom, Krwawe dni (The Bloody Days), Rywalki (Rivals) or Krzywda (Injustice), printed serialized in the sensational daily 5-ta Rano (Five in the Morning),58 the authors invariably begin the nar­ rative with the ending of the old world and the beginning of the new one. Artur Bregweis’ novel Krzywda, for instance, begins as follows:

56 In S. An-sky’s report, pogroms inaugurate and conclude the Russian occupation of Gali­ cia. What makes An-sky radically different from Tenenbaum, however, is the choice of the ethnic allies. The Poles are, above all, the ones whom An-sky accuses of anti-Semit­ ism and anti-Semitic propaganda. See idem, Tragedia Żydów galicyjskich w czasie I wojny światowej, 42–53. 57 Nietzsche, Pożyteczność i szkodliwość historii dla życia, 63–122. 58 The authors of the novels published in this newspaper wrote under pen names. Most of them were probably journalists with some literary aptitude.

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“It was the late spring of 1914 – the last spring of the world that collapsed into nothing­ ness. There was no indication of the destructive typhoon that was about to blow tsarism off the face of the earth and turn vast territories […] into a land of famine. […] The world seemed to stand on granite foundations. Nobody expected that the hard crust of the earth would suddenly crack, and everything would collapse, so that new life might spring up on the ruins.”59

While in Klinger’s Rywalki the narrator introduces the story by reminiscing, “The year 1914. It was the close of an era. The years of peace and plenty ended without a warning – apparently forever […]. The world burst into flames.”60 This pattern of a story unfolding on the verge of a new era also recurs in narratives relating to the Bolshevik Revolution, presented in the following example from Wysocki’s Pogrom as the disintegration of a huge empire and its political repercussions: “The revolution in Russia was unfolding at a frightening rate. New states were emerging from the chaos […].”61 Another typical function that groundbreaking historical events have in the popular novel is that of a major driving force of the melodramatic plot: War and revolution lead to the separation of lovers or the break-up of families; young men are killed on the front and mourned by their fiancées; children are lost in the chaos of wartime evacuation with their mothers desperately searching for them, and exposing themselves to danger in the process; whole towns are destroyed by the war and deserted by their inhabitants, seeking shelter in the large cities, such as Warsaw. S. Wysocki’s novel Pogrom is a perfect example of this model of narrative about war, revolution, and pogroms as a series of events that destroy Jewish life in Eastern Europe. In his work, the war mobilization marks the beginning of the catastrophe: “In July 1914, when the fields of Ukraine were golden with lush wheat, promising a rich harvest, nobody expected that they were about to hear the death sentence encapsu­ lated in a single word: mobilization. Mobilization! And the best were sent to the battle­ field. The peasant was torn away from the soil and sent to the front. Husbands were torn away from their wives, sons from their mothers, children from their fathers, and sent to the front. Peaceful men were torn away from their joys and cares, and sent to the front.”62

Mobilization is also the beginning of misfortunes for the Mirowskis, a Jew­ ish family from Proskurov (Khmelnytskyi, Ukraine) in Podolia. Drafted into the tsarist army, the husband is sent to the Russian-German front. His wife is

59 Artur Bregweis, Krzywda [Injustice], in: 5-ta Rano 282 (1934) – 64 (1935), here 282 (1934). 60 Jerzy Klinger, Rywalki [Rivals], in: ibid. 269 (1933) – 94 (1934), here 269 (1933). 61 S. Wysocki, Pogrom [Pogrom], in: ibid. 1–135 (1931), here 27 (1931). 62 Ibid. 1 (1931).

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falsely accused of espionage and imprisoned by the Russians, but miracu­ lously escapes the death sentence. Their little daughter, separated from her relatives during a pogrom, joins thousands of orphaned Jewish children. Pogrom follows the fighting on the front through the story of a group of Jewish conscripts in the Russian army. For them, the experience of war has an important moral and psychological dimension. As they fight in the trenches, and later, during one of the battles in Prussia, charge the enemy with bayonets, they are troubled by the thought that “[i]n the face of death, they must kill themselves, they are to become murderers shortly before their own demise. Those were flashes of human honesty, drowned out by the enemy onslaught. Fear and the need to defend one’s life, hatred of bloodshed and the discipline of the multitude, the mechanization of human will and the last farewell to this world – all these factors collided with each other.”63

In their hearts the existential fear of death mixes with the moral revulsion at taking lives, the dread of becoming a victim with that of becoming a mur­ derer. Wysocki emphasizes the solidarity of Jewish soldiers and points to religion as the most important bond between them: “And all the Jews in this rank charged forward with the fierce cry Shema Yisrael! invoking God’s grace.”64 It is the religious sense of moral responsibility for the evil com­ mitted during the war that makes it impossible for some of them to return to normal life after all the atrocities and crimes of the front. S. Wysocki does not shun macabre imagery of war. A scene that is most likely to move today’s readers – also because it can be interpreted retrospec­ tively as a foreshadowing of the scenes of the Holocaust – is one in which the protagonist survives under a heap of corpses and crawls out of a soldiers’ mass grave. Having escaped death, shielded by the bodies of his dead com­ rades, wounded Mordechaj Mirowski manages at the last moment to avoid being buried alive. As a “corpse that has come back to life,” he causes a panic of superstitious fear among the people about to close his grave. As a result of his traumatic experiences, the survivor suffers a complete loss of memory. The man who literally “rose from the dead,” who miraculously dragged himself out of a mass grave, does not want to remember anything related to that experience: “When they tried to remind him that he came from Russia and had been buried alive, he absolutely denied it […].”65 Mor­ dechaj spends the subsequent post-war years in German hospitals, but his case baffles the doctors: “[T]he man without memory” remains silent about his wartime experiences and denies all accounts of them. The narrator calls

63 Ibid. 31 (1931). 64 Ibid. 31 (1931). 65 Ibid. 37 (1931).

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him “mad” and regards his madness as a result of his having been “destined for death,” the stigma that separates him from the living. Analyzing various real-life cases of “rising from the grave” – not only during the Holocaust – Jacek Leociak describes the trauma experienced by survivors of burial pits as “the trauma of resurrection”66 and argues that remaining silent is one of typical behaviors of such people. In Wysocki’s novel, the style of war scenes, the nightmare of frontline massacre, is paralleled by the style of pogrom scenes, the images of defense­ less Jews being slaughtered. In revolutionary Russia, particularly brutal antiJewish riots took place in Ukraine. “Ukraine defiled, dishonored! Ungrateful and monstrous!” – as the author describes it – is running with “rivers of innocent blood,” reverberates with “the cries of infants impaled on pikes, with desperate screams of ravished wives and mothers calling out for help.”67 In this perspective, frontline experiences of Jewish soldiers and the pogrom as a traumatic event for the civilian population combine in a series scenes of dreadful savagery and suffering. In the novels mentioned so far, the fate of the Jewish community is, above all, the sum of individual experiences of heroes. Jewish characters are sucked into the maelstrom of war and revolution. They fight as soldiers in the Great War, die in battles, are taken prisoners or are deported from towns in frontline areas. Some fall victim to pogroms, become war refugees or hos­ tages of successive occupation authorities. Some are imprisoned or sent to Siberia. The Polish-Jewish popular novel also poses the question about the histori­ cal fate of the Jews as a people. The communal perspective is adopted, among others, in commentaries presenting the broader context of events: “It was a sad year in the history of Polish Jewry. Sad and woeful! Polish Jewry homeless!”68 This sorrowful conclusion precedes a description of a deporta­ tion of the inhabitants from a Jewish town in Wysocki’s novel Pogrom. War­ time vicissitudes of Jewish towns in Congress Poland and Ukraine are cer­ tainly an important theme in the Polish-Jewish popular novel. Wysocki’s Krwawe dni as well, tells the story of a shtetl near Warsaw, whose inhabi­ tants are deported “to wander through foreign lands as miserable exiles.”69 After this “new exile of Jews,” as it is called by the local rabbi, all that remains is “[t]he town without people, without Jews – a cemetery.”70 As the 66 Jacek Leociak, Doświadczenie graniczne. Studia o dwudziestowiecznych formach repre­ zentacji [Liminal Experience. Studies of Twentieth Century Forms of Representation], Warsaw 2009, 334. 67 Wysocki, Pogrom, in: 5-ta Rano 43 (1931). 68 Ibid. 27 (1931). 69 Idem, Krwawe dni, in: ibid. 243 (1932). 70 Ibid.

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inhabitants return after the war, the town will gradually spring back to life. In contrast, the town of Proskurov, described in Pogrom, will never recover from the bloodbath that occurred there, and a handful of its surviving inhabitants will disperse all over Europe and the United States – from Paris to New York. Introducing Jews into the scene of the historical events of the Great War, the Bolshevik Revolution, post-revolutionary chaos and pogroms, the Pol­ ish-Jewish popular novel portrays them mainly as a defenseless group suf­ fering from violence and persecution. Dramatic scenes of death on the front­ line, pogroms, wartime exile and wanderings merge into a pattern of martyrdom. The resulting narrative corresponds to the idea of galuth as a story of unceasing suffering. Such notions as “the Gehenna of the ghetto” or “an ocean of tears” are among the most common and crucial interpretations of the Diaspora in interwar Polish-Jewish literature. They echoed the inter­ pretations of Jewish history offered by historians. Heinrich Graetz consid­ ered the galuth an era of “unprecedented suffering, of uninterrupted martyr­ dom without parallel in world history. […] The external history of this era is a Leidensgeschichte, a history of suffering, to a degree and over the length of time such as no other people has experienced.”71 In the Polish-Jewish poetry the ages of Diaspora are called “[t]he steps dripping with blood.”72 The Jews are perceived as the nation predestined to suffer: “God of my fathers, tormented, and maltreated, […] God of chosen people that take upon themselves the passion of the whole world, […] and are present everywhere in suffering”73

71 Quoted by Moshe Rosman, How Jewish is Jewish History? The Litman Library of Jewish Civilization, Oxford et al., 2007, 38. 72 Roman Brandstaetter, Mesjasz [Messiah], in: Królestwo trzeciej świątyni [The Kingdom of the Third Temple], Warsaw 1934, 33 f., here 33. 73 Jakub Lewittes, Modlitwa [A Prayer], in: Eugenia Prokop-Janiec (ed.), Międzywojenna poezja polsko-żydowska [Interwar Polish-Jewish Poetry], Kraków 1996, 231–233, here 231.

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“An Echo Turned into a Portent.” Polish-Jewish Journalism of the Late 1930s Kazimierz Wyka, an eminent critic and historian of Polish literature, de­ scribed the importance of World War I to the emergence of apocalyptic sen­ timents, which intensified in the 1930s, with the formula “an echo turned into a portent”.74 This formula also aptly conveys the pattern of thinking that appears in the Polish-Jewish literature of the late interwar period. Reminders of the Great War – interwoven with predictions and premonitions of a new war – are particularly frequent in Polish-Jewish journalism, especially in po­ litical feuilletons. These themes became increasingly frequent after the mid-1930s. They appeared in the historic context of events both on the broader European scene and on the local, Polish level: the threat posed by Germany and the worsening Polish-Jewish relations after Piłsudski’s death. Two important points of reference were the twentieth anniversaries of the outbreak of the Great War and of its end, which stimulated reminiscences, comparisons, assessments of the present, and predictions for the future. Commenting on the popularity of German historian and philosopher Oswald Spengler, the critic and journalist Mojżesz Kanfer writes in the Cra­ cow newspaper Nowy Dziennik (The New Daily) about an “eschatological feeling” in the Polish Republic, fuelled by wartime experiences and charac­ teristic of the twentieth century: “During and after the war, one had that feel­ ing that the old world was falling apart, that the old culture was being crushed under the rubble.”75 He ascribes this phenomenon to the crisis of the liberal, enlightened world-view, to the fact that the faith in progress and the beneficial modern order had been shaken. Before 1914, “[o]ne believed in the idea of progress, which would eventually turn the earth into a paradise.”76 Until wartime, “[e]verything was so solid, so certain, that nobody even dreamed that all this solidity and stability would explode, fall victim to chaos.”77 In the late 1930s, Polish-Jewish writers were increasingly concerned about the possibility of a new Sarajevo, and the specter of August 1914 returned as a cautionary memento in August 1939. “As in 1914! The volcano in Central Europe is beginning to smoke; ever thicker clouds are rising from 74 Kazimierz Wyka, Ogrody lunatyczne i ogrody pasterskie [Somnambulistic and Pastoral Gardens], in: idem, Rzecz wyobraźni [A Matter of Imagination], Warsaw 1977, 265–290, here 275. 75 M. K. [Mojżesz Kanfer], Oswald Spengler, in: Nowy Dziennik 131 (1936). 76 Idem, Wzruszająca książka o dzieciach niemieckich [A Moving Book about German Children], in: Nasz Przegląd [Our Review] 71 (1939). 77 Idem, Pożegnanie z młodością [Farewell to Youth], in: Nowy Dziennik 14 (1939).

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the crater; the first subterranean rumblings herald the impending disaster […]. Where is the new Sarajevo?”78 – asked the Polish-Jewish poet and jour­ nalist Roman Brandstaetter, evaluating the situation in Germany. Brandstaet­ ter combined political assessment with an ideological exposé and criticism of European culture, in which former militarism and contemporary fascism seemed to spring from the same source. A common response to the appalling developments in Europe was antimilitarism, anti-fascism, and pacifism. The authors cited here belong to different generations: Kanfer, born in 1880 in Buchach (the home town of Emanuel Ringelblum and Shmuel Yosef Agnon), served during the war as an officer in the Austrian army. For Brand­ staetter, born in 1906, the war was a childhood recollection.79 Both, however, focused on the impact of the wartime experience on their comprehensive world view: it became a cause for the criticism of culture and pessimism about civilization as well as an inspiration for apocalyptic visions. Tenenbaum’s novel Tła … is sometimes interpreted as evidence of apoca­ lyptic sentiments. According to Lew Kaltenbergh, today’s readers of this novel are “amazed at […] the anticipation of tragic Jewish fate, at the pre­ monition of doom hanging over the characteristic landscape of small Gali­ cian towns.”80

Conclusion As this essay illustrated, interwar Polish-Jewish literature renders the experi­ ence of the Great War from the perspectives of both soldiers and civilians, and records it in works representing various genres. The seminal experience that the war constituted for Jewish communities is often considered in the context of the modern history of Europe as well as the common Jewish his­ 78 Roman Brandstaetter, Ludzie i zdarzenia. Gdzie leży Sarajewo? [People and Events. Where is Sarajevo?], in: 5-ta Rano 283 (1935). 79 Brandstaetter’s contemporary, the poet Jan Śpiewak, whose family fled to Poland from Russia, plunged into revolutionary turmoil, points to another aspect of wartime experi­ ence: “We have survived the war, which incinerated or severely scorched our homes. If it had not been for the war, our lives would have been totally different – it is impossible to tell whether they would have been better or more interesting, but they would certainly have been more peaceful. My life changed completely, everything changed, nothing was like it used to be before or in my childhood.” Idem, Przyjaźnie i animozje [Friendships and Animosities], Warsaw 1965, 140. 80 Kaltenbergh, Ułamki stłuczonego lustra, 134. In his memoirs, Kaltenbergh attests to the pessimistic outlook of Tenenbaum, who, when talking to his friends, “shared […] his cata­ strophist thoughts and uttered apocalyptic prophecies about the nearest future.” (Ibid., 143).

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tory, understood as a tale of suffering and persecution. In this sense it is a modern variant of the fundamental narrative about the fate of the Jews in the Diaspora. As a sensation, a trial, a form of knowledge,81 the experience of the Great War was above all a confrontation with hatred and cruelty, with the human capacity for savagery and crime. Not only from the European, but also from the Jewish perspective, the Great War was the end of one era and the beginning of another,82 the twilight of the old and the dawn of the new world. Another distinguishing characteristic of these literary records is their local perspective. Polish-Jewish war stories are stories from Galicia, Congress Poland, Volhynia and Podolia; they are stories from the peripheries of Europe and stories of a small European nation. Translated from Polish by Grzegorz Dąbkowski

81 The semantics of the term doświadczenie [experience] in the Polish language has been analyzed by Ryszard Nycz, Trzy glosy o nowoczesności, doświadczeniu i literaturze [Three Comments on Modernity, Experience, and Literature], in: idem, Poetyka doś­ wiadczenia. Teoria – nowoczesność – literatura [Poetics of Experience. Theory – Moder­ nity – Literature], Warsaw 2012, 229–260. 82 Questions about the significance of World War I for the twilight of Europe and the dawn of Europe are also raised by historians today. See the monographic issue of the Catholic monthly Znak: I wojna światowa. Koniec czy początek Europy? [World War I. The End or the Beginning of Europe?], November 2008.

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Borderlands – Joseph Roth’s Dystopian Imagination In August 1917, Joseph Roth found himself at Field Post 632 at the Eastern Front in Galicia. The previous year, in a rare moment of enthusiasm, he had enlisted together with his childhood friend, the Polish writer and poet Józef Wittlin. There, in the summer heat, he wrote to his cousin Paula Grübel in Lemberg: “I am currently in some Augean shtetl in East Galicia. Gray filth, harbouring one or two Jewish businesses. Everything’s awash when it rains, and when the sun comes out everything starts to stink. But the location has one great advantage: it’s about [ten kilometers] behind the lines. Reserve encampment.” With no material means or reputation to his name, Roth reas­ sured himself: “But for the likes of me that doesn’t really matter. The main thing is experience, intensity of feeling, tunnelling into events. I have experi­ enced frightful moments of grim beauty. Little opportunity for active crea­ tion, aside from a couple of lyric poems, which were more out of passive sensation anyway.”1 This full immersion into the realities of everyday life would continue to characterize Roth’s approach to fiction; with the important difference, of course, that from the postwar years onward, Roth dedicated himself to his writing career with a fervor and discipline that had been lacking during his time at the front. In the summer of 1917, Joseph Roth was twenty-two years old. Born on 2 September 1894 in the small town of Brody, East Galicia, he would soon turn twenty-three. His studies in German literature and philosophy at the University of Vienna had been interrupted by the outbreak of World War I, and he would not return. While the immediate effects of the war threw Roth into a state of inner turmoil that found expression in a great outpouring of journalism and, after a few short years, his first novels; later in life, the memory of the war transformed itself into something rather more distinct and lasting. In fact, it resurfaced in his mind as the greatest catastrophe of

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Joseph Roth, in a letter to Paula Grübel from Field Post 632, 24 August 1917. For Roth’s correspondence, see both the original German publication from 1979 (currently out of print) and the recent English translation from 2012. In using these sources, I give refer­ ence to both editions. Joseph Roth, Briefe 1911–1939, ed. by Hermann Kesten, Cologne 1979, 35 f.; idem, A Life in Letters, trans. and ed. by Michael Hofmann, London/New York 2012, 14 f. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 215–236.

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his life. In a letter from 1932, Roth identified World War I and the collapse of the Dual Monarchy of Austria-Hungary as “the most powerful experience of my life.” It resulted, he said, not without pathos, in “the end of my father­ land, the only one I have ever had.”2 Looking back from the end of Roth’s life, in the spring of 1939, it could convincingly be argued that World War I, or, more precisely, the world that was rebuilt from its ashes, had used him up. Yet in its immediate aftermath, the notion of a collapsed or mourned fatherland became vitally important. It was complicated by the fact that it came into being only after the actual homeland itself had been lost. To be precise, Roth’s formulations, literary and private, about the subject of belonging began to take shape at the very moment the Austro-Hungarian monarchy ceased to exist. Thus, they were premised on the experience of loss, which, as will be elaborated upon in more detail below, is a notion central both to the modern condition as such and to present-day theories on historical writing. In Roth’s literary universe, this notion of loss functions as a myth of origin, a frame prior to the frame that envelops the narrative itself as well as the literary world of which it is a part. In other words, it frames both the story itself as it unfolds on the level of plot and profluence, and the meta-level of “truth” as it is established through Roth’s approach to fiction, taking loss as a main concept. As this essay will argue, Roth’s early fiction is built upon the recognition of an insurmountable break between the past – which is recognizably and con­ sciously out of reach –, the present and the future. This idea takes on mean­ ing by the formulation of a sense of nostalgia that demands to be sustained in order for the existential logic of Roth’s fiction as such to function.3 The war had a second lasting influence on the young Roth. It presented him with an historical vehicle for his strong predilection for self-narration – the urge to reinvent both his persona and his past, something biographer David Bronsen has called “mythomania.”4 Especially during the 1930s, 2

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Original text: “Mein stärkstes Erlebnis war der Krieg und der Untergang meines Vaterlan­ des, des einzigen, das ich je besessen: der österreichisch-ungarischen Monarchie. Auch heute noch bin ich durchaus patriotischer Österreicher und liebe den Rest meiner Heimat, wie eine Art Reliquie.” Roth, in a letter to Otto Forst-Battaglia, 28 October 1932 (trans. by Ilse Lazaroms). Idem, Briefe 1911–1939, 239 f.; idem, A Life in Letters, 220 f. It is important to note that these lines were part of a fictionalized autobiography that Roth sent to Forst-Battaglia, which included multiple fabrications, such as the fact that Roth was made lieutenant during the war, that he spent six months as a prisoner of war in Russia, and that he was swept up by the revolution. For a seminal work on nostalgia as an historical emotion, see Svetlana Boym, The Future of Nostalgia, New York 2001. See also Natasha Gordinsky, Time Gap. Nostalgic Mode in Hebrew Modernism, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 11 (2012), 443–464. See David Bronsen, Joseph Roth. Eine Biographie, Cologne 1974. “I was made lieutenant

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Roth’s presentation of self, complete with monocle and hand kissing remi­ niscent of turn-of-the-century aristocratic Vienna, developed into a kind of performance of displacement – between the lost worlds of Austro-Hungary and fascist interwar Europe – that hovered between sentimentality and brilli­ ance, self-pity and grandeur. This was so, because Roth’s self-invention was not without irony, nor was it entirely self-contained. It gave expression to a larger worldview that saw World War I and its catastrophic aftermath – to which his entire œuvre can be read as a magnificent testimony – as part of a longer, cyclical history, a repetition of catastrophic events.5 Soon after the war had ended, Roth began to identify those elements of unrest that would ultimately lead to World War II. Indeed, it took only two short decades before Europe launched itself into another world war, this time destroying the Jewish life-worlds of East-Central Europe forever. But by that time, Joseph Roth had died. Upon hearing the news of Ernst Toller’s suicide in the Mayflower Hotel in New York, a weak and alcoholic Roth collapsed in Café Le Tournon in Paris, where he passed away some days later, on 27 May 1939, in a hospital for the poor. In 1918, when Roth began his career as a journalist in Vienna and later in Berlin, he confronted the postwar chaos he witnessed with a life lived on the tip of his pen. Read as a trilogy, his early novels – The Spider’s Web,6 Hotel Savoy, and Rebellion, which are at the center of this essay – form an impor­ tant literary station in his lifelong examination of the connection between nostalgia and the modern condition, between what the war had destroyed and what it ultimately created. Thus, the question must be asked: in the dia­ lectic between the experiences of World War I and the modern literary ima­ gination, how does nostalgia, as an historical emotion centered on the experience of loss and modernity, differ – when formulated at the actual his­ torical moment of dislocation and recognition of rupture (or its immediate aftermath) – from later, retrospective reflections about the same rupture?

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and decorated with the Silver Cross, the Merit Cross, and the Karl Thuppen Cross,” Roth wrote to Otto Forst-Battaglia on 28 October 1932. And on 16 February 1934, he wrote to his translator Blanche Gidon, “1917 promoted to second lieutenant, 2 months in Russian detention.” (This letter was originally written in French; trans. by Michael Hofmann). Idem, Briefe 1911–1939, 239 f., and 313 f.; idem, A Life in Letters, 220 f., and 309 f. For the notion of cyclical history and history as catastrophe, see Wolfgang Iser, German Jewish Writers during the Decline of the Hapsburg Monarchy. Assessing the Assessment of Gershon Shaked, in: Emily Miller Budick (ed.), Ideology and Jewish Identity in Israeli and American Literature, Albany, N. Y., 2001, 259–273, here 266; David G. Roskies, Against the Apocalypse. Responses to Catastrophe in Modern Jewish Culture, Cam­ bridge, Mass., 1984. Joseph Roth, The Spider’s Web, trans. by John Hoare, Woodstock, N. Y., 1989 (original edition publ. 1923) (henceforth SpW). The novel was originally published in installments in Arbeiter-Zeitung.

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Approached in this manner, the early novels are an amalgamated vision of the consequences of the war for the future of Europe, a future even more threatening than the chaotic postwar present Roth addressed in his writing. In this postwar world, Roth’s experiences at the front are never far below the surface. From the press encampment in 1917, he had written to his sec­ ond cousin Resia, Paula’s sister: “What do we know about life? This cruel war has stifled our youth.”7 Later, he wrote about these years: “For this is war. We know it is, we, the sworn experts in battlefields straightaway sensed that we have come home from a small battlefield to a great one.”8 Neither Roth nor his protagonists had much experience with military combat; this claim, albeit out of character, may have however referred to more “existen­ tial” battlefields – the memories of World War I and the realities of postwar life had forever colored his pen and altered his heart.

At the Gates of Europe When the young Roth returned from the Eastern Front, he was met by scenes of great poverty and disarray. Inflation skyrocketed and monetary value plummeted. So did the value of life: countless homeless and crippled now populated the streets of Vienna. Most of the year 1919 Roth spent writing for the progressive Viennese newspaper Der Neue Tag until it folded. Faced with unemployment, he continued the westward journey that had begun in 1914, when he left his mother’s house in Brody (present-day Ukraine), briefly spent some time with his family in Lwów, and then moved to Vienna to study. Roth arrived in Berlin in June 1920. There, he was hired by the Frankfur­ ter Zeitung and quickly became its star journalist.9 He immersed himself, as he had done during the war, in the realities of life. Unemployment, inflation, political violence, and anti-Semitism were matters of daily concern in the early years of the Weimar Republic. When Roth arrived in Berlin, moder­ 7

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Roth, in a letter to Resia Grübel from Field Post 632, 24 August 1917 (trans. by Ilse Lazaroms). Idem, Briefe 1911–1939, 34 f. This letter is not included in idem, A Life in Letters. Cit. from Joseph Roth, Rebellion, trans. by Michael Hofmann, New York 1999 (original edition publ. 1924), here from Hofmann, Introduction, viii. Roth was clear about his journalistic mission. “I do not create ‘funny anecdotes,’” he wrote to his editor Benno Reifenberg in a dispute with the newspaper in 1926. “I paint the face of the times. That is the duty of a great newspaper. I am a journalist, not a reporter; I am a novelist, not a writer of leading articles.” Roth, in a letter to Benno Reifenberg, 22 April 1926 (trans. by Ilse Lazaroms). Idem, Briefe 1911–1939, 88; idem, A Life in Letters, 78.

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nity – the rapidly changing urban landscape, the sprawling new means of transportation, the burgeoning entertainment industry, and the cinema – was in full swing. In the Weimar capital, where politics was a daily source of anxiety, ridicule, and even amusement, war-disabled could be seen begging on the pavements as pitiful reminders of the catastrophe many people wished to forget. Roth, as he began writing for newspapers such as Neue Berliner Zeitung, Berliner Tageblatt, and Berliner Börsen-Courier with the same enthusiasm as he had done in Vienna, took the perspective of those who had suffered the most from what he believed was the violent onset of modernity. In his journalism, Roth rescued from the rubble of war the voices of its for­ gotten victims: the refugees from the East in the Jewish Quarter in and around the Hirtenstraße, the homeless, the poor, and the city’s thousands of “unnamed dead.” He visited the Rathenau Museum and mourned the “thou­ sandfold murder, not to be forgotten or avenged,” of Weimar’s foreign min­ ister Walther Rathenau, who was killed by ultra-nationalists on the street on 24 June 1922.10 By then, it seemed, the war, in the words of the narrator of Rebellion, was in the “dim and distant past.” But this was deceptive. Instead, the Great War had morphed into another, new war, raging behind the façade of urban life. What emerged from the ruins of World War I was not just a broken man­ hood, a generation of men (in the context of Roth’s fiction) irrevocably cut off from the world of their fathers. The sense of shock that resulted from four years of war also led to a radicalization of the “modern,” catapulting it into a weltanschauung proper. Roth, for whom the early postwar years coin­ cided with his formative years as a novelist, decided to concentrate not only on his own losses, but also on those of his generation, Jewish and non-Jew­ ish. Almost all his characters inhabit, and to some extent even embody, the insecurities of a society in which the existential pillars of the prewar world – God, the Emperor, and generational continuity – have vanished. They all struggle to find a means of survival in a world that has been plunged into darkness. The war-disabled populate Roth’s early fiction: 10 Joseph Roth, A Visit to the Rathenau Museum, in: Frankfurter Zeitung, 24 June 1924. Reprinted in idem, What I Saw. Reports from Berlin, 1920–1933, trans. by Michael Hof­ mann, London 2003, 183–187, here 187. See also Shulamit Volkov, Walther Rathenau. The Life of Weimar’s Fallen Statesman, New Haven, Conn., 2012. In his postwar journal­ ism, Roth identified with the “minor characters” of history, those crushed by the great events of the twentieth century. Until 1925, when he immigrated to France, Roth focused on the marginalized of Berlin society. We find him, for instance, inside a homeless shelter housing thousands of people: “History has performed a somersault, and a lieutenant colo­ nel winds up in the shelter for homeless people.” They have become “resident homeless […] and they are at home – in their homelessness.” Joseph Roth, With the Homeless, in: Neue Berliner Zeitung – 12-Uhr-Blatt, 23 September 1920. Reprinted in idem, What I Saw, 63–68.

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“They were blind or halt. They limped. They had shattered spines. […] They had for­ gotten about squad drill, about the Sergeant Major, the Captain, the Company, the Cha­ plain, the Emperor’s birthday, the parade, the trenches, going over the top. They had made their own individual peace with the enemy. Now they were readying themselves for the next war: against pain, against artificial limbs, against crippledom, against hunchbacks, against sleepless nights, and against the healthy and the hale.”11

In these early novels, there are in fact two wars: the Great War that had torn asunder the continent, and the one within the “sickly peacetime society”12 of postwar Europe, a reality characterized by injustices of possibly even greater magnitude than those that preceded them. In the span of two short years, Roth wrote and published his first three novels: The Spider’s Web (1923), Hotel Savoy (1924), and Rebellion (1924). These books were written in great proximity to the catastrophe of World War I. Sometimes called Zeitromane, or somewhat misleadingly Zeitungsro­ mane13 (as each of them initially appeared in newspaper installments), they were published in rapid succession, followed by a novelistic impasse that lasted three years, until 1927, when Roth wrote Flight Without End. While not consciously conceived as such, these early novels are connected by a set of themes that creates the impression of a postwar trilogy, an original and urgent realization of an emerging dystopian imagination. In what follows, the main themes will be addressed: the presence of impaired and wounded characters, the relative absence of concrete war imagery, a cluster of responses to life in the postwar world, the recurrence of the apocalyptic moment, and the critique of the new Europe. These themes will be examined in the light of the main quandary that engaged an entire generation of Jewish writers after 1918: namely, the relationship between Jews and society inside a divided and now nation-centered continent. The challenge to redefine the political and aesthetic position of Jews in postwar Europe also entered and transformed the literary realm. While all three novels have a male main character – Theodor Lohse in The Spider’s Web, Gabriel Dan in Hotel Savoy, and Andreas Pum in Rebel­ lion – it is only Rebellion that concentrates most intensely on a single des­ tiny.14 The first two books are characterized by a cacophony of voices and plots that are woven together into a story of unforeseen dimensions and out­ comes. The influence of the feuilleton, the literary form that Roth perfected during the first years of his career, and which was in many ways a response

11 Idem, Rebellion, 1 f. 12 Michael Hofmann, Conspiratorial Hapsburger, in: London Review of Books 9 (1987), no. 5, 18–20. 13 Ibid. The Spider’s Web was never published as a book during Roth’s lifetime. 14 Hofmann, Introduction, viii.

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to the “jumpy pace of the age,”15 can be felt on the pages of his early novels. Both here and elsewhere, as Kati Tonkin has argued in her book Joseph Roth’s March into History (2008), Roth experimented with literary form “as a means of understanding historical processes, specifically the problems cre­ ated by the historical fact of the collapse of the Habsburg Empire in Central Europe.”16 Both the style and the plots of these novels reflect this particular quandary and the aim to grapple with, albeit indirectly, the fact of this col­ lapse. In The Spider’s Web, we encounter the disillusioned war veteran Theodor Lohse, whose downward spiral into radical right-wing politics and violence Roth details with a detached and matter-of-fact accuracy. No longer a lieute­ nant but instead a tutor in the house of the wealthy Jewish jeweler Efrussi, Lohse’s sense of humiliation is a catalyst for his rapid descent into the underworld of fascist Berlin. The book is timely and urgent, as the psycholo­ gical process it describes does not reflect just the hardening of the national mood in Germany, but that taking place across the entire Central European region.17 In Hotel Savoy, conversely, Roth retraces the homecoming journey from the war that so disoriented Theodor Lohse and the story halts at an unknown Eastern town “at the gates of Europe,” where the Savoy stands as a forlorn anchor to the colorful cast of characters who are stranded there.18 Gabriel Dan, the son of Russian Jews from Vienna’s Leopoldstadt, returns from a Siberian prison camp and roams the hotel in the same topsy-turvy state as the building itself, which literally has a reversed hierarchy: while the wealthiest guests reside on the lower floors, those who are poor and destitute occupy the higher levels. In Rebellion, finally, Roth returns to the urban landscape of postwar Berlin, where the one-legged Andreas Pum tries to navigate its streets with a ramshackle barrel organ and a furious sense of jus­ 15 Jeffrey Eugenides, Review of Joseph Roth, “What I Saw.” Reports from Berlin, 1920– 1933, New York 2003, in: New York Times Book Review, 2 February 2003. 16 About Roth’s early novels, Tonkin writes: “The fragmentary impression created by these novels is almost certainly to some extent intended: in a review of Hans Natonek’s Geld regiert die Welt Roth expressed approval of what he called the ‘gesprengte oder gebro­ chene Form des Romans,’ arguing that is was the only form that could represent the times adequately: ‘O tempora, o homines! Fragmente sind alle: die Gestalten und ihre Darstel­ lungen, die Zeit und ihre Zeitbilder. […] Die fragmentarische Form des Berichts entspricht vollkommen der fragmentarischen Gestalt.’” Joseph Roth, Die gesprengte Romanform, in: Die Literarische Welt, 12 December 1930. Cit. from Kati Tonkin, Joseph Roth’s March into History. From the Early Novels to Radetzkymarsch and Die Kapuziner­ gruft, New York 2008, 4. 17 This process of the militarization of the national mind was particularly extreme in Hun­ gary where, after the failed revolutions of 1918–1919, waves of anti-Jewish violence, known as the White Terror, plagued the country between 1919 and 1922. 18 Joseph Roth, Hotel Savoy, trans. by Michael Hofmann, London 2000, 9 (original edition publ. 1924).

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tice. Good fortune finds him in the form of a job and a wife, but after a short period of bliss, all this is taken away from him in a fast-unfolding Jobian string of disasters. In what is one of the most heart-wrenching depictions of despair in Roth’s œuvre, Andreas calls God to the stand and accuses the cul­ prit that has no face. All three novels share a concern with the fatal shortcomings of modern life in Europe’s new and unstable postwar societies, and the weight with which this new life crushes the backs of ordinary people. This is mirrored in the fate of Roth’s characters, all of whom to some degree risk their lives, lose their limbs or their sanity, and experience a general sense of unsettledness and non-belonging. They are the “unwilling survivors”19 of the postwar world, wrongfully alive in a society turned upside down, a condition exem­ plified by the Hotel Savoy. This reversal of normalcy, however, is soon revealed to be an illusion, because, in fact, the wrongs and injustices of the prewar world are still in place. War and revolution had upset the modern era, but did not succeed in creating a more just society in its wake. All three char­ acters emerge from the war impaired both physically and emotionally. Theo­ dor Lohse, unable to bear the newfound uncertainties of life in Weimar, reveals himself to be an “authoritarian personality,”20 someone who clings to military order so as to escape from the chaos and his own sense of private failure. Gabriel Dan, on the other hand, seems to be trapped in a state of pro­ longed indecisiveness. He has no clear incentive to leave the border town and reach his destination in the West, which also remains unknown, it appears, to Gabriel Dan himself. His lackluster attitude to external events makes him vulnerable to the twists and turns of history, as if, somehow, he has decided to be its passive victim. Andreas Pum, finally, who was granted a medal and a license to play the barrel organ in recompense for losing a leg in battle, is soon crushed by the “great grinding wheels” (Reb. 76) of the state, something he mistakes for fate, and thus for the work of God. In the world that Roth portrays, the war may be over, but it has irrevocably damaged both Europe itself and the lives of its inhabitants. In these novels, images of war itself are scarce. There are no descriptions of battles or the life of soldiers at the front (such scenes, it must be noted, come to the fore in much greater detail in Roth’s epic novel The Radetzky March from 1932). There are no flashbacks to army life, except once, in Hotel Savoy. Arriving at the hotel, Gabriel Dan immediately recalls the world he has left behind: the roll of the drums as he marched with his com­ pany, the silence of the hospital ward, the rain that fell on his barracks during sleepless nights. He thinks: 19 Hofmann, Conspiratorial Hapsburger. 20 Tonkin, Joseph Roth’s March into History, 50–56.

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“After five years I stand again at the gates of Europe. The Hotel Savoy, with its seven stories, its gilded coat of arms and its uniformed porter, seems to me more European than any other hotel in the east. […] I am thankful once again to strip off an old life, as I often have during these years. I look back upon a soldier, a murderer, a man almost murdered, a man resurrected, a prisoner, a wanderer.” (HS 9)

To Gabriel Dan, this pattern of acquiring and shedding identities, not unlike the self-narration of its author, continues after his arrival at the border town. With the war itself swiftly receding into the realms of the past, memories of it only come to him as parallels to present events, a kind of memory anchor. Unlike Gabriel Dan, Theodor Lohse completes his westward journey from the front and arrives home. When he does, however, an unpleasant surprise awaits him. Lohse is ridiculed by his mother and sisters for not having died a hero’s death during the war; in other words, for having failed to fulfill his military duty. They resent him for being alive. “A dead son would have been the pride of the family,” the narrator remarks. “A demobilised lieutenant, a victim of the revolution, was a burden to his womenfolk.” (SpW 4) Thus trapped in time, with no possibility to change the outcome of the war or his prospects for the future, Theodor longs for revenge. In his mind, the war becomes both the catalyst and the justification for his desire to kill and to undo the humiliations he suffered with violence. Diametrically opposed to Lohse and his quickly unravelling desire for revenge, is Andreas Pum. This man, whose injuries have made him a lifelong cripple, dreams of the rewards the state will give him for his sacrifice. “He believed in a just god. One who handed out shrapnel, amputations, and medals to the deserving.” (Reb. 2) But his hopes are crushed: “The artificial limb never came. In its place there came unrest, upheaval, and revolution.” (Ibid. 9) For Andreas, the war is a source of pride, and for a long time he does not understand why the state denies him the recognition he deserves. This remains so even after he is imprisoned for insulting a wealthy gentleman, Herr Arnold, on a tram, or when, some weeks later, he dies alone in the basement of Café Halili, where the proprietor had taken pity and hired him as a toilet attendant. In all these cases, then, the war is mourned not as the event itself but for its consequences. It signifies the demise of a world in which Theodor still felt a sense of pride, Gabriel knew where he was going, and Andreas still had both his legs. All three men are victims of the rupture with the past that World War I caused, and they suffer from the loss of order, or orders, it pro­ vided.21 While Theodor’s response to postwar life is perhaps the least admir­ able, it is also the most realistic. The Spider’s Web in particular is a historical 21 James Wood, Empire of the Infinite. All That is Wicked, All That is Fine. James Wood on Joseph Roth’s Rebellion, in: The Guardian, 11 December 1999, (11 July 2014). See also idem, Empire of Signs, in:

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text in that it contains many immediate replicas of the Weimar situation, such as, for instance, the uprising of the Spartacists, General Erich Luden­ dorff, and the Nazis, references to the National Socialist newspaper Der Völkische Beobachter, and SA uniforms decorated with swastikas. Most strikingly, Hitler is mentioned by name, the first reference to the “Führer” – Roth calls him so – in interwar European literature. Roth ends his tale of political upheaval in Weimar with a fictional coup by right-wing radicals. Two days after the novel’s final installment in Arbeiter-Zeitung on 8 and 9 November 1923, Hitler and Ludendorff attempted their coup in Munich. One contemporary critic explained Roth’s striking congruence with his his­ torical era by the fact that the novel was written with the imaginative force of a “well-informed journalist.”22 It was, they wrote, a sober judgment of the time, not the result of prophetic vision. Whether it was prophecy or not, this indicates a strong correspondence in Roth’s early writings between history and literature, between time as it passed in the society in which Roth decided to immerse himself (the pace of life), and time as he expressed it through the urgency of his fiction (the pace of words). The war is portrayed primarily as a catalyst for disaster, while it is the postwar world that takes center stage. There is an element of social cri­ ticism in Roth’s fictional treatment of the marginalized, but not one of the avenues explored to escape from or improve the present – fascism, revolu­ tionary socialism, apathy, surrender to chaos, or faith in the state or the law – is successful. Not one proves ideologically convincing or lasting. One way or another, all these paths lead to failure.23

London Review of Books 21 (1999), no. 5, 3–7, (11 July 2014). 22 See Margarita Pazi, Exil-Bewusstsein und Heimat-Illusionen bei Joseph Roth, in: Sigrid Bauschinger/Susan L. Cocalis (eds.), Wider den Faschismus. Exilliteratur als Geschichte, Tübingen/Basel 1993, 159–190, here 166. Present day critics, however, stress the “pro­ phetic” quality of Roth’s fiction to a much higher degree than did contemporary ones. For instance, the back cover of The Spider’s Web, published in 2004, contains a blurb from the Tribune that reads: “Reading him is like reading a prophet: provocative, discomfort­ ing, full of insight and foreboding,” thus emphasizing Roth’s “clairvoyance” as a modern writer. 23 This is reminiscent of Arthur Schnitzler’s novel Der Weg ins Freie [The Road to the Open; 1908], in which he portrayed the fate of a generation of Viennese Jewish intellectuals and their ways out (what Schnitzler called “avenues of retreat”) of an increasingly hostile and anti-Semitic environment. All of these ways out – socialism, Zionism, assimilation, con­ version, denial, insanity and even suicide – ended in failure. The only way to reach a true sense of freedom, the novel suggests, is through a confrontation with the self.

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The Melancholy of History Despite the fact that all three novels deny its main character (and its readers) a sense of redemption or an escape out of the nightmarish world of postwar Europe, they each contain a moment of hope that is encapsulated in an apoc­ alyptic scene. In The Spider’s Web, it is Theodor Lohse’s counterpart in the novel, a Jew from Łódź named Benjamin Lenz, who embodies the apocalyp­ tic idea and the hope for a better world. Instead of succumbing to fascism or a ready-made party program, Benjamin Lenz instead manages to bear the instability of what he calls “the new Europe.” But the only reason he can tol­ erate living in a world he despises is because he knows it contains the seeds of its own destruction. And so, as to hasten the end of this world, Lenz works towards its destruction not from afar (for example, from exile), but from inside its very heart, namely, the backrooms and basements of political con­ spiracy: “He looked upon the gruesome living and scented the stink of decay in advance. Benjamin waited. They would fall victims to him. They would tear one another to pieces and he would witness it.” (SpW 73) The pending destruction of the new Europe is symbolized by the activities of Benjamin Lenz’s brother, Lazarus, a chemist: “‘What are you working on?’ ‘A gas.’ ‘Explosive?’ ‘Yes,’ said Lazarus. ‘For Europe,’ said Benjamin. And Lazarus laughed. Lazarus understood everything. What was Benjamin by compar­ ison? A minor intriguer. But this young brother, with his gentle eyes and their golden lights, could blow up half a world.” (SpW 111)

As with The Spider’s Web, the apocalyptic moments of other two novels are also presented on their last pages. In Hotel Savoy, it erupts in the sudden image of the hotel going up in flames, burning amidst the chaos of a failed revolution. “A pity,” says one of Gabriel Dan’s fellow guests, Abel Glanz, who prior to his arrival at the border town was a prompter in a small Roma­ nian theatre, “it was a good hotel.” (HS 123) In Rebellion, too, the apocalyp­ tic scene comes towards the novel’s end, evoking the Day of Judgment.24 Andreas Pum rages against God and the Heavenly Judge, condemning the cruelty with which they have so punished him, the one-legged war veteran. After Andreas collapses, an eerie, deathly silence ensues. It turns out that this ordeal took place inside his mind during his last, delirious moments. Not much later, Andreas is found dead in the basement of the café, where he was tending to the lavatories. In spite of the missing leg, his body is taken to 24 See also Tonkin, Joseph Roth’s March into History, 90 f.

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the Anatomical Institute, where, due to “a shortage of cadavers” (Reb. 143), it is soon dissected. In Roth’s early novels, as with his later fictional evocations of the apoca­ lyptic idea, redemption is hinted at and approached, but ultimately denied. The promise of a better world is given linguistic expression but remains unfulfilled, and not one path – explosions, fires, or divine accusations – seems to lead out of the chaos. In the literature, this has been read as an expression of Roth’s pessimism about changing the course of a continent that was clearly steering towards its own destruction. Also, and more con­ vincingly, it has been argued that this literary repetition of the apocalypticmoment-cut-short betrays a deep skepticism towards ideologies and dogmas that claim to possess an all-encompassing explanation for the problems of the postwar world.25 The dangers of such dogmas became obvious to Roth immediately upon his return from the front. Yet aside from ideological skep­ ticism, this quick succession of aborted scenes of redemption reveals the notion that the human condition caught inside modernity is comparable to a state of suspended non-belonging. His characters are caught in a perpetual state of wandering along the streets and back alleys of a world now both unknown and uncertain, where time, in its logical chronology of past, future, and present, has imploded. “History,” historian Peter Fritzsche writes, “is constituted in large part by testimonies of loss.” In his book Stranded in the Present (2004), Fritzsche has argued that the feeling of being exiled, out of place, is not a temporary condition, but that it is, on the contrary, a distinctively modern fate.26 The reconfiguration of time that resulted from the epistemic rupture of the French Revolution invoked a sense of existential homelessness that has proved irreversible. Instead of a vast and stable reservoir of explanations and causes, the past that has confronted mankind since 1789 is an unnerving pool of “untimely deaths, abrupt endings, and foreshortened possibilities.”27 It no longer forms an anchor, and the lines between the generations that existed prior to the revolution were brutally cut. From this point onwards, “history would be contemplated from the standpoint of epistemological uncertainty, which made historical narratives less authoritative, but also more interesting and many-sided. An increasingly strange past came into view and became an object of both public and private desire.”28 It was this notion of discontinuity and epistemological uncertainty towards the past as well as the present that was experienced anew, even deepened, by a genera­ 25 Ibid., 91. 26 Peter Fritzsche, Stranded in the Present. Modern Time and the Melancholy of History, Cambridge, Mass., 2004, 207. 27 Ibid., 203. 28 Ibid., 7.

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tion of writers that lived through World War I. The emotions brought on by the fact of total war and the loss of the world that came before soon colored their literary works. Among these emotions, nostalgia has emerged as one of the most lasting, characteristic features of modernist prose. Joseph Roth in particular, but with him an entire generation of Jewish writers of the interbellum – a “col­ lection of souls,” whom Gershon Shaked described as Europe’s “Jewish orphans”29 – is often called upon as an important representative of this his­ torical emotion. At times, his literary evocations of a lost world are paired with the “world of yesterday” that his friend and literary elder Stefan Zweig so painfully longed for.30 In these interpretations, which in most cases are put forward in relation to Roth’s so-called return to monarchism during the late 1930s, nostalgia is equated with an attitude of escapism and sentimen­ tality. Especially in the context of the growing political threat to European Jewry during the 1930s, Roth has been accused of being an “ineffectual” writer who escaped from the realities and the sore plight of his times through alcoholism and the creation of phantasmagorical tales. One such phantasma­ goria is explored in The Tale of the 1002nd Night, from 1939, in which the Persian Shah’s visit to Imperial Vienna is relived in all its splendid absurdity (the novel has also been translated as The String of Pearls).31 Such interpre­ tations, however, overlook a crucial matter, namely that the historical emo­ tion of nostalgia contains within itself the recognition that what is longed for is already lost, that the possibility of return is forever foreclosed. Following Fritzsche, nostalgia – from the Greek nostos, a return home, and algos, a painful condition – conceives of history not as a tale of progress and causal relations, but a narrative of catastrophe. It embodies the modern awareness that discontinuity lies at the core of all historical narrative, in other words, the inability to repossess or reclaim the past. Nostalgia is always accompanied by a “melancholy feeling of dispossession” and a great sense of disquiet – and, undeniably, by a sense of loss. What is absent has become acutely present, like being in the company of ghosts. Thus, what best ex­ 29 Gershon Shaked, After the Fall. Nostalgia and the Treatment of Authority in the Works of Kafka and Agnon, Two Habsburgian Writers, in: Partial Answers 2 (2004), no. 1, 81–111. 30 Stefan Zweig, The World of Yesterday, New York 1943. 31 Bettina Engelmann, for instance, has analyzed the historiographical quarrel that polarized the literary community and its debate about the role of exile literature as having to be “engagé,” distinguishing between “politically committed works” and those “suspected of escapism.” Engelmann cites Roth as an example of the latter. See Bettina Engelmann, Poetik des Exils. Die Modernität der deutschsprachigen Exilliteratur, Tübingen 2001. Cit. from Hubert Roland, German and Austrian Exile Literature in Belgium, 1933–1945. Topography and Perspectives, in: Johannes F. Evelein (ed.), Exiles Traveling. Exploring Displacement, Crossing Boundaries in German Exile Arts and Writings 1933–1945, Amsterdam/New York 2009, 73–98, here 87.

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presses the catastrophic vision of modern history is the idea that the only thing left to do for modern man is to pick up the pieces of the past and use them as building stones for the future.32 One of the most striking conse­ quences of the reconfiguration of Western temporality at the turn of the nine­ teenth century was the production of ruins. Traces of past lives suddenly appeared everywhere, and the feeling of being “wrongly alive” became com­ mon emotional stock. It was amongst these ruins of the past that Walter Ben­ jamin envisioned his angel being blown away from paradise and Roth popu­ lated his novels with desolated war cripples and displaced Luftmenschen. It is this recognition, that disaster is the main catalyst of modern history, which contains the key to the critical potential of the nostalgic mode. While, in sociological accounts of modernity, nostalgia has long been used as a critical tool, history still lingers on more traditional approaches.33 Despite the fact that historical rupture, small and large, private and public, lies at the heart of the nostalgic emotion (and, of course, is also the main incentive behind history as the study of change), historical studies tend to brush aside nostalgia as a sentimental expression of the inability to cope with the present. This betrays a conventional understanding of nostalgia, which keeps the melancholic sufferer locked in an unproductive longing for a lost world. Indeed, it is not often seen as “a whetstone upon which critical insights can be sharpened.”34 Yet nostalgia is not singularly about loss. In mourning the lost values and traditions of the past, there lies a potential for critical insight. What is so lacking in the present that it creates a desire for times gone by? What configurations of the future lie dormant in expressions of nostalgia? This, then, is the “existential paradox of nostalgia”: the idea that nostalgia can become a kind of intellectual faculty that leads not to blindness but to (in-)sight. In the words of Nikos Papastergiadis: “It might seem a paradox to suggest that nostalgia is as much future-oriented as it is concerned with the past, just as it is paradoxical to say that visionaries are melancholies who have invested themselves with the necessity of ‘having’ to ‘speak the truth without having the authority to speak it,’ and so it could be said that travellers who leave one point are often (and even before departure) actually searching for their place of origin. The quest for belonging is so vigorously sought that it uproots and displaces the very possibility of ever finding the ultimate point of arrival.”35

This way of understanding the concept enables one to read beyond indivi­ dual expressions of nostalgia, sometimes rooted in the biography of a writer, 32 Peter Fritzsche, Specters of History. On Nostalgia, Exile, and Modernity, in: The Ameri­ can Historical Review 106 (2001), 1587–1618, here 1610. 33 Ibid., 1592. 34 Nikos Papastergiadis, Modernity as Exile. The Stranger in John Berger’s Writing, Man­ chester et al. 1993, 166–171. 35 Ibid., 169.

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and into the realm of historical time that is conjured up, criticized, and mourned in their work. Therefore it is crucial to not dismiss narratives of dis­ possession as sentimental reverie. Instead, tales that conjure up lost worlds are testaments to a changed conception of historical time. As Svetlana Boym has argued: “Unlike melancholia, which confines itself to the planes of indi­ vidual consciousness, nostalgia is about the relationship between individual biography and the biography of groups or nations, between personal and col­ lective memory.”36 This understanding of nostalgia as a typically modern emotion is important because of its implications for an accurate portrayal of those writers, including Roth, who reconfigured it as a vehicle of critique in their representations of modern time in general, and the interwar years in particular. In Roth’s postwar fiction, there is an undeniable awareness that the war had destroyed all roads to a return to the prewar world. What makes up the heart of his three early novels is a contemplation of life in a world saturated by blocked possibilities and lost itineraries. Moreover, through ironic representations of the law, the state, ideology, and religion, they express concern for the fate and the future of Europe. This concern resulted from an existential position that was in many ways typical of a generation of Central European Jewish writers, namely, the predicament of living in a void, a historical vacuum, and of being faced with the permanence of absence. Indeed, many Jewish intellectuals experienced the post-1918 world as a political no man’s land, riddled with insecurities about their national loyalties. Many writers experienced the breakup of the imperial world into separate national segments as a deep crisis. “Their acute awareness of living through a turning point of truly cataclysmic dimensions,” David Roberts writes, “became the driving force of their desire to make sense of their time.”37 In their works, therefore, they dealt with con­ temporary events by placing them within larger historical patterns, scrutiniz­ ing the past in order to be able to grasp the present. Indeed, in these early postwar years, European Jewry found itself in a situation of what Jonathan Frankel has called “paradoxical marginality”: on the one hand, Jews were despised as Bolsheviks and revolutionaries and blamed for losing the war. On the other, they were feared as capitalists, sus­ pected of plotting world domination and undermining the Christian West from within – thus ascribing to them a power they in reality did not pos­ sess.38 Both notions, Jews as communists and Jews as capitalists, though 36 Boym, The Future of Nostalgia, xvi. 37 David Roberts, The Sense of an Ending. Apocalyptic Perspectives in the Twentieth-Cen­ tury German Novel, in: Orbis Litterarum 32 (1977), no. 2, 140–158, here 155. 38 Jonathan Frankel, The Paradoxical Politics of Marginality. Thoughts on the Jewish Situa­ tion during the Years 1914–1921, in: idem, Crisis, Revolution, and Russian Jews, Cam­ bridge, Mass., 2009, 131–154.

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imagined, proved powerful enough to incite real violence against Jews. The stream of Jewish refugees from the East, in particular from Galicia, seemed to only deepen the hostility. In a feuilleton from 1920, Roth described them in this way: “We know them as ‘the peril from the East.’ Fear of pogroms has welded them together like a landslip of unhappiness and grime that, slowly gathering volume, has come rolling across Germany from the East.”39 Violence against Jews also echoes throughout the pages of his fiction. Six pages into The Spider’s Web, Theodor Lohse bursts into a long rant, calling Weimar “a Jewish conspiracy” and summing up all the prejudices he can muster. In each of the early novels, there is at least one character that voices what has become known as the “Judeo-Bolshevik myth.”40 In Weimar, as the narrator of The Spider’s Web calmly observes, “foreign tongues were hated.” (SW 72) Often, these tongues belonged to minorities and outsiders, the “minor characters” of grand historical narratives, both then and now. By giv­ ing voice to exactly these marginalized characters, and by incorporating in his early novels those realities of postwar life that so disturbed him, Roth found a means to contrast the present to the past. This frame, in other words, enabled him to show what in his eyes was so amiss with the present that it allowed for the nostalgic sentiment to emerge as a firmly grounded emotion. Moreover, it became a kind of justification for the reasons that led him to mourn, describe, and analyze the suffering he experienced, both in his pri­ vate life (as expressed in his correspondence), by those marginalized in post­ war society (the main focus of his journalism), and, of course, by his literary characters. This, then, is the new Europe: a shelter for the homeless. In the words of Benjamin Lenz, Europe has become “nationalist and self-seeking, devoid of belief and of loyalty, bloodthirsty and blinkered.” (SpW 73) Lenz is one of Roth’s many Jewish characters. He is an Eastern Jew whose “profound gaze” is perpetually turned towards the East: “He could see the single, blinded mirror in the shop [his father’s barber shop]. How simple and wise were the sayings of the old Jews in Lodz [the city also identified as the setting of Hotel Savoy], how sharp was their wit, how measured their laughter, how good their food tasted, the food of the Jews, beaten, scorned, living in exile with no hel­ mets and means of shining or showing off.” (Ibid. 95 f.)

Here, both the non-territoriality of the Jews and their lack of military power are praised. 39 Joseph Roth, Refugees from the East, in: Neue Berliner Zeitung – 12 Uhr Blatt, 20 Octo­ ber 1920. Reprinted in idem, What I Saw, 35–39. 40 For an excellent analysis of the Judeo-Bolshevik myth in Central Europe, see Eliza Ablo­ vatski, The 1919 Central European Revolutions and the Judeo-Bolshevik Myth, in: Eur­ opean Review of History/Revue européenne d’histoire 17 (2010), 473–489.

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Set against a background of anti-Semitism, homelessness, instability, and war, what fates await Roth’s characters in the new Europe? What are the worlds they live in, the worlds they came from, and those they lost? Roth offers different responses to the question of belonging in postwar Europe. Benjamin Lenz aims for Europe’s explosion from within. Despite his long­ ing for the East, he is deeply entangled in postwar politics and revolutionary circles on both extremes of the political spectrum. While he sends his brother, the chemist Lazarus, into Parisian exile, Benjamin stays behind in Germany, unsure of his own fate (the reader knows that at this same moment, Theodor Lohse is plotting his murder). Gabriel Dan, on the other hand, does not entangle himself with the ideologies of the Left or the Right, and is marooned not inside Europe, but, quite simply, in an unnamed border town along Europe’s eastern edges. His resolve to stay at the Savoy only a few days quickly weakens, and he remains plagued by a form of mental indecisiveness and an equally undecided future. When, after much inaction, he finally resumes his journey, it is only because the hotel has burnt down, thus providing an external incentive for the continuation of his wanderings. And Andreas Pum, finally, after giving it his all in his divine complaint, dies as the result of premature aging and a delirious mind, forsaken inside a rea­ lity that remains sadly unknown to the outside world. There is one exception among this string of stranded figures: Henry Bloomfield (Blumenfeld), the American millionaire in Hotel Savoy. No one knows why, every year, on the same day, he returns to the small border town, a much-anticipated event in the life of the villagers. Bloomfield’s visits remain a mystery until one day Gabriel Dan catches sight of him at the Jew­ ish cemetery. Bloomfield is standing at the grave of his father, crying. “I am an Eastern Jew,” he says to Gabriel, who has quietly approached him, “and, to us, home is above all where our dead lie. Had my father died in America I could be perfectly at home in America. My son will be a full-blooded Amer­ ican, because I shall be buried there.” Bloomfield continues: “Life and death hang together so visibly, and the quick with the dead. There is no end there, no break – always continuity and connection.” (HS 107) Here, the voice of the uprooted Eastern Jew conflates with that of the narrator, and in the figure of Bloomfield, a specific culture of memory is contained. It denotes the ancient link to the Jewish past, which jumps over the war and links fathers to grandfathers and great-grandfathers, reaching back to biblical times (this is the “chain of generations” as identified by Sidney Rosenfeld).41 Among Roth’s early Jewish characters, Bloomfield is the only one with a clear sense of belonging. His sons, he says, will be at home in America, 41 Sidney Rosenfeld, The Chain of Generations. A Jewish Theme in Joseph Roth’s Novels, in: Leo Baeck Institute Year Book 18 (1973), 227–231.

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because that is where Bloomfield himself will be buried. Gabriel Dan pre­ tends to understand, but he shrinks in stature next to the almost majestic Bloomfield. Henry Bloomfield, of course, is an émigré, an exile from the world of his ancestors. Thus, alongside the larger literary plateau of Roth’s postwar fiction – suspended lives in borderlands and unknown destinations (Gabriel Dan), unknown fates (the threat of murder facing Benjamin Lenz), and invisible causes of decline (Andreas Pum) –, what the figure of Bloom­ field embodies is another response to the postwar predicament in particular and the question of Jewish belonging in general. Concerning the latter, it proposes an option of belonging against all odds, a sense of being rooted in tradition and Jewish life that counteracts contemporary conditions of exile, uprootedness, and political upheaval. What the scene at the cemetery con­ templates is the possibility of emigration and the value of Jewish tradition. Lazarus Lenz escapes from the violence of postwar Berlin by taking a train to Paris, a city that was much coveted by interwar Central European intellec­ tuals for its humanist and republican tradition (and, as mentioned, in 1925 Roth would follow suit).42 In Hotel Savoy, while the hotel is burning in the background, Abel Glanz, the former prompter who is now a money dealer, hopes to reach his uncle in New York. Yet, all of Roth’s main characters in these books – Theodor Lohse and Benjamin Lenz in The Spider’s Web, Gab­ riel Dan in Hotel Savoy, and Andreas Pum in Rebellion – contemplate emi­ gration, but do not pursue it to its final conclusion. Both The Spider’s Web and Hotel Savoy end with a scene at a train station, a moment of departure, and the sound of whistles in the distance. So soon after the war, these literary endings hint at the notion that Germany was no longer a safe place for Jews, that it was better, indeed, to be elsewhere. Yet, in most cases, this “else­ where” was an illusion, a kind of unreachable redemption. Roth himself echoed this position of existential non-belonging when, in 1939, amidst increasing despair about the fate of European Jewry, he received an invitation from the PEN Club offering him an escape route. In a letter dated 21 January 1939, Dorothy Thompson, who had previously trans­ lated his novel Job. The Story of a Simple Man (1930) into English, invited Roth to be a special guest at the World Congress of Writers that took place in New York from 8 to 10 May 1939. At a time, she wrote, when the four basic freedoms – the right to speak, to publish, to worship, and to assemble – “are being denied and threatened over an increasingly large part of the world, it seems to us particularly urgent that writers from all countries should gather to consider ways and means of defending free expression

42 István Deák, Weimar Germany’s Left-Wing Intellectuals. A Political History of the Welt­ bühne and its Circle, Berkeley, Calif., 1968, 86.

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under difficult circumstances.”43 This invitation was, of course, an attempt to save Roth from the fast approaching catastrophe of Nazi terror. This letter came at a time when refugees from Germany were desperately trying to obtain exit visas and were climbing onto the last ships leaving the harbors of Rotterdam, Lisbon, and elsewhere.44 Roth declined. He stood on the shores of a continent in distress, contemplated his options, and decided to stay. He felt that his duty lay there, amidst the ruins of the old world. The letter from the PEN Club was found among his possessions after his death only four months later.

On the Open Road This kind of response to the realities of postwar life – of refusing to leave behind a situation of extreme and multi-layered instability – challenges the philosophy of progress and aims to find redemption, not in reason or utopia, but in what Anson Rabinbach has called “fragments of remembrance.”45 This is visible in Roth’s postwar fiction, too, where seemingly disconnected memory fragments of the war and of life before the war accompany his main characters as they wander the streets of Berlin or the storeys of the Savoy. Their profound state of non-belonging is suspended in their attempts to understand what happened. Memories of life before the war are there not just as paraphernalia of lost times, but as tiny vehicles of criticism about what is dysfunctional in the present. At these moments, Roth’s thought closely resembles that of Walter Benjamin, who also believed that historical reflec­ tion should begin in the rubbles of the past.46 About this notion of suspended and broken modern time, Fritzsche writes: “History is written on the open road, along which fugitives and refugees travel and take note of their displacement as they survey scenes of terrible destruction and imagine the homes they once possessed. The witnesses to history are, in the end, exiles and émigrés and strangers. They will not return to their homes or to their former lives. So it is not surprising that travellers feel out of place or portray themselves as stranded in the pre­ 43 The letter is included in both volumes of correspondence. See Roth, Briefe 1911–1939, 526 f.; idem, A Life in Letters, 530 f. 44 For an account of the role of the Committees for Jewish Emigration and the final and often illegal attempts to escape the continent by ship, see Bernard Wasserstein, Gertrude van Tijn and het lot van de Nederlandse Joden, Amsterdam 2013, 74–89. 45 Anson Rabinbach, In the Shadow of Catastrophe. German Intellectuals between Apoca­ lypse and Enlightenment, Berkeley, Calif., 1997, 7 f. 46 On the relationship between these two thinkers, see Ilse Josepha Lazaroms, The Grace of Misery. Joseph Roth and the Politics of Exile, 1919–1939, Leiden/Boston, Mass., 2013, 119 f.

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sent. This sense of anachronism is one of the results of the differences between past and present that are embedded in the logic of modern history.”47

Against this background of theoretical and existential homelessness as out­ lined by Fritzsche, it can be argued that both Roth himself and his literary protagonists wander along these same roads. Indeed, it is the displaced indi­ viduals of his fiction who are “best placed to tell the truth about the impurity and the burden of collective history.”48 As time passed, this burden of collec­ tive history crystallized in Roth’s fictional universe. In 1938, Roth returned to the theme of World War I in the novel The Emperor’s Tomb, a reference to the crypt of the Habsburg rulers in Vienna, where Emperor Franz Joseph, whose death in 1916 signified the end of an era, also lay buried.49 In the novel, Franz Ferdinand Trotta – named, of course, after the archduke whose assassination in Sarajevo on 28 June 1914 precipitated the beginning of World War I – recalls how in the summer of 1914, he enthusiastically embraced the war, because “this wretchedness […] devoured our small, par­ ticular, personal troubles.” Here, the narrator posits that it is part of human nature to prefer “a mighty, all-embracing calamity, a monstrous disaster” to any particular, private worry.50 Twenty-four years later, Trotta’s reaction to the Anschluss, a catastrophe of incredible magnitude for the small Alpine nation that was postwar Austria, is to run to the emperor’s tomb, just as he had done when he returned from the front in 1918. But he can no longer enter. The tomb is closed, the gate is locked, and the emperor is dead. A flight into the past is no longer possible.51 At this moment, Trotta is truly stranded in the present. On the last pages, he exclaims: “I saw myself, as I had for so long since my return from the war, as someone who was wrongly alive. I had, after all, accustomed myself for a long time to observing all the events which were described in the newspapers as ‘historic’ with the judicious eye of someone who no longer belonged to this world! I had for a long time been on indefinite leave from death. […] What did the things of this world matter to me?”52 47 Fritzsche, Stranded in the Present, 208. 48 Ibid., 62. 49 Joseph Roth, The Emperor’s Tomb, trans. by John Hoare, Woodstock, N. Y., 2002 (origi­ nal edition publ. 1938). 50 Ibid., 199. 51 As Geoffrey C. Howes has pointed out, Klaus Pauli was the first to note the significance of the locked tomb: “Damit wird […] die Zuflucht zur Geschichte […] als realisierbare Möglichkeit ausgeschlossen.” See Klaus Pauli, Joseph Roth. Die Kapuzinergruft und Der stumme Prophet. Untersuchungen zu zwei zeitgeschichtlichen Portraitromanen, Frankfurt a. M. 1985, 26. Cit. from Geoffrey C. Howes, Joseph Roth’s Kapuzinergruft as a Docu­ ment of 1938, in: Donald G. Daviau (ed.), Austrian Writers and the Anschluss. Under­ standing the Past – Overcoming the Past, Riverside, Calif., 1991, 156–167, here 163. 52 Roth, The Emperor’s Tomb, 151.

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What this signals on a wider narrative plane is that there are limits to taking recourse to the past as a means of redemption for the present. With the vault locked, Trotta and his literary contemporaries have run into a border, and the possibility of re-awakening what is contained inside has forever vanished. The past cannot offer redemption, only clues to an understanding of the pre­ sent. “The losses of the past are irreversible,” writes Fritzsche. “This is what constitutes the melancholy of history.”53 This is true also for Roth’s fictional universe, where almost all of his characters suffer from the melancholy that came with having survived the (until then) ultimate historical rupture of World War I. Here, then, are the origins of Roth’s dystopian imagination, understood as a creative vision expressed in a continuous fictional universe and inspired by the hope for a better world, but always undermined by Roth’s persistently pessimistic worldview. Its roots can be found in the simultaneous existence of a cyclical conception of history as a repetition of disasters and the recog­ nition that any correspondence between past, present, and future is forever severed and replaced by “a radical succession of dramatic discontinuities.”54 His characters all linger on the borderlands of belonging, and, while not entirely casting aside the hope for redemption, they are tragically aware of the limitations placed upon them in their post-rupture historical times. This awareness functioned inside Roth’s fictional universe, where homecomings remain incomplete, as well as on the meta-level of his writings, where even the act of imagining a complete and fulfilled homecoming remained out of reach. Tellingly, his attempt at creating a fictional homecoming to his child­ hood town in Galicia, the long-awaited novel Strawberries, remained unfin­ ished. Only twenty-seven pages survived, and despite Roth’s lamentations about the fate of this “great novel of [his] childhood,” he could not bring himself to finish it.55

53 Fritzsche, Stranded in the Present, 8. 54 Ibid., 201. 55 Roth began writing the novel in 1929, but a lack of funds forced him to use the material for the novel Weights and Measures (1936) instead. The unfinished novel haunted him. On 21 August 1935, he wrote to Stefan Zweig: “[A]nd I want to begin writing the novel, the ‘great’ one of the ‘strawberries.’” He asked Zweig to look for a publisher. A year later, on 29 May 1936, he wrote: “But I still possess the instinct to live, I want to write ‘Straw­ berries,’ I do not want to perish so piteously. I would like to breathe again for six months.” See idem, Briefe 1911–1939, 425, and 476 (trans. by Ilse Lazaroms). The surviving pages of Strawberries are published in: The Collected Stories of Joseph Roth, trans. and with an introduction by Michael Hofmann, New York/London 2002, 138–165.

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Conclusion “The final imperative of the melancholy of history is to imagine it,” writes Peter Fritzsche.56 With this in mind, it seems fair to ask whether Roth’s post­ war fiction offers alternative realms of belonging or, if not, whether it at least provides some kind of poetic justice in the face of the lost worlds of the pre-World War I era. This remains a difficult question. His characters, Jew­ ish and non-Jewish, are locked in a kind of existential vacuum. In a world made up of broken epistemological promises, they do not succumb to fixed identifications, and if they do, like Theodor Lohse, they serve as a warning and a dead end. They have, like Andreas Pum, an intimate and vexed rela­ tionship with God, clinging to their dignity in the face of monumental ruin. This has led literary critic James Wood to argue that, “all of [Roth’s] selfdefeating heroes, even if gentiles, are ultimately Jewish.”57 The same could be said for their responses to the question of belonging in postwar Europe, as all of them settle for, or ultimately accept, an uncertain, itinerant, even cosmopolitan existence. They remain stranded in the present, and regardless of their occasional deep longing for the East and for the past, they recognize that this world is irrevocably lost. This is so despite the great pressure that postwar or post-catastrophe narratives are under to maintain a coherent and redemptive story.58 Ultimately, history consists of “an endless number of departures,”59 and this is reflected in Roth’s postwar novels. The ending of the first of these, The Spider’s Web, is ominous: “The Paris train left at twelve-thirty. Benjamin stood at the platform. ‘Perhaps I may follow you,’ said Benjamin. Then Benjamin waved. For the first time, he waved. And the train slid out of the station. The platform was deserted, and a man was sprinkling water from a green can. Somewhere, many locomotives were whistling on the tracks.” (SpW 211 f.)

These whistles, of trains and locomotives departing for elsewhere, linger in the reader’s mind as well as in the afterlives of Roth’s characters, whose fates he consciously left dangling in mid-air; much in the same manner in which he treated his own life. Yet, the hope entailed in a solution “from within,” from inside a Europe on whose concept and reality he could not give up, per­ haps rings further than the desperate whistles of trains long gone and charac­ ters left behind in moments of crisis; all the way, it can be surmised, into our own time and our historical consciousness of times past and those to come. 56 57 58 59

Fritzsche, Stranded in the Present, 218. Wood, Empire of Signs, 7. Fritzsche, Stranded in the Present, 208. Ibid., 202.

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Sabine Koller

Jiddische Literatur im Krieg: Moyshe Kulbak und Yisroel Rabon

Zwischen den Fronten – die Juden im Ersten Weltkrieg »Wir wollen den Krieg verherrlichen – diese einzige Hygiene der Welt«, so tönt Filippo Tommaso Marinetti in seinem Manifest Le Futurisme, das im Februar 1909 in Le Figaro erscheint. Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs ebbt die futuristische Apotheose des Krieges, aller brutalen Realität zum Trotz, nicht ab.1 Für andere literarische Strömungen ist das Ereignis ein Schock. Wo Welten zusammenbrechen, zerbricht Sprache. Die Dadaisten antworten auf die Absurdität des Mordens mit verbalem Nonsens, die Expressionisten mit einer Ausdruckskraft, die Sprachstrukturen wie Körper auf den Schlachtfeldern zerfetzt.2 Mit expressiver sprachlicher Gewalt üben sie – wie wenig später Walter Benjamin in der Philosophie – eine Kritik der Gewalt. Über alle poetologischen Gräben hinweg vereinen sich russische Symbolisten, Futuristen und Akmeisten zu einem großen Chorgesang wider den Krieg. Der russisch-jüdische Akmeist Ossip Mandelstam empfindet die Zerstörung der Kathedralen von Reims und Köln als Zerstörung der Welt­ kultur.3 Der tschechisch-jüdische Autor Richard Weiner erlebt an der Front die physische und psychische Zerstörung des Menschen und bricht zusam­ men. Die Kraft zu schreiben bleibt: Als Erster thematisiert er mit der Prosa Lítice (Die Furien; 1916) in tschechischer Sprache den Ersten Weltkrieg.4 Franz Rosenzweig verfasst Der Stern der Erlösung (1921) überwiegend auf Feldpostkarten an seine Mutter. In Literatur und Philosophie erhält das Leben, das während des Krieges auf den Schlachtfeldern in Stücke gerissen wird, seine Würde zurück. 1 2

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In der anglophonen Literatur geriert sich der vorticism als militaristische und gewaltver­ herrlichende Literatur- und Kunstrichtung. Siehe hierzu Angelika Corbineau-Hoffmann, Die Bewaffnung der Worte. Aspekte der Sprachgewalt in moderner Lyrik, in: dies. (Hg.), Gewalt der Sprache – Sprache der Gewalt. Beispiele aus philologischer Sicht, Hildesheim/Zürich/New York 2000, 191–228. Siehe Mandelstams Antikriegsgedicht Rejms i Kel’n (Reims und Köln) von 1914. Ders., Der Stein. Frühe Gedichte 1908–1915, hg. und aus dem Russischen übers. von Ralph Dutli, Zürich 22000, 194 f. Richard Weiner, Kreuzungen des Lebens. Erzählungen, Essays, Feuilletons, Briefe, aus­ gew. und kommentiert von Steffi Widera, München 2005, 85. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 237–261.

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Sabine Koller

Die Vielvölkerreiche der Habsburger, der Romanows und das der Osma­ nen fallen, während neue Staaten entstehen – und mit ihnen ein hypertro­ phierter und häufig antijüdischer Nationalismus. Jüdische Familien, die sich nach der Erfahrung offener Grenzen und relativ friedlichem Zusammenleben auf dem europäischen Kontinent plötzlich in unterschiedlichen Staaten wie­ derfinden, gehören damit auch unterschiedlichen Kriegsparteien an. Der auf Russisch und Jiddisch schreibende Schriftsteller, Kulturaktivist und Ethno­ loge avant la lettre An-Ski (eigentlich Shloyme Zaynvl Rapoport) kolportiert in seinem Kriegstagebuch Khurbn Galistye (Die Zerstörung Galiziens; 1920) die Legende zweier jüdischer Soldaten, die im unmittelbaren Zwei­ kampf aufeinandertreffen.5 Als der eine, vom Bajonett durchbohrt, mit einem »Sch’ma Israel« auf den Lippen stirbt, begreift der andere Soldat, voll Entsetzen, dass er seinesgleichen getötet hat.6 Die Juden in Mittel- und Osteuropa waren von allen europäischen Juden am stärksten vom Krieg betroffen.7 Während des Ersten Weltkriegs litten sie unter zwei unterschiedlichen Formen der Gewalt, einer antijüdisch-partiku­ laren und/oder einer allmenschlich-universalen – oder unter, wie David G. Roskies es formuliert hat, »the familiar violence of pogroms, expulsions, and forced labor, and the impersonal, mechanized violence of the trenches«.8 Auch nach dem offiziellen Ende des Ersten Weltkriegs geht insbesondere in Polen und in der Ukraine die antijüdische Gewalt weiter. Unter dem Ein­ druck entsetzlicher Pogrome flehen Juden: »Nur überlasst uns nicht den Polen. Denn dann sind wir allesamt des Todes.«9 Die Euphorie für die Feb­ ruar- und die Oktoberrevolution 1917 in Russland, die den Juden erstmalig die vollständige rechtliche Gleichstellung bringt, weicht bald dem Terror des Bürgerkriegs, der zwischen 1917 und 1922 in weiten Teilen des ehemali­ gen Zarenreiches tobt. Das Jahr 1919 wird für die Juden zum churbn, zum Jahr der fast vollständigen Vernichtung. Im Polnisch-Sowjetischen Krieg, der Isaak Babels Konarmija (Die Reiterarmee; 1926) zugrunde liegt, geraten

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Die Umschrift jiddischer Zitate, von Werken und Autorennamen folgt – geläufige Namen wie Scholem Alejchem ausgenommen – den gängigen wissenschaftlichen YIVO-Stan­ dards. Die Übersetzungen aus dem Jiddischen und Russischen stammen, soweit nicht anders angegeben, von der Verfasserin. Für wertvolle Hinweise und Recherchehilfen danke ich Holger Nath. David G. Roskies, Against the Apocalypse. Responses to Catastrophe in Modern Jewish Culture, Cambridge, Mass./London 1984, 135–138. Michael Brenner, Kleine jüdische Geschichte, München 2008, 273. Siehe auch Frank M. Schuster, Zwischen allen Fronten. Osteuropäische Juden während des Ersten Weltkrieges (1914–1919), Köln/Weimar/Wien 2004. Roskies, Against the Apocalypse, 135. Arnold Zweig, Das ostjüdische Antlitz. In 50 Steinzeichnungen von Hermann Struck, Berlin 1920, 8; siehe Schuster, Zwischen allen Fronten, 463 f.

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die Juden Galiziens, Podoliens und Wolhyniens erneut zwischen die (ideolo­ gischen und nationalistischen) Fronten.10 Diese Dualität der Gewalt spiegelt sich auch in der jiddischen Literatur. Die großen Texte zum Ersten Weltkrieg von Andreas Latzko, Henri Bar­ busse oder Ludwig Renn bis hin zu Jaroslav Hašeks Osudy dobrého vojáka Švejka za světové války (Die Schicksale des braven Soldaten Schwejk wäh­ rend des Weltkrieges; 1921/23) und Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues (1929) werden ins Jiddische übersetzt.11 Jüdisches Leid wäh­ rend des Ersten Weltkriegs wird auch in jiddischer Lyrik und Prosa – häufig in einem apokalyptischen Kontext – geschildert. Das Pogromgeschehen in und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg ist der Ausgangspunkt für Sho­ lem Ashs historischen, in der Zeit des Chmel’nickij-Massakers der Jahre von 1648 bis 1657 angesiedelten Roman Kidush ha-Shem (Kiddusch haSchem/Die Heiligung von Gottes Namen; 1919) oder für Joseph Opatoshus zwischen 1914 und 1918 entstandenes Opus magnum In poylishe velder (In polnischen Wäldern; 1922).12 Auch für führende jiddische (und hebräische) Lyriker bedeuteten die Fronterlebnisse während des Krieges einen radikalen weltanschaulichen und poetologischen Bruch. Aus dem Neoromantiker Uri Tsvi Grinberg beispielsweise, der in Berlin 1924 seinen letzten jiddischen Text verfasste, bevor er nach seiner Immigration in Palästina ins Hebräische überwechselte, wurde ein expressionistischer Apokalyptiker.13 Dovid Eyn­

10 Zum Antisemitismus der Ersten Reiterarmee Budjonnyjs, der Babel als Kriegskorrespon­ dent zugeteilt war, siehe Oleg Budnickij, Rossijskie evrei meždu krasnymi i belymi 1917–1920 [Die russischen Juden zwischen den Roten und den Weißen, 1917–1920], Moskau 2005, 479–493. 11 Roskies, Against the Apocalypse, 135 f. Die Übersetzung von Remarques Auseinander­ setzung mit dem Ersten Weltkrieg besorgte der spätere Nobelpreisträger (1978) Isaac Bashevis Singer. Die bildkünstlerische Darstellung der universalen und der partikularjüdischen Dimension des Krieges findet sich in Marc Chagalls Bilddoppelgänger, der Tuschezeichnung Krieg (1914) und dem monumentalen Ölgemälde Der Jude in Hellrot (1914/15). Siehe Sabine Koller, Marc Chagall. Grenzgänge zwischen Literatur und Male­ rei, Köln/Weimar/Wien, 2012, 131–148. 12 Opatoshus historischer Roman thematisiert anhand der Zentralgestalt Mordkhe (Morde­ chaj) vordergründig das polnisch-jüdische Verhältnis kurz vor den Aufständen der Jahre 1861 und 1863. Basierend auf Moses Hess und Vertretern eines jüdischen Hegelianismus stellt Opatoshu – gerade angesichts der für die Juden katastrophalen Ereignisse während des Ersten Weltkrieges – implizit die geschichtsphilosophische Frage nach dem histori­ schen Ort der Juden. Siehe hierzu Sabine Koller, The Two Souls of Mordkhe. “In poylishe velder”, in: dies./Gennady Estraikh/Mikhail Krutikov (Hgg.), Joseph Opatoshu. A Yiddish Writer between Europe and America, London 2013, 68–85; Dirk Westerkamp, Die philo­ nische Unterscheidung. Aufklärung, Orientalismus und Konstruktion der Philosophie, München 2009, 145–190. 13 Zu Uri Zvi Grinberg siehe Armin Eidherr, Sonnenuntergang auf eisig-blauen Wegen. Zur Thematisierung von Diaspora und Sprache in der jiddischen Literatur des 20. Jahrhun­ derts, Göttingen 2012, 152–168; Roskies, Against the Apocalypse, 266–274.

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horn gedenkt in seinem bis zum absurden Totentanz gesteigerten Rekvyem (Requiem) von 1922 des millionenfachen Sterbens. Die kriegsbedingte Neuordnung Europas bedeutete, wie oben dargelegt, für die Juden einen gewaltigen Einschnitt. In der Zeit des Ersten Weltkriegs erlebt aber auch die jiddische Literatur einen großen Umbruch: Zwischen 1915 und 1917 sterben die drei großen Klassiker Mendele Moicher Sforim, Scholem Alejchem und Yizchok Leib Perets. Die Frage, welche ästhetischen Wege innerhalb dieses hochdynamischen literarischen Systems vielfältiger radikaler und oftmals widersprüchlicher ideologischer und poetologischer Optionen die moderne jiddische Literatur nehmen würde, war von heraus­ ragender Bedeutung: »Leftists were insisting that Yiddish literature commit itself to klasn-bavustzinikayt (class consciousness), and spirited, sometimes rancorous debates over what was meant by that idea were taking place. Inno­ vative modernist poetic movements were taking shape, and Yiddish writers […] now aspired to achieve recognition as contributors to world literature.«14 Die noch in ihren Anfängen steckende jiddische Literatur wie auch die eben­ falls noch junge jiddische Philologie hatten angesichts der harten und grau­ samen Kriegsrealität einen schweren Weg zurückzulegen.15 Die beiden im Folgenden behandelten Autoren Moyshe Kulbak (1896– 1937) und Yisroel Rabon (1900–1941) verdienen aus dieser doppelten Per­ spektive, der historischen und der literaturwissenschaftlichen, besondere Beachtung. Beide antworten auf Kriegsgewalt, gerade wenn sie antijüdisch geprägt war, mit ästhetisch radikalen Prosatexten. Poetik und Erzähltechnik von Moyshe Kulbaks 1926 erschienenem »kleyner roman« (kleinen Roman) Montik (Montag) und Yisroel Rabons Di gas (Die Straße) von 1928 sind dabei ebenso verstörend wie der – von den für die osteuropäischen Juden traumatischen Kriegserfahrungen geprägte – Subjektentwurf.16 Die Vehe­ menz des ästhetischen Experiments deckt schonungslos die Auslöschung des Individuums auf, dem sich die Spuren des Krieges tief in Körper, Psyche und Gedächtnis eingeschrieben haben.

14 Ellen Kellman, Faint Praise. The Early Critical Reception of Joseph Opatoshu’s “In poy­ lishe velder”, in: Koller/Estraikh/Krutikov (Hgg.), Joseph Opatoshu, 55–67, hier 65. 15 Der jiddische Philologe und charismatische Ideologe Ber Borokhov, der die Zukunft des jüdischen Volkes in der Verbindung aus Sozialismus und Zionismus sieht, bilanziert 1915 in Di eyropeishe milkhome un die yidishe literatur (Der europäische Krieg und die jiddi­ sche Literatur) sowie in Di yidishe literatur in yor 1915 (Die jiddische Literatur im Jahr 1915), in welch großem Maß der Erste Weltkrieg die jiddische literarische Produktion beschneidet. Nachman Mayzel (Hg.), Shprakh-forshung un literatur-geshikhte [Sprach­ forschung und Literaturgeschichte], Tel Aviv 1966, 313–321. 16 Die genaue Bezeichnung lautet Montik. A kleyner roman (Montag. Ein kleiner Roman).

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Krieg, Revolution und Erlösung: Moyshe Kulbaks Montik Moyshe Kulbak, geboren am 20. März 1896 in Smorgon (heute in Belarus), wechselte nach ersten literarischen Anfängen in hebräischer Sprache wäh­ rend des Ersten Weltkriegs zum Jiddischen. Der ehemalige Schüler der berühmten Valožyn (Volozhin) Yeshiva, der sich zunächst für Achad Ha’ams Kulturzionismus begeisterte, erlebte die deutsche Besatzung in Kovno (heute Kaunas, Litauen). Kulbak, ein eifriger Leser der hebräischen, jiddi­ schen und russischen Literatur, wird überzeugter Jiddischist, also aktiver Kämpfer für ein auf dem Jiddischen basierendes, säkulares und primär kul­ turell und nicht religiös begründetes jüdisches Selbstverständnis. Dank sei­ nes beeindruckenden literarischen Schaffens entwickelte er sich bald zur Identifikationsfigur der litauischen Juden im Russischen Reich.17 Moyshe Kulbak, der 1919 von Minsk nach Vilnius zog, wurde zum Wegbereiter der literarischen Strömung Yung Vilne (Das junge Vilnius). Die Literatengrup­ pierung, der neben Chaim Grade, Shmuel Katsherginski und den Malern Bentsye Mikhtom sowie Rokhl Sutzkever der berühmteste jiddische Dichter des 20. Jahrhunderts, Abraham Sutzkever, angehörte, setzte Ende der 1920er Jahre die modernistischen Experimente der jiddischen Lyrik fort.18 Nach einem Aufenthalt in Berlin (1920–1923), das er mit seinem an George Byron und Heinrich Heine angelehnten satirischen Poem Disner Tshayld Herold (Der Disner Child Herold; 1933) in scharfzüngige Verse bannte, kehrte Kulbak nach Vilnius zurück. Im multiethnischen und multikonfessio­ nellen »Jerusalem des Nordens«, im »Yerushalayim d’Lite«, mit langer rab­ binischer Tradition arbeitete der engagierte jiddische Kulturaktivist als Leh­

17 Siehe Robert Adler Peckerar/Aaron Rubinstein, Art. »Moyshe Kulbak«, in: Dictionary of Literary Biography, hg. von Joseph Sherman, Detroit, Mich., u. a., 2007, hier Bd. 333: Writers in Yiddish, 121–129; Shmuel Niger, Moyshe Kulbak, in: ders., Yidishe shrayber in Sovet-Rusland [Jiddische Schriftsteller in Sowjetrussland], New York 1958, 69–131, hier 97–101; Shmuel Rozhanski, Moyshe Kulbak. Der bazinger fun primitiver erdishkayt un yidishn mitos [Moyshe Kulbak. Der Sänger des primitiven Irdischen und des jüdischen Mythos], in: Moyshe Kulbak, Oysgeklibene shriftn [Ausgewählte Schriften], hg. von Shmuel Rozhanski, Buenos Aires 1976, 11–29 (nachfolgend OS). 18 Zur Yung-Vilne-Gruppe siehe bes. Joanna Lisek, Jung Wilne – żydowska grupa artys­ tiyczna [Yung Vilne – eine jüdische Künstlergruppe], Wrocław 2005. Czesław Miłosz bedauert in seinen autobiografischen Erinnerungen Rodzinna Europa (Heimatliches Europa; dt.: West- und Östliches Gelände, 1957), dass er nicht während seiner Wilnaer Jugendjahre als Mitglied der polnischen Dichtergruppierung Żagary – dies die Bezeich­ nung für Fackeln im Wilnaer Dialekt – vom reichen jüdischen Erbe der Stadt erfuhr, son­ dern erst viel später im US-amerikanischen Exil. (Lisek, Jung Wilne, 113.) Laut eines Briefes an Joanna Lisek nahmen Yung-Vilne-Autoren an Autorenlesungen der ŻagaryGruppe teil. (Ebd., 196.)

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rer an jüdischen Schulen und am nunmehr Vilnaer Lehrerseminar. 1927 übernahm er den Vorsitz des PEN-Zentrums für jiddische Literatur.19 1928 siedelte Kulbak in die Sowjetunion über – vielleicht aus familiären Gründen, vielleicht, weil ihm dort die Verwirklichung der jiddischen Kultur­ autonomie greifbarer erschien. Die Romansatire Zelmenyaner (Die Zalme­ nyaner; 1931/35), eine Familiengeschichte um Reb Zalmen Khvost (von russ. »chvost«: »Schwanz«) und seine Nachfahren, begründete seinen Ruhm. In humorvollen Bildern beschreibt Kulbak, wie im nachrevolutionären Russ­ land zwei Welten, das traditionelle jüdische Leben im Schtetl und das moderne Leben der frühen Sowjetzeit, aufeinanderprallen. Am Ende der sozialistischen Umgestaltung der jüdischen Welt, wie zum Beispiel durch die Elektrifizierung, steht die Zerstörung jüdischer Werte. Kulbaks Texte enthalten bei aller inhaltlichen »politischen Korrektheit« in Zelmenyaner zwei Ingredienzen, auf die das Sowjetregime nicht gut zu spre­ chen war: das Messianische, wie es auch in seinem Roman Meshiekh ben Efrayim (Messias, der Sohn des Ephraim; 1924) zu finden ist, und das Sub­ versiv-Satirische. Auf dem Höhepunkt des Stalin-Terrors wird der jiddische Lyriker, Epiker und Dramatiker im September 1937 gemeinsam mit seiner Frau Zhenya während der Proben zu seiner Komödie Binyomin Magidov – das Stück gilt als verschollen – verhaftet. Nach einem Schauprozess wird Moyshe Kulbak am 29. Oktober desselben Jahres erschossen.20 Die Prosa- und Dramenwerke der späteren Jahre dürfen über eines nicht hinwegtäuschen: Moyshe Kulbak war in erster Linie Dichter.21 Seine Veran­ kerung im Volkstümlichen, die Verbundenheit mit der Erde – laut Zalmen Reyzen eine »primitive irdishkayt« (primitive Irdischkeit) – sowie eine in Bildkraft und Rhythmik trotz klassischer Versschemata modernistische Textgestaltung charakterisieren seine Lyrik.22 In diese Gattung fasste er zunächst auch die Erfahrungen des Krieges: Das im Stil einer Volksweise geschriebene Gedicht Shterndl (Stern; 1916) ist Gebet und Gruß eines jüdi­ schen Soldaten von der Front an sein vom Krieg zerstörtes Zuhause.23 Das 19 Peckerar/Rubinstein, »Moyshe Kulbak«, 126. 20 Avrom Novershtern, Art. »Moyshe Kulbak«, in: The YIVO Encyclopedia of Jews in Eas­ tern Europe, hg. von Gershon D. Hundert, 2 Bde., New Haven, Conn./London 2008, hier Bd. 1, 952 f. Moyshe Kulbaks Todesursache war jahrzehntelang unbekannt. In Rachel Ertels lesenswerter Einführung zu Kulbaks Zelmenyaner in der französischen Übertra­ gung ist noch davon die Rede, dass er 1939 im GULag ums Leben gekommen sei. Dies., Les Zelminiens, in: dies. (Hg.), Royaumes juifs. Trésors da la littérature yiddish, Paris 2009, 331–339, hier 333. 21 Vgl. die jiddischen Gedichte Shirim (Lieder/Gedichte; 1920) und Raysn (Belarus; 1922) oder das Stadtpoem Vilne (Vilnius; 1924), mit dem er sensationellen Erfolg hatte. 22 Ertel, Les Zelminiens, 334. 23 Der jiddische Philologe, Literaturkritiker und Kulturaktivist Zalmen Reyzen publiziert das im Stil einer Volksweise geschriebene Gedicht erstmalig 1916 in seinen Literarishe

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lyrische Subjekt bittet einen Stern, als Sendbote (»shliakhl«) zu fungieren und Frau und Kinder zu trösten. Gerade der volksliedhafte Ton erzeugt eine große emotionale Nähe zwischen dem in weiter Ferne leuchtenden Stern und dem einsamen Vater dreier Kinder, die im Gedicht Yankele (Yankel), Leyetse (kleine Lea) und Rivele (kleine Rive, abgeleitet von Rebekka) geru­ fen werden. Zugleich suggeriert der Stern eine noch bestehende, metaphysi­ sche Geborgenheit, die der bestirnte und von Gott bewohnte Himmel dem Individuum im Krieg bieten kann. Das lyrische Ich glaubt fest daran, dass der Allmächtige sich seiner erbarmen werde. Doch schleichen sich in der letzten Strophe Zweifel ein in das Lebensgefühl des Soldaten, das sonst in einer leichtfüßigen und unbeschwerten Liedhaftigkeit Ausdruck findet. Angesichts der Allgegenwart des Todes an der Front, der vielleicht auch vor ihm nicht Halt machen wird, bittet er seinen Stern schließlich: »Zog zey, az Yankele zol men nit zhaleven, gebn in kheyder – genig im tsu baleven! Zol er zikh oyslernen kadesh vi s’darf tsu zayn. Efsher … men veyst nisht … Got vet zikh merakhem zayn!« »Sag ihnen, dass man Yankel nicht schonen soll, in den Cheder mit ihm – man hat ihn genug verwöhnt! Kaddisch soll er lernen wie es sich gehört. Vielleicht … man weiß ja nicht … Gott wird sich erbarmen!« (OS, 29 f.)

Das dem Krieg ausgesetzte Subjekt in Shterndl hat großes Vertrauen in Got­ tes Barmherzigkeit. Zehn Jahre später ist in Kulbaks Roman Montik von die­ sem Gottvertrauen nichts mehr zu spüren. Zwar prangen auch hier leitmoti­ visch die Sterne am Himmel über den (Miss-)Geschicken der Menschen in Zeiten des russischen Bürgerkriegs, doch leuchten sie von einem leeren Himmel ohne Gott herab – und schweigen. In Shterndl dient der Stern als Bote menschlichen Empfindens und ermöglicht einen wenn auch indirekten zwischenmenschlichen Austausch. In Montik entfällt diese Achse der Kom­ munikation von Mensch zu Mensch. Der Mensch ist hier allein mit den

zamlheftn (Literaturalmanache). Es wurde äußerst populär; die Vertonung wurde für ein anonymes Volkslied gehalten und von dem fahrenden Sänger Menakhem Kipnis ins Repertoire aufgenommen. Peckerar/Rubinstein, »Moyshe Kulbak«, 123.

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Gestirnen und mit den Kriegsopfern. Der Stern fungiert nur noch als stum­ mer Zeuge des Mordens und des Revolutionsgeschehens: Als ein Bundist, ein Anhänger der jüdischen sozialistischen Partei, orientierungslos durch die Straßen der »shtot der revolutsyonerer« (Revolutionsstadt; OS, 5) läuft und von der Dunkelheit geschluckt wird, konstatiert der anonym und den gesam­ ten Roman über distanziert bleibende Erzähler nüchtern: »Un iber dem iz gehongen der ber un mit a kiln zilbernem fodem hot er oysgevebt reyne shtil­ kayt iber der finsternish.« (»Über all dem hing der Bär und wob mit kühlem Silberfaden ein Netz reiner Stille in die Finsternis«; OS, 10).24 Kulbaks Gedicht vom Soldaten im Krieg und sein Roman Montik sind durch das Motiv des Sterns sowie durch die Verknüpfung des Kosmischen und des Irdischen miteinander verbunden. Dies kann jedoch über einen gro­ ßen ideellen Unterschied nicht hinwegtäuschen: In Montik, einem Roman über die Revolution als Krieg und die Revolution im Krieg, ist der Mensch unter seinesgleichen, aber auch metaphysisch verwaist. Moyshe Kulbaks Montik. A kleyner roman (Montag. Ein kleiner Roman) erschien 1926 im Warschauer Verlag der Kultur-Lige, der wichtigsten jiddi­ schistischen Institution während der jüdischen Kulturrenaissance im östli­ chen Europa.25 In zwanzig lose aneinandergereihten, surreal wirkenden Kapi­ teln dieses »lyrisch-philosophischen Poems« (»lirish-filosofishe poeme«) werden zwei einander entgegengesetzte Handlungsebenen entfaltet:26 eine Ebene der Reflexion, die die Philosophie des Protagonisten, Mordkhe (Mor­ dechaj) Markus, vorstellt und – als Hintergrund hierzu – eine Ebene der Tat, in der das brutale Bürgerkriegsgeschehen und seine Folgen beschrieben wer­ den. Mordkhe ist ein Außenseiter: ein Intellektueller und mystisch veranlagt. Die meiste Zeit verbringt er in seiner Dachbodenkammer und denkt über die »filosofye fun dem unter-mentsh« (Philosophie des Untermenschen; OS, 86)

24 Der Verweis auf den Großen Bären ist womöglich eine Replik auf Vladimir Majakovskijs Naš marš (Unser Marsch; 1918), in dem das lyrische Ich ebenfalls auf dieses Sternzeichen zu sprechen kommt. Dies ist nur ein Beispiel für Kulbaks beeindruckendes intertextuelles Bezugssystem, das für die jiddische Literatur u. a. Lamed Shapiro und Dovid Eynhorn, für die russische Literatur Isaak Babel und Andrej Belyj einschließt. In einer weiterfüh­ renden Analyse lohnte auch die Intertextualität mit hebräischen Texten. 25 Die Kultur-Lige wurde unmittelbar im Anschluss an die Unabhängigkeitserklärung der Ukraine im Januar 1919 in Kiev gegründet. Schon nach wenigen Monaten besaß sie über hundert Dependancen, u. a. in Minsk, Vilnius, Białystok und Warschau. Ihre Hauptziele waren die Förderung der jüdischen Kunst, der jiddischen Literatur und generell der Bil­ dung für das jüdische Volk. Hillel Kazovskij, Chudožniki Kul’tur-Ligi/The Artists of the Kultur-Lige, Jerusalem/Moskau 2003, 52 (Russ. und Engl.); Gennady Estraikh, The Yid­ dish Kultur-Lige, in: Irena R. Makaryk/Virlana Tkacz (Hgg.), Modernism in Kyiv. Jubli­ ant Experimentation, Toronto/Buffalo, N. Y./London 2010, 197–217. 26 Niger, Moyshe Kulbak, 98.

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nach, die er zu einer Religion des reinen Seins erhebt (OS, 36). Mordkhes Anschauungen sind ein klarer Gegenentwurf zu Nietzsches Übermenschen und Schopenhauers Willensphilosophie. Der buddhistischen Nirwanavor­ stellung ähnlich, strebt er einen absoluten Zustand des rein körperlichen, naturhaften, vorrationalen Daseins an, das von keiner Willensregung geschmälert wird.27 Die ideale Verkörperung des reinen Seins, die auf der totalen Negation des menschlichen Willens basiert, ist ihm der Bettler, der »mentsh fun prostn montag« (der einfache Montagsmensch) im Gegensatz zum Feiertagsjuden (des Sabbats).28 Parallel wird das revolutionäre Treiben im Hause des Doktors Bitshkevski und in der Stadt dargestellt, das zahlrei­ che Menschenleben fordert. Nach Bürgerkriegsgefechten für und wider die neue »Religion« Kommunismus, die über die Stadt hinwegfegen, liegt diese nur scheinbar ruhig zwischen den Bergen. Am Ende des Romans landet der verwundete Mordkhe, verzückt von der absoluten Bedürfnislosigkeit seines Körpers, in einem Krankenhaus. Der Text endet mit einem Lob auf die Trauer und einer phantasmagorischen Vision Jesu, der Mordkhe seine Wun­ den zeigt, dann aber nicht mehr zu sehen ist. Die nicht kriegerische, einzig dieser »seinsphilosophischen Religion« und nicht dem atheistischen und gewaltbereiten Kommunismus zugetane Stimme des Romans ist damit aus­ gelöscht. Kulbak konstruiert Mordkhe Markus, eine Mischung aus Hiob, Jesus und Buddha, als bizarren Gegenpart der Revolutionäre und Rotarmisten. Die Wahl seines Ortes, der Dachkammer außerhalb der Agitation des Bürger­ kriegs, die den Tod Einzelner als notwendige Begleiterscheinung akzeptiert, spricht Bände: Mordkhe findet in der revolutionären Gesellschaft keinen Platz. Laut Joachim Neugroschel, der Kulbaks Roman ins Englische übertra­ gen hat, ist die Erlöserfigur aus der Dachkammer – dies ist auch als Parodie

27 Diese auf Nietzsche und Bergson basierende Lehre stellt er bes. im 15. Kap. vor (OS, 79– 87). Mordkhe predigt seine neue Religion und trägt so dem Gebet der Bettler Rechnung. U. a. heißt es da: »Gotenyu, gotenyu, / ikh vel gornisht nish ton af der velt. / nisht tuendik blien di beymer, / nisth tuendik vaksn di kinder.« (Lieber Gott, lieber Gott, / ich will nichts tun auf der Welt. / Ohne ihr Zutun blühen die Bäume, / ohne ihr Zutun wachsen die Kin­ der. Ebd., 60 f.). Er paraphrasiert hier ein Wort Christi: »Und was sorgt ihr euch um die Kleidung? Lernt von den Lilien auf dem Feld, wie sie wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht« (Mt 6, 28). 28 Niger, Yidishe shrayber in Sovet-Rusland, 99. Die Urerfahrung der neuen Religion Mord­ khes liegt in dessen Kindheit, als er montags die Bettler bewunderte, wenn sie durch die Gassen zogen (ebd., 53 f.). Orn Tsaytlin vermutet die Ursprünge von Kulbaks Seinsphilo­ sophie u. a. in Yitskhak Yosef Poyzners Malkut Ha-Meshiach (Das Reich des Messias), siehe seinen Beitrag Yidishe shaykhesn tsvishn M. Kulbaks »Montog« un Y. Y. Poyzners »Malkut Ha-Meshiach« (Jüdische Bezüge zwischen M. Kulbaks Montag und Y. Y. Poyz­ ners Das Reich des Messias), veröffentlicht in: Shloyme Bikl/Leybush Lerer (Hgg.), Shmuel Niger-Bukh [Das Shmuel-Niger-Buch], New York 1958, 45–55.

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auf Dostoevskijs Menschen »aus dem Kellerloch« zu verstehen – Ausdruck des Unbehagens vieler gläubiger Juden wie auch der jüdischen Intelligenz an der revolutionären Bewegung und der verheißenen sozialistischen Welt.29 Mordkhe Markus’ Lebensphilosophie in einer vom Bürgerkrieg geschüt­ telten Stadt kontrastiert den Bettler mit dem Proletarier, den wehrlosen Armen mit dem Krieger und potenziellen Mörder. Sie stellt dem Existenz­ kampf die reine Existenz und dem tödlichen Klassenkampf die jüdische mystische Vorstellung von den sechsunddreißig Gerechten, den Lamed-Vov­ nikim, entgegen, die die Welt erlösen werden.30 Die Rotarmisten kommen in schwarzgrauen Uniformen mit roten Bändern in die Stadt, die Bettler in Lumpen. Rot ist die Revolution vor allem wegen des (jüdischen) Blutes, das vergossen wird: In einer gespenstischen Szene, die einen schablonenhaften, völlig gesichtslosen Agitator zeigt, wird ein Jude wie von unsichtbarer Hand ermordet. Die anonyme Masse beobachtet das Geschehen, ohne einzugrei­ fen (OS, 47–49). Der Krieg erscheint als chimärenhafte und damit umso bedrohlichere Kulisse. Vereinzelt blendet Kulbak die kriegerischen Streitigkeiten zwischen Rotarmisten und nicht näher benannten Gegnern (Weiße, Konterrevolutio­ näre) ein. Das schemenhafte Aufscheinen der Schlachtfelder des Bürger­ kriegs macht deren Präsenz umso unheimlicher. Im siebten Kapitel Ershte levone-nakht (Erste Mondnacht) gerinnt das Landschaftsbild, das Kulbak evoziert, zu einem phantastischen Sinnbild der Todesstarre: »Af di keylekhdike berg hintern shtot zaynen gelegn di naye meysim, lange, mit farb­ oygene kni un mit oysgeglotste oygn tsum himl. Es hobn kalt geshtoynt di berg in der levone on a mindstn vintele. In der shtilkayt hot zikh gehert, vi dos mide likht rint, rint iber di kalte harugim. Es hobn gekholemt di felder, vi oysgeheylikte in der reyner shtilkayt. Der opgeserkheter soldat iz arumgegangen oyf di berg, er hot opgeshtelt, a feter shotn, iber di derhargete, ibergekert zey, un fun zayne hent hot zikh vaykh aropgegosn di levone. In groz hot zikh adurchgeglitsht a shlang. Keyn shorkh. Keyn rir. Shtil. Un shtiler. Demolt hot zikh a toyter fodem aroyfgetsoygn afn himl, gekrayzlt zikh iber feld un vald vays un shtil.

29 Joachim Neugroschel (Hg.), The Shtetl. A Creative Anthology of Jewish Life in Eastern Europe, New York 1979, 458. 30 Den sechsunddreißig Gerechten, die zumeist als arme Bettler erscheinen, ist Kulbaks Gedicht Lamed-Vov. A lid far Rusland (Sechsunddreißig. Ein Gedicht für Russland) von 1922 gewidmet.

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Er hot geshpunen lang-lang un farvebt, vi mit a kiln pasikl toy, di tunkele meysim afn feld. Der opgeserkheter soldat hot zikh shver aropgezetst af dem arophang, arumgenumen dem barg un geblibn azoy tsu im tsugeklept, vi a yashtserke tsu a shteyn.« (OS, 32 f.) »Auf den runden Hügeln hinter der Stadt lagen die neuen Toten, lang ausgestreckte, mit verbogenen Knien und mit zum Himmel hin aufgerissenen Augen. Kalt staunten die Berge in der windstillen Mondnacht. In der Stille hörte man, wie das müde Licht über die kalten Ermordeten rinnt und rinnt. Die Felder träumten, wie heiliggesprochen, in der absoluten Stille. Der stinkende Soldat ging auf dem Berg herum; er, ein fetter Schatten, blieb über den Ermordeten stehen, drehte sie auf den Bauch, und über seine Hände ergoss sich weich der Mond. Durch das Gras glitt eine Schlange dahin. Kein Rascheln. Keine Bewegung. Still. Und stiller. Da zog sich ein toter Faden in den Himmel hinauf, kreiste über Feld und Wald, weiß und still. Lange, lange zog er sich dahin und umwob, wie mit einem kühlen Taubändchen, die dunklen Toten auf dem Feld. Der stinkende Soldat plumpste schwer auf dem Abhang nieder, umarmte den Berg und blieb so an ihn gepresst liegen, wie eine Eidechse an einen Stein.«

Staunende Berge, träumende Felder – Kulbaks Verlebendigung der Natur bildet einen scharfen Gegensatz zu den überall herumliegenden Toten. Die ins Mondlicht getauchten und in völlige Stille gehüllten Leichen sind bei Kulbak die poetische Entsprechung der metaphysischen Einsamkeit des Menschen angesichts des Tötens im Namen von Krieg und Revolution. Mit dem geschilderten Leichenfeld korrespondiert die phantastisch-grotesk ent­ worfene Totenstadt. Die Einwohner der Stadt sind bizar überzeichnet, marionettenhaft entseelt oder in hohem Maße melancholisch. Über die zitierte Passage hinaus bilden Kälte, Eis, die aus großer Ferne leuchtenden Sterne und der Mond die Leitmotive des Kurzromans. Ebenso sind die kon­ krete wie auch die übertragene Handlungsebene geprägt von einer deutli­ chen Abwärtsbewegung (jidd.: »aroptsu«) – ein möglicher intertextueller Tribut an Dovid Bergelsons Opgang (Der Abgang; 1920) und seinen Schwa­ nengesang auf die jüdische Jugend in dem Provinznest Rakitne. Das Hinab­ steigen von Hängen, Stiegen und Tribünen spielt eine wichtige Rolle, genauso wie der moralische Abstieg der am Bürgerkrieg Beteiligten. Der gesamte Roman ist von einer düsteren und lähmenden Atmosphäre durch­ drungen. Schlaf – Mordkhes Vater, Reb Yude, schlummert ständig vor sei­ nem Laden – und Tod sind omnipräsent. Die fragmentarische Struktur der Handlung als Ausdruck der ins Chaos gerissenen Welt wird kompensiert durch eine lexikalische Leitmotivik. Der

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Lyrik vergleichbar entsteht so ein Netz von Bezügen, das sich über den gan­ zen Text erstreckt. Beispielsweise intoniert Lyenotshke, die Tochter des Dok­ tor Bitshkevski, auf dem Klavier immer wieder Edward Griegs Åses Tod aus dessen 1. Peer-Gynt-Suite. Der »toyter fodem« (tote Faden) aus der angeführ­ ten Passage wickelt auch die Stadt in ein Netz des Todes, aus dem es kein Entrinnen gibt: »un farshpint azoy di gantse shtot arum mit a toytn fodem« (»und umwebt auf diese Weise die ganze Stadt mit einem Faden«; OS, 19). Der einzige Lebende auf dem Totenfeld ist der »stinkende Soldat«. Anders als in Yisroel Rabons Di gas erfahren wir seinen Namen: Lyonik (OS, 69). Eingeführt wird die Figur des aus dem Krieg zurückgekehrten Sol­ daten bereits im dritten Kapitel mit dem Titel Reb Yude (Reb Juda): »Es iz farbeygegangen an opgeserkheter soldat, on an oyer, vi a hunt a geshloge­ ner« (»Ein stinkender Soldat ging vorbei, mit nur einem Ohr, wie ein geschlagener Hund«; OS, 16). Den gesamten Text über bleibt der Soldat gesichtslos. Über seine Lebensgeschichte erfahren wir nichts, dafür umso mehr über seine körperliche wie seelische Deformation. Sein Hauptcharak­ teristikum ist das Epitheton »stinkend«. Es ist auf beide Aspekte seiner Per­ son zu beziehen. Das jiddische Verb »(op)serkhenen« heißt zunächst »stin­ ken«, »einen üblen Geruch verströmen«.31 »Serkhenen« kann aber auch »eine Sünde begehen«, »sich versündigen« bedeuten. In der Tat versündigt sich der Soldat: Die abstoßende Erscheinung kann ihr körperliches Verlan­ gen nicht mehr zähmen und vergewaltigt Gnesye, laut Shmuel Niger der »shotn fun a froy« (Schatten einer Frau).32 In Kulbaks Poetik hat die Szene etwas Unheimliches und Phantastisches, da das gesamte gewaltsame Geschehen nur angedeutet wird (OS, 26 f.). Die Seele des »stinkenden Soldaten« findet keine Ruhe: Während Lye­ notshke im Salon Bitshkevskis Åses Tod spielt, wandert die psychisch und physisch zerstörte Gestalt ruhelos in ihrem Zimmer hin und her und führt Selbstgespräche (OS, 67) – wie später der Soldat in Rabons Di gas. Die zutiefst vereinsamte Person leidet an ihrer Hässlichkeit und Sprachlosigkeit: »[M]ir zeynen emese shtume, vi shteyner« (»wir sind wahrhaftig Stumme, wie Steine«; OS, 69). Welche Kriegstraumata Lyonik ins Schweigen und in die Einsamkeit getrieben haben, erfährt der Leser nicht. Einzig das Kapitel Nokh, nokh (Noch und noch) enthält – aus der Perspektive des Soldaten – einen Rück­ blick auf den Militärdienst. Es ist das einzige Mal, dass die Figur mit Lye­ notshke in direkter Rede spricht. Der ehemalige Rekrut erinnert sich, wie er 31 Groyser verterbukh fun der yidisher shprakh [Das große Wörterbuch der jiddischen Spra­ che], hg. von Judah A. Joffe und Yudel Mark, 4 Bde., hier Bd. 4, New York 1980, 1859. 32 Niger, Moyshe Kulbak, 100. Mordkhe erscheint Gnesye zunächst idealisiert als Wesen »vi fun a bukh« (»wie aus einem Buch«). Ebd., 6.

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während des Krieges mutterseelenallein in einem Tannenwald gelegen hat. Hier erkennt er, dass er wie eine Eule singen kann – und die Eule ein Unglücksbote ist. Die Eulenschreie, die der Soldat Lyenotshke vorführt, ent­ setzen das junge Mädchen und erzeugen Sprachbilder der Gewalt: »[D]er gezang zayner hot ir dokh gegrizhet baym halz, vi men volt im ayngebisn mit foyle tseyner.« (»Doch sein Gesang hat sich ihr in den Hals gefressen, als hätte man mit fauligen Zähnen in ihn hineingebissen.« (OS, 70) Der ehema­ lige Rekrut sehnt sich nach seinem abgeschnittenen Ohr – und nach Liebe. Er fordert von Lyenotshke einen Kuss. Der Erzähler entfaltet nun eine Szene, in der sich Sexualität, eine fast kannibalische Gewalt und Ekel mischen. Als sich der Soldat, vom Begehren übermannt, auf Lyenotshke stürzt, beißt sie ihn in den Hals. Daraufhin windet sich dieser »vi a longer vorem« (»wie ein langer Wurm«; OS, 71). Bereits auf dem Totenfeld mit einer Eidechse verglichen, wird der Soldat hier durch weitere Tiervergleiche charakterisiert. Diese heben das animalische Wesen des Soldaten auf die Ebene der sprachlichen Darstellung. Zugleich wohnt ihnen eine Kritik an Mordkhes Religion der Armut inne. Für Mordkhe, den »Messias vom Dach­ boden«, ist der Bereich der Natur – dazu zählen Tiere und Steine –, ein Raum absoluter Bedürfnislosigkeit. Die ästhetische Charakterisierung des Solda­ ten, der Bedürfnisse wenn nötig auch mit Gewalt befriedigt, und eben diese Naturvergleiche entlarven Mordkhes gewaltfreie Religion als Illusion. Der Verbleib des stinkenden Soldaten Lyonik ist zunächst ungewiss. Im weiteren Verlauf des Romans wird er nur noch erwähnt. Als die revolutionär gesinnte Jugend sich im Hause Bitshkevskis nach ihm erkundigt, erhält man lediglich die Antwort, dass er im Stall liege (OS, 95). Im Taumel der Revolu­ tion wird dieses einsame, vom Krieg gezeichnete Individuum schließlich von Mishe, Mordkhes kommunistischem Antipoden, ermordet (OS, 102). Als grausame Zugabe wird am Ende offenbar, dass Mishe und Lyonik Brü­ der sind.33 Kompositorisch ist in Moyshe Kulbaks Montik der aus dem Dienst entlas­ sene Soldat eine Randfigur. Dennoch hinterlässt diese phantasmagorische, in ihrer Gewaltbereitschaft abstoßende, in ihrer Melancholie bemitleidens­ werte Kreatur einen starken Eindruck. Für Yisroel Rabon hingegen wird die Gestalt des aus dem Krieg entlassenen Soldaten zum Dreh- und Angelpunkt seines Romans Di gas.

33 Der Mord Mishes an Lyonik ist damit auch als Racheakt an der inzestuösen Vergewalti­ gung Lyenotshkes zu sehen.

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Spuren des Krieges in Stadt, Mensch und Text: Yisroel Rabons Di gas (Die Straße) »[Y]unge mentshn, kinder nokh fun der mames brust, hot men tsu akhtsn yor gekhapt in der milkhome arayn … Dort hobn zey zikh oysgelernt hargenen mentshn, shisn, shekhtn eyner dem tsveytn … iz es tsurikgekumen on a got in hartsn, hefker, vild, tse­ lozn …« »[J]unge Menschen, beinahe Kinder, gerade erst von der Mutterbrust weg, hat man mit achtzehn Jahren in den Krieg geschickt … Dort haben sie gelernt, Menschen zu töten, zu schießen, einer den anderen zu erstechen … Kommen ohne Gott im Herzen zurück, zügellos, wild, ausgelassen …«34

Wie Moyshe Kulbak war auch Yisroel Rabon nur ein kurzes Leben beschie­ den. Als Yisroel Rubin kam er im Jahr 1900 in Polen in Gowarczów, einem Schtetl im Distrikt Radom, als Nachfahre einer berühmten chassidischen Dynastie zur Welt. Bereits 1902 zog die Familie nach Łódź. Die multiethni­ sche, von Polen, Deutschen und Juden bewohnte Industriemetropole war um diese Zeit die zweitgrößte Stadt Kongresspolens und für die Juden von besonderer Bedeutung: Nach Warschau hatte Łódź die größte jüdische Gemeinde.35 Rabon war die meiste Zeit seines Lebens mit der Stadt verbun­ den. Er wuchs in Balut auf, einer primär jüdischen Arbeitervorstadt. Diesem Ort und der jüdischen Arbeiterklasse dort setzte er in dem unvollendet gebliebenen Werk Balut. Roman fun a forshtot (Balut. Ein Vorstadtroman; 1934) ein literarisches Denkmal. Rabon, der sich nach der Ausbildung im Cheder autodidaktisch bildete, zeigte früh zeichnerisches und schriftstelleri­ sches Talent. Mit zwanzig Jahren wurde er in die polnische Armee einberu­ fen, um im Polnisch-Sowjetischen Krieg gegen Sowjetrussland zu kämpfen. Isaak Babel steht im selben Krieg zur selben Zeit auf der anderen Seite der Front. Nach dem Krieg kehrte Rabon nach Łódź zurück, wo sich – wie in Vilnius – unter dem Namen Yung Yiddish (Junges Jiddisch) eine jiddisch(is­ tisch)e Künstler- und Literatenvereinigung gebildet hatte.36 Der Autor macht die Stadt zum Schauplatz seines mit autobiografischen Zügen ausgestatteten

34 Rabon, Di gas, Jerusalem, 1986, 30 (dt. 33). Die deutschen Übersetzungen stammen, soweit nicht anders vermerkt, aus Thomas Soxbergers Übertragung, erschienen als Israel Rabon, Die Straße, Salzburg/Wien 1998. Nachfolgend unter DG im Text vermerkt, ergänzt um die Seitenangaben der deutschen Übersetzung. 35 Schuster, Zwischen allen Fronten, 251–255. Zur historischen Darstellungen der multikul­ turellen Stadt siehe bes. ebd. 253, Fn. 44. Łódź ist zugleich Zentrum der deutschen Min­ derheit. 36 Hauptvertreter sind in der Literatur Moyshe Broderzon und Yitskhok Katsenelson, für die Malerei Jankel Adler und Marek Szwarc. Siehe Nathalie Hazan-Brunet (Hg.), Futur anté­ rieur. L’avant-garde et le livre yiddish (1914–1939), Paris 2009, 182–189.

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Romans Di gas (1928).37 Neben diesen beiden großen Prosawerken schrieb Rabon unter mehreren Pseudonymen für verschiedene jiddische Zeitungen und Zeitschriften. Er verfasste zudem Poeme, Balladen und Gedichte. Ein Teil davon erschien in den drei Sammlungen Untern ployt fun der velt (Unter dem Zaun der Welt; 1928), Groer friling (Grauer Frühling; 1933) und Lider (Gedichte; 1937).38 Mit Ausbruch des Zweiten Weltkriegs floh Rabon nach Vilnius, Kulbaks einstiger literarischer Heimat. Über seinen dortigen Tod im Jahr 1941 gibt es unterschiedliche Berichte. Am wahr­ scheinlichsten gilt laut Chone Shmeruk die Aussage seines Schriftstellerkol­ legen Shmuel Katsherginski, wonach Rabon an einem Sommertag von sei­ ner Bleibe in der Schlossstraße durch die Mickiewicz-Straße bis nach Ponary, dem berüchtigten Henkerhügel der Nazis, geführt wurde. Von den Ereignissen schwer gezeichnet, schleppte sich Rabon dahin, »vi nokh zayn eygener levaye …« (»als ginge er hinter seinem eigenen Leichenzug her …«). Auf jenem Hügel wurde er vermutlich erschossen.39 Die Nachwelt besitzt von Rabon wohl kein Foto. Lediglich eine Zeich­ nung von Henekh Bartshinski gibt einen Eindruck von dieser ungewöhnli­ chen, scharfsinnigen und bisweilen polemischen Schriftstellerpersönlich­ keit. Auf dem Bild ist der exzentrische Bohemien, eine Zigarette rauchend, mit großen, dunklen Augen zu sehen. – Wie Kulbak ist auch Rabon ein jiddi­ scher Prosaist und Lyriker, den es insbesondere im deutschsprachigen Raum zu entdecken gilt. Rabons Roman Di gas schildert aus der Ich-Perspektive die ersten Monate eines jüdischen Soldaten nach der Entlassung aus vierjährigem Militärdienst in der polnischen Armee. Heimat- und mittellos wandert er vier kalte Herbst- und Wintermonate durch die Straßen von Łódź. Der Zufall führt ihn mit skurrilen Figuren eines Wanderzirkus zusammen, mit einem Dichter, der Selbstmord begehen wird, sowie mit dessen Frau und anderen, phantasma­ gorisch anmutenden Gestalten. Rabons Poetik trägt – Kulbak, vor allem aber 37 Siehe Thomas Soxberger, Israel Rabons Roman »Die Straße«. Zur Interpretation eines Schlüsselromans der modernen jiddischen Literatur, in: Forum. Homosexualität und Lite­ ratur 47 (2006), 83–102. 38 Die biobibliografischen Angaben folgen Khone Shmeruk, Yisroel Rabon and His Book “Di gas” (“The Street”), in: Yisroel Rabon, Di gas, Jerusalem, 1986, V–L, bes. V–IX. Siehe auch die bearbeitete Version des Beitrags: ders., Yisroel Rabon and his Novel “Di Gas” (“The Street”), in: Polin. A Journal of Polish-Jewish Studies 6 (1991), 231–252. Des Weiteren: Seth L. Wolitz, On Israel Rabon’s “Di Gas” (“The Street”), in: Chulyot. Journal of Yiddish Research 7 (2002), 219–232; Rachel Ertel, »La Rue«. Une errance hallucinée, in: dies., Royaumes juifs, 561–567. 39 Shmuel Katsherginski, Der haknkreyts iber Yerusholaim dlite [Das Hakenkreuz über dem Jerusalem Litauens], in: Yidishe shriftn, hg. von Leo Finklshteyn, Łódź 1946, 102; ders., Khurbn Vilne, New York, 1947, 213; siehe auch Shmeruk, Yisroel Rabon and his Book “Di gas” (“The Street”), XXIII f.

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Bruno Schulz und Franz Kafka nicht unähnlich – phantastische und groteske Züge.40 Der Lyriker und Prosaautor verquickt hierfür häufig eine modernisti­ sche Schreibweise mit Themen und Motiven der sogenannten shund-Litera­ tur, das heißt jiddischer Trivial- und Sensationsschriften.41 Nicht selten irri­ tiert er aufgrund seiner expliziten Darstellung von Sexualität und Gewalt. Zwar tritt in Balut das Groteske zugunsten des Sozialen zurück, doch ist der Grundtenor Rabons derjenige des Dunklen, Makabren, PhantasmagorischAbsurden. Rabon steht durchaus in der Tradition Charles Baudelaires, den er, wie auch deutsche und russische Lyrik, übersetzt hat, und ist damit als »Autor des Bösen« zu sehen.42 Eine realistische Darstellungsweise ist ihm fremd; eine verunsichernde, fast surreale und von schwarzem Humor geprägte (Außenseiter-)Sicht auf die Welt ist Teil seines ästhetischen Pro­ gramms.43 In der Gedicht-Groteske A levaye (Ein Begräbnis; 1933) lässt Rabon einen Toten auferstehen, damit dieser sich bei den Trauergästen bedanken kann, die zu seiner Beerdigung gekommen sind.44 In Yidnfreser (Judenfresser), entstanden in den 1930er Jahren nach der Machtübertragung an Hitler, konfrontiert er den Leser mit fünf Männern und einer Frau, die um einen toten Juden herumtanzen, der in Schweinefett gebraten wird: »Pregl dikh, pregl dikh, zhid!« (»Brate, brate, Jude!«), heißt es darin unverblümt.45 Rabons Kriegserlebnisse mögen ihr Übriges dazu getan haben, da ähnlich grotesk-makabre Elemente Di gas durchziehen.

40 Di gas ist hier durchaus im Kontext von Renate Lachmanns »Phantastik-Konzept« zu sehen. Die groteske, in Teilen beunruhigend surreale Schreibweise erzwingt die Begeg­ nung mit dem Vergessenen und Tabuisierten, nämlich den Kriegsgräueln und deren zer­ setzender Kraft für Individuum und Gesellschaft. Betont wird der ernüchternde anthropo­ logische Befund eines exzentrischen, deformierten und gar anomalen Menschen als Produkt des (Bürger-)Kriegs. Siehe Renate Lachmann, Erzählte Phantastik. Zur Phanta­ siegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt a. M. 2002, bes. 7–26. Diese primär anthropologische Phantastik ist damit ein wichtiges Element der jiddischen Kriegsdichtung. Intertextuell ist Rabons Roman im Zusammenhang anderer Łódź-Texte wie beispielsweise Władiwław S. Reymonts Ziemia obiecana (Das Gelobte Land; 1898), Yisroel Y. Singers Di brider Ashkenazi (Die Gebrüder Aschkenas; 1937), Joseph Roths Hotel Savoy (1924) oder Martina Wieds zwischen 1928 und 1942 verfasster Geschichte eines reichen Jünglings zu verstehen. Siehe Schuster, Zwischen allen Fronten, 252. 41 Shmeruk, Yisroel Rabon and His Book “Di gas” (“The Street”), X f. 42 Im Roman selbst zitiert der Ich-Erzähler aus Charles Baudelaires Les litanies du Satan (DG, 160). Siehe Shmeruk, Yisroel Rabon and His Book “Di gas” (“The Street”), XII und XLVI. 43 Ertel, »La Rue«, 562 f. Rachel Ertel, die Rabon ins Französische übertragen hat, charak­ terisiert seine Schreibweise als »hyperréalisme onirique« (ebd., 563). 44 Shmeruk, Yisroel Rabon and His Book “Di gas” (“The Street”), X. 45 Yisroel Rabon, Lider, Warschau 1937, 15–17, hier zit. nach Shmeruk, Yisroel Rabon and His Book “Di gas” (“The Street”), IX f., hier X. Für das makabre »Juden-Mahl« reiben vier Ratten Meerrettich dazu.

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Im sechsten Kapitel von Moyshe Kulbaks Montik mit dem Titel A soyne, a soyne! (Ein Feind, ein Feind!) träumen zwei arme »Weiblein«, Stesye und Gnesye, die in ihrer grotesken Darstellung auch einem Gogol-Text entsprun­ gen sein könnten, dass sie einberufen werden. Auf dem Weg zum Dajan, der ihnen ihren Traum deuten soll, sinken sie kraftlos auf der Schwelle eines shtibl, eines jüdischen Gebetshauses, nieder und hören: »ergets zenen take gegangen makhnes soldatn fus-trit, trot bay trot, trot bay trot - -« (»irgendwo hörte man tatsächlich Unmengen von Soldatentritten, Schritt für Schritt, Schritt für Schritt - -«; DG, 28). Stiefel, die im Gleichschritt über die Straßen marschieren, haben sich auch dem Ich-Erzähler in Rabons Di gas tief ins Gedächtnis eingegraben. Nach seiner Demobilisierung diktiert ihm der Mili­ tärmarsch immer noch die Schritte: »In der mitlster aley bin ikh gegangen hin un tsurik. – Eyns! Tsvey! Rekhts! Links! – hob ikh geshtelt zelnerish trit un gekukt afn zeyger in turem: – Akht trit a minut! Vayter: rekhts, links, rekhts, links! Es muzn zayn tsen a minut! – […] Nishkoshe, der zelner ligt mir gut in di beyner!« (DG, 6) »Ich ging in der Mittelallee auf und ab. ›Eins! Zwei! Rechts! Links!‹ Ich setzte meine Marschschritte und sah auf die Turmuhr: ›Acht Schritte in zehn Sekunden! Weiter: Rechts, links, rechts, links! Es müssen zehn in der Minute sein!‹ […] Nicht übel, der Soldat liegt mir ganz schön in den Knochen!« (DG, 8 f.)

Der ehemalige Kriegsteilnehmer braucht einige Zeit, bis er sich vom Militär­ drill lösen kann und nunmehr als ziviles Individuum seine Schritte durch die Straßen lenkt. Die Befreiung vom Marschschritt mündet allerdings nicht in Selbstbestimmung. Der demobilisierte Soldat findet weder zu sich und noch zurück in ein »normales« Leben nach dem Krieg. Er wandert ziellos durch die Straßen, folgt willkürlich einzelnen Personen oder wird von der Menge mitgerissen.46 Seinen Weg regiert der Zufall. So wird die Ziellosigkeit des Exsoldaten im Stadtdschungel von Łódź zum Hauptmerkmal von Di gas.47 Dieses Herumirren im Stadtlabyrinth, das in fast ständige Dunkelheit ge­ taucht ist – der Roman beginnt im Herbst und dauert bis zum Winter –, ist auch als persönliche und metaphysische Orientierungslosigkeit zu verstehen. Fast alles in Di gas ereignet sich in düsteren, finsteren Nächten. Auch in den Seelen herrscht Finsternis. Wahnsinn, Melancholie und fiebrige Zu­ 46 Bereits die Entscheidung zu Romanbeginn, nach Łódź zu fahren, entspringt nicht der eigenen Intention, sondern ist Nachahmung einer anderen Person. Der entlassene Rekrut vor ihm kauft am Schalter eine Fahrkarte ins polnische Manchester. Ohne weiter darüber nachzudenken, tut es der Ich-Erzähler ihm gleich (DG, 4 f.). 47 Roskies, Against the Apocalypse, 158.

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stände regieren die Menschen. Wer nicht physisch deformiert oder krank ist, ist ein seelischer Krüppel. Die Stationen während der »errance hallucinée«, wie Rachel Ertel den Roman um den namenlosen Soldaten charakterisiert, ergeben einen Reigen lebendiger Leichname. Der Ich-Erzähler kommt bei einem wahnsinnigen und schwer kranken Schuster unter, einem polnischen Patrioten mit der »maske fun a shed« (»Maske eines Teufels«; DG, 26), der Kinder zwingt, mit ihm Krieg zu spielen.48 Seine Zirkusbekanntschaft, der Clown Dolly, ist schwindsüchtig: »Vi a lyalke« (»wie eine Puppe«; DG, 155) sieht er aus und hat den Tod zum Freund und Verehrer (DG, 156). In einem Obdachlosenheim haust der ehemalige Soldat zwischen Verrückten, Kranken und Krüppeln, also Menschen, die ihren Verstand und ihre Beine im Krieg lassen mussten. Der Dichter Wiktor Fogelnest, den der Ich-Erzäh­ ler ebenfalls des Nachts in der Zirkusmanege kennenlernt, als dieser seine Gedichte rezitiert, nimmt sich das Leben. Lebensbejahende Figuren wie der kraftstrotzende Athlet Jason, auch er ein Jude, bleiben Episode und ziehen weiter. Rabons Roman Di gas ist ein Roman über die Einsamkeit des Menschen, der nach der absurden Realität des Krieges in der Gegenwart keinen Halt findet. Der Text zeigt die totale Entfremdung des Ich-Erzählers von sich selbst, vom Leben und von einer Welt, die nur noch von Schattengestalten bevölkert ist.49 Als der Soldat, ein Schatten seiner selbst, kurz nach seiner Ankunft in Łódź einer Frau begegnet, der er den Korb nach Hause trägt, sagt sie zu ihm: »Vi a mes zet ir oys« (»Wie ein Toter sehen Sie aus«; DG, 29/ 31). Rabons Figur des anonymen Soldaten ist schwer zu fassen, sie ist von diffusen Sehnsüchten (nach einer Frau) und fiebrigen Kriegserinnerungen durchzogen. Entfremdet ist der Soldat auch von seiner Selbstwahrnehmung als Juden: Kein einziges Mal führt ihn der Weg zu einer Synagoge, auch sprachlich entfernt er sich von allem Jüdischen.50 Seine abschreckende Con­ ditio humana ist die des (sich selbst) Fremden in einer Nachkriegswelt voll Argwohn und Abscheu, in der der einstige Kämpfer zum Abschaum wird: »[…] men hot mikh farshlosn af a gas« (»[…] man hat mich auf die Straße gesperrt«; DG, 27/29) ist die nüchterne Erkenntnis des Protagonisten. Er ist ganz unten angekommen und ähnelt dabei den Erniedrigten und Beleidigten

48 Der Schuster lässt mehrere Kinder als Vertreter der Großmächte antreten. Schließlich soll der kleine Fabianek, der kranke Sohn eines deutschen Unteroffiziers, als Repräsentant Deutschlands erhängt werden. Der Ich-Erzähler greift ein und rettet das Kind. 49 Shmeruk, Yisroel Rabon and His Novel “Di gas” (“The Street”), 241; Ertel, »La Rue«, 565. 50 Kurz nach seiner Ankunft in Lódź betritt er eine russisch-orthodoxe Kirche (DG, 11 f.). Auch spricht er vornehmlich Polnisch (Shmeruk, Yisroel Rabon and His Book “Di gas” (“The Street”), XLII–XLIV.

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Dostoevskijs.51 Doch fehlt ihm jeglicher Heilsimpetus. Damit ist Rabons bettelarmer Rekrut auch keine Variation von Mordkhe Markus, dem heiligen Armen, dem »oreman« aus Montik, sondern sein Gegenteil: Kein Gebet kommt über seine Lippen. Der Kristallisationspunkt all dieser Episoden, Zufallsbekanntschaften und irrwitzigen Figuren ist das Bewusstsein des Ich-Erzählers. Sein fieberhafter Geisteszustand bewirkt eine Ästhetik der Verzerrung: Die Figuren sind gro­ tesk überzeichnet, die Stadteindrücke des Flaneurs wider Willen hypertro­ phiert. Sie ähneln inhaltlich und ästhetisch solchen des Expressionismus, der ebenfalls eine doppelte Entfremdung zeigt, die Entfremdung vom Menschsein durch den Krieg und diejenige durch die Großstadt. Wie bei Otto Dix, Ernst Ludwig Kirchner oder Ludwig Meidner trägt die Stadt apo­ kalyptische Züge. Sie wird diabolisiert: Die Lichter der Stadt hält der erschrockene Ich-Erzähler für »ongetsundene oygn fun sheydim« (»glühende Augen von Dämonen«; DG, 49/51). Der krankhafte, destruktive Gestus des Textes erinnert an Chaïm Soutine, die Entmenschlichung des Menschen, seine weltanschauliche und ästhetische Vertierung an Bruno Schulz.52 Rabons narrative Technik, aus der Perspektive eines entzündeten Gehirns die Irrgänge durch die Stadt und durchs eigene Ich zu schildern – eine für Dostoevskijs Untergrundmenschen typische Haltung –, entführt den Leser auf unsicheres Gelände. Die Grenze zwischen Realität und Imagination ver­ wischt sich ständig. Die Traumwelten von Zirkus und Film – der Soldat arbeitet aufgrund seiner erzählerischen Begabung (!) eine Zeit lang als Spre­ cher bei Stummfilmvorführungen – erscheinen wirklicher als die Wirklich­ keit. Die hohe Phantastik der erlebten und erzählten Episoden verwandelt die verzerrten, verunstalteten Figuren und Szenen in ein Inferno à la Hiero­ nymus Bosch. Das Alptraumhafte der Narration lässt Zweifel daran aufkom­ men, ob all die bizarren Identitäten real sind oder dem kranken Geist des Ich-Erzählers entspringen.53

51 Die Affinität Rabons zu Dostoevskij zeitigt ein übersetzerisches Ergebnis: Dostoevskijs Besy (Die Dämonen) erscheinen 1929 in Warschau auf Jiddisch in der Übertragung von Yisroel Rabon. 52 Zahlreiche Charakterisierungen der Figuren enthalten Tiervergleiche: Der wahnsinnige Schuster springt »vi a kats« (»wie eine Katze«; DG, 19) oder »vi a volf« (»wie ein Wolf«; DG, 24), um den kleinen deutschstämmigen Fabianek zu peinigen. Das kleine Kind wie­ derum blökt in Todesangst »vi a kalb« (»wie ein Kalb«; DG, 20) und heult »vi a hunt« (»wie ein Hund«; DG, 21). Der Athlet Jason bezeichnet sich als »shtark vi a valfish« (»stark wie ein Wal«; DG, 121). Ehemalige Soldaten treiben sich »vi di vilde roybfeygl« (»wie wilde Raubvögel«; DG, 31) in der Stadt umher; ein beinamputierter Invalide im Obdachlosenheim stützt sich auf seine Hände, die wie Greife von Raubvögeln aussehen (DG, 201). 53 Ertel, »La Rue«, 565.

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Schonungslos präsentiert Rabon die unmittelbare Nachkriegszeit mit ihren gravierenden individualpsychischen und sozialen Schäden. Die Men­ schen sind krank. Die wirtschaftliche und politische Situation in der Stadt ist angespannt, es kommt zu Streiks. Wie Kulbak koppelt Rabon das Thema Krieg an dasjenige des Sozialismus. Das düstere Nachkriegspanorama ergänzt der Erzähler um Einzelporträts und Einzelepisoden der nicht lange zurückliegenden Kriegsgewalt. Neben dem bereits erwähnten verrückten Schuster geben der Zirkusathlet Jason und ein galizischer Jude, den der hun­ gernde und erschöpfte Soldat im Obdachlosenheim kennenlernt, in langen Digressionen ihre Kriegserlebnisse wieder.54 Nach seinen Irrgängen durch die Stadt ruht sich der Ich-Erzähler im zwölften Kapitel in einem dunklen Zirkuszelt aus. Er hat Fieber. Ähnlich wie in Kulbaks Montik suchen den ehemaligen Soldaten Kriegserinnerungen heim: »[R]oye un blutike bilder« (»rohe und blutige Bilder«; DG, 84) stei­ gen in ihm auf. Im Folgekapitel kehrt in einem Fiebertraum die Zeit in den Eis- und Schneefeldern Weißrusslands wieder – Gajto Gazdanovs Held aus Prizrak Aleksandra Vol’fa (Das Phantom des Alexander Wolf) spricht von der Unvergesslichkeit der »ledjanom vozduche zimnej noči« (»Eisluft einer Winternacht«).55 Die Soldaten, von Krähen bewacht – die Krähe wird dem Erzähler »a shomer fun toyt« (»ein Wächter des Todes«; DG, 85/85) –, war­ ten zwei Monate auf ihren Einsatz.56 Die Kriegsschlacht wird schließlich als Mischung aus Puppentheater und Phantasmagorie beschrieben. Das Bild der Blindheit dominiert (DG, 86 f.); Menschen erscheinen als »lyalkes« (»Pup­ pen«; DG, 87). Nach dem Gefecht wandert der Ich-Erzähler durch die Winterlandschaft, vorbei an »toyte mit vergleyzte oygn« (»Toten mit glasigen Augen«; DG, 86/ 87). Angesichts der Endlosigkeit des unendlichen (belarussischen) Raums kreiert der Erzähler das Bild ewiger Finsternis, das in der Stadtbeschreibung wiederkehrt. Sein Bewusstsein scheint am Rande des Wahnsinns zu stehen. 54 Als Jason und seine Geliebte Ella in die Kriegswirren geraten, wird Jason von Weißgar­ disten gefoltert. Sie hetzen hungrige Schweine auf ihn, den Juden, und auf seine Kamera­ den (DG, 130 f.). Der Mann Ellas schneidet dieser in einem grausamen Racheakt für ihren Liebesverrat die Brüste ab (DG, 135). Ein namenloser Jude, mit dem der Erzähler am Ende des Romans nach Kattowitz aufbrechen wird, berichtet von der Willkür seiner russi­ schen Vorgesetzten während eines Gefangenentransportes. Er landet schließlich in China, wo er chinesischen Christen als »Ausstellungsjude« gezeigt wird (DG, 208–226). 55 Gajto Gazdanov, Prizrak Aleksandra Vol’fa [Das Phantom des Alexander Wolf], in: ders., Sobranie sočinenij v trech tomach [Gesammelte Werke in drei Bänden], Bd. 2, Moskau 1996, 5–122, hier 120 (dt.: Das Phantom des Alexander Wolf, übers. von Rosemarie Tietze, München 2012). 56 Krähen als Todesboten haben in der jiddischen Kriegs- und Pogromliteratur Tradition und sind ein wichtiges Bindeglied zu Peretz Markishs Gedichtzyklus Di kupe (Der Haufen, 1921/22) oder zu Joseph Opatoshus In poylishe velder.

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Die Atmosphäre von Eiseskälte und Todesstarre nach dem Kampf deckt sich auf frappierende Weise mit derjenigen in Kulbaks Roman. Generell wird das Frontgeschehen als Eiszeit dargestellt. Verstärkt wird dies durch drastische Vergleiche – der Ich-Erzähler fühlt sich zu Boden fallen »vi a gefroyrenem foygl« (»wie ein gefrorener Vogel«; DG, 88) – oder etwa das Oxymoron »der frost hot gesmolyet und gebrent« (»der Frost biss und brannte«; ebd., 88). Halb erfroren stolpert der Ich-Erzähler nach dem Kampf über ein verwun­ detes Lastpferd. Der Überlebenstrieb gibt ihm einen wahnwitzigen Gedanken ein: Mit dem Bajonett ersticht der Soldat das Tier, wärmt sich am heraus­ strömenden Blut und reißt ihm die Gedärme heraus. Dann schlüpft er unter die ausgehöhlte Bauchdecke des Pferdes, wo ihn der Schlaf übermannt. Als er erwacht, durchlebt der Ich-Erzähler eine makabre Kreuzigung: »Ikh bin geven ayngefroyrn in der erd. Fun kop biz fis ayngehilt in a blutikn, roytn pantser fun farfroyrn bordo royt blut. Di hent hob ikh nisht gekent aroplozn. Zey zenen geven tseshpreyt. Mayne fis hob geklept tsu der erd, un oysgezen hob ikh vi a tseylem. Got mayner! Ikh bin geven ayngevaksn in der erd vi a royter, blutiker tseylem. Ikh – a blutiker, royter tseylem, vos shtekt in der erd. Ikh – a blutiker tseylem af a vaysrusishn step!« (DG, 91) »Ich war an die Erde gefroren. Ich war von Kopf bis Fuß in einen blutigen Panzer von gefrorenem, bordeauxrotem Blut gehüllt. Ich konnte die Arme nicht wieder senken. Sie blieben ausgebreitet. Meine Füße hafteten an der Erde, und ich hatte die Form eines Kreuzes. Mein Gott! Ich bin an die Erde festgewachsen, wie ein rotes, blutiges Kreuz! Ich bin ein blutiges rotes Kreuz, das in der Erde steckt.57 Ich bin ein blutiges Kreuz in der weißrussischen Steppe.« (DG, 90)58

Der hier vom Pferdeblut bedeckte und zum Eiskreuz erstarrte Soldat erscheint als Kontrafaktur der Kreuzigung Christi. Motivisch und rhetorisch wird diese groteske Kreuzigung bereits im Text präfiguriert – zumeist in Form von Vergleichen mit spitzen Nägeln: Die eisige Luft sticht den IchErzähler »vi mit shpitsn fun mesers« (»wie mit Messerspitzen«; DG, 86) und mit »kalte, shtolene tsungen« (»kalten, stählernen Zungen«; DG, 88). Nach der Schlacht hängt »a blutiker, royter harter tsapn« (»ein blutiger, roter, har­ ter Zapfen«; DG, 87/87) am Fuß des verletzten Soldaten, als habe ihm jemand »durkhn fusgebeyn adurkhgehakt a rizikn nogl« (»einen riesigen 57 Dieser Satz fehlt in der Übertragung Thomas Soxbergers und wurde hier von der Verfas­ serin ergänzt. 58 Das Bild des Kreuzes inmitten der Pferdeinnereien, bedeckt mit silbernem Reif, wird noch ein drittes Mal aufgerufen: »vi a toytn-lyalekh iz geshtanen a lebediker, blutiker tseylem« (»wie mit einem Leichentuch, stand ein lebendes, blutiges Kreuz«; DG, 91). Christi Figur und Kreuzigung sind ein verbreitetes Motiv in der jiddischen Literatur der Moderne. Hierzu Matthew Hoffman, From Rebel to Rabbi. Reclaiming Jesus and the Making of Modern Jewish Culture, Stanford, Calif., 2007.

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Nagel durch den Fußknochen geschlagen«; DG 87/87). Die Zunge des Pfer­ des läuft am Ende spitz zu (DG, 89). Der Vergleich mit den Spitzen – man kann sich nicht der Reminiszenz an Kafkas In der Strafkolonie erwehren, in der die Nadeln einer Exekutionsma­ schine Delinquenten ihre angeblichen Vergehen in die Haut einschreiben – zieht sich als Leitmotiv durch den gesamten Text. Der galizische Jude, dem der Ich-Erzähler im Obdachlosenheim begegnet, erinnert sich der entsetzli­ chen Kälte während seiner russischen Kriegsgefangenschaft, die ihn wie »shtekhendike nodlen« (»stechende Eisnadeln«; DG, 211) gepeinigt hat. Als dieses Leitbild des Romans am Ende in Fogelnests Manuskript wiederkehrt, dessen Handschrift an »nodlen – di ekn in blut« (»Nadeln – mit Spitzen von Blut«; DG, 234) gemahnt, tritt erneut seine martyrologische Dimension zutage. Diesmal ist sie ausgedehnt auf Fogelnests Schrift und das Schreiben. Schreiben ist für ihn zum Martyrium geworden.59

Der Brudermord als Ursprung des Krieges: Moyshe Kulbak und Yisroel Rabon im Vergleich Der Erste Weltkrieg, der russische Bürgerkrieg und der Krieg zwischen Polen und Sowjetrussland 1920 haben Millionen Menschenleben gefordert. Für die Juden Mittel- und Osteuropas bedeuteten diese Jahre Vertreibung, Verfolgung, Exil und Tod. Moyshe Kulbak und Yisroel Rabon nehmen in den riesigen Schlachtfeldern Europas und besonders Russlands jüdische Einzelschicksale in den Blick. Deren Fiktionalisierung des Krieges zeigt mit Mordkhe, Lyontik und dem anonymen Soldaten Individuen am Rande der Gesellschaft. Alle sind sie Außenseiter. Die beiden Soldaten in Montik und Di gas verkörpern in ihrer psychophysischen Verkrüppelung die totale Ver­ einsamung, Entfremdung und Entmenschlichung. Mordkhe Markus, Kul­ baks messianische Außenseiterfigur, die noch an einem Menschenideal, nämlich demjenigen des nichts wollenden Menschen festhält, steht ihnen in einem nicht nach: Er stirbt am Ende von Montik so, wie Rabons Ich-Erzähler in die Stadt kommt: »on a got in hartsn« (»ohne einen Gott im Herzen«; DG, 30/33). Der Erzähler in Kulbaks Montik beklagt die Ruinen der Welt (»khurbn fun der velt«; OS, 27), derjenige Rabons die Ruinen des Subjekts. Beide bekräftigen die bittere Erkenntnis, die unter anderem später im Werk 59 Auch das Pferd als Sinnbild der geschundenen Kreatur kehrt mehrfach im Text wieder, u. a. im Zusammenhang mit dem Dichter Fogelnest, der tiefes Mitgefühl für ein sterben­ des Pferd empfindet. Mit dieser Episode wird Fogelnests Tod vorweggenommen. Siehe DG, 235; Shmeruk, Yisroel Rabon and His Book “Di gas” (“The Street”), XLV–XLVII.

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des polnisch-jüdischen Autors Julian Stryjkowski Ausdruck findet: Der Erste Weltkrieg bedeutete »den Untergang einer Epoche, die den Menschen noch metaphysisch als Subjekt dachte«.60 Die Brutalität und Absurdität der Kriegserfahrungen lässt Vorstellungen vom Jenseits oder von Transzendenz und die Gewissheit, dass das (menschliche) Sein in einer höheren, sinnstif­ tenden Instanz begründet liegt, wie ein Kartenhaus zusammenfallen. Die Leitmotivik um Kälte und Dunkelheit, die beide Texte verbindet, ist auch symbolisch zu verstehen: Die metaphysische Einsamkeit rückt Erzäh­ lerstandpunkt und Poetik ins Vage, Labile, Verstörende. Beide Prosawerke schwanken zwischen Realität und Phantastik, zwischen melancholisch-ele­ gischer Erhabenheit und Groteske. Rabons Roman stellt generell die Validi­ tät menschlicher Erfahrung, die zwischen Wahrheit und Lüge schwankt, infrage. Er exponiert eine radikale, nicht hintergehbare Andersheit: Wer im Krieg war, ist verändert.61 Mordkhe Markus aus Kulbaks Montik trägt in ein Heft die Vision von zehn Zaddikim ein und dies gerät gar zum Kommentar zu Rabons Di gas: Der Mensch mag zwar mit all seinen Sinnen die Welt erfahren und erfassen – doch ist nicht alles Trug (»farblendenish«; OS, 37)? Kulbaks und Rabons extreme ästhetische Verfremdung ist letztendlich Aus­ druck der kriegs- und revolutionsbedingten Entfremdung. Beide jüdischen Autoren greifen für die Darstellung der moralischen Ver­ wahrlosung und metaphysischen Vereinsamung als Folge des Krieges auf die Christusfigur zurück. Was Mordkhe Markus in Montik in seiner Vision der zehn Zaddikim erkennt, bestätigt sich in seiner letzten Vision vor seinem Ableben: Gott existiert nicht (OS, 37 und 116). Im Schlusskapitel Mordkhe Markus zogt vide (Mordkhe Markus sagt das Sündenbekenntnis vor dem Tod) zeigt sich ihm Christus, seine Identifikationsfigur, und zeigt ihm seine Wunden. Doch ganz am Ende sieht er nur noch einen Esel, »ober er iz nishto« (»doch er ist nicht da«; OS, 116). Rabon radikalisiert die christliche Lehre um Jesus als den Erlöser. Außer der Kontrafaktur der Kreuzigung wird auch die Heilige Kommunion, also der Empfang des Leibes Christi in Form einer Hostie, karnevalistisch umge­ deutet: In einer Fieberphantasie erlebt der Ich-Erzähler, wie er »vi a gekreyt­ sikter« (»wie ein Gekreuzigter«; DG, 54/54) in einen Brotlaib eingebacken wird. Der Menschen-Laib wird später von Menschen geteilt, die »di farblu­ tikte shtiker fun dem goldenem breytl« (»die blutigen Stücke des goldenen

60 Ewa Kobylińska, Nachwort, in: Julian Stryjkowski, Asrils Traum. An den Weiden … unsere Harfen. Zwei Erzählungen, aus dem Poln. von Karin Wolff, Frankfurt a. M. 1995, 267–287, hier 271. 61 Die weiblichen Gestalten erscheinen in beiden Romanen zumeist als positive, schützendliebende (Märtyrer-)Figuren.

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Brotes«; DG, 55/55) essen.62 Dies Gebackenwerden als groteske Inversion der Hostie, die Christi Leib repräsentiert, beobachtet der Ich-Erzähler auch für Soldaten anderer Nationen. Wie das Gedicht Yidnfreser erzählt implizit auch Di gas von der Vernichtung von Juden durch Christen. Zugleich ent­ tarnt der Erzähler mit dieser Episode den Krieg als Kreuzigung der Mensch­ heit.63 In der Erfolglosigkeit des Bestrebens, auf die Sinnlosigkeit des Mordens im Krieg eine Antwort zu finden, tut sich zwischen Moyshe Kulbaks Montik und Yisroel Rabons Di gas eine weitere Parallele auf. Als Rabons Ich-Erzäh­ ler als ein mit Tierblut überzogenes Menschenkreuz in der Eiswüste steht, »[d]em ferds blut hot genumen shrayen af mayn layb« (»begann das Blut des Pferdes auf meinem Körper zu schreien«; DG, 91/91). Dieser rabonsche Schrei des Blutes evoziert die Ermordung Abels durch Kain in Bereschit (Genesis) 4, 10: »Vajomer me asita kol dmey achicha zo’akim elay min haadama.« (»Der Ewige sprach: Was hast du getan? Die Stimme von deines Bruders Blut schreit aus der Erde zu mir.«)64 Durch die motivische Anleihe aus der Thora wird der Brudermord auch auf die Kreatur ausgedehnt. Das Tier wird in diesem Kapitel als Bruder des Menschen apostrophiert. Dem Ich-Erzähler scheint es, als könne es sprechen und klagen.65 Letzten Endes verlacht das tote Tier denjenigen, der ursprünglich von Gott auserkoren war, über Natur und Kreatur zu wachen (DG, 91). Der Mensch, der diesem Auf­ trag nicht folgt, verdient keinen Respekt mehr, mag er auch, wie der IchErzähler, auf die Knie fallen und das Pferd um Vergebung bitten. In dem bereits erwähnten Kapitel von Kulbak Nokh, nokh, das düstere Erinnerungen an Kriegserlebnisse enthält, kommt der stinkende Soldat auf den Brudermord Kains an Abel zu sprechen. Aus einer paradoxen Denkbe­ wegung führt dies zu einer radikalen Umwertung der tanachischen Ursprungsgeschichte: »Du host gehert men zogt: kayn hot geharget zayn bruder – muz er opkumen di shtrof. Ober vu iz kayn? Varvos zet men im nisht, in ergets nisht? Un vu iz der tseykhn af zayn shtern. Nishto. […] veystu far vos? Der derhargeter hot oykh genumen oyf zikh tsu

62 In Peretz Markishs Di kupe wird eine Kommunion mit jüdischem Blut gefeiert, anlässlich derer gleichzeitig auf den jüdischen Gott, auf Allah und auf Christus angestoßen wird. Ders., Di kupe, Warschau 1921, 19. 63 Roskies, Against the Apocalypse, 158. 64 Zit. nach Tora neviim vketuvim. Biblia Hebraica Stuttgartensia, Stuttgart 1997, 6 (dt.: Die Tora nach der Übersetzung von Moses Mendelssohn mit den Prophetenlesungen im Anhang, hg. von Annette Böckler, Berlin 2002). In der Übertragung des Tanach ins Jiddi­ sche durch Yehoyesh heißt es: »hot er gezogt: vos hostu geton? der kol fun dayn bruders blut shrayt tsu mir fun der erd.« Zit. nach Toyre neviim uksuvim, New York, 1941, 6. 65 Als der Soldat das belgische Kaltblut durchbohrt, entfährt diesem ein zutiefst menschli­ ches »Oy!« (»Oh!«; OS, 89).

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trogn dem tseykhn fun kayn. […] kayn redt tsu mir un er fregt bay mir. Her, vos kayn fregt bay mir: farvos hostu nisht eyngeviklt dem oyer daynem in a papirl un gebrakht aheym? Tsir, tsir, tsirrr.« (OS, 70) »Du hast gehört, dass man sagt: Kain tötete seinen Bruder – also muss er die Tat süh­ nen. Aber wo ist Kain? Warum sieht man ihn nicht, nirgendwo? Und wo ist das Zeichen auf seiner Stirn. Nicht da. […] Weißt du weshalb? Der Ermordete hat ebenfalls begon­ nen, das Kainsmal zu tragen. […] Kain spricht zu mir und fragt: Weshalb hast du dein Ohr nicht in Papier gewickelt und mit nach Hause gebracht? Tsir, tsir, tsirrr.«

Die Umdeutung des stinkenden Soldaten ist radikal: Auch Abel trägt das Kainsmal. Täter und Opfer sind damit ununterscheidbar. Damit lautet Kul­ baks Fazit: Alle sind Mörder.66 Die letzten Worte des Soldaten sind Tier­ laute: »Tsir, tsir, tsirrr« – imitiert er die Eule. Rabons Pferd sagt mit spött­ ischem Blick zum Soldaten: »Mentsh! … Mentsh!« (»Mensch! … Mensch!«; OS, 92). Der Soldat spürt in sich daraufhin tatsächlich eine menschliche Regung. Er fällt vor dem Tier auf die Knie und rauft sich die Haare. Mag laut Kulbaks düsterem Fazit jeder Mensch Kain sein, so dürfen wir den Hoffnungsschimmer in Rabons Kriegsepisode nicht übersehen: Des Soldaten Kniefall ist ein Akt der Reue. Immerhin.

66 Diese Erkenntnis wird im Text auf traurige Weise realisiert: Der Revolutionsfanatiker Mishe erschießt seinen eigenen Bruder, als der Lyonik sich erweist. Kulbak knüpft mit dem Kainsmal, Rabon mit dem erstarrten Kreuz-Menschen an einen bis zum Äußersten drastischen Text der jiddischen Pogromliteratur an. In Lamed Shapiros Der tseylem (Das Kreuz; 1909) ermordet ein Pogromopfer, dem seine Peiniger ein Kreuz in die Stirn geritzt haben, zunächst seine Mutter und dann seine einstige Liebe Mina, nachdem er diese ver­ gewaltigt hat.

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Glenda Abramson

The Return of the Soldier: S. Y. Agnon’s Novels of the First World War In the Hebrew writing of World War I, fiction, documentary and memoir are so intertwined that it is difficult to distinguish between them. Most of the Hebrew novels about the war were based on personal experience, and Agnon’s two novels set in wartime Germany, Ad hena (To this Day; 1952) and Ba-hanuto shel Mar Lublin (In Mr Lublin’s Store; 1974), are no excep­ tion. From the perspective of his non-combatant protagonists, Agnon is describing, with historical precision, the effects of the war on the home front, the society and the individual, certainly based on his own experience. This essay examines these two novels as representing, at least in part, Agnon’s own life in Berlin and Leipzig during the war years, and his fare­ well, particularly in the later novel, to German Jewish life and culture that ended with World War II. Until the composition of Ad hena, World War I had not appeared as a cen­ tral topic in Agnon’s stories or novels. However, it constitutes the historical context in works such as Oreah natah lalun (A Guest for the Night; 1939), which deals with the changed and crumbling world of the narrator’s youth in Galicia after the war. The short story Fernheim (1949) tells of a prisoner-ofwar who returns home to face an unfaithful wife and her hostile family, and Beyn shtei arim (Between Two Cities; 1946), while addressing religious zealotry, deals with a severely wounded soldier. The war reappeared in Agnon’s posthumous Ba-hanuto shel Mar Lublin, his last work, both as an historical phenomenon and an unavoidable element of human existence: “War never leaves the world. All the nations are ready to make war. They always make war. And if you’ve ever seen a nation that has no war you can be sure that it is preparing itself for war.”1 Despite the difficulties Agnon endured in attempting to find lodgings and sources of sustenance after his arrival in Berlin in 1912 and throughout the war years, he did not neglect his literary activities, writing, revising and pub­ lishing his work. However, none of the works written between 1914 and 1918 dealt either with the war or with his life in Germany, his attitude to 1

Shmuel Yosef Agnon, Ba-hanuto shel Mar Lublin [In Mr Lublin’s Store], Jerusalem/Tel Aviv 1974, 30. Page numbers in the text refer to this edition and references indicated by ML; idem, Ad hena [To this Day], Jerusalem 1966. References to Ad hena will be indi­ cated as AH. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 263–282.

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German Jewry and Germans in general or, indeed, with Eretz Israel. He had left his home in Jaffa to go to Germany and the question of return to Eretz Israel became a strong preoccupation only later, in the novel Ad hena. His concern during the war years, on the other hand, was the life and culture of East European Jewry, another life he had left behind. He confronted the war years several decades later in the two novels men­ tioned above and a bare handful of short stories, only two of which were published. In these works the war may be no more than the historical moment into which the protagonist has been thrust or it may constitute an objective correlative of loss and ruin. However, Agnon has reproduced its atmosphere with fidelity and the attention to descriptive detail of one who experienced it. The war is foregrounded in the novels in all its horror and chaos, a literally inescapable part of the narrator’s life. In both novels the war is a thread in the fabric of the protagonist’s life: In Ba-hanuto shel Mar Lublin it is much more tangible as an historic event, while in Ad hena it gains a stronger symbolic emphasis.

The War and Germany – Background At the outbreak of the war, the German Jews threw themselves into a frenzy of patriotism due to their belief that in their shared Germanness they faced a common enemy together with their nation. Not only did they provide a large proportion of volunteers in the army, but they were also disproportionately active on the domestic front. Agnon writes in Ad hena about a Jewish mother whose eyes shone with joy for the privilege of having a son who would be prepared to defend his fatherland (moledet) (AH 18). Almost the entire German-Jewish community saw this historical moment of the war as a great patriotic impetus and shared in the general euphoria. It appeared to them to be an opportunity to completely and permanently legiti­ mize their civil rights and achieve integration into German society. When at the outbreak of hostilities Wilhelm II claimed that he did not know any par­ ties, only Germans, a large segment of the Jewish community interpreted this message with optimism, convinced that they could finally be able to share a common national destiny. Moreover, many young Jews were willing to accept Christian mores and beliefs relating to war in general and this war in particular in order to precipitate the process of assimilation.2 Whatever the reason, writes Agnon, “from the outbreak of the war the Jews hastened 2

See George Mosse, The Jews and the German War Experience, 1914–1918, in: Nils Roe­ mer (ed.), German Jewry. Between Hope and Despair, Boston, Mass., 2013, 180.

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with urgency to protect their land.”3 Many Zionist leaders of the time agreed with this urgency and prosperous Jews, like Mr Lublin in Agnon’s novel, enthusiastically supported the war in defence of their nation. The assimilated and successful Mr Lublin tells the narrator: “I had already despaired of the Jews. I pay my community tax and if they ask me for money for any Jewish institutions, I give it to them, and from time to time on the High Holy Days I go to the Temple. But since the war began, I have changed my mind and begun to think favourably about the Jews because it’s not possible that there cannot be some kind of positive change when Germany sees that all of us, all her Jewish citizens, sacrifice our sons and our money for the sake of the war against the enemy, and is it possible that after all this they will still deprive us of our rights?” (ML 152)

It appears, however, that Agnon, or at least his narrator, disapproved of the young Jews’ readiness to sacrifice themselves for their nation. A knifesharpener in Ba-hanuto shel Mar Lublin comments that the teeth of the war are sharper than a knife’s and that it would not surprise him if they grew even longer through overeating. “I [the narrator] said to Rabbi Jonathan, Did you hear that? While our brothers in Germany are eager to deliver their bodies and souls and possessions for Germany’s war, a German Gentile says such a thing.” (ML 48) All this patriotism, however, did not bear the expected fruit. Anti-Semitism was growing in the German population and the armed forces alike. There was still the conviction that the Jews could not be courageous combatants and in 1916 the Ministry of War issued an order for a “Jewish census” of the army and navy after almost 3,000 Jews had already died on the battlefield and over 7,000 had been decorated. This census was deeply disturbing for German Jewry and Jews in the military in particular.

Agnon in Berlin In October 1912, on the advice of his friend the economist, sociologist and leading Zionist, Arthur Ruppin, Agnon left his home in Jaffa for Berlin, then the centre of Jewish life in Germany. “As you know,” his narrator says in Bahanuto shel Mar Lublin, “my dwelling was in Jerusalem but for various rea­ sons I went to the diaspora and the beginning of my diaspora existence was in Berlin” (ML 25). Ruppin, who initially offered Agnon lodgings in Berlin, suggested that the European ambience may serve as a spur to Agnon’s crea­ tivity and provide him with inspiration. Indeed, after a difficult initial period 3

Shmuel Yosef Agnon, Beyn shtei arim [Between Two Cities], in: Samukh ve-nir’eh [Nearby and Apparent], Jerusalem/Tel Aviv 1979, 78–91, here 81. Further references are to this edition, indicated as S.

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Glenda Abramson

of joblessness, loneliness and adjustment, Agnon took full advantage of all Berlin had to offer and he enjoyed the city’s rich cultural and artistic life. Also, the large Jewish community was actively involved in Berlin’s culture and, in addition, other Hebrew and Yiddish writers had settled there, among them Mikhah Yosef Berdyczewski4 and David Bergelson. Agnon attended university lectures, frequented the Jewish libraries and befriended Martin Buber and many other members of the German Jewish intelligentsia. His biographer Dan Laor writes – rather disapprovingly, it seems: “While can­ nons roared on the front and the civilian population too began to demon­ strate the signs of hardship, Agnon found himself in the heart of Berlin, pro­ tected from any harm […].”5 However, he suffered a severe illness which, in a way, was fortunate since, as a citizen of the Austro-Hungarian Empire, he was liable to be called up, particularly towards the end of the war when the Germans were frantically enlisting almost any man who could stand on his feet. Laor suggests that Agnon was so desperate to avoid army service that he deliberately made himself ill by smoking too much and drinking exces­ sive amounts of coffee, which resulted in his extended hospitalization with kidney disease. Until his illness Agnon was productive, and published a number of impor­ tant works under the guidance and mentorship of Zalman Schocken, a pub­ lisher and entrepreneur, who encouraged his writing and supported him financially. Schocken would later be the model for Mr Lublin.

The Berlin Story – Ad hena Published in two parts in 1952 and 1953, Ad hena has been deemed autobio­ graphical, for obvious reasons; with Agnon, however, it is never clear where fiction ends and autobiography begins, for the fiction weaves effortlessly within the historical facts.6 The border between cause and effect, reality and fiction, author and character is almost erased when the author/narrator ironi­ cally and deliberately obscures the distinction between the real and the fic­ tive. His protagonist is called Shmuel Yosef, Agnon’s ironic acknowledge­ ment of the narrative’s autofictive nature – bearing in mind that “Agnon” is already a pseudonym. Yet while the background, the war, is historically 4 5 6

Berdyczewski, however, seemed to be so unimpressed by Agnon that he did not reply to Agnon’s letter introducing himself and offering his services as an assistant. Dan Laor, Haye Agnon [Agnon’s Life], Jerusalem/Tel Aviv 1998, 104. Parts of this section first appeared in chap. 5 of Glenda Abramson, Hebrew Writing of the First World War, London 2008. Reproduced with permission.

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authentic, the experience of the narrator in Berlin is somewhat different from Agnon’s own. The question is whether the “Shmuel Yosef,” the protagonist of the novel, and “Agnon,” the protagonist of Ba-hanuto shel Mar Lublin, are anything like the author, or whether the use of his name is a playful obfuscation of the events of Agnon’s life and of his own identity. The Shmuel Yosef of Ad hena lives in Berlin and in Leipzig during the war years. Dissatisfied with his Berlin lodgings he embarks on a fruitless search for a better place, moving with his belongings from room to room and from city to city, only to find that each new room has a flaw: it smells, it is noisy or it belongs to assimilated Jews or there is a one-legged war veteran pacing about upstairs, or the landlady breeds dogs, or Shmuel Yosef is evicted when the owners are forced to sell, or when the son-in-law of a land­ lady is killed in battle and the parents move away, or when a shell-shocked son of the family returns from war service to repossess his room. On one of his journeys, the narrator encounters the widow of a great Jewish scholar and promises to find a place for the late scholar’s library. This commitment could have provided both a purpose and an element of transcendence to Shmuel Yosef’s life, the goal of almost every Agnonic hero confronted with the spiri­ tual anomalies of the modern world. Yet opposing this putative quest is the more earthly preoccupation with physical comfort which marginalizes the dimension of spirituality in his life and perhaps indicates the disintegration of the Jewish traditional and cultural framework. Ultimately, however, quite by chance he does find a home for the library in Eretz Israel. So his search for an ideal place to live ends in his belief that the only possible dwelling place is in Eretz Israel. His preoccupation, therefore, becomes his return to Jerusalem, which he cannot realize while the war continues and he is unable to leave Germany. The war, therefore, stands in opposition to salvation not only of the individual but also, as a teleological element, of the people. The narrator, Shmuel Yosef, does not tell us the year in which the story is taking place. It is clearly in the middle or towards the end of the war, when it is going badly for Germany. He gives us no idea why he has left his home in Jaffa. He writes of the Land of Israel with longing and regret and constantly excuses himself for being somewhere else, without offering an explanation for his defection.7 This closely reflects the enigmatic circumstances of Agnon’s own departure from Eretz Israel. In his essay Joseph Haim Brenner. His Life and Death (1961), Agnon recalled the argument between him and Brenner concerning Agnon’s decision to leave Palestine for Germany: 7

Laor tells us that Agnon would later refer to his stay in Germany with a deep sense of guilt and regret for which this novel may constitute his expiation. See Dan Laor, Agnon in Ger­ many, 1912–1924. A Chapter of a Biography, in: AJS Review 18 (1993), no. 1, 75–93, here 76.

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“I was about to go abroad and it was difficult for Brenner, even though he said to me many times it would be good for you to spend some time abroad […] however, he per­ suaded me not to go abroad […]. But I had already decided to go to Berlin […]. And in those days Berlin was the ultimate aim of young people like me because it seemed to them that the wisdom and the science and the poetry should revivify its very streets. Because Brenner implored me not to go, I answered him in the language of Heine in his poem Tannhäuser ‘I long for the transcendent.’”8

Some years later, when Brenner asked him about his plans for returning from Berlin to Palestine, Agnon replied bluntly that he did not want to do so. “When you asked when shall I return to Eretz Yisrael: Brenner, you’ll see children and their children before I return to Eretz Yisrael. The truth is that I have neither the need nor the will nor the desire.”9 In her discussion of Ba-hanuto shel Mar Lublin, Ziva Shavitsky suggests that Agnon intended to remain in Germany and he created the successful Arno Lublin as his alter ego.10 The novel’s narrator seems to exhibit a modicum of guilt about having left his homeland, guilt that surfaces when speaking of Mr Lublin, whose origin is in the same small town in Galicia as his: “[N]ow he lives in Leipzig and there is no-one who can remove him, because he is a citizen like all the citizens of the land. Actually, I am like him, I left my city and went to Eretz Israel, but then what? I left of my own accord and according to my own will I departed from there.” (ML 32)

The “decoherent”11 structure of Ad hena echoes the aimlessness of its narra­ tor. There is no diachronic narrative, little overtly happens other than the nar­ rator’s constant movement. Shmuel Yosef wanders quite arbitrarily, mana­ ging to avoid a direct route to his various goals. He meets people by chance and catches trains to various cities for various reasons. The result is that the novel’s subjectivity and its structure are very closely united, and the struc­ tural “decoherence” may be symptomatic of the anarchy prevailing during the war. Baruch Kurzweil placed Agnon among the pantheon of great moder­ nist writers precisely because of his ability to marry structure and content.12

18 Dan Laor, Sh. Y. Agnon, Jerusalem 2008, 39 (Heb.). 19 Laor, Haye Agnon, 102. 10 Ziva Shavitsky, S Y Agnon’s “Thus Far,” “In Mr Lublin’s Store” and “Shira.” The Contin­ ual Dislocation of German Jewry, in: Australian Journal of Jewish Studies 16 (2002), 190–222, here 205. 11 Gershon Shaked, Hasiporet ha-ivrit 1880–1980 [Hebrew Narrative Fiction, 1880–1980], 5 vols., here vol. 2: Ba’aretz ubatfutza [In the Land of Israel and the Diaspora], Jerusalem 1983, 111. 12 Baruch Kurzweil, Masot ‘al sipure Shai Agnon [Essays on S. Y. Agnon’s Stories], Jerusa­ lem/Tel Aviv 1962, 160–174.

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The War The war is graphically described throughout Ad hena, more intensively in the first few chapters that recount the shock of its sudden and direct incur­ sion into Shmuel Yosef’s life. Food is scarce and ration cards have to be pro­ duced, some being valid in one place but not in another. The sound of the cannons throughout Germany deadens the voice of the German people. Everyone who has not been sent to the front works in the factories. In the ubiquity of war malodorous darkness rises from the ground and seeps down from the roofs of the munitions factories. The jaggedness of Agnon’s city reflects the urban expressionist art of the time, Frans Masereel’s woodcuts, Ludwig Meidner’s Apocalyptic Landscapes, works by George Grosz, Ernst Ludwig Kirchner and countless other artists. Yet the most poignant passages in the novel concern individuals who have suffered the loss of a son, a hus­ band or a father. Mourning the dead and anxiety for those missing constitute a sombre leitmotif that cuts through the events the protagonist describes, even the banality of his searches for better lodgings. Central to Agnon’s view in this novel, and an extended metaphor both of rootlessness and of war, is the train station and the trains that are always late or do not arrive at all. When they do come they are tattered, filthy, filled to capacity and they smell. Shmuel Yosef realizes that the train station is a per­ fect reflection of Germany during the war years: “I arrived at the train station and I was pushed into the train. The coach was filled to the brim with men and women, traders of the war and manufacturers, compassionate nurses and the officers’ tarts, apart from those returning from the war, walking on crutches or without an arm, men with empty sleeves and rubber hands, glass eyes and noses patched up by expert doctors who used the skin of the soldier’s buttocks, frightening faces and horrifying faces, human beings whom the war had rejected because of their disfigurements, terrifying forms from which God’s image has been withdrawn. Each one was carrying his possessions. Suitcases and kitbags and bundles of sacking and chests. Because of the crowding I couldn’t find my own hands and legs.” (AH 12)

Due to the trauma of the time, Shmuel Yosef’s body has become disjointed like those of the wounded men. The idiom in Hebrew “to find one’s hands and feet” corresponds to the English “to find one’s feet,” to find one’s way, but Agnon interpreted this literally. The narrator’s own hands and legs seem to have disappeared in his identification with the fragmented soldiers in the now unfamiliar city. Technology has supplied them with artificial body parts, perhaps those made by the “manufacturers” who share the train and the result is monstrous, as if the soldiers are the literal representations of the dehumanization of war. During his wanderings Shmuel Yosef encounters a Druze sculptor who invites him to his studio where he sees only distorted, fragmented, but distinctly human figures. Towards the end of the book the

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narrator comments about his torn and ragged clothing, also an image of the dismembered body. When Shmuel Yosef arrives in Leipzig “[t]he great train station was filled with cacophony. Carriages come and go. Wheels clash and the steam rises. The station attendants run from track to track and from loco­ motive to locomotive, covered in smoke and swallowed up in steam and emerge as they climb up from between the carriages’ wheels. The station is like a city of iron whose houses are iron and whose skies are smoke, and those houses stand on iron wheels that turn and move and cry out in a voice of iron […]. Slowly a transport [sic] of war wounded could be seen among the special carriages that brought them to be divided among the hospitals in the city and on the outskirts.” (AH 13)

Nowhere else in Ad hena is the industrialization of modern warfare rendered more vividly. Agnon portrays the recognizable world being swallowed up in the mechanization of modernity and the war, which was like a violent gash separating the old world and the new. There is here a foretaste of the deadly mechanization of the Holocaust, whether or not Agnon intended it to be. In describing the hospital trains he uses the word “transport” in transliteration, but nowhere does he refer explicitly to World War II which had ended just over a decade before the publication of the novel. The war in Ad hena is often presented through images. For example, in a very strange scene near the beginning of the novel Shmuel Yosef visits Lunenfeld and his cousin Malka whose son and husband are serving at the front. Concerned that he does not have enough to eat, she gives him the pre­ cious gift of a goose’s liver – a very rare item in wartime – without knowing that he is a vegetarian (as was Agnon himself). Too polite to tell her and to refuse the gift, he accepts the liver, wrapped in paper and, when he leaves, he forces it on a serviceman he sees wandering in the area. By this time the liver is bleeding through the paper; in effect, Shmuel Yosef is handing the soldier the bloody war itself. Later, back in Berlin, he surveys a scene: “Half the street is humming or buzzing because of a lot of women standing in a line in front of a butcher’s shop. In front of them, calves and pigs and rabbits and fowl are standing or hanging, their blood fresh and red and living. Every woman has a list of foodstuffs in her hand and she holds the list up to them to show them that they are com­ manded to give them some of their flesh because their sons and their husbands are fighting in the war of the land, but they [the dead animals] aren’t thinking of them [the women], only rejoicing in their [own] blood which gleams much more than the blood spilt on the battlefield, for on the battlefield it is filthy and in the blood and dirt and dust a body is sometimes not recognized because of the dismemberment of the limbs, and sometimes it lies there until it rots […]. Inside the butchery stands the butcher like an army general amongst his armies. There is nothing here but living things that have given their lives, but everyone eating of their flesh is filled with the strength and cour­ age to make war.” (AH 100)

The referential ambiguity of the last line indicates the narrator’s disgust at the sight of the living women and the dead flesh. The implication in this gra­

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phically violent passage is that the women see only the sanitized and fresh meat displayed by the butcher, whereas the real butchers, the generals, the leaders of men among the dead, inspect the devastation of the real battlefield where human corpses rot. There is an echo of this passage in the short story Beyn shtei arim, one of Agnon’s two published short stories on the background of the war. Two sis­ ters live in neighboring towns and meet in the woods between them. The towns are mourning lost husbands, fathers and sons who have gone to war “in defence of their land.” As if to remind them of their own tragedies, while in the woods the women hear the sound of hunters’ gunshots and the one sis­ ter cries, “Oh the gentiles, the gentiles, if they don’t manage to kill humans they harass animals and birds and kill them.” (S 90) Later they hear the screams of a wounded fowl and one of the women covers her ears in despair. The reference to hunters who horrify the women by slaughtering living things makes a visceral point about war.

The Returning Soldier Central to Ad hena is the character of a soldier who has returned from the army having suffered a head wound, the man to whom Shmuel Yosef had tried to give the liver. The image of the returning soldier appears in many works of fiction as combatants expected to offer an insight into the war, yet incapable of conveying the reality of their experience to those at home who are unable to imagine it. Home has as irrevocably changed as the soldiers themselves. Families have been distorted beyond recognition both by the absence of their men and the incursion of modernity, and the men cannot conceive of life that has continued almost as normal at home. Like Agnon’s brain-damaged servi­ ceman, “[t]he soldiers are themselves uncanny presences: many returned as ‘ghosts of their former selves,’ curious figures who simultaneously embody both the static past and the jarring change of the present. For those civilians left behind, the soldiers existed outside of time […].”13 The trope of the returning soldier is constant in the literature of the Great War, but there is often little historical veracity in this literary portrayal of a serviceman, generally mentally and physically disabled, who exists rather more in the popular imagination than in reality. Agnon depicted the return of 13 James Harper Strom, Modernist Aesthetics of “Home” in Virginia Woolf’s Mrs. Dalloway and Rebecca West’s The Return of the Soldier (PhD thesis, Georgia State University, 2009), 36, (4 December 2013).

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a number of soldiers in various stages of trauma and disablement. In Beyn shtei arim, for example, a woman has to take care of her son who has returned from the war severely wounded. He lives in a town called Katzenau (the barely fictionalized version of Bad Brückenau, where Agnon spent some time recuperating from his illness), from whence “all the young men have gone” to the battlefields (S 81). The soldier has been decorated for bravery, but, as Agnon laconically notes, “his legs are missing” (S 86). The repercussions are felt both by society and by the family who has to care for him: he is unable to work and is dependent on his mother, who lives in com­ parative poverty. He becomes, therefore, little more than a burden. Beyond the mention of this war-torn soldier, there is a brief indication of other townsmen having returned from the fronts. In Rebecca West’s The Return of the Soldier (1918), the paradigmatic novel about a shell-shocked serviceman, there is a strange parallel to the story of Werner Fernheim in Agnon’s most unusual and evocative short story about a soldier’s return, Fernheim. Rebecca West (Dame Cicely Isabel Fair­ field, 1892–1983), Agnon’s contemporary, devoted her novel to the story of a traumatized captain suffering from amnesia who returns home to the three women in his life. He has forgotten his wife and recalls only a woman he had loved a long time before. In both cases, West’s and Agnon’s, the soldier is apprised of the death of his only son on his return and his wife has become estranged. However, unlike West’s optimistic ending in The Return of the Soldier – offering the hope that the soldier can reintegrate into his home and society – Agnon offers no such possibilities. Fernheim is the story of Werner Fernheim, an Odysseus who returns from battle to find his wife, Inga, unfaithful and unloving. The suitors are not thwarted: one has indeed won her hand in her husband’s absence. In this bit­ ter inversion of the Odyssey, Agnon depicts an assimilated German Jewish family which has become vulgar in its wealth and self-satisfaction, and cruel to the outsider. The paterfamilias, Heinz Steiner, is grossly abhorrent, a nasty caricature of the Jewish bourgeois. His wife, Gertrud, always busy with household tasks, is smug and self-righteous, gloating over her preg­ nancy, while Fernheim mourns his infant son. The family has grown rich, whereas he has a single pair of uncomfortable shoes. He has suffered as a prisoner-of-war of the Serbs, painfully found his way home only to endure his family’s rejection. The scene in which Inga, torn between the love she once felt for him and present confusion, spurns him for no apparent reason, is heartbreaking, more Hollywood than Agnon’s usual dispassion. News of the death of his young son has taken Fernheim by surprise, as has Inga’s engagement to someone who he was sure had died in an accident. Obviously a divorce has taken place sometime during his absence. His hav­ ing suffered the privations of battlefield and imprisonment appears to mean

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nothing to his family. His brother-in-law treats him with contempt and grud­ gingly allows him to meet Inga. Agnon does not reveal the reason for this antagonism on the part of everyone in the family. The brother-in-law hints that Fernheim might have embezzled funds from the family firm; or even that he might have killed his wife’s former lover who has now, miraculously, returned from the dead to reclaim her hand. These vaguely stated possibili­ ties constitute a wall of excuses that shuts Fernheim out of his former home. After his rejection Fernheim leaves Inga and returns to the train station. He had already bought a return ticket, as if intuitively understanding that he no longer belongs to the world he left behind. Agnon adds a telling detail: at first, after his arrival, Fernheim notes that his shoes feel comfortable. As he leaves he realises that they now hurt his feet, as if they were on fire. He has been wounded at home, by his family, rather than in battle by his enemy. We are not told why Fernheim went to war, whether he was conscripted or a volunteer, where he served or for how long. Yet the war and his absence have allowed his world to become irrevocably distorted, unrecognizable and bewildering. It rejects the returning soldier as an alien, even harmful element in a society healing itself of the war. The question is whether Heinz, the boorish captain of industry, represents the new Germany or, in fact the Ger­ man-Jewish community. Perhaps Agnon sees him as the apotheosis of the assimilated Jewish bourgeoisie, the pretender with the German name, unlike Mr Lublin, whose origins are never forgotten. The city fathers, it seems, pre­ ferred Mr Lublin to the assimilated Jews who were too German, while Lublin retained his Jewish individuality.14 This may be precisely Agnon’s comment about Jews who changed their names to German ones, lived in vil­ lages but were still, as in Fernheim, identified as Jews by the non-Jewish world. Fernheim, the returning soldier, brings something of the global cata­ strophic reality into Heinz’ complacent milieu, indicating an unwelcome breach in social continuity. Both in Beyn shtei arim and Fernheim the sol­ diers return to an unfriendly homeland that entirely disregards the sacrifice they have made for country and family. It is in Ad hena that the image of the returning soldier assumes its greatest significance. The narrative of the novel is interspersed with dreams, Agnon’s psychological subtext to the events. Shmuel Yosef’s landlady in Berlin, Mrs Trotzmüller, dreams that he will bring home her only son, reported missing in the army. On the train back from Leipzig to Berlin he finds himself sitting opposite a soldier who has suffered a serious head wound and has lost his mind. With his characteristic lack of compassion, Shmuel Yosef describes him as a golem, claiming that this is the term used for shell-shocked men. 14 See Yaakov Shavit, Be-‘iro shel ha-soher mi-lublin [In the City of the Merchant of Lublin], in: Masa aher, (18 October 2014).

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When they arrive in Berlin, the golem takes his suitcase and then follows Shmuel Yosef to his lodging house, where it turns out that he is indeed Mrs Trotzmüller’s lost son. Shmuel Yosef is immediately evicted from the room he has been occupying, which is the son’s room. After having been fussed over as an honoured guest before his departure, dreamt about as the son’s saviour, and the apparent instrument of the dream’s fulfilment, he is not only rejected, but ignored. There is no longer need for a surrogate son. Also, once the man is home, Shmuel Yosef no longer refers to him as golem, but, ironi­ cally, as niskhan, a prince or anointed one. (AH 50) They have changed places, the son on the inside, the stranger on the outside, divested of his home, sacrificed for the returning soldier. The future of Germany, and most certainly of the German Jews as well, will be written upon this tabula rasa, enclosed by the house and the German family.15 This will be further under­ scored in Ba-hanuto shel Mar Lublin. In fact, Shmuel Yosef has been the golem’s twin from the start: a man without the expected responses, self-absorbed, lacking direction, unable to form attachments. Relegated to a night in the bathtub in the house of his nemesis’s return, Shmuel Yosef also has a dream: “I dreamt that a great war came to the world and I was called to the war. I made an oath to God that if I return fit and well from the war I would offer as an offering anyone coming out of my house to meet me when I returned from the war. I returned to my house fit and well and behold, it is I who came out to meet me.” (AH 76)

There are many interpretations of this enigmatic passage in the novel. The dream may indicate the sacrifice of innocence and perhaps purity: the other “I” could be the innocent self that existed either before Shmuel Yosef left for the war or even before he willingly left Palestine for Germany. The combina­ tion of the great foreign city, the war, the implication of destruction of all morality and tradition, leads perhaps to the betrayal of the innocent self. Alternatively, the figure that comes to meet the dreamer may be his own alter ego, the golem, a man damaged by society and history and who mutters “I, I, I” as an assertion of his ego. Freud tells us that the “double” was origin­ ally an insurance against the destruction of the ego, and quotes Rank’s assessment of it as “an energetic denial of the power of death; […] and prob­ ably the ‘immortal’ soul was the first ‘double’ of the body.”16 If the figure who comes to meet the narrator represents his soul, the sacrifice of it leaves 15 Baruch Kurzweil emphasizes the deadly significance of this “return” by writing: “Oy vaavoi lashiva zu!” (Beware of this Return!). Idem, Ad hena [To this Day], in: idem, Masot ‘al sipure Shai Agnon, 169. 16 Sigmund Freud, The Uncanny, in: The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud, ed. and trans. by James Strachey, vol. 17, London 1953, 219– 252, (18 October 2014).

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him as empty and soulless as the golem. He has already imagined that he could not find his arms or legs; the dream suggests that he has offered up his soul. The golem, a metonym of the war and modernity, and as empty as an automaton, represents war as the mechanized subsuming of the known world and its people. By handing the oozing liver to the wounded soldier Shmuel Yosef cedes the war to him, the man who is sacrificed for the sake of the narrator’s safety. In meeting this image so like himself, the dream reveals the dreamer’s guilt. Yet the golem seems not to be passing by randomly: he is often to be found close to Shmuel Yosef. Does the Jew become a golem too in the postwar world? Is Fernheim a golem, emptied of his past life, denied continuity through the death of his son, and any hope for the future?

Ba-hanuto shel Mar Lublin “I have already lived in Leipzig for four months. I have ration cards and everything else is going well. It’s pleasant to live in Leipzig. It doesn’t impose much on its citizens and even a person like me finds his way around” [lit.: “finds his hands and feet”]. (ML 34) So writes Agnon’s protagonist of In Mr Lublins’ Store, echoing Agnon’s own comment in a letter to Zalman Schocken in 1917: “I very much like Leipzig.”17 Leipzig was the preferred destination for the Galician Jews; it was, in M. Y. Berdyczewski’s words, “an extraordinary city, large, spacious, [providing] enormous shops”18 and tolerant of every shade of Jewish character, from the ultra-Orthodoxy of Agnon’s friend Rabbi David Feldman, to the assimilation of Jews like Zal­ man Schocken, Agnon’s patron, mentor and the model for Mr Lublin. Agnon lived in Leipzig for a short while, between 1917 and 1918, to recover from his illness (the first of two visits to the city, the second being in 1930). He grew to know the city and its East European Jewish community well. The result of this wartime sojourn was the short novel Ba-hanuto shel Mar Lublin, which never appeared in its entirety during his lifetime. The first chapter was printed in Ha’aretz in 1964 and further chapters appeared in other newspapers and literary journals in 1964 and 1966, but it was not until 1974 that it was published as a whole. Being unfinished, the novel is less polished than Ad hena, and far more of a “temporal” and grounded narrative. Whereas in Ad hena the protagonist was always on the move, seeking the per­ fect lodgings, in Ba-hanuto shel Mar Lublin he is fixed to one spot, Mr 17 See Shavit, Be-‘iro shel ha-soher mi-lublin. 18 Ibid.

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Lublin’s store, able to travel only in his imagination. It seems that in Leipzig the protagonist, like Agnon himself, had found his desired dwelling place. In some ways Ba-hanuto shel Mar Lublin is a continuation of Ad hena. Yet telling the story of his protagonist’s experience during the war was not Agnon’s only motivation for writing this novel, although the war is an inex­ orable element of the lives of every community, German and German-Jewish depicted in it. Agnon had put aside his investigations into the lives of the East European Jews in general and his own home town Buczacz in particu­ lar, which had been his preoccupation for many years. His purpose in the two novels, more so in Ba-hanuto shel Mar Lublin, was a kind of valediction to German pre-war life, and to the relationship between Jews and Germans in an era that in Ba-hanuto shel Mar Lublin appears almost to be idyllic, but very clearly destined for destruction. German-Jewish life was coming to an end: the Great War ripped apart the certainties that had nourished the Ger­ man Jews for over a century. In the novel, Agnon presents Mr Lublin as the most perfect representative of the historical cooperation between the Jews and the Germans. According to Gershom Schocken, the son of Zalman Schocken, “When one reads Agnon’s German stories it is possible to a great extent to reconstruct Jewish life in Germany […]. If one continues to deal with a history of the Jews of Germany these stories are a unique treasure.”19 Like Ad hena, Ba-hanuto shel Mar Lublin offers a picture of the Jewish expatriate in wartime Germany, but takes it one step further in the narra­ tor’s20 odyssey to find the perfect lodgings. After wearying of Berlin, he declares: “I was tired of the noise of the crowds in Berlin, and of my research into clothing and I couldn’t find anything to satisfy me. If I sat in a cafe, I became weary and if I went to the theatre I didn’t enjoy it. On one side there is the smell of tobacco and conversations among the cafe patrons and there are games and players. I returned to my room and opened the Talmud but it didn’t grant me satisfaction and if it did it didn’t do so will­ ingly.” (ML 26)

He explains that life in Berlin has become unbearable because of many Ber­ liners’ fear that he is either the enemy itself or a representative of it. He is treated with suspicion by librarians for requesting books in languages other than German, and by everyone for inviting Russian friends to his home. Therefore he moves to Leipzig.

19 Laor, Sh. Y. Agnon, 174. 20 The protagonist of Ba-hanuto shel Mar Lublin, who seems to be the same Shmuel Yosef from Ad hena, is addressed in the novel as “Agnon.” Throughout this discussion I shall therefore call him Shmuel Yosef in order to avoid the clumsiness of “the narrator” or “the protagonist.”

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In search of the Talmud scholar Rabbi Jonathan21 and, unlike in Ad hena, of some spiritual fulfillment, Shmuel Yosef arrives in Leipzig. Only through the good offices of Mr Lublin is he given permission to remain. Shmuel Yosef then tells the story of his stay in Leipzig while sitting in Mr Lublin’s store. The entire story takes place over a few hours only, when Shmuel Yosef minds Mr Lublin’s store during his absence. Having no books, newspapers or a telephone available to relieve the tedium, he reflects on the people, the Jews and non-Jews, he has met in Leipzig, including a number of elderly shopkeepers. The novel touches on many of the themes that were prominent in Ad hena and it similarly creates a portrait of a city in wartime. It is set in an historical area of Leipzig, the Böttchergasse, known for its shops and markets. The story is a summary of all Shmuel Yosef’s observations about the German world reflected mainly through the characters of four artisans working in the old market, all of them elderly and representative of the positive local cul­ ture of the past. Yet, at the same time, they are impoverished, the remnants of an outmoded world. They live and work like archaic craftsmen who cre­ ated artifacts using pre-industrial methods. These stores are, for Shmuel Yosef Agnon’s protagonist, a kind of monument to the past: “I stood at the window and looked into the yard and the stores in the yard. There were four stores and as old as tens of generations, and they are today as they were when they were first built, no change has taken place in them, except the changes that age brings. When Mr Lublin bought the shops he didn’t change anything about them. They were not like the houses in Leipzig which are destroyed and in their place they build other houses according to the time and place.” (ML 41)

As in Ad hena, Ba-hanuto shel Mar Lublin is composed entirely of anec­ dotes, extraordinarily detailed personal histories, encounters and long con­ versations, with little coherence or narrative order, returning from time to time to the present in Mr Lublin’s store. However, the war is a much more definable chronological presence in this novel than in the previous one, where it was real, symbolic and metaphysical as one. This is not a war novel of the battlefield or the aftermath of battle but a depiction of a civilian population suffering the privations of war. They are affected in many ways, by lack of food, by fear, by the constant anxiety about sons and husbands in battle, rather than by suffering a military onslaught, bombing or invasion. The war can therefore be read in a number of different ways: as both the actual historical event and also, in some

21 The character, Rabbi Jonathan, is based on Rabbi David Feldman who was born in Ukraine and became a rabbi at a very young age. A scholar of Halakha, he was ordained in 1910 as a rabbi in Leipzig. Agnon met him in Bad Brückenau.

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instances, as the metaphorical axis around which Agnon’s musings about German-Jewish history revolve. An entire society is represented in the novel: the Jews and non-Jews, many with menfolk in prisoner-of-war camps, in the trenches, or killed, wounded or missing; wealthy people and working class, some of them, including Jews, deeply patriotic. Shmuel Yosef encounters Orthodox Jews in the Jewish sector of the city, who appear on the streets in their traditional garb, unlike those who have assimilated, like Mr Lublin, who symbolizes the social and economic prosperity and integration that many German Jews enjoyed before the war. Still, he is the obverse of Heinz Steiner in Fernheim, who allowed his assimilated affluence to corrupt him. Like Heinz Steiner, Lublin is “self-made,” his wife is German-born and he has given his children German names, Heinz, Thomas and Gerda (ML 19). Yet he is also a philan­ thropist, admired by the city elders. In keeping with her status Mrs Lublin works for the war effort, she organizes events for army officers, soup kitch­ ens and soldiers’ clubs and she supports the arts and theatre. The war encroaches on the lives of all these characters, including the shopkeepers, not least of all because it prevents trade; it affects the practice of law, and impacts on money and finance, on the availability of food, on transportation, on serious and popular culture and on daily life. Even nonobservant Mr Lublin jokingly remarks that due to food shortages he is obliged to eat kosher food. Just as in Berlin, severely injured men, lacking arms and legs, appear in the streets of Leipzig. Mr Lublin is not exempt from the war’s effects: his son is a prisoner-of-war, his exact whereabouts unknown. He is worried, believing that Germany’s enemies are wild beasts, but at the same time aware of the treatment of Germany’s prisoners. “I can’t say,” reflects Mr Lublin, “that we behave towards our prisoners with any kind of mercy.” (ML 152) The German economy is collapsing, women leave their homes to assume the responsibilities of their departed men, or they celebrate the soldiers as heroes and weep for those who have died. This was a time, says Shmuel Yosef, when everybody had to do something for the nation. The boys had to go to the war and the girls had to encourage them (ML 111). There is Grete Hinnings, for example, a great patriot whose only thoughts are for the heroes fighting for their homeland, and who composes songs about them that are sung in every bar in the city. The war displaces entire communities and its technology ensures not only mass killing but the decline in all values, morality and traditional faith. Attempting to comprehend contemporary political realities in a long discus­ sion with Jacob Weinwurzel, the Christian belt-maker who is steeped in the study of the Hebrew Scriptures, Shmuel Yosef wonders at the doggedness of victors who could stop wars but choose not to:

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“I said to him why are they doing this? He repeated, why are they doing this? They are doing this because they have rejected the word of God and they bury themselves in newspapers. If they were immersed in the holy books they would not make war because they would see that even if you overcome the enemy and conquer land after land in the end a stronger king comes along and overcomes them. […] Then my heart becomes afraid when I look at those people who’ve lost a hand or a leg, who are blind or lame, which is what the war has done because God has not led our armies, as is written by King David in Psalm 44, 9.” (ML 71 f.)

Worst of all is the inability to preserve the age-old certainties of Torah and Talmud. Shmuel Yosef is unable to continue his studies with Rabbi Jonathan, for which purpose he had left Berlin to come to Leipzig. The war therefore undermines the foundations of faith and of God’s law. For Baruch Kurzweil, modernity has transformed German Jewish society into the golem, a body from which God is absent.22 Despite the social, historical and psychological differences between the characters, whatever they are enduring is a result of the war, directly or indir­ ectly. It is as if they are caught in a sovereign universe of war, allowing no escape. In Berlin Shmuel Yosef was free to wander, to travel and to search for lodgings. In wartime Leipzig, he is fixed to Mr Lublin’s store, perhaps a symbol of his entrapment in Germany specifically, and in the golah (dia­ spora, lit. exile) generally, and he can wander only in his imagination and memory. He repeatedly expresses his horror at the war’s magnitude, its cea­ selessness day and night, and at the modern invention of the submarine that seems to presage the end of days. The death of the son of a Jewish couple Mr and Mrs Salzmann, to whom he refers many times in the novel, repre­ sents a personalization of the war. It is through one of the artists, puppeteer Adam Isba, that Agnon, in an excoriating passage, vents his greatest grief and fury at the war. Isba had devotedly nursed the Salzmanns’ son during a childhood illness and is devastated by the news that the boy has died in battle: “If he hadn’t been killed he would be alive and we would rejoice to see him at his wed­ ding for he was handsome and loved and endearing to every girl but he leapt into the war. Through love of his birthplace he leapt into the war but his time had not yet come to go into the army. And because he leapt into the war before his time and the war leapt on him before his time, he fell and did not return. While still a child he died in the war and we don’t know where he died and where he’s buried and perhaps he wasn’t even given a little piece of land to die in and he was food for the beasts of the field and the birds of the sky. But there are some things which, even if we keep our mouth shut about them, they shriek in the heart. The shirkers who wriggle out of the war sit in their houses and make a fortune from the war while an innocent angel, who risked his life to go to the aid of his country, dies in the war.

22 See Kurzweil, Masot ‘al sipure Shai Agnon, 169.

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It would have been so good had the boy returned from the war with a medal over his heart and his mother and his father overjoyed, but he did not return. He died and per­ haps even while he was alive he fell into one of the holes and sank up to his neck and called out from where he was but his voice went unheard because of the roar of the can­ nons. And when the sound of the war ceased the beasts of the field and the birds of prey came to eat his flesh while he was still alive.” (ML 90)

Shmuel Yosef is appalled at the willingness of the Germans, Jews and Chris­ tians, supported by their priests and rabbis, to go out to war for love of their fatherland. All those, he says, who have a German soul in their bodies agree with this. He is appalled by the fact that everyone believes in the rightness of their cause, that God is at the Kaiser’s right hand, that “they have one lan­ guage and one word in their mouths, to volunteer for the war in body and pocket for the sake of truth and justice.” (ML 116) Far more than in Ad hena, German Jews in Ba-hanuto shel Mar Lublin have identified with the over­ arching political purpose. Taken together then, the novels present both sides of the coin of the German-Jewish experience. However, Ba-hanuto shel Mar Lublin is not only about World War I but about war in general, war since the beginning of time and now defined by, and defining, modernity. As far as the Jews are concerned, war has torn them from their homes and communities, rendered them homeless and scattered into a second exile. In much of the book Shmuel Yosef lovingly recreates Jewish life in Galicia in his memory and he writes a final valediction not only to his birthplace but to the pre-war European Jewish world, which Agnon has already mourned in Oreah natah lalun, and to pre-war Germany, in which, according to the novel, Jews and Germans lived in harmony until ripped apart. The war represents the end of one of the most significant peri­ ods in Jewish history, when Germany itself became the golem upon which anything could – and would – be written.

Why Did Agnon Return to World War I in the 1950s and 1960s? In Ad hena Shmuel Yosef’s friend Dr Mittel summarizes: “One war leads to another war” – perhaps Agnon’s most explicit statement about the Holocaust in his writing. According to Agnon, there is no escape from history. Also, it is to be remembered that when the German golem returns from the war, the Jew is expelled from the home they have both shared – a further dimension to the latter’s dream. Dr Mittel comments that on the face of it (lekheora), fiction is really the truth. (AH 24) This certainly applies to Shmuel Yosef’s dreams. The reason for Agnon’s having written Ad hena in 1956, and Ba-hanuto shel Mar Lublin so long after the events they describe, has never been clari­

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fied although much discussed. In 1956 Agnon suffered a heart attack which could have reminded him of his severe illness so many years previously. He had been preoccupied with writing about East European Jewry for most of his career and any significant response to the events in Germany during the war occurred in his work only after World War II, almost as if he were revi­ siting the predictions about Germany. These are voiced in a passage of pro­ lepsis in Ad hena: Shmuel Yosef expresses his views on German intransi­ gence, love of might and power, the need to win at all costs, the compulsion to finish something once it has begun: “Everywhere the German soldier sticks his sword there is ruin and conquest. The Ger­ mans are a nation of stubborn people, and when they start something they do not let it go, and since they have started a war they are fighting and killing and trampling.” (AH 77)

Nitza Ben-Dov sees Birgitta Schimmerman, the protagonist’s ex-lover in Ad hena, as a symbol of the love of the Jews for Germany, which led so many young Jews to give their lives for their diaspora homeland.23 If this is so, in Ad hena this love is never reciprocated, leaving an unresolved opening for the horrors of the next war. In fact, even Mr Lublin, who appears to be the successful face of this love, is an immigrant from Galicia and still suffi­ ciently alien to be unable to understand every nuance of German culture. Fernheim highlights a particularly wealthy, assimilated German-Jewish family, whose father is perhaps one of the “shirkers who wriggle out of the war sit in their houses and make a fortune from the war,” perhaps showing what, in their complacency, the Jews had become. Werner Fernheim himself is a ghost of the past. The death of his son may indicate the death of his pre­ vious, loving life. The empty rooms he is confronted with while waiting for his estranged wife reflect the moral emptiness of the post-war world, which Fernheim, by his army service, has striven to prevent or at least to combat. We have already encountered Agnon’s description of the deadly mechani­ zation of war. Hillel Barzel suggests that Ba-hanuto shel Mar Lublin is, in fact, a continuous gaze at genocide, the ruin of nations and the deterioration of cultural values.24 It is therefore not unlikely that, by focusing on the first war, Agnon is foretelling the second, suggesting that the moral and political chaos engendered by World War I inevitably led to Nazism. Writing the novels and stories after the Holocaust, Agnon perhaps tried to comprehend the historical continuity, the etiology of genocide in Germany as the almost elegiac closing of an historical era. According to Hillel Weiss, Agnon’s Ger­

23 Nitza Ben-Dov, Ahavot lo meusharot. Tiskul eroti, omanut umavet biyetsirat Agnon [Unhappy Love. Erotic Frustration, Art and Death in Agnon’s Fiction], Tel Aviv 1997, 70. 24 Shavitsky, S Y Agnon’s “Thus Far,” “In Mr Lublin’s Store,” and “Shira,” 206.

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man works evoke “the materials that form the basis of the powder keg […] everything that contributed to its [the Holocaust’s] formation.”25 However, Weiss controversially sees almost all of Agnon’s writing, particularly the historical works, as presaging the Holocaust, although Agnon never wrote explicitly about it. While Shmuel Yosef is sitting in Mr Lublin’s store, all the events of the twentieth century pass before his eyes and he sees the his­ torical processes that, to our post-Holocaust sensibilities, define and explain the Holocaust and its aftermath. The Great War is a catalyst, both a divisive element in Jewish history and one that determines the future of the Jews, setting them on the path to the Holocaust. Ba-hanuto shel Mar Lublin reveals a certain nostalgia for the old Germany, seen in retrospect as a kind of fantasy. This is Agnon’s commem­ oration of the European Jews, a resurrection of the communities as he knew them: in this sense, the war novels and stories are monuments to these Jews and the places in which they lived both during and after World War I. Moreover, it seems also that such a cataclysmic experience as war in itself is not easily forgotten. Uri Zvi Greenberg, a poet who served in the trenches of World War I, similarly returned to it in the 1960s with a long poem, demonstrating that even after forty years the experience had lost none of its horror and potency. Like Agnon’s works, his poem is a form of commemora­ tion. The war symbolizes the final confrontation of the two cultures, the Ger­ man and the German-Jewish and the implications of their parting. The golem and the returning soldiers, maimed in body and spirit, are the denizens of a postwar world that is as torn and soulless as they are. Both novels, Ad hena and Ba-hanuto shel Mar Lublin, establish the insolubility of the historical problem and in the latter novel in particular it has reached a point of contem­ plation, a double retrospect: Shmuel Yosef casting his mind over Jewish his­ tory to this point, until now, and Agnon himself attempting to probe the symptoms of the cataclysm that transcended that point.

25 See Hillel Weiss, The Presence of the Holocaust in Agnon’s Writings, in: Hans Jürgen Becker/idem (eds.), Agnon and Germany. The Presence of the German World in the Writ­ ings of S. Y. Agnon, Ramat Gan 2010, 427–443, here 432.

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»Die letzten Tage der Menschheit.« Schriften aus dem Großen Krieg

Herausgegeben von Carolin Kosuch

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Sigurd Paul Scheichl

Karl Kraus’ Weltgericht – Eine Bilanz Als Karl Kraus’ literarische Gestaltung des Ersten Weltkriegs wird vor allem sein Drama Die letzten Tage der Menschheit wahrgenommen, das größten­ teils während des Krieges entstand, dessen erste Fassung 1918/19 in Sonder­ heften der von Kraus herausgegebenen Zeitschrift Die Fackel veröffentlicht worden und dessen endgültiger, stark erweiterter Text 1922 als Buch erschienen ist. Zu Recht: Dieses formal sehr innovative Drama ist eine bedeutende literarische Leistung, vielleicht die bedeutendste des Autors, eine der großen Satiren der deutschen Literatur. Karl Kraus (1874–1936), in Böhmen geboren, aber seit seiner frühen Kindheit in Wien lebend, hatte nach Anfängen als Journalist 1899 die satiri­ sche Zeitschrift Die Fackel gegründet, als unabhängiges Organ, ein wenig nach dem Vorbild von Maximilian Hardens Berliner Monatsschrift Die Zukunft. Zunächst bemühte sich die Zeitschrift um die Aufdeckung von Kor­ ruption in allen möglichen Bereichen des öffentlichen Lebens. Zunehmend konzentrierte sie sich auf die kritische Betrachtung der Medien, das heißt für diese Epoche: der Zeitungen, und zwar besonders auf den Einfluss, den ihre Sprache auf die Wirklichkeitswahrnehmung der Leser hatte. In Kraus’ Augen stellte sich die Zeitung zwischen den Menschen und die Wirklich­ keit – weit über alle Korruption und politische Einflussnahme hinaus. Besonderes Augenmerk schenkte der Satiriker den liberalen Wiener Zeitun­ gen; die anderen Blätter, etwa die antisemitischen, erschienen ihm zu unbe­ deutend, um sich genauer mit ihnen zu beschäftigen. Seit 1912 schrieb der Medienkritiker, der bis dahin unter anderem auch literarische Beiträge, vor allem aus dem Umfeld des frühen Expressionismus, aufgenommen hatte, seine Zeitschrift allein. Schon vor 1914 publizierte er Sammelbände mit ihm wichtig erscheinenden Beiträgen aus der Fackel. Die Entstehungs- und Veröffentlichungsumstände der Letzten Tage der Menschheit beweisen, dass es Kraus mit dem Kriegsdrama auf aktuelle Wir­ kung angekommen ist. Er selbst hat es noch 1929 ein »Schriftwerk« genannt, »das so unmittelbar einem sittlichen Zweck unterstellt scheint, daß diesem durch die Hervorhebung literarischer Qualitäten fast Eintrag geschähe«.1 Den »sittlichen Zweck«, die Abrechnung mit dem Krieg, 1

Die Fackel 800–805 (1929), 2. Die Fackel wird im Weiteren mit F abgekürzt, es folgt die Angabe der Heftnummer und des Erscheinungsjahrs. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 285–308.

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erfüllte das Drama umso besser, je schneller es auf das dargestellte Ereignis folgte. In der erweiterten Buchfassung gestaltete Kraus dann Informationen, die erst nach 1918 zugänglich geworden sind, und nahm Szenen auf, die im Hinblick auf die politischen Verhältnisse der Ersten Republik aktualisiert werden konnten und sollten.2 Dieser »sittliche Zweck« – bei einem Satiriker ohnehin selbstverständ­ lich – zeichnet auch die in zwei Bänden unter dem Titel Weltgericht gesam­ melten Aufsätze aus den Kriegsjahren3 aus, die trotz ihrer Brisanz zwischen 1914 und 1918 (beziehungsweise 1919) in der Fackel erschienen und sogar öffentlich vorgetragen werden konnten.4 Viele Motive dieser Aufsätze fin­ den sich auch in Die Letzten Tage der Menschheit,5 doch unterscheidet sich ihre Gestaltung hier von der im Drama dadurch, dass sie nicht in den großen Zusammenhang einer in Dialoge umgesetzten Montage eingebaut sind, son­ dern für sich stehen, noch mehr dadurch, dass hier die satirische persona Kraus spricht und der Autor nicht andere Figuren, seien sie noch so authen­ tisch, sprechen lässt. Damit verzichtet er auf einen der wichtigsten satiri­ schen Effekte seines Dramas, die Rückverwandlung von Geschriebenem in Gesprochenes.6 Die in Weltgericht gesammelten Aufsätze aus der Fackel und die entsprechenden Szenen in Die Letzten Tage der Menschheit dürften zumeist zeitgleich entstanden sein. Dass Die letzten Tage der Menschheit von der Literaturwissenschaft viel mehr beachtet worden sind als Weltgericht, hat seinen Grund nicht zuletzt im Unterschied der Gattungen. Essays und Polemiken gegenüber fühlt sich die Germanistik immer noch weniger sicher als gegenüber einem Drama, sei es auch formal noch so eigenwillig; zudem kann man leicht den literarischen Charakter der in Weltgericht zusammengestellten Texte unter-, ihre publizis­ tische Funktion überschätzen. So steht Weltgericht seit jeher im Schatten der

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Siehe die tabellarische Gegenüberstellung der Szenen von Akt- und Buchausgabe in Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit. Tragödie in 5 Akten mit Vorspiel und Epilog, hg. von Christian Wagenknecht, Frankfurt a. M. 1986, 800–805. Ders., Weltgericht, 2 Bde., hg. von Christian Wagenknecht, Frankfurt a. M. 1988, 322 f. Aus dieser Ausgabe wird im Text mit der Sigle WG 1 bzw. WG 2 zitiert; Bezugnahmen auf Wagenknechts Apparat stehen in den Anmerkungen. Im Apparat dieser Ausgabe ist jeweils auch die Erstveröffentlichung der Beiträge in der Fackel nachgewiesen. Zu Kraus’ Umgang mit der Zensur siehe John D. Halliday, Satirist and Censor. Karl Kraus and the Censorship Authorities during the First World War, in: Sigurd Paul Scheichl/ Edward Timms (Hgg.), Karl Kraus in neuer Sicht. Londoner Kraus-Symposium, Mün­ chen 1986, 174–208. Siehe dazu Wagenknecht, in: WG 2, 322 f. Zu diesem Verfahren siehe Sigurd Paul Scheichl, Karl Kraus et la mise en scène théâtrale de la critique de la presse et des journalistes, in: Jacques Le Rider/Renée Wentzig (Hgg.), Les journalistes de Arthur Schnitzler. Satire de la presse et des journalistes dans le théâtre allemand et autrichien contemporain, Tusson 1995, 275–289.

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Karl Kraus’ Weltgericht

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zweifellos großartigen Letzten Tage der Menschheit; Kraus’ Haltung dem Krieg gegenüber wird daher zumeist an diesem einen Beispiel (allenfalls auch anhand der in den Kriegsjahren erschienenen Ausgaben der Fackel) diskutiert, kaum je auf der Grundlage jenes Werks, zu dem es denn auch kaum Forschungsliteratur gibt. Tucholskys rühmende Besprechung in der Weltbühne7 sei an dieser Stelle wenigstens erwähnt. Da dieser Aufsatz sich mehr politischen und ideengeschichtlichen Aspek­ ten der Haltung von Kraus zum Ersten Weltkrieg widmen will als ästheti­ schen Fragen, scheint es legitim, einmal von diesem Werk auszugehen.

Entstehung und Veröffentlichung von Weltgericht Zuerst einige kurze, mehr oder minder bibliografische Informationen über Weltgericht. Es enthält, wie die meisten Bücher von Kraus, ausschließlich Arbeiten, die schon in der Fackel erschienen waren, mit Ausnahme der letz­ ten beiden bereits während des Krieges. Die Bände beginnen mit der öffent­ lichen Ansprache In dieser großen Zeit vom 19. November 1914, mit der Kraus, dessen Zeitschrift zwar unregelmäßig, aber doch in überblickbaren Abständen erschien, sein monatelanges Schweigen nach den Kriegserklä­ rungen brach (WG 1, 9–24); in der Fackel erschien diese Rede wenig später als eigenes Heft.8 Weltgericht endet mit zwei Beiträgen, die im Januar 1919 in der Zeitschrift gedruckt worden sind, Nachruf und Ad acta. Die Perspektive des Satirikers auf den katastrophalen Krieg war von Anfang an klar. Seine entschiedene Kriegsgegnerschaft brachte ihn, der sich gleichwohl prinzipiell als apolitischer Autor verstand, im Lauf des Krieges in Berührung mit pazifistischen Gruppen,9 wovon sich in den Aufsätzen von Weltgericht allerdings kaum eine Spur findet; die Ausnahme ist Für Lam­ masch (1918; WG 2, 94–96). Durch solche persönlichen Kontakte, die er auch zu Aristokraten, Diplomaten und nicht zuletzt höheren Offizieren hatte, wusste Kraus über Hintergründe des Krieges einiges, was nicht in den Zei­ tungen stand; in seinen Artikeln könnten solche Informationen da und dort mittelbar ihren Niederschlag hinterlassen haben. Zur Veröffentlichung dieser Sammlung seiner nicht nur satirischen Analy­ sen der mitteleuropäischen Welt zwischen 1914 und 1918 hat sich Kraus vielleicht erst nach Kriegsende entschlossen, allerdings wohl unmittelbar nach dem November 1918. Das früheste erhaltene Telegramm über dieses 7 8 9

Kurt Tucholsky (Ignaz Wrobel), Weltgericht, in: Die Weltbühne, 20. Mai 1920, 596. Siehe F 404 (1914), 1–19. Siehe Heinrich Benedikt, Die Friedensaktion der Meinlgruppe 1917/18. Die Bemühung um eine Verständigung nach Dokumenten, Akten und Briefen, Graz/Köln 1962, 187.

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Sigurd Paul Scheichl

Buchprojekt von Kraus an Kurt Wolff10 vom 3. Januar 191911 über »wich­ tigste herausgabe kriegsaufsaetze« erweckt durch einige Formulierungen den Eindruck, Autor und Verleger hätten sich – bei einer (allerdings nicht belegten) persönlichen Begegnung oder in nicht erhaltener Korrespondenz – über diese Veröffentlichung schon verständigt und es gehe nur noch um Details von Druck und Ausstattung: In dem Telegramm schlägt Kraus sei­ nem Verleger vor, das Buch in einer anderen Druckerei als der gewohnten herstellen zu lassen. Nicht uninteressant und noch unerklärt ist Kraus’ Doppelstrategie, einer­ seits intensiv an den Letzten Tagen der Menschheit zu arbeiten, deren »AktAusgabe« (in Sonderheften der Fackel publiziert12) im September 1919 abgeschlossen war und für die er gleichwohl neue Szenen schrieb, anderer­ seits parallel, auch thematisch parallel dazu in einer Sammlung der »Kriegs­ aufsätze« Bilanz über die eben überstandenen Jahre zu ziehen, von der gleichzeitigen Arbeit an umfangreichen Fackel-Heften ganz abgesehen. Freilich hat Kraus die Beiträge für Weltgericht anders als die für seine anderen Bücher kaum überarbeitet,13 vielleicht, weil Eingriffe in die Texte beim Druck in einer anderen als der mit Kraus’ Handschrift vertrauten Dru­ ckerei Schwierigkeiten zu machen drohten, vielleicht aber auch, weil er keine Zeit hatte. Dass Kraus mit dem Druck, dessen Qualität ihm immer sehr wichtig gewesen ist, nicht die in diesen Monaten mit den Letzten Tagen der Menschheit in Sonderheften ausgelastete14 Firma Jahoda & Siegel (die Dru­ cker der Fackel) beauftragt hat, stützt ebenso wie der Verzicht auf Eingriffe in den Text die Vermutung, dass er das Erscheinen der beiden Bände als Bei­ trag zu einer moralischen Neuorientierung für sehr dringend hielt. Der »sitt­ liche Zweck« war Kraus in diesem Fall wichtiger als die »literarischen Qua­ litäten« (an denen es den Texten im Übrigen nicht mangelt). Auch die bei ihm immer wichtige, sehr durchdachte Anordnung15 der Bei­ träge, in seinen Büchern wie in jedem einzelnen Fackel-Heft, folgt in Welt­ 10 Karl Kraus war kein »normaler« Autor des Kurt Wolff-Verlags; aus hier nicht relevanten Gründen erschienen seine Bücher von 1914 bis 1921 im Verlag der Schriften von Karl Kraus (Kurt Wolff). 11 Zwischen Jüngstem Tag und Weltgericht. Karl Kraus und Kurt Wolff. Briefwechsel 1912–1921, hg. von Friedrich Pfäfflin, Göttingen 2007, 158. 12 Zum Erscheinen der Sonderhefte siehe Sigurd Paul Scheichl, Die Akt-Ausgabe der »Letz­ ten Tage der Menschheit«. Überlegungen zum Medium »Sonderheft«, in: Gerhard Ren­ ner/Wendelin Schmidt-Dengler/Christian Gastgeber (Hgg.), Buch- und Provenienzfor­ schung. Festschrift für Murray G. Hall zum 60. Geburtstag, Wien 2009, 157–170. 13 Ein faksimiliertes Beispiel für einen (aus eher privaten Gründen erfolgten) überarbeiten­ den Eingriff auch in Weltgericht liegt in WG 2, 357, vor. 14 Zwischen Jüngstem Tag und Weltgericht. Karl Kraus und Kurt Wolff, 158. 15 Siehe dazu schon Leopold Liegler, Karl Kraus und sein Werk, Wien 1920, 361–364. Das mit »Weltgericht« überschriebene Kapitel Lieglers beschäftigt sich nicht mit dem gleich­ namigen Buch, sondern allgemein mit Kraus’ Bewertung des Krieges.

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gericht großenteils dem sonst in den Sammlungen seiner Aufsätze so gut wie nie maßgebenden Prinzip der Chronologie16 – was sich hier auch aus dem Thema ergibt, denn nicht zuletzt soll Weltgericht ja Kraus’ Engagement gegen den Krieg dokumentieren. Es versteht sich, dass er in Weltgericht nur längere Artikel aufgenommen hat, weder Aphorismen noch Gedichte, von denen sich in der Kriegs-Fackel nicht wenige finden und die in andere Bücher Eingang gefunden haben, insbesondere auch keine Glossen, die für ihn so charakteristische satirische Kleinform, obwohl in den Fackel-Heften der Kriegsjahre gerade Glossen Aspekte der Zeit blitzartig erhellen. Weltgericht wurde schnell gedruckt17 und Mitte August 1919 ausgeliefert, war also vor dem besonders umfangreichen Sonderheft mit dem vierten und fünften Akt der Letzten Tage der Menschheit, dem letzten Teil der sogenann­ ten »Akt-Ausgabe«, erhältlich. Das ist ein weiteres Indiz dafür, dass es Kraus tatsächlich darum ging, aktuell zu wirken, durch Texte, in denen seine Deutung des Krieges, seine Anklage gegen den Krieg expliziter formuliert sein konnte als im Kriegsdrama. Dafür spricht, dass Weltgericht zwar einige der besten Satiren von Kraus enthält (zum Beispiel Gruß an Bahr und Hof­ mannsthal, WG 1, 67–79), aber doch auch sehr viele Texte, deren Charakter weniger satirisch als im weitesten Sinn analytisch ist. Weltgericht, in einer Auflage von 3 600 Exemplaren gedruckt,18 war 1925 vergriffen19 und ist, anders als die meisten anderen Bücher von Kraus, nicht noch einmal aufge­ legt worden. Mag sein, dass das Werk Kraus Ende der Zwanzigerjahre zu »aktuell«, zu zeitgebunden schien oder dass er meinte, für ein neues Publi­ kum bedürften Die letzten Tage der Menschheit als Anklage gegen den Krieg keiner Ergänzung durch die Kriegsaufsätze mehr.

Abseits der großen Schlachten: Kraus’ Zensurkritik und der lügende Kaiser Durch das, was nicht in Weltgericht steht, wird die Besonderheit des Werkes und der kriegsfeindlichen Einstellung von Kraus erst wirklich deutlich. Zwar ist das Werk »DEM ANDENKEN AN FRANZ GRÜNER / FRANZ JANO­ WITZ / STEFAN FRIDEZKO / FRANZ KOCH« gewidmet, vier Kraus nahestehende Menschen, die »dem absurden Zufall, der [sie] nicht wieder­ 16 Wagenknecht, in: WG 2, 321. 17 Siehe die einschlägigen Briefe und Telegramme in Zwischen Jüngstem Tag und Weltge­ richt. Karl Kraus und Kurt Wolff, 158–160. 18 Ebd., 158. Siehe dazu Pfäfflins Kommentar, in: ebd., 296. 19 Wagenknecht, in: WG 2, 320 f. Laut Pfäfflin war das Werk erst 1937 nicht mehr lieferbar. Siehe Zwischen Jüngstem Tag und Weltgericht. Karl Kraus und Kurt Wolff, 296.

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kehren lässt«, zum Opfer gefallen sind (Franz Grüner, WG 1, 232). (Der Kunsthistoriker Franz Grüner, 1874–1916, war ein enger persönlicher Freund von Kraus, ebenso der böhmische Lyriker Franz Janowitz,20 1892– 1917; Stefan Fridezko war der Sohn von Kraus’ Schwester, Franz Koch Lehrling in der Druckerei Jahoda & Siegel. Janowitz und Fridezko waren Juden, Grüner vielleicht auch.) In den beiden Bänden stehen Nachrufe auf Grüner und Janowitz, doch fehlt sonst weitgehend die Perspektive des Mit­ leids für die Schrecken an der Front (an dem es dem Menschen Kraus gewiss nicht mangelte). Wiewohl kein Zweifel an Kraus’ Empörung über das sinn­ lose Sterben bestehen kann, rücken andere Themen in den Vordergrund sei­ ner Artikel. Mit der wirkungsvollen Anklage von Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues hat Weltgericht wenig gemeinsam. Man wird dort wenig über die großen Schlachten finden; Verlust und Wie­ dergewinnung von Przemyśl, Lemberg und Czernowitz kommen wie Isonzo und Piave oder die masurischen Sümpfe gelegentlich am Rande vor. Über die Agierenden, seien es Wilhelm II. oder Franz Joseph, seien es die Feld­ marschälle Hindenburg, Ludendorff, Conrad, Erzherzog Friedrich und andere, finden sich kaum mehr als gelegentliche Bemerkungen. Allein dem von Dezember 1916 bis April 1918 amtierenden österreichisch-ungarischen Außenminister Czernin gilt eine umfangreiche Polemik (Der begabte Czer­ nin, WG 2, 100–118). Viel eher kommen scheinbar belanglose Vorfälle und Gestalten vor wie das in gängigen historischen Darstellungen nicht einmal zu findende Gefecht von Uszieczko oder die Kriegsberichterstatterin Alice Schalek. Einige sozusagen »nur« politische Positionen Kraus’ werden hier aus Raumgründen nicht behandelt, sondern nur knapp erwähnt: seine explizite, sich im Lauf des Krieges verschärfende Ablehnung des Bündnisses von Österreich-Ungarn mit dem Deutschen Reich, seine Angriffe auf die Kriegs­ ziele des Bundesgenossen oder sein Urteil über den Umgang mit der Frie­ densinitiative der Sixtus-Briefe (1917), auf deren Bekanntwerden 1918 der 2004 seliggesprochene Kaiser Karl I. mit, obendrein von allen durchschau­ ten, Lügen reagiert hatte – über die in der Monarchie aber nicht öffentlich gesprochen werden durfte, ohne sich des Verbrechens der Majestätsbeleidi­ gung schuldig zu machen. Der Beginn von Die Gerüchte (WG 2, 142) sei dennoch zitiert, auch als Beispiel für den Witz von Kraus:

20 Über diesen Autor siehe die erschöpfende, auch die Beziehungen zu Kraus in neuem Licht zeigende Arbeit von Jaromír Czmero, Der »unerschöpfte Tag« versus »All und Sterne«. Dialektik der monistisch-dualistischen Erlösungsvisionen von Franz Janowitz, unveröffentlichte Diss., Universität Olomouc 2012, (22. August 2014).

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»In Wien waren Gerüchte verbreitet, daß in ganz Österreich Gerüchte verbreitet seien, es seien in Wien Gerüchte verbreitet, mehr wurde über das Wesen der Gerüchte nicht gesagt, als daß das Wesen der Gerüchte eben darin bestehe, daß man es nicht sagen könne, man war nur auf Gerüchte angewiesen, um überhaupt herauszubekommen, was es für Gerüchte eigentlich seien, und so gingen denn in ganz Österreich Gerüchte von Mund zu Mund, die nichts geringeres besagen wollten, als daß in Wien Gerüchte ver­ breitet seien, es seien in ganz Österreich Gerüchte verbreitet.«

Selbstverständlich wusste jeder Leser der Fackel, dass sich die »Gerüchte« auf die gut gemeinte, aber blamabel endende und folgenschwere Initiative des Nachfolgers von Franz Joseph bezogen – und dass sich Kraus über den lügenden Kaiser und die Versuche, diesen zu schützen, lustig machte. Auch die Angriffe des Satirikers auf das österreichische Offizierskorps müssen ausgespart werden, auf diese »nichtswürdigen Generale, Montur­ depoträuber, uniformierten Schleichhändler und befehlenden Hurentreiber« (WG 2, 194); sie unterscheiden sich von Anklagen anderer Zeitgenossen zwar in Schärfe und Pathos, sind aber am Ende eines und zumal dieses Krie­ ges nicht etwas, was allein Kraus formuliert hat. Aufgrund seiner Rückgratverkrümmung war Kraus nicht eingezogen wor­ den, er hatte den Krieg also aus der Perspektive des Hinterlands erlebt – aber auch die ist in Weltgericht selektiv. Von Hungersnot, Verarmung, Verrohung, Militarisierung des Alltags ist zwar die Rede, doch der Grundgedanke ist eher, dass sich in Wien trotz dem Krieg nicht viel verändert habe. In Die Letzten Tage der Menschheit ist mehr Raum für Szenen, die das Elend des Hinterlands vor Augen führen. Über das Geschehen an den Fronten wusste Kraus allerdings aus verschiedenen nicht öffentlichen Quellen (auch aus Erzählungen von Freunden und Bekannten sowie aus zahlreichen an ihn gerichteten Briefen von Lesern) sehr genau Bescheid – und war davon zutiefst erschüttert.

Im Hinterland: Das Kommerztheater Aus der Fülle von Texten in Weltgericht werden im Folgenden einige wenige herausgegriffen, die für Kraus’ Verständnis des Ersten Weltkriegs beson­ ders bezeichnend scheinen; zuerst Das übervolle Haus jubelte den Helden begeistert zu, die stramm salutierend dankten (WG 1, 80–86). Seiner Struk­ tur nach ist dieser Beitrag eine Kraus᾿sche Glosse, allerdings länger als die meisten Glossen (und er war im betreffenden Heft der Fackel [F 426–430 (Juni 1916), 1–7] tatsächlich ein eigenständiger Beitrag, stand nicht in der Rubrik Glossen). Er beginnt, wie die Glossen, mit dem wörtlichen Zitat

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eines Zeitungsartikels,21 aus der Neuen Freien Presse, der einflussreichsten Zeitung der österreichisch-ungarischen Monarchie. Kraus fügt dem Zitat einen Titel hinzu (hier einen Satz aus dem Artikel) und macht durch Sper­ rungen auf bestimmte Stellen besonders aufmerksam. Daran schließt sich eine lange, von Pathos getragene Anklage als Kommentar an, der viel länger ist als die sonstigen Kommentare Kraus’, dessen Glossen oft überhaupt ohne einen solchen Zusatz auskommen. Auf den ersten Blick erscheint dieser Bericht über eine Wohltätigkeitsver­ anstaltung in einem Wiener Theater, bei der die überlebenden Soldaten eines Gefechts ebendieses als eine Art lebendes Bild darstellten, relativ belanglos. Kraus sieht aber in dieser Veranstaltung und dem Bericht über sie eine uner­ trägliche Vermischung der Sphären: Männer, die die Schrecken einer Schlacht überstanden haben, treten auf einer Unterhaltungsbühne auf und spielen vor dem bourgeoisen Hinterlandspublikum des Theaters als Vorspiel zu einer belanglosen Operette ebendie von ihnen selbst überstandenen Schrecken. Das grauenhafte Geschehen an der Front wird zu einer Bühnen­ sensation für »die Vertreter der vornehmsten Gesellschaft«, für die der wohl­ tätige Zweck der Aufführung nur ein Vorwand gewesen ist. Diese »vor­ nehmste Gesellschaft« besteht für Kraus vor allem aus Kriegsgewinnlern: »auf das Sterben von je tausend komm[t] einer, der Schweißfüße hat und sich infolgedessen ein Palais kaufen kann und da er liefert, wissend, wohin, nicht wissend, woher er liefert, das Recht hat, im Automobil zu sitzen« (WG 1, 82). Für diese Schieber sterben die Soldaten nicht nur, sondern die Überlebenden müssen sich obendrein entwürdigen und vor ihnen das Ster­ ben und die Gefahr spielen. Noch ärger die Vorstellung, Regimentskamera­ den hätten in dieser Vorstellung, Theatervorstellung, das gespielt, »was sie erst erleben werden« (WG 1, 83). Kraus spricht von einer »deliranten Menschheit, die sich um des eigenen Opfers willen höhnt« (WG 1, 84), von einem empörenden »Kopfsturz der Menschenwürde« (WG 1, 82). Dieses Durcheinander von Ernst des Krieges einerseits und sich in nichts von den Friedensjahren unterscheidender Unterhaltung im Bürgertheater andererseits entsetzt Kraus, als Ausdruck völliger Unfähigkeit, das Ereignis des Weltkriegs und seine menschlichen Dimensionen zu begreifen. Dieses Gefühl wird zum grotesken Bild gesteigert, »daß die Gefallenen aufstehen, niederknien, stramm salutieren mögen vor den Hyänen, die das so haben

21 Theater- und Kunstnachrichten, in: Neue Freie Presse. Morgenblatt, 29. April 1916, 9 f. Am Ende lässt Kraus drei kurze Sätze weg, eine Veränderung, die man nicht als manipula­ tiv bezeichnen kann. Zur Erläuterung: Der Familienname des rezitierenden Schauspielers Skoda ist identisch mit dem Namen des größten österreichisch-ungarischen Rüstungsbe­ triebs (in Pilsen). Das Wort »Schwarzkünstler« (WG 1, 82) spielt auf die Druckerschwärze und damit auf den Journalismus an.

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wollen und die ja Hunger leiden müssten, wenn der Tod nicht wäre« (WG 1, 85). Aber weder die gleichwohl überdeutlich ausgesprochene Verachtung der Kriegsgewinnler, der »Hyänen«, noch das ebenso deutlich implizierte Mit­ leiden mit den »Helden von Uszieczko« stehen im Zentrum dieses Textes; seine Anklage gilt der unmoralischen Vermischung von Front und Theater, von Wirklichkeit und Unterhaltung – weshalb das Zitat mit dem Bericht schließt, dass dem szenischen Prolog die Aufführung einer insignifikanten Operette von Eysler gefolgt ist. Kraus, seit jeher ein Liebhaber der satiri­ schen Operetten Offenbachs, sah in der Entwicklung der Wiener Operette seit Lehár einen intellektuellen und musikalischen Niedergang und verach­ tete sie zutiefst als geistloses Kommerztheater. Das Überhandnehmen dieser zumeist so sentimentalen wie witzlosen Unterhaltungsoperetten war ihm ein Gräuel, weshalb die Kombination des »lebenden Bildes« aus der Schlacht und eines solchen Bühnenwerks für ihn die äußerste Zuspitzung des Wider­ spruchs zwischen Hinterland und Front war. Sein Entsetzen über den Nie­ dergang der Theaterkultur und sein Entsetzen über den Krieg verbinden sich in diesem Text. Die Respektlosigkeit des Hinterlands vor dem Leiden an der Front hatte damit einen Gipfelpunkt erreicht. Den Vorfall empfand Kraus wohl auch als symptomatisch für den wahren Stellenwert des Militärs in der Gesellschaft: Die Erniedrigung der vor ver­ mögendem Publikum betenden Soldaten hätte größer nicht sein können. Nicht das Militär bestimmte in diesem Krieg, sondern die Wirtschaft, so sein Fazit. Seine Empörung darüber, dass die Zeitung über die »Vorstellung« wie über das Selbstverständlichste der Welt berichtete, wie über einen ganz all­ täglichen Theaterabend, brauchte Kraus nicht zu artikulieren; die Leser kann­ ten seine Einschätzung. Die Konfiskation dieses Artikels bei der Erstveröffentlichung in der Fackel (F 426–430 [1916]) spricht für die Sensibilität der Zensurbehörde. Die in ihr tätigen Beamten und Offiziere mögen bei der Lektüre dieser Thea­ terkritik Ähnliches wie Kraus empfunden, mögen die Ungehörigkeit dieser Art von »Theater« ähnlich wie er gespürt haben. Dass dieses Zitat, zumal wenn es, aus der flüchtig gelesenen Tagespresse herausgelöst, im Kontext einer literarischen Zeitschrift stand, geeignet war, staatsgefährdende Empö­ rung auszulösen, dürfte den Zensoren nicht verborgen geblieben sein.

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Die Historischen und die Vordringenden: Beschreibungen einer brüchigen Gesellschaft Die Rede von den Kriegsgewinnlern, die im Automobil sitzen, »während Fürstinnen auf der Plattform eines Beiwagens [der Straßenbahn] stehen« (WG 1, 82), führt zu einem zweiten Zentralmotiv von Kraus’ Auseinander­ setzung mit dem Ersten Weltkrieg; explizit wird es zum Thema des Aufsat­ zes Die Historischen und die Vordringenden. Ein Wort an den Adel (WG 1, 47–50):22 der Bedeutungsverlust der alten staatstragenden Eliten wie Adel, Offizierskorps und Klerus und der Aufstieg von homines novi, deren einzi­ ges Prinzip der ökonomische Erfolg war. In den letzten Vorkriegsjahren hatte Kraus gehofft, die traditionellen Führungsschichten könnten im Ein­ klang mit dem Thronfolger Franz Ferdinand noch einmal das Steuer herum­ reißen zugunsten einer Gesellschaftsordnung, in der nicht der von Presse, Technik und Wirtschaft geprägte »Fortschritt« die allein bestimmende Kraft wäre, die noch Sinn für geistige Werte und vornehme Lebensformen hätte, in der das Leben der Zweck gewesen und noch nicht den Lebensmitteln untergeordnet worden wäre.23 Diese Hoffnung hatte Kraus in den letzten Jahren vor dem Krieg dazu bewogen, sich positiv über alle gesellschaftlichen Kräfte zu äußern, die dem von ihm gehassten fortschrittlichen Bürgertum feindlich gegenüberstanden (›Thron und Altar‹, ›Säbel und Weihwedel‹), weniger über die Dynastie selbst als über Armee, Adel und Kirche. Trotz seiner Herkunft aus einer jüdischen Industriellenfamilie unterhielt er zu Ver­ tretern der alten Gesellschaft bessere Beziehungen als zu dem Milieu, aus dem er stammte; 1912 war er auch Katholik geworden. Der Krieg hatte nun zwar scheinbar die konservativen Kräfte gestärkt, zumal die Armee, aber eben nur scheinbar – in Wahrheit begünstigte er den Aufstieg der Skrupellosen. In Die Historischen und die Vordringenden (zuerst 1916 erschienen) macht Karl Kraus diese Niederlage der alten Gesellschaft zum Thema. Der Titel bezieht sich auf eine Rede des ungari­ schen Ministerpräsidenten Graf István Tisza, der den historischen Klassen der ungarischen Gesellschaft empfahl, von den »jetzt vordringenden neuen Schichten« zu lernen; doch sollten ihrerseits auch diese die »großen Eigen­ schaften« der »alten Faktoren der Gesellschaft […] in sich aufsaugen«24

22 Siehe zu diesem gesellschaftskritischen Thema bei Kraus Sigurd Paul Scheichl, »Die His­ torischen und die Vordringenden.« Karl Kraus’ »Fackel« als (Zerr-)Spiegel der Wiener Gesellschaft, in: Jürgen Nautz/Richard Vahrenkamp (Hgg.), Die Wiener Jahrhundert­ wende. Einflüsse, Umwelt, Wirkungen, Wien 1993, 419–434. 23 Zu Lebenszweck und Lebensmittel bei Kraus siehe u. a. WG 2, 199 und 270. 24 Kraus’ Sperrungen im Tisza-Zitat werden hier nicht übernommen.

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(WG 1, 47). Kraus übersetzt die Worte des Grafen in die satirische Sprache der Fackel: »Man kann nicht übersehen, daß der Graf Tisza in etwas kategorischer Form seine Standesgenossen aufgefordert hat, im Verdienen tüchtiger zu werden, während er unter höflichen Entschuldigungen die Geldjuden ersucht hat, sich endlich auch die Manieren der guten Gesellschaft anzueignen.« (WG 1,47)

Für Kraus waren die alten und die neuen Gesellschaftsschichten in jedem Fall, unabhängig von den noch vorhandenen Unterschieden, »in Kompagnie getreten« (WG 1, 47) – nicht zufällig gebraucht er eine Metapher aus dem Geschäftsleben. Zum Wort »Geldjuden« ist zu sagen, dass sich der Satiriker hier eines bei den »Historischen« verbreiteten sprachlichen Codes bediente, der die öko­ nomischen und sozialen Veränderungen aus konservativer Sicht mit dem Judentum verband, eines Codes, den die Antisemiten mit anderen Bedeutun­ gen aufluden. Kraus hat sich vom Antisemitismus stets distanziert, ihn aber nicht ernst genug genommen und wohl auch nicht genau gekannt, was die Verwendung dieses missverständlichen Ausdrucks nicht rechtfertigt, aber erklärt. Man muss speziell für den Ersten Weltkrieg in Österreich-Ungarn sagen, dass in den Industriellen- und Fabrikantenkreisen dieses Landes, aus denen die großen Profiteure des Krieges kamen, aufgrund der Bevölkerungs­ struktur des Staates Juden besonders häufig waren. In der Fackel hatte Kraus schon lange vor dem Krieg satirisch über das jüdische »Parvenütum« in Wien geschrieben. Von jüdischen Kriegsgewinnlern handelt etwa Wehr und Wucher (WG 1, 207–225). Im Weiteren stellt Kraus Bereiche zusammen, in denen die sozialen Bar­ rieren zusammenbrachen, etwa: »Von einer Fürstin empfangen werden, ist gefährlich, weil man sicher sein kann, einen Revolverjournalisten bei ihr zu treffen« (WG 1, 49). Das »ekle Gemengsel der Wohltätigkeit« und die »Brü­ derlichkeit im Komitee« (WG 1, 48) lösen die Distanz auf, eine Anspielung auf die zahlreichen privaten Organisationen zur Linderung der durch den Krieg verursachten Not, in deren Leitungsgremien vielfach Aristokraten für das Prestige sorgten, in denen aber auch Vertreter der aufsteigenden Grup­ pen, also Neureiche und deren Gemahlinnen, tätig waren, mit der Hoffnung auf einen Zuwachs an sozialem Prestige. Dazu kam die Praxis der Nobilitie­ rung erfolgreicher Geschäftsleute, sodass »es bald mehr Ahnherren in der Kärntnerstraße geben wird, als solche, die ihre Ahnherren schon begraben haben« (WG 1, 48 f.). Dass diese neuen Ahnherren, Kriegslieferanten, »Kinoschmierer, Operettenlieblinge, Agenten« (WG 1, 49), häufig Juden sind, wird direkt und indirekt immer wieder ausgesprochen. Für den Satiriker verband sich die Vorstellung von Aristokratie mit »geis­ tiger Verpflichtung« und »sittlicher Verantwortung« (WG 1, 48); in der sich

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vollziehenden Anpassung an die »Vordringenden« drohten ihm diese Werte von den »Historischen« preisgegeben zu werden. Auf diese Werte kam es Kraus selbstverständlich an, nicht auf irgendwelche Vorrechte der Aristokra­ tie oder auf eine Verteidigung sozialen Hochmuts. Nicht die Vorrechte, son­ dern die Werte sind durch den »Parvenü« (WG 1, 49) bedroht, dem der Krieg den Aufstieg wesentlich erleichtert hat. Die Sorge vor dem Zusammenbrechen der sozialen Barrieren und damit der Werteordnung wird in der Fackel schon vor dem August 1914 artikuliert. Der rapide Bedeutungsgewinn der »Vordringenden« durch die enormen wirtschaftlichen Chancen, die der Krieg energischen und oft skrupellosen Geschäftsleuten bot, beschleunigte die vom Satiriker seit Langem beobach­ tete und gefürchtete Entwicklung, der Krieg erschien nur als Fortsetzung und Steigerung von Prozessen, die schon lange Gegenstand der Satire der Fackel gewesen waren. Unnötig zu sagen, dass Kraus hier über bloße Angriffe auf die Kriegsgewinnler und Schieber hinausgeht und grundsätzli­ che Entwicklungen aufgreift, selbst wenn uns die dem Text zugrunde lie­ gende Opposition ›Adel vs. (jüdische) Geschäftsleute‹ allzu zeitgebunden erscheint. Auf die Zusammenhänge dieser Befürchtungen mit dem österrei­ chischen Antisemitismus einzugehen, ist hier aus Raumgründen leider nicht möglich; von diesem hat Kraus in jedem Fall das Wort »Geldjuden« (WG 1, 47) entlehnt, dessen Gefährlichkeit er eigentlich schon hätte erkennen kön­ nen und müssen.

Vom »Kopfsturz des konservativen Gedankens«: Kraus zwischen Tradition und Moderne Die Warnung an den Adel, der hier als (idealisierter oder idealtypischer) Repräsentant einer sittlichen, dem Geist verpflichteten Gesellschaftsord­ nung angesprochen wird, führt zu einem verwandten zentralen Motiv von Kraus’ Verständnis des Ersten Weltkriegs: dem vom »Kopfsturz des konser­ vativen Gedankens« (WG 2, 199). In Nachruf, dem zuerst Anfang 1919 ver­ öffentlichten, also wenige Wochen nach Kriegsende verfassten, überlangen vorletzten Text von Weltgericht, formuliert der Satiriker: »Der Kopfsturz des konservativen Gedankens in ein Chaos, in dem er nur als der grau­ sige Büttel einer ihm todfeindlichen Weltansicht walten konnte, ist mein beispielloses Erleben an dieser Zeit.«

Konkret auf die Monarchie bezogen: »[…] sie streckt alle Symbole einer übermateriellen Welt dem Geschäft vor […]« (ebd.), also der ›modernen‹, mit der alten Ordnung nicht kompatiblen Welt des »Fortschritts«. Im Welt­

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krieg bewahrten die (ihrem Selbstverständnis nach) bewahrenden Institutio­ nen nicht mehr, sondern hatten sich ganz in den Dienst der von Kraus mit dem Liberalismus im weitesten Sinn gleichgesetzten zerstörerischen Kräfte, ganz in den Dienst des Kaufmanns, gestellt. In dem Aufsatz Die Kinder der Zeit stand 1912 der Satz: »Und der Säbel, der ins Leben schneidet, habe Recht vor der Feder, die sich sträubt.« (F 354– 356 [1912], 71) Angesichts der Verheerungen, die der Fortschritt auf dem Weg »von Lanner bis Lehar« (WG 2, 190), also von einem Walzerkomponis­ ten des Vormärz bis zum erfolgreichsten Meister der Kommerzoperette, im weiteren Sinn: von der Kunst der Goethezeit bis zur modernen Unterhal­ tungskultur, angerichtet hat, sah der Kulturkritiker Kraus in dem vom Libe­ ralismus gehassten ›Bündnis von Thron und Altar‹, von ›Säbel und Weihwe­ del‹ einen letzten Schutz der traditionellen Werte, besonders im Bereich der Kultur. Im Weltkrieg stellte sich heraus, dass Monarchen und Armee – der »Säbel« – genau das taten, was der »Fortschritt« wollte und von der Presse, der »Feder«, einfordern ließ. Diese Preisgabe der Inhalte der alten Ordnung zugunsten der »Vordringenden« ist mit dem Bild vom Kopfsturz des konser­ vativen Gedankens gemeint. Der Autor, der in den letzten Vorkriegsjahren in seiner Abneigung gegen Presse und Ökonomismus mit den »Historischen« sympathisiert hatte, konstatierte nun deren vollständiges Versagen – und wird zum Republikaner. (Die komplexe Frage von Kraus’ wechselnden poli­ tischen Solidaritäten würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, bedürfte eines Ausgreifens weit über den Ersten Weltkrieg hinaus.) Programmatisch hat Kraus den Satz von Säbel und Feder aus dem Aufsatz Kinder der Zeit gestrichen, als er ihn in den 1922 erschienenen Band Untergang der Welt durch schwarze Magie aufnahm25 (dessen Anordnung übrigens ganz anders konzipiert ist als die von Weltgericht, nach thematischen Gesichtspunkten und nicht nach dem Zeitpunkt des Entstehens der Beiträge; zudem hat Kraus in die alten Beiträge stark eingegriffen). Priester, die Waffen segneten, ein Kaiser, der dubiose Geschäftsleute in den Adelsstand erhob, Adelige, die mit diesen Neunobilitierten, auf deren Kosten, gesellschaftlich verkehrten, hohe Beamte und Offiziere, die sich auf bedenkliche Geschäfte mit den neu Geadelten oder zur Erhebung in den Adelsstand Vorgemerkten einließen, Richter, die als »Auditoren« im Sinn des Krieges Unrecht sprachen – alle diese Menschen, die sich auch mit den Journalisten gut stellen wollten, hatten für Kraus den Anspruch verwirkt, als Träger der traditionellen Werte zu gelten. Der Satiriker hatte jedes Vertrauen in den »Säbel« verloren; zwar hasste er nach wie vor die »Feder«, den Jour­ nalismus, als die Wurzel allen Übels, doch war er nun bereit für die von der 25 Karl Kraus, Untergang der Welt durch schwarze Magie, hg. von Christian Wagenknecht, Frankfurt a. M. 1989, 357.

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liberalen Presse seit jeher propagierte demokratische Ordnung, da sie die Machtverhältnisse nicht verschleierte, sondern offenlegte, eher befähigt schien, jene außerpolitischen, geistig-kulturellen Werte zu schützen, um die es ihm ging. Die bemerkenswerte (zum Teil durch Gesetze festgeschriebene) Margina­ lisierung der alten sozialen Schichten in der Ersten Republik Österreich – die sich darin stark von der Weimarer Republik unterschied –, das Ausblei­ ben nennenswerter monarchistischer Bestrebungen, die konsequente Reformpolitik zumindest des ›roten Wien‹ zeigen, dass den von Kraus kon­ statierten Konkurs der »Historischen« weitere Kreise in Österreich ähnlich erlebt haben.26

Das technoromantische Abenteuer: Über die Gleichzeitigkeit von Pathos und Technik Ein vierter Gedankenkomplex in Weltgericht berührt sich wiederum mit der eben beschriebenen Analyse der Abdankung des Konservatismus. Denn für Kraus vertrugen sich die alten sozialen Strukturen und ihre ideologische Basis nicht mit einem von der technischen Modernisierung bestimmten All­ tag. Er spricht von einem »Chaos der Gleichzeitigkeit« (WG 2, 192), von einem »Geist, der nach dem Mittelalter«, und einem »Gefühl, das nach den Lebensmitteln orientiert ist« (ebd.), vom »Anachronismus eines Schieber­ tums in schimmernder Wehr« (ebd.). Gemeint ist die Verbrämung der tech­ nischen Realität mit sprachlichen und anderen Ornamenten,27 die aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit bezogen sind. Solche Überlegungen finden sich übrigens lange vor Kraus schon bei dem Wiener Feuilletonisten Ferdinand Kürnberger und später bei seinem Zeitgenossen Fritz Mauthner. Die Formulierung: »Schiebertum in schimmernder Wehr« verdeutlicht das durch einen Stilbruch: »Schimmernde Wehr« ist eine schon im 18. Jahr­ hundert belegte poetische Floskel, die Wilhelm II. mit hohem Pathos für die deutsche Flotte verwendet zu haben scheint, »Schiebertum« dagegen eine saloppe Bezeichnung für Kriegsgewinnler; schon im sprachlichen Detail ist

26 Zur österreichischen Geschichte siehe Ernst Hanisch, 1890–1990. Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994; speziell zu Kraus siehe u. a. Alfred Pfabigan, Karl Kraus und der Sozialismus. Eine politische Biographie, Wien 1976. 27 Tucholsky spricht in seinem Artikel Weltgericht von Kraus’ »Entdeckung des alten Orna­ ments, das auf die neue Zeit aufgeklebt ist«; das Bild des Aufgeklebtseins ist eine Kraus geradezu kongeniale Formulierung.

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der Kontrast zwischen Ideologie und Realität markiert.28 Andere Formulie­ rungen für diesen Gegensatz: »Die Gleichzeitigkeit von Thronen und Tele­ phonen hat zu Gelbkreuzgranaten geführt, um die Throne zu erhalten.« (WG 2, 199) Oder: der »Konflikt zwischen einem vorzeitlichen Begriff von militärischer Ehre und den Anforderungen eines durch und durch ehrlosen Handwerks neuzeitlicher Kriegführung« (WG 2, 201). Oder, in einer das wilhelminische Berlin treffenden Formulierung: der »Typus: Koofmich mit Hellebarde« (WG 2, 196), eine sehr österreichische Sicht auf das Deutsche Reich, zu der Kraus freilich durch die schonungslose Kritik auch des eige­ nen Staates legitimiert ist. Ein Text in Weltgericht (von 1918) heißt Das technoromantische Aben­ teuer (WG 2, 86–91); der Titel bedarf keiner weiteren Erläuterung. In diesem Aufsatz findet sich das den »abominablen« Widerspruch zwischen altkriege­ risch-heroischem Pathos und moderner technisch-chemischer Kriegführung (mit Giftgas) pointiert zusammenfassende Wortspiel von der »chlorreichen Offensive« (WG 2, 88). Die Selbstpräsentation Wilhelms II. ist für Kraus eine besonders deutliche (und satirisch fruchtbare) Ausprägung dieses für die Ideologie des Ersten Weltkriegs wichtigen Grundkontrasts. Dass man den »absurden Zufall«, durch den die aus weiter Entfernung abgeschossene Gra­ nate den einen Wehrlosen nicht trifft, den anderen schon, immer noch ›Hel­ dentod‹ nennt, gehört in dieses Umfeld des Lügens über die wahre Natur dieses Krieges (vgl. WG 1, 232). Kraus spricht von »dem Weltbetrug, sol­ ches einen Heldentod zu nennen« (ebd.).

»Phrase« versus »Phantasie«: Angriffe auf die Presse Mit »in schimmernder Wehr« und »glorreich« sind wir beim Multiplikator der Kriegsideologie, der Presse. Seit den Anfängen seiner 1899 gegründeten Zeitschrift hatte Kraus die Presse und ihre Sprache in den Mittelpunkt seiner satirischen Gesellschaftskritik gerückt. Er warf den großen Wiener liberalen Zeitungen neben vielem anderen vor allem Korruption vor, doch sein Haupt­ vorwurf wurde immer mehr, dass die Journalisten durch die ›Phrase‹ selbst in vom Inhalt her unbedenklichen Artikeln die Denkfähigkeit der Leser ein­ schränken. Mit ›Phrase‹ meinte Kraus viel mehr als die feststehenden Wen­ dungen, an die wir bei diesem Wort zuerst denken, er bezeichnete mit die­ 28 Obendrein dürfte »Schieber«, 1893 im Grimm noch nicht in dieser Bedeutung belegt, ein Neologismus der Kriegsjahre sein, während »die Wehr« wohl auch schon um 1914 ein Archaismus und auf die poetische Stilebene beschränkt gewesen sein dürfte.

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sem Wort, einem Kernbegriff seiner Satire, vielmehr jeden die Realität ver­ nebelnden Sprachgebrauch. Diese Kritik an der Phrase ist der zentrale Aspekt von Kraus’ Medienkritik: Uninformiertheit, Korruption, Einseitig­ keit der Zeitungen interessieren ihn im Grunde wenig; das Zumüllen der menschlichen Denkfähigkeit mit vorgeformten Gedanken und mit einer Fülle irrelevanter Informationen ist der Kern seiner Angriffe auf ›die Zei­ tung‹. Die erste öffentliche Vorlesung nach Ausbruch des Krieges, die der entsetzte Kraus – erst am 19. November 1914 – gehalten hat, damit der erste Text, mit dem er auf diesen reagiert hat, und zugleich der erste Text in Welt­ gericht, beginnt mit dem Zitat einer solchen (vereinzelt bereits im liberalen Schrifttum des 19. Jahrhunderts vorkommenden, im Ersten Weltkrieg von Anfang an exzessiv gebrauchten) Phrase: »In dieser großen Zeit« (WG 1, 9), die sogleich demontiert wird. »In dieser großen Zeit29 die ich noch gekannt habe, wie sie so klein war; die wieder klein werden wird, wenn ihr dazu noch Zeit bleibt; und die wir […] lieber als eine dicke Zeit und wahrlich auch schwere Zeit ansprechen wollen« (ebd.).

Kraus wird nicht müde, die Klischeehaftigkeit und Phrasenhaftigkeit des Schreibens über den Krieg nachzuweisen, vielfach freilich in den Glossen, die in Weltgericht nicht Eingang gefunden haben. Das ›romantische‹ Bild des technischen Krieges, die Verzerrung von dessen Realität sei die ein­ drucksvollste Wirkung der Phrase, deren falsches Pathos der Theaterbericht über die Helden von Uszieczko eindringlich genug demonstriert. Ist in einem Text einmal die Rede von »dem Helden, der ohne Zögern sein Leben in die Schanze30 schlug« (WG 2, 87),31 merkt Kraus im Sinn seiner Aufde­ ckung der Phrasen lakonisch an, »daß die eben hier berufene Schanze, in die man sein Leben für sein Vaterland schlägt, zu jenen Kriegsbehelfen gehört, die heute am seltensten zur Verwendung gelangen, und daß vollends das Schwert seit jener historischen Reichstagsitzung vom 4. August 1914 überhaupt nicht mehr gezogen wurde.« (ebd.)

»Wehrloser und gebannter ist kein Schaf vor der Boa constrictor als der durchhaltende Verstand vor der Phrase.« (WG 2, 129) Wozu erklärend anzu­ merken wäre, dass das Wort »durchhalten« seinerseits eine Phrase zitiert, die stetig wiederholte Aufforderung an die Zivilbevölkerung, um des Sieges wil­ len die vielen Einschränkungen im Alltagsleben bis Kriegsende zu ertragen.

29 Hervorhebung im Original in Kapitälchen gedruckt. 30 Hervorhebung im Original in Sperrdruck gedruckt. 31 Korrekterweise ist zu sagen, dass dieses Zitat nicht aus dem Bericht einer Zeitung, son­ dern aus einem weniger verfänglichen Zusammenhang stammt. Das ändert nichts an Kraus’ kritischem Ansatz.

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Das Gegenmittel gegen die Phrase ist für Kraus die ›Phantasie‹, die Kraft der Vorstellung – nicht im Sinne einer Theatervorstellung und nicht im mili­ tärischen Sinn einer Vor-Stellung vor den eigentlichen Stellungen, um Wort­ spiele von ihm aufzunehmen. ›Phantasie‹ wird von Kraus nie definiert, doch ist relativ klar, was er damit meint: exaktes Formulieren und damit Nachden­ ken über das, was hinter den Wörtern und Worten steckt, Nachdenken über die Konsequenzen, die Gesprochenes und Geschriebenes haben können; also eben das Bewusstsein, dass der moderne Gaskrieg ein tödlicher technischer Krieg ist, über den mit (historischen) Metaphern sprechen über ihn lügen heißt. Die legendäre, vor allem in den Glossen geübte Sprachkritik (eigent­ lich Redekritik) des Satirikers ist nichts anderes als Verteidigung der Phanta­ sie – des »Mittels, durch das der menschliche Geist sich von starren, ana­ chronistischen Ideologien befreien kann«32 – gegen die »Phrase«.33 ›Phrase‹ und ›Phantasie‹ sind seit jeher zentrale Begriffe von Kraus’ Pressekritik gewesen, dem Hauptthema seiner Satire. Das festzuhalten ist besonders wichtig, weil für ihn insgesamt die Deutung des Weltkriegs und seiner Begleitumstände nicht etwas Neues war, sondern die direkte Fortfüh­ rung seiner bisherigen satirischen Zeitkritik, freilich unter dem Gesichts­ punkt, dass dieser Krieg die äußerste Konsequenz dessen war, was er immer schon verhöhnt und angeprangert hatte, insbesondere des Verlusts der Phan­ tasie durch das Wirken des Journalismus. Die Aufsätze in Weltgericht sind daher ohne Kenntnis der früheren Jahrgänge der Fackel nicht immer ganz verständlich. Beispielsweise kann erst wer weiß, wie sehr der Satiriker die zeitgenössische Operette und den um sie entstandenen Theaterbetrieb ver­ achtet hat, die ganze Schärfe seines Urteils über die Vorstellung mit den Hel­ den von Uszieczko ermessen – auf die Der Frauenfresser von Edmund Eysler folgte, Repräsentant eines für Kraus (und nicht nur für ihn) vollkommen geist- und wertlosen Theaters. Gerade weil die Pressekritik für Kraus immer so wichtig gewesen ist, wird ihre Bedeutung in Weltgericht nicht weiter behandelt, um den Preis des Ver­ zichts auf das Vergnügen der Beschäftigung mit der einzigen weiblichen Kriegsberichterstatterin, Alice Schalek, die in der Aufsatzsammlung mehr­ fach auftritt (zum Beispiel in Der tragische Karneval [WG 1, 91–96] und in Die einzelne Frauengestalt [WG 2, 24–32]). Aber das öffentliche Bild des Satirikers Kraus ist so eng mit diesem Thema verbunden, das es hier bei einer Andeutung bleiben kann. Kraus nützt in diesem Fall die unfreiwillige

32 Edward Timms, Karl Kraus. Satiriker der Apokalypse, aus dem Engl. von Max Looser und Michael Strand, Wien 1995, 372. 33 Siehe bei Timms (ebd., 374–376) den erhellenden Vergleich von Kraus mit Ignatius F. Clarke, Voices Prophesying War, 1763–1984, London 1966, geradezu eine historische Verifikation der Auffassung Kraus’ von der »Phrase«.

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Komik der martialischen Phrasen im Munde einer Frau zu einer sehr effi­ zienten Satire auf das Schreiben über den Krieg. Ein Haupttext von Weltgericht, der nicht nur aus Gründen der Chronolo­ gie so gut wie am Schluss des Buches steht, ist der über 100 Seiten umfas­ sende, »monumentale«34 Nachruf (WG 2), der schon ganz am Ende des Krieges, in Teilen wohl erst kurz nachher, entstanden und in der Fackel im Januar 1919 veröffentlicht worden ist, ein gutes halbes Jahr vor dem Erscheinen von Weltgericht. Diese sehr additiv strukturierte Polemik ist Kraus’ Abrechnung mit dem franzisko-josephinischen und überhaupt dem habsburgischen Österreich; zum vielfach gepflegten nostalgischen Bild des Wiener Fin de Siècle ist sie die denkbar eindringlichste Korrektur. Nachruf ist in erster Linie eine politische Abrechnung mit einem stagnierenden Staat, der zunehmend unfähig war, seine nationalen Konflikte zu bewältigen, und daher keine Zukunftsperspektiven mehr hatte. Franz Joseph erscheint als der Inbegriff einer verknöcherten Bürokratie, die den Staat schlecht und recht verwaltete, aber nicht mehr zu gestalten vermochte und vielleicht gar nicht mehr gestalten wollte. Kraus nennt »diesen elenden Staat« gleich auf der zweiten Seite »diesen aufgelösten Verein jovialer Scharfrichter, diese Gevatterschaft weltbetrügeri­ scher Kräfte, deren Einheit in der Schändung des Heimatsgefühls sämtlicher Nationen gewährleistet war, diesen bürokratischen Alpdruck landschaftlicher Schönheit, diese k. k. und zum Überdruß noch k. u. k. Verunreinigung der Anlagen, die von Gott dem Schutze des Publikums empfohlen und vom Teufel als Privatbesitz einer allerhöchst bedenklichen Familie zugeschanzt waren« (WG 2, 187).

Nachruf gerät Kraus zur Verfluchung des habsburgischen Staates, »der, weit über die Zumutung europäischer Rücksicht für einen kranken Mann im Osten, […] durch sieben Dezennien der Welt das Schauspiel eines als Thron kaschierten Leibstuhls gewährte« (WG 2, 188). Vor allem werden die aktuellen Kriegsverbrechen des Staates angepran­ gert; genannt seien »die 11 400 Galgen« (es könnten auch mehr gewesen sein), die im Namen des Armeeoberkommandierenden Erzherzog Friedrich vor allem für verdächtige österreichische Staatsbürger an den Grenzen zu Russland errichtet worden seien (WG 2, 223) und wahrscheinlich tatsächlich errichtet worden sind.35 Keinen Zweifel lässt Kraus an der Kriegsschuld der österreichisch-ungarischen Monarchie: dieses »Hundsgemeinwesen« (WG 2, 189), »dieses ganze blutgemütliche Etwas […] beschließt eines Tages den Tod der Welt« (WG 2, 190). Was Kraus über die »hirnverbrannte Zumu­ tung« des Ultimatums an Serbien schreibt (WG 2, 191), kann im Einzelnen 34 Wagenknecht, in: WG 2, 319. 35 Zur Kriegsjustiz der k. u. k. Armee siehe Anton Holzer, Das Lächeln der Henker. Der unbekannte Krieg gegen die Zivilbevölkerung, Darmstadt 2008.

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nicht erörtert werden. Freilich weiß er auch, dass dieser »gröbste Unfug der Geschichte […] nicht möglich gewesen« wäre, »wenn die Weltanschauung des ›Wer’ mr scho machen‹ nicht auf die Nibelungentreue des ›Machen wir‹ hätte pochen dürfen« (ebd.). Die wirtschaftlichen Interessen des Deutschen Reichs und dessen »Bierhäuser im Geschmack der Walhalla« träumender Kaiser (WG 2, 192) werden in diesen Visionen der untergegangenen Habs­ burgermonarchie nicht vergessen – wie Kraus auch sonst immer wieder auf die Verantwortung Berlins hinweist. Vor allem ist dieser Nachruf aber doch eine Abrechnung mit dem »alten Österreich« (auch mit dem Österreich vor 1914!), dessen in der zweiten Republik Österreich beliebte Verklärung sich schwerlich auf Kraus berufen kann. Vieles, was erst in diesem düsteren, mit einem Zitat aus Faust II schließenden Nachruf ausgesprochen werden konnte, wurde von Kraus schon während des Krieges gedacht und angedeu­ tet, manches schon vor 1914. Zwischen dem fast am Ende des Buches stehenden Nachruf und der ziem­ lich genau vier Jahre vorher entstandenen, im ersten Fackel-Heft der Kriegs­ jahre gedruckten Anrede In dieser großen Zeit gibt es viele Berührungs­ punkte, allerdings ist Kraus’ Ton am Beginn des Krieges noch viel maßvoller als nach der Erfahrung dieser Katastrophe. Und selbstverständlich wusste er nach den vier Jahren Krieg viel mehr, als er sich bei aller Phantasie im Herbst 1914 hatte vorstellen können. Das Selbstzitat von der »großen Zeit« im Text von 1919 ist nur ein Beispiel für Verbindungen zwischen den beiden Texten; nun ist diese Phrase freilich gewendet – Kraus schreibt: »Die Kunst sich zu freuen […], jetzt ist sie brauchbar, wo die große Zeit beginnen könnte, jetzt, wo Not auch den Wucherer beten lehrt, und den Pfaffen dazu, der keinen Anlaß mehr hat, für das Walten von Minen und Mörsern den Segen des Himmels herab­ zuflehen.« (WG 2, 197)

Das klingt wie die Hoffnung auf die Erfüllung des Wunsches von 1914: »Möge die Zeit groß genug werden, daß sie nicht zur Beute werde eines Sie­ gers, der seinen Fuß auf Geist und Wirtschaft setzt!« (WG 1, 23 f.) (Mit die­ sem »Sieger« meinte Kraus Moriz Benedikt, den einflussreichsten Journalis­ ten der k. u. k. Monarchie, von dem erstaunlicherweise in Nachruf kaum die Rede ist.) Auch der »Mörser«, eine moderne Waffe der Artillerie, kam bereits in der Anrede von 1914 vor (WG 1, 9), ebenso der »erhabene Anschlag«, als den Kraus wegen seiner sprachlichen Qualität das Kriegsma­ nifest des Kaisers Franz Joseph empfand (WG 1, 11 und WG 2, 190).36 Die Kontinuität von Kraus’ Denken über den Krieg und über das habsbur­ gische Österreich insgesamt lässt sich nicht nur an solchen – gewichtigen – Einzelheiten festmachen. In dieser großen Zeit ist nicht nur früher Ausdruck 36 Zu nicht unwesentlichen textkritischen Problemen bei WG 1, 11 siehe Timms, Karl Kraus, 474 f.

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des Entsetzens über die eingetretene Katastrophe, sondern bereits fortge­ setzte Analyse des Kulturzustands, der zum Krieg geführt und der sich im Krieg nicht geändert hat. Die Schande der im Theater auftretenden Helden von Uszieczko ist schon vorweg genommen: »15 000 Gefangene gerieten in eine Extraausgabe, die eine Soubrette vorlas, damit ein Librettist gerufen werde.« (WG 1, 10) Über die ökonomischen Hintergründe des Krieges heißt es schon im Spätherbst 1914: »Menschheit ist Kundschaft. Hinter Fahnen und Flammen, hinter Helden und Helfern, hinter allen Vaterländern ist ein Altar aufgerichtet, an dem die fromme Wissenschaft die Hände ringt: Gott schuf den Konsumenten! Aber Gott schuf den Konsumenten nicht, damit es ihm wohl ergehe auf Erden, sondern zu einem Höheren: damit es dem Händler wohl ergehe auf Erden« (WG 1, 12).

Sicher ist am Beginn des Krieges – und unter den Bedingungen der Zensur – der Ton des Satirikers weniger aggressiv als nach dem Ende des Krieges, doch heißt es auch 1914 über die Journalisten schon: »Ahnt man, was ein halbes Jahrhundert dieser freigelassenen Intelligenz an gemordetem Geist, geplündertem Adel und geschändeter Heiligkeit verdankt?« (WG 1, 16) So viel anders als die Formulierungen von 1918 klingt diese Stelle nicht, und schon gar nicht der Vorschlag, die Staaten sollten die Journalisten »auf einen international vereinbarten Schindanger […] treiben« (WG 1, 19). In dieser großen Zeit und Nachruf haben auch das einsame satirische Ich gemeinsam, den Deuter und Warner, ja Propheten, der freilich im Text vom Kriegsende zugleich als ein Hoffender erscheint, als einer, der die neue Staatsform begrüßt. Darin unterscheidet sich der spätere Text von der Anrede des November 1914. Denn auch wenn Kraus die Niederlage geahnt haben mag, schrieb er zu Beginn des Krieges doch im Rahmen des bestehen­ den Staates, an den er sogar appellierte, seine Machtmittel gegen die Presse einzusetzen und die »Preßfreiheit […] zu erwürgen« (WG 1, 10; siehe auch WG 1, 27). Und wohl weniger aus Rücksichtnahme auf die Zensur als aus Respekt vor den Menschen, die an den Fronten ihr Leben riskierten, sagte Kraus 1914 auch so gut wie nichts gegen die Armee – vielleicht auch, weil er sie in diesen Tagen noch wie in den Jahren unmittelbar vor dem Kriegs­ ausbruch als bewahrende Kraft schätzte und darauf hoffte, dass sie die in sei­ nen Augen Unheil bringenden »Errungenschaften« des Liberalismus beseiti­ gen würde. Obwohl es zwischen 1914 und 1918 eine große Kontinuität des kulturkri­ tischen Denkens gibt, obwohl daher Weltgericht durchaus als Ganzes gele­ sen werden kann und muss, ändert sich durch die Kriegserfahrung doch auch Entscheidendes. Was im Krieg geschah, die Leichtfertigkeit und Korrum­ pierbarkeit der Offiziere, die Verantwortungslosigkeit der staatlichen und militärischen Führung, macht nun den Staat und das Soldatentum zu Objek­

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ten des Hasses und Abscheus. Die nicht endende Anprangerung der von der k. u. k. Armee verübten Gräuel in Nachruf ist vielleicht auch Ausdruck der Enttäuschung,37 die Anklagen häufen sich aber auch deshalb, weil sie vor dem November 1918 nicht hätten veröffentlicht werden können. Wie diese Entlarvung der Armee ist die Bejahung der neu gegründeten Republik Öster­ reich (zunächst ›Deutsch-Österreich‹) eine aus den Erfahrungen des Krieges gezogene Konsequenz. Kraus zog sie schon vor dessen Ende, denn bereits im März 1918 sprach er von der »Auflösung des alten politischen Inven­ tars«, durch welche der konservative Politiker (und Pazifist) Heinrich Lammasch die Welt zu retten versuche (WG 2, 96); damit kann eigentlich nur die Abwendung von der Monarchie als Staatsform gemeint sein. Inso­ fern kann man von einer politischen Entwicklung Kraus’ in den Kriegsjah­ ren sprechen,38 auch wenn in wesentlichen Punkten – Kritik an der Presse und ihrer verlogenen Sprache, Einsicht in das Übergewicht der Lebensmittel gegenüber dem Lebenszweck – Kontinuität bestand. Mit einer Metapher aus der Linguistik gesprochen: An der Tiefenstruktur der Kraus᾿schen Kritik änderte sich wenig, die Oberflächenstruktur sah aber seit Ende 1917 (und damit in den letzten Beiträgen von Weltgericht) deutlich anders aus. Die Bejahung der Republik, die Annäherung an die Sozialdemokratie und die Einordnung in das neue politische System, zu der Nachruf selbst und die Veröffentlichung sowohl von Weltgericht als auch Die Letzten Tage der Menschheit gehören, wird das Werk von Kraus in den Zwanzigerjahren bestimmen. Dennoch: Weltgericht dokumentiert trotz der chronologischen Anordnung der Beiträge in erster Linie das Dauernde an Kraus’ Haltung, nämlich seine Parteinahme für die Menschenwürde seit Anfang des Krieges, auf die er stolz war, und nicht seine politische Entwicklung in den Kriegs­ jahren. Leopold Liegler, dessen immer noch wichtiges Kraus-Buch aus enger Vertrautheit mit dem Satiriker (wenn auch ohne dessen direkte Einfluss­ nahme) geschrieben worden ist, betont ebenfalls die Kontinuität zwischen der Fackel vor 1914 und den Schriften der Kriegszeit: Das Jahr 1914 sei nur »der Übergang eines chronischen Zersetzungsprozesses in die akute Phase der Katastrophe« gewesen; »es war die Einleitung des Zusammenbruchs, der Schlußakt des Dramas von der elektrisch beleuchteten menschlichen Bestialität«.39 Kraus hat freilich einige Zeit gebraucht um zu erkennen, dass ein Aufhalten dieses »chronischen Zersetzungsprozesses« nicht im Bündnis mit den konservativen Kräften, sondern nur noch gegen sie möglich war, dass nicht nur Presse und Wirtschaft Schuld am Krieg trugen, sondern auch 37 Ähnlich Timms, ebd., 480. 38 Siehe dazu auch ebd., 490 f. 39 Liegler, Karl Kraus und sein Werk, 226.

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Adel und Armee. In Nachruf ist dieser sich seit dem Herbst 1917 abzeich­ nende Entwicklungsprozess abgeschlossen. Die beiden Bände Weltgericht schließen aber nicht mit dem monumenta­ len Nachruf, sondern mit dem scheinbar banalen Text Ad acta (zuerst im April 1919 in der Fackel veröffentlicht). Dieser dokumentiert den Aktenlauf aufgrund einer Anzeige, die nach einer Vorlesung gegen Kraus erstattet wor­ den war. Die bürokratische Behandlung der Denunziation entbehrt nicht der Komik, doch hat Ad acta wohl doch nicht in erster Linie die Funktion einer Entlastung vom Pathos der meisten hier versammelten Artikel. Vielmehr dokumentiert der Satiriker damit, dass er sich insbesondere durch seine Vor­ lesungen sehr wohl in Gefahr begeben hat. Die Texte, die zur Anzeige geführt haben, gehören zu den letzten in Weltgericht und belegen die ange­ deutete Entwicklung von Kraus hin zu einer pazifistischen Politik und zur Ablehnung der Monarchie.

Apokalypse, Untergang, Weltgericht: Kraus als Warnender und Trauernder Über die Gründe für die Änderung des anfänglich vorgesehenen nüchternen Titels »Kriegsaufsätze« – der im Briefwechsel mit Wolff40 wie ein Arbeitsti­ tel wirkt, aber schon als Entwurf eines Titelblatts41 gesetzt war – in Weltge­ richt ist nichts bekannt. Die (erhaltene) Korrespondenz bezieht sich auf die Abläufe des Drucks und auf die Entscheidung, die Aufsätze in zwei Bänden zu veröffentlichen, nicht auf die Formulierung des Titels.42 Für das Buch, über das der auf 27. Mai 1919 datierte Verlagsvertrag geschlossen worden ist, scheint jedenfalls schon der Titel »Weltgericht« vorgesehen gewesen zu sein.43 Wie so häufig gibt Kraus einer Sammlung von Aufsätzen den Titel eines darin enthaltenen Beitrags (in diesem Fall WG 2, 171–175). Weltgericht passt allerdings in eine lange Reihe von Kraus᾿schen Titeln, die auf Apokalypse und Weltuntergang anspielen: Apokalypse von 1909, Untergang der Welt durch schwarze Magie (1912, später auch als Titel des Buchs von 1922), Die letzten Tage der Menschheit, der Epilog zu diesen: Die letzte Nacht. In dieser großen Zeit spricht von der »Posaune des Weltge­ richts« (WG 1, 10). An dem Abend, an dem er diesen Text vorgetragen hat, 40 Zwischen Jüngstem Tag und Weltgericht. Karl Kraus und Kurt Wolff, 158 f. 41 Ebd., 163. 42 In einer etwas kryptischen Anmerkung spricht Pfäfflin (ebd., 296), davon, dass Wolff den Titel habe ändern lassen (von »Kriegsaufsätze« in »Weltgericht« oder von »Weltgericht« in »Kriegsaufsätze«?). 43 Ebd., 161.

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las Kraus Passagen aus der Offenbarung Johannis, die er auch sonst häufig zitiert. Dass in Die Letzte Nacht der Journalist Moriz Benedikt zum »Anti­ christ« überhöht wird, gehört ebenfalls in diese Reihe. Und schließlich ent­ hält die Aufsatzsammlung neben Weltgericht (WG 2, 171–175) auch Auf­ sätze mit den Titeln Weltwende und Die Sintflut (zuerst in dem in den Tagen des Zusammenbruchs erschienenen Heft der Fackel 499/500). So hat die Wahl dieses Titels vielleicht weniger mit dem über die Mittel­ mächte hereingebrochenen historischen Weltgericht zu tun, sondern ist eher mit der Rolle des Warners und Propheten in Verbindung zu bringen, in der sich der Satiriker Karl Kraus gesehen hat, wobei trotz den gelegentlichen Bibelzitaten das Gewicht religiöser, jüdischer oder christlicher, Traditionen für Kraus schwer zu bestimmen ist. Untergang, Apokalypse und Weltgericht sind nicht eingetreten, sondern werden für Menschen an die Wand gemalt, die blind der Katastrophe entgegentaumeln. Timms spricht in diesem Sinn von der »apokalyptischen Rolle, die Kraus in seinen visionären Essays von 1908 und 1909 zu übernehmen begonnen hatte«.44 Beim Wort »Weltgericht« ist bei dem stets in Kategorien des Rechts denkenden Karl Kraus vielleicht auch im engen Sinn an das Gericht zu denken. Der Kontext apokalyptischer Vorstellungen in der Literatur und bildenden Kunst des Expressionismus ist nicht zu übersehen, doch bedürfte seine Analyse einer eingehenden Untersu­ chung. An vorletzter Stelle des ersten Bandes von Weltgericht steht der Nachruf auf Kraus’ am 19. Juni 1917 in Italien getöteten Freund Franz Grüner, einen Kunsthistoriker (WG 1, 232 f.); symmetrisch entsprechend gedenkt der zwei­ te Text des zweiten Bandes, Franz Janowitz (WG 2, 10–13), des am 4. No­ vember 1917 dem Krieg zum Opfer gefallenen Lyrikers.45 Im Zentrum der beiden Bände stehen also nicht Analyse und Polemik, sondern Trauer um den Tod vertrauter und geliebter Menschen – dessen Schrecken sich Kraus, frei von aller Heldenrhetorik, vorstellen konnte. Ein Franz Grüner geltender Satz ist fast programmatisch: »[A]n der hoffnungslos trauernden Liebe nährt sich der Abscheu vor einer Gegenwart, die ihr solches antun konnte. Was mit den Mitteln der geistigen Macht gegen sie unter­ nommen werden kann, soll geschehen! Denn Gott ist von ihren Taten noch nicht so in Abrede gestellt, daß er nicht auch dem Gedanken seine Volltreffer ließe.«

44 Timms, Karl Kraus, 309. 45 Auf diese Entsprechung macht Wagenknecht (WG 2, 321) aufmerksam. Vgl. auch die ebenfalls mit Bedeutung aufgeladene Anordnung der Gedichte auf Grüner und Janowitz sowohl in F 484–498 (1918), 115–126, als auch in Worte in Versen III (1918). In anderen Büchern dominieren solche Anordnungsprinzipien den Aufbau des ganzen Bandes (siehe Liegler, Karl Kraus und sein Werk, 361–364).

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Sigurd Paul Scheichl

Liest man die neueste große Publikation über den Ersten Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie,46 erschrickt man, auch im Detail, über die Parallelen zwischen den Befunden des Historikers und denen des Satirikers. Dessen Analyse dieses letzten Krieges von Österreich-Ungarn erweist sich als Volltreffer.

46 Manfried Rauchensteiner, Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie, 1914–1918, vollständig überarb. und wesentlich erw. Fassung, Wien/Köln/Weimar 2013.

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Andreas Stuhlmann

Vom »Schlafwandler« zum Kriegsgegner: Die Wandlungen des Maximilian Harden Es ist zugleich ausgesprochen delikat wie naheliegend, an Maximilian Har­ den im Kontext des Gedenkens an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor einhundert Jahren zu erinnern. Mit seinen großen Essays in der Zeitschrift Die Zukunft war er eine bedeutende Stimme im Diskurs über den Krieg. Als einer der einflussreichsten Autoren, Publizisten und Herausgeber des Deut­ schen Kaiserreichs ist er in die (Vor-)Geschichte des Krieges verstrickt, man kann in ihm einen jener »Schlafwandler« sehen, wie Christopher Clark in seiner viel diskutierten Studie jenen allzu sorglos chauvinistischen Teil der Eliten Europas am Vorabend des Ersten Weltkriegs bezeichnet hat.1 Harden war eine Schlüsselfigur der literarisch-publizistischen Netzwerke und so mit einer Reihe der in diesem Jahrbuch-Schwerpunkt vorgestellten Kultur­ schaffenden wie Karl Kraus, Theodor Lessing, Magnus Hirschfeld, Ernst Toller oder Kurt Hiller bekannt und teils problematisch verbunden. Anders als zum Beispiel der konsequente Kriegsgegner Kraus scheint Harden heute beinahe vergessen. So hellsichtig der Wandel seiner Einstellung von einem überschwänglichen Patrioten zu einem Vernunfts-Pazifisten und begeister­ ten Europäer heute erscheint, er wurde von den Zeitgenossen fast ausnahms­ los kritisch und ablehnend aufgenommen und fügte sich als Baustein in ein Mosaik antisemitischer Vorbehalte gegen Harden ein.

Vorkriegsjahre – Die Genese des Kritikers »In Germany«, so berichtete der amerikanische Autor, Journalist und Über­ setzer Herman Bernstein im Januar 1913 von einem Interview mit Harden vom Mai 1908, »the name of Harden has become a household word. Among the people at large the name of Harden is associated with fearlessness and courage and victory. The German barber, who is quite as talkative as his American colleague, while shaving me, noticed that I had with me a copy of Die Zukunft and he immediately went into raptures over Harden. […] I had pictured Harden as a strong, imposing, rather theatrical figure. Instead, he is small in stature, unassuming, and modest-looking. But when he speaks 1

Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe Went to War in 1914, London 2012. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 309–335.

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Andreas Stuhlmann

there is something in his face, in his eyes, that reminds one of the Napoleonic cast of features.«2

Harden gehörte zu den großen bürgerlichen Persönlichkeiten des Wilhelmi­ nischen Deutschlands. In seiner Biografie werden aber auch die Spannungen und Brüche sichtbar, die gerade für Bürger jüdischer Herkunft in dieser Zeit prägend sind.3 »1861 geboren; 1881 ein kleiner Mime ohne Glück und Hoffnung; 1890 ein Recensent in Wochenschriften, auf den die Kenner zu merken beginnen; 1891 der gehaßte Spötter von Berlin; 1892 der einzige Journalist der Deutschen im europäischen Stile; 1893 der Freund des großen Kanzlers und der Sieger im Prozesse um die ›Erziehung‹ des Monarchen. Eine ganz hübsche Karriere.«4

So fasste der österreichische Schriftsteller und Kritiker Hermann Bahr in einem Porträt Hardens 1893 seinen Eindruck von der Person, ihren Wand­ lungen und Entwicklungen zusammen. Maximilian Harden wurde am 20. Oktober 1861 unter dem Namen Felix Ernst Witkowski als jüngstes von sieben Kindern des aus Posen nach Berlin zugewanderten jüdischen Seidenhändlers Arnold Witkowski und seiner Frau Ernestine, geb. Krakau, geboren. Die Familie zerbrach, der junge Felix wuchs beim offenbar lieblosen Vater auf, mit dem er immer wieder in Kon­ flikt geriet. Nachdem er 1873 das Französische Gymnasium in Berlin hatte verlassen müssen, begann er 1875 eine Ausbildung zum Schauspieler, zog mit einer Wanderbühne durch Deutschland und wählte 1876 ein Pseudonym, zunächst als Bühnennamen. Für den Namenswechsel waren – wie bei sei­ nem älteren Bruder, dem späteren Politiker und Nationalbankdirektor Richard Witting – die familiären Spannungen, der Bruch mit dem Vater und dessen polnisch-jüdische Herkunft mitentscheidend. Wenigstens zum Teil 2 3

4

Herman Bernstein, With Master Minds. Interviews by Herman Bernstein, New York 1913, 171–185, hier 171. Eine umfassende, kritische Biografie Hardens, die den Standards der modernen wissen­ schaftlichen Biografik entspricht, existiert nicht. Die erste biografische Studie von Harry F. Young ist nicht mehr auf dem Stand der Forschung. Siehe ders., Maximilian Harden, Censor Germaniae. The Critic in Opposition from Bismarck to the Rise of Nazism, Den Haag 1959 (dt.: Maximilian Harden, censor Germaniae. Ein Publizist im Widerstreit von 1892–1927, Münster 1971). Die folgenden Zitate beziehen sich auf die deutsche Überset­ zung. Hermann Bahr, Der Antisemitismus. Ein internationales Interview, in: Maximilian Harden, Teil 7, in: Deutsche Zeitung 23 [Wien] (1893), # 7654, 1; wieder in ders., Der Antisemitis­ mus. Maximilian Harden im Interview, in: ders., Der Antisemitismus. Ein internationales Interview, Berlin 1894; als Neuaufl. in ders., Der Antisemitismus. Ein internationales Interview, in: Kritische Schriften, 23 Bde., hier Bd. 3, hg. von Claus Pias, Weimar 2005, 34–40. Siehe dazu Jörg Requate, Journalismus als Beruf. Entstehung und Entwicklung des Journalistenberufs im 19. Jahrhundert. Deutschland im internationalen Vergleich, Göttin­ gen 1995.

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spielten der Wunsch nach Asssimilation und das Stigma des jüdischen Namens5 wohl ebenso eine Rolle wie das Zusammenspiel von bürokrati­ schen Normen und Demütigungen sowie individuelle Scham. Warum er den Namen »Maximilian Harden« wählte – dazu gibt es zahlreiche Hypothesen. Sein Biograf Harry F. Young referiert die Theorie, nach der sich der Vor­ name »Maximilian« auf den Schauspieler Maximilian Ludwig beziehe.6 Diese vage Spekulation ließe sich dahingehend ausdeuten, dass Harden ver­ sucht haben könnte, sich ein Stück der Erfolgsbiografie eines anderen anzu­ eignen, andererseits aber bemüht gewesen sein mag, zumindest nicht durch seine Herkunft im Theatergeschäft aufzufallen. Eine andere Theorie besagt, er habe den Vornamen als Referenz an den von ihm bewunderten Robes­ pierre gewählt. Der preußisch-markant klingende Namen »Harden« hinge­ gen sei der Figur einer Komödie entlehnt, genauer, einer Paraderolle von Maximilian Ludwig. Schließlich könne das Pseudonym auch als Hinweis auf die Härte des Daseins als Deutscher jüdischer Herkunft und Schauspieler oder aber als eine Hommage an den preußischen Minister Karl August von Hardenberg und dessen Bedeutung für die Judenemanzipation gedeutet wer­ den.7 Der vermeintliche Bezug auf die beiden Aufklärer, den Revolutions­ richter Robespierre und den Reformer Hardenberg, scheint indes eine ana­ chronistische Fehldeutung zu sein, da sie nur für den späteren politischen Journalisten Harden, nicht aber für den Schauspieler glaubhaft ist.8 Am 10. September 1881 nahm er mit der protestantischen Taufe den Namen Maximilian auch offiziell an, 1887 erhielt er dann die behördliche Erlaubnis, den Namen Harden als Familiennamen zu führen. Ein Jahr später, um 1888, hatte Harden sich als Journalist bereits unter einer Reihe anderer Pseudonyme, etwa »Kent«, »Proteus«, »Kunz von der Rosen« – dem auch von Heinrich Heine benutzten Namen des Hofnarren Kaiser Maximilians I.9 – einen festen Platz in der Berliner Presselandschaft erarbeitet. Hier wird ein zentrales Element der Biografie Hardens wie auch seiner Rezeption erkennbar: eine Suchbewegung teils als Maskenspiel, teils 5 6 7 8

9

Siehe Dietz Bering, Der Name als Stigma. Antisemitismus im deutschen Alltag 1812– 1933, Stuttgart 1988. Siehe Young, Maximilian Harden, censor Germaniae, 14. Ebd. Die Quelle hierfür ist aber wohl Harden selbst. Siehe Dietrich Stürmer, Maximilian Har­ den! Der geheimnisvolle Gewaltige, Eine Studie. Leipzig 1920, 6. Stürmer zitiert Harden selbst und kommentiert: »›Jünglingsfreude an Hartem und Schätzung des preußischen Reformators [sic] Hardenberg bestimmten die Wahl.‹ – Harden ist Jude. Er bekennt sich zum evangelischen Glauben. Daß er Jude ist, muß notwendigerweise erwähnt werden.« Heinrich Heine, Englische Fragmente, in: ders., Sämtliche Schriften in zwölf Bänden, hg. von Klaus Briegleb, hier Bd. 3, München 1976, 604. Heine verlegt die Anekdote, in wel­ cher der verkleidete Kunz in die Zelle des gefangen genommenen Kaisers eindringt und diesem zur Flucht verhelfen will, von Flandern nach Tirol und in die Zeit Karls V.

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als »proteische« Verwandlung. Was von antisemitischer Polemik als »Mimikry«, als Tarnung und Täuschung verunglimpft wurde, hat Hannah Arendt mit Blick auf die kurze Geschichte des bürgerlichen Judentums in Deutschland und Europa als ein zögerliches, stark reflektiertes Changieren zwischen gesellschaftlichen Rollenmustern beschrieben.10 Jüdisches Leben bruchlos in einer bürgerlichen Biografie aufgehen zu lassen, erwies sich dabei in beinahe allen Berufszweigen als schwierig oder unmöglich. Als ein »Kunz von der Rosen« im Dezember 1893 die KladderadatschAffäre ins Rollen brachte, bei der das bekannte Satireblatt drei prominente Beamte des auswärtigen Dienstes attackierte, vermutete man Harden hinter den Angriffen. Friedrich von Holstein, der außenpolitische Berater des Reichskanzlers im Auswärtigen Amt, Alfred von Kiderlen-Wächter, Orientund Pressereferent des Auswärtigen Amtes, und der preußische Gesandte in München, Graf Philipp zu Eulenburg-Hertefeld, wurden durch Knittelverse, fiktive Dialoge und Miniaturen, in denen sie als »Austernfreund«, »Herr von Spätzle« und »Graf Troubadour« erscheinen, der Vorteilsnahme, Vettern­ wirtschaft und Verschwörung gegen Bismarck bezichtigt.11 Dabei war vor allem erstaunlich, welch intime Kenntnis der Autor über die Amtsführung wie die privaten Lebensumstände seiner Gegner besaß. In der Folge nutzte Harden dann aber immer häufiger das Pseudonym »Apostata« als Signatur politischer »Abtrünnigkeit«, oder, mit dem Terminus Hans Mayers, des »intentionellen Außenseiters«.12 »Er begann, ohne erst eine kritische Gelegenheit zu erwarten, die Ergebnisse der Woche zu glossieren, der Recensent wurde zum chroniqueur, und es kamen die berühmten Aufsätze des ›Apostata‹, welche den ›Kaiserhof‹ und bald die ganze Stadt begeisterten und empörten, wie kein deutscher Journalist zuvor begeistert und empört hat.«13

Als Parteigänger Bismarcks bezog Harden nach dessen Entlassung 1890 ein­ deutig Position für den Altkanzler und gegen den Kaiser, der sich gegenüber Bismarcks außen- wie innenpolitisch ausgeklügelten taktischen Allianzen und kalkulierten Provokationen demonstrativ distanziert verhielt. Harden veröffentlichte unter anderem in der von Paul Lindau redigierten Zeitschrift Die Gegenwart, in Die Nation und im Berliner Tageblatt und wurde Mitar­ beiter des Chefredakteurs Theodor Wolff. Daneben fanden auch seine origi­

10 Zum Begriff der Mimikry siehe Sander Gilman, Jüdischer Selbsthass. Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden, Frankfurt a. M. 1993. 11 Siehe Helmuth Rogge, Die Kladderadatschaffäre. Ein Beitrag zur inneren Geschichte des Wilhelminischen Reichs, in: Historische Zeitschrift 195 (1962), 90–130. 12 Hans Mayer, Außenseiter, Frankfurt a. M. 1981, 13–18. Mayer unterscheidet den »inten­ tionellen« Außenseiter vom »existentiellen« durch Geburt bzw. Herkunft. 13 Bahr, Der Antisemitismus, 34 (Neuaufl. 2005).

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nellen und provokanten Feuilletons, besonders seine Theaterkritiken, sehr rasch ein breites und interessiertes Publikum. Harden scheute sich dabei auch nicht, arrivierte und international erfolgreiche Autoren wie Gerhart Hauptmann oder Hermann Sudermann zu attackieren.14 1889 wurde er einer der Mitbegründer des Theatervereins Freie Bühne in Berlin und erreichte nach und nach die Stellung eines einflussreichen Beraters am Deutschen Theater in der Ära Max Reinhardts, besonders bei dessen großem Shakes­ peare-Zyklus 1913/14.

Die Zukunft 1892 schuf sich Harden eine eigene publizistische Plattform und gründete die Wochenschrift Die Zukunft. Zu dem Titel habe ihm, so gab Harden später an, Franz Mehring geraten, um sich programmatisch von etablierten Blättern wie Die Gegenwart abzusetzen.15 Das Blatt, das sich im Untertitel »Wochen­ schrift für Politik, öffentliches Leben, Kunst und Literatur, unabhängige Tribüne für jedermann« nannte, war überwiegend politisch ausgerichtet. Harden pflegte ein Netzwerk von guten Kontakten zu Politikern, Großin­ dustriellen und Bankiers, zu Wissenschaftlern, Künstlern, Literaten, Regis­ seuren und Schauspielern; darunter waren zu verschiedenen Zeiten unter anderem Otto von Bismarck, Theodor Herzl, Friedrich von Holstein, Hugo Stinnes und Albert Ballin, Ernst Haeckel, Fritz Mauthner und Werner Som­ bart. Nach und nach vermochte Harden auch das literarische Profil der Zukunft zu schärfen und druckte sowohl renommierte Schriftsteller wie Theodor Fontane und Fjodor Dostojewski, als auch umstrittene Autoren, etwa Friedrich Nietzsche oder Oscar Wilde. Auch einer ganzen Reihe jünge­ rer, aufstrebender Dichter wie Hugo von Hofmannsthal, Thomas und Hein­ rich Mann oder August Strindberg bot Die Zukunft ein Forum.16 So war Har­

14 Die Argumentation der Polemik wird deutlich aus Sudermanns Antwort, die sich aber auch gegen Hardens Kritiker-Kollegen Franz Mehring und Alfred Kerr richtete. Hermann Sudermann, Verrohung in der Theaterkritik. Zeitgemäße Betrachtungen, Berlin/Stuttgart 1902. Zu den Folgen siehe Karl Bleibtreu, Die Verrohung der Literatur. Ein Beitrag zur Haupt- und Sudermännerei, Berlin 1903; Maximilian Harden, Kampfgenosse Sudermann, Berlin 1903; Hans Delbrück, Herr Harden als Kritiker, in: Das Magazin für Litteratur 67 (1898), 295–298. 15 Franz Mehring, Herrn Hardens Fabeln. Eine nothgedrungene Abwehr, Berlin 1899, 24. 16 Siehe Hugo von Hofmannsthal – Maximilian Harden. Briefwechsel, hg. von Hans-Georg Schede, in: Ariane Martin (Hg.), Hofmannsthal-Jahrbuch 6 (1998), 7–115; Frank Wede­ kind, Thomas Mann, Heinrich Mann. Briefwechsel mit Maximilian Harden, hg., kom­ mentiert und mit einem einleitenden Essay von Ariane Martin, Darmstadt 1996.

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den einer der Ersten in Deutschland, die auf das Werk Henrik Ibsens auf­ merksam machten. Der erste Jahrgang der Zukunft erschien zunächst im Verlag Georg Stilke, von 1896 an bis zur Einstellung 1922 dann in Hardens eigenem Verlag der Zukunft jeden Freitag in einem Umfang von etwa 40 bis 50 Seiten. Die Startauflage von 6 000 Exemplaren war im stark umkämpften Zeitschriften­ markt des Kaiserreichs ausgesprochen ambitioniert, doch stieg der Absatz stetig weiter: Um 1900 wurden jede Woche 10 000 Exemplare verkauft, in den anderthalb Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg wuchs diese Zahl auf 21 000 bis 23 000 Exemplare.17 Dies übertraf die Durchschnittsauflagen ver­ gleichbarer Blätter um das Drei- bis Vierfache. Der Erfolg seiner Zeitschrift ermöglichte dem Herausgeber Harden größtmögliche ökonomische und publizistische Unabhängigkeit. Er inszenierte sich als Einzelgänger, pflegte eine bewusst gekünstelte, archaische Sprache und nahm die Pose eines ver­ kannten biblischen Propheten und Mahners ein:18 »Der Kreis ist geschlossen: Von der Kreuzzeitung bis zum Vorwärts […]. Die Regie­ rung lässt mich einsperren. Der Freiherr von Stumm bewirkt den Boykott der Zukunft auf den Bahnhöfen. Die Freisinnigen verabscheuen mich. Und die Sozialdemokraten erklären, kein Mensch habe sie je so niederträchtig angegriffen wie ich. So oft Du mei­ nen Namen liest, steht ein Schimpfwort daneben.«19

Harden erhob in seinen Glossen, munitioniert vom gestürzten Bismarck und wohl gelegentlich auch von Holstein, mit dem ihn nach dessen Rücktritt eine überraschende Allianz verband, ketzerisch immer wieder Einspruch gegen die Aktivitäten jener neuen »Kamarilla« um Wilhelm II. und den neuen Reichskanzler Leo Graf von Caprivi.20 In der Folge avancierte er zum schärf­ sten Kritiker der von ihm als Fehlentwicklungen wahrgenommenen Resul­

17 Zur detaillierten Entwicklung der Auflage siehe Hans Dieter Hellige, Rathenau und Har­ den in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreiches. Eine sozial-geschichtlich-biographi­ sche Studie zur Entstehung neokonservativer Positionen bei Unternehmern und Intellek­ tuellen, in: ders./Ernst Schulin (Hgg.), Walther Rathenau-Gesamtausgabe, 6 Bde., hier Bd. 6: Walther Rathenau – Maximilian Harden. Briefwechsel 1897–1920, München/Hei­ delberg 1983, 17–299. 18 Siehe Ernst Friedegg, Harlekin als Erzieher. Eine Studie über Maximilian Harden, Berlin 1906; Fedor Freund, Maximilian Harden: der Vaterlandsretter, Berlin/Leipzig 31907. 19 Maximilian Harden, Trianon, in: ders. (Hg.), Die Zukunft, Berlin (nachfolgend Z), 19. März 1903, 461. 20 Siehe Helmuth Rogge, Holstein und Harden. Politisch-publizistisches Zusammenspiel zweier Außenseiter des Wilhelminischen Reichs, München 1959. Der Begriff »Kama­ rilla« (span.: »Kämmerchen«), bezeichnete ursprünglich eine geheime Günstlingspartei am spanischen Hof im Gegensatz zum offiziellen »Kabinett«, er wurde nach 1848 u. a. bei Karl Marx auch auf Preußen übertragen. Siehe ders., Die preußische Regentschaft (1858), in: Marx-Engels-Werke, Berlin 1956–1989, hier Bd. 12, 609–612.

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tate komplexer Umbrüche und Krisen des Wilhelminischen Deutschlands.21 Seine Invektiven trugen ihm mehrere Verurteilungen wegen Majestätsbelei­ digung ein. Zweimal wurden ganze Auflagen der Zukunft konfisziert und Druckplatten zerstört. Zweimal musste Harden Haftstrafen verbüßen. Publi­ zistische Allianzen verabscheute er, seine Pressekritik war im Gegenteil gna­ denlos, vor allem gegenüber den freisinnigen Blättern unter jüdischer Lei­ tung, denen er »byzantinische Servilität« gegenüber dem Kaiser unterstellte. Jüdische Solidarität war ihm fremd: Zur Dreyfus-Affäre vermochte er nicht Stellung zu nehmen und sein Verhältnis zum Zionismus war lau. All dies trug Harden wiederholt den Vorwurf des Antisemitismus ein, den er wir­ kungsvoll in seine Kritiker-Persona integrierte, die niemals pro domo urteilte.22 Hermann Bahr griff diesen Vorwurf in einem Interview 1893 auf und Harden bediente sich prompt, in provozierender Absicht, derber Kli­ schees von der angeblich jüdischen Wurzel kapitalistischer Auswüchse und Krisen: »Weil ich gegen den Zwischenhändlergeist, gegen den Börsenpöbel, gegen den fauli­ gen Egoismus der Bourgeoisie bin! Kann ich dafür, daß man da gleich Antisemit heißt? Man schlägt auf das Kapital und – der Jude fühlt sich getroffen! […] Die Juden selber machen heute den Antisemitismus, indem sie thöricht genug sind, dem kapitalistischen Schwindel als Schild zu dienen, der alle Hiebe fängt.«23

Im Jahr 1906, 13 Jahre nach der Kladderadatsch-Affäre, nahm Harden nun in der Zukunft mit Holstein und Eulenburg zwei der damals attackierten erst­ mals direkt polemisch aufs Korn. Holstein, der sich mit seiner Politik, einen diplomatischen Keil zwischen Frankreich und England zu treiben, verkalku­ liert hatte, musste im April 1906 im Zuge der Marokko-Krise zurücktreten. Zwei Monate später, im Juni 1906, publizierte Harden in der Wiener Neuen Freien Presse ein polemisches Porträt Holsteins, in dem er diesen als intri­ ganten Machtpolitiker skizzierte und in Anspielung auf den Kapuziner Père Joseph, Richelieus Berater, mit dem Epitheton »graue Eminenz« versah.24 21 Siehe Rüdiger vom Bruch, Das wilhelminische Kaiserreich. Eine Zeit der Krise und des Umbruchs, in: Michel Grunewald/Uwe Puschner (Hgg.), Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900. Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im wilhelminischen Reich/Perceptions de la crise en Allemagne au début du XXe siècle. Les périodiques et la mutation de la société allemande à l'époque wilhelmienne. Bern 2010, 9–24. 22 Rogge, Maximilian Harden. Zu Hardens kontroverser Position zur Dreyfus-Affäre siehe Briefwechsel Bjørnstjerne Bjørnson und Maximilian Harden, hg. von Aldo Keel, Frank­ furt a. M. u. a. 1984. 23 Bahr, Der Antisemitismus, 40 (Neuaufl. 2005). 24 Siehe Maximilian Harden, »Holstein«, in: Neue Freie Presse, 3. Juni 1906, Nr. 15007, 4. In dieser fast bösartigen Abrechnung mit dem politischen Vorgehen wie der Persönlich­ keit Holsteins heißt es: »Drei Lustren lang hat er der internationalen Politik des Deutschen Reiches die Richtung gewiesen. Das ist (mit hitzigem Eifer besonders von den Herren, die für die Firma zeichneten) bestritten worden, ist aber wahr. Diplomaten, die lange in

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Holsteins Reaktion war in doppelter Hinsicht eine Sensation: Nicht nur durchbrach der Diplomat die ihm auferlegte Diskretion und gewährte in einem siebzehnseitigen offenen Brief vom August 1906 wohldosierte Ein­ blicke in das innere Getriebe der Außenpolitik sowie seiner Rolle darin und legte Rechenschaft über sein Verhältnis zu Bismarck ab; er insistierte auch auf der Veröffentlichung dieses Briefes ausgerechnet in der Zukunft.25 Har­ den kam diesem Wunsch nur allzu gern nach, denn der Brief brachte ihm nicht nur publizistische Aufmerksamkeit, sondern er bedeutete auch erhebli­ che politische Anerkennung. Die sogenannte Eulenburg-Affäre sollte seine Position als von den Medien, Parteien und einflussreichen Zirkeln Geächteter einerseits und als Volkstribun Bewunderter andererseits noch weiter festigen. Im Spätherbst 1906 begann Harden, in der Zukunft durch zunächst noch verschlüsselte Anspielungen auf die ›normwidrigen Sexualneigungen‹ von Männern im nächsten Umfeld des Kaisers hinzuweisen.26 Nachdem keine Reaktion des Hofes oder der Regierung erfolgt war, nannte Harden dann im April 1907 Namen und bezichtigte den Fürsten Eulenburg, der als »Graf Troubadour« bereits in der Kladderadatsch-Affäre attackiert worden war, und den zu sei­ ner »Tafelrunde« auf dem Stammschloss Liebenberg gehörenden Kuno Graf von Moltke der Homosexualität. Rhetorisch griff Harden dabei zeittypische homophobe Topoi auf und zeichnete ein Bild krankhafter Ehr- und Maßlo­ sigkeit und unweigerlicher Verletzung sittlicher Grenzen durch Homose­ xuelle.27 Hardens Motive, ausgerechnet den am Hofe einflussreichen Eulen­ burg und den Stadtkommandanten von Berlin als Zielscheiben seines

Berlin waren, trugen ihre Wünsche und Fragen der zuständigen Durchlaucht oder Exzel­ lenz vor, wußten aber, daß die Antwort von Holstein diktiert war.« In diesem Text bringt Harden sich 13 Jahre später zumindest als Mitwisser der Kladderadatsch-Affäre ins Spiel, indem er die von Holstein als Quellen Beschuldigten freispricht. 25 Friedrich von Holstein, Ein Brief [an Maximilian Harden, Berlin, 5. August 1906], in: Z, 18. August 1906, 229–235. 26 Siehe Maximilian Harden, Liebenberg, in: Z, 9. November 1906, 207; ders., Praeludium, in: Z, 27. November 1906, 265; ders., Dies Irae, in: ebd., 14. November 1906, 291. Zu Eulenburgs Biografie siehe Bernd-Ulrich Hergemöller, Mann für Mann. Biographisches Lexikon, Frankfurt a. M 2001, 210–215. 27 Diese Topoi bündeln u. a. Max Kaufmann, Heine und Platen. Für eine Revision ihrer lite­ rarischen Prozessakten siehe Zürcher Diskussionen 2 (1899), H. 16/17, 1–13. Zur Ver­ knüpfung von politischem und Sexualdiskurs siehe Susanne zur Nieden (Hg.), Homose­ xualität und Staatsräson. Männlichkeit, Homophobie und Politik in Deutschland 1900– 1945, Frankfurt a. M./New York 2005. Grundlegend zur historischen (Re-)Konstruktion von Homosexualität ist noch immer Martin Dannecker, Der Homosexuelle und die Homo­ sexualität. Mit einem Nachwort Aids und die Homosexuellen, Nachdruck der Erstauflage, Hamburg 1991; ebenso ders., Sigmund Freud über Inversion und Homosexualität, in: Rüdiger Lautmann (Hg.), Homosexualität. Handbuch der Theorie- und Forschungsge­ schichte, Frankfurt a. M./New York 1993, 159–167.

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publizistischen Angriffs zu wählen, bleiben für Kritik und Forschung trotz aller vordergründig plausiblen Erklärungen, etwa den Augiasstall des Hofes von moralisch dubiosen Personen reinigen zu wollen, bis heute letztlich ungeklärt.28 Eulenburg, der Ende der 1880er Jahre schnell innerhalb des Dip­ lomatischen Corps aufgestiegen war, musste – so zeigte Harden sich über­ zeugt – maßgeblich an der Entlassung Bismarcks beteiligt gewesen sein. Sein Einfluss auf den Kaiser stellte in Hardens deutlich von seinen Infor­ manten geprägter Wahrnehmung eine Bedrohung für den Kurs des Reiches dar, da jener zudem noch ein Anhänger spiritistischer und geisterseherischer Praktiken sei. So rückte der Fürst dann im Verlauf der 1890er Jahre sukzes­ sive ins Zentrum von Hardens »Apostata«-Kampagne. Dass zu den Infor­ manten ausgerechnet Reichskanzler Bernhard von Bülow gehörte, ist inso­ fern bemerkenswert, als dieser seinen Aufstieg und die Etablierung des die deutsche Politik zwischen 1897 und 1909 dominierenden »Systems Bülow« pikanterweise Eulenburg verdankte.29 Hardens Angriff auf Eulenburg reihte sich in eine Folge von Skandalen um Homosexualität im Militär ein. Allein zwischen 1903 und 1907 wurden insgesamt 20 Offiziere nach § 175 RStGB wegen homosexueller Aktivitäten angeklagt. Sechs Fälle, in denen sich angeblich homosexuelle Offiziere nach Erpressungsversuchen das Leben genommen hatten, waren allein 1906 und 1907 bekannt geworden.30 Mit sei­ nen Attacken auf Eulenburg machte Harden nicht nur eine der Galionsfigu­ ren der »Kamarilla« namhaft, sondern brachte unter dem Deckmantel mora­ lischer Entrüstung einflussreichste Kreise aus Militär, Diplomatie und Ministerialbürokratie ins Gerede und entfachte einen Skandal, der sich innenpolitisch so desaströs auswirkte, wie die Daily-Telegraph-Affäre außenpolitisch.31 Es folgte eine ganze Kette von Prozessen, ein langwieriges, juristisch komplexes und für alle Beteiligten zermürbendes Tauziehen. Selbst der Sturz Wilhelms II. schien zeitweise nicht ausgeschlossen, als im Zusammenhang mit den Spiritismusvorwürfen die schon länger kursieren­ den Gerüchte über die gelegentliche klinische Unzurechnungsfähigkeit des

28 Zeitgenössische Interpretationen liefern Johannes W. Harnisch [Franz Wedderkopp], Har­ den, Eulenburg und Moltke, Berlin 1908; Erich Mühsam, Die Jagd auf Harden, BerlinSchöneberg 1908. 29 Zum »Kanzler als Höfling« und dem »faulen System Bülow« zuletzt John C. G. Röhl, Wilhelm II., München 2013, 48–52. Unterstellt wurde lange eine Beteiligung Holsteins. Siehe Ludwig Herz, Holstein, Harden, Eulenburg, in: Preußische Jahrbücher 229 (1932), 246–256. 30 Siehe Peter Jungblut, Famose Kerle. Eulenburg, eine wilhelminische Affäre, Hamburg 2003. 31 Zur Anatomie des Skandals siehe Peter Winzen, Das Ende der Kaiserherrlichkeit. Die Skandalprozesse um die homosexuellen Berater Wilhelms II. 1907–1909, Köln/Weimar/ Wien 2010.

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Kaisers neue Nahrung erhielten.32 Die sich über drei Instanzen hinziehende Klage Moltkes gegen Harden endete mit einem außergerichtlichen Ver­ gleich, einer Entschädigung Hardens und wechselseitigen Ehrenerklärun­ gen. Die juristische wie publizistische und politische Schlammschlacht führte allerdings nicht zu einer Aufarbeitung der Vorwürfe.33 Dies bemängelte am heftigsten der wortgewaltige und vor allem litera­ risch wirkungsmächtige Kritiker Hardens in der Affäre, der 13 Jahre jüngere Karl Kraus, der sich bei der Gründung seiner eigenen Zeitschrift Die Fackel zunächst am Vorbild der Zukunft orientiert hatte. Doch schon 1904 kritisierte er Hardens zynische Haltung zum Freitod der Schauspielerin Jenny Groß und zu den Affären um Leontine von Hervay und Prinzessin Louise von Coburg scharf. Die Kampagne gegen Eulenburg veranlasste Kraus, in drei großen Essays, Maximilian Harden. Eine Erledigung, Ein Nachruf und Seine Antwort, die öffentliche Persona der kritischen Autorität als bloße Bühnenfigur zu enttarnen. Kraus demaskierte Harden als Kleingeist und Denunzianten, er bezichtigte ihn, sich als Tugendwächter zu inszenieren, und – mit einem Wort Hannah Arendts – als jüdischer »Parvenü« aufzutre­ ten. Schonungslos weist Kraus auf die Verstellung hin, darauf, dass sich hin­ ter dem »intentionellen Außenseiter« Apostata der »existentielle Außensei­ ter«, der Jude Witkowski verberge. Harden entlarve sich selbst als »erpresserische[n] Strichjunge[n] des Geistes«, der ein Spektakel inszeniere, bei dem »deutscher Pöbelsinn und jüdischer Geschäftsgeist« sich verewigt hätten.34 Gerade weil Harden kein abhängiger, bezahlter Lohnschreiber war, sei ihm, so Kraus, die unsittliche Verbindung von Philistertum und Profitgier voll zuzurechnen. Nicht nur in den genannten Essays, sondern über die fol­ genden zehn Jahre hinweg setzte Kraus seine Stilkritik als Personalkritik mit den »Übersetzungen aus Harden« unter dem Titel »Desperanto« fort. Er attackierte dabei vor allem den sprachlichen Bombast, die Verklausulierung der Tatsachen durch ein Geflecht von Versatzstücken aus Geschichte, ger­ manischer Mythologie und jüdischer Mystik, durch ein übercodiertes Dekor an Tropen – Metaphern, Metonymien, Periphrasen – und das zum Manieris­ mus geronnene Stilprinzip der Variation und Inversion, die alle letztlich nur die Dissoziation von Form und Inhalt zur Folge hätten. Kraus distanziert sich von der vermeintlichen Aufgabe der »politischen Schriftsteller«, »in den 32 Siehe Frederic William Wile, Rings um den Kaiser, Berlin 21913, 229–238; James Stea­ kley, Die Freunde des Kaisers. Die Eulenburg-Affäre im Spiegel zeitgenössischer Karika­ turen, Hamburg 2004, 103 f. und 171–180. 33 Siehe Karsten Hecht, Die Harden-Prozesse. Strafverfahren, Öffentlichkeit und Politik im Kaiserreich, Diss., Universität München 1997. 34 Karl Kraus, Maxmilian Harden. Eine Erledigung, in: ders. (Hg.), Die Fackel (nachfolgend F) 234–235 (1907), 2 (Nachdruck: Die Fackel 1 [1899] bis 922 [1936], in: ders. [Hg.], Die Fackel, 12 Bde., München/Frankfurt a. M. 1981).

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Schlafzimmern der Kamarilla Gerichtstag zu halten« oder zu untersuchen, ob »die Männer der Politik ihren Geschlechtstrieb auf Röcke oder auf Hosen eingestellt haben«.35 »Der Prozeß Harden-Moltke«, so Kraus weiter, »ist ein Sieg der Information über die Kultur.«36 Aber war es wirklich ein Sieg der Information? Wilhelm II. und Moltke hatten ihr Ziel einer öffentlichen Züchtigung Hardens nicht erreicht, aber auch ihr Gegner hatte sich gerichtlich nicht durchsetzen können. Die Persön­ lichkeit Eulenburgs aber war in ihrer öffentlichen Glaubwürdigkeit erschüt­ tert und der Regierung war der erhoffte politische Schaden zugefügt worden. Nicht nur hatte die ausländische Presse sich auf die Skandalgeschichte von der homosexuellen Verschwörung gestürzt – im Prozess gegen Eulenburg traten über 200 Zeugen aus Politik und Diplomatie des In- und Auslandes auf.37 Zudem wurde Magnus Hirschfeld als Sachverständiger angehört, der für die Abschaffung des § 175 kämpfte und hoffte, durch die Aufdeckung der gleichgeschlechtlichen sexuellen Orientierung prominenter Persönlichkeiten wie Eulenburg eine Akzeptanz für Homosexualität zu erreichen. Eine solche öffentliche Demontage aristokratischer Spitzenpolitiker war im Deutschen Kaiserreich beispiellos. Der Amerikaner Herman Bernstein beobachtete: »When, after his [Harden’s] second trial, a crowd of about 5,000 people waited for him at the Court House and carried him, amid cheers, on their shoulders, it was but an expression, in a small way, of the feeling of the masses, who everywhere applauded the man who dared to stir up the hornet’s nest, to expose the rottenness in the highest places, and who came out triumphant.«38

Harden aber war endgültig zum Volkstribun, zum Marquis Posa, geworden. Als Tribüne diente ihm dabei Die Zukunft, sie war seine Kanzel, seine Bühne. Diese war jedoch keine »moralische Anstalt«, Harden nicht der selbstlose Aufklärer im Dienste der Wahrheit. Er war auch nicht der Autor des gespielten Stücks, er schrieb für sich die Rolle des investigativen Journa­ listen, der die Maschinerie des politischen Massenmediums Presse einerseits kritisierte, andererseits sich ihrer bediente. Die Eulenburg-Affäre zeigt ihn als politischen Taktierer, der letztlich zum Werkzeug raffinierterer Akteure wie Bülow wird.39 Diese Situation wiederholte sich, als Harden 1908 dann im Zuge der Daily-Telegraph-Affäre die Abdankung des Kaisers und die 35 An dieser Stelle bringt Kraus die metonymisch verwendeten Bilder der verschiedenen Räume zusammen, die die hier in Konflikt stehenden Diskurse von Recht, Sexualität und Macht repräsentieren: das »Gerichtszimmer« in F 234–235 (1907), 26, das »Schlafzim­ mer« in ebd., 25, 27 und 36, sowie die »Kamarilla« in ebd., 33 und 36. 36 Ebd., 36. 37 Eine frühe präzise Analyse aus Frankreich bietet der Rückblick von Maurice Baumont, L’Affaire Eulenburg et les Origines de la guerre mondiale, Paris 1933. 38 Bernstein, With Master Minds, 171. 39 Siehe Winzen, Das Ende der Kaiserherrlichkeit, 125.

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verfassungsrechtliche Einschränkung der monarchischen Kompetenzen for­ derte.40 Für einen Juden war diese Rolle nicht ungefährlich, denn Harden, sein Anwalt Bernstein und Hirschfeld erlebten massive antisemitische Anfeindungen, nicht nur, wie zu erwarten gewesen war, im staatstragenden konservativen Milieu, etwa im Kladderadatsch oder in der Kreuzzeitung, sondern sogar darüber hinaus in weiten Teilen der liberalen Jugend.41 Im Rückblick auf dreißig Jahre Die Zukunft räumte Harden allerdings selbst ein, dass letztlich nicht der »Neue Kurs«, sondern nur dessen modera­ ter Flügel geschwächt worden war.42 Damit erhielt, ganz gegen die Intention Hardens wie auch Eulenburgs, das Militärkabinett mehr Gewicht, dessen Vertreter eine Außenpolitik der gezielten Destabilisierung der politischen Lage Europas beförderten und damit aktiv den Ersten Weltkrieg vorbereite­ ten.43

Harden und der Erste Weltkrieg Schon im April 1904 hatte Harden abweichend vom alten Kurs Bismarcks konstatiert, dass Deutschland »nicht saturiert« sei; er hatte »offene Riesen­ gebiete« gefordert, neue Agrarflächen und neue Absatzmärkte, weil »die Großindustrie sich in Treibhaushitze entwickelt, der standard of life der Nation weit über alte Gewohnheit erhöht worden ist« und weil sich das Reich sonst »verzwergen« und zu einem »zweiten Belgien« werden würde.44 Die zunehmende politische Brüskierung und Provokation Großbritanniens und die Flottenpolitik des Großadmirals Alfred von Tirpitz lehnte Harden aber entschieden ab. Schon im Interview mit Herman Bernstein hatte Harden 40 Siehe John C. G. Röhl, Wilhelm II. Der Aufbau der Persönlichen Monarchie 1888–1900, München 2001, 625–627. 41 Siehe Hauke Hirsinger, »Die geistige Zersetzung Deutschlands«? Vom Wandel des Anti­ semitismus im Gefolge des Eulenburg-Skandals zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Diss., Universität Bremen 2008, (11. März 2014). 42 Siehe Maximilian Harden, Nach 30 Jahren, in: Z, 30. September 1922, 258; John C. G. Röhl (Hg.), Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz, 3 Bde., Boppard am Rhein, 1976–1983; Henning Holsten, Von der »Bismarck-Krisis« zur »Kaiserkrisis«. Maximilian Harden und die »Zukunft«, in: Grunewald/Puschner (Hgg.), Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900, 331–356. 43 Siehe dazu die Aufzeichnungen Holsteins aus dieser Zeit, der vielfach als Informant Har­ dens gegen Eulenburg gesehen wurde. Heinrich Otto Meisner, Gespräche und Briefe Holsteins 1907–1909, in: Preußische Jahrbücher 228 (1932), 1–13 und 111–121; 229 (1932), 165–174 und 229–246; Reiner Marcowitz, Vom Bismarckismus zum Wilhelmi­ nismus. Krise und Umbruch in der deutschen Außenpolitik, in: Grunewald/Puschner (Hgg.), Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900, 53–71. 44 Maximilian Harden, Der neue Trust, in: Z, 23. April 1904, 136.

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sich einerseits für einen Ausgleich mit England ausgesprochen, aber Miss­ trauen erkennen lassen, ob das britische Empire aufgrund seiner Bündnispo­ litik überhaupt Spielraum dazu habe: »England is opposed to such a union because of her antipathy for Germany. Therefore it is probable that England will form a close friendship with the Slavs and the Japanese. England, America, and Germany, these three great industrial nations will find the possi­ bility for natural and pacific development. But I fear that it will be impossible to avoid a war. The situation will not be straightened out without a war. It must come to it, because the Englishmen are not yet accustomed, they have not yet learned from history to divide power; they are determined at any cost to hold by force and violence that which they regard as theirs.«45

Obwohl eine Verständigung mit England ihm als notwendig erschien, argu­ mentiert Harden hier mit Versatzstücken einer kruden Nationalpsychologie und chauvinistischen Untertönen, wie Clark sie in allen Lagern ausgemacht hat.46 Wenn Harden davon spricht, dass er »befürchte«, der Krieg sei »unver­ meidlich«, da die Situation sich sonst nicht »ins Lot bringen« lasse, ist dies eine Aggressionsrhetorik, die nur durch den Gemeinplatz untermauert wer­ den kann, dass die Engländer nicht »aus der Geschichte gelernt« hätten, deutsche Interessen zu respektieren. Harden lieh dann auch zunehmend denen seine publizistische Stimme, die angesichts der sogenannten »Ein­ kreisung« einem Präventivkrieg das Wort redeten, um den sich um Deutsch­ land schließenden Ring zu durchbrechen. »Unsere Verhandlungsfähigkeit reicht nur just so weit noch wie die Treffkraft unserer Kanonen«,47 schrieb er, abermals ein verzerrtes Echo bismarckscher Forderungen, 1909 zum Ende der Ära Bülow im Schatten der Daily-Telegraph-Affäre.48 Anders als der »Eiserne Kanzler« unterlag Harden aber, genauso wie breite Kreise der deutschen Politik jener Jahre, einer gefährlichen Überschätzung der deut­ schen Möglichkeiten und der Unterschätzung der gegnerischen Potenziale. Die Forschung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Harden zunächst die krisenhafte Zuspitzung der Ereignisse im Juni und Juli 1914 nach der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand und seiner Frau in der bosnischen Hauptstadt Sarajevo durch einen serbischen Frei­ schärler trotz aller chauvinistischen Untertöne publizistisch nicht befeuerte und auch nicht in den Chor der »Serbienhetze« einstimmte.49 Dass er dann aber, anders als zum Beispiel sein Freund Walther Rathenau, den Kriegsbe­ 45 46 47 48

Bernstein, With Master Minds, 182. Siehe Clark, The Sleepwalkers, 87–94. Maximilian Harden, Der Dreibund, in: Z, 30. Oktober 1909, 146. Zur britischen Perspektive siehe George Peabody Gooch/Lillian M. Penson/Harold Wil­ liam Temperley (Hgg.), British Documents on the Origins of the War 1898–1914, 11 Bde., hier Bd. 7: The Agadir Crisis, London 1932, 443, 467 und passim. 49 Björn Uwe Weller, Maximilian Harden und die »Zukunft«, Bremen 1970, 221.

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ginn so euphorisch begrüßte, ist dennoch überraschend50 – auch, dass er in seiner Zeitschrift Kriegspropaganda betrieb, die in ihrem martialischen Ras­ sismus und Chauvinismus über den im Besitz- und Bildungsbürgertum ver­ breiteten Militarismus und Patriotismus hinausging.51 Dies sei exemplarisch anhand einer Nummer der Zukunft belegt, der Num­ mer vom 8. August 1914, die als erste komplett im Zeichen des Krieges stand. »Wir müssen siegen«, forderte Harden im viel zitierten Leitartikel dieser Ausgabe. »Nicht Deutschlands Recht, Deutschlands Macht ist jetzt zu erweisen. Wir müssen siegen, sonst stirbt mit der Macht auch das Recht.«52 Das unterstellte Versagen der Diplomatie und des noch völlig unterentwi­ ckelten Völkerrechts lasse, so Hardens gefährlicher Schluss, nur noch das darwinistische Recht des Stärkeren zu, das, so eine weitere gefährliche Hypo­ these, aufseiten des Deutschen Reiches sei. Gefährlich sind diese Argumente deshalb, weil sie eine komplexe politische Lage auf simple Entscheidungs­ dyaden reduzieren. In ihrer schlichten Holzschnittartigkeit lassen sie sich leicht als ideologisch motivierte Kriegstreiberei entlarven. Harden gibt vor, wie ein Reporter die Stimmung im Volk auf den Straßen zu dokumentieren. Als ihm ein Straßenbahnschaffner versichert, »›Wir wer­ den schon fertig mit die Kosaken!‹«, sieht Harden in diesem Mann, der ihm »im Innersten so königlich wie Preußens einzig großer König« erscheint,53 den Kriegsgeist personifiziert: »So sind Millionen. Deutsch: an Ordnung, Unterordnung gewöhnt, vor keiner Notwen­ digkeit zag und ihrer Sache, groß oder klein, durch ernste Arbeit mächtig. Nun ist Krie­ gergeist in ihnen erwacht. Der Geist des modernen Krieges, der nicht nur tödlicher, der auch aller Leben gebärenden Kräfte kräftiger Auszug ist. Aus solchem Heer wirkt eines Gottes Gewalt. Eitle Schwätzer hole der Teufel! Wir müssen siegen!«54

Preußische Tugenden, Ordnung, Unterordnung, Orientierung auf das Not­ wendige und Ernst definieren hier ein eindimensionales »Deutschtum«; sim­ ple Dualismen von Leben und Tod, Gott und Teufel, der Krieg als Quintes­ senz des Lebens, »der Geist des modernen Krieges, der […] aller Leben gebärenden Kräfte kräftiger Auszug ist« – das sind pathetisch-hohle Phrasen der Sinnstiftung. Auch die anderen Texte des Heftes und ihre Autoren, bis zu den Wirtschaftsnachrichten, trommeln für die Kriegsbegeisterung. Von der darauffolgenden Nummer an ersetzten Kriegslieder und Kriegs­ gedichte das sonst so dezidiert moderne und fortschrittliche literarische 50 Siehe Martin Sabrow, Walther Rathenau und Maximilian Harden. Facetten einer intellek­ tuellen Freund-Feindschaft, Leipzig 2000. 51 Siehe Hellige, Rathenau und Harden in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs, 697. 52 Maximilian Harden, Wir müssen siegen!, in: Z, 8. August 1914, 171. 53 Ebd., 172. 54 Ebd.

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Feuilleton der Zukunft: Harden griff zurück auf die antifranzösische, preu­ ßisch-germanisierende Propaganda seit den Befreiungskriegen, druckte statt Heinrich Mann und Selma Lagerlöf nun Gedichte, Lieder und Prosaskizzen von Ernst Moritz Arndt und Heinrich von Kleist, Ludwig Uhland, Gottfried August Bürger, Moritz von Strachwitz und Felix Dahn. Seinen eigenen Lob­ preis des taktischen Genies Helmuth von Moltkes55 flankierte Harden durch Gedichte von Goethe auf Blücher und von Fontane auf Seydlitz,56 die den modernen Feldherrn in eine eindeutige Tradition einreihen. Damit stellte er in Kriegszeiten das Wachhalten einer als gesamtdeutsch deklarierten milita­ ristischen Literaturtradition über jede differenzierte Analyse der Gesell­ schaft, wie Literatur sie in besonderer Weise leistet. Die Zukunft verließ auf diese Weise ihre Außenseiterposition und suchte den patriotischen Schulter­ schluss, gleich den vielen jüdischen Kriegsfreiwilligen, die für ihr deutsches Vaterland in den Krieg einrückten. Das eigentliche Geschäft der Literatur, ein differenziertes, vielschichtiges und facettenreiches Bild des menschli­ chen Lebens zu zeichnen, wird hier zugunsten chauvinistischer Propaganda aufgegeben. Nicht mehr die komplexen Figuren der literarischen Moderne wie auch deren Sinnsuche und Kampf um Individualität und Selbstbestim­ mung stehen im Vordergrund; stattdessen repräsentieren der Soldat und der Feldherr eine nationale Tradition der Abwehr äußerer Bedrohung. In dieses Muster spannte Harden auch seinen langjährigen Briefpartner Theodor Fontane ein.57 Fontane war noch ein Autor der Zeitgeschichte und Harden hatte mit der Zukunft zuvor aktiven Anteil an der gerade beginnen­ den Debatte um seine Durchsetzung als künftiger Klassiker der Literaturge­ schichte.58 Gerade Fontane hatte, wie Thomas Mann in seinem großen Fon­ tane-Essay für Die Zukunft betont hatte, sein Preußen stets auch ironischskeptisch porträtiert und sich Bismarck gegenüber durchaus kritisch geäußert. Im Alter hatte er sich zudem, wie Mann anhand der von ihm besprochenen Briefauswahlbände erstaunt feststellte, klar vom preußischen Militarismus distanziert.59 Jetzt aber wählte Harden nur noch solche Texte 55 Siehe ders., Einer gegen Vier, in: Z, 15. August 1914, 205. 56 Siehe ders., Deutscher Sang, in: Z, 5. September 1914, 325. 57 Fontane und Harden korrespondierten zumindest zwischen 1888 und 1898 miteinander, wie sich aus den 36 Briefen des Dichters in Hardens Nachlass entnehmen lässt. Siehe Nachlass Maximilian Harden. Findbücher zu Beständen des Bundesarchivs Bd. 4, bearb. von Wolfgang Mommsen unter Mitwirkung von Gertrud Winter, hg. vom Bundesarchiv, Koblenz 21985 (Nachlass Harden N 1062/Nr. 38); siehe Hans Pflug, Aus Briefen Fonta­ nes an Maximilian Harden, in: Merkur 10 (1956), H. 11, 1091–1098. 58 Siehe etwa Hardens Nachruf auf Fontane: ders., Fontane, in: Z, 1. Oktober 1898, 1–6, sowie die zahlreichen Auszüge aus Fontanes Texten und die expliziten Buchempfehlun­ gen zu Irrungen, Wirrungen, Frau Jenny Treibel und Effi Briest in der Zukunft. 59 Siehe Thomas Mann, Der alte Fontane, in: Z, 1. Oktober 1910, 20–24. Zum Einfluss Har­ dens auf Manns Publizistik, vor allem seine Betrachtungen eines Unpolitischen, siehe

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des Autors zum Wiederabdruck aus, die diesen Militarismus nostalgisch ver­ klärten. Der Name Fontane schlägt im Kriegsfeuilleton der Zukunft eine Brücke zu seltener vertretenen Gegenwartsautoren, etwa Ernst Lissauer, des­ sen Schlachtgebet des alten Dessauers60 aus dem Gedichtband Der Strom Harden abdruckt. Lissauer, 1882 als Spross eines alteingesessenen Berliner Handelshauses geboren und damit aus demselben Milieu wie Harden kom­ mend, wurde als der »deutscheste aller jüdischen Dichter« apostrophiert.61 Er hatte schon früh seine Begeisterung für die preußische Geschichte ent­ deckt und 1913 einen von Romantik und Pathos triefenden Zyklus zur Hun­ dertjahrfeier der Befreiungskriege vorgelegt, der ihn berühmt machte.62 Mit Kriegsbeginn verstärkte sich das Lob für diesen Band ins Überschwängli­ che, wenn etwa Oskar Walzel den Autor als einen Preußen feierte und wür­ digte, dass in seinen Texten »endlich wieder die schwer vermißte Andacht vor Heldenmut« herrsche und er an das »Lebensgefühl, das dieser Krieg benötigt« erinnere.63 Lissauers chauvinistischer Schlachtruf »Gott strafe England!« aus dem Haßgesang gegen England wurde zu einem der zentra­ len Slogans der Kriegsbegeisterung.64 Während sich der Text bis etwa 1916 ohne Lissauers Zutun, zum Teil auch ohne Nennung seines Namens, über den Schulunterricht, Zeitungen, sogar auf Geschäftsprospekten verbreitete, wurden diese Zeilen offiziell von der deutschen Kriegspropaganda verwen­ det. Lissauer erhielt daraufhin den Roten Adlerorden. Als Wilhelm II. am 27. Januar 1915 einer Reihe deutscher Dichter diesen Orden für ihre Kriegsdichtkunst verlieh, waren mit Richard Dehmel, Rudolf Alexander Schröder und eben Ernst Lissauer auch drei Autoren dabei, die Harden regelmäßig mit ihren Kriegsgedichten in der Zukunft platzierte. Angesichts der ersten militärischen Erfolge nach dem Einfall des deut­ schen Heeres ins neutrale Belgien und dem nur wenige Wochen dauernden

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Frank Wedekind, Thomas Mann, Heinrich Mann, 222, Anm. 1; sowie Ariane Martin, Der europäische Publizist. Thomas Manns unbekannter Kriegs-Essay über Maximilian Har­ den. Unbekannte Quellen zu den Betrachtungen eines Unpolitischen, in: Heinrich-MannJahrbuch 14 (1996), 185–209. E[rnst]. Lissauer, Sang, in: Z, 29. August 1914, 295. Walter A. Berendsohn, Die humanistische Front. Einführung in die deutsche EmigrantenLiteratur, 2 Teile, hier Teil 1: Von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939, Zürich 1946, 54 f. Ernst Lissauer, 1813. Ein Cyklus, Jena 1913. Oskar Walzel, Kriegslyrik, in: Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik 9 (1915), Sp. 1521–1524. Als einer von wenigen prangerte Kurt Hiller das Pathos des »wuchtvollen Eintretens für antisemitische Symbola, für Acker und Eisernes Kreuz« an. Siehe ders., Die Weisheit der Langeweile. Eine Zeit- und Streitschrift 1 (1913), 107. Ernst Lissauer, Haßgesang gegen England, in: ders., Der brennende Tag. Ausgewählte Gedichte, Berlin 1916, 40. In Großbritannien wurde eine Übersetzung des Central Com­ mittee for National Patriotic Organisations zu Propagandazwecken verbreitet: ders., The German Hymn of Hate, in: The Times, 29. Oktober 1914.

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Vorstoß deutscher Truppen bis kurz vor Paris, schürte Harden wie viele an­ dere die kurzsichtigen Hoffnungen auf ein schnelles Erreichen der Kriegs­ ziele, auf jene »Saturierung« der deutschen Interessen. Hier liegt ein weite­ rer Widerspruch, denn obwohl er den Überfall auf Belgien mit dem Hinweis verurteilt hatte, dieser bedeute eine weitere Provokation Englands, sah er seine alten Annexionsforderungen nun erfüllt: »Wir führen den Krieg nicht, um Länder zu strafen […]. Wir führen den Krieg vom Fels der Überzeugung aus, daß Deutschland nach seinen Leistungen breiteren Erdraum und weitere Wirkensmöglichkeit fordern darf und erlangen muss. […] Von Calais, Flandern, Brabant, Limburg, bis hinter die Maasfestungslinie alles preußisch […]. Wir brauchen Industrieland, Wege ins Weltmeer, eine unzerstückte Kolonie, die Gewissheit des Rohstoffbezuges und den ergiebigsten Wohlstandsborn: zu Arbeit tüchtige Men­ schen.«65

Auffällig ist die metonymische Setzung von »preußisch« für »deutsch« an dieser Stelle, die Betonung der militärischen Dominanz Preußens in Deutsch­ lands. Hier lassen sich aber auch die Stimmen hinter den Kulissen wirksamer wirtschaftlicher Interessen, von Industriekapitänen wie Stinnes und Ballin vernehmen, oder auch die Rathenaus, der im preußischen Kriegsministerium die Kriegsrohstoffabteilung leitete. Das zunehmend brutale, entmenschlichte Gesicht dieses Krieges reflek­ tiert ein Text wie Wir Barbaren vom Oktober 1914, der zunächst auf die antideutsche Propaganda in den Entente-Staaten reagierte, aber auch den Kriegseintritt Japans am 23. August 1914 aufseiten der Alliierten themati­ sierte. Die Entente-Staaten seien mit »gelben Stinkaffen«, russischen »Hor­ den« und andern »minderwertigen Rassen« verbündet und priesen einander »als die Träger und Hüter der feinsten Menschheitskultur und schimpfen uns Barbaren. Wir wären Laffen, wenn wir widersprächen. Barbaren hießen dem todkranken Rom die Germanen, die ihm das Grab schaufelten. Eure Kultur Gevattern, duftet nicht lieblich. Gewöhnet Euch rasch an die Erkenntnis, dass auf deutscher Erde Barbaren und Krieger leben.«66

Gerade dieser Text macht deutlich, dass Harden auch im Krieg aus vielfälti­ gen Vorlagen, Informationen und Stimmungen plakative Rollenprosa gene­ rierte. So sehr er diesen Habitus auch kultivierte, Die Zukunft war nicht das Sprachrohr eines einzelnen kritischen Intellektuellen, sie artikulierte viel­ mehr Tendenzen eines bestimmten gesellschaftlichen Milieus und stellte dessen Meinungen aus. Harden schrieb sich nun sogar ungebrochen in ein nationales »Wir« ein.

65 Maximilian Harden, Calais, in: Z, 17. Oktober 1914, 92. 66 Ders., Wir sind Barbaren, in: Z, 20. August 1914, 291.

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Schon bald jedoch kam der deutsche Vormarsch zum Stillstand und das französische Heer hatte sich gesammelt und man verschanzte sich auf beiden Seiten in Schützengräben. »Weder Rausch noch Furcht« gab Harden nun als neue Losung aus, ohne in der ästhetisch-moralischen Aufrüstung etwa durch die Kriegslieder nachzulassen. Die Marneschlacht vom 5. bis zum 10. Sep­ tember 1914 brachte dann sogar einen Umschwung im Kriegsverlauf und erste Durchhalteparolen wurden an die Front geschickt: Unter der Über­ schrift Werdet nicht müde! heißt es: »Jeder Deutsche fühlt, daß auf Euch die härteste Pflicht lastet. Jeder ist dankbar für die Erfüllung. Dämmet, Offi­ ziere, Soldaten, Matrosen, das heiß strömende Blut! Auch Ihr opfert der deutschen Gottheit. Lebend seid Ihr die Sorge Englands. Die darf erst mit ihm sterben.«67 Und schon vier Wochen zuvor hatte Harden ein heroisches Bild gezeichnet: »Das deutsche Heer, jeder ein frommer Held oder wilder Berserker«, schlage sich wie »eine Erdgeisterschar« und sei bereit, »in nas­ sen Kleidern, wenn Noth dazu zwänge, verschimmeltes Brot zu essen.«68 Diese Leidensbereitschaft sollte tatsächlich bald auf die Probe gestellt wer­ den. Die entstandenen Frontlinien, die sich in den folgenden Jahren nur unbedeutend verschoben, wurden zum Schauplatz jenes Stellungskriegs, der in eine »Materialschlacht« bisher ungeahnten Ausmaßes mündete, die letzt­ lich die Seite für sich entscheiden würde, die über die größeren Reserven an Menschen und Maschinen verfügte.

Wandlung zum Kriegsgegner »Das Ziel weise, in Ost und West, zu Land und See der Staatsmann. Das Heer ist des Reiches Wall, nun schlug des Politikers Stunde. Er muss Europa retten. Denn mit dem Erdtheil sänke unsere Heimath in Nacht.«69 Dieses emphatische Plädoyer für das Primat der Politik über das Militär am Ende von Weder Rausch noch Furcht überrascht, ist der Krieg doch plötzlich nicht mehr, wie noch zwei Wochen zuvor, der Vater aller Dinge. Die Rhetorik des Angriffskriegs ist zurückgenommen, dem Militär wird die Rolle des defensi­ ven »Walls« des Reiches zugeteilt, es dient seinem Schutz, nicht der Expan­ sion. Doch es wird noch knapp zwei Jahre dauern, bis Harden Clausewitz zugunsten von Wilson verabschieden sollte. In Leitartikeln wie Nach hun­ dert Tagen, der am 14. November 1914 in der Zukunft erschien, bilanzierte Harden deutlich ernüchtert, dass die Kriegsziele sich nicht kurzfristig errei­ 67 Ders., Werdet nicht müde!, in: Z, 19. September 1914, 374. 68 Ders., Weder Rausch noch Furcht, in: Z, 22. August 1914, 242 f. 69 Ebd., 261.

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chen ließen, aber noch sah er einen »Siegfrieden« als einzige Option für den Kriegsausgang an. Er nahm, zum Missfallen der Heeresleitung, eine frühere Praxis der Zukunft wieder auf und konfrontierte in diesem Text die Berliner Kommuniqués zum Kriegsverlauf mit Zitaten aus der ausländischen, hier der französischen, später vor allem der amerikanischen Presse. Damit durch­ brach er gezielt die Zensurbestimmungen.70 Nicht dass er den zitierten Medien wie Le Journal oder Le Figaro eine höhere Objektivität zusprach, wenn sie berichteten, dass selbst der Kaiser zugeben müsse, dass seine bei­ den Heere geschlagen seien, oder dass die Deutschen den Höhepunkt ihrer militärischen Leistungsfähigkeit überschritten hätten. Aber allein die Frage aufzuwerfen, ob in der offensichtlichen Diskrepanz zwischen diesen Berich­ ten und den offiziellen Verlautbarungen der deutschen Seite ein Funken Wahrheit aufscheinen könnte, provozierte.71 Zu den Zulieferern von Informationen und Berichten an Harden gehörten unter anderem der britische Diplomat James Watson Gerard und der Reeder und Direktor der HAPAG, Albert Ballin. Er versorgte Harden beispielsweise mit Übersetzungen aus russischen Zeitungen und Informationen von Ver­ trauensmännern.72 Im März 1915 berichtete der Schauspieler Alexander Moissi, der an der Ostfront kämpfte, Harden, dass es angesichts des siegrei­ chen Vorrückens der russischen Armee eine erstaunliche Differenz zwischen dem Verlauf des Kriegsgeschehens und dem zur Schau gestellten Optimis­ mus des Offizierkorps im österreichischen Heer gebe, während sich unter den Mannschaften Unruhe breitmachte. Die Forschung datiert den Um­ schwung in Hardens Haltung zum Krieg auf Herbst 1915, als die Militärzen­ sur das Heft vom 20. November 1915 verbot, weil Harden die Überschrift zum Leitartikel Sehnsucht nach Frieden? zwar noch mit einem Fragezeichen versehen hatte, im Text aber unverhohlen vom »unstillbaren Friedenswillen der Völker« die Rede war.73 Harden registrierte, dass die Front der kollekti­ ven Kriegsbegeisterung bröckelte. Nun war die Stimme des Mahners wieder da, zunächst noch verhalten, doch schwoll sie im Laufe der Entwicklungen 70 Ähnlich arbeitete auch die von Wilhelm Herzog herausgegebene pazifistische Zeitschrift Forum (1914–1915 und 1918–1929). Siehe Herzogs Brief an Harden vom 6. Oktober 1915, in dem er sich über die Militärzensur beschwerte: »Als Hauptargument gilt augen­ blicklich Citierung der deutschfeindlichen Presse. Aber, wir sind für den Irrsinn, den die unsrige verzapft, nicht verantwortlich; sollen wir’s für die französische sein?«. Zit. nach einem Katalog mit Briefen an Harden des Tutzinger Antiquariats Eberhard Köstler vom Juli 2013, (11. März 2014). 71 Siehe Maximilian Harden, Nach hundert Tagen, in: Z, 14. November 1914, 206. 72 Siehe Briefkarte von Albert Ballin in Hamburg an Harden in Berlin vom 25. März 1915. Nach dem Katalog mit Briefen an Harden des Antiquariats Köstler vom Juli 2013, (11. März 2014). 73 Maximilian Harden, Sehnsucht nach Frieden?, in: Z, 20. November 1915, 221. Siehe Wel­ ler, Maximilian Harden und die »Zukunft«, 233 f.

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immer weiter an. Unter den Deutschen Versen dieser Ausgabe finden sich folgende Zeilen aus Goethes nachgelassenen Texten zum West-Östlichen Diwan: »Wer sich selbst und andere kennt, Wird auch hier erkennen: Orient und Okzident Sind nicht mehr zu trennen.«74

Harden forderte mit diesem Zitat statt der chauvinistischen Betonung deut­ scher Singularität und Überlegenheit den Ausgleich durch Anerkennung von Differenz und Dialog. Damit rückte er nahe an Positionen heran, wie sie etwa der pazifistische Bund Neues Vaterland um Kurt von Tepper-Laski und Georg Graf von Arco vertrat, auch wenn er, wie häufig in seiner Haltung nicht vollkommen konsequent, Gewalt als Mittel politischer Konfliktlösung nicht völlig ausschloss. Am 22. April 1916 forderte Die Zukunft: »Laßt endlich wieder Vernunft zu Wort kommen«.75 Als Stimme der Vernunft würdigte Harden wiederholt den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson, dessen außenpolitische Positionen er in der Zukunft in Texten wie Wenn ich Wilson wäre und Der wahre Wilson von 1916 und Nach vier Jahren von 1918 prominent refe­ riert.76 Harden rezipierte intensiv die amerikanische Presse, die wiederum ihn besonders stark rezipierte. Sein wichtigster Informant und Gesprächs­ partner dabei war der Botschafter in Washington, Johann Heinrich von Berns­ torff, der aktiv versuchte, den Kriegseintritt Amerikas zu verhindern, und deshalb auf Betreiben der Obersten Heeresleitung – die solche Eigenständig­ keit nicht schätzte – 1917 nach Konstantinopel versetzt wurde.77 So wandelte Harden sich sukzessive zum Protagonisten eines Verständi­ gungsfriedens und Advokaten einer demokratischen Neuordnung Deutsch­ lands innerhalb eines geeinten Europas und verstand sich schließlich als Ver­ fechter einer friedensorientierten Weltordnung. »Wir wollen nicht Frieden,

74 [Johann Wolfgang von] Goethe, Deutsche Verse, in: Z, 20. November 1915, 273. Siehe Johann Wolfgang von Goethe, West-östlicher Diwan. Aus dem Nachlass, in: Goethes Werke, hg. von Erich Trunz, Hamburger Ausgabe in 14 Bdn., hier Bd. 2, Gedichte und Epen II, Hamburg 1958, 121. 75 Maximilian Harden, Wenn ich Wilson wäre, in: Z, 22. April 1916, 55. 76 Ders., Der wahre Wilson, in: ebd., 6. Mai 1916, 121; ders., Nach vier Jahren, in: ebd., 26. Juli 1918, 1. 77 Erstaunlich erscheint in diesem Kontext ein Brief an Harden vom 3. Dezember 1917 auf einem offiziellen Kopfbogen der Botschaft, in dem Bernstorff seine Freude über die Auf­ hebung des Verbots der Zukunft kundtut und gleichzeitig beinah ironisch mitteilt, er werde sich in diesem Brief politischer Stellungnahmen enthalten, da er davon ausgehe, dass die Botschaftskorrespondenz überwacht werde. Nach dem Katalog mit Briefen an Harden des Antiquariats Köstler vom Juli 2013, (11. März 2014).

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der Waffenstillstand ist, sondern Waffenstillstand, aus dem fester edler Friede und Europas Ostern wird. Wollen ihn heute, weil er heute möglich und darum notwendig ist.«78 Das gemeinsame Ziel müsse »Lüftung, Säuberung, Entseuchung, priesterlose, dogmenlose Heiligung des Erdteils sein; die Wandlung sumpfigen, muffigen, von Haß umwölkten, von Neid umzüngelten Bodens in die helle Wohnstatt freier, aus eigenem Recht schaffender, drum fremdes Recht achtender Menschen, die weil sie stark und auf Vernunft stolz sind, den Willen zu friedlicher Auslese der Tauglichsten, Einzelnen und Völker, bekennen dürfen.«79

Hier tritt der Paradigmenwechsel offen zutage: Die Opportunität der Errei­ chung von Kriegszielen durch Machtpolitik wird der Legitimität der Ver­ nunft untergeordnet, das Verhältnis von Macht und Recht neu bewertet. Allerdings glaubte Harden, der jahrzehntelang die realpolitischen Ränke­ spiele egoistischer Machtpolitiker analysiert hat, kaum daran, den komple­ xesten internationalen Konflikt der Moderne mit dem Idealismus der Auf­ klärung, mit einem Appell an Mäßigung und Zurückhaltung, beenden zu können – aber zumindest ein neuer Interessenausgleich und eine territoriale Neuordnung in Europa schienen ihm im Bereich des Möglichen zu liegen. Auf Initiative Ballins intervenierte Harden 1917 bei der Reichsregierung, um einen Separatfrieden mit Russland herbeizuführen. Wegen dieses Kurses wurde Die Zukunft kurz darauf wieder verboten und dann noch ein weiteres Mal 1918. Wie zuletzt 1915 kamen auch jetzt zahlreiche Freunde und libe­ rale Intellektuelle zur Verteidigung des Blattes zusammen. Der Philosoph Ernst von Aster sprach von einem dichten Schleier der Verblendung bei den militärischen Machthabern, Matthias Erzberger, Erich Mühsam, Ernst Hardt und andere intervenierten zu Hardens Gunsten. Im Verhältnis zu Walther Rathenau wiederum verkehrten sich nun beinah die Rollen, denn dieser wandelte sich parallel zu seiner Arbeit für das Kriegsministerium mehr und mehr zum »Falken« und Parteigänger Ludendorffs.80 So sprach er sich für die Bombardierung Londons durch Zeppeline und die Deportation belgi­ scher Zivilisten zur Zwangsarbeit nach Deutschland aus.81 Der Freundschaft tat dies zunächst keinen Abbruch, man feierte etwa im September 1917 gemeinsam Rathenaus 50. Geburtstag im Adlon. »Die Verantwortung des Friedens, der werden muß, kann nicht ein Fürst, kann nicht eine Familie, kann nur der Nacken der ganzen Nation ungebeugt tragen. Demokratie ist

78 Harden, Wenn ich Wilson wäre, in: Z, 22. April 1916, 80. 79 Ebd., 81. 80 Siehe dagegen Shulamit Volkov, die von der Unmöglichkeit einer dauerhaften Bindung Rathenaus an Ludendorff spricht. Dies., Walther Rathenau. Ein jüdisches Leben in Deutschland 1867–1922, München 2012. 81 Siehe Sabrow, Walter Rathenau und Maximilian Harden, 101.

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unaufhaltsam und wird über Nacht das dringendste Fürstenbedürfnis. Diesen Frieden kann nur Deutschlands Volk schließen, wenn es erkannt hat, was es wollen muß.«82

Am 6. Juli 1917 forderte dann auch Erzberger, der als Repräsentant des Aus­ wärtigen Amtes bis dahin für den »Siegfrieden« eingetreten war, in einer Reichstagsdebatte einen Verständigungsfrieden, nach dem Deutschland auf die Annexionen verzichten müsse. Am 19. Juli 1917 fand eine von ihm ein­ gebrachte Friedensresolution im Reichstag eine Mehrheit. Auch wenn dies keine direkten Konsequenzen für die Politik des Reiches hatte, war es eine immens wichtige symbolische Geste nicht zuletzt gegenüber der zersplitter­ ten, marginalisierten Oppositionsbewegung gegen den Krieg. Die Forschung hat schon 1975 das Meinungsspektrum der Zukunft insbe­ sondere während des Ersten Weltkriegs untersucht und dabei auf die wenig konsistenten, das heißt abrupt wechselnden, aber auch stark divergierenden Positionen der Autoren hingewiesen. Zu dieser widersprüchlichen Haltung Hardens gehörte aber auch, dass er noch 1918 in der Zukunft für Kriegsanlei­ hen warb: »Erfolg der Anleihe heißt Erfolg der Waffen, Erfolg der Waffen heißt – Frieden! Darum zeichne!«83 Seine Essay-Sammlung Krieg und Frieden, in der Harden 1918 zentrale Texte aus der Zukunft für die breitere Öffentlichkeit des Buchmarkts zusam­ menstellte, legt davon Zeugnis ab. Die Sammlung rekurriert mit ihrem Titel bewusst auf Lew Tolstois epochales Romanwerk und will ein vergleichbares Zeitporträt, ein Panorama Deutschlands und Europas am Ende des langen »19. Jahrhunderts« geben. Hatten die Leitartikel und das Feuilleton der ers­ ten Kriegsjahre einseitig die eingeschränkte, chauvinistisch verblendete Kurzsichtigkeit allein der deutschen Perspektive im Sinne einer Legitima­ tion der Kriegsziele, ja einer deutschen Opferrolle der geopolitischen Inte­ ressen der Großmächte aus dem schiefen, nostalgisch verklärten Blickwin­ kel der Befreiungskriege ausgestellt, kehrte sich der Blick nun um. In großen historischen Bögen unternahm es Harden, polyperspektivisch die divergierenden rationalen wie irrationalen Handlungsmotive der europä­ ischen Mächte, vor allem Österreichs, Frankreichs, Englands und Russlands, und der jeweiligen Herrscherfiguren von einem scheinbar neutralen Stand­ punkt aus zu analysieren. Auch wenn die beiden Bände mit 14 000 verkauf­ ten Exemplaren innerhalb weniger Wochen eine zweite Auflage und damit eine hohe Breitenwirkung erreichten, gelang es Harden offenbar nicht, zur

82 Maximilian Harden, Am tausendsten Tag, in: Z, 28. April 1917, 116. 83 [Werbung für Kriegsanleihen], in: Z, 6. April 1918, 1. Die Werbung ist aus heutiger Sicht interessant: Zum einen setzt sie sich grafisch und typografisch deutlich vom redaktionel­ len Text des Leitartikels Diplomatarium ab, zum anderen ist sie nicht durch einen anderen Absender gezeichnet und richtet sich, wie Harden es oftmals auch in seinen Texten tut, in der zweiten Person Singular direkt an den Leser.

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Stimme des von ihm als solcher erkannten historischen Moments zu wer­ den – er blieb innerhalb der Friedensbewegung weitgehend isoliert.

Nach dem Krieg Nach dem Krieg setzte Harden sich auch durch persönliche Intervention beim Chef des Geheimen Zivilkabinetts Clemens von Delbrück für den Übergang zu einer demokratischen Neuordnung des Reiches und weiter für eine Verständigungspolitik mit den Siegermächten ein. Ob er, wie Emil Lud­ wig später genüsslich berichtete, tatsächlich hoffte, nun selbst aktiv in die Politik einzugreifen, ist fraglich. Mit Sicherheit glaubte er aber, das neue Deutschland mitgestalten zu können.84 Aus seiner Verachtung für die Führer der SPD, die im Reich und den Ländern häufig in Koalition mit den alten Eliten wirkten, machte er keinen Hehl, auch wenn er mit einigen der Prota­ gonisten, etwa Konrad Haenisch, dem neuen preußischen Kultusminister, vertrauensvoll korrespondierte. Er begrüßte hingegen emphatisch den Mut und die revolutionäre Kampfkraft der Freikorps um Kapitänleutnant Her­ mann Ehrhardt und Oberst Max Bauer und forderte auch nach dem KappPutsch für sie noch Anerkennung und Gerechtigkeit. Als man sich in Deutschland gegen die Friedensbedingungen des Versailler Vertrags empörte, gehörte Harden zu den wenigen, die diesen befürworteten, weil er von der Kriegsschuld Deutschlands überzeugt war. Er betrachtete den demü­ tigenden Friedensvertrag, wie er es in seinen gesammelten Artikeln in dem Buch Von Versailles nach Versailles darlegte, aber vor allem als Ausgangs­ punkt einer zukünftigen Politik europäischer Kooperation und eines Dialogs auf Basis der Bestimmungen des Völkerbunds.85 Der Historiker Friedrich Thimme forderte daher 1919 in einem Pamphlet gegen die »Schande« von Versailles, den Verräter Harden »aus der Gemeinschaft der Deutschen für immer auszustoßen«.86 Harden geriet vor allem wegen seines Gesinnungswandels vom Kriegsbe­ fürworter zum Advokaten des Friedens und wegen seines Eintretens für den Vertrag von Versailles ins Fadenkreuz antisemitischer Hetze. Schlimmer als die Verbotsmaßnahmen der Militärzensur gegen Die Zukunft während des Krieges war aber für Harden, dass breite, hochgestellt-konservative wie bil­ dungsbürgerlich-liberale Kreise – oft langjährige Leser –, die die Zeitschrift 84 Siehe Emil Ludwig, Geschenke des Lebens, Berlin 1931, 481. 85 Siehe Maximilian Harden, Von Versailles nach Versailles, Hellerau bei Dresden 1927. 86 Friedrich Thimme, Maximilian Harden am Pranger, Flugschriften der Neuen Woche 1 (1919), 19.

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zuvor wegen ihrer Mischung aus häufig exklusiven Hintergrundinformatio­ nen und originellen Perspektiven geschätzt und sich ihr etwa bei Zensur­ maßnahmen zugewandt hatten, sich nun von ihr abwandten. Eine Festschrift zu Hardens 60. Geburtstag im Oktober 1921 versammelte noch einmal einen illustren Querschnitt der führenden Köpfe in Kunst und Kultur, darunter Hermann Bahr, Heinrich Mann, Alfred Döblin, Harry Graf Kessler, Max Reinhardt, Siegfried Jacobsohn, Emil Ludwig und Kasimir Edschmid, aber sie war zugleich ein Abgesang auf eine Autorität in einer bestimmten histo­ rischen Situation, die ihren Einfluss nun rapide einbüßte.87 Mit einer sinken­ den Zahl an Lesern schwand Hardens Einfluss. Während der Hyperinflation des Krisenjahres 1922 wurde ihm für Krieg und Frieden zwar der Strind­ berg-Preis verliehen, Die Zukunft verkaufte aber weniger als 1 000 Exemp­ lare und nur noch 343 gingen an Abonnenten. Obwohl die Zeitschrift im renommierten Verlag Erich Reiss eine neue publizistische Heimat fand, scheiterten Hardens Bemühungen, sie noch einmal zu beleben, nicht nur an fehlendem Geld, sondern auch daran, dass er den ihm hartnäckig anhaftenden Ruf eines politischen Opportunisten nicht mehr abzuschütteln vermochte. Im Juni 1921 berichtete er in der Zukunft von offenen Morddrohungen gegen ihn, so habe ein national-konservativer Journalist dazu aufgerufen, mit Ein­ stein, Förster, Hellmut von Gerlach und ihm »kurzen Prozeß« zu machen.88 Keine zehn Tage nach der Ermordung Rathenaus verübte eine bezahlte Bande rechtsradikal-völkischer Krimineller am 3. Juli 1922 ein Attentat auf Harden. Er überlebte schwer verletzt. Kurt Tucholsky kritisierte die Behand­ lung der Attentäter unter anderem in der Weltbühne als zu nachsichtig.89 Der Mord an Rathenau, die eigene gesundheitliche Beeinträchtigung nach dem Attentat und sein stark beschädigtes öffentliches Ansehen veranlassten Har­ den, 1922 in die Niederlande überzusiedeln. Dort schrieb er für die Amster­ damer Zeitung De Telegraaf sowie für amerikanische Nachrichtenagenturen Kommentare über das politische Tagesgeschehen im Deutschen Reich und brachte dabei seine Geringschätzung für die Spitzenpolitiker der Weimarer Republik deutlich zum Ausdruck. Während eines Kuraufenthaltes in Mon­ tana im schweizerischen Wallis starb Harden am 30. Oktober 1927 an den Folgen einer Lungenentzündung.90

87 88 89 90

Siehe Hermann Bahr u. a., Maximilian Harden zum 20. Oktober 1921, Berlin [1921]. Maximilian Harden, Am Krebswendekreis, in: Z, 18. Juni 1921, 323. Siehe Kurt Tucholsky, Der Prozeß Harden, in: Die Weltbühne, 21. Dezember 1922. Zu der Vielzahl der Meldungen und Nachrufe siehe Paul Wiegler, Maximilian Harden, in: Die Literarische Welt, 11. November 1927; Erich Mühsam, Maximilian Harden, in: Fanal 3 (1927), 66–68; Franz Pfemfert, Harden, in: Prager Presse, 27. November 1927.

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Statt eines Fazits: Maximilian Harden – ein deutsch-jüdischer Publizist »Maximilian Harden teilt das Schicksal vieler Deutscher, denen Anerken­ nung und bleibender Einfluß versagt bleiben, weil sie Juden waren«,91 so fasste der bislang einzige Biograf Hardens, Harry F. Young, in seiner Disser­ tation aus dem Jahr 1959 die problematische und sehr selektive Rezeption Hardens zusammen. Bedenkt man allerdings, dass vor allem die von ihm provozierte Eulen­ burg-Affäre und seine Stellung zum Krieg diese Rezeption nachhaltig geprägt haben, so scheinen nicht allein seine Herkunft, sondern vorrangig sein Handeln der Grund dafür zu sein, dass er bis heute heftig umstritten ist. Schon Zeitgenossen hatten an seiner inszenierten Einsamkeit in der Apos­ tata-Rolle wie auch seiner strategisch befeuerten Kriegsbegeisterung erkannt, dass dieses Handeln zwar durch Herkunft motiviert, aber nicht allein aus ihr zu erklären ist. Und wie in der Beurteilung der EulenburgAffäre fielen die Reaktionen, vor allem der jüdischen Kommentatoren, auch nach 1918 bisweilen messerscharf aus: Emil Ludwig machte Harden als Publizisten mit für den Kriegsausbruch verantwortlich und Theodor Lessing nannte ihn gar »den rasendsten unter allen Kriegshetzern«.92 Gerade der Ver­ gleich von Rathenau und Harden macht sichtbar, wie das Selbstverständnis zweier deutsch-jüdischer Kaufmannssöhne im Zuge ihres sozialen Aufstiegs sich so ausformte, dass sie zu neokonservativen Fürsprechern des Industrie­ kapitalismus und der deutschen Großmachtpolitik werden konnten.93 Ihre Freundschaft, die ihre Basis in einer gewissen gegenseitigen Sympathie und einem Kern von geteilten Überzeugungen hatte, bedurfte eines immer größe­ ren Reservoirs an politischer Pragmatik, um zu überleben, und wandelte sich entsprechend. Der Dichter Ernst Lissauer ließe sich ihnen noch an die Seite stellen:94 Hatte der Dramatiker und Literaturkritiker Julius Bab noch davon gesprochen, dass Lissauers ungezügelte antienglische Ressentiments, die ja auch Harden in der Zukunft verbreitete, »unbewußt Millionen aus der Seele

91 Young, Maximilian Harden, Censor Germaniae, 10. 92 Ludwig, Geschenke des Lebens, 481; Theodor Lessing, Der jüdische Selbsthaß. Mit einem Vorwort von Boris Groys, Berlin 2004, 194. 93 Siehe Walter Frank, Höre Israel! Harden, Rathenau und die moderne Judenfrage, Ham­ burg 1939; Martin Sabrow, Zwischen Geist und Macht. Zeitkritik als Integrationsleistung bei Walther Rathenau und Maximilian Harden, in: Gangolf Hübinger/Thomas Hertfelder (Hgg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, 47–70. 94 Was hier nur skizziert werden kann, hat Elisabeth Albanis systematisch in einer umfassen­ den Studie ausgearbeitet: dies., German-Jewish Cultural Identity from 1900 to the After­ math of the First World War. A Comparative Study of Moritz Goldstein, Julius Bab and Ernst Lissauer, Tübingen 2002.

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gesprochen« hätten,95 so werden diese Texte nach 1918 in antisemitischen Anwürfen gegen diesen in Stellung gebracht und, wie wiederum Stefan Zweig in seiner Autobiografie berichtet, als Ausdruck jüdischer geistiger Verirrung umgedeutet.96 Doch spielen alle drei ganz verschiedene Rollen, zwischen Paria und Parvenü, wie sie Hannah Arendt beschrieben hat.97 Zumindest Rathenau und Harden waren sich dabei immer bewusst, dass das Politische, die Öffentlichkeit, eine Bühne ist, die Ruhm und Anerkennung verspricht. Aufgrund ihrer Herkunft, auch darauf hat Arendt hingewiesen, waren sie aber fortgesetzt in Gefahr. Denn nichts, so Arendt, ist in der modernen Gesellschaft so prekär wie das Verhältnis zur Sphäre der Öffent­ lichkeit, in der freundschaftliche Solidarität der einzige Schutz ist. Damit gab es für sie, die aufgrund ihrer Herkunft »existentielle Außenseiter« waren, kaum Sicherheit vor Polemik, Diffamierung und Hetze; dies müssen beide von Beginn ihrer Karriere an erfahren.98 Von den beiden ist es Harden, der die medialen Bedingungen der Öffentlichkeit und die Wirkungsmächtig­ keit ihrer Medien erkennt und sich öffentlich deutlicher exponiert. Im Span­ nungsfeld zwischen kommerziellem Erfolgsdruck, Zensur und verdeckter Protektion durch die Reichskanzlei zeichnet sich bei Harden die Physiogno­ mie eines Intellektuellen als »Meinungsmacher« ab. In einer Phase der wachsenden Medienkonkurrenz durch eine unterhaltungsorientierte, tages­ aktuelle und bildergeleitete Massenpresse gelang es ihm, eine formal kon­ servative Zeitschrift als moderne Wochenschrift zum publizistischen Flagg­ schiff wie zum Ort für Reflexion und Agitation zu machen. »Das Leben eines öffentlichen Mannes, der durch ein Menschenalter, Woche um Woche, alle Ereignisse der Zeit mit seinen Randbemerkungen versieht, der in Zehntau­ sende Existenzen eingreift und die Ämter, die Parlamente, die Banken, die Zeitungs­ männer, Wirtschaftsführer, Industriekönige, ja das ganze Leben seines Volkes von der Musik bis zur Logik, von der Produktion im Drama bis zur Produktion der Kartoffeln und Rüben unter seine Kontrolle zwingt, ein solches öffentliches Leben ist überreich an Prozessen, Krachen, Kontroversen und an beständig wechselnden Beziehungen zu jedermann.«99

So urteilte Theodor Lessing über Harden, als er ihn, wie übrigens auch Karl Kraus, 1930 in seiner Studie über den »jüdischen Selbsthass« porträtierte.100 195 Julius Bab, Die deutsche Kriegslyrik 1914–1918, Stettin 1920, 129 f. 196 Stefan Zweig, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Stockholm 1947, 75 und 211. 197 Hannah Arendt, Die verborgene Tradition, Frankfurt a. M. 1976, 46–73. 198 Siehe Hirsinger, »Die geistige Zersetzung Deutschlands«? 199 Lessing, Der jüdische Selbsthaß, 182. Siehe auch das frühere Porträt: ders., Der fünfzig­ jährige Harden, in: Die Schaubühne, 19. Oktober 1911. 100 Andrea Boelke-Fabian, »In der Falle der Ambivalenz«. Überlegungen zu Identität und Projektion in Theodor Lessings Essay »Der Jüdische Selbsthaß« am Beispiel der Fallstu­

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Für Harden, Rathenau, Kraus und Lessing war die Auseinandersetzung mit dem Judentum Lebensthema. Harden und Kraus wurden von Lessing als hervorragende Beispiele für jenen psychologischen Mechanismus gedeutet, nach dem als Juden stigmatisierte Personen die negativen Konnotationen dieser Zuschreibung nicht nur verinnerlichen, sondern sie auch auf andere »Außenseiter« projizieren.101 Dieser Mechanismus kann eventuell, wenigs­ tens zum Teil, erklären, was Harden anfällig für den chauvinistischen Natio­ nalismus der Kriegszeit machte. Die rhetorische Struktur seiner Leitartikel spiegelt solche Muster wider, ohne dass das ursprüngliche Stigma der jüdi­ schen Identität angesprochen wird. Kraus hingegen scheint gerade gegen die chauvinistische Verführung immun, er lenkt seine literarische Aggression aber umso stärker auf den anderen, den »Bruder Außenseiter«. Der Anschlag von 1922 wurde zudem zum Ausgangspunkt für Spekula­ tionen, ob Harden sich seiner deutsch-jüdischen Herkunft erst dann deutli­ cher bewusst wurde, als er am eigenen Leib antisemitische Gewalt erfahren hatte. Diese Frage scheint wenig produktiv, denn Harden war, wie gezeigt, schon im Zuge der Eulenburg-Affäre und in der Frage der Kriegsschuld anti­ semitisch gedemütigt und mit seiner zwiespältigen Rolle konfrontiert, von Kraus, Lessing und anderen auf der eigenen, der publizistischen Bühne als Jude demontiert und als Parvenü bloßgestellt worden. Ob und inwieweit diese Erfahrungen zum Movens seines Handelns wurden, bleibt Hypothese.

die über Maximilian Harden, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 50 (1998), H. 3, 219–241. 101 Lessing, selbst tief verstrickt in diesen Mechanismus, rationalisiert und interpretiert ihn und seine Studie wird dann zum Ausgangspunkt der Forschung etwa bei Sander Gilman, Karl Kraus, Oscar Wilde and the Hidden Language of the Jews, in: Joseph P. Strelka (Hg.), Karl Kraus. Diener der Sprache, Meister des Ethos, Tübingen 1990, 125–138, hier 125.

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Patriotismus und Kosmopolitismus: Magnus Hirschfeld und der Erste Weltkrieg Wer sich mit dem Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld beschäftigt, wird feststellen, dass das Forschungsinteresse an seiner Person im Vergleich zu anderen, zur gleichen Zeit wirkenden Vertretern dieser Disziplin außeror­ dentlich groß ist.1 Tatsächlich war Hirschfeld ein umtriebiger Wissenschaft­ ler und gut vernetzter Organisator. Seine Prominenz geht vor allem auf seine Rolle als Gründer des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK) im Jahr 1897 zurück, der ersten erfolgreichen Lobby für die Rechte von Homo­ sexuellen. Die umfassende biografische Erforschung Hirschfelds in Deutschland ist hauptsächlich das Verdienst der aus der Schwulen- und Les­ benbewegung der 1980er Jahre hervorgegangenen Magnus-HirschfeldGesellschaft (MHG), die sich insbesondere diesem zentralen Schwerpunkt seines Schaffens verschrieben hat.2 Dennoch sollte daran erinnert werden, dass Hirschfeld auch andere Gebiete der Sexualwissenschaft bearbeitete,3

1

2

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Die detailreich aufbereitete Biografie von Manfred Herzer, Magnus Hirschfeld. Leben und Werk eines jüdischen, schwulen und sozialistischen Sexologen, Frankfurt a. M./New York 1992, gilt als das deutschsprachige Standardwerk, wobei auch die kürzere Biografie von Ralf Dose, Magnus Hirschfeld. Deutscher, Jude, Weltbürger, Berlin 2005, einen guten Überblick verschafft. Im Rahmen der queer studies erfährt Hirschfelds Werk auch in der englischsprachigen Forschung vermehrt Aufmerksamkeit, was sich etwa in der Biografie Elena Mancinis widerspiegelt. Dies., Magnus Hirschfeld and the Quest for Sexual Free­ dom. A History of the First International Sexual Freedom Movement, New York 2010. Diese Studie weist allerdings historiografisch Schwächen auf. Ferner ist das Forschungs­ projekt A Violent World of Difference. Magnus Hirschfeld and the Shaping of Queer Modernity von Heike Bauer zu nennen. Siehe dazu den Projekt-Blog (23. September 2014). Die erste Biografin Hirschfelds, Charlotte Wolff, war in der Weimarer Republik selbst an einer Ehe- und Sexualberatungs­ stelle in Berlin tätig. Siehe dies., Magnus Hirschfeld. A Portrait of a Pioneer in Sexology, London/New York 1986. So informativ diese Biografie ist, so hat sie aufgrund der Zeitge­ nossenschaft doch vergleichsweise wenig Distanz zu ihrem Gegenstand. Siehe als kurzen Abriss zur Hirschfeld-Rezeption vor und seit der Gründung der MHG 1982 Andreas Seeck, Einführung, in: ders. (Hg.), Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit?. Textsammlung zur kritischen Rezeption des Schaffens von Magnus Hirschfeld, Münster/ London 2003, 7–23, hier 7–12. Die Mitteilungen der MHG sowie die in ihrem Umfeld entstandenen Publikationen von Ralf Dose, Rainer Herrn, Andreas Pretzel und Andreas Seeck bieten umfangreiches Material zu Hirschfelds Schaffen. Siehe zu dieser Einschätzung Vern L. Bullough, Science in the Bedroom. A History of Sex Research, New York 1994, 62 und 72; sowie Cornelie Usborne, Geburtenkontrolle in der Weimarer Republik und Magnus Hirschfelds widersprüchliche Interessen, in: ElkeJBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 337–364.

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etwa in seiner Funktion als Leiter des ersten Instituts für Sexualwissenschaft (1919) in Deutschland, eines Zentrums für Sexualreform mit internationaler Ausstrahlung. Mit Blick auf die Institutionalisierung dieses neuen For­ schungsfeldes kann Hirschfeld als treibende Kraft gelten. Doch neben sei­ nen professionellen Aktivitäten ist es auch die schillernde Privatperson Hirschfeld, die bis heute großes Interesse hervorruft, denn als jüdischer, gleichgeschlechtlich liebender Sexualforscher und -aktivist vereinte er mul­ tiple Marginalitäten in sich. In Kombination mit seinen Sympathien für Lebensreform und Naturheilkunde verkörperte Hirschfeld vieles von dem, was gemeinhin unter »Weimarer Kultur« zusammengefasst wird, dessen Wurzeln indes weit in die Alternativbewegungen der Wilhelminischen Ära zurückreichen.4 Die Plünderung und Zerstörung seines Instituts durch die Nationalsozialisten am 6. Mai 1933, in deren Propaganda Hirschfeld als Jude und Vorkämpfer für die Rechte von Homosexuellen schon vor der Machtübertragung auf Hitler zum prominenten Feindbild stilisiert wurde, steht exemplarisch für das Versinken der Weimarer Republik im nationalso­ zialistischen Terror. Hirschfeld selbst konnte aufgrund der akuten Bedro­ hung bereits 1932, im Anschluss an seine knapp zweijährige Vortragsreise, die ihn von den Vereinigten Staaten nach Ost- und Südasien und schließlich mit Stationen in Ägypten und Palästina in den Nahen Osten geführt hatte,5 nicht mehr nach Deutschland zurückkehren. Er verstarb, von den Strapazen des Exils gezeichnet, am 14. Mai 1935, seinem 67. Geburtstag, in Nizza, wo er seine letzte Zuflucht genommen hatte.

4

5

Vera Kotowski/Julius H. Schoeps (Hgg.), Der Sexualreformer Magnus Hirschfeld. Ein Leben im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Gesellschaft, Berlin 2004, 95– 115, hier 95 und 112. Atina Grossmann, Magnus Hirschfeld, Sexualreform und die Neue Frau. Das Institut für Sexualwissenschaft und das Weimarer Berlin, in: Kotowski/Schoeps (Hgg.), Der Sexual­ reformer Magnus Hirschfeld, 201–216, hier 201 f. und 207. Seine Erlebnisse und Eindrücke hielt Hirschfeld in seinem Buch Die Weltreise eines Sexualforschers fest, das 1933 bereits im Schweizer Exil erscheinen musste. Dieser umfangreiche Reisebericht erfährt zunehmend Aufmerksamkeit, da er eine ergiebige Quelle für aktuelle Forschungsbemühungen darstellt, das vermeintlich genuin »westli­ che« Projekt der Sexualwissenschaft in seinen globalen Verflechtungen zu analysieren. Siehe dazu Birgit Lang, Sexualwissenschaften auf Reisen. Zur antikolonialen Mimikry in Magnus Hirschfelds »Die Weltreise eines Sexualforschers« (1933), in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 22 (2011), 199–213; J. Edgar Bauer, Sexuality and its Nuances. On Magnus Hirschfeld’s Sexual Ethnology and China’s Sapiential Heri­ tage, in: Anthropological Notebooks 17 (2011), 5–27, (23. April 2014); Veronika Fuechtner, Indians, Jews, and Sex. Magnus Hirschfeld and Indian Sexology, in: dies./Mary Rhiel (Hgg.), Imagining Germany, Imagining Asia. Essays in Asian-German Studies, Rochester, N. Y., 2013, 111–130.

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Hirschfelds öffentliche Äußerungen zum Ersten Weltkrieg sollen im Fol­ genden zum Anlass genommen werden, den »globalen« Spuren in seinem Denken und Wirken nachzugehen, das heißt, nach seinem Bewusstsein für die zunehmende Verflechtung der Welt zu fragen, die sich unter den span­ nungsreichen Bedingungen des europäischen Hochimperialismus, eines immer aggressiveren Nationalismus, aber auch eines wachsenden, insbeson­ dere zivilgesellschaftlichen Internationalismus vollzogen und damit den Ausbruch eines genuinen Welt-Kriegs erst ermöglicht hatte. Eine solche Per­ spektive bereichert die bereits existierende Forschung, indem sie Magnus Hirschfeld nicht nur als deutsch-jüdischen Sexualwissenschaftler betrachtet, sondern ihn auch als wichtigen Akteur der transnationalen Vernetzung der deutschsprachigen Sexologie und Sexualreformbewegung anerkennt. Wie zu zeigen sein wird, war der Erste Weltkrieg für Hirschfeld insofern ein Wendepunkt, als sich ein Großteil seiner Aktivitäten und Ideen der Zwi­ schenkriegszeit – nämlich einerseits sein Einsatz für den internationalen Pazifismus und eine transnationale wissenschaftliche Zusammenarbeit und andererseits die Konturierung seines kosmopolitischen und antirassistischen Denkens – auf dieses Ereignis zurückführen lassen. Nach einer biografischen Einführung, die ausgewählte Stränge der Aktivi­ täten Hirschfelds und seiner Anschauungen vor Kriegsausbruch aufgreift, werden seine während des Krieges veröffentlichten »kriegspsychologi­ schen« Schriften einer Analyse unterzogen. Der chauvinistisch-nationalisti­ sche Ton der Empörung über den von ihm »völkerpsychologisch« gedeute­ ten Hass der europäischen Großmächte auf das Deutsche Reich, den Hirschfeld in seiner Kriegsschrift von 1915 anschlägt, verklingt in dem nur ein Jahr später veröffentlichten Folgetext in einem leiseren Nachdenken über Sinn und Unsinn dieses verheerenden Krieges und dem Wunsch nach Versöhnung und Frieden. Um diese Texte in Hirschfelds Denken verorten und die Nachhaltigkeit dieser Wende bewerten zu können, werden im An­ schluss ausgewählte Schriften aus der unmittelbaren Nachkriegszeit heran­ gezogen, die eine Verfestigung seiner im Krieg gewonnenen pazifistischen und kosmopolitischen Ansichten nahelegen und erste Spuren eines dezidier­ ten Antirassismus aufweisen. In diesem Zusammenhang wird Hirschfelds Weichenstellung für eine verstärkte internationale Kooperation auf wissen­ schaftlichem Gebiet miteinbezogen. So organisierte er 1921 den Ersten Internationalen Kongress für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage, der das Fundament für die 1928 offiziell gegründete Weltliga für Sexualreform legte. Am Schluss dieses Beitrags steht eine Betrachtung der Zusammenhänge zwischen Hirschfelds Reflexionen der Nachkriegszeit und seiner in den Jahren des Exils weiter ausgearbeiteten Rassismuskritik.

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Leben und Wirken vor Kriegsausbruch Hirschfeld, der 1918 seinen 50. Geburtstag feierte,6 hatte sich schon vor Kriegsausbruch als Sexualwissenschaftler einen Namen gemacht und an der Formierung dieser Disziplin entscheidend mitgewirkt. Nach seinem Medi­ zinstudium und einer ersten großen Reise, die ihn 1893/94 nach Nordame­ rika, Nordafrika und Italien geführt hatte,7 praktizierte er als Allgemeinme­ diziner mit klaren Präferenzen für naturheilkundlich-lebensreformerische Ansätze. Zunächst hatte er sich für zwei Jahre in Magdeburg niedergelassen, ab 1896 schließlich in Berlin.8 Seit der Jahrhundertwende befasste er sich zunehmend mit sexualwissenschaftlichen Fragen. Nach Hirschfelds eigener Darstellung lagen in seiner persönlichen Erschütterung über den Suizid eines homosexuellen Patienten nicht nur die Motive für die Gründung des WhK 1897,9 sondern auch für die gezielte wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen der Homosexualität und anderen sexuellen »Abnormali­ täten«, mit deren Klassifizierung die Sexualwissenschaft im 19. Jahrhundert ihren normierenden Diskurs über Sexualität entfaltet hatte.10 Bereits 1896 entwickelte Hirschfeld das Argument, die Homosexualität sei eine angebo­ rene, wenngleich fehlerhafte Entwicklung des Sexualtriebs und dürfe somit nicht Gegenstand der Strafverfolgung sein. Der wissenschaftliche Nachweis der »Natürlichkeit« gleichgeschlechtlicher Neigungen war damit zentral für sein (gesellschafts-)politisches Anliegen.11 Hirschfeld baute sein Argument im Laufe der Zeit konsequent zur sogenannten Zwischenstufenlehre aus, nach der sich bei jedem Menschen ein spezifisches Mischverhältnis aus

16 Siehe dazu Plock, Georg (Hg.), Festschrift zu Dr. Magnus Hirschfelds 50. Geburtstag 14. Mai 1918, in: Vierteljahrsberichte des Wissenschaftlich-humanitären Komitees während der Kriegszeit 18 (1918), 2 f. 17 Magnus Hirschfeld, Von einst bis jetzt. Geschichte einer homosexuellen Bewegung 1897–1922, hg. und mit einem Nachwort versehen von Manfred Herzer und James D. Steakley, Berlin 1986, 191 f. 18 Dose, Magnus Hirschfeld, 22–25. 19 Siehe Magnus Hirschfeld (Theodor Ramien), Sappho und Sokrates oder wie erklärt sich die Liebe der Männer und Frauen zu Personen des eigenen Geschlechts?, Leipzig 1896; Hirschfeld, Von einst bis jetzt, 48. 10 Siehe zu dieser Entwicklung Michel Foucaults Geschichte der Sexualität, die der Sexual­ wissenschaft eine Schlüsselrolle in der Entfaltung des modernen Sexualitätsdispositivs zuweist; ders., Der Wille zum Wissen, Frankfurt a. M. 192012 (zuerst 1976), 57–76. Fou­ caults Intervention in das Narrativ der »sexuellen Befreiung« hat in der historischen For­ schung eine kritische Neubewertung der Sexologie eingeleitet. Siehe dazu Lucy Bland/ Laura L. Doan (Hgg.), Sexology in Culture. Labelling Bodies and Desires, Cambridge 1998; Scott Spector/Helmut Puff/Dagmar Herzog (Hgg.), After the History of Sexuality. German Genealogies with and beyond Foucault, New York 2012. 11 Siehe dazu Dose, Magnus Hirschfeld, 55 f., der auch auf das Konfliktpotenzial dieser Argumentation innerhalb der Bewegung verweist.

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»männlichen« und »weiblichen Eigenschaften« finde. Eine Zwischengruppe hinsichtlich des Sexualtriebs bildete die Homosexualität, wobei diese Kate­ gorie bei Hirschfeld als idealtypisch zu verstehen ist. Tatsächlich bedeutete seine Zwischenstufenlehre einen Bruch mit der eindeutigen Differenzierung von »normal« und »abweichend«, da er das individuelle Mischverhältnis eines jeden Menschen als einzigartig erachtete. So ergab sich eine unendli­ che Vielfalt sexueller Zwischenstufen, unter denen die Homosexualität eben nur einen exemplarischen Typus darstellte.12 Ausgehend von den Aktivitäten des WhK, dessen Mitteilungsorgan Jahr­ buch für sexuelle Zwischenstufen er als Herausgeber betreute, beteiligte Hirschfeld sich nach der Jahrhundertwende mit seinen Publikationen aktiv an den sexualwissenschaftlichen Debatten seiner Zeit. Er war Herausgeber der Zeitschrift für Sexualwissenschaft (1908), die als erste deutschsprachige Fachzeitschrift des Forschungsfeldes gilt, und Mitbegründer der Ärztlichen Gesellschaft für Sexualwissenschaft (ÄGESE) im Jahr 1913, in deren Vor­ stand er saß. Die neue Disziplin wurde zwar zuvorderst von Medizinern abgesteckt, formierte sich aber stark im öffentlichen Raum und stand in engem Austausch mit feministischen, eugenischen und psychoanalytischen Diskursen über Sexualität.13 Nicht untypisch für die Phase der Institutionali­ sierung einer wissenschaftlichen Disziplin, gab es auch hier Kräfte, die für eine deutliche Grenzziehung zu öffentlichen Diskursen eintraten.14 Dass Hirschfeld sich weiterhin intensiv für eine Strafrechtsreform einsetzte und mit anderen sexualreformerischen Aktivistinnen und Aktivisten kooperierte, brachte ihm Konflikte ein, insbesondere mit Max Marcuse (1877–1963) und Albert Moll (1862–1939), die eine Konkurrenzvereinigung zur ÄGESE gründeten.15 Bereits vor dem Weltkrieg hatte Hirschfeld im medial begleite­ ten Harden-Prozess infolge der Eulenburg-Affäre durch eigenes Verschul­ den seine Reputation beschädigt, da er sein ärztliches Gutachten über die Homosexualität des Klägers widerrufen musste.16 Während von fachlicher Seite primär seine ärztliche Unvoreingenommenheit infrage gestellt wurde, 12 Siehe dazu ausführlich Herzer, Magnus Hirschfeld, 59–62; Dose, Magnus Hirschfeld, 97– 108. 13 Siehe zu dieser inzwischen etablierten Perspektive auf die Entstehung der Sexualwissen­ schaft Volkmar Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, Frankfurt a. M./New York 2008, bes. 52–120. 14 Siehe zum Konzept der boundary-work Thomas F. Gieryn, Boundaries of Science, in: Sheila Jasanoff u. a. (Hgg.), Handbook of Science and Technology Studies, Thousand Oaks, Calif., u. a. 1995, 393–434. 15 Siehe zum Konflikt von Hirschfeld und Moll Andreas Pretzel, Disziplinierungsbestrebun­ gen. Magnus Hirschfeld und die Ärztliche Gesellschaft für Sexualwissenschaft, in: Kotowski/Schoeps (Hgg.), Der Sexualreformer Magnus Hirschfeld, 137–156; Sigusch, Geschichte der Sexualwissenschaft, 197–233. 16 Siehe dazu Herzer, Magnus Hirschfeld, 70–74.

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manifestierte sich in der öffentlichen Debatte eine neue Welle der Homo­ phobie, die sich nun auch gegen den prominenten Aktivisten Hirschfeld richtete. In den Angriffen auf seine Person lässt sich eine für die damalige Zeit typische Überlagerung von homophoben und antisemitischen Klischees und Feindbildern beobachten.17 Seine Herkunft hatte Hirschfeld bis dahin nicht thematisiert und auch nach diesen ersten offenen antisemitischen Attacken reagierte er nicht öffentlich. Hirschfeld stammte aus einer liberalen, assimilierten jüdischen Familie und war in der pommerschen Kleinstadt Kolberg (Kołobrzeg) aufge­ wachsen, wo sein Vater ein angesehener Arzt und lange Zeit Vorsitzender der jüdischen Gemeinde war.18 Er selbst scheint sich bereits im Laufe seines Studiums vom jüdischen Glauben distanziert zu haben, worauf die Bezeich­ nung »Dissident« als Angabe der Konfession in verschiedenen Dokumenten hinweist.19 Hirschfeld wählte demnach den Weg des Austritts aus der jüdi­ schen Gemeinde ohne anschließende Konversion. Die von der Forschung verwendete Umschreibung, Hirschfeld habe seine Herkunft tabuisiert, mutet übertrieben an,20 sind doch insgesamt so wenige persönliche Zeugnisse über­ liefert, dass man diese These kaum belegen kann. Als Angehöriger einer dis­ kriminierten Minderheit ließ der in der Öffentlichkeit stehende Hirschfeld in privaten Belangen äußerste Diskretion walten. So finden sich auch über seine langjährige Liebesbeziehung zu Karl Giese keine eindeutigen Aussa­ gen in den überlieferten Dokumenten.21 Entsprechend ist in der Forschung darauf hingewiesen worden, dass er sich mit seinem Schweigen über seine

17 Ebd., 19–21; Heike Bauer, “Race,” Normativity and the History of Sexuality. Magnus Hirschfeld’s Racism and the Early-Twentieth-Century Sexology, in: Psychology & Sexua­ lity 1 (2010), 239–249, hier 242 f. 18 Siehe dazu ausführlich Herzer, Magnus Hirschfeld, 16–18. Zum familiären Hintergrund siehe Ralf Dose, Die Familie Hirschfeld aus Kolberg, in: Kotowski/Schoeps (Hgg.), Der Sexualreformer Magnus Hirschfeld, 33–64; Dose, Magnus Hirschfeld, 10–19. 19 Rainer Herrn, Magnus Hirschfeld (1868–1935), in: Hans Erler u. a. (Hgg.), »Meinetwe­ gen ist die Welt erschaffen.« Das intellektuelle Vermächtnis des deutschsprachigen Juden­ tums. 58 Portraits, Frankfurt a. M./New York 1997, 173–178, hier 173. 20 Herzer, Magnus Hirschfeld, 16; Sophinette Becker, Tragik eines deutschen Juden. Anmerkungen zu drei politischen Schriften von Magnus Hirschfeld, in: Seeck (Hg.), Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit?, 207–221, hier 211; Christina von Braun, Ist die Sexualwissenschaft eine »jüdische« Wissenschaft?, in: Kotowski/Schoeps (Hgg.), Der Sexualreformer Magnus Hirschfeld, 255–269, hier 255 f. 21 Selbst in seinen späten autobiografischen Mitteilungen im »Testament«, das inzwischen von Ralf Dose in einer kommentierten Fassung herausgegeben wurde, findet sich ledig­ lich eine kryptische Aussage, die mit viel Fantasie als Coming-out gelesen werden kann: »Es kommt hinzu, dass ich kein Homo familiaris (Familienmensch im gewöhnlichen Sinn) bin; […] ich bin […] rein physiologisch u. biopsychologisch jemand, der nicht für die Familie, für Frau und Kinder […] geschaffen ist […].« Magnus Hirschfeld, Testa­ ment, H. 2, hg. von Ralf Dose, Berlin 2013, 114.

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Herkunft gegen Zuschreibungen von außen zu schützen versuchte.22 Das Judentum bot allerdings für den säkularen und assimilierten Hirschfeld reli­ giös wie politisch wenig Anknüpfungspunkte, wie der Biograf Manfred Her­ zer herausgestellt hat.23 Dennoch zeugen Hirschfelds spätere Äußerungen zu seinen Eindrücken von Palästina und der Einschätzung des Zionismus,24 dem er persönlich verhalten gegenüberstand,25 sowie seine antirassistischen Schriften von einer stärkeren Auseinandersetzung mit dem Judentum und seinem persönlichen Selbstverständnis in den Dreißigerjahren – dies aller­ dings unter dem Eindruck einer zunehmend feindseligen Fremdzuschrei­ bung. Da diese Reflexionen aus der Zeit der wachsenden Bedrohung durch die Nationalsozialisten und des Exils stammen, muss Hirschfelds persönli­ che Erfahrung des Antisemitismus als entscheidender Faktor in dieser Ent­ wicklung betrachtet werden.26 Sucht man nach weltanschaulichen Prägungen, die der »Dissident« Hirsch­ feld selbst explizit benannte, muss auf seine Sympathien für den vom Jenaer Zoologen und Darwin-Popularisierer Ernst Haeckel (1834–1919) begründe­ ten Monismus verwiesen werden.27 Hirschfeld war nicht nur langjähriges Mitglied des deutschen Monistenbundes, sondern auch ein lebenslanger Bewunderer Haeckels, dem er seine sexualbiologische Studie Naturgesetze der Liebe (1912) widmete. Diese Weltanschauung als naturwissenschaftli­ 22 Siehe Becker, Tragik eines deutschen Juden, 211, die gegen Herzer argumentiert. 23 Herzer, Magnus Hirschfeld, 25. 24 Die Äußerungen Hirschfelds aus der Weltreise eines Sexualforschers führt J. Edgar Bauer berechtigterweise gegen Herzer ins Feld, wobei seine religionsphilosophische Deutung dieses Textes auch ihrerseits sehr weitreichende Schlüsse auf Basis einer dünnen Daten­ lage zieht: ders., »Ahasverische Unruhe« und »Menschheitsassimilation«. Zu Magnus Hirschfelds Auffassung vom Judentum, in: Kotowski/Schoeps (Hgg.), Der Sexualrefor­ mer Magnus Hirschfeld, 271–291. 25 In seinen letzten Lebensjahren stellte Hirschfeld Zionismus und Assimilation als legitime und einander nicht ausschließende Optionen nebeneinander, siehe ders., Racism, transl. and ed. by Paul Eden and Cedar Paul, London 1938, 235 f. Er warnte allerdings vor einem neuen, auf »Rassenhass« basierenden Konflikt mit der ansässigen Bevölkerung in Paläs­ tina sowie einer sprachlichen Abschottung durch die zionistische Forcierung des Hebräi­ schen, siehe ders., Die Weltreise eines Sexualforschers, Brugg 1933, 359–362. Für Hirschfeld selbst scheint in den Jahren des Exils eine Emigration nach Palästina keine Option gewesen zu sein (siehe Becker, Tragik eines deutschen Juden, 217), hingegen wer­ den China, die Vereinigten Staaten und Frankreich genannt (Hirschfeld, Testament, 174 und 196). 26 Siehe Becker, Tragik eines deutschen Juden; Rainer Herrn, »Phantom Rasse. Ein Hirnge­ spinst als Weltgefahr«. Anmerkungen zu einem Aufsatz Magnus Hirschfelds, in: Seeck (Hg.), Durch Wissenschaft zur Gerechtigkeit?, 111–124; H. Bauer, “Race,” Normativity and the History of Sexuality. 27 Siehe z. B. Paul Ziche (Hg.), Monismus um 1900. Wissenschaftskultur und Weltanschau­ ung, Berlin 2000; Richard Weikart, »Evolutionäre Aufklärung«? Zur Geschichte des Monistenbundes, in: Mitchell G. Ash/Christian H. Stifter (Hgg.), Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit. Von der Wiener Moderne bis zur Gegenwart, Wien 2002, 131–145.

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che »Ersatzreligion« abzutun,28 würde den Blick auf ihren atheistisch-frei­ denkerischen Impetus und ihre Verwurzelung in der wilhelminischen Alter­ nativkultur verstellen. Die Opposition zu den christlichen Kirchen leitete sich aus der Überzeugung ab, dass die Naturwissenschaft die einzig legitime (Welt-)Erklärungsinstanz darstelle. Der aus heutiger Sicht naive Positivis­ mus dieser Bewegung, den Hirschfeld zeitlebens teilte, ist zweifellos zu problematisieren, muss aber im Kontext der ideologischen Debatte über die Evolutionstheorie beurteilt werden. An dieser Stelle ist festzuhalten, wie wichtig für Hirschfeld das professionelle Selbstverständnis als Arzt und Naturforscher war. Seine Identifikation als »deutscher« Arzt manifestiert sich besonders in seinen Kriegsschriften, denn der Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 rief bei ihm, wie bei vielen seiner Zeitgenos­ sen, heftige patriotische Gefühle und Loyalitätsbekundungen hervor.

Warum hassen uns die Völker? In den ersten beiden Kriegsjahren trat Hirschfeld mit zwei »kriegspsycholo­ gischen« Schriften an die Öffentlichkeit, die nicht so recht zum Bild des reformorientierten »Dissidenten« passen wollen. Angesichts der patrioti­ schen, teils offen chauvinistischen Äußerungen insbesondere im ersten der beiden Texte stellt sich die Frage, wie ernst diese möglicherweise eher situa­ tiv bedingten Aussagen zu nehmen und wie sie in Hirschfelds Denken einzu­ ordnen sind.29 Hierfür erscheint ein Abgleich mit später vertretenen Positio­ nen sinnvoll, um einschätzen zu können, ob und inwiefern Hirschfeld in den Kriegsjahren einen Prozess des Umdenkens durchgemacht hat. Die erste Kriegsschrift mit dem plakativen Titel Warum hassen uns die Völker? erschien Anfang des Jahres 1915, wurde also unmittelbar nach Kriegsbeginn verfasst.30 Hirschfeld unternahm darin eine »volkspsychologi­ sche« Aufarbeitung der Kriegsursachen, da ihm, so unterstrich er, als »Naturforscher« dieser Ansatz näher liege als die politischen Erklärungen der »Geschichtsforscher«, wie sie beispielsweise von Treitschke, dem er die titelgebende Problematik entliehen hatte, versucht worden war. In der erkenntnisleitenden Frage »Warum haßt man uns, trotzdem wir die Ange­ griffenen sind, trotzdem Recht, Mäßigung und Menschlichkeit auf unserer 28 Siehe Dose, Magnus Hirschfeld, 34; Herzer, Magnus Hirschfeld, 19. 29 Wolff, Magnus Hirschfeld, 161–164; Becker, Tragik eines deutschen Juden. 30 Im Dankschreiben des bayerischen Königs Ludwig II., dem Hirschfeld diese Schrift bezeichnenderweise zukommen ließ, wird als Eingangsdatum der 2. Januar 1915 genannt, siehe Wolff, Magnus Hirschfeld, 162.

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Seite stehen?« schwang nicht nur die von der deutschen Propaganda geschürte Überzeugung mit, dass Deutschland diesen Krieg aus Notwehr gegen die »Einkreisung« der feindlichen Großmächte führen müsse.31 Viel­ mehr manifestierte sich in ihr auch eine Irritation über den »gewaltigen Deutschenhaß«, der sich in der ausländischen Presse verbreite32 – so etwa über das in der alliierten Propaganda oft verwendete Motiv der Deutschen als »Hunnen« und »teutonische Barbaren«.33 Es verwundert nicht, dass Hirschfeld angesichts dieser Feindseligkeiten irritiert reagierte, hatte er in den Vorkriegsjahren doch viele Anliegen jener zivilgesellschaftlichen Kräfte geteilt, die »auf Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen hinzielten« und die um die Jahrhundertwende tatsächlich zunehmend transnational ver­ netzt waren.34 Auch fand die grenzüberschreitende wissenschaftliche Koope­ ration vor 1914 in seiner Schrift Erwähnung, wobei der medizinische Welt­ kongress 1913 in London einen ebenso bleibenden Eindruck bei Hirschfeld hinterlassen zu haben schien wie der Besuch eines Vorläuferkongresses 1894 in Rom.35 Das Aufflackern des internationalistischen Geistes der Vorkriegsjahre war indes nur von kurzer Dauer. Hirschfeld entfaltete in seinem Text die gängi­ gen Argumente der deutschen Kriegspropaganda und bediente sich dabei – trotz seiner Empörung über die alliierte Grobschlächtigkeit – eines nicht minder chauvinistischen Repertoires. In seinem Versuch, die tieferen Ursa­ chen des Krieges zu erklären, benannte er drei Faktoren, nämlich Massen­ suggestion, Missgunst und Unwissenheit aufseiten der Feinde. Reflexionen über die deutsche Mitschuld an der Eskalation des Konflikts sucht man in diesem Text vergebens. Stattdessen argumentierte Hirschfeld, dass für den verbreiteten »Deutschenhaß« insbesondere der »Verleumdungsfeldzug« aus­ ländischer Zeitungen ausschlaggebend sei, der sich unter dem Einfluss des britischen »Nachrichtenmonopols« zu einer »gezielten Suggestion« anti­ deutscher Ressentiments in der »Massenpsyche« der gegnerischen Nationen

31 Magnus Hirschfeld, Warum hassen uns die Völker?. Eine kriegspsychologische Betrach­ tung, Bonn 1914, 5, 10 und 19. 32 Ebd., 3 und 9. 33 Ebd., 5 und 28. 34 »Es sei […] an den Kampf gegen Alkoholismus und Tuberkulose, an die Bewegungen für eine Weltsprache, für das Frauenstimmrecht, an die interparlamentarischen Konferenzen, die internationale Arbeiterbewegung und schließlich auch an die Friedenskongresse erin­ nert.« Ebd., 4. Siehe für eine globalhistorische Aufarbeitung solcher sozial- und gesund­ heitspolitischen Reformkampagnen Judith Große/Francesco Spöring/Jana Tschurenev (Hgg.), Biopolitik und Sittlichkeitsreform. Kampagnen gegen Alkohol, Drogen und Pros­ titution 1880–1950, Frankfurt a. M. 2014. 35 Beide Anlässe werden auch in seinem persönlichen Rückblick zum 25-jährigen Bestehen des WhK erwähnt. Hirschfeld, Von einst bis jetzt, 181–192.

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ausgewachsen habe.36 In Übereinstimmung mit der offiziellen deutschen Sichtweise baute Hirschfeld England als treibende Kraft hinter dem Konflikt auf, das um seine »Welt- und Seegeltung« gefürchtet habe.37 Dem engli­ schen König sei es gelungen, »ein europäisches und außereuropäisches Land nach dem anderen vor seinen Wagen zu spannen, indem er ihm ›einredete‹, d. i. suggerierte, es drohe ihm Unheil vom Deutschen Reiche, nebenbei gesagt, seines Vaters Vaterland«.38 So habe England etwa Brasilien, Japan und Belgien gegen Deutschland aufbringen können, wobei der deutsche Ein­ marsch in Belgien als ein Akt der Notwehr zu begreifen sei.39 Sogar der Hass des »Erbfeindes« Frankreich wird weniger auf die Nachwirkungen des Deutsch-Französischen Krieges als auf die englische Manipulation zurück­ geführt.40 Noch chauvinistischer wird Hirschfelds Sprache bei der Darle­ gung der Haltung Russlands, das sich besonders leicht den englischen Ein­ flüsterungen ergeben habe, da, so Hirschfeld, dort ohnehin ein Hass auf »den deutschen Kulturbringer« als »Inbegriff des überlegenen Fremden« bestanden habe.41 Hirschfeld empörte sich auch darüber, dass nun »aus fernsten Ländern wilde und halbwilde Völkerschaften gegen uns aufgerufen werden«, oder an anderer Stelle, dass »Germanen, Romanen und Slaven […] uns Schulter an Schulter mit exotischen Fremdrassen aller Farben« bekämpfen,42 was der zeitgenössischen Rhetorik über den Einsatz von Kolonialtruppen in Europa entsprach.43 Wenngleich seine Sprache an die der rassistischen Debatte der »schwarzen Schmach« gegen die Präsenz afrikanischer Soldaten in den fran­ zösischen Besatzungstruppen der Nachkriegszeit erinnerte, unterschieden sich Hirschfelds Kommentare doch deutlich von dieser völkisch-nationalen Kampagne.44 Hirschfeld ging es hier weniger um eine nationale »Schmach« und eindeutig nicht um eine Bedrohung der »weißen« Frau durch die »wilde« Sexualität der afrikanischen Einheiten, die in diesem Diskurs mit der typischen Überlagerung rassistischer und sexueller Stereotype so domi­ nant war. Vielmehr empörte er sich darüber, dass die Truppen aus aller Welt »von deutschem Wesen und deutscher Art nicht die geringste Ahnung 36 37 38 39 40 41 42 43

Hirschfeld, Warum hassen uns die Völker?, 7 f. und 10–12. Ebd., 14. Ebd., 10. Siehe ebd., 12 und 17. Ebd., 14. Siehe ebd., 14 f. Ebd., 10 und 42. Siehe dazu Christian Koller, »Von Wilden aller Rassen niedergemetzelt«. Die Diskussion um die Verwendung von Kolonialtruppen in Europa zwischen Rassismus, Kolonial- und Militärpolitik (1914–1930), Stuttgart 2001, Teil 2. 44 Vgl. dazu Iris Wigger, Die »Schwarze Schmach am Rhein«. Rassistische Diskriminierung zwischen Geschlecht, Klasse, Nation und Rasse, Münster 2007.

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haben, zum Teil gewiß bisher Deutschland nicht einmal dem Namen nach kannten, so wenig wie den meisten unserer Soldaten die Namen der Sikhs, Gurkhas und Spahis bekannt waren«.45 Hirschfeld deutete hier an, dass Eng­ land den »Deutschenhaß« auch unter den Kolonialtruppen in den eigenen und den französischen Reihen geschürt habe, die keinerlei Bezug zu Deutschland hatten. Gleichwohl evozierte auch der Sexualforscher Bilder einer zunehmend rassistisch interpretierten »Zivilisationsdifferenz« zwi­ schen Europäern und der Bevölkerung der Kolonialgebiete. Über Englands Auftreten als führende Großmacht mokierte sich Hirsch­ feld noch aus einem anderen Grund: Dass England nach dem Einmarsch der Deutschen in Belgien, dem auslösenden Moment der Kriegserklärung, sich nun »entrüstet als Sittenwächter und Tugendrichter auf[spielt]«, sei umso scheinheiliger, als die Empörung von einem Land geäußert werde, das »nach dem Grundsatz ›Macht geht vor Recht‹ sich den vierten Teil der Weltbevöl­ kerung unterworfen hat«.46 Die eigentlichen Ursachen für die »unlustbeton­ ten Affekte«,47 die England gegenüber Deutschland hege, lagen aus Hirsch­ felds psychologisierender Perspektive vielmehr in Neid und Missgunst gegenüber dem Kaiserreich als aufstrebender Großmacht.48 So habe der rasante ökonomische Aufstieg seit der Reichsgründung, den Hirschfeld mit viel Zahlenmaterial belegte,49 England unter Druck gesetzt, das, so führte er weiter aus, seit jeher seine stärksten wirtschaftlichen Konkurrenten mit Krieg überzogen habe.50 Die deutsche Präsenz in der Welt aufgrund der gewachse­ nen Handels- und Kriegsflotte, aber auch bedingt durch Reisen deutscher Staatsbürger, habe am englischen Selbstverständnis, führende Weltmacht zu sein, gerüttelt.51 Zu diesem britischen Selbstverständnis gehöre, und dies identifizierte Hirschfeld als dritten Faktor des »Deutschenhaßes«, eine Atti­ tüde selbstgefälliger Ignoranz gegenüber allen »Nichtengländern«. Exempla­ risch hierfür nannte er die fehlenden Fremdsprachenkenntnisse des britischen Außenministers.52 Die Unwissenheit der Engländer über die Deutschen, für die Hirschfeld den britischen Kriegs- und Justizminister Haldane als Kron­ zeugen zitiert,53 habe zu fatalen Missverständnissen bezüglich der friedli­

45 Hirschfeld, Warum hassen uns die Völker?, 10. 46 Ebd., 18. 47 Die Arbeit mit diesem Begriff könnte ein Hinweis auf Einflüsse der Psychologie Alfred Adlers sein, der in der ersten Ausgabe der von Hirschfeld herausgegebenen Zeitschrift für Sexualwissenschaft einen Artikel veröffentlichte. 48 Siehe Hirschfeld, Warum hassen uns die Völker?, 18. 49 Siehe ebd., 19–24. 50 Ebd., 17. 51 Ebd., 26 f. 52 Ebd., 37. 53 Ebd., 36 f.

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chen deutschen Absichten geführt.54 Nun selbst in den Ton nationaler Selbst­ gefälligkeit verfallend, pries der Sexualforscher den »Prachtbau des neuen deutschen Reiches«,55 dessen neuer Weltgeltung nur mit Antipathie begegnet worden sei: »Lieben konnten die Völker den Emporkömmling nicht, das ging über ihre Kraft, darum haßten sie ihn.«56 Hirschfeld beschwor abschließend das nationale Gemeinschaftsgefühl und zeigte sich beeindruckt von der »großartige[n] Geschlossenheit und Ent­ schlossenheit«,57 die sich bei Kriegsausbruch manifestiert habe, als »alle Kreise, ausnahmslos von gleichem Pflichtgefühl und gleicher Freudigkeit beseelt, ihr Bestes zu opfern bereit waren«.58 In seiner Rede vom »Zusam­ menwachsen« der Deutschen zu einem »einheitlichen Organismus höherer Ordnung« ebenso wie im Aufrufen der »schwer überwindbare[n] Gegen­ sätz[e] der Volksseele«59 zeichnete sich ein der deutschen Romantik entlehn­ tes Nationalgefühl ab, das an Herders organizistische Vorstellung der Völker als »natürlich« gewachsene Einheiten erinnert – auf Herder verwies auch der Begriff »Volksseele«, die sich im kulturellen Schaffen eines Volkes, insbe­ sondere aber in seiner Sprache ausdrücke. Ferner lehnte Hirschfeld sich mit seiner völkerpsychologischen Betrachtung (zumindest implizit) an den deut­ schen Psychologen Wilhelm Wundt an, dessen Konzept der Völkerpsycho­ logie sich der Untersuchung von aus der kollektiven Psyche entsprungenen Kulturerscheinungen der »Völker« widmete. Dem romantischen Verständnis folgend definierte Hirschfeld die deutsche Nation als »kulturschaffende Gemeinschaft« und führte deutsche Musik, Philosophie und Wissenschaft gegen den alliierten Vorwurf der Unzivilisiertheit ins Feld.60 Dabei deutete er unter Berufung auf Fichte die vermeintliche Unkultiviertheit der Deut­ schen, positiv gewendet, als »Ursprünglichkeit«, die sich aus der germani­ schen Unabhängigkeit von romanischen Einflüssen ergeben habe.61 Es ist angesichts eines zunehmend biologisch-rassentheoretisch begründeten Anti­ semitismus einleuchtend, dass sich in Hirschfelds Text keine Definition der Nation als »rassische« Einheit fand, sondern stattdessen die romantische Tradition einer deutschen »Kulturnation« aufgerufen wurde. Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass Hirschfeld bei seiner Bezugnahme auf wichtige Stimmen des deutschen Nationalismus wie Fichte oder Treitschke deren antisemitische Äußerungen ignorierte.62 54 55 56 57 58 59 60 61 62

Siehe ebd., 38 und 35. Ebd., 16. Ebd., 35. Ebd., 29. Ebd., 39. Ebd., 43 und 34 (Hervorhebung im Original). Ebd., 42 und 27 f. (Hervorhebung im Original). Siehe ebd., 34 f. Becker, Tragik eines deutschen Juden, 210.

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Diese Beobachtung führt zurück zur Ausgangsfrage nach Hirschfelds Motiven für diesen national-chauvinistischen Text. Die mehrfache Beschwö­ rung der einigenden Wirkung des Krieges bietet hier einen ersten Erklä­ rungsansatz. Sein Enthusiasmus für eine Überwindung innerer Differenzen durch die Geschlossenheit von allem, »was deutsch fühlt, denkt, spricht und handelt […] – ganz abgesehen davon, wie jemand sonst sein Vaterland ver­ bessert sehen möchte«,63 spiegelt die Hoffnung des Außenseiters auf Integ­ ration in die deutsche Gesellschaft wider. In der Forschung wird der plaka­ tive Patriotismus dieses Textes vor allem als Loyalitätsbekundung eines »assimilierten, reaktiv überidentifizierten deutschen Juden«64 sowie als Aus­ druck der Hoffnung vieler deutsch-jüdischer Bürger gedeutet, den Antisemi­ tismus mit einer besonders ausgeprägten Opferbereitschaft im Krieg wider­ legen zu können. Eine solche Reaktion stehe beispielhaft für den spezifisch deutschen Fall, wo im Unterschied etwa zu Frankreich die jüdische Emanzi­ pation an die Assimilation gebunden gewesen sei. Dies habe zu einer ausge­ prägten Identifikation mit dem Liberalismus und der bürgerlichen Demokra­ tie geführt, die auch bei Hirschfeld offenbar werde.65 Doch ist der Inhalt der Schrift nicht weniger auf dessen Einsatz für die Emanzipation der Homose­ xuellen zurückzuführen, wobei die Strategie eine ganz ähnliche war: Der Weltkrieg bot nicht nur jüdischen, sondern auch homosexuellen Männern die Gelegenheit, sich stereotypisch zugeordneten Attributen wie Schwäche, Feigheit oder Effeminiertheit zu widersetzen – soweit zumindest die Hoff­ nung. Entsprechend war Hirschfelds WhK während des Krieges bemüht, seine Mitglieder an der Front moralisch zu unterstützen; laufend brachte er Beiträge über deren heroische Taten.66 Der Vorstand des WhK entschied sich damit entgegen seiner sonstigen Linie – dem Einsatz für Frieden und kultur­ ellen Fortschritt – für die Loyalität zu seinen Mitgliedern an der Front: Kri­ tik am Krieg wurde damit auch intern zurückgestellt. Obwohl Hirschfeld mit seiner Propagandaschrift den vom Kaiser innenpo­ litisch verordneten »Burgfrieden« insgesamt willig befolgte, geben manche Stellen Hinweise auf eine zumindest untergründig vorhandene kritischere Haltung. Hierzu zählen beispielsweise Bemerkungen zur Notwendigkeit von Reformen im Deutschen Reich nach dem Krieg, die einstweilen aufge­

63 64 65 66

Siehe Hirschfeld, Warum hassen uns die Völker?, 42 und 39. Siehe Becker, Tragik eines deutschen Juden, 210. Ebd., 211–213. Siehe dazu Wolff, Magnus Hirschfeld, 157–166. Hirschfeld selbst wurde während des Krieges verschiedentlich als Gutachter in Fällen von Homosexualität und Crossdressing in der Armee herangezogen. Siehe Dose, Magnus Hirschfeld, 59 f. Auf diese Erfahrungen ging wohl der Fragebogen zurück, der das Basismaterial für die spätere zweibändige Stu­ die Sittengeschichte des Weltkriegs (1930) bildete.

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schoben werden müssten.67 Aufschlussreich ist vor allem eine lange Fußnote zu der nachdenklichen Passage über das Blutvergießen, die ein subversives Moment enthält.68 Zur Veranschaulichung der »Höllenschrecken« dieses Krieges zitierte Hirschfeld hier eine längere Passage aus Émile Zolas Roman Arbeit (1901). Dass der Sexualwissenschaftler auf den Wegbereiter des fran­ zösischen Naturalismus rekurrierte, der sich nicht nur öffentlich gegen Anti­ semitismus, sondern auch gegen Homophobie aussprach,69 ist nicht weiter erstaunlich, zumal er selbst Kontakte zu Berliner Dichtern dieser Bewegung unterhielt.70 Die brutalen Gemetzel, die Zola in seinem Werk mit einem klaren Gespür für die latenten Spannungen des europäischen Hochimpe­ rialismus beschreibt, erwiesen sich allerdings als Geburtswehen einer »Gesellschaftsordnung der Zukunft«, die den eigentlichen Gegenstand des Romans ausmacht. Die Tatsache, dass Hirschfeld hier Zolas Utopie einer sozialistischen Gesellschaft aufruft, ist angesichts der reaktionären politi­ schen Verhältnisse im Kaiserreich bemerkenswert und lässt Zweifel an der im Haupttext so prägnant aufscheinenden Solidarität gegenüber Kaiser und »Vaterland« aufkommen. Der Schluss des Zitats verweist einerseits auf Hirschfelds Sympathie für die wissenschaftlich-technologische Dimension der sozialen Utopie Zolas, enthält aber auch ein Bekenntnis zum Frieden: »[U]nd die Menschen sahen, dass der Krieg fortan unmöglich war, ange­ sichts der Allmacht der Wissenschaft, die dazu bestimmt war, das Leben zu fördern und nicht den Tod.«71 Obgleich das Bekenntnis zum Frieden und einer »neuen Ordnung« ein anderes Licht auf Hirschfelds patriotische Propagandaschrift wirft, kann sein Text nicht als einmaliges Versehen abgetan werden. Auch nach dem Krieg äußerte er sich ähnlich kritisch über die Ignoranz und die antideut­ schen Ressentiments der Briten, wenngleich ohne die polternde Rhetorik der ersten Kriegsmonate.72 Ebenso könnte seine in späteren Jahren vorgebrachte, sachlicher formulierte Kritik am britischen Kolonialismus aufgeführt wer­ den, die in Weltreise eines Sexualforschers (1933) verschiedentlich zum Ausdruck kommt.73 Ohne Zweifel spielten – ob bewusst oder unbewusst – 67 Hirschfeld, Warum hassen uns die Völker?, 17, 39 und 42. 68 Siehe ebd., 41 f. 69 Zola hatte sich mit seinem offenen Brief J’accuse (1898) nicht nur gegen den Antisemitis­ mus der französischen Regierungskreise gerichtet, sondern mit seinem Vorwort zur medi­ zinischen Abhandlung Perversion et perversité sexuelles (1896) von Dr. Laupts (Pseudo­ nym von Georges Saint-Paule) auch zur Strafverfolgung von Homosexuellen Stellung bezogen. Siehe hierzu auch Hirschfeld, Von einst bis jetzt, 98–100. 70 Siehe Dose, Magnus Hirschfeld, 48 f. 71 Ebd., 42. 72 Hirschfeld, Von einst bis jetzt, 182 f. 73 Siehe ders., Die Weltreise eines Sexualforschers, 208 f. und 231; siehe auch ausführlich Lang, Sexualwissenschaften auf Reisen, sowie Fuechtner, Indians, Jews, and Sex.

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die Hoffnungen des mehrfach Marginalisierten auf Integration in das »Volkskollektiv« des Deutschen Kaiserreiches bei der Entstehung dieser Loyalitätsbekundung eine gewichtige Rolle. Dennoch scheint Hirschfelds Patriotismus nicht erst durch den Krieg hervorgerufen worden zu sein. Er ist vielmehr die Konsequenz seiner Herkunft aus einer assimilierten jüdischen Familie und seiner Verwurzelung im bürgerlich-liberalen Milieu, die sich nicht zuletzt in der von ihm gewählten Berufslaufbahn, der des Arztes, aus­ drückte. Seine Verankerung in der Alternativkultur der Jahrhundertwende und sein unbestritten mutiges Engagement gegen die Strafverfolgung Homo­ sexueller lassen eine progressive und nonkonformistische Haltung erkennen – ihn politisch als »Radikalen« einzuordnen, wäre dennoch verfehlt. Dement­ sprechend fällt ein offenes Bekenntnis zum Sozialismus, wie noch zu zeigen sein wird, erst in die Revolutionszeit von 1918/19,74 also in Hirschfelds rei­ fere Lebensphase. Angesichts der Identifikation Hirschfelds mit der deut­ schen Kriegsführung in den ersten Kriegsmonaten erscheinen seine später vertretenen Positionen allerdings auch als Ausdruck einer ernsthaften Ausei­ nandersetzung mit seinen politischen Werten.

Kriegspsychologisches Als erstes Dokument dieses Umdenkens kann bereits Hirschfelds zweite Kriegsschrift Kriegspsychologisches gelten, die 1916 erschien. Der nach­ denklichere Ton dieses Textes bringt die deutliche Ernüchterung seines Autors zum Ausdruck. Gleich im ersten Abschnitt distanzierte Hirschfeld sich von einer weitverbreiteten Glorifizierung des Krieges als »Läuterung der Seele«, die er angesichts des unfassbaren Ausmaßes des Leids – das er bei allen beteiligten Parteien erkennt – für zynisch hält.75 Er griff auf Gespräche mit Soldaten, Gefangenen, Flüchtlingen und Angehörigen zurück, die er während seiner Tätigkeit als Arzt des Roten Kreuzes geführt hatte. Trotz dieser Einsichten fällt seine Bewertung der Frage nach der Kriegsschuld noch immer moderat, fast könnte man sagen zahm aus, obwohl in Deutschland unterdessen von linker Seite eine kritische Debatte in Gang gekommen war. Hirschfeld ergeht sich demgegenüber in sehr allgemeinen Aussagen darüber, dass nun niemand die Verantwortung für das Blutvergie­ ßen übernehmen wolle.76 Kaiser Wilhelm II. selbst, dessen Militarismus bereits vor dem Krieg Gegenstand von Spott und Kritik gewesen war, sprach 74 Siehe auch Herzer, Magnus Hirschfeld, 27 f. 75 Siehe Magnus Hirschfeld, Kriegspsychologisches, Bonn 1916, 3 und 14. 76 Ebd., 4.

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Hirschfeld jedenfalls von aller Schuld frei.77 Man mag dies als Zugeständnis an die Zensurbestimmungen während des Krieges betrachten, dennoch las­ sen sich hierin auch Motive einer angedeuteten Rechtfertigung seiner eige­ nen unkritischen Haltung bei Kriegsausbruch finden.78 Noch immer ist von »Englands [beträchtlichem] psychologischen Anteil am Weltkrieg« die Rede,79 doch die frühere chauvinistische Überheblichkeit fehlt in diesem Text. Aus »biologischer«, insbesondere »psychologischer« Perspektive, so Hirschfeld, müsse die Frage vielmehr lauten, was und nicht wer schuld am Krieg sei.80 Tatsächlich ging er nicht mehr »volkspsychologisch« vor, son­ dern suchte nach den psychologischen Wurzeln des Krieges in verschiede­ nen Formen der Ekstase, die er als »Rausch- oder Drangzustand« beschrieb. Nur mit dieser tiefgründigen Faszination für das »Dämonische des Krieges« kann sich der Sexualforscher den Ausbruch der Kriegseuphorie erklären, die selbst »wahrhafte Friedensfreunde« ergriff – worunter er vielleicht auch sich selbst gezählt haben mag.81 Das erklärte Ziel, den Krieg langfristig zu über­ winden, sei nur möglich, indem man zu dessen archaischer Faszination durchdringe.82 Dabei hielt Hirschfeld den Kriegsenthusiasten entgegen, dass der Krieg nicht »veredele«, sondern lediglich bereits bestehende Anlagen – im Guten wie im Schlechten – intensiviere. Als Beleg führte er Stimmen aus dem Umkreis der deutschen pazifistischen Bewegung an, namentlich Adolf Penzig, den Herausgeber der Ethischen Kultur, des Organs der gleichnami­ gen Deutschen Gesellschaft für ethische Kultur, und Ellen Paasche,83 die sich öffentlich gegen die Apologetinnen der Läuterungshypothese in den Reihen der konservativen deutschen Frauenbewegung richtete.84 Tatsächlich war Hirschfeld selbst 1915,85 möglicherweise unter dem Ein­ fluss seiner sexualreformerischen Wegbegleiterin Helene Stöcker (1869– 77 Ebd., 4 und 31. 78 Ebd., 10: »So wenig heute Angriffskriege einen Widerhall in der Brust kultivierter Men­ schen finden, so sehr erwacht in der Überzeugung von der Not, Notwehr und Notwendig­ keit der kriegerische Geist. Aus der äußeren Notwendigkeit eines Krieges – gleichviel ob wirklicher oder vermeintlicher – ergibt sich die innere Notwendigkeit, an ihm teilzuneh­ men.« (Hervorhebungen im Original.) 79 Ebd., 8–10 und 23. 80 Ebd., 7 und 25. 81 Siehe ebd., 11 (Hervorhebung im Original). 82 Ebd., 12. 83 Paasche war die Ehefrau des zum Pazifismus übergelaufenen Marineoffiziers Hans Paa­ sche, der 1916 dem Bund Neues Vaterland beigetreten war. 84 Hirschfeld, Kriegspsychologisches, 13. 85 Sein Name findet sich auf der Mitgliederliste vom Herbst 1915, nicht jedoch auf der Tafel der ersten Mitglieder von 1914. Siehe Otto Lehmann-Russbüldt, Der Kampf der Deut­ schen Liga für Menschenrechte vormals Bund Neues Vaterland für den Frieden 1914– 1927), Berlin 1927, 7 und 141.

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1943),86 dem pazifistischen Bund Neues Vaterland (BNV) beigetreten, der sich durch Kontakte zu Regierungsvertretern und internationalen Friedens­ organisationen sowie mit Flugschriften aktiv für den Frieden einsetzte.87 Mit der promovierten Philosophin und radikalen Feministin Stöcker, Vorstands­ mitglied des Deutschen Bundes für Mutterschutz und Herausgeberin dessen Organs Die neue Generation,88 hatte Hirschfeld bereits vor dem Krieg im Kontext seines Wirkens für eine umfassende Sexualreform eng zusammen­ gearbeitet.89 Als eine der ersten Frauen war Stöcker 1911 dem WhK anläss­ lich der drohenden Ausweitung der Strafverfolgung auf weibliche Homose­ xuelle beigetreten. Während des Krieges war die überzeugte Pazifistin ein aktives Mitglied des BNV und verschiedener internationaler Verbände.90 Hirschfelds erster öffentlicher Auftritt für den BNV fand zwar erst in der Revolutionszeit statt, dennoch kann man seinen Beitritt zu dieser Organisa­ tion bereits als Zeichen eines Sinneswandels werten. Spuren davon finden sich auch in seiner zweiten Kriegsschrift. Exempla­ risch sind in diesem Zusammenhang Hirschfelds Ausführungen zum »Wan­ derrausch« zu nennen. Er wird als tief liegende, eskapistische Sehnsucht nach fremden Ländern beschrieben, die der einfache Soldat jenseits des Krieges nie hätte bereisen können. Die eigentliche Traumdestination in Hirschfelds Aufzählung ist »das märchenhafte Morgenland, […] Bagdad, [die sagenhafte] Gegend des Paradieses und der Geschichten aus ›tausend­ undeiner Nacht‹«.91 Die hier angeführten Sehnsuchtsorte, die seit dem orien­ talistischen Diskurs der Romantik einen festen Platz auf der kognitiven Landkarte der Europäer einnahmen,92 blieben auch in Zeiten des Hochimpe­

86 Siehe Wolff, Magnus Hirschfeld, 239; Dose, Magnus Hirschfeld, 60. 87 Siehe dazu die zeitgenössische Perspektive in Lehmann-Russbüldt, Der Kampf der Deut­ schen Liga für Menschenrechte, 9–86. 88 Zu Stöcker siehe Gudrun Hamelmann, Helene Stöcker, der »Bund für Mutterschutz« und »Die Neue Generation«, Frankfurt a. M. 1992. Allgemeiner zu Frauen in der deutschen Sexualreform siehe Atina Grossmann, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform, 1920–1950, New York 1995; Kirsten Reinert, Frauen und Sexualreform 1897–1933, Herbolzheim 2000. 89 Siehe hierzu Wolff, Magnus Hirschfeld, 86–99. Zu seiner Zusammenarbeit mit feministi­ schen Sexualreformerinnen siehe auch Usborne, Geburtenkontrolle in der Weimarer Republik und Magnus Hirschfelds widersprüchliche Interessen; Grossmann, Magnus Hirschfeld. 90 Siehe dazu Regina Braker, Helene Stöcker’s Pacifism. International Intersections, in: Peace & Change 23 (1998), 455–465. 91 Hirschfeld, Kriegspsychologisches, 17. 92 Siehe dazu als Klassiker Edward W. Said, Orientalism, London 1978, der auch den deut­ schen Orientalismus der Romantik behandelt; zu einer Revision des fruchtbaren, wenn­ gleich von verschiedener Seite kritisierten Konzepts siehe ders., Afterword to the 1995 Printing, in: ders., Orientalism, London-Harmondsworth 1995.

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rialismus ein wichtiger Bestandteil europäischer Kolonialfantasien,93 wenn­ gleich ein rassistisch-abwertender Differenzdiskurs die Oberhand gewann. Umso bemerkenswerter ist, dass Hirschfeld dieses Bild nun umkehrt und die Anekdote eines »Gurkha namens Gull Khan« erzählt, der seinem Verwand­ ten in einem Brief aus ganz ähnlichen Gründen den Eintritt in die »indische Armee« empfohlen habe.94 Die in der ersten Kriegsschrift noch als »wilde und halbwilde Völkerschaften« titulierten Gurkhas, die in den Reihen der britischen Armee kämpften, bekommen hier ein Gesicht. Sie dienen der Illustration einer universalen Faszination für das Fremde, die sich in keiner Weise von der Begeisterung deutscher Soldaten für ihren Einsatz im – ungleich näher gelegenen – deutschen Sehnsuchtsland Italien unterscheide. Dieses Bedürfnis sei umso wichtiger, als das Kennenlernen »[der] Fremden als Menschen« und »[der] Fremde als Land« dem kriegerischen Impuls ent­ gegenwirken könne.95 Auch Hirschfelds Ausführungen zum »Gemein­ schafts- und Verbrüderungsrausch« zeigen eine gewisse Distanziertheit zu früheren Aussagen. Wie willkürlich die Identifikation mit der eigenen Gruppe sei, zeige sich etwa an den Verbrüderungsszenen, die in den seltenen Feuerpausen an der Front zu beobachten waren.96 Das Fatale am Krieg sei eben, dass die Individualität zugunsten der Nationalität zurücktrete, obwohl der Einzelne unter Umständen sein Leben für die abstrakte Vorstellung des »Vaterlands« opfere. Als Beispiel für die folgenschwere Übertragung von Vorurteilen auf ganze Völker verwies Hirschfeld auf den Antisemitismus – in seinen Schriften eine seltene Ausnahme. Wie ernst Hirschfeld es mit solchen panhumanistischen Aussagen war, zeigt eindrucksvoll der letzte Abschnitt seiner Kriegspsychologie. Aus­ gehend von Rudolf Virchows (1821–1902) Metapher vom Menschen als »Zellenstaat«, die im Übrigen eindeutig republikanisch konnotiert war,97 entfaltete Hirschfeld die »entwicklungsgeschichtliche« Teleologie der Verei­ nigung der Zellenstaaten zum »einheitlichen Organismus« eines Volkes. Diese Zusammengehörigkeit aufgrund von gemeinsamer »Heimat« und Geschichte, Sprache und Kultur habe ältere Gruppengegensätze wie »Rasse und Klasse, Stand oder Kaste, religiöse oder politische Richtung« in der Ver­

93 Siehe mit Fokus auf die sexuelle Dimension dieses Diskurses Anne McClintock, Imperial Leather. Race, Gender, and Sexuality in the Colonial Contest, New York 1995. 94 Hirschfeld, Kriegspsychologisches, 17: »Erstens hast du die Gelegenheit, eine weite und interessante Reise zu machen, zweitens wirst du fremde Länder und Gebräuche kennen lernen.« 95 Siehe ebd., 17 f. (Hervorhebungen im Original). 96 Ebd., 19. 97 Siehe ausführlich Eva Johach, Krebszelle und Zellenstaat. Zur medizinischen und politi­ schen Metaphorik in Rudolf Virchows Zellularpathologie, Freiburg i. Br./Berlin/Wien 2008.

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gangenheit überwinden können98 – wann dies genau geschehen sein soll, bleibt aber unklar. Im Unterschied zu seiner ersten Kriegsschrift fügte Hirschfeld dieser Aufwärtsentwicklung eine dritte Stufe hinzu: Das eigentli­ che Ziel sei die »Menschheitsgemeinschaft als höchst[e] Entwicklungs­ stufe«.99 Wiederum mit einem klaren Blick für die globalen Verflechtungs­ prozesse der Jahrhundertwende beschrieb der Sexualforscher die bereits begonnene »Vereinheitlichung der Welt« durch »die technische Überwin­ dung von Zeit und Raum«.100 Indikator dieses noch unvollkommenen globa­ len Zusammenwachsens sei neben Welthandel, Weltverkehr und Weltkon­ gressen eben auch der Weltkrieg als »Nachtseite« dieser Entwicklung. Den Krieg wertete Hirschfeld an dieser Stelle sogar als Rückfall in die Zeiten archaischer Zweikämpfe und fand hierfür deutliche Worte, nämlich dass »jeder Krieg ein Zeichen geistiger Armut« sei.101 Mit der zwingenden Not­ wendigkeit, die Hirschfeld wie viele seiner Zeitgenossen derartigen »ent­ wicklungsgeschichtlichen« Prozessen zuschrieb, müsse nun die »Mensch­ heitsgemeinschaft« durch einen nachhaltigen Friedensschluss Wirklichkeit werden.102 Auf einer grundlegenden Ebene sei dafür die Erkenntnis der fundamenta­ len Gleichheit aller Menschen entscheidend, die Hirschfeld hier, wie auch in späteren Texten, mit dem Verweis auf die Universalität der menschlichen Grundbedürfnisse näher erläuterte: »essen, trinken, schlafen, schaffen, lie­ ben, leben und die Seele laben«.103 In dieser Schrift finden sich auch die ers­ ten Nachweise seiner kosmopolitischen Haltung: »Und in der Tat, so gut ein Mensch sich selbst, seiner Familie und seinem Staat genüge tun kann, kann er auch zu gleicher Zeit ein guter Staats- und Weltenbürger sein.«104 Unter dem Eindruck der Weltreise, vor allem aber der Verfolgung durch die Natio­ nalsozialisten, zeichnete sich in späteren Jahren ein Primat der kosmopoliti­ schen gegenüber anderen Partikularidentifikationen ab: »Die Frage: Wohin gehörst Du – was bist du eigentlich? lässt mir keine Ruhe. Formuliere ich die Frage: ›Bist Du ein Deutscher – Jude – oder Weltbürger?‹ so lautet meine Antwort jedenfalls ›Weltbürger‹ oder ›alles drei‹.«105

198 199 100 101 102 103

Hirschfeld, Kriegspsychologisches, 28 f. Ebd., 28. Ebd., 30. Ebd., 29. Ebd., 30. Ebd.; siehe auch ders., Was eint und trennt das Menschengeschlecht?, Berlin 1919, 5 und 9. 104 Ders., Kriegspsychologisches, 31 (Hervorhebung im Original). 105 Ders., Testament, 140; siehe seine Überlegungen zur »Menschheitsassimilation« als höch­ ster Form der Identifikation noch deutlicher in ders., Die Weltreise eines Sexualforschers, 388.

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Um den Gedanken der fundamentalen Gleichheit zu unterstreichen, stellte Hirschfeld pazifistische Stimmen der »Feindmächte« England und Frank­ reich neben die deutschen Vordenker des humanistischen Pazifismus Kant und Herder. Die etwas irritierende Nennung von Wilhelm II. als Beispiel dafür, wie ein Mensch »Liebe zum eigenen und Freundschaft zu anderen Ländern vereinigen kann«,106 ruft in Erinnerung, dass Hirschfeld zu diesem Zeitpunkt keine Zweifel an seiner Loyalität als guter und kaisertreuer Staats­ bürger aufkommen lassen wollte. Dennoch ist sein Wunsch nach Versöh­ nung und der zukünftigen Unmöglichkeit des Krieges nicht als reines Lip­ penbekenntnis zu werten. Als Arzt des Roten Kreuzes knüpfte Hirschfeld auf Reisen in die Schweiz und die Niederlande Kontakte zu pazifistischen Aktivisten im europäischen Ausland.107 In den letzten beiden Kriegsjahren brach sich außerdem eine schärfere Verurteilung des Krieges im Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen Bahn.108 Im Leitartikel der Oktoberausgabe 1917 äußerte sich Hirschfeld schließlich begeistert über die Ereignisse der Russischen Revolution und brachte nicht nur seine Hoffnung auf einen bal­ digen Friedensschluss mit Russland, sondern auch seine Solidarität mit dem russischen Volk zum Ausdruck, das seine Geschicke »unter der Devise: Gleiches Recht für alle« gegen die kriegstreiberische Elite selbst in die Hände genommen habe.109 Mit deutlichen Worten verteidigte Hirschfeld die »naturgegebene Freiheit« der Menschen und zeigte sich nun überzeugt davon, dass der »Freiheitskampf der Völker« zu nachhaltigem Frieden füh­ ren werde.110 Der Prozess dieses politischen Umdenkens gipfelte in der Befürwortung der deutschen Revolution und der neuen Republik, die offenbar nicht erst auf die sich überstürzenden Ereignisse der letzten Kriegswochen zurückzu­ führen ist. Dass Hirschfeld den eingeschlagenen Weg der internationalen Aussöhnung und Kooperation – nicht zuletzt auf seinem eigenen For­ schungsgebiet – auf der Grundlage eines immer klarer formulierten Kosmo­ politismus nach dem Krieg konsequent weiter beschritt, zeigt abschließend ein Blick auf seine Aktivitäten in den unmittelbaren Nachkriegsjahren.

106 Ders., Kriegspsychologisches, 31. 107 Siehe dazu o. A., Situationsbericht, in: Vierteljahrsberichte des Wissenschaftlich-humani­ tären Komitees während der Kriegszeit 18 (1918), 4 und 159–177, hier 162 f. 108 Wolff, Magnus Hirschfeld, 165 f. 109 Magnus Hirschfeld, Aus der Kriegszeit, in: Vierteljahrsberichte des Wissenschaftlichhumanitären Komitees während der Kriegszeit 17 (1917), 4 und 155–158, hier 156 (Her­ vorhebung im Original). Siehe zu Hirschfelds Bewunderung der Sowjetunion und ihrer »fortschrittlichen« Sexualpolitik Mancini, Magnus Hirschfeld and the Quest for Sexual Freedom, 118–120. 110 Hirschfeld, Aus der Kriegszeit, 157 f.

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Revolution, Republik und internationale Aussöhnung Im Rahmen der wieder auflebenden Aktivitäten des BNV, der sich für die Ausrufung einer sozialistischen Republik einsetzte, hielt Hirschfeld am 10. November 1918 auf einer öffentlichen Kundgebung vor dem Reichstags­ gebäude eine Rede.111 Sein kurzer Beitrag, der durch den Kugelhagel einiger Freikorpssoldaten unterbrochen wurde, war ein offenes Bekenntnis zur neuen Ordnung. Nach einer scharfen Kritik an dem inzwischen abgedankten Kaiser äußerte Hirschfeld seine Wertschätzung für die Matrosen, deren Gehorsamsverweigerung die Revolution in Gang gesetzt hatte. Die demo­ kratische Republik, »der wahre Volksstaat«, solle ein sozialistischer sein, wobei er den Sozialismus als Triebkraft der »Weiterentwicklung der Gesell­ schaft zu einem einheitlichen Volksorganismus« verstand – von Vaterland und Muttererde war nicht mehr die Rede. Zugleich beschwor Hirschfeld den Sieg des Internationalismus über den Nationalismus und forderte »Völker­ schiedsgerichte und ein Weltparlament«.112 Sein Aufruf zum Vertrauen in die Übergangsregierung ist ernst zu nehmen, denn Hirschfeld setzte große Hoffnungen in die neue Republik, nicht zuletzt mit Blick auf die Anliegen des WhK.113 Die bereits vor dem Krieg diskutierte Idee eines »Menschheitsstaat[es]« scheint Hirschfeld – wie viele seiner Zeitgenossen aus der pazifistischen Bewegung – nach Krieg und Revolution verstärkt umgetrieben zu haben.114 So greift die im Frühjahr 1919 erschienene Schrift Was eint und trennt das Menschengeschlecht?115 viele Gedanken aus der zweiten Kriegsschrift auf, aber dokumentiert eine deutliche Konkretisierung dieser Ideen. Die ver­ schiedenen Aspekte seiner sozialistisch konzipierten »Weltrepublik im Kan­ tischen […] Sinn« werden in diesem Text ausgeführt, wobei die aktuelle Konstituierung des Völkerbundes lediglich eine Zwischenlösung sein könne, wie Hirschfeld betonte.116 Die eigentliche Grundfrage des Textes, nämlich danach, auf welcher Basis eine solche Vereinigung der Menschheit gelingen 111 Siehe dazu Lehmann-Russbüldt, Der Kampf der Deutschen Liga für Menschenrechte, 81–83. 112 Ein Abdruck der Rede findet sich in Hirschfeld, Situationsbericht, 163 f. 113 Siehe zu den ersten Kontakten zur neuen Regierung ebd., 167–170. 114 Siehe dazu im Hinblick auf das Nachkriegsengagement des BNV Daniel Laqua, Reconci­ liation and the Post-War Order. The Place of the “Deutsche Liga für Menschenrechte” in Interwar Pacifism, in: ders. (Hg.), Internationalism Reconfigured. Transnational Ideas and Movements between the World Wars, London 2011, 209–237. 115 Diesen Text widmete er dem naturalistischen Autor Julius Hart (1859–1930) zum 60. Ge­ burtstag. Der von den Gebrüdern Hart in Berlin begründeten Neuen Gemeinschaft waren Hirschfeld und seine Schwester Franziska Mann bereits 1900 beigetreten; siehe Gross­ mann, Magnus Hirschfeld, 207. 116 Siehe Hirschfeld, Was eint und trennt das Menschengeschlecht?, 12–15.

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könne, führte Hirschfeld bereits zu Überlegungen, die er in Zeiten seines Exils konsequent weiterentwickeln sollte – vor allem im Hinblick auf den Rassenwahn der Nationalsozialisten.117 Da er mit seinen im Jahr 1919 publi­ zierten Reflexionen über die Klassifizierung menschlicher Unterschiede explizit an seine zweite Kriegsschrift anknüpfte, lassen sich die Ursprünge seines antirassistischen Denkens also bereits bis in die letzte Phase des Ers­ ten Weltkriegs zurückverfolgen. Hirschfeld eröffnete diese Reflexionen mit einer Passage zum Gleichheits­ begriff der Französischen Revolution, wobei seine Überlegungen denen, die er Ende 1917 anlässlich der Russischen Revolution publiziert hatte, gli­ chen.118 Das gleiche Recht aller Menschen auf persönliche Entfaltung und Freiheit müsse heutzutage von der »Mannigfaltigkeit« der Menschheit aus­ gehen, da die Naturwissenschaften widerlegt hätten, dass »die einzelnen Menschen gleich, gleich geartet und gleich befähigt seien«.119 Mit dieser auf den ersten Blick befremdlich anmutenden Betonung der menschlichen Unterschiede zielte der Aktivist Hirschfeld auf die Anerkennung der Rechte von Minderheiten ab.120 Die Unterschiede siedelte er wie schon in seiner Zwischenstufenlehre konsequent auf der Ebene des Individuums an und betonte, dass alle übrigen Klassifikationen von Menschen in Stämme, Völ­ ker, Rassen und Klassen wissenschaftlich immer unsicher seien. Sie lösten sich angesichts der realen Vielfalt wieder auf.121 Seine Beobachtung demonstrierte Hirschfeld am Beispiel der Kategorie »Volk«, die für ihn letzt­ lich keine wissenschaftlich bindende Einheit darstelle, da »alle Völker ihrer Abstammung nach mehr oder weniger Mischvölker seien«. Unverfänglicher sei der Begriff »Nation«, der die Herkunft aus einem Territorialstaat be­ zeichne.122 In deutlicher Distanz zu seinen früheren, der deutschen Romantik entlehnten Auffassungen sprach Hirschfeld sich für das Modell der Staats­ bürgernation aus, wenngleich eine gemeinsame Kultur und Geschichte auch hier weiterhin von Bedeutung waren. Eine so definierte Gemeinschaft, die sich aus ganz unterschiedlichen Individuen und Gruppen zusammensetze, besitze, so Hirschfeld, jedoch eine große Integrationskraft, sodass sehr

117 Siehe dazu Herrn, »Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr«; Becker, Tragik eines deutschen Juden; H. Bauer, “Race,” Normativity and the History of Sexuality. 118 Hirschfeld, Aus der Kriegszeit, 157. 119 Ders., Was eint und trennt das Menschengeschlecht?, 3. 120 Siehe dazu expliziter ders., Aus der Kriegszeit, 157: »Heute« gründe sich derselbe Ruf nach Freiheit auf die »richtigere Auffassung, daß die Menschen voneinander sehr ver­ schieden sind in ihren Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Verfassungen, daß aber gerade darum allen die Möglichkeit gewährleistet sein müsse, sich in ihrer Persönlichkeit frei zu entfalten.« (Hervorhebungen der Verfasserin). 121 Hirschfeld, Was eint und trennt das Menschengeschlecht?, 4 f. 122 Siehe ebd., 6.

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schnell eine Anpassung an die gemeinsame Umgebung stattfinde. Diese schrieb Hirschfeld dem »Gesetz« der Mimikry zu, ein Begriff, den er hier im Sinne eines sozialen Anpassungsdrucks gebraucht.123 Diese Aussagen, die seine später formulierten Überlegungen zur Assimilation bereits vorweg­ nehmen,124 werden an dieser Stelle am Beispiel der Vereinigten Staaten als dem Einwanderungsland schlechthin illustriert. Auch soziokulturelle Unter­ schiede wie Sprache, Religion oder Klasse verlören letztlich aufgrund der fundamentalen menschlichen Gleichheit, die als »biologischer Sozialismus« bezeichnet wird, an Gewicht.125 Hirschfelds Argumentation widerspricht keineswegs dem Postulat unendlicher Diversität, die er in seinem Text beim Individuum ansiedelte: »Wahre Naturforschung und wahre Sittlichkeit kennt überhaupt nur zweierlei: Mensch und Menschheit. Alles, was dazwischen liegt, ist künstlich und hemmend.«126 Wie wenig solche Ansichten der vorherrschenden Meinung entsprachen, zeigt bereits Hirschfelds Beschäftigung mit dem möglichen Einwand, dass ein solcher »Menschheitsstaat« nur für die »weiße Rasse« funktionieren könne, »nicht aber für die farbigen Rassen, die gelben und schwarzen Völ­ ker, die nach alter Überlieferung als unterlegen und untergeordnet betrachtet werden«.127 Diese Passage deutet auf ein eurozentrisches und rassistisches Verständnis »der Welt« hin, das von vielen – wenngleich nicht allen – Befür­ wortern eines kosmopolitischen Internationalismus geteilt wurde.128 Hirsch­ feld selbst relativierte zwar die Annahme einer zivilisatorischen Differenz, da der Unterschied »zwischen den Natur- und Kulturvölkern, zwischen Far­ bigen und Weißen bei weitem nicht so groß« sei wie gemeinhin angenom­ men, doch die Tatsache, dass er hier nicht radikaler auf das Argument der fundamentalen Gleichheit zurückgriff und weiter mit überkommenen Klas­ sifikationen operierte, verweist auf die Grenzen seines eigenen Antirassis­ mus.129 Der Kommentar, dass eine »objektiv[e] vorurteilslos[e] Prüfung« der Unterlegenheitstheorie noch nicht erfolgt sei, deutet außerdem darauf hin, 123 124 125 126 127 128

Ebd., 6 f. Siehe ders., Die Weltreise eines Sexualforschers, 361 f. Siehe dazu ders., Was eint und trennt das Menschengeschlecht?, 9. Ebd., 12 (Hervorhebung im Original). Ebd., 14. Zu den sich daraus ergebenden Grenzen des damaligen Kosmopolitismus siehe Robert John Holton, Cosmopolitanism or Cosmopolitanisms? The Universal Races Congress of 1911, in: Global Networks 2 (2002), H. 2, 153–170. 129 Wie kürzlich in einer detaillierten Untersuchung seines Aufenthalts in Indien gezeigt wurde, bildete Hirschfelds Faszination und Neugierde bezüglich der menschlichen Diver­ sität das Einfallstor für tief verwurzelte Klischees über andere Kulturen. Siehe Fuechtner, Indians, Jews, and Sex. So bediente Hirschfeld sich in seinen ethnografischen Reisebe­ schreibungen teilweise einer Rhetorik, die, wenngleich sie Unterschiede bevorzugt auf der soziokulturellen Seite verortete, essentialistisch blieb.

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dass Hirschfeld als Positivist an der zweifelhaften Trennung von wissen­ schaftlicher Rassentheorie und Rassismus festhielt und dadurch das norma­ tive Fundament, die historische Bedingtheit und auch die politische Funk­ tion dieser Theorien verkannte.130 Auch für den Wissenschaftler und Sexualreformer Hirschfeld hatte sein politisches Bekenntnis zu Pazifismus und Internationalismus Folgen. So lässt sich die von ihm in den Nachkriegsjahren forcierte transnationale Kooperation auf seinem Fachgebiet auf die Erfahrung der verheerenden Katastrophe des Weltkriegs zurückführen. Tatsächlich hatte er sich bereits vor dem Krieg punktuell über die Grenzen des Deutschen Reichs hinaus mit Gleichgesinnten vernetzt. Auf dem Londoner Ärztekongress 1913 beispiels­ weise war es zu einem Treffen mit niederländischen und britischen Kollegen gekommen, darunter den Pionieren der englischen Sexualwissenschaft Edward Carpenter (1844–1929) und Havelock Ellis (1859–1939). Bei dieser Zusammenkunft regte Hirschfeld die Gründung einer Reformgruppe nach Vorbild des WhK an.131 Geleitet von der Überzeugung, dass eine nachhaltige Aussöhnung unabdingbar sei, verstärkte er solche Bemühungen nach dem Krieg systematisch, beispielsweise mit der Organisation der Ersten interna­ tionalen Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage, die im September 1921 in Berlin stattfand. Die Planung und Umsetzung erfolgte bereits unter dem Dach des Instituts für Sexualwissenschaft, das im Sommer 1919 endlich offiziell eröffnet werden konnte. Die Institutsgrün­ dung stellte in Hirschfelds beruflicher Laufbahn einen Meilenstein dar und bestimmte sein Schaffen als Sexualwissenschaftler und -reformer bis zur Zerstörung des Instituts durch die Nationalsozialisten.132 Die Veranstaltung einer internationalen Konferenz diente nicht zuletzt der Bekanntmachung des Instituts in ausländischen Fachkreisen, wobei festzuhalten ist, dass die

130 Dass dies nicht untypisch für seine Zeit war und letztlich zum Scheitern des damaligen Antirassismus geführt hat, zeigt wiederum das Beispiel des Universal Races Congress. Siehe Tracie Matysik, Reforming the Moral Subject. Ethics and Sexuality in Central Europe, 1890–1930, Ithaca, N. Y., 2008, 140–151. 131 Bereits vor diesem Kongress war unter Mitwirkung Hirschfelds eine Sektion des WhK in den Niederlanden entstanden und 1914 wurde in Wien eine österreichische Sektion gegründet; o. A., Komitee-Mitteilungen, in: Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen 14 (1914), 118. Das erwähnte Treffen in England war der Anlass für die Gründung der Bri­ tish Society for Sexual Psychology (BSSP), eines der einflussreichsten sexualreformeri­ schen Vereine Großbritanniens. Nach dem Krieg wurde Hirschfeld offiziell zum Ehren­ mitglied ernannt. Hirschfeld, Von einst bis jetzt, 184. Siehe als gelungene Einordnung in die britische Sexualreform Lesley Hall, “Disinterested Enthusiasm for Sexual Miscon­ duct.” The British Society for the Study of Sex Psychology, 1913–47, in: Journal of Con­ temporary History 30 (1995), 665–686. 132 Siehe dazu die Informationsbroschüre Bericht über das erste Tätigkeitsjahr, die das Insti­ tut 1920 herausgab, sowie Herzer, Magnus Hirschfeld, 120–140.

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Neugründung sich in den Zwanzigerjahren tatsächlich zu einem Ort mit internationaler Strahlkraft für Wissenschaftler und Aktivisten entwickelte.133 Der Kongress wurde von Hirschfeld aber auch ausdrücklich in den Dienst der Aussöhnung gestellt: »Es ist sicherlich kein Zufall, daß einer der ersten internationalen Kongresse nach dem furchtbaren Gemetzel des Weltkriegs der Sexualwissenschaft gilt. Handelt es sich doch hier um ein Gebiet, an dem alles, was Menschenantlitz trägt, in gleicher Weise beteiligt ist, unab­ hängig von jeder sonstigen Zugehörigkeit.«134 Expliziter als in den vorheri­ gen Texten betont Hirschfeld in seinem Vortrag die universale Dimension des Sexuellen beziehungsweise der Liebe, die zwischen Individuen erst den »Zusammenhang herstellt, aus dem sich […] die Menschheit als höherer Organismus entwickelt«.135 Die Eröffnungsrede offenbart außerdem Hirsch­ felds Anspruch, sein breites Verständnis von der Sexualwissenschaft als naturwissenschaftlicher Disziplin und emanzipatorischem Projekt interna­ tional zu etablieren und das »sexuelle Menschenrecht« mithilfe der Wissen­ schaft zu realisieren.136 Die Konferenz versammelte dementsprechend nicht nur Fachexperten, sondern auch Aktivistinnen und Aktivisten aus dem gesamten Spektrum der Sexualreform und stand einem breiten Publikum offen. Auf das vielseitige Programm waren die Veranstalter ebenso stolz wie auf die internationale Zusammensetzung.137 Obwohl die Mehrheit der Vor­ tragenden aus Deutschland kam, konnte die Tagung Teilnehmer aus fast allen europäischen Ländern gewinnen. Über Europa hinaus vermochte Hirschfeld seine Netzwerke erst im Laufe der Zwanzigerjahre weiter auszu­ bauen, etwa nach Japan, China, Argentinien und in die Vereinigten Staaten, wobei hier weiterer Forschungsbedarf besteht. Sein nach dem Weltkrieg begonnenes Werk der Vernetzung setzte Hirschfeld insbesondere unter dem Dach der Weltliga für Sexualreform fort, die auf dem schließlich im Jahr 1928 realisierten Nachfolgekongress in Kopenhagen offiziell begründet wurde.138 Ohne hier ausführlicher auf diesen bemerkenswerten Verband ein­ 133 Dose, Magnus Hirschfeld, 78 f. 134 Magnus Hirschfeld, Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage, in: Arthur Weil (Hg.), Sexualreform und Sexualwissenschaft. Vorträge gehalten auf der I. Internatio­ nalen Tagung für Sexualreform auf sexualwissenschaftlicher Grundlage in Berlin, Stutt­ gart 1922, 1–8, hier 1 (Hervorhebung im Original). 135 Ebd., 5. 136 Ebd., 5 f. 137 Entsprechend ausführlich wurde die Konferenz in den WhK-Jahrbüchern von 1921 und 1922 besprochen. 138 Zur Weltliga und einzelnen europäischen Sektionen siehe das Themenheft des Journal of the History of Sexuality, sowie bes. Ralf Dose, The World League for Sexual Reform. Some Possible Approaches, in: Journal of the History of Sexuality 12 (2003), H. 1, 1–15. Die Kongressberichte der Konferenzen von 1928, 1929 in London und 1930 in Wien wur­ den ebenfalls publiziert.

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gehen zu können, der in der Zwischenkriegszeit das zentrale Forum für die internationale Sexualreform darstellte, lässt sich festhalten, dass das Schick­ sal der Weltliga aufs Engste mit Hirschfeld verbunden war. Als Netzwerker und Organisator sorgte er für die nötige Kontinuität.139 Es lassen sich freilich auch pragmatischere Motive für Hirschfelds Aktivi­ täten finden als seine theoretischen Bekenntnisse zu Frieden, Versöhnung und einem Zusammenwachsen der Welt. In den bürgerkriegsähnlichen Zuständen der frühen Weimarer Republik mehrten sich die Angriffe auf seine Person, wobei wiederum antisemitische und homophobe Feindbilder auf fatale Weise ineinandergriffen. Zu den verbalen Attacken kamen nun auch tätliche Übergriffe von völkisch-nationalen Schlägertrupps, die Hirsch­ feld nach Vorträgen in München und Hamburg auflauerten. Diese feindse­ lige Atmosphäre ist in der Forschung zu Recht als ein Motiv für die interna­ tionale Ausrichtung Hirschfelds ausgemacht worden. Ebenso könnten auch die Anfeindungen innerhalb seiner Disziplin von Bedeutung gewesen sein. Die Konflikte mit den Gegnern einer politisch-emanzipatorischen Orientie­ rung der Sexualwissenschaft brachen sich in den Zwanzigerjahren weiter Bahn: So wurde etwa eine Konkurrenzveranstaltung zu Hirschfelds interna­ tionaler Tagung organisiert.140 Insofern lässt sich Hirschfelds Vernetzung sicherlich auch als ein Versuch deuten, die eigene akademische Reputation im Forschungsfeld zu untermauern. Letztlich schließen diese Beweggründe einander nicht aus, sondern haben sich vermutlich gegenseitig verstärkt. Die aus der Erfahrung des Krieges gewonnenen Einsichten bezüglich der Bedeu­ tung einer – symbolisch und real – Grenzen überschreitenden Zusammenar­ beit dürften durch die zunehmende Ausgrenzung und Diskriminierung für Hirschfeld eine neue Dringlichkeit gewonnen und ihn in seiner Überzeu­ gung von der Richtigkeit dieses Weges bestärkt haben.

Fazit Zu Recht ist in der Forschung darauf hingewiesen worden, dass der Erste Weltkrieg mit seinem bis dahin unvorstellbaren Ausmaß der Zerstörung eine tiefe Erschütterung der bestehenden Ordnung und des gesamten Wertgefü­ ges darstellte, auf die eine nie dagewesene Aufbruchsstimmung folgte, in der sich global Hoffnungen auf eine neue und gerechtere Weltordnung Bahn

139 Nach der Zerstörung des Instituts und Hirschfelds Exil brach diese Organisation rasch zusammen. Siehe Grossmann, Magnus Hirschfeld, 205 f. 140 Pretzel, Disziplinierungsbestrebungen, 144–147.

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brachen.141 Diese Stimmung manifestierte sich auch in Magnus Hirschfelds Schriften aus den letzten Kriegsmonaten sowie der unmittelbaren Nach­ kriegszeit, in dessen persönlicher politischer Entwicklung die Erfahrung des Weltkriegs ebenfalls einen Wendepunkt darstellte. In der Russischen Revo­ lution und schließlich in der Novemberrevolution in Deutschland sah Hirsch­ feld die Vorboten einer neuen Weltordnung, die nationale Grenzen überwin­ den und zu einem Zusammenwachsen der Menschheit führen würde. Noch unter dem Eindruck des »furchtbaren Gemetzel[s] des Weltkrieges« regte ihn die damals im Raum stehende Utopie eines »Menschheitsstaates« zum Nach­ denken über menschliche Unterschiede und Gemeinsamkeiten an. Weiter ausgearbeitet hat er diese Reflexionen in seinen letzten Lebensjahren unter dem Eindruck seiner Weltreise, vor allem aber des nationalsozialistischen Rassenwahns, der ihn schließlich ins Exil zwang. Die Artikelserie Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr (1934/35) und insbesondere die darauf basierende Monografie Racism (posthum erschienen 1938) stellten den ersten systematischen Versuch dar, die Entstehung des modernen Ras­ sismus – ein Begriff, der durch diese Publikation geprägt wurde – von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis in die Ideologie des Nationalsozia­ lismus nachzuzeichnen.142 Auch der Antisemitismus wurde hier abgehandelt und verurteilt, blieb aber stets in den übergeordneten Rassendiskurs einge­ bettet. Die von Hirschfeld in der unmittelbaren Nachkriegszeit formulierte Ansicht, dass jegliche Klassifizierung von Menschen nicht nur ethisch höchst problematisch, sondern auch wissenschaftlich nicht haltbar sei, mün­ dete in den Dreißigerjahren in ebendiesen Versuch einer systematischen Widerlegung der Rassentheorien auf wissenschaftlicher Grundlage.143 Wie verschiedentlich bemerkt wurde, liegen in diesem Zugang aber bereits die Grenzen des antirassistischen Ansatzes Hirschfelds begründet.144 Sein Be­ mühen, die rassistischen Theorien als falsch zu überführen, zeugt nicht nur von seiner Fehleinschätzung der politischen Funktion des Rassismus, son­ dern auch von seinem Verkennen der nicht auflösbaren Verflechtung von 141 Siehe dazu Erez Manela, Dawn of a New Era. The “Wilsonian Moment” in Colonial Con­ texts and the Transformation of World Order, 1917–1920, in: Sebastian Conrad/Dominic Sachsenmaier (Hgg.), Competing Visions of World Order. Global Moments and Move­ ments, 1880s–1930s, New York 2007, 121–149, hier 121 f. 142 Siehe dazu Christian Geulen, Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im spä­ ten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004, 42–44. Das Buch Racism ist eine überarbeitete und erweiterte Fassung der Artikelserie Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr, die Hirschfeld von seinen Bekannten Eden und Cedar Paul übersetzen und publizieren ließ. 143 Diese Aufgabe wollte Hirschfeld sogar einem internationalen wissenschaftlichen Gre­ mium übertragen, einer »League for prevention of racism«. Siehe Hirschfeld, Racism, 263 f. 144 Siehe Herrn, »Phantom Rasse. Ein Hirngespinst als Weltgefahr«, 116; Becker, Tragik eines deutschen Juden, 217–219; Geulen, Wahlverwandte, 44 f.

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Rassismus und wissenschaftlichen Rassentheorien. Dies ist freilich Hirsch­ felds positivistischem Wissenschaftsverständnis geschuldet – dem Funda­ ment seines unerschütterlichen Glaubens an die zwingende politische Über­ zeugungskraft der wissenschaftlichen »Wahrheit«. Ohne hier näher auf diese bemerkenswerte Schrift und ihre aufschlussreiche Einordnung in damalige antirassistische Debatten eingehen zu können, sollte abschließend noch ein­ mal festgehalten werden, dass sich die Ursprünge des hirschfeldschen Anti­ rassismus bis in die letzten Jahre des Weltkriegs und die Revolutionszeit zurückverfolgen lassen. Als mahnendes Beispiel dafür, wohin Rassenhass und Nationalismus führen können, wird in Racism dementsprechend die gewaltige Zerstörung des Ersten Weltkriegs angeführt. Gleichzeitig be­ schwört der Autor aber auch die Aufbruchsstimmung der Nachkriegszeit, indem der Text mit einem fiktiven Aufruf des unbekannten Soldaten als Re­ präsentant der gesamten Menschheit schließt, den Hirschfeld Unterrichtsma­ terialien der französischen Staatsbürgerkunde entlehnt hatte: »Bring peace to the whole world by justice and goodness. As the years pass, let the Lea­ gue of Nations open its doors to the people of every State and every race, thus establish­ ing, not only the United States of Europe, but the United States of the World.«145

145 Hirschfeld, Racism, 265.

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A Twisted Road to Pacifism: Kurt Hiller and the First World War

The Diagnosed Lunatic On 11 October 1908 Kurt Hiller (1885–1972) escaped from military service. This would not have been noteworthy had he been an ordinary soldier. Hiller first became famous in the 1920s when he was probably one of the most controversial contributors to Weimar Germany’s leading left-wing journal Die Weltbühne, an elected council member of the Deutsche Friedensge­ sellschaft (German Peace Society), and vice-chairman of Magnus Hirsch­ feld’s influential homosexual rights group Wissenschaftlich-humanitäres Komitee (Scientific Humanitarian Committee). He survived World War II in London exile, spying on other refugees for the British intelligence agency MI5. In 1955 he returned to Germany, where his journalistic reputation retained from the Weimar era procured him work with newly founded leftwing journals, such as Konkret or Die andere Zeitung.1 It was due to his family relation with Paul Singer, his granduncle, the then famous leader of the Social Democratic Party (SPD) and head of the largest fraction of the German Parliament, that he attracted considerable public attention in 1908. The newspapers BZ am Mittag and Münchner Neueste Nachrichten unanimously reported that Hiller left the First Bavarian Infantry Regiment after one year of voluntary service without permission, and had, moreover, published a book called Das Recht über sich selbst (The Right over Oneself), a title they found rather suspicious.2 Probably without ever reading Hiller’s book they deemed it to be an anarchist pamphlet arguing for the right 1

2

In the last few years, research on Hiller has increased. See Riccardo Bavaj, Von links gegen Weimar. Linkes antiparlamentarisches Denken in der Weimarer Republik, Bonn 2005, 448–460; Alexander Gallus, Erbe der “Weltbühne”. Kurt Hillers politisch-publizis­ tisches Engagement nach 1945, in: Franz-Werner Kersting/Jürgen Reulecke/Hans-Ulrich Thamer (eds.), Die zweite Gründung der Bundesrepublik. Generationswechsel und intel­ lektuelle Wortergreifungen 1955–1975, Stuttgart 2010, 201–221; Brigitte Laube, “Den­ noch glaube ich an den messianischen Geist”. Kurt Hiller (1885–1972). Aspekte einer deutsch-jüdischen Identität, Essen 2011; Alexander Gallus, Heimat “Weltbühne”. Eine Intellektuellengeschichte im 20. Jahrhundert, Göttingen 2012, 80–168. Kurt Hiller, Das Recht über sich selbst. Eine strafrechtsphilosophische Studie, Heidelberg 1908. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 365–388.

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to oppose state and military service – against this background, his run from the army only seemed logical to them. But Hiller was neither an anarchist nor had he intended to desert right from the beginning. Indeed, although he did not join the army quite so deliberately and only signed up for one year, he was initially looking forward to becoming a soldier and all the exercise it implied.3 But only two days after his arrival in Munich Hiller sent a “beträcht­ lich deprimierten Gruß” (a considerably depressed greeting)4 to his friend Erwin Loewenson and asked for the “αύσλιεφεςυνγς = φεςτςάγε μίτ δής Σχfείζ.” The mail censor surely did not expect Hiller’s request for a copy of the extradition treaties with Switzerland (Auslieferungsverträge mit der Schweiz) to be disguised under these Greek letters and dismissed it as unim­ portant.5 It remains unclear why Hiller left the barracks so quickly, but in a letter written from the military hospital he pointed to the “Schweinereien und Brutalitäten” (swineries and brutalities) which he apparently faced dur­ ing his service.6 It frequently occurred that the middle-class one-year-volun­ taries, who served their time together with soldiers from lower classes, suf­ fered from harassment or bad hygienic conditions.7 For most of the young recruits, military service meant being confronted for the first time in their lives with violence, sexism and alcohol.8 Hiller, homosexual, teetotal and from a Jewish family, was not exactly your average comrade and most likely subjected to constant discrimination. Technically, the escape was well planned. Hiller left before he was sworn in and thus could only be charged with absence without leave, but not as deserter. He reached the Swiss Confederation without incident. But politi­ cally and strategically, the act was a disaster. Hiller did not intend to stay in Switzerland and could not imagine spending the rest of his life away from the country he considered home, isolated from friends and family. There­ fore, he fought with all means to get back to the land he had just escaped – without being imprisoned or forced to return to service. His friends Arthur Kronfeld, medicine student and later famous psychiatrist, and Erwin Loe­ wenson, student of law and philosophy, came up with an appropriate solu­

3 4 5 6 7 8

Idem, Leben gegen die Zeit, 2 vols., Reinbek bei Hamburg 1969 und 1973, here vol. 1: Logos, Reinbek bei Hamburg 1969, 75. Deutsches Literaturarchiv Marbach (henceforth DLA), A: Loewenson, 68.1129, Kurt Hil­ ler, Letter to Erwin Loewenson, 31 August 1908. Ibid. Ibid.: Loewenson, 68.1129, Kurt Hiller, Letter to Erwin Loewenson, 26 December 1908. Ute Frevert, Die kasernierte Nation. Militärdienst und Zivilgesellschaft in Deutschland, München 2001, 216. Idem, Das Militär als Schule der Männlichkeiten, in: Ulrike Brunotte/Rainer Herrn (eds.), Männlichkeiten und Moderne. Geschlecht in den Wissenskulturen um 1900, Bielefeld 2008, 57–75, here 64.

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tion. If Hiller could prove that his escape was not an act of free will but a result of mental confusion, then he would be treated as a patient rather than a criminal. In wartime Germany a “psychopathology of desertion” was already debated among physicians. Entire biographies of soldiers who had deserted were thoroughly analyzed in search for the origin of their deviant behavior and signs of a pathological personality.9 Interestingly, the strategy Hiller agreed on with his friends was shamelessly playing on prejudices commonly held at the time: Mental illness and hysteria were seen as female or Jewish illnesses, disqualifying both women and Jews categorically from positions of greater responsibility, including political offices.10 This applied to some extent to homosexuals and intellectuals as well, who were consis­ tently portrayed as feminine and weak in public discourse.11 Whether Hiller and his friends exploited this stereotype strategically invites speculation. But in 1922 Hiller expressed his conviction that it was indeed valid, when he wrote that “die Juden von vornherein die nervenschwächeren waren. Dem­ nach würde die bekannte Neurasthenie der modernen Juden ein Erbfehler und keine bloße Folge der Verfolgung […] sein.” ([T]he Jews had weaker nerves in the first place. Accordingly, the modern Jews’ well-known neur­ asthenia could be considered a genetic defect rather than a consequence of their persecution.)12 In 1908, Hiller was treading a narrow path between imprisonment for desertion and confinement in a mental institution. He turned to several doctors in Switzerland, who finally diagnosed a “krank­ hafte […] Störung der Geistestätigkeit” (pathological disturbance in his mental functioning).13 His condition was declared harmless to the public and so Hiller left the military hospital in February 1909 as a free man.14 The unusual episode of Hiller’s desertion demonstrates his ambiguous atti­ tude towards the military and is essential to understand his perception of World War I. The disastrous years between 1914 and 1918 had a strong influ­ ence on Hiller’s political ideas. While still enthusiastically supporting the war in 1914, he underwent a remarkable transformation in subsequent years 19 Ulrich Bröckling, Psychopathische Minderwertigkeit? Moralischer Schwachsinn? Krank­ hafter Wandertrieb? Zur Pathologisierung von Deserteuren im Deutschen Kaiserreich vor 1914, in: idem (ed.), Armeen und ihre Deserteure. Vernachlässigte Kapitel einer Militär­ geschichte der Neuzeit, Göttingen 1998, 161–185, here 165. 10 Klaus Hödl, Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de Siècle, Wien 1997, 201–205. 11 Claudia Bruns, Politik des Eros. Der Männerbund in Wissenschaft, Politik und Jugendkul­ tur (1880–1934), Köln 2008, 123–125. 12 Laube, “Dennoch glaube ich an den messianischen Geist”, 129; Kurt Hiller, Aufbruch zum Paradies, München 1922, 154. 13 DLA, A: Loewenson, 68.112, Kurt Hiller, Letter to Erwin Loewenson, 16 October 1908. 14 Ibid.: Loewenson, 68.1130, Kurt Hiller, Letter to Erwin Loewenson, 4 February 1909. For further details see Laube, “Dennoch glaube ich an den messianischen Geist”, 117–119.

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that left him – however still in awe at the military and its achievements – a pacifist. The political scientist Georg Fülberth called him a “zentrale Randfigur” (central-marginal figure)15 to point out that, despite his extensive œuvre, Hil­ ler never gained as much attention as some of his close friends, such as the sexologist Magnus Hirschfeld, the author Kurt Tucholsky or the Nobel laure­ ates Ludwig Quidde (chairman of the Deutsche Friedensgesellschaft) and Carl von Ossietzky (editor of Die Weltbühne). Today, Hiller is considered a founding father of German literary Expressionism. He has earned respect for his active role in the homosexual movement and as supporter of Magnus Hirschfeld, infamous for his antidemocratic critique and the idea of Logokra­ tie (a theory centered on the idea of intellectual hegemony in society). Hiller’s life during World War I has not been explored in a single article, mainly because most relevant contemporary documents, previously stored in the flat Hiller had occupied with his mother, were looted or destroyed by an SS command in 1933.16 This article, therefore, intends to fill this long-stand­ ing gap by shedding light on Hiller’s ideological development, as well as his legacy from the war. His books, articles and some private letters show in detail that Hiller formulated his key political ideas in the period between 1914 and 1918. At first, Hiller’s life before the war shall be outlined, when he was a lit­ erate, but apolitical young student, and intent on challenging society’s norms. A turning point in the young man’s life will then be addressed: the Augusterlebnis – the euphoria at the outbreak of the war, often referred to as the Spirit of 1914, which was soon tainted by news of friends who died at the front. A harsh wake-up call, this experience brought Hiller in conflict with the authorities, converted him to pacifism and lead him to turn to the council (“soviet”) movement during the German Revolution of 1918. Finally, attention shall further be given to how Hiller reconciled his admira­ tion for the military with his pacifist principles and how his life was shaped by the impact of World War I.

15 Georg Fülberth, Aktivismus, Sozialismus, Pazifismus, Herrschaft der “Geistigen”. Kurt Hiller (1885–1972), in: Stefanie Oswalt (ed.), Die Weltbühne. Zur Tradition und Konti­ nuität demokratischer Publizistik. Dokumentation der Tagung “Wieder gilt: Der Feind steht rechts!”, St. Ingbert 2003, 75–84, here 75. 16 Harald Lützenkirchen, Wo sind die Hillerbriefe?, in: Schriften der Kurt Hiller Gesell­ schaft 1 (2001), 118–169, here 118.

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The Apolitical Literate Hiller was born in 1885. His father Hartwig Hiller owned a tie factory together with his brother Felix. He died in 1897 when Kurt was only twelve years old.17 The boy was raised by his mother Ella with whom he had a very close relationship, a “wirklich[e] Freundschaft” (a true friendship).18 Hiller was neither baptized nor circumcised, but his parents sent him to a protestant school, where he obtained the corresponding religious education.19 In order to express their feeling of belonging to German society and likewise facili­ tate their son’s integration therein, the Hillers had ignored all family advice to name their son Joel or Julius after his grandfathers but chosen the German name Kurt instead.20 Nevertheless, and not different from other Germans of Jewish faith, the family celebrated religious holidays and kept company with Jews.21 Seemingly, for the Hillers religion was comparatively unimportant in their daily life and their observance of Jewish holidays is perhaps most ade­ quately compared to an atheist family’s celebration of Christmas. There was not much left in Kurt Hiller’s life that reminded him of the Jewish traditions of his forefathers. Later, he would recall two minor anti-Semitic incidents that occurred during his childhood, when somebody on the street pejora­ tively called him “Moses.”22 He had experienced anti-Semitism, but the struggle for equality of Jews in Germany was not his main incentive to join the army. Rather, it was his image as weak intellectual that he was con­ fronted with in his student society and sought to overcome with physical training and display of courage.23

17 Hiller, Leben gegen die Zeit, vol. 1: Logos, 16; Staats- und Universitätsbibliothek Ham­ burg (henceforth SUB H), NL Kurt Hiller, 1987.1202, Kurt Hiller, Letter to Klaus Täu­ bert, 29 March 1971. 18 Hiller, Leben gegen die Zeit, vol. 1: Logos, 17. 19 Ibid., 33. 20 Archive of the Kurt Hiller Gesellschaft (henceforth KHG), file Walter D. Schultz, Kurt Hiller, Letter to Walter D. Schultz, 4 March 1949. 21 Hiller explained his lack of time for a friend with the many Jewish holidays his family celebrated. DLA, A: Loewenson, 68.1129, Kurt Hiller, Letter to Erwin Loewenson, 21 September 1908. 22 Hiller, Leben gegen die Zeit, vol. 1: Logos, 33. 23 Hiller was looking forward to the military duty because of “Gründen der Gymnastik” (gymnastic reasons). Ibid., 75. He also decided to take along only one book: Friedrich Nietzsche’s Wille zur Macht (The Will to Power). DLA, A: Hiller, Letter to Erwin Loe­ wenson, 21 September 1908. Hiller could not know then, that this book, while composed posthumously from Nietzsche’s notes, was not conceptualized and compiled by the philo­ sopher himself but his sister Elisabeth. See Dieter Fuchs, Der Wille zur Macht. Die Geburt des “Hauptwerks” aus dem Geiste des Nietzsche-Archivs, in: Nietzsche-Studien 26 (1997), 384–404, here 384.

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Hiller’s avoidance of military service, however, had an aftermath. When he returned to Berlin, the majority of his student society Freie Wissenschaft­ liche Vereinigung (Free Scientific Union) objected to his request for read­ mission. While many fraternities at the time excluded Jews and were heavily anti-Semitic,24 the Freie Wissenschaftliche Vereinigung, though joined dom­ inantly by Jews, was open to all students that opposed anti-Semitism, regardless of their religious background. Hiller’s fraternity was thus attacked by Zionists as well, who insisted on the propagation of Jewish convictions.25 Hiller had constantly been criticizing fellow members of the fraternity for their drinking habits and lack of enthusiasm for philosophy, which earned him such contemptuous names as “zersetzender Geist” (corrosive mind) and “Litteraturjude” (a Jew committed to literature).26 These terms had an antiSemitic connotation, but were nevertheless used by his Jewish fellows to mark him as different, as a troublemaker, as an intellectual. In the end, how­ ever, the decisive factor in being denied his readmission was the disrespect he had supposedly shown for the emperor’s army. His opponents argued: Either Hiller was indeed mentally ill, for which reason he could not be read­ mitted; or he made his escape fully aware of what he was doing and there­ fore should not be readmitted.27 In pre-war times the military was a highly respected institution, reflected in its traditional conception as the “school of the nation”28 – a school, which one could perhaps avoid without legal conse­ quences, but not without loss of reputation. However, a minority of students calling themselves “intellectuals” supported Hiller’s position and left the Freie Wissenschaftliche Vereinigung just as he did. Together they founded the Neue Club (New Club) in November 1909, a date marking the birth of German literary Expressionism. Kurt Hiller, Erwin Loewenson, Jakob van Hoddis, Erich Unger, John Wolfsohn and Rudolf Majut were influenced by elitist, avant-gardist and anti-bourgeois ideas. But none of them was a pacif­ ist or even an antimilitarist: they regarded themselves as apolitical literates. Loewenson once described Hiller as a “soziologischer Schlachtochse” (sociological battle ox), because he at least had an interest in social issues 24 Norbert Kampe, Studenten und “Judenfrage” im Deutschen Kaiserreich. Die Entstehung einer akademischen Trägerschicht des Antisemitismus, Göttingen 1988. 25 Manfred Voigts, Einleitung, in: idem (ed.), Freie Wissenschaftliche Vereinigung. Eine Berliner anti-antisemitische Studentenorganisation stellt sich vor – 1908 und 1931, Pots­ dam 2008, 5–11, here 6. 26 Quotations by Hiller himself. DLA, A: Loewenson, 68.1129, Kurt Hiller, Letter to Curt Calmon, 31 December 1908. 27 Max Auerbach, Die Affäre Hiller, in: Monatsberichte der Freien Wissenschaftlichen Ver­ einigung 22 (1909), no. 155, 4 f., cit. in Michael Buchholz, “Vereinsanarchisten!” Kurt Hiller und seine Freunde in der Freien Wissenschaftlichen Vereinigung, in: Schriften der Kurt Hiller Gesellschaft 4 (2010), 17–86, here 77. 28 Frevert, Das Militär als Schule der Männlichkeiten, 64.

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while Loewenson himself could only muster enthusiasm for “die vierte Wur­ zel aus Dreiundsechzig” (the fourth root of sixty-three).29 But in fact, Hiller was not much more in touch with everyday – not to mention political – life than his companions. He published poems, aphorisms and short articles in the Expressionist journals Der Sturm and Die Aktion, which had hardly any­ thing in common with his highly political works of later years. The great public controversy surrounding his first anthology of poems called Der Kon­ dor (1912) had nothing to do with politics; although it elicited many antiSemitic comments, the debate was limited to literary matters. Hiller was undoubtedly a political activist in a different context: Joining the Wissen­ schaftlich-humanitäres Komitee (Scientific-Humanitarian Committee), he used his reputation as writer and journalist to fight for the rights of homosex­ uals. But it seemed like a second life with hardly any connection to his pub­ lic literary career. Through his work and personal experience Hiller was aware of the discrimination directed against homosexuals and, therefore, felt misunderstood by society not just as an artist but as a person, which accounted for the strongly elitist stamp on his ideas. He regarded himself as part of the cultural avant-garde and despised ordinary people that did not share his philosophical and literary knowledge or match his level of argu­ mentation. As an outcast who very much liked to celebrate this role, Hiller was con­ stantly striving for recognition. Shortly before the outbreak of World War I he wrote a highly controversial article in support of Emperor Wilhelm II, which led to a cessation of relations with Franz Pfemfert’s radical demo­ cratic Die Aktion, the most important journal Hiller was writing for. He risked his income and reputation in literary circles for the utopian suggestion the emperor should raise Stefan George or Heinrich Mann to nobility. He believed that monarchy was a system much more suitable than the republic to strengthen the position of writers and increase their influence. Therefore, he asked: “Warum züchtet man sich Demagogen und Revolteure in uns heran und zwingt uns in den Republikanismus?” (Why do they breed dema­ gogues and insurgents among us and force us into republicanism?)30 Hiller saw a “Wesensverwandtschaft […] zwischen jenem Blutsadel, der Deutsch­ land regiert, und der Aristokratie des Geistes” (an affinity […] between the hereditary nobility ruling Germany and the intellectual aristocracy).31 He 29 Erwin Loewenson, Letter to Erich Unger, 29 September 1909, cit. in Richard Sheppard (ed.), Die Schriften des Neuen Clubs 1908–1914, 2 vols., here vol. 1, Hildesheim 1980, 163. 30 Kurt Hiller, Kaiser Wilhelm und wir, in: Die Aktion 3 (1913), no. 26, 635–638, here 636 f. 31 Idem, An die Partei des deutschen Geistes!, in: Der neue Merkur 2 (1914), 645–653, here 651.

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was ingratiating himself with the monarchy and – as his critic Franz Pfem­ fert asserted – only expressed openly what many other people already har­ bored and would have enthusiastically confirmed.32 Hiller’s coquetry with the monarchy should not be mistaken for genuine enthusiasm for the emperor or a reference to the Jewish concept of shtadlanut.33 Hiller cared about serving as an intercessor for the Jewish community before the emperor as little as he cared about Judaism in general. Nor did he believe in the mon­ archy: It was a single article in which Hiller discussed the cooperation between writers and the aristocracy. He was a young artist of twenty-seven years old, who was continuously challenging his own views on life. He grew up in the German Empire as part of the social elite and was two years old when Emperor Wilhelm II came to power. Hiller and other Expressionists had never seen any other ruler and for that reason could well imagine socie­ tal and cultural change from top down. They were desperately looking for anything that would shake up the Wilhelminian era, which they perceived as boring and restrictive. Their parents had been merchants, factory owners (Hiller), lawyers or doctors (Loewenson, van Hoddis) raising their sons in a financially and politically secure environment. Poverty, women’s suffrage, democracy or republicanism had been rather uninteresting topics for Hiller and his circle of friends despite all “rhetoric of action” they grew up with. As Expressionists they mainly cared about their self-conception and not about the proletariat’s problems.34 Hiller’s publicist liaison with the monar­ chy revealed his political disorientation, which for Franz Pfemfert was an unforgivable act of betrayal. Therefore, he was probably quite surprised when he learned that Hiller had co-founded and headed a council during November 1918.

The War Enthusiast In 1914, Hiller was inclined to support both the monarchy and the war it so sedulously propagated – regardless of his previous experience with the mili­ tary. In no danger of being drafted into the army again due to his alleged neurasthenic condition, and lacking personal experience on the battlefield, 32 Franz Pfemfert, Freiherr von Grotthuss und Kurt Hiller, in: Die Aktion 3 (1913), no. 34, 804. 33 Jacob Katz, Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne, München 2002, 91 f. 34 Thomas Anz/Michael Stark, Geist und Tat, in: idem (eds.), Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910–1920, Stuttgart 1982, 263–268, here 263– 265.

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he initially celebrated the outbreak of World War I as an act of purification: “Ihr haßtet die Bürger, es gibt keine Bürger mehr; nur noch Wesen mit Wis­ sen um das Wesentliche gibt es; nur noch Menschen. Was in jenem überspült war vom Alltag, von den Läppischkeiten des stet = niederen Lebens, […] das fegte der Sturmwind des Krieges frei.” (You hated the citizens, there are no citizens anymore; there are only beings conscious of the essentials; only human beings. That which was drowned inside oneself by everyday life, by the trivialities of the extant = low life […] was blown free by the heavy gales of war.)35 Here Hiller even adapted the words of Emperor Wilhelm II who had proclaimed: “Ich kenne keine Parteien mehr, nur noch Deutsche!” (I know no parties anymore, only Germans!)36 Jakob van Hoddis, Hiller’s former companion, had written in his famous poem Weltende (The End of the World): “Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen / An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. / Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. / Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.” (The storm is here, crushed dams no longer hold, / The savage seas come inland with a hop. / The greater part of people have a cold. / Off bridges everywhere the railroads drop.)37 August 1914 must have seemed to Hiller like the end of an era. Using the metaphor of a “storm,” he points to the rapid social mobilization whose power caught up with everyone and swept them along enthusiastically. The impending war promised liberation from the ordinary, boring life, which Expressionists had long since been ridiculing. In Expres­ sionist literature the bourgeois was symbol of the “ridiculous” and “gro­ tesque” antagonist.38 Hiller and his companions rejected the way of their fathers and adopted quite an anti-bourgeois stance in the course of their lives.39 Living off their families’ fortune, none of them had a real income or ambition to pursue a career. Moreover, Hiller was not in the least interested 35 Hiller, An die Partei des deutschen Geistes!, 645. 36 “Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche.” In a speech that sought to arouse the German people’s enthusiasm for the war, Emperor Wilhelm II used these words to express his satisfaction at the support he had been promised by the German Social Democratic Party. They were quoted or adapted frequently by contemporaries. See Chris­ toph Nübel, Die Mobilisierung der Kriegsgesellschaft. Propaganda und Alltag im Ersten Weltkrieg in Münster, Münster 2008, 32. 37 Jakob van Hoddis, Weltende, in: idem, Dichtungen und Briefe, ed. by Regina Nörtemann, Göttingen 2007, 9. See the translation in Michael Hamburger/Christopher Middleton, Modern German Poetry 1910–1960. An Anthology with Verse Translations, New York 1962, 49. 38 Michael Stark, Für und wider den Expressionismus. Die Entstehung der Intellektuellende­ batte in der deutschen Literaturgeschichte, Stuttgart 1982, 251. 39 To this date, there is a lack of research on the concept of gender roles in Expressionism. See Frank Krause, Expressionismus und Geschlecht. Themen und Probleme der For­ schung, in: idem (ed.), Expressionism and Gender/Expressionismus und Geschlecht, Göt­ tingen 2010, 11–20, here 16.

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in founding a family; he lived with his mother until the age of thirty-three, began his days late and spent his time discussing and writing in cafés.40 In 1912 Hiller identified in Germany a “graue Hoffnungslosigkeit” (grey hope­ lessness) and accused the sovereign “das langweilige Deutschland noch langweiliger [zu] machen” (to make boring Germany even more boring).41 But with the outbreak of the war all these complaints about his tiring, dull life and the stigmatization of intellectuals42 were forgotten. Now Hiller felt a sense of relief and, therefore, a patriotic duty. The term Augusterlebnis sug­ gests the unification of the German people and political parties behind the emperor in August 1914 in unanimous support of the war. This euphoria over the war was most prominent among the urban upper and middle classes. The public gatherings of large crowds of people on the streets otherwise did not necessarily indicate their support. Rather, the atmosphere was a mix of curiosity, excitement, bewilderment and fear.43 Wolfgang Kruse and others have shown that there was an astonishing readiness to sacrifice among urban literates and intellectuals, including left-wingers and members of the Social Democratic Party.44 Hiller reacted like most intellectuals of his time in not accepting the necessity of military action with blind enthusiasm. He believed that the German Kaiserreich was fighting a just, that is, a defensive war: “Man verdamme den Krieg, man muss ihn verdammen; diesen Krieg darf kein Deutscher verdammen, bevor er nicht den bösen Nachbar verdammte, der ihn entzündete.” (Damn the war, one has to condemn it; but no German shall condemn this war before he has condemned the evil neighbor who incited it.)45 In his article Hiller put forward arguments that echoed the offi­ cial German war propaganda, presenting the French as the arch-enemy and warmonger, and the Russians as barbaric threat from the East. Therefore he evoked the “spirit of 1914” and praised the German Emperor Wilhelm II: “Deutschland! […] nie darf es kommen, dass Wilde deine freundlichen Flure zertrampeln; nie: der stinkende Tatar Unfreiheit über dich hängt. Dies aber drohte; und so ward dieser Krieg zur Pflicht. Der Kaiser und die Män­ 40 Gertrude Cepl-Kaufmann, Der Expressionismus. Zur Strukturhomologie von Epochen­ profil und jüdischer Geisteswelt, in: Daniel Hoffmann (ed.), Handbuch zur deutsch-jüdi­ schen Literatur des 20. Jahrhunderts, Paderborn 2002, 151–182, here 154. 41 Kurt Hiller, Der Sinn des Lebens und die Reichstagswahl, in: Der Sturm 2 (1912), no. 93, 740 f., here 741. 42 Idem (Gorgias), Kriterium der Kultur, in: Forum 1 (1914), no. 3, 180. 43 Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 5 vols., Munich 1987–2008, here vol. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914–1949, Munich 2003, 16. 44 Wolfgang Kruse, Die Kriegsbegeisterung im Deutschen Reich zu Beginn des Ersten Welt­ krieges, in: Marcel van der Linden/Gottfried Mergner (eds.), Kriegsbegeisterung und mentale Kriegsvorbereitung. Interdisziplinäre Studien, Berlin 1991, 73–87. 45 Hiller, An die Partei des deutschen Geistes!, 650 f.

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ner seiner Regierung […] haben im rechten Augenblick das Rechte getan.” (Germany! Never shall savages tread down your friendly meadows; never shall the stinking Tatar impose bondage on you. This, however, threatened you; and thus war became a duty. The Emperor and the men of his govern­ ment have done the right thing at the right time.)46 His words were heavy with stereotypical rhetoric directed against the Russian people, and betrayed his identification with Germany’s official position. Surprisingly, Hiller’s perception of France differed from its official portrayal as the German archenemy. For him, France was the country that had initiated the war, but still a nation to be admired for its culture and great writers, such as Romain Roll­ and or André Gide.47 Supposingly Hiller’s appreciation for the French derived from his upbringing in an bourgeois family which, as it was com­ mon in upper class circles, idealized the French savoir vivre. Thus, French writers often provided important orientation for young elitist intellectuals. On the other hand, Hiller’s negative perception of the Russians was perhaps both rooted in the traditional discourse on national stereotypes in Germany and his most recent experiences with Eastern European Jewish immigrants, who had arrived in Berlin at the beginning of the twentieth century. These Jews from the shtetl were unlike the assimilated German Jews and seemed to confirm popular anti-Semitic clichés. Hiller, as many others, did not wel­ come those immigrants and refugees from the East.48 Only one article written in support of the war and published in autumn 1914 can today be attributed to Hiller with certainty. Never before or after is he known to have argued in favor of war and violence or, for what it is worth, the monarchy. Compared to other writers of the time, his position was considerably moderate. Thomas Mann wrote many articles, as well as an entire book titled Betrachtungen eines Unpolitischen (Observations of a Non-Political Man) in support of the war.49 Gerhard Hauptmann sent his sons to war.50 Together with many other famous writers, artist and scientists, such as Max Liebermann, Richard Dehmel, Max Reinhardt, Fritz Haber, Max Plank and Wilhelm Conrad Röntgen, he signed the Manifest der 93 46 Ibid., 650. 47 Kurt Hiller, Zwischen den Dogmen, in: idem (ed.), Köpfe und Tröpfe. Profile aus einem Vierteljahrhundert, Hamburg/Stuttgart 1950, 238–246, here 239; idem, Über die Europä­ ischen Betrachtungen, in: ibid., 181–188, here 181. 48 Ludger Heid, Ostjuden, in: Richard S. Levy (ed.), Antisemitism. A Historical Encyclope­ dia of Prejudice and Persecution, Santa Barbara, Calif., 2005, 522–524. 49 Theo Stammen, Thomas Mann und die politische Welt, in: Helmut Koopmann (ed.), Tho­ mas-Mann-Handbuch, Stuttgart 32001, 18–53, here 22 (first publ. 1990); Matthias Schön­ ing, Versprengte Gemeinschaft. Kriegsroman und intellektuelle Mobilmachung in Deutschland 1914–1933, Göttingen 2009, 27–56. 50 Peter Sprengel, Gerhart Hauptmann. Bürgerlichkeit und großer Traum. Eine Biographie, München 2012, 482.

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(Manifesto of the Ninety-Three), which justified the internationally con­ demned warfare. German soldiers had massacred civilians and burned down the age-old city of Leuven in Belgium in revenge for partisan attacks.51 Max Weber and Werner Sombart, as well as the later pacifist Ernst Toller, defended the German war effort at least initially.52 In comparison, Hiller’s campaign for the war was short-lived and less devoted; he did not sign any proclamations endorsing the war like many of his more famous colleagues. While Hiller undoubtedly carries personal responsibility in contributing to the movement of war enthusiasts at the time, this short episode of his life must not be overestimated when assessing his life and works.

A Bitter Awakening At least at the beginning of the war being diagnosed with neurasthenia saved Hiller from the frontline. Later, in September 1915, when he had already become aware of the atrocities taking place in Europe, he wrote to a friend that he had been re-examined for military service.53 It is unclear how Hiller managed to avoid the front, but in fact he remained at home and became an anti-war activist. Hiller’s disillusionment began with the death of the young talented writer Ernst Wilhelm Lotz, who was one of Hiller’s closest friends.54 While the two shared mutual attraction, their relationship was most likely platonic.55 Lotz had already received officer training before the war between 1909 and 1911, but then dropped out of service, started working for a trading company and devoted more time to his poetry. During this time he was in close contact with Hiller, who introduced him to Berlin’s Expressionist and literary cir­ cles. In August 1914 Lotz was conscripted into the army and died only

51 Ulf Gerrit Meyer-Rewerts/Hagen Stöckmann, Das “Manifest der 93”. Ausdruck oder Negation der Zivilgesellschaft?, in: Johanna Klatt/Robert Lorenz (eds.), Manifeste. Geschichte und Gegenwart des politischen Appells, Bielefeld 2011, 113–134. See the fac­ simile of the manifesto in Bernhard vom Brocke, “Wissenschaft und Militarismus,” Der Aufruf der 93 “An die Kulturwelt” und der Zusammenbruch der internationalen Gelehr­ tenrepublik im Ersten Weltkrieg, in: William M. Clader/Hellmut Flashar/Theodor Lind­ ken (eds.), Wilamowitz nach 50 Jahren, Darmstadt 1985, 649–719, here 718. 52 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, vol. 4, 14. 53 DLA, A: Seyerlen, 65.137, Kurt Hiller, Letter to Egmont Seyerlen, 10 September 1915. 54 Hiller, Leben gegen die Zeit, here vol. 2: Eros, Reinbek bei Hamburg 1973, 66. 55 Bernd-Ulrich Hergemöller, Lotz, Ernst Wilhelm, in: idem (ed.), Mann für Mann. Biogra­ phisches Lexikon zur Geschichte von Freundesliebe und mannmännlicher Sexualität im deutschen Sprachraum, Hamburg 2001, 476 f., here 477.

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twenty-four days later at the front.56 It can be considered tragic irony that Hiller’s article in support of the war came out in Der Neue Merkur at nearly the same time as Lotz was shot. With each friend dying on the battlefield his interpretation of the events as “Last Judgment” awaiting the bourgeois world order was called further into question.57 On 12 December 1915, friends of writers who had fallen victim to the war gathered in a commemorative cere­ mony in Berlin.58 Hiller’s grief about losing a friend had already turned into fury and hatred towards those he considered responsible for it. One cannot help but be surprised by Hiller’s lack of self-reflectiveness when, in his speech in honor of Lotz, he did not primarily blame the military or the emperor, but the sort of apolitical artist, who created art solely for the sake of art: “‘L’art pour l’art’, meine Herrschaften, ist am Weltkrieg schuld […].”59 Then he argued for the need for a new type of artist, who would change the world with his words, to bring change not by critique but through the prophecy of a new world.60 Instead of Expressionism, he now claimed, these vanguard thinkers needed to adopt a new doctrine he called Aktivismus (activism). Ever since leaving the Neue Club, following insurmountable dif­ ferences with Erwin Loewenson und Jakob van Hoddis, Hiller had devel­ oped a more political approach to art: “Revolution: das einzige Kriterium mithin, nach welchem Menschenwerk sich werten lässt. Gut sein wird solches, das den Aufruf zur Revolution enthält, oder solches, das eine Lebensäusserung jemandes ist, der zu ihr aufruft.” (Revolution: the only cri­ terion, then, for assessing the work of men. Anything shall be deemed good which contains the call for revolution or which is an expression of someone calling for revolution.)61 But this politicization remained rather abstract on an intellectual meta-level until 1918. Hiller argued for a new way of culture, but did not determine specific social objectives or policies in order to achieve them. 56 Adalbert Wichert, art. “Lotz, Ernst Wilhelm,” in: Neue Deutsche Biographie, ed. by His­ torische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 25 vols., here vol. 15, Berlin 1987, 251 f., here 251. 57 Joseph Vogl, Krieg und expressionistische Literatur, in: Rolf Grimminger (ed.), Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, 12 vols., here vol. 7: York-Gothart Mix (ed.), Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus, 1890– 1918, München 2000, 555–565, here 557. 58 Rüdiger Schütt, in: idem (ed.), Zwischen den Kriegen. Werner Riegel, Klaus Rainer Röhl und Peter Rühmkorf. Briefwechsel mit Kurt Hiller 1953–1971, München 2009, 118; Tho­ mas Bleitner, Zur Genese politischer “Litteratur” im Expressionismus. Kurt Hillers Weg zum Ziel, in: Wolfgang Beutin/Rüdiger Schütt (eds.), “Zu allererst antikonservativ”. Kurt Hiller (1885–1972), [Kiel] 2010, 13–34, here 24. 59 DLA, A: Lotz, 83.990/2, Kurt Hiller, Gedenkrede für Ernst Wilhelm Lotz, April 1915. 60 Kurt Hiller, Wir, in: Zeit-Echo 1 (1915), no. 9, 132–134, here 132. 61 Idem, Ferdinand Hardekopf. Drei Worte zu Oppenheimers Porträt, in: Die Aktion 2 (1912), no. 47, 1484–1486, here 1484.

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The Forced Pacifist In March 1911 Hiller had called for a unification of intellectuals for the first time. He complained about the “low cultural level” characterizing Ger­ many’s political landscape and, through his commentaries in Die Aktion, encouraged those readers who were frustrated with the current situation to create a new political organ that would redeem existing deficiencies.62 Hil­ ler’s proposal was an expression of his general dissatisfaction rather than a sign of his politicization. The Kaiserreich was ruled autocratically, conced­ ing to the parliament only little freedom to influence politics. There seemed to be no hope for change: Most of the parties were headed by conservative and well-established men. The Social Democrats, on the other hand, under­ stood themselves as a workers’ party and the habitual appearance of many of its leading figures was very different from Hiller’s own. With Paul Singer, Hiller’s uncle and highly educated factory owner, deceased in 1911, and the “Arbeiterkaiser” (workers’ emperor) August Bebel deceased in 1913, the party, which was now headed by working-class men such as Friedrich Ebert and Philipp Scheidemann, offered nothing he could identify with anymore. In his articles for the Weltbühne during the 1920s Hiller criticized “the Ebert type” of politician – a left-wing, anti-intellectual and conservative character, who makes compromises with the old elites.63 Hiller’s assessment of Ebert was only partly true and, of course, shaped by his own views of what constituted a capable statesman. The men that rose to power now had not studied but worked as craftsmen (Ebert, Scheidemann and Gustav Noske), or office employees (Gustav Bauer, Reich Chancellor 1919/1920, and Hermann Müller, Reich Chancellor 1920 and 1928–1930), before enter­ ing the political stage.64 Furthermore, Hiller became frustrated by the rifts growing deeper among members of the Neue Club, which eventually split up in 1912. Withdrawing from the Club, he founded the literary Cabaret GNU, while also looking for other ways to gain influence. In 1915 he wrote a manifesto, in which he pledged solidarity with Germany’s intellectuals and called on them once more to unite: “Geistige, schließen wir einen Bund! Diese Leuchtkugel (noch tobt der Krieg) … diese Leuchtkugel will ich in eure Himmel werfen. Schließen wir einen Bund […] für den Geist! Gegen Krämer und Dunkel­ männer!” (Intellectuals, let us make a pact! This signal flare (the war is still

62 Idem, Literaturpolitik, in: Die Aktion 1 (1911), no. 5, 138 f., here 139. 63 Jürgen Eder, “Wissen und verändern!”. Alfred Döblin und die Suche nach einer Republik der Literatur, in: Andreas Wirsching/idem (eds.), Vernunftrepublikanismus in der Weima­ rer Republik. Politik, Literatur, Wissenschaft, Stuttgart 2008, 161. 64 Walter Laqueur, Weimar. Die Kultur der Republik, Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1976, 69.

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raging after all) … this signal flare I will shoot into your sky. Let us make a pact […] for the intellect! Against mystery-mongers and obscurantists!)65 The readers of the newspapers Zeit-Echo and Die Weißen Blätter, where it was published, must have perceived this as a statement of opposition chal­ lenging the political authority and legitimacy of the war. What Hiller had in mind was probably not to establish a pacifist organization; he intended to discuss alternative ways of culture, philosophy and politics. Among those three, indeed, politics was the less important aspect. According to Hiller, the idea for an alliance of intellectuals emerged in a discussion with his friends Ludwig Rubiner and Alfred Wolfenstein about the new literary movement of Aktivismus, which argued for writers’ intervention in the political sphere, and about the publication of an Activist periodical. However, it remained unclear which goals the intellectuals actually set out to achieve. One has to take into account that, by means of terminology, Hiller addressed quite a specific audience. Only a minority of German literates could identify with being called an intellectual, which was considered a swearword at that time, or with Hiller’s most particular use of Geistige (the Germanic term for “intellectuals”). Neither left-wingers like Franz Pfemfert or Ernst Bloch nor conservatives like Thomas Mann or Oswald Spengler felt addressed by Hil­ ler’s Activism.66 Hiller’s understanding of Geistige derived from Platon, Jakob Friedrich Fries, Friedrich Nietzsche and Leonard Nelson67 and stood in opposition to the principle of the equality of all people. Hiller believed in an essential difference between those qualified for political leadership (“die Geistigen”) on the one hand, and the majority of people on the other. A wri­ ter’s responsibility to act as avant-gardist was also proposed by Gustav Landauer and Ernst Toller. But they rejected the notion of political power being concentrated in the hands of intellectuals. So did Heinrich Mann, an important reference for Hiller and author of the introduction of the first ever Activist yearbook Das Ziel. Jahrbücher für geistige Politik, published in 1916.68 It addressed the main principles of Activism, such as the necessity for intellectuals to unite and become involved in public and political issues.69 65 Kurt Hiller, Aufruf, in: Die weißen Blätter 2 (1915), no. 7, 935; idem, Wir, 132–134. Another article on this topic – in this case without a call for unification – was published in Die Schaubühne. Idem, Bund der Geistigen, in: Die Schaubühne 11 (1915), no. 24, 557– 562, here 557. 66 Dietz Bering, Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes, Frankfurt a. M. 1982, 77–87. See for a new and completely revised edition: idem, Die Epoche der Intellektuel­ len. 1898–2001. Geburt, Begriff, Grabmal, Darmstadt 2010. 67 Alexandra Gerstner, Neuer Adel. Aristokratische Elitekonzeptionen zwischen Jahrhun­ dertwende und Nationalsozialismus, Darmstadt 2008, 265 and 276. 68 Ibid., 272–274. 69 Kurt Hiller, Philosophie des Ziels, in: Das Ziel 1 (1916), 187–217.

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Hiller’s alliance assembled more or less the group of authors contributing to Das Ziel. Although none of the ideas expressed in the yearbook were indi­ cative of ambitions to overturn the existing political order, they apparently gave the authorities reason enough to consider the yearbook a national threat. The nationalist newspaper Das größere Deutschland called the year­ book “einen erfolgsverheißenden Reklameartikel, nicht für den deutschen Geist, wohl aber für das feindliche Ausland […]. Herrschaft des Intellekts, Radikalismus, zersetzende Kritik und Revolution sind die herausragenden Momente dieses antinationalistischen Machwerkes” (a promotional effort that promises success, not for the German intellect [Geist] but rather for the foreign enemy […]. Rule of the intellect, radicalism, corrosive criticism and revolution are the outstanding features of this sorry anti-nationalist piece of literature).70 Moreover, the paper claimed that this book “alle Verschwom­ menen und Pervertierten zu einem heimlichen Bunde [zusammenschließt]” ([brought together] all the blurred and perverted in a secret society) who then would form “ein unsichtbares gefahrdrohendes Narrenhaus” (an invisi­ ble, threatening madhouse).71 The authors’ stigmatization as “perverts” was an obvious response to a number of controversial writings by Kurt Hiller, Hans Blüher72 and Gustav Wyneken. Hiller had argued in his PhD thesis against the punishment of homosexual intercourse and abortion.73 Blüher, on the other hand, had gained fame for his books about the German boy scouts, whom he described as an “erotic phenomenon,” as a homoerotic brother­ hood.74 While in later years he developed strong nationalist, misogynist and anti-Semitic views, at the time of the yearbook’s publication he still sup­ ported his Jewish friend Kurt Hiller.75 Finally, the school reformer Gustav Wyneken attracted attention when he advocated coeducation and sex educa­ tion in public schools in one of his writings.76 The public’s perception of Hil­ ler, Blüher and Wyneken as being abnormal and threatening was fuelled by the ongoing discourse about homosexual conspiracy following the Harden70 J. P. Buß, Deutschlands innere Feinde, in: Das größere Deutschland 3 (1916), no. 22, 694–699, here 696. 71 Ibid. 72 As far as is known Hiller was not part of Blüher’s youth movement. He met Blüher in February 1913 during a meeting of Magnus Hirschfeld’s Wissenschaftlich-humanitäres Komitee. Bruns, Politik des Eros, 258 f. 73 Hiller, Das Recht über sich selbst. 74 Hans Blüher, Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen. Ein Beitrag zur Erkenntnis der sexuellen Inversion, Berlin-Tempelhof 1912. 75 KHG, file Carl Maria Weber, Kurt Hiller, Letter to Carl Maria Weber, 16 November 1946. About Blüher’s intellectual transformation see Bruns, Politik des Eros. 76 In his article Blüher attacks the bourgeois sex morals: idem, Die Untaten des bürgerlichen Typus, in: Das Ziel 1 (1916), 9–30. The volume covers much more different topics than gender issues.

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Eulenburg affair in 1908.77 Interestingly, the homosexual aristocrats that came under pressure that year were considered to be Francophile and in favor of an agreement with France that could prevent World War I.78 During the trial the journalist Maximilian Harden, who had brought the alleged scandal to the public’s attention, and other war supporters constructed a con­ nection between homosexuality and pacifism to discredit the circle around Philipp Eulenburg, a close friend of the German Emperor. As Norman Domeier puts it: “Weil die Mitglieder der Eulenburg-Kamarilla homosexuell waren, mussten sie pazifistisch sein, weil sie pazifistisch waren, mussten sie homosexuell sein.” (Because the members of the Eulenburg-Camarilla were homosexual they had to be pacifists; because they were pacifists they had to be homosexual.)79 In fact, Hiller and his fellow writers posed no threat whatsoever to the Kaiserreich or the army, but they were still treated much like a public enemy. The army was in charge of censorship and, following the arguments of the newspaper Das größere Deutschland, banned the yearbook Das Ziel because of its “revolutionäre, antireligiöse, antimilitaristische, frauenrechtlerischpazifistische und homosexuelle Beiträge” (revolutionary, antireligious, anti­ militarist, feminist-pacifist and homosexual articles).80 However, due to the decentralization of the German military censorship the book was still sold in some parts of Germany,81 where it attracted a limited audience in the liberal bourgeoisie. Theodor Heuss, who later became the first president of the Fed­ eral Republic of Germany, was disappointed with Das Ziel and called it “zusammengelesener Kram von kleinen Vernünftigkeiten und kleinen Tor­ heiten” (odds and ends of some small reasonability and foolishness gathered together).82 The second volume of the yearbook was published in 1918, shortly before the war ended. This time it included some explicit antimilitarist ideas. In a short article of four pages Kurt Hiller expressed support for the Zentralstelle Völkerrecht (Central Agency for International Law), which the Deutsche

77 See Andreas Stuhlmann’s contribution in this volume. 78 This aristocracy should not be mistaken as similar to Hiller’s idea of an “intellectual aris­ tocracy,” that he developed from 1916 onwards. Usually nobility is passed on to the des­ cendents, but Hiller required intellectual performances and fame. 79 Norman Domeier, Der Eulenburg-Skandal. Eine politische Kulturgeschichte des Kaiser­ reichs, Frankfurt a. M. 2010, 302. 80 DLA, A: Seyerlen, 66.137, Kurt Hiller, Rundbrief an die Mitarbeiter und Freunde des ers­ ten Bandes “Ziel”, 1 October 1916. 81 Florian Altenhöner, Kommunikation und Kontrolle. Gerüchte und städtische Öffentlich­ keiten in Berlin und London 1914/1918, München 2008, 56. 82 Theodor Heuss, Die Politisierung der Literaten, in: Das literarische Echo 18 (1915), no. 11, 657–664, here 659.

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Friedensgesellschaft had founded in 1915 to prevent future wars.83 His mod­ erate statement for peace stood in stark contrast to another article by a cer­ tain Richard Mattheus, who attacked the government with harsh words and held the culture of blind obedience (Untertanengeist) responsible for the miserable situation of the German Reich. It was necessary, he maintained, to establish a state representing the will of its citizens, a goal which only prole­ tarians or, preferably, intellectuals could achieve.84 In the following essay Hiller put forward the idea that intellectuals had a political mission, which he repeatedly stressed in subsequent years: He called for the creation of a second parliamentary chamber consisting of self-appointed thinkers, who would determine the country’s political strategy.85 Hiller’s antimilitarist ideas applied to the war alone and constituted merely a first tentative step towards pacifism. Already in 1917 he had planned to publish a newspaper to promote “radikale[n] Pazifismus; im übrigen ‘Sozial-Aristokratismus’” (radical pacifism; moreover “social aristocratism”).86 While Hiller had repeatedly expressed his interest in a second issue of the yearbook since the appearance in 1916 the first volume failed to attract any greater attention. About 3 000 copies were printed, a number too small to exert any influence in the Kaiserreich worth mentioning and much less so to constitute a revolutionary threat.87 But as Hiller had predicted in 1913, the authorities’ reaction to the yearbook signaled their assumption that he was an opponent of the regime. They also prohibited the publication of the sec­ ond volume in 1918, although it did not reach a broad audience anyway.

The Intellectual Revolutionist Because free publishing was impossible, the authors of Das Ziel formed the Bund zum Ziel, a secret group that aimed at ending the war and the rule of the Hohenzollern monarchy. As Hiller himself later admitted, the young ideal­ ists’ activities hardly ever went beyond theoretical discussions about unrea­ listic goals.88 On 3 November 1918 soldiers and workers started to take over power in their local communities, while army headquarters and the old government offered hardly any resistance. Chancellor Prinz Max von Baden unilaterally 83 84 85 86 87 88

Kurt Hiller, Zentralstelle “Völkerrecht”, in: Das Ziel 2 (1918), 145–149. Richard Mattheus, Vom herrschenden und dienenden Staat, in: Das Ziel 4 (1918), 342 f. Kurt Hiller, Ein deutsches Herrenhaus, in: Das Ziel 2 (1918), 379–425. KHG, file Kurt Wolff, Kurt Hiller, Letter to Kurt Wolff, 29 November 1917. DLA, A: Langen-Müller, Georg Müller, Letter to Kurt Hiller, 9 January 1915. Hiller, Leben gegen die Zeit, vol. 1: Logos, 119.

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declared the abdication of the emperor and turned his position over to Frie­ drich Ebert, the leader of the Social Democrats. Just a few hours later Ebert’s fellow party member Scheidemann spontaneously proclaimed the German Republic from the balcony of the parliamentary building.89 The German monarchies came to an end.90 But now different groups were struggling to gain power: Besides the paralyzed old elites, this included the officially rul­ ing Social Democrats on the one hand, who were divided among themselves into a majority of war supporters and a pacifist minority, and the revolution­ aries on the other hand. In fact, workers and soldiers, who had formed coun­ cils (“soviets”) following the example set by the Russian Revolution of Feb­ ruary 1917, controlled the country. The council members were widely recognized as representatives of the people, and even though the new chan­ cellor Friedrich Ebert feared the councils as a harbinger of bolshevist over­ throw, he legitimized his government through the institutionalization of council democracy in a symbolic demonstration of power. A less known facet of the 1918/1919 revolution was the active participa­ tion of social classes other than the proletariat. As a reaction to the rise of workers’ and soldiers’ councils to power, members of the middle class, most notably doctors, lawyers and business men, formed their own councils. Some of them even worked in the revolutionary councils, such as the later president of the Reichsbank and supporter of Adolf Hitler, Hjalmar Schacht in Berlin-Zehlendorf.91 Although a number of bourgeois councils were set up to disguise counterrevolutionary aims, most consisted of liberal and socialist artists and writers who genuinely supported the revolution. Unlike the radical left Spartacus movement, for instance, they were less concerned with the reformation of ownership and the means of production than with a more profound societal change: “Nicht der Körper sollte sich empören, son­ dern der Geist.” (Not the body should bristle with anger but the mind.)92 Probably the most noted among those artists’ associations was the Rat geistiger Arbeiter (Council of Intellectual Workers), headed by Kurt Hiller. Hiller united his friends and colleagues from the yearbook Das Ziel in the Berlin Reichstag, one of which rooms was placed at his disposal owing to his personal contact with the head of Berlin’s soldiers’ council, Hans-Georg von Beerfelde. They were given the vague promise to take their place as 89 Heinrich August Winkler, Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiter­ bewegung in der Weimarer Republik, Berlin/Bonn 21985, 44–46 (first publ. 1984). 90 For detailed information see Lothar Machtan, “Macht doch euern Dreck alleene!” Wie Deutschlands Monarchen aus der Geschichte fielen, Augsburg 2012. 91 Hans-Joachim Bieber, Bürgertum in der Revolution. Bürgerräte und Bürgerstreiks in Deutschland 1918–1920, Hamburg 1992, 55–58. 92 Frank Thies, Letter to Kurt Hiller, February 1921, cit. in idem (ed.), Das Gesicht des Jahr­ hunderts. Briefe an Zeitgenossen, Stuttgart 1929, 67–92.

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third power next to the workers’ and soldiers’ councils with the responsibil­ ity for cultural policy. The opening ceremony of the Council took place on 10 November, the same day that 3,000 workers’ and soldiers’ councils unan­ imously confirmed the Ebert government. The activists around Hiller were convinced that they were now part of the power center. There was great applause when the Dadaist Richard Huelsenbeck read out a message from the industrial Robert Bosch who expressed his support for the newly formed council, assigning it the responsibility to nationalize his factories. Unfortu­ nately, a second telegram from the outraged Bosch proved the first one to be a Dadaist joke.93 This episode perfectly demonstrates the naïvety of Hiller and his colleagues. Through World War I Hiller had become a political opponent but gained no practical experience and was unprepared to take on governmental responsibility. At least he embarked on his political adventure with a well elaborated program which reflected the ideological transforma­ tion Hiller had undergone. Consistent with the revolution’s most commonly pursued objectives, the program included the promotion of press freedom, freedom of assembly and association, separation of church and state, as well as freedom of sexuality.94 As a protection against the emerging danger of Communist affliction Hiller envisioned the implementation of “socialism.” Only the “Aufbau der revolutionären Ordnung” (creation of a revolutionary order), he argued, could prevent “Brudermord” and “roten Terror” (fratricide and red terror).95 Hiller’s idea of socialism was far from being an elaborated concept; it was mainly based on anti-capitalism and lacked economic con­ siderations, a field he was not interested in. Instead, he was satisfied with being solely responsible for cultural politics and offering support to the Independent Social Democratic Party (USPD).96 The same deficiency was characteristic of his later concepts of “freiheitlicher Sozialismus” and “Neu­ sozialismus” (Liberal Socialism and New Socialism). Hiller supported an economic collectivism without, however, defining where the nationalization of companies and factories should end. In any case, he made his distaste for the Soviet and East German socialism clear. He was mocking Marx’ histori­ cal materialism and claimed a state under the rule of law.97 His socialist model incorporated elements of both, Social Democratic and Communist thought. In 1918, Hiller’s Council of Intellectual Workers included in their program a few other points, which became prominent during the socialist 93 Rat der Geistigen, Eine Revolutionserinnerung an Kurt Hiller, in: Die Zeit, 25 August 1955. 94 Rat geistiger Arbeiter, Programm, in: Die Weltbühne 14 (1918), no. 47, 473–475. 95 Bundesarchiv of the Federal Republic of Germany, NL 212 Quidde, no. 5, Flugblatt des Rates geistiger Arbeiter. 96 Kurt Hiller, Der geistige Mensch und die Parteien. Beilage, in: Freiheit, 1 January 1919. 97 Gallus, Heimat “Weltbühne”, 140–142.

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Russian Revolution: the abolition of conscription and prohibition on the establishment of any military facilities.98 In fact, the war had made Hiller a socialist and pacifist. The Council of Intellectual Workers remained a short episode. After von Beerfelde was removed from his job they lost their most influential suppor­ ter and the prestigious room in the Reichstag. However, the council was able to keep up its work for nine more months, owing to the funds Alfons Gold­ schmidt99 had solicited from an anonymous patron, and was able to organize a national congress of Activists. The Berlin Council invited numerous col­ leagues from other cities, but only 150 people eventually participated in the event between 15 and 22 June 1919 hosted in Berlin. On the one hand, many invitees from Austria and Southern Germany refused to come as they feared the outbreak of riots following the signing of the Treaty of Versailles; on the other hand, public awareness of the congress was generally low due to strikes in Berlin’s editorial departments.100 The meeting ended with a resolu­ tion suggesting Activists should join political parties in order to actively par­ ticipate in the country’s political processes. Contrary to Hiller’s intention the movement of intellectuals decided to disband. The politicization of intellec­ tuals through World War I did not last for long. The reasons for the Council’s decision were manifold. Towards the end, its activities had elicited criticism and derision, for example from journalists such as Weltbühne editor Siegfried Jacobsohn, who called the Council’s members “[a]hnungslos idealistisch und himmelblau unschuldig” (naive ide­ alists and wide-eyed innocents). Indeed, disillusioned with political reality many writers dropped out of the council movement.101 Kurt Hiller was also met with opposition by fellow literates, because rather than acting in concert with the democratic efforts of most revolutionaries, he proposed a system in which a minority of intellectuals would rule over the majority. The Commu­ nist dramatist Friedrich Wolf, himself member of a council in Dresden, was outraged that the equality of humans was called into question.102 Ernst Bloch argued right from the beginning that Hiller should join the workers’ and sol­ diers’ councils.103 The formerly Expressionist journal Die Aktion wished the 198 Rat geistiger Arbeiter, Programm, 473 f. 199 For Alfons Goldschmidt see Wolfgang Kießling, Vom Grunewald nach Woodstock über Moskau. Alfons Goldschmidt im Exil, in: Exilforschung 8 (1990), 106–127. 100 Gerstner, Neuer Adel, 44 f. 101 Siegfried Jacobsohn, Antworten. Kurt Hiller, in: Die Weltbühne 14 (1918), no. 50, 566– 568, here 566. 102 Eva Kolinsky, Engagierter Expressionismus. Politik und Literatur zwischen Weltkrieg und Weimarer Republik. Eine Analyse expressionistischer Zeitschriften, Stuttgart 1970, 119. 103 Ernst Bloch, Zur deutschen Revolution, in: Revolution 2 (1918), no. 30, cit. in Kolinsky, Engagierter Expressionismus, 116 f.

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members of the intellectual councils would drop dead of “ihrer bauchblähen­ den Pöbelverachtung” (their belly-bloating contempt for the masses).104 In one article they were accused of having prevented a real revolution.105

The Legacy of World War I While other artists completely withdrew from the political stage after the war, Hiller stayed politically active. He joined the Deutsche Friedensge­ sellschaft in 1920 and evolved into one of its leading figures, infamous for his attacks on political opponents, such as Friedrich Wilhelm Foerster or Fritz Küster. When the left wing under Küster took power in the Peace Society, Hiller was expelled from it. What became known as the “pacifist war” was a struggle which essentially revolved around the internationaliza­ tion of the peace movement. Küster and some of his associates had accepted funds from foreign organizations. However, the transaction had been non­ transparent and, to Hiller, suspicious, for which reason he claimed Küster had been “paid off” by the French and Czech governments.106 In his eyes, a peace movement that did not even stop at exploiting such dubious means in order to reach its goal discredited itself. What is more, Hiller, who himself strongly identified with his home country Germany and its culture, also fer­ vently disagreed with Küster, and his ideological mentor Foerster respec­ tively, about the question of Germany’s sole responsibility for the outbreak of World War I.107 Jokingly, he called Foerster “Preußenfresser” (“Prussian eater”, that is, someone who hates Prussians).108 According to Hiller, com­ bining nationalist with pacifist rhetoric would result in the most effective propaganda for their cause. As Hiller was unable to overcome his conflict with Küster he founded his own organization, the Gruppe Revolutionärer Pazifisten (Group of Revolutionary Pacifists). Once more Hiller surrounded 104 Michael Stark, Literarischer Aktivismus und Sozialismus, in: idem (ed.), Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus. 1890–1918, 566–576, here 574. 105 Pol Michels, Das Verbrechen der Intellektuaille. Zum 9. November, in: Die Aktion 9 (1918), no. 45, 752–754, here 754. 106 Reinhold Lütgemeier-Davin, Pazifismus zwischen Kooperation und Konfrontation. Das deutsche Friedenskartell in der Weimarer Republik, Köln 1982, 117 f. For details see Friedrich-Karl Scheer, Die Deutsche Friedensgesellschaft (1892–1933). Organisation, Ideologie, politische Ziele. Ein Beitrag zur Geschichte des Pazifismus in Deutschland, Frankfurt a. M. 1983, 587 f. 107 Helmut Donat, Die radikalpazifistsche Richtung in der Deutschen Friedensgesellschaft, in: Karl Holl/Wolfram Wette (eds.), Pazifismus in der Weimarer Republik. Beiträge zur historischen Friedensforschung, Paderborn 1981, 27–46, here 30. 108 Hiller, Leben gegen die Zeit, vol. 1: Logos, 147.

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A Twisted Road to Pacifism

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himself with like-minded people instrumental to his accumulation of sym­ bolic capital and the formation of a new council of intellectual workers. Among them were such renowned figures as Kurt Tucholsky, Helene Stöcker and Klaus Mann,109 all of whom backed the political strategy Hiller adopted in the name of the council.110 Trust and common values made this a very efficient platform for Hiller’s Activism, who, building on his political strategy developed during the war, made use of public interventions and worked with a small hand-picked group of intellectuals. Journals such as Die Friedens-Warte or Die Weltbühne, publishing his articles, now served as conduit for his ideas. Besides his commitment to peace Hiller propagated a socialist unity to prevent the rise of nationalist and right-wing movements. Even though he never gave up on a philosophy that espoused the rule of the noble intelligen­ tsia, he identified himself with the left-wing movement. To him, intellectual­ ity was independent of political orientation and therefore a “nationalistischer Selbstdenker” (Nationalist freethinker) earned more respect than a “kommu­ nistischer Nichtdenker” (Communist non-thinker).111 This guiding principle led him to appreciate cooperation with writers who held political views entirely different from his own. In 1930, for instance, Hiller engaged in a public discussion with the right-wing nationalist Franz Schauwecker,112 and published a manifest together with the former NSDAP-leader Otto Strasser in 1938.113 However, his involvement in the revolutionary council movement and the close contact to workers and soldiers that he had established at least for a little while left an indelible mark on him. Kurt Hiller the socialist only had come to life during the last days of war. Considering the complexity of his political and social vision, he may have indeed ended up in any other political camp. At the end of the 1920s he surprised his readers with two arti­ cles praising Benito Mussolini whom he attested “Vitalität,” “Eleganz” and “Ehrlichkeit” (vitality, elegance and honesty). He liked the “Kraftkerl” (strongman) Mussolini for his appearance, but also stated ironically: “Es 109 Institut für Zeitgeschichte München, NL Eugen Brehm, ED 228, file 11, Kurt Hiller, Auf­ listung Mitglieder der GRP, 3 August 1956. 110 For further details about the political activities of the Gruppe Revolutionärer Pazifisten, see Rolf von Bockel, Kurt Hiller und die Gruppe Revolutionärer Pazifisten 1926–1933. Ein Beitrag zur Geschichte der Friedensbewegung und der Szene linker Intellektueller in der Weimarer Republik, Hamburg 1990. 111 Kurt Hiller, Linke Leute von rechts, in: Die Weltbühne 28 (1932), no. 31, 153–158, here 155. 112 Idem/Franz Schauwecker, Krieg und Frieden. Diskussion zwischen Dr. Kurt Hiller, dem Führer der Gruppe Revolutionärer Pazifisten, und Franz Schauwecker, einem der Führer des deutschen Nationalismus. Gesprochen im Berliner Rundfunk, in: Friedens-Warte 30 (1930), no. 10, 289–296. 113 Idem/Otto Strasser, Erklärung, in: Die sozialistische Warte 13 (1938), no. 5, 118–120.

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fehlt dem Fascismus eines: die Heuchelei. Er ist so ehrlich wie brutal.” (Fas­ cism is lacking one thing: hypocrisy. It is as honest as it is brutal.) For him the leader of Italian fascism was a criminal, but an unashamed one (ein “aufrichtiger Verbrecher”).114 Unusual for the tensed political culture of the Weimar Republic, Hiller’s assessment of Mussolini’s ideology was differen­ tiated to an extent that he even identified certain favorable aspects in Fas­ cism.115 On the one hand, he simply enjoyed political provocation and diver­ gent thinking. But then again his attitude demonstrated his lifelong fascination for the military demeanor. He adored Mussolini for his uniform, his discipline and masculine behavior. At the age of eighty-six he admitted to a friend that in his 20s he had published an article under a pseudonym about the “aufrechte Haltung” (upright demeanor), and that this text revealed “eindeutige Sympathie für den ‘Militarismus,’ zu welchem […] [er] damals vom Logos her affektlos = neutral, von Eros her ohne Einschränkung positiv stand” (obvious favor for “militarism” towards which […] his attitude was, with regard to Logos, unemotional = neutral, with regard to Eros, unreserv­ edly positive).116 Referring to the Greek word lógos Hiller underlined that, intellectually and logically, he had had nothing against war and the military until 1915, when he turned into a pacifist. However, emotionally – and eroti­ cally – Hiller felt drawn to the military until the end; for him it was the mani­ festation of the virility he always felt he lacked. Being both an intellectual and homosexual, society’s judgment of him as weak and feminine weighed heavily on his confidence, which he tried to compensate for by means of physical activity and his open admiration for soldiers. Unlike George Grosz or Kurt Tucholsky, for example, who both developed a deeply rooted hatred for militarism, he had never faced the traumatizing reality of frontline experience. In his mind, Hiller had created a romanticized image of military life that promised everything he had always longed for as a man who was by public definition basically a woman. This explains his affinity to revolution­ ary pacifism, which permitted violence as a means to achieve one’s pacifist goals and, thus, allowed Hiller to reconcile heart and mind.117

114 Idem, Mussolini und unsereins, in: Die Weltbühne 22 (1928), no. 2, 45–48, here 47; idem, Das Ziel entscheidet, in: Die Weltbühne 23 (1927), no. 28, 45–47, here 45. 115 Laqueur, Weimar, 62. 116 SUB H, NL Kurt Hiller, 1987.1202, Kurt Hiller, Letter to Klaus Täubert, 1 June 1972. 117 This is most prominently outlined in the posthumously published book Kurt Hiller, Pazi­ fismus der Tat – revolutionärer Pazifismus, Berlin 1981.

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Den Ersten Weltkrieg denken: Theodor Lessings »Philosophie der Not« »Im August 1789 beschlossen die Menschen Weltbürger zu werden. Im August 1914 beschlossen sie das Gegenteil.«1

In seinem öffentlichen Vortrag vom 14. Oktober 1914 stellte der Philosoph, Publizist und Mediziner Theodor Lessing (1872–1933) Fragen in den Raum, deren Beantwortung er sich zur Aufgabe gemacht hatte: »Während Millio­ nen Mörser eine schreckliche Todessaat über die bebende Erde streun, wäh­ rend Kanonen, Haubitzen, Maschinengewehre die allen verständliche Spra­ che der Gewalt reden, während Granaten über Millionen Lagerfeuern, Millionen Schützengräben pfeifen«,2 stelle sich für jeden Einzelnen die Frage, wo er stehe und was er zu tun gedenke, um diesem sinnlosen Krieg Einhalt zu gebieten. Dies gelte insbesondere für die Historiker und Philoso­ phen, deren Aufgabe es sei, die Wirklichkeit zu beschreiben und kritisch zu reflektieren. »Und was rundum in Europa jetzt vorgeht, mag es vor dem Auge des Geistes Sinn und Vernunft, mag es Wahn und Unsinn heißen, es ist jedenfalls die brutale Tatsache brutaler Wirklichkeit.«3 Das Vortragsmanuskript, das sich in Lessings Nachlass im Stadtarchiv sei­ ner Heimatstadt Hannover befindet, ist überschrieben mit »Et si omnes ego non« – »Auch wenn alle [mitmachen], ich nicht«. Theodor Lessing war einer der wenigen, die nicht in den nationalistischen Chor einstimmten, als Deutschland im August 1914 mobil machte. Vielmehr trat er als Mahner und Warner vor die Öffentlichkeit und stieß damit überwiegend auf Unver­ ständnis: Eine »undeutsche« Haltung und mangelnder Patriotismus – so lau­ teten die Vorwürfe. Man schalt ihn einen Nestbeschmutzer und verhöhnte ihn als Wirrkopf. Bereits kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs schien Lessing geahnt zu haben, was dieser Krieg an Gewalt, Leid und Elend über die Welt bringen werde, und als Philosoph mahnte er seine Zeitgenossen, dem Wahnsinn Ein­ halt zu gebieten. Als Militärarzt linderte er menschliches Leid unmittelbar.

1 2

3

Theodor Lessing, Feind im Land. Satiren und Novellen, Hannover 1923, 73. Stadtarchiv Hannover, Theodor Lessing Nachlass, Nr. 2139, Et si omnes ego non. Krieg und Armut, Typoskript. – Öffentlicher Vortrag an der Königlich Technischen Hochschule von Hannover. Ebd. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 389–410.

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»Als ich unmittelbar nach dem Ausbruch des Weltkriegs, im August 1914, mich als kriegsfreiwilliger Arzt dem Bezirkskommando stellte, da beflügelte mich nicht die Vaterlandsliebe und nicht die Menschenliebe und überhaupt keine rühmenswerte Trieb­ feder, sondern ich hatte den Wunsch, nach Möglichkeit vor Vaterland und Menschheit zu flüchten. Ich kämpfte gegen die ›Große Zeit‹, wo immer ich’s konnte. Denn ich sah die Welt um mich herum als verrückt an.«4

Vergeblich suchte Lessing nach Mitstreitern, die sich mit ihm öffentlich gegen die Kriegspolitik des Deutschen Reichs stellten. Er selbst machte aber keine Anstalten, sich bestehenden Gruppen anzuschließen, vielmehr fühlte er sich »heimatlos, zwischen allen Sekten und Parteien hin- und hergewor­ fen, besaß […] nur den Schutz der Selbstkritik als Quelle seiner Selbstbe­ freiung«.5 Es war die Philosophie, die ihm in dieser Zeit Kraft gab und ihn tröstete. Neben seinem Einsatz als Lazarettarzt hielt Lessing Vorträge und trieb seine erkenntniskritische Analyse der ideologischen und geschichtspsycho­ logischen Voraussetzungen des historischen Gedächtnisses voran. Hierbei stellte er sich selbstkritisch die Frage, welche Funktion die Philosophie denn habe: »Sie ist die unwirklichste und unhistorischste aller Wissenschaften: Sie ist überhaupt keine Wissenschaft. Sie gibt kein Wissen von der Welt, kein Feststellen, kein Zurecht­ finden in der Wirklichkeit. Sondern sie bietet Welterkenntnisse. Das heißt: Wahrheit über Wirkliches. Der Mensch als ›Vernunftwesen‹ muß der Macht und dem Zufall von nachhinein einen Sinn geben. Muß alles Wirkliche ›beurteilen‹, alle Erfahrung ›aus­ werten‹.«6

Der Philosoph fungiere demnach als Aufklärer, zumal die Geschichtsschrei­ bung die Wirklichkeit verkläre und zur Mythenbildung neige. Lessing fokussierte eine geschichtsphilosophische Analyse des zeitgenössischen Historismus. In seinem Hauptwerk Die Geschichte als Sinngebung des Sinn­ losen sezierte er die unterschiedlichen Ausdrucksformen ein und derselben logificatio post festum, einer nachträglichen Rechtfertigung von sinnlosen, ja verbrecherischen Taten im Namen der Nation, getragen von Werten und Idealen. Geschichtlichen Prozessen – wie aktuell dem Weltkrieg – werde ein Sinn eingeschrieben. Seine scharfe Kritik galt der Geschichtswissenschaft der Zeit, insbesondere seinen Historikerkollegen, die als »nationalstolz­ schwellende Kompanien«7 keinerlei methodische oder theoretische Erneue­ rung in der Geschichtswissenschaft duldeten.

4 5 6 7

Ders., Das Lazarett, in: Prager Tagblatt, 10. Februar 1929. Ders., Philosophie als Tat, Göttingen 1914, Bd. 2, 324. Ders., Et si omnes ego non. Rainer Marwedel, Theodor Lessing 1872–1933. Eine Biographie, Darmstadt 1987, 149.

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Im Rückblick auf den Kriegsbeginn bemerkte Lessing in seinem vermut­ lich letzten in Deutschland veröffentlichten Artikel Nein! am 31. Januar 1933, also einen Tag nach Hitlers Machtantritt: »Im Januar 1914, im Beginn des Weltkrieges, habe ich einen Warnruf ausgesendet, ein Buch unter dem Titel: ›Der Untergang der Erde am Geist‹. Der menschliche Geist, so lehrte der ›Warnruf‹, steht just heute an einem Punkte der Geschichte, wo die Wissen­ schaft, Chemie, Physik und Technik mit voller Sicherheit zum Untergang führen muß. Zur Selbstzerstörung des Menschen durch den Menschen. Zum Untergang der ganzen lebenden Erde, wenn nicht ein Volk aufsteht und verkündet: ›Bis hierher und nicht wei­ ter!‹«8

Blickt man auf Lessings Leben und Wirken, wird offenbar, dass er bis zu seiner Ermordung der Maxime »Bis hierher und nicht weiter!« treu blieb. Im Folgenden soll Lessings Reaktionen auf den Ersten Weltkrieg und seinen aus ihm gezogenen Lehren in den philosophischen wie auch den feuilleto­ nistischen Texten nachgegangen werden. Hierfür werden neben den publi­ zierten Werken auch randständige Artikel und zu Lebzeiten unveröffent­ lichte Texte, insbesondere die Autobiografie Einmal und nie wieder (1935), in die Betrachtung einbezogen. In der Gesamtschau des schriftlichen Nach­ lasses sowie anhand zeitgenössischer Äußerungen über den streitbaren Arzt, Kulturkritiker, Metaphysiker, Schulreformer, Pazifisten und Zionisten wer­ den Denken und Handeln des stets sich vorherrschender Meinung Verwei­ gernden in den Blick genommen.

Zwischen Reichsgründung und Kriegsausbruch Theodor Lessing entstammte einer alteingesessenen bildungsbürgerlichen deutsch-jüdischen Familie. Sein Vater Siegmund Lessing, ein bekannter Hannoveraner Modearzt und Lebemann, entstammte einer seit Generationen in Niedersachsen angesiedelten Familie, die sich als Hommage an den Ver­ fasser von Nathan der Weise den Nachnamen Lessing zugelegt hatte. Theo­ dor Lessings Mutter Adele war die älteste Tochter des Düsseldorfer Ban­ kiers Leopold Ahrweiler. Die Heirat erfolgte aus rein ökonomischen Erwägungen, denn Siegmund Lessing befand sich in Geldnot und Adele ver­ sprach eine stattliche Mitgift in die Ehe einzubringen. Als diese bereits mit Theodor schwanger war, wollte Siegmund die Verbindung auflösen und lie­ ber eine ihrer jüngeren Schwestern heiraten. Allerdings war die Mitgift 8

Theodor Lessing, Nein!, in: Volkswille, 31. Januar 1933, Beilage »Für Unterhaltung und Bildung«, abgedruckt in: ders., Wortmeldungen eines Unerschrockenen. Publizistik aus drei Jahrzehnten, hg. von Hans Stern, Leipzig/Weimar 1987, 347–353, hier 348.

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bereits zu einem Gutteil verbraucht und die Intervention des Schwiegerva­ ters erfolgreich. Zur Welt kam Theodor Elchanan Lessing am 8. Februar 1872, nachdem die Mutter – wie der Sohn in seiner Autobiografie bemerkte – am Abend zuvor im Hoftheater eine Aufführung von Shakespea­ res Richard II. besucht hatte. Auch nach der Geburt des Kindes pflegte Adele Lessing weiter ihren Müßiggang und der Vater begegnete dem unge­ liebten Sohn zeitlebens mit Verachtung. Sein Widerwille muss so groß gewesen sein, dass er, der seine Arztpraxis im eigenen Haus hatte, die Ent­ bindung nicht selbst vornahm. In Lessings Autobiografie heißt es rückbli­ ckend: »[S]obald ich anfing bewußt zu werden […], [begann] eine seelische nicht minder wie körperliche Loslösung von beiden Eltern, welche gegenüber der Mutter sich auch als leiblicher Widerwille, ja als starker Ekel kundgab, gegenüber dem Vater aber vorwie­ gend ein Grauen war, Entsetzen und blasse Furcht.«9

Die Ohnmacht gegenüber dem selbstgerechten und tyrannischen Vater und dessen Geltungsdrang sowie sein wohlstandsorientiertes Handeln standen für den jungen Theodor Lessing synonym für das »jüdische Wesen«. Bereits der Zehnjährige forderte in einem 32 Seiten umfassenden Tagebucheintrag, dass die Juden sich zu emanzipieren hätten, was auch impliziere, sich von jenem »jüdischen Wesen« zu lösen und damit die traditionellen Berufe (ins­ besondere Bankwesen und Handel) aufzugeben und »Menschen der Tat« zu werden, das heißt sich einem Handwerk, dem »eigenen Schaffen« zuzuwen­ den. In der Folge suchte der Heranwachsende nach Gegengewichten zu sei­ ner als Makel empfundenen Herkunft. Die in der Schule vermittelten Werte von Deutschtum und Patriotismus boten sich daher nur zu leicht als Identifikationsmuster an. Allerdings gaben die Lehrer gleichsam das Schauspiel, das er aus seinem Elternhaus kannte: »Alle forderten Bewunderung, mindestens Gehorsam«, es waren »preußische Beamte, Leutnants der Reserve, kaisertreu und sehr vaterländisch. Sie waren erpicht auf Standesehre und Standesgemäßheit. Denn der Oberlehrer galt in der Gesellschaft nicht ganz so viel wie der Amtsrichter oder der Sanitätsrat und kompen­ sierte sein bescheidenes Gehalt durch um so strengere Schneidigkeit. Er war der Män­ nertyp, der beständig männerte.«10

Die anfänglich duckmäuserische Haltung des Pennälers verkehrte sich als­ bald in Sarkasmus und Renitenz. Allein die Freundschaft mit dem Klassen­ kameraden Ludwig Klages (1872–1956) gab ihm in jenen Jahren Halt und

19 Ders., Einmal und nie wieder. Lebenserinnerungen. Mit einem Vorwort von Hans Mayer, unveränd. Nachdruck der Erstausgabe von 1935, Gütersloh 1969, 93. 10 Ebd., 108.

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Trost. Mit Klages unternahm er erste philosophische Exkurse, die für beide den Grundstock ihrer späteren Philosophie bilden sollten. Auf Druck des Vaters begann Lessing 1892 widerwillig ein Medizinstu­ dium. 1895 folgte er Ludwig Klages nach München. Als erklärter Moralist, der sich gern öffentlich zu Wort meldete, sobald er Unrecht witterte, machte der Neuankömmling schnell auf sich aufmerksam. Sogleich fand er Anschluss an die Schwabinger Künstlerkreise und er wechselte zu Philoso­ phie, Psychologie und Literatur. Als Folge seines Engagements wurde Les­ sing von der Polizei observiert, von der Münchner Boheme aber gefeiert.11 Sein Gerechtigkeitsempfinden machte sich auch an der Geschlechterfrage fest. Schon vor der Jahrhundertwende hatte Lessing mit der Frauenbewe­ gung sympathisiert. Die Unterdrückung der Frau durch den Mann verglich er mit der von Christen herbeigeführten Ohnmachtserfahrung der Juden: Beide, Frauen und Juden, seien gezwungenermaßen Außenseiter, sie seien gesellschaftlich entrechtet und isoliert. Lessing sah in der russischen Male­ rin Marie Bashkirtseff (1860–1884), deren Tagebücher er herausgab, eine Anführerin der Frauenemanzipation, die er nunmehr an vorderster Front ver­ focht. Seine Ausführungen Wissenschaft und Erotik der modernen Frau blie­ ben zwar unveröffentlicht, allerdings erschien 1910 sein Essay Weib, Frau, Dame. In den folgenden Jahren setzte er sich auch für das Frauenwahlrecht ein, was ihm reichlich Häme einbrachte. 1899 promovierte Lessing in Erlangen über den russischen Logiker Afri­ kan Spir (1837–1890). Im gleichen Jahr lernte er seine zukünftige Frau Maria Stach von Goltzheim kennen. Neben Ludwig Klages wurde sie seine wichtigste Bezugsperson. Allerdings zeichnete sich parallel dazu bereits das Ende der Freundschaft mit Klages ab; als Mitglied der Kosmiker, eines Intellektuellenkreises um den Lyriker Stefan George (1868–1933) und den Esoteriker Alfred Schuler (1865–1923), distanzierte dieser sich zunehmend von Lessing. Hatte in jungen Jahren der belesene Lessing Klages in den Bann gezogen, so war es nun Alfred Schuler, ein Anhänger heidnischen Altertumskults, dem er sich anschloss und auf dessen Einfluss letztlich auch sein rassischer Antijudaismus zurückzuführen war. Schuler propagierte ein­ zig das Blut als Indikator der »Rasse«. Nur wenige, so Schuler, seien jene »Blutleuchten« des wahren Menschengeschlechts, zu denen er neben sich selbst auch Klages zählte. Dieser degradierte Lessing alsbald vom vormali­ gen Alter Ego zum »ekeligen, zudringlichen Juden«.12 Er sollte seinen Namen fortan nie wieder direkt im Munde führen. Stattdessen benutzte der spätere Charakterologe, Grafologe und Philosoph in seinen Studien den frü­ 11 Siehe ders., Der Fall Panizza. Eine kritische Betrachtung über »Gotteslästerung« und künstlerische Dinge vor Schwurgerichten, München 1895. 12 Ders., Einmal und nie wieder, 382.

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heren Freund – wenn auch ungenannt – als Fallbeispiel für das »jüdische Wesen«. Zeitlebens begleiteten Lessing Trauer und Unverständnis über Kla­ ges’ Freundschaftsbruch und antisemitische Anfeindungen. Inwieweit die nunmehr offen ausgesprochenen antisemitischen Ressentiments Klages’ auch im Kontext der wachsenden Sympathie Lessings für den Zionismus zu werten sind, ist spekulativ. In seinem Text Gerichtstag über mich selbst vom Ende der 1920er Jahre schreibt Lessing: »[U]m 1900 [hörte ich] zum ersten Mal vom ›Zionismus‹ und stieß auf ein selbstbeton­ tes, würdebereites Prinzip. […] Die Folge davon war, daß meine junge Frau und ich, allen zum Trotz, begeisterte ›Zionisten‹ wurden, daß unsere Kinder jüdische Namen bekamen, und daß ich nunmehr erst offiziell zum Judentum übertrat oder besser zurücktrat.«13

1901 wurde Lessings Tochter Judith geboren, 1902 Miriam. Statt sich wie geplant zu habilitieren, war Lessing gezwungen eine Anstellung zu finden, um den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen. Er zog von München ins thüringische Haubinda, wo er seit 1901 als Lehrer an einer reformorien­ tierten Schule arbeitete.14 Die eigene Schulzeit vor Augen war Lessing bestrebt, als Lehrer ein wirkliches Vorbild zu sein und seine Schüler zu freien Geistern statt zu hörigen Untertanen zu erziehen. Die Arbeit an den Schulen in Haubinda (1901–1903) und Laubegast bei Dresden (1904/05) weckte seine Begeisterung für die dort umgesetzten reformpädagogischen Ideen. Er glaubte sich und seine Ideale an Hermann Lietz’ Landschulheim in Haubinda verwirklichen zu können. Allerdings überwarf er sich mit Lietz, da dieser die Aufnahme von jüdischen Schülern begrenzen oder ganz ver­ weigern wollte. Lessing setzte seine Tätigkeit beim Bund entschiedener Schulreformer fort und machte sich in der Pädagogik einen Namen. Seine reformpädagogischen Ansätze fanden insbesondere in der Jugendbewegung große Resonanz. Er scheute sich nicht vor unorthodoxen Methoden, um seine Zuhörerschaft zu erreichen. So hielt er beispielsweise Vorträge vor Arbeitern auf dem Dresdener Hauptbahnhof (1904). Die Hinwendung zur Natur sowie das Aufgreifen alltags- und wirklichkeitsnaher Themenkom­ 13 Ders., Gerichtstag über mich selbst, in: ders., Einmal und nie wieder, 391–411, hier 397. 14 Das Familienglück war allerdings von kurzer Dauer. 1904 verließ Maria Lessing ihren Mann mit einem seiner Schüler, dem späteren Schriftsteller Bruno Frank. Als alleinsteh­ ender Vater mit zwei Töchtern oblagen Lessing nunmehr Broterwerb und Kindererzie­ hung gleichermaßen. 1907 erfolgte die Scheidung. Wenig später lernte er in Hannover Ada Grothe-Abberthern (1883–1953) kennen, die seine Lebensgefährtin wurde. 1912 traf ihn jedoch ein weiterer schwerer Schicksalsschlag: Miriam, die jüngere Tochter, verun­ glückte am 4. April tödlich. Der Tod der geliebten Tochter warf Lessing in eine schwere Lebenskrise, von der er sich nie gänzlich erholen sollte. Im gleichen Jahr heiratete er Ada Grothe-Abberthern, die sich kurz zuvor von ihrem ersten Mann hatte scheiden lassen. 1913 kam die gemeinsame Tochter Ruth zur Welt.

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plexe machten einen wesentlichen Teil seiner Arbeit als Lehrer aus; seine Methoden waren innovativ, aber auch an Vorbildern orientiert, wie etwa Jean-Jacques Rousseau. 1906 nahm Lessing erneut seine wissenschaftlichen Studien auf, zunächst bei Edmund Husserl in Göttingen, doch dieser verweigerte ihm die Unter­ stützung. Zwar blieb Lessing bis 1907 in Göttingen, doch tauschte er die Studierstube mit dem Parkett des dortigen Theaters und verfasste zahlreiche Kritiken aktueller Inszenierungen. Seine »Nachtkritiken« dokumentieren psychologisch einfühlsam das zeitgenössische Theater im Spannungsfeld zwischen verstaubter wilhelminischer Monumentalität und der hier und da vorschimmernden Moderne. 1907 kehrte Lessing in seine Geburtsstadt Hannover zurück, wo er sich mit der Schrift Der Bruch in der Ethik Kants an der Königlich Technischen Hochschule Hannover habilitierte. 1908 erhielt er dort eine Privatdozentur für Philosophie. In den folgenden Jahren rückte er eine Reihe von Persön­ lichkeiten aus Geschichte, Philosophie und Politik in seinen Fokus – etwa Carl Gustav Carus, Charles Darwin, Eugen Dühring, Ferdinand Lassalle, Theodor Lipps, Georg Simmel – und beschäftigte sich mit metaphysischen Fragen der Moral, Ethik und Psychologie. Die hieraus entstandene Text­ sammlung erschien 1914 unter dem Titel Philosophie als Tat. Diese Philoso­ phie formte sich aus einer Grunderfahrung menschlicher Not und dem Lei­ den in der Welt. Diese Erkenntnis zeitigte jedoch nicht einen Hang zur Weltabgewandtheit, vielmehr offenbarte sich in ihr die Notwendigkeit kriti­ scher Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Zeit. In seiner Autobio­ grafie bemerkte Lessing rückblickend: »Immer wollte ich richtigstellen, auf­ klären, verständlich machen, ethisch auswerten bis zum Letzten.«15 In seinen Studien zur Wertaxiomatik, in denen er die Existenz absoluter Werte bestritt, lautete sein Leitmotiv: »Mindere den Schmerz. Dies ist der einzige mögliche Imperativ sittlichen Handelns.«16 Die Prägungen der Vorkriegszeit im Eltern­ haus, während der Ausbildung und in den Münchner Künstlerkreisen, beson­ ders aber die Erfahrungen mit Antisemitismus und Zionismus wie auch der Frauenemanzipation sowie die Auseinandersetzung mit bildungsreformeri­ schen Ansätzen bildeten das thematische Repertoire, das Theodor Lessing in den Ersten Weltkrieg hinein und von dort aus lebenslang begleitete.

15 Lessing, Einmal und nie wieder, 404. 16 Ders., Studien zur Wertaxiomatik. Untersuchungen über die reine Ethik und reines Recht, 2., erw. Ausg., Leipzig 1914, 28.

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»Philosophie der Not« Unter dem Titel Krieg und Not. Vorbemerkungen zu den Vorträgen im Win­ ter 1914 finden sich in Lessings Nachlass handschriftliche Aufzeichnungen, die für eine Vortragsreihe bestimmt waren. Rückblickend hierzu sein Autor: »Die vorliegenden Reden wurden im Winter 1914/15 gehalten. Der kleine Saal in der Königlich Technischen Hochschule zu Hannover, in dem das geschah, war eine armselige Nußschale in einem sturmgeschüttelten Ozean; aber diese Nußschale erschien mir als Wiege zeitüberdauernder Gedan­ ken.«17 Lessing mag bei dieser Notiz Hamlet vor Augen gehabt haben, den er seit seiner Jugend wohl einige Male im Städtischen Theater gesehen hatte. »Böse Träume« mögen Lessing auch bewegt haben, als er unmittelbar nach Kriegsausbruch seine Gedanken und Ahnungen niederschrieb. In seinem Nachlass findet sich ein Gedicht mit dem Titel Tenzone wider die Zeit, in dem der damals 42-jährige Hannoveraner Privatdozent im August 1914 seine Gefühle formulierte. In der vierten Strophe heißt es ahnungsvoll: »Neunzehnhundert und vierzehn stund Abendland wider den Geist! / Neun­ zehnhundert und vierzehn ward jenes Weltalter gerufen, / Jenes Weltalter, das ewigen Zeiten das neue Barbarentum heisst!«18 In diesen Zeilen prognostizierte Lessing jene sich wandelnden Macht­ konstellationen in Europa und die Hegemonialfantasien des Deutschen Reichs als zentrale Großmacht zwischen Amerika und Asien. Bereits vor Kriegsausbruch hatte er vor den Folgen eines drohenden »Weltenbrands« gewarnt und die Texte, die er von da an verfasste, gewannen zunehmend den Charakter von Antikriegsschriften. Seine beiden wichtigsten philosophi­ schen Werke Europa und Asien sowie Die Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen waren während des Krieges entstanden, konnten aber erst 1918 und 1919 erscheinen, da die Militärzensur die Schriften auf den Index gesetzt hatte. Europa und Asien ließ Franz Pfemfert 1917 für seine Schriften­ reihe Politische Aktions-Bibliothek drucken. Im Vorwort bemerkte Lessing: »Die vorliegende kleine Schrift – aus einem im Herbste 1914 zu Hannover gehaltenen akademischen Vortrage hervorgegangen – ist aus jener Stimmung von Schmerz, Scham und tiefem Menschenekel geboren, die eine ganz kleine Schar Einsamer und Unzeitge­ mäßer aus allen Ländern Europas zur Notbruderschaft zusammenschmiedete, in dem selben Augenblick, wo Europas Menschen, – allen voran die ›führenden Geister‹ –, am

17 Stadtarchiv Hannover, Theodor Lessing Nachlass, Nr. 2138, Krieg und Not. Vorbemer­ kungen zu den Vorträgen im Winter 1914, handschriftliches Manuskript. 18 Stadtarchiv Hannover, Theodor Lessing Nachlass, Tenzone wider die Zeit, Typoskript. Abgedruckt in: Albert Einstein und Theodor Lessing. Parallelen, Berührungen. Begleit­ band zur Ausstellung des Historischen Museums Hannover, Text und Red. von Wolf-Die­ ter Mechler, Hannover 2005, 21.

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großen Flammenrausch des Vaterlandes zu Verzückungen politischen Machtwillens entbrannten.«19

Während Lessing versuchte, gegen die deutsche Kriegseuphorie anzuschrei­ ben, verfielen führende Intellektuelle dem Hurra-Patriotismus und dienten sich der Machtelite an, so auch, eben noch »humanistisch-weltbürgerlich gesinnt«, Max Scheler und Maximilian Harden; Letzterer wandelte sich jedoch im weiteren Verlauf des Krieges – wie viele andere auch – zu dessen vehementem Gegner. Schelers Schrift Der Genius des Krieges und der Deut­ sche Krieg, erschienen 1915, nannte Lessing ein »bluttriefend widriges Buch, das die weltgeschichtliche Metzelei dialektisch rechtfertigt und mir schlimmer schien als ein Mord«.20 Der Erste Weltkrieg wurde Lessing zum Wertmaßstab von Lüge und Wahrheit. Er analysierte eingehend die Legiti­ mationsideologie, mit der die politischen Kräfte, aber auch die intellektuel­ len Köpfe, diesem zerstörerischen, sinnlosen Krieg einen Sinn anzuheften suchten. Rainer Marwedel formuliert wie folgt: »Mit stilistischer Prägnanz, die eine irrwitzige historische Logik kaum zu verdecken mochte, hauchte man dem Gemetzel Unumgänglichkeit ein, Sinnerzwingung trat an die Stelle des triftigen Arguments, der ausgewiesenen Rede über Ursachen und Wirkungen.«21 In der fünften Auflage von Europa und Asien, das seit der zweiten um den Untertitel Untergang der Erde am Geist ergänzt wurde, heißt es im aktuali­ sierten Vorwort: »Dieses Werk bietet ein Weltsystem. Nicht für die Zeit- und Volksgenossen, sondern für alle Völker und Zeiten.«22 Lessing folgte darin einer auf dem Gleichheitsideal einer klassenlosen Gesellschaft fußenden Ethik, die in Anlehnung an »Kants Idee vom sich selbst erhaltenden Auto­ matismus«23 Länderschranken überschreite und zu einer weltbürgerlichen Gesellschaft führe. Da er die Politisierung der Massen und den Aufbau einer internationalen Ordnung beschwor, wurde Lessing von vielen Zeitgenossen des »philosophischen Bolschewismus« bezichtigt.24 In den vom Weltkrieg beeinflussten Texten entwickelte Lessing seine »Theorie der Not«. Die »Not«-Metapher wurde zum zentralen Begriff seiner

19 Theodor Lessing, Europa und Asien. Untergang der Erde am Geist, 5., völlig neu gearbei­ tete Aufl., Leipzig 1930, 5. 20 Ders., Einmal und nie wieder, 344. 21 Marwedel, Theodor Lessing 1872–1933, 147. 22 Lessing, Europa und Asien, V. 23 Rainer Marwedel, »Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte«, in: Theodor Lessing, »Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte«. Essays und Feuille­ tons (1923–1933), hg. und eingeleitet von Rainer Marwedel, Darmstadt/Neuwied 1986, 23. 24 Siehe Theodor Lessing, Gewalt und Liebe, in: Fritz Diettrich u. a. (Hgg.), Die GandhiRevolution, Dresden 1930, 178–204, hier 187.

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Philosophie, deren Notwendigkeit darin bestehe »Not zu wenden.«25 Diese zunächst simpel anmutende Feststellung birgt allerdings bereits Lessings lebensphilosophischen Ansatz: Not, Leiden, Schmerz – an ihnen sind »Gewicht, Notwendigkeit und Zusammenhang«26 zu überprüfen. Der innere Zusammenhang der Not erwachse aus Gewalt, Herrschaftswillen und Sinn­ stiftung in der Geschichte: »Der Wirkungsgrund wie der Erklärungsgrund alles Geschehens ist: die Not«,27 und Lessing ergänzt: »Macht, brutale Macht, das ist die einzige Triebgewalt der Geschichte.«28 Die Ursache der Not erwuchs nach Lessing aus der Zivilisierung des Menschen und der damit einhergehenden Störung eines ausgewogenen Verhältnisses zwischen Mensch und Natur. Das Schicksal der Menschheit wandelte sich mit dem »Einbruch« des Bewusstseins und damit des Geistes. »Ja, die Tatsache ›Bewußtsein überhaupt‹ ist durchaus gleichbedeutend mit der Tatsache ›Zwiespältigkeit‹, das heißt mit einem Leidenspunkt oder […] mit einem Schwärpunkt (einer schwärenden Störung)29 innerhalb des eindeutig schick­ salhaften Lebens. Des Geistes Licht bricht nur aus Wunden.«30 Welche Wunden ursprünglich dazu geführt hatten, dass der Mensch aus seinem natürlichen Einklang mit der Natur herausgerissen wurde, blieb wei­ testgehend unbeantwortet. An verschiedenen Stellen erwähnte Lessing mög­ liche Ursachen. So nannte er den »Aufbrauch der Wärme« und in dessen Folge die aufkommende Eiszeit, die dazu geführt habe, mentale Mechanis­ men zu entwickeln: »Gerade diese Erkaltung unserer Atmosphäre, und nichts anderes als diese Erkaltung, war es, was uns die Mittel zu ihrer Para­ lysierung gewinnen ließ und uns weiterhin zu geistigen Wesen machen wird!«31 Während Lessing hier einen möglichen Erklärungsansatz für den Impuls des Bewusstwerdens als Folge der »Erkaltung« anführte, legte er andererseits das Hervortreten des Geistes auf einen späteren Zeitpunkt fest. »Ungefähr um 600 v. Chr. hob sich empor eine ungeheure wache Geistes­ woge aus dem naturumschlungenen Traummeere des Lebens. Das war jene Erdspanne, wo geradezu gleichzeitig über die Erde schritten: Pythagoras, Zoroaster, Konfutse, Sokrates und Buddha.«32 Der Geist sei also »notgebo­

25 Ders., Philosophie als Tat, Bd. 2, 379. 26 Ders., Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder Die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, 4., völlig umgearbeitete Aufl., Leipzig 1927, 30. 27 Ebd., 237. 28 Ders., Einmal und nie wieder, 208. 29 Vgl. ders., Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen oder Die Geburt der Geschichte aus dem Mythos, 116. 30 Ders., Europa und Asien, 36 f. 31 Ders., Schopenhauer, Wagner, Nietzsche. Einführung in die moderne deutsche Philoso­ phie, München 1906, 325. 32 Ders, Europa und Asien, 122 und 284.

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ren« worden, um die »Hemmungen und Nöte im Lebensstrome«, durch die er ursächlich hervorgebracht wurde, wieder aufzuheben. Lessing sprach hier nicht allein als Philosoph, sondern auch als Arzt, wenn er anmerkte, dass der Geist und damit das Bewusstsein des Menschen zwar eine Krankheit, aber – so seine Diagnose – der Geist zugleich auch »wie alle Krankheit: Gesund­ ungsmittel des Lebens«33 sei. Die Quintessenz seiner Philosophie lautet demzufolge: »Aller Geist ist ›Notausgang‹. Alle Intellektualisierung seel­ ischer Energie ist ›Not-Wendigkeit‹.«34 Wie für seinen Jugendfreund Ludwig Klages bildete der »Geist« für Theodor Lessing die zentrale Metapher der modernen Zivilisation, die Krieg, Unterwerfung und Umweltzerstörung in Kauf nahm. Doch obwohl Klages und Lessing gleichermaßen radikale Geschichtspessimisten und Ver­ treter einer Lebensphilosophie wurden, kristallisierten sich sehr früh unter­ schiedliche Positionen ihres Denkens heraus. Lessings Philosophie gründete sich, wie bereits erörtert, auf den Topos »Not«, der den »geschichtlichen Verlauf« kennzeichne. Wie Klages ging auch Lessing von der Vorstellung aus, dass der »vor«-geschichtliche Mensch in das »kosmische Sein« einge­ bunden war und dadurch im Einklang mit der Natur lebte. Durch das Her­ vorbrechen des Geistes und damit des Bewusstseins sei der Mensch aus dem »paradiesischen Zustand«, in dem ein natürliches »Leib-Seele-Verhältnis« bestanden habe, herausgerissen worden.35 Während Klages allerdings den »Geist« kategorisch als lebensfeindliches Element ablehnte, da er den Nie­ dergang der Weltgeschichte darstelle, glaubte Lessing, dass nur durch ihn eine Heilung – verstanden als eine »Not«-Wende innerhalb des Geschichts­ verlaufs – zu erzielen sei. »Was von der Lebensseite gesehen meine Wunde ist, das ist von der Geistseite beurteilt: ihre Heilung.«36 Und so stellte die Philosophie für ihn eine Grundlage im alltäglichen Handeln dar, während Ludwig Klages über die Philosophie ein Zurückfinden ins Paradies suchte.37 Diesen Dissens beschrieb Lessing später mit den Worten: »Ein Ringkampf feindlicher Dioskuren hub an, deren einer zum Geiste hin, deren Anderer vom Geist fort wollte bei gemeinsamer Erkenntnis der Lebenswunde.«38 In der Betrachtung der Denkansätze von Ludwig Klages und Theodor Lessing kristallisiert sich denn auch der bedeutsamste Unterschied zwischen 33 Ders., Philosophie als Tat, Bd. 1, 125. 34 Ders., Der fröhliche Eselsquell. Gedanken über Theater, Schauspieler, Drama, Berlin 1912, 259. 35 Vgl. hierzu Michael Pauen, Pelasgertum und Pessimismus. Gnostische Tendenzen bei Ludwig Klages, in: Steffi Hammer (Hg.), Widersacher oder Wegbereiter? Ludwig Klages und die Moderne, Heidelberg/Berlin 1992, 23–39; Bernward Baule, Kulturerkenntnis und Kulturbewertung bei Theodor Lessing, Hildesheim 1992, 34 f. 36 Lessing, Einmal und nie wieder, 364. 37 Ludwig Klages, Rhythmen und Runen, hg. von ihm selbst, Leipzig 1944, 402 f. 38 Lessing, Einmal und nie wieder, 327 f.

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den philosophischen Grundpositionen beider Denker heraus. Für Lessing blieb zeitlebens die Tat eine zentrale Metapher sowohl für sein eigenes akti­ ves Tun als auch für das »Fortschreiten des Menschengeschlechtes« – nicht zu verwechseln mit dem technischen Fortschritt, den sowohl er als auch Kla­ ges als bedrohlich, naturzerstörend und menschenverachtend geißelten.

Kultur versus Natur So wie Lessing sich in seinen Texten gleichsam als Kulturpessimist und Sozialpsychologe offenbarte, so zeigte er sich auch als früher Umweltakti­ vist, der auf die Gefahren für Mensch und Natur verwies, die die wachsende Industrialisierung durch rücksichtslosen Raubbau, sei es die Rodung von Regenwald, das Abtragen von Bodenschätzen oder die massenhafte Kulti­ vierung von Naturlandschaften, hervorbrachte. »Wir haben mit Gewehr und Gewalt zahllose Tierarten weggeschossen, Singvögel ausgerottet, Urwälder fortgerodet. Die Erde verarmte. Alles wurde vernichtet, was nicht dem mordbewaffneten Menschen nützlich ist bei seinem Erdgeschäft.«39 Als er 1908 den Antilärmverein ins Leben rief, wurde er von allen Seiten belächelt. Nicht allein als Mediziner, auch als Opfer warnte Lessing vor den gesund­ heitlichen Gefahren des stetig zunehmenden Lärms am Arbeitsplatz (Fabrik­ lärm) genauso wie im Alltag (Verkehrslärm). Mangels Mitgliedern musste der Verein schon kurz nach seiner Gründung wieder aufgelöst werden. Les­ sings Warnungen in puncto Lärmschutz blieben für mehr als ein Jahrzehnt ungehört. Erst im Jahr 1925 wurde die Maßeinheit Phon eingeführt, um Lautstärke zu beschreiben und eine Schmerzschwelle zu definieren. Lessing kritisierte bereits vor dem Ersten Weltkrieg die Hegemonial­ mächte Europas und Nordamerikas als Hauptverursacher der Umweltzerstö­ rung und der damit einhergehenden Zerstörung der Lebensgrundlage indige­ ner Völker: »Dann kamen die Naturvölker an die Reihe. Die Urbewohner Amerikas, die Negervöl­ ker Afrikas, das harmlose Leben der Südsee. Alle mußten sterben, weil die Mordma­ schine überhand nahm. Heute droht China der Tod, morgen dem ganzen alten Orient samt Indien. Die Mordtechnik wird siegen. Aber zuletzt stehen Europa und Amerika vor dem Fluch der wechselseitigen Selbstzerstörung.«40

Das Wettrüsten der europäischen Staaten, allen voran Deutschlands, musste nach Lessing zwangsläufig zu Krieg und Zerstörung führen. Immer neue 39 Ders., Nein!, 348. 40 Ebd.

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Waffen sollten die Vormachtstellung des Kaiserreichs sichern helfen. Ob schweres Gerät oder Giftgas – aus Profitgier der Industriemagnaten seien, so Lessing, zahllose Arten ganze Landstriche verseuchender, Menschen und Tiere vernichtender Substanzen hergestellt worden. Wie sich zeigte, hatte der Erste Weltkrieg durch den Einsatz von Giftgas eine beängstigende Ent­ wicklung in Gang gesetzt und Deutschland war dabei federführend. Auch auf diesem Gebiet waren es die besten Köpfe, die sich als Patrioten ver­ pflichtet fühlten, dem Vaterland zu dienen und zur Vormachtstellung zu ver­ helfen. Der Chemiker Fritz Haber, der einmal betonte, »im Frieden der Menschheit, im Krieg dem Vaterland«41 zu dienen, entwickelte das Chlor­ gas, das der Industriekonzern BASF als neuen Kampfstoff in großen Men­ gen für den Einsatz an der Front produzierte. Damit war eine neue, perfide Form der Kriegsführung geboren und die Rüstungsindustrie um ein lukrati­ ves Geschäftsfeld reicher geworden. »1918, nach Beendigung des sogenannten Weltkrieges, kannten wir acht verwendbare Giftgase. Heute produzieren wir über 800 Sorten Giftgas. Lungengase, Hautgase, Augengifte, Rachengifte. Hunderttausende Liter werden täglich auf Eisenbahnen in die Welt entsandt. Deutsche Firmen beliefern England mit Kriegsgift. 43 000 Kilo kann ein einziger Luftkahn aufnehmen. Ein Kilo genügt, um Tier und Mensch, Wald und Feld in hundert Kilometer Umkreis zu töten. Schutz gibt es nicht. Und wenn auch hundertmal getröstet und gelogen wird: ›Es gibt gassichere Unterstände, Schutzmasken, Men­ schenschutz!‹ Es ist nicht wahr! Die Wirklichkeit haben wir noch nicht erprobt. Sie sieht ganz anders aus.«42

Rückblickend klingt es beinahe zynisch, dass Lessings Ahnung nicht von der Hand zu weisen war: »Die Wahrheit ist: Wenn auf diese Weise einmal Kriege geführt werden, dann beginnt der Untergang unseres Kulturkrei­ ses.«43 Es sollte nicht einmal eine Generation dauern, bis Lessings apokalyp­ tische Vorstellung von der Realität eingeholt wurde.

41 Fritz Haber in seinem Rücktrittsschreiben vom 1. Oktober 1933, mit dem er sein Amt im Kaiser-Wilhelm-Institut niederlegt, zit. nach Jens Ulrich Heine, Verstand & Schicksal. Die Männer der IG-Farbenindustrie-AG in 161 Kurzbiographien, Weinheim u. a. 1990, 202. 42 Lessing, Nein!, 348. 43 Ebd.

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Der Mythos Hindenburg oder »Besser ein Zero als ein Nero« Auch in den Jahren nach 1918 blieb der Krieg ein zentrales Thema in Les­ sings Denken. Im Kontext der Nominierung Generalfeldmarschall von Hin­ denburgs – des stilisierten Helden der Schlacht von Tannenberg44 – zum Prä­ sidentschaftskandidaten, verfasste Lessing 1925 einen Artikel für das Prager Tagblatt. Aus heutiger Sicht prophetisch anmutend, heißt es am Ende des Hindenburg-Porträts: »Nach Plato sollen die Philosophen Führer der Völker sein. Ein Philosoph würde mit Hindenburg nun eben nicht den Thronstuhl besteigen. Nur ein repräsentatives Symbol, ein Fragezeichen, ein Zero. Man kann sagen: ›Besser ein Zero als ein Nero.‹ Leider zeigt die Geschichte, dass hinter einem Zero immer ein künftiger Nero verborgen steht.«45

In der deutschen Presse zunächst gar nicht zur Kenntnis genommen, löste ein gekürzter Abdruck des Artikels im Hannoverschen Kurier eine einzigar­ tige Hetzkampagne gegen den damaligen Professor für Philosophie an der Technischen Hochschule der Stadt aus. Die Vermutung liegt nahe, dass der Zeitpunkt des erneuten Erscheinens, der 7. Mai 1925, lanciert wurde, da für den 8. Mai 1925 in Hannover eine Huldigungsfeier zu Ehren Hindenburgs angesetzt war. Hatten die Hannoveraner wie auch die Mehrheit der Leser in Deutschland bislang keine Notiz von Lessings Hindenburg-Porträt genom­ men, so wurde der gekürzte und vielfach aus dem Zusammenhang gerissene Wortlaut des Artikels nun allgemeiner Gesprächsstoff. Bereits zwei Tage nach Erscheinen des Textes bildete sich ein »Kampfausschuss gegen Les­ sing«, der sich aus national-völkischen Korpsstudenten und einigen Profes­ soren der TH Hannover rekrutierte. Deren Forderung, Lessing Lehrauftrag und Venia Legendi an der Hochschule zu entziehen, wurde sogleich als Ein­ gabe an das Preußische Kultusministerium formuliert. Bereits am 12. Mai, also zwei Tage nach Bildung des Kampfausschusses, richtete der Rektor der Hochschule, Prof. Dr. Ernst Vetterlein, einen Brief an den Preußischen Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Prof. Dr. Carl Heinrich Becker, in dem er diesen auf besagten Artikel aufmerksam machte und kon­ statierte, dass durch den Verfasser jener Schrift die »Würde der Hochschule und des akademischen Standes auf das schwerste verletzt und gefährdet« sei. Lessing sei »nicht würdig, Mitglied eines akademischen Lehrkörpers zu 44 Der Mythos von Tannenberg geht auf jene Schlacht zu Beginn des 15. Jahrhunderts zurück, in der Verbände des Deutschen Ordens – fast genau 500 Jahre früher – von einem polnisch-litauischen Heer vernichtend geschlagen wurden. Diese Schmach sollte angeb­ lich durch den Sieg Hindenburgs an der Ostfront unweit des damaligen Kampfgeschehens wettgemacht worden sein. 45 Lessing, Hindenburg, in: Prager Tageblatt vom 25. April 1925, abgedruckt in: ders., »Ich warf eine Flaschenpost ins Eismeer der Geschichte«, 65–69.

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sein«.46 Auch Lessings Kollegen meldeten sich öffentlich zu Wort. In einem Artikel der Niederdeutschen Zeitung vom 10. Mai 1925 echauffierte sich Privatdozent Dr. Wilhelm Müller: »Es ist nur anzunehmen, daß jeder, der sich die Fähigkeit unbefangenen Denkens bewahrt hat, von dieser übelsten Form geistiger Onanie und wertfremder und glaubensloser Stilgefälligkeit, die übrigens das gesamte Schrifttum dieses vollständig undeutschen Mannes auszeichnet, sich angewidert fühlt.«47 Nicht nur der mittlerweile im Amt bestätigte Reichspräsident, sondern auch ein Hannoveraner Ehrenbürger48 und zudem Ehrendoktor der dortigen Hochschule wurde nach Auffassung breiter lokaler Kreise durch Lessing auf infamste Weise diskreditiert. Über die vermeintliche Nestbeschmutzung hinaus entzündete sich alsbald eine nationale Debatte über Meinungsfreiheit und akademische Freiheit der Lehre. Überdies erwies sich der Fall Lessing auch als willkommene Gelegenheit für das rechte Lager, an den Grundfesten der Weimarer Republik zu rütteln und die staatliche Ordnung ins Wanken zu bringen. Einflussreiche Kreise in Hannover solidarisierten sich mit den vornehm­ lich rechtsgerichteten Korpsstudenten, die die öffentliche Hetze gegen Les­ sing initiiert hatten. Diese spürten Aufwind nicht nur innerhalb der eigenen Studenten- und Professorenschaft. Ihre Aktionen gegen Lessing wurden in öffentlichen Solidaritätsbekundungen anderer Hochschulen begrüßt. Die Studentenschaft der Universität Königsberg zum Beispiel sah durch Lessings Verhalten »das akademische Ehrgefühl und das deutsche Nationalbewußtsein auf das schwerste verletzt«.49 Die Deutsche Burschenschaft als »Wahrerin deutscher Sitte und Zucht und Hüterin der akademischen Freiheit«50 forderte das Kultusministerium auf, Lessing zu suspendieren, da dieser, so das Urteil 46 Zit. nach Berlin, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (nachfolgend GSTA), Rep 76 V b Sekt. 13 tit III, 2 c, 3 Bde., hier Bd. 1, Bl. 40 f. Es handelt sich dabei um die 1 600 Blätter umfassenden Sonderakten Lessing als Teil der Unterlagen zur Technischen Hochschule Hannover. 47 GSTA, Bd. 1, Bl. 187. 48 Wenige Tage zuvor war Hindenburg bei einer Wahlveranstaltung in der Stadthalle von Hannover aufgetreten. Der deutschnationale Abgeordnete pries seinen Kandidaten und Ehrenbürger der Stadt »als einen getreuen Eckart der deutschen Volksseele: ›Alle unsere guten Seiten, das Gottvertrauen, die Pflichttreue, der Ordnungssinn und der seelische Reinlichkeitstrieb, sie leben in ihm und heben ihn uns auf die Höhe des Idealmenschen‹.« Siehe Marwedel, Theodor Lessing 1872–1933, 256. Ein Reporter vom Hannoveraner Kurier skizzierte die Stimmung im Saal: »Hellblickende Augen« schauen demütig zum »Führer aus großer Zeit« empor, draußen flattern schwarz-weiß-rote Fahnen im Wind, Kriegervereine ziehen in Reih und Glied vorbei. Siehe ebd. 49 August Messer, Der Fall Lessing. Eine objektive Darstellung und kritische Würdigung, Bielefeld 1926, 42. 50 In einer Erklärung seitens des »hochschulpolitischen Ausschusses der Deutschen Bur­ schenschaft«. Ebd.

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eines Kollegen, das »Empfinden weiter Kreise schwer verletzt« habe. Es sei »daher begreiflich«, so Professor Dr. h. c. Oswald Flamm, »und mit Freude zu begrüßen, wenn unsere akademische Jugend in heller Empörung gegen die Verletzung ihrer vaterländischen Gefühle Front macht«, denn »[f]ür mich ist es außer Zweifel, daß hinter Herrn Lessing jene zersetzenden Kräfte ste­ hen, die schon soviel Unheil im deutschen Lande geschaffen haben«.51 Heißt es bei Flamm weiter, dass »den freien Hannoverschen Studenten […] jedes deutsche Herz [entgegenschlage]«,52 so verhallten die Stimmen derjenigen unter ihnen, die sich gegen die bereits Monate währenden Attacken gegen Lessing stellten. Eine hektografierte Schrift, die ein studentischer »Ausschuß gegen die Lessinghetze« herausgab, dokumentiert die Situation, die bei den wöchentlichen Lehrveranstaltungen von Lessing herrschte: »Das Kolleg vom 31. Mai [1926]: Höhepunkt der Tumulte und Terrorakte. Etwa 700 mit eichenen Bergstöcken bewaffnete Studenten bedrohen Lessing. Die Hochschule unternimmt nichts gegen diese 700, sondern läßt durch die Beamten drei Anhänger Lessings bedrohen, der Freiheit berauben und beleidigen. Bei den Revoltierenden ent­ wickelt sich eine regelrechte Pogromstimmung. Man brüllt während der Dauer des gan­ zen Kollegs, […] im Chore: Juden raus! Lessing raus!«53

Bereits vier Wochen zuvor gab es ähnliche Ausschreitungen. Ein Foto, auf­ genommen am 3. Mai 1926, illustriert in grotesker Weise die vorherrschende Stimmung: Lessing umringt von einer Horde mit Knüppeln ausgerüsteter Studenten inmitten des idyllischen Hannoveraner Georgengartens mit Café­ haus im Hintergrund.54 Heißt es im Antwortschreiben Prof. Beckers an den Rektor der TH Hannover noch, dass die Pflicht des zuständigen Organs in erster Linie darin bestehe, »die Lehrfreiheit unter allen Umständen zu schüt­ zen«,55 und dass der »in Nummer 97 des Prager Tagblatts erschienene und von dem o. a. Professor Dr. Lessing verfaßte Aufsatz ›Hindenburg‹ keinen genügenden Anlaß gebe, auf dem Disziplinarwege gegen Prof. Dr. Lessing vorzugehen«,56 so fügte sich auch der Minister nach und nach dem Druck der Studentenschaft und einflussreicherer Kreise, die ihn mittlerweile unter Beschuss genommen hatten.57 51 52 53 54 55 56 57

Ebd., 43. Ebd. Ebd., 39. Siehe Marwedel, Theodor Lessing 1872–1933, 171. GSTA, Bd. 1, Bl. 58. Ebd. Die Frankfurter Zeitung (Nr. 497 vom 7. Juli 1926) berichtete über die erregte Debatte während einer Sitzung des Preußischen Landtags am 6. Juli 1926, in der über den Kultus­ etat beraten wurde. Der deutschnationale Abgeordnete Koch kritisierte das Verhalten des Kultusministers im Fall Lessing: »Wenn es tatsächlich nicht möglich ist, einem solchen Schädling (Lebh[afte] Zurufe rechts: Lumpen! Ferkel!) die venia legendi zu entziehen, so müßten die entsprechenden Gesetzesbestimmungen schleunigst geändert werden.«

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Durch Ministerialrat von Rottenburg hatte Becker bereits Monate zuvor Gutachten bezüglich der Reputation Lessings einholen lassen. Neben Edmund Husserl wurden Max Scheler und Eduard Spranger gebeten, Zeug­ nis über ihn abzulegen.58 Während sein früherer Lehrer Husserl Lessing attestierte, »ein philosophischer Literat von ungewöhnlicher Begabung, aber auch ein Charakter von ungewöhnlicher Niedrigkeit«59 zu sein, fühlte Max Scheler sich genötigt, etwas weiter auszuholen. Heißt es zu Beginn des Gut­ achtens noch,60 Lessing sei »ein subjektiv ehrlicher, moralisch einwandfreier Mann – von überdurchschnittlichem Mut, energisch und gradsinnig; stets Fanatiker seiner jeweiligen (stark wechselnden) Überzeugung«, so führte Scheler fort, dass er ihn einer »bewußten Unehrlichkeit und Niedrigkeit« nicht für fähig halte. Scheler hielt es auch für nötig, auf Lessings Religion sowie auf seine »Rassezugehörigkeit« einzugehen: »Sein überaus scharf ausgeprägtes Racejudentum, dessen Leiden er durch maßloses Selbstgefühl überzukompensieren sucht, locken leicht Konflikte heran und so ist es 58 Am 5. August 1925 schrieb Dr. von Rottenburg, Ministerialrat im Ministerium für Wis­ senschaft, Kunst und Volksbildung, an die o. g. Professoren: »Hochverehrter Herr Profes­ sor! Ich würde Ihnen zu großem Dank verpflichtet sein, wenn Sie mir streng vertraulich mitteilen könnten, wie Sie die Persönlichkeit und die wissenschaftlichen Leistungen des Privatdozenten an der Technischen Hochschule Hannover, Professor Dr. Theodor Lessing, beurteilen. Wie Ihnen wohl bekannt ist, hat das Auftreten des Herrn Lessing in den letzten Monaten die Öffentlichkeit lebhaft beschäftigt, und es wäre mir von grossem Wert zu wis­ sen, wie Lessing als Gelehrter beurteilt wird. Mit bestem Dank im voraus und mit dem Ausdruck der vorzüglichsten Hochachtung verbleibe ich – Ihr sehr ergebener von Rotten­ burg.« Siehe GSTA, Bd. 1, Bl. 507. 59 Diese kruden Worte rührten noch aus jener Zeit in Göttingen her, als Lessing und auch Max Scheler, begeisterte Anhänger von Husserls philosophischer Arbeit, bei ihm um Habilitation ersuchten. Husserl reagierte damals misstrauisch auf allzu begabte Schüler. Siehe Helmuth Plessner, Phänomenologie. Das Werk Edmund Husserls (1859–1938), in: ders., Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge, Frankfurt a. M. 1979, 45. Was Husserl aber dazu bewogen haben mag, Lessing die nöti­ gen wissenschaftlichen Fähigkeiten einschließlich der Lehrbefähigung abzusprechen, scheint auf zwei Vorbehalten zu basieren: Erstens bemängelte er unterschwellig die nötige Würdigung seiner eigenen Person in Lessings wissenschaftlichen Veröffentlichungen. Dessen Schrift Studien zur Wertaxiomatik, die er zudem als einzige rein wissenschaftliche Arbeit anerkannte, beruhe vornehmlich auf seinen eigenen Erkenntnissen. Husserl betonte in dem Gutachten, dass Lessing seiner »Begeisterung für mich und meine Philosophie einen oft peinlich aufdringlichen Ausdruck gab«, der ihm gebührende Dank jedoch ausge­ blieben sei. Darüber hinaus musste Lessings feuilletonistische Umsetzung wissenschaftli­ cher Erkenntnisse bei Husserl auf Argwohn gestoßen sein. Hieß es bei Husserl, dass ein richtiger Phänomenologe »alles-auf-Kleingeld-Bringen« müsse, so sah Lessing sich genötigt, Kleingeld zu erwerben, um seinen Lebensunterhalt und den seiner zwei kleinen Kinder zu sichern. Das unterschiedliche Wissenschaftsverständnis liegt auf der Hand, des­ halb verwundert es auch nicht, wenn Husserl in seinem Gutachten resümiert: »Ich meine, ein Mann solchen Charakters kann als Erzieher der Jugend nur verderblich wirken.« GSTA, Bd. 1, Bl. 499. 60 GSTA, Bd. 1, Bl. 500–503 (Hervorhebungen im Original unterstrichen).

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begreiflich, daß er selten mit Menschen auskommt.« Was seine wissen­ schaftliche Reputation anbeträfe, so fehle es Lessing an Originalität: Es sei »keine selbständige Entwicklung« festzustellen. Obgleich er sich zu den Schriften Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen und Philosophie als Tat durchaus anerkennend äußerte, betonte er doch, dass diese eher dem Genre des politischen Feuilletons zuzuordnen seien. Der Rat, den Scheler dem Ministerium abschließend antrug, lautete daher, »in der Abwicklung dieser Angelegenheit den erregten Kreisen in Hannover zu verstehen zu geben, daß Lessings geheimer Wille nach Martyrium geradezu schreit; und daß man ihm deswegen keine Gelegenheit geben soll, sich vor der den Universitäten und Hochschulen mißgünstigen Boheme und vor dem Ausland als Märtyrer aufzuspielen«. Lessing allerdings hat sich zeitlebens wahrlich nicht als Mär­ tyrer gesehen, vielmehr verstand er sich als kritischer Beobachter und Sozialpathologe. Dies hatte er nicht zuletzt im Fall des Massenmörders Fritz Haarmann bewiesen; im Prozessverlauf hatte er sich wiederholt entgegen dem gesellschaftlichen Konsens positioniert und damit abermals den Zorn der Masse beschworen.61 In den Jahren, in denen er durch die Haarmann- und die HindenburgAffäre gesellschaftlich geächtet wurde, nahm die »Judenfrage« einen immer bedeutenderen Raum in Lessings Denken ein. Auch hier wurde die im Ers­ ten Weltkrieg gefundene Metapher der »Not« zum zentralen Topos. Im his­ torischen Rückgriff verwies Lessing auf das Dilemma der Juden im Zuge der europäischen Aufklärung, als sie dem vermeintlichen Emanzipationsan­ gebot der (christlichen) Mehrheitsgesellschaft gefolgt waren und sich damit von ihren Wurzeln entfernt hatten. Der wachsende, gesellschaftlich akzep­ tierte Antisemitismus verweise die Juden nunmehr aber ausschließlich auf jene jüdischen Wurzeln, genau wie der sich formierende Zionismus. Ein nicht geringer Teil des vermeintlichen »Racejudentums«, zu dem er sich

61 Der Massenmörder Fritz Haarmann (1879–1925) gilt in der deutschen Kriminalge­ schichte bis heute als beispiellos. Ihm konnten mehr als 20 Morde an jungen Männern nachgewiesen werden. Sowohl als Gerichtsreporter wie auch in seiner Funktion als Psy­ chologe verfolgte Lessing 1924 den Prozessverlauf. Es wurde sogar seitens der Strafver­ teidigung daran gedacht, ihn als psychologischen Sachverständigen einzusetzen. Seine kritischen Kommentare, in denen er Staatsanwaltschaft, Geschworene und Verteidigung – und somit die gesamte Justiz – angriff, führten allerdings dazu, dass er am 11. Verhand­ lungstag vom Prozess ausgeschlossen wurde. Für Lessing war der Haarmann-Prozess nicht nur das Tribunal gegen einen Mörder. Vielmehr spiegelten sich in dem Phänomen Haarmann seiner Ansicht nach die Unmoral und das soziale Klima der deutschen Gesell­ schaft wider, die ein derartiges Wesen erst ermöglicht habe. Als der nachweislich 21fache Mörder zum Tode verurteilt wurde, schlug Lessing vor, die Gebeine des Hingerich­ teten auf einem öffentlichen Platz Hannovers zu beerdigen und einen Grabstein mit den Worten »Unser aller Schuld« zu errichten. Die Hannoveraner Öffentlichkeit war außer sich. Lessing wurde zur Unperson erklärt.

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selbst zählte, habe diese Wurzeln jedoch längst gekappt oder verdorren las­ sen. In der 1932 verfassten Schrift Die Unlösbarkeit der Judenfrage heißt es deshalb: »Wir bewähren und bewahren uns nicht dadurch, daß wir uns, wie die Juden des ›Centralvereins‹, vor der ›Obrigkeit‹, vor den ›Christen‹, vor den ›Germanen‹ empfehlen, uns verteidigen, unsere Leistungen anführen, uns durch Werke nützlich machen.«62 Lessing kritisierte hier, ganz in der Manier des zionistischen Lagers, die seiner Meinung nach verfehlte Politik des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, der seine Aktivitäten im Kontext eines verstärkten Antisemitismus gänzlich auf die Abwehrhaltung gegenüber antisemitischen Vorurteilen gerichtet habe, statt den Juden ihre eigene, oftmals verleugnete Kultur nahezubringen. Die ein­ zige Lösung der »unlösbaren Judenfrage« bestehe daher in der Rückbesin­ nung auf das eigene, das eigentliche Sein: »Werde, der du bist«. Wenn man den Juden frage: »Was bist du, Pferd oder Esel?«, so könne dieser immer nur beteuern: »Ein Maultier!« Es gebe kein Entweder-oder. »Wir bewähren und bewahren uns einzig durch die Schönheit und Würde unsres Eigen­ seins.«63 Jedes Individuum stelle den »Schnittpunkt einander ausschließen­ der Kreise«64 dar und so sei auch der Jude Teil dieser unterschiedlichen, zuweilen einander ausschließenden Kreise. Diese Teilhabe könne sich aber nicht einzig durch Assimilation oder Synthese ergeben. Nach Lessing sym­ bolisiert der Jude vielmehr das Urgeschlecht der Menschheit, dem die Nähe zum Leben und zur Natur inhärent sei. Demzufolge habe er seiner Sendung zu entsprechen und den Einklang zwischen Mensch und Natur wiederherzu­ stellen. Er solle dabei allerdings nicht als Belehrender, sondern als Vorbild in Erscheinung treten. Zur Veranschaulichung wählte Lessing das biblische Motiv des Sündenbocks (3 Mose 16,10): das Tier, das mit den Sünden der Menschen beladen in die Wüste geschickt wird. Lessing nutzte diese Meta­ pher gleich in doppelter Funktion, indem er über das religiöse Motiv hinaus noch Erkenntnisse aus der Medizin heranzog. Der Sündenbock fungierte nicht allein als der Übertragungsempfänger (einer Krankheit), sondern gleichzeitig als Immunträger. Durch die Aufnahme von Krankheitserregern bilde er Antikörper und trete somit als Immunspender auf. Der Mediziner Lessing konstatierte: »Wenn die Medizin ein Heilmittel gewinnen will gegen drohende Volkskrankheiten und Massenseuchen, was tut sie? Sie wählt ein altes, im Lebenskampfe bewährtes Tier als Sündenbock und impft ihm alle diejenigen Gifte und Krankheitsstoffe ins Blut, die

62 Theodor Lessing, Die Unlösbarkeit der Judenfrage (1932), in: ders., Ausgewählte Schrif­ ten, 3 Bde., hier Bd. 2: Wir machen nicht mit! Schriften gegen den Nationalismus und zur Judenfrage, hg. von Jörg Wollenberg, Bremen 1997, 140–150, hier 146. 63 Ebd. 64 Ebd.

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für die glücklichen Tiere auch einmal gefährlich werden könnten. So gewinnt sie Heil­ serum, Erlöserblut, Heilblut, entsühntes Blut. – Nunmehr kann mit dem Serum des not­ bewährtesten Geschöpfes die Not von allen Bedrohten ferne gehalten werden. […] Die Völker also mögen erlernen: Was sie heute an den Juden tun, wird morgen ihr eigenes Schicksal sein.«65

Allerdings sah Lessing dieses Schicksal bereits in der Gegenwart verwirk­ licht. Analog zu den einstigen Ghettomauern der Juden waren es nunmehr die neu aus dem Boden gestampften Vorstädte und Elendsviertel, in denen das moderne Proletariat sein Leben fristete. Diese verelendeten Sklaven des Kapitalismus und des Fortschritts lösten nach Lessings Dafürhalten das Jahrhunderte währende Schicksal der jüdischen Minorität ab. In seiner Uto­ pie, die er in der »Philosophie der Not« entwickelt hatte, war zwangsläufig die »Lösung der Judenfrage« enthalten. Denn die Verwirklichung einer klas­ senlosen Gesellschaft impliziere auch die Gleichheit aller, unabhängig von Geschlecht und Herkunft: »Und morgen, übermorgen im Zeitalter des sieg­ reichen Kommunismus werden alle das erlernen müssen, was heute nur der Jude seiner Natur abgerungen hat.«66 Diese Wendung war durchaus positiv konnotiert, denn auch hier wertete Lessing die Vorreiterstellung der Juden als symbolhaft. Nicht gleichzeitig zwei Nationen anzugehören – der deut­ schen und der jüdischen – sowie nicht international und national zugleich zu sein, das werde in Zukunft nicht mehr zur Disposition stehen. Die künftig sich ergebenden Probleme werden unabhängig sein von der Zugehörigkeit zu einer Nationalität oder Religion, vielmehr werden Selbsterhaltung und Überleben der gesamten Menschheit die vordringliche Aufgabe der komm­ enden Geschlechter darstellen. Die Emanzipation der Frau und die Aus- und Fortbildung aller gesellschaftlichen Gruppen stellten für Lessing daher die zunächst zentralen Aufgaben – die »Not«-Wende – der Gesellschaft dar.

»Wissen ist Macht« Zusammen mit seiner zweiten Frau Ada versuchte Lessing nach dem Ersten Weltkrieg, seine pädagogischen Ansätze, die er bereits kurz nach der Jahr­ hundertwende entwickelt hatte, mit der Gründung einer Volkshochschule in Hannover-Linden zu verwirklichen. In seiner programmatischen Ansprache zum fünfjährigen Bestehen der Volkshochschule (1923) betonte Lessing die hohe Bedeutung von Bildung, die er auf die kurze Formel brachte: »Wissen ist Macht! Wissen macht frei! Bildung ist Schönheit!« Sein Bildungsideal 65 Ebd., 148. 66 Ebd., 149.

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umfasste den ganzen (und jeden) Menschen (unabhängig von der sozialen Herkunft). Neben dem Erlernen technischer Fertigkeiten bedeutete »Bil­ dung« für Lessing die Chance zur individuellen, geistigen und materiellen Freiheit eines jeden, wobei er ausdrücklich die individuelle Vervollkomm­ nung und Gleichstellung der Frau mit einschloss. Theodor und Ada Lessing unterstützten die von der SPD geführte Kam­ pagne für das Frauenwahlrecht und die Volksbildung. Während Lessing eigenen Aussagen zufolge bereits seit seiner Dresdner Zeit SPD-Mitglied war, trat Ada nach der Durchsetzung des Frauenwahlrechts 1920 der Partei bei und wurde bei den Reichstagswahlen 1932 von der SPD als Kandidatin aufgestellt. Bis zu ihrer Vertreibung 1933 bot die Volkshochschule einen Ort, an dem die Lessings zusammen mit ihren Mitarbeitern versuchten, getreu ihrem Credo Bildung für alle Schichten der Gesellschaft zugänglich zu machen. Nach seiner Flucht aus Deutschland wollte Lessing die pädagogische Arbeit im tschechischen Marienbad fortsetzen und dort ein Landerziehungsund Töchterheim eröffnen. Zu diesem Zweck bezogen Theodor und Ada Lessing die am Ortsausgang gelegene Villa Edelweiß, in der im Herbst der Schulbetrieb aufgenommen werden sollte. Am Abend des 30. August 1933 saß Lessing in seinem Arbeitszimmer im ersten Stock des Hauses, als ihn gegen 21.30 Uhr mehrere Schüsse trafen, die von außen durch die geschlos­ senen Fenster abgefeuert worden waren. Wenig später erlag Lessing in einem Krankenhaus seinen Verletzungen. Am 2. September wurde der Ver­ storbene auf dem jüdischen Friedhof in Marienbad beigesetzt. Den Nationalsozialisten ist es durch diesen Fememord nur bedingt gelun­ gen,67 den Philosophen und Volksaufklärer aus dem kollektiven Bewusstsein zu löschen. Lessing blieb – auch über seinen Tod hinaus – ein »Unzeitgemä­ ßer«, wie Hans Mayer ihn Ende der 1960er Jahre nannte. Er war seiner Zeit vielfach voraus, als Pazifist wie als Umweltaktivist oder Reformpädagoge; die Dimensionen seines Denkens und Schaffens wurden weder zu seinen Lebzeiten erkannt noch über seinen Tod hinaus hinreichend gewürdigt. So dauerte es ein halbes Jahrhundert, bis seine Heimatstadt Hannover sich ent­ schließen konnte, Lessing eine postume Würdigung zuteil werden zu lassen: 1983, fünfzig Jahre nach seiner Ermordung, verliehen die Stadtväter einem

67 Reichspropagandaminister Goebbels hatte 1933 ein Kopfgeld in Höhe von 80 000 Reichs­ mark auf Theodor Lessing ausgesetzt. Zwei sudetendeutsche NSDAP-Mitglieder verüb­ ten das Attentat auf den ins tschechische Exil geflohenen Lessing. Wenige Stunden nach dessen Ermordung tönte Goebbels, es sei nicht verwunderlich, dass »die deutsche Revolu­ tion« nun auch »die Abschüttelung dieses Jochs« – er führte dabei auch den Namen Theo­ dor Lessing im Munde – mit sich brächte. Zit. nach Joseph Goebbels, Signale der neuen Zeit. 25 ausgewählte Reden, München 1934, 208–220, hier 213.

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Platz seinen Namen. 2006 schließlich wurde die Volkshochschule der Stadt nach ihren Mitbegründern Ada und Theodor Lessing benannt. Dass es zur Gründung der Volkshochschule durch das Ehepaar gekommen war, rührt zu einem nicht geringen Teil aus Theodor Lessings Erfahrungen während des Ersten Weltkriegs her. Denn die Macht, aus der ein Volk erw­ achse, erwachse nicht aus Waffen, sie erwachse aus Bildung: »Wissen ist Macht« wurde für Theodor Lessing zum Wahlspruch. Im Jahr des Kriegsbe­ ginns, 1914, notierte er handschriftlich eine Prophezeiung: »Was ich geschaffen und dargelegt habe, ist noch nie zu eines Menschen Ohr gelangt. Meine Leser oder mein Leser werden hundert Jahre nach mir leben.«68 Vielleicht hat der Autor sein Publikum unterschätzt, das nicht erst die 100-jährige Wiederkehr des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs abwarten wollte, um Lessings bis heute aktuelle Appelle gegen Krieg und Gewalt zu Gesicht und zu Gehör zu bekommen.

68 Stadtarchiv Hannover, Theodor Lessing Nachlass, Nr. 2138, Krieg und Not. Vorbemer­ kung zu den Vorträgen im Winter 1914, handschriftliches Manuskript.

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“Sehenden Auges und mitfühlenden Herzens:” Ernst Toller’s Witness to the First World War Ernst Toller volunteered at the front during World War I, and was decorated for bravery. He fought in the November Revolution that coincided with the end of hostilities, and held leadership positions in the provisional revolution­ ary government in Bavaria. In the tense weeks following the failed revolu­ tion in the spring of 1919, Toller was one of the most wanted men in Ger­ many. His autobiography, Eine Jugend in Deutschland (published in English as I Was a German in 1934), mainly addresses these personal and political experiences.1 Today, however, Toller’s name is associated primarily with his achievements for German Expressionism and, subsequently, the New Objec­ tivity: He was arguably the best-known playwright of the 1920s, an avantgardist whose literary work consistently exposed the epoch as anything but “golden” or “roaring.” So brutal a turning point was World War I for Toller (as for so many writers of his generation) that, without exception, all of his plays, poems, autobiographical prose, essays, speeches, and even his corre­ spondence, were significantly impacted by it. This essay is an attempt to trace and understand that impact. It considers a wide range of Toller’s writings through the lens of his experience of the see­ mingly endless war and the all too short-lived revolution, two events that were inextricably entangled in Toller’s life and work as much as they were in their actual historical context. Toller left a wealth of fictional and non-fic­ tional material which, when read in juxtaposition and through this lens, reveals the lingering personal and political devastation wreaked by this world-changing event.

1

The information that appears here about Toller’s life is taken primarily from this autobio­ graphy and his letters from prison, both of which are included in Ernst Toller, Gesammelte Werke, ed. by John M. Spalek/Wolfgang Frühwald, 6 vols., Munich 1978 (henceforth GW). Subsequent references to Toller’s collected works will appear in parentheses in the body of the text. For a few matters that Toller’s collected writings do not directly address, biographical data has been taken from the chronology in Wolfgang Rothe, Ernst Toller in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek bei Hamburg 1983, 133–139. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 411–434.

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Youth, War, and the First “Conversion” Die Wandlung. The curtain opens on a field of graves, fallen soldiers grouped by company. Now they arise from their graves and line up, supre­ mely disciplined, at the behest of their commander, death. In the evening, a young man, Friedrich, looks out of his window, watches his neighbors lighting candles on their Christmas tree, singing together, exchanging gifts. He is drawn to this mysterious scene emanating love and harmony, yet he knows he is excluded from these traditions. He thinks of Ahasver, another shunned Jew, like him an eternally homeless wanderer. That same sacred night, Friedrich learns of a call for volunteers to fight “the savages” in the colonies; enthusiastically he exclaims: “Drüben brauchen sie Freiwillige. Nun kommt Befreiung aus dumpfer quälender Enge. Oh, der Kampf wird uns alle einen … Die große Zeit wird uns alle zu Großen gebä­ ren … Auferstehen wird der Geist, alle Kleinlichkeit wird er zerstören, alle lächerli­ chen, künstlichen Schranken niederreißen … Nun kann ich meine Pflicht tun. Nun kann ich beweisen, dass ich zu ihnen gehöre. […] Nun kann ich es beweisen, bewei­ sen!” (GW 2, 20 f.)2

Bravely he fights “for the fatherland.” But to his comrades he remains an outsider, a foreigner, a man without a fatherland. To prove them wrong, to spite them, he volunteers again, for a mission closer to the front. But he ends up wounded in a military hospital. A crucifix hangs above his bed and the uniform of his nurse bears the Red Cross. Is she the mother of God? he won­ ders. An officer brings a cross of a different kind: military honors – and citi­ zenship. By fighting and killing enemy combatants, he has earned his place in the fatherland. But what fatherland is this, to ask its people to commit such cruelties? He does not want its cross. He would rather follow Ahasver than belong to his fatherland. Or better yet, he will not follow Ahasver into the wilderness, but will go instead to the people, with whom he belongs. People are hungry, both for bread and for a leader to show them the way. He will speak to them, reminding them of the humanity they have lost, but can now recover – by turning the swords of the soldiers into plowshares.

2

Quotations from Toller will appear in German. For English editions and translations see Ernst Toller, I Was a German. The Autobiography of Ernst Toller, trans. by Edward Crankshaw, New York 1981 (first publ. 1934); idem, Seven Plays, ed. by idem and Her­ mann Kesten, New York 1936 (first publ. London 1935); idem, Letters from Prison. Including Poems and a New Version of “The Swallow Book,” trans. by Richard E. Roberts, London 1936 (also publ. as idem, Look through the Bars. Letters from Prison, Poems, and a New Version of “The Swallow Book,” New York 1937); and idem, Plays One, ed. and trans. by Alan Raphael Pearlman, London 2000. See also John M. Spalek, Ernst Toller and his Critics. A Bibliography, Charlottesville, Va., 1968.

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Die Wandlung (translated as “Transformation,” “Transfiguration,” or “Con­ version”) was Ernst Toller’s first play. He wrote it with only one thing in mind: working towards peace as the war dragged on (GW 1, 137). When it premiered on 30 September 1919, Toller was serving a five-year prison sen­ tence for high treason, following his involvement in the failed November Revolution. In a glowing review, Germany’s preeminent theater critic Her­ bert Jhering wrote that he was “shaken” by the play and its “intensity of the personal.”3 Indeed, Die Wandlung was perhaps Toller’s most personal play. The young Jew Friedrich is a heavily autobiographical character; his conver­ sion from an enthusiastic volunteer soldier to a revolutionary pacifist mirrors Toller’s own. Ernst Toller was born on 1 December 1893 to a prosperous German-Jew­ ish family in the Prussian city of Szamocin, where his great-grandfather had been granted a writ of protection by Frederick the Great. During Toller’s childhood, his Jewish descent was significant mostly because of his multi­ cultural environment: the private boys’ school he attended had six pupils in 1904, three of them Protestant and three Jewish. Both groups were proud to come from a German city, as Toller wrote in his autobiography, and looked down on the more provincial Poles and Catholics. (Toller’s family would leave Szamocin in 1920, when it became part of Poland.) It was amongst these tensions and divisions that Jewish families like Toller’s were consid­ ered both pioneers and preservers of German culture (GW 4, 13). Yet Toller faced anti-Semitism from a young age, and had trouble making sense of it partly because of this perceived allegiance with the German Pro­ testants against the Polish-Catholic other. One of the earliest memories he recounts in his autobiography is of a young girl being told not to play with him because he was Jewish. Children teased him and other Jews in the street. His closest friend was a Polish boy who told him blood libel stories and that Jews were responsible for the crucifixion of Jesus. For this, the young Toller begged forgiveness beneath the crucifix hanging in his friend’s home. He writes of his desire as a boy to become a Christian and participate in the Christmas festivities from which he remained excluded. Toller incorporated all of these experiences in Die Wandlung. When the war broke out, Toller was studying in Grenoble. He returned to Germany as quickly as he could, crossing into Geneva just hours before the borders were closed. Caught up in the wave of patriotism that swept his gen­ eration, Toller became a volunteer in the First Bavarian Foot Artillery Regi­ ment on 9 August 1914. He was receptive to the German propaganda that 3

Herbert Jhering, Von Reinhardt bis Brecht. Eine Auswahl der Theaterkritiken 1909–1932, ed. by Rolf Badenhausen, Reinbek bei Hamburg 1967, 51. Unless otherwise noted, Eng­ lish translations in this essay are the author’s own.

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the French had bombed Bavaria, rendering the war inevitable, but his auto­ biography also highlights the announcement that was almost certainly his primary motivation for enlisting: “An den Bahnhöfen schenkt man uns Kar­ ten mit dem Bild des Kaisers und der Unterschrift: ‘Ich kenne keine Parteien mehr.’4 Der Kaiser kennt keine Parteien mehr, hier steht es schwarz auf weiß, das Land keine Rassen mehr, alle sprechen eine Sprache, alle verteidi­ gen eine Mutter, Deutschland” (GW 4, 50). Like Friedrich, Toller was extre­ mely proud to join the ranks of those protecting the fatherland, and hoped thereby to escape racial persecution and exclusion. In March 1915, tired of waiting around to see action, Toller volunteered for a mission at the front. He had already seen badly wounded soldiers, but now he encountered broken, mangled corpses. He experienced the immedi­ acy of the trenches, in which it was difficult to distinguish living comrades from the dead bodies surrounding them, in which he heard the screams of men dying slowly. For his bravery, Toller was decorated and promoted to petty officer. But at the same time, he began to adopt a critical stance towards the war, or at least towards the German military, in which officers enjoyed steak for dinner and evenings in casinos while soldiers suffered in muddy foxholes. He submitted for publication an essay calling on German newspapers to stop disparaging the French, British and Russian people, since it only reflected poorly on the Germans themselves and their soldiers; it was sent back to him. Toller experienced the moment that would convert him to pacifism while he was digging in a trench and his axe struck a corpse: “Und plötzlich, als teile sich die Finsternis vom Licht, das Wort vom Sinn, erfasse ich die einfache Wahrheit Mensch, die ich vergessen hatte, die vergraben und verschüttet lag, die Gemeinsamkeit, das Eine und Einende. Ein toter Mensch. Nicht: ein toter Franzose. Nicht: ein toter Deutscher. Ein toter Mensch. Alle diese Toten sind Menschen […]. In dieser Stunde weiß ich, daß ich blind war, weil ich mich geblendet hatte, in dieser Stunde weiß ich endlich, daß alle diese Toten, Fran­ zosen und Deutsche, Brüder waren, und daß ich ihr Bruder bin.” (GW 4, 70)5

This epiphany of brotherhood and humanity made Toller desperate to escape the horror of the trenches. After thirteen months at the front he volunteered for an aviation unit; he suffered a physical and psychological breakdown

4 5

Kaiser Wilhelm II had proclaimed to the Reichstag on 4 August 1914: “I no longer recog­ nize parties; I only recognize Germans.” See also GW 1, 173. This passage is translated into English in Walter H. Sokel, The Writer in Extremis. Expressionism in Twentieth-Century German Literature, Stanford, Calif., 1959, 181.

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before he could be transferred. He spent time in a military hospital and a sanatorium, until in January 1917, he was deemed no longer fit for duty and granted leave.

Homecoming – To a Hobbled Nation Hinkemann. A small industrial town in Germany, about two years after the end of the war: The crippled veteran Eugen Hinkemann believes that all the gods – the Jewish, Christian, French, and German one – got tangled up in barbed wire and are still hanging there. When his mother-in-law gouges out the eyes of her pet goldfinch after reading that blind birds sing more sweetly, Hinkemann beats her, horrified at her capacity to torture a fellow creature. He might have done the same before becoming a cripple, but now he is aware of the connection between all living beings and identifies with the helpless bird. Hurling it against a wall to its death, he puts the creature out of the misery he himself cannot escape: his soldier’s pension lets him sur­ vive but is not enough to live on. He must find work, to avoid more derision from his wife, who finds him laughable already. While he is out searching, Hinkemann’s wife betrays his most intimate secret to his friend Paul Großhahn, who will soon become her lover: Hinkemann’s genitals were shot off in the war. He finds an advertisement looking for a strong man in a carnival act, and is offered the job: eighty Marks a day plus meals, for just an hour’s work. His job: to bite through the throats of live rats and mice, and suck their blood. The stallholder knows his business, knows that people will pay to see the bloody spectacle. Afraid of losing his wife for good, despite his new­ found respect for animal life, Hinkemann takes the job. He is introduced to the crowd: “[D]eutscher Bärenmensch! […] Der deutsche Held! Die deutsche Kultur! Die deut­ sche Männerfaust! Die deutsche Kraft! […] Schlägt mit bloßer Hand Nägel durch stärkste Schädelwände! Erwürgt mit zwei Fingern zweiunddreißig Menschen! […] Den müssen Sie gesehen haben, wenn Sie Europa gesehen haben wollen!” (GW 2, 208)

His workday over, Hinkemann goes to a workers’ pub. The drinkers squab­ ble about whose trade is nobler and about their party affiliations. One preaches the coming of the revolution and a new social order – when the time is right. Another is more impatient for this time to come. Another believes the only true salvation comes through religion. Yet another just wants to be left in peace. Hinkemann is trying to find himself in their visions

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for the future when Paul Großhahn enters the pub. At any moment he will reveal to the drinkers Hinkemann’s secrets: his emasculating dismember­ ment and revolting new job. Anticipating this, Hinkemann reveals himself: “Seht her, hier steht ein leibhaftiger Eunuch! […] Was wißt ihr von der Qual einer arm­ seligen Kreatur? Wie müßt ihr anders werden, um eine neue Gesellschaft zu bauen! […] Einer haßt den andern, weil er in ner anderen Parteisekte ist, weil er aufn andres Programm schwört! Keiner hat Vertrauen zum andern. Keiner hat Vertrauen zu sich. Keine Tat, die nicht erstickt in Hader und Verrat. Worte habt ihr, schöne Worte, heilige Worte, vom ewigen Glück. Die Worte sind gut für gesunde Menschen! Ihr seht eure Grenzen nicht … es gibt Menschen denen kein Staat und keine Gesellschaft, keine Familie und keine Gemeinschaft Glück bringen kann. Da wo Eure Heilmittel aufhören, da fängt unsere Not erst an […].” (GW 2, 225 f.)

Hinkemann belongs to a body of German literature about soldiers returning home from the war. The play debuted in Leipzig on 19 September 1923. Four months later it opened in Dresden, where it was performed only once, because of a staged reaction by Nazi party members: they stood, whistled, and sang the national anthem in response to dialogue that they found to be anti-war. Fights broke out in the theater; the actors received death threats. The following month Nazis stormed a Vienna theater where Hinkemann was being performed. The German Theater in Berlin canceled its plans to pro­ duce the play. Almost immediately Toller’s tragedy was understood to be a kind of alle­ gory of postwar Germany.6 In this reading, Hinkemann, whose name is an aptonym (the German verb hinken means “to hobble” or “to limp”), stands for all the soldiers exploited by the powerful men who sent them to war. Material and emotional desperation turn him into the literal embodiment of German beastliness, bloodlust, and violence. He is at the same time the far­ cical representation of German heroism, strength, and culture, all of which are deployed to mask his true lack of virility. But Toller saw the play and its title character rather differently: He wrote in 1922 that Hinkemann’s sexual dismemberment was simply a symbol for human suffering. The following year, he outright rejected the allegorical reading and changed the title of the tragedy from Der deutsche Hinkemann to Hinkemann, to counteract its misinterpretation as a statement about the damage done by the war to the German soul as such. In fact Toller was not interested in the damaged state of a so-called German soul, but in the soul­ lessness of the age. It is this soullessness that provides the key to interpreting Hinkemann’s dismemberment, as the character himself says: “Ich bin lächer­ 6

This is an interpretation that persists in recent scholarship. See for example Silvio Vietta/ Hans-Georg Kemper, Expressionismus, Munich 61997, 207.

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lich wie diese Zeit, so traurig lächerlich wie diese Zeit. Diese Zeit hat keine Seele. Ich hab kein Geschlecht. Ist da ein Unterschied?” (GW 2, 244) In this respect, Hinkemann is not the only or even the primary tragic figure in the play: Rather, Toller sought to underscore the tragedy of a society that was utterly unable to come to the aid of the returning veterans.7 Years later, he would speak of the primary mission that European and American literature had in the war and postwar years: to promote knowledge and understanding amongst a generation whose soldiers were returning home with dreams shat­ tered and life seemingly devoid of meaning; to speak out in honesty and brav­ ery against the barbarism that had sent them to war (GW 1, 190). If the tragedy of Hinkemann is not that of the returning veteran per se, then this explains perhaps why Eugen Hinkemann is one of Toller’s least autobiographical characters. Toller was not physically crippled when he returned home from the front, and he did not have to look for work or sup­ port a family. He did, however, return with a new sense of connectedness to the natural world and its defenseless animal inhabitants: “Als Knabe, als halbwüchsiger Bursche schoß ich Hasen, war leidenschaftlicher Jäger, mit Grauen denke ich heute daran. Dann kam der Krieg und Monate in Erdlö­ chern, in Waldverstecken und ein inniges Gefühl für Tier und Baum” (GW 5, 143). Toller did his best to forget the horrific hours spent in trenches and forest hideouts: he resumed his studies in Munich soon after his discharge and ignored the newspapers with their reports from the front. He traveled around Bavaria, frequenting classical concerts and art museums. But he could not escape the war: “Vier Wochen, sechs Wochen geht es, plötzlich hat [der Krieg] mich wieder überfallen, ich begegne ihm überall, vor dem Altar des Matthias Grünewald sehe ich durch das Bild […] die zerschossenen, zerfetz­ ten Kameraden, Krüppel begegnen mir auf meinen Wegen, schwarzver­ schleierte, vergrämte Frauen” (GW 4, 76). In September 1917, Toller attended a private conference at the castle Lauenstein in Thuringia, where prominent intellectuals and artists gathered (Toller names Max Maurenbrecher, Richard Dehmel, and Ferdinand Tön­ nies, among others) to discuss the crisis they were living through and their disparate views about how to overcome it: through the revelation of the true German spirit; by founding a German church and building a temple for it; by rejecting Western European democracy. Their talk seemed empty to Toller, perhaps because these men knew too little of the battlefield. Despite his respect for their intellectual stature, his hopes in them were disappointed:

7

For Toller’s thoughts about the play and its (mis-)interpretation, see GW 5, 113, 152, and 177.

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“Tagelang wird geredet, diskutiert, draußen auf den Schlachtfeldern Europas trommelt der Krieg, wir warten, warten, warum sprechen diese Männer nicht das erlösende Wort, sind sie stumm und taub und blind, weil sie nie im Schützengraben gelegen, nie die ver­ zweifelten Schreie der Sterbenden, nie die Klage zerschossener Wälder gehört, nie die trostlosen Augen verjagter Bauern gesehen haben? Ich bin ein junger unreifer Mensch, all diese Männer sind mir an Erfahrung, an Wis­ sen, an Lebensreife, an Erkenntnis- und Geisteskraft weit überlegen, vor ihnen zu spre­ chen, scheint mir Anmaßung, aber ich kann nicht schweigen. Zeigt uns endlich den Weg, rufe ich, die Tage brennen und die Nächte, wir können nicht länger warten. Aber niemand zeigt den Weg, der in die Welt des Friedens und der Brüderlichkeit führt.” (GW 4, 78 f.)

Only the sociologist Max Weber seemed to Toller sufficiently concerned with ending the war. In fact, Toller was so impressed by him that, after the conference, he went to study law and politics in Heidelberg, where Weber taught. But Weber’s priorities – dismantling the authoritarian state with its emperor, its bureaucracies, and its class-based electoral system and institut­ ing a parliamentary democracy – did not strike as deeply at the heart of the German system, and indeed at the conditions of human existence, as Toller and his young contemporaries would have liked. Most of these young men Toller met in Heidelberg had also been physically and emotionally scarred by their participation in the war, which continued to drag on. Though they seemed as passionate as Toller in their opposition to it, they ultimately reminded him of the intellectual leaders he had encountered at Lauenstein: lots of talk, but no action.

A Second “Conversion:” The Masses Strike – and Revolt Masse – Mensch. The workers choose The Woman to lead their strike. She was unaware of their plight for a long time, but has now turned her back on the comforts of her bourgeois life in order to support them. It is not she who will call for the strike, she thinks: It is humanity, it is nature itself – it is inevitable. Her husband disagrees and will divorce her. He stands to lose so much from her involvement: his honor and reputation, the possibility for advancement in his career, the fulfillment of his duty to the state. The Woman realizes that it is her own husband, and those like him, who oppress the masses. She rejects his claims that she is simply bored, sentimental, or suffering a nervous breakdown. She loves him and longs for him; but at the same time she feels committed to the workers’ cause, and cannot be loyal to him and the militaristic state he protects:

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“Der Mann: Dein Tun ist Staatverrat! Die Frau: Dein Staat führt Krieg, / Dein Staat verrät das Volk! […] Der Mann: Staat ist heilig … Krieg sichert Leben ihm. / Friede ist Phantom von Ner­ venschwachen. / Krieg ist nichts als unterbrochner Waffenstillstand, / In dem der Staat, bedroht vom äußren Feind, / Bedroht vom innren Feind, beständig lebt” (GW 2, 72).

Meanwhile the war effort – fearsome instrument of kings and governments, of press and church – is failing. The army is retreating and the soldiers are as short on morale as they are on food. The masses at home suffer too, starving as they labor in the factories – even as the brokers in the markets rake in profits from each new battle. The masses want to tear down the factories, but The Woman knows that they would soon be replaced by new ones, and calls on the laborers to strike instead. She is countered by The Nameless One, who emerges from the masses calling for a more militant solution: “Durch Streik erzwingt ihr Frieden, / Einen Frieden. / Schafft Ruhepause nur. Nicht mehr. / Der Krieg muß enden / In alle Ewigkeit! / Doch vorher letzten, rücksichtslosen Kampf! / Was nützts, wenn ihr den Krieg beendet? / Auch Friede, den ihr schafft, / Läßt euer Los unangetastet. / Hie Friedensmaske, altes Los! / Hie Kampf und neues Los! […] Ich rufe mehr als Streik! / Ich rufe: Krieg! / Ich rufe: Revolution! / Der Feind dort oben hört / Auf schöne Reden nicht. / Macht gegen Macht! / Gewalt … Gewalt!” (GW 2, 84 f.)

The Woman pleads with the masses not to follow his call for new violence. But she is only an individual and he, The Nameless One, is the masses, is one of them. And there is much that speaks for his position, above all the promise of eternal peace, and not a fleeting semblance thereof before the greedy state can trump up a new conflict with which to exploit the workers. The conflict lies within her, as well: What counts more? Her moral princi­ ples, or unity with the will of the suffering masses? The Nameless One is triumphant: A revolution begins and turns bloody. Still The Woman cannot overcome her aversion to armed combat, her mounting feeling of responsibility for the deaths of her revolutionary com­ rades – and for the deaths of the counterrevolutionaries they are killing. This new war threatens to conflate with the old one: “In … beiden Kriegen … Menschen …” (GW 2, 94). Her call to separate the revolution from hatred and revenge, to base it on the true principles of humanity, community and justice, is dismissed as intellectualism, as a treacherous defense of the privi­ leged class to which she once belonged. She is arrested and jailed, her dreams haunted by the shadows of the dead. Twice she refuses liberation from prison, from her death sentence. That would mean realigning herself with her husband and his blind obedience to the state. Or else The Nameless One would have to kill a guard while break­ ing her out, and she cannot justify that death with her freedom. Her social­ ism and pacifism lead to her execution, but only after a final debate with The

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Nameless One. She tells him that the individual, the human, the community within the masses must be liberated from the murderous idol the masses have become – a Moloch no better than the belligerent state, sacrificing human lives to its ideals and equally leading to oppression and slavery. This nameless mass, she knows, will perish. The human, the individual, is eternal. Masse – Mensch premiered in Nuremberg to an audience of union members on 15 November 1920. Jhering was quite critical this time, calling it a play written by a “resigned idealist.”8 Certainly some of the fervor of Die Wan­ dlung had faded. The play was criticized by some as too counterrevolution­ ary in its pacifism, by others as too Bolshevist in its suggestion that The Woman perishes precisely because of that pacifism. Like Friedrich in Die Wandlung, The Woman is a heavily autobiographi­ cal character. Toller wrote Masse – Mensch to come to terms with his experi­ ences in the November Revolution and the workers’ movement that gave birth to it. Like The Woman, he had been a reluctant leader in the movement. Ever since, he had been engaged in a moral struggle with the violence that he, as a revolutionary, had been party to and even encouraged, because he felt it contradicted his socialist principles. He now sought to work through the internal conflict by means of dramatic abstraction, reckoning with the conflicting motivations of “the individual” and “the masses” as such. By pla­ cing his own choices in the context of a more universal problem, he endea­ vored to better understand them: “Was erwartet den Menschen, frage ich mich, der in die Geschicke der Welt eingreifen will, also zum politischen Handelnden wird, wenn er die als recht erkannte sittliche Idee im Kampf der Massen verwirklichen will? […] Muß der Handelnde schuldig wer­ den, immer und immer? Oder wenn er nicht schuldig werden will, untergehen? Treiben die Masse sittliche Ideen, treiben sie nicht vielmehr Not und Hunger? Kann sie je sie­ gen, wenn sie vom Kampf abläßt, um sittlicher Ideen willen? Ist der Mensch nicht Indi­ viduum und Masse zugleich? Spielt sich der Kampf zwischen Individuum und Masse nur in der Gesellschaft ab, nicht auch im Innern des Menschen? Als Individuum han­ delt er nach der als recht erkannten moralischen Idee. Ihr will er dienen, und wenn die Welt dabei zugrunde geht. Als Masse wird er getrieben von sozialen Impulsen, das Ziel will er erreichen, auch wenn er die moralische Idee aufgeben muß.” (GW 4, 222 f.)9

The roots of Toller’s dilemma can be traced back to his earliest direct politi­ cal involvement, which arose largely out of his frustration with the inertia of his professors, role models, and even many fellow students. In November 1917, he helped to found (and was elected leader of) the Cultural and Politi­ cal League of German Youth, because if the war was proving anything, surely it was that political inactivity was unethical and immoral (GW 1, 31). 8 9

Jhering, Von Reinhardt bis Brecht, 100. For an English translation of this passage, see GW 1, 78.

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Toller was beginning to see poverty and the waging of war as inextricably linked: Only the hungry could be manipulated by greedy governments to fight against each other. Thus the League was as devoted to eradicating pov­ erty as it was to ending the war and fighting the pervasive militarization of German culture. League members were accused of treason and derided as pacifists by democrats and nationalist groups alike. Toller remained com­ mitted to a different kind of patriotism, one inspired by his time at the front, where battles still raged: “Gerade die von uns, die im Felde Krieg erlebt haben, fühlen sich doppelt verpflichtet, ihren Weg unbeirrt zu gehen. Wir wissen, daß wir unsern Brüdern draußen den wahren Dienst leisten. Auch wir lieben Deutschland, nur auf eine andere Weise, mit höheren Ansprüchen – auch an uns” (GW 4, 84).

Soon the military intervened, deporting non-German students affiliated with the League, calling back into action German League members who had been discharged. Toller himself was in the hospital with the flu when he received a warning from a friend that the authorities had come to his apartment to arrest him. He escaped from Heidelberg to Berlin to advocate for the legali­ zation of the League, ultimately without success. It was in Berlin that Toller met and befriended the prominent labor leader Kurt Eisner. Their relationship led to a second “conversion” for Toller: from an admittedly naïve pacifism to one that was firmly anti-capitalist. This development too was a consequence of the war, and of Toller’s intense engagement with the question of where the blame for it lay: “Der Krieg ließ mich zum Kriegsgegner werden, ich hatte erkannt, daß der Krieg das Verhängnis Europas, die Pest der Menschheit, die Schande unseres Jahrhunderts ist. Über die Frage, wer den Krieg verschuldet hat, machte ich mir keine Gedanken. […] in diesem Krieg verteidigt sich nicht das deutsche Volk, ich verteidige nicht mein Vater­ land, die deutschen Stahlmagnaten wollen die Erzgruben von Belgien […] erobern, die Kriegsziele der alldeutschen Imperialisten verhindern den Friedensschluß. Wir sind betrogen, unser Einsatz war umsonst, bei dieser Erkenntnis stürzt mir eine Welt zusam­ men. […] Die Politiker belügen sich selbst und belügen die Bürger, sie nennen ihre Interessen Ideale, für diese Ideale, für Gold, für Land, für Erz, für Öl, für lauter tote Dinge sterben, hungern, verzweifeln die Menschen. Überall. Die Frage der Kriegs­ schuld verblaßt vor der Schuld des Kapitalismus.” (GW 4, 86 f.)

From childhood, Toller had enjoyed economic comfort and privilege, and had been indoctrinated into the dangers of socialist workers’ movements. Now he gained firsthand experience with those movements, thanks to Eisner. Eisner had opposed the war from the start, and his pacifism had led him to split with Germany’s well established Social Democrats (SPD) and join the Independent Social Democratic Party (USPD). Toller followed Eisner to Munich and attended the meetings he led, at which socialist workers dis­ cussed the path to peace.

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Inspired by striking munitions workers in Kiel, Eisner began to coordinate strike efforts in Munich, to which Toller contributed. At workers’ meetings, he distributed some of the war poems he had written, as well as relevant scenes from Die Wandlung, in the hope that they could inspire antiwar and revolutionary sentiment. In this respect, Toller was very much in line with his Expressionist contemporaries, who believed in literature and especially the theater as a means to influence the masses and effect change. Soon the leaders of the strike committee were arrested, including Eisner as well as Sonja Lerch, to whose story Toller devotes a paragraph of his autobiography. Her husband, a university professor, had abandoned her over her involvement in the strike. She insisted on seeing her husband one more time, went back to their house despite Toller’s warnings and was soon arrested. On the fourth day of her imprisonment, she hanged herself in her cell. It was not just Toller himself, then, but also Sonja Lerch who provided a biographical model for the “abstraction” that is The Woman in Masse – Mensch. In fact, The Woman is identified by name only once in the play (in the dramatis personae), as Sonja Irene L.10 Soon after the death of Sonja Lerch, Toller gave his first public speech at a rally and drafted an appeal for workers to join the strike. Greeted and sup­ ported by veterans in the streets, striking workers marched on the palace of the Wittelsbach family, which had ruled in Bavaria since the twelfth century. With as many as 50,000 participants, the strike lasted for days. As the gov­ ernment cracked down on them, Toller was arrested, reactivated for duty, and transferred to the Leonrodstraße military prison in Munich. Toller’s conversion to socialism was cemented during his time in Leonrodstraße, where he read Marx and Engels, Lassalle, and Bakunin: “[W]as mich anzog, war ihr Kampf gegen den Krieg, jetzt erst werde ich Sozialist, der Blick schärft sich für die soziale Struktur der Gesellschaft, für die Bedingtheit des Krie­ ges, für die fürchterliche Lüge des Gesetzes, das allen erlaubt zu verhungern, und weni­ gen gestattet, sich zu bereichern, für die Beziehung zwischen Kapital und Arbeit, für die geschichtsbildende Bedeutung der Arbeiterklasse.” (GW 4, 95)

Toller met a number of soldiers here as well, too many deserters for the prison to hold. Faith in the war effort was flagging on all sides: Even mili­ tary prison seemed better than being at the front. But the prison was run by bureaucratic officers who had never seen action, and Toller’s writings describe their brutal mistreatment of the prisoners. So many of the deserters 10 It has been suggested that the addition “Irene” comes from the name for the Greek god­ dess of peace – continuing a practice Toller had already adopted in naming his first hero “Friedrich” [peaceful ruler]. See GW 1, 13; Ingo Leiß/Hermann Stadler, Weimarer Republik 1918–1933, in: Ernst von Borries/Erika von Borries (eds.), Deutsche Literatur­ geschichte, 12 vols., here vol. 9, Munich 2003, 288.

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around him committed suicide that Toller felt his own sanity beginning to slip. After several months, he was moved to a military hospital and then to a convalescent battery. In September 1918, he was discharged from the mili­ tary a second time. On 9 November, Toller was at his mother’s house in Prussia, suffering again from the flu. His sister brought him the news: the recent mutiny at Kiel had spread; the German Revolution had begun. Toller left for Berlin the next day and continued from there on to Munich at the invitation of Eis­ ner, who had been elected prime minister of the Free State of Bavaria (from which the king had fled). Toller was named second chairman of the Central Council of Bavarian Workers’, Farmers’, and Soldiers’ Councils, and a member of the Provisional National Council of Bavaria. But in the ensuing months, he found the revolutionary government and its constituents utterly unprepared to deal with the power they had suddenly acquired, lacking in practical experience, political will, and even unity of purpose. In February 1919, Toller was one of Munich’s delegates to the Bern Con­ gress of the Second Socialist International. His hopes that the International would render world governments incapable of pressing their citizens into wars against each other were soon dashed, as the Congress descended into chaos, with delegates blaming each other for their lack of success. Toller was on his way back from Switzerland when he heard the news, on 21 Feb­ ruary, that Eisner had been murdered by a German reactionary. With Eis­ ner’s assassination, Bavarian workers called to abolish the parliamentary system and establish instead a soviet republic. Toller was far from enthu­ siastic (and not present, or even in Munich) when the Bavarian Soviet Republic was proclaimed in April (GW 1, 53). He looked upon it as a des­ perate, last-ditch effort to save the revolution, still lacking the means to achieve the goals of the proletariat. Nevertheless, he became the Central Council’s first chairman – a position he held for only a week and lost when communists staged a successful coup against the soviet government, which they considered to be a sham, and installed their own. The infighting amongst the revolutionaries had weakened the movement and bolstered the counterrevolutionaries. Toller chose to continue in the revolution as a sol­ dier. Given the commitment to pacifism with which he had left the front, it was a difficult decision to make: “Vor einem Jahr, als man mich beim Streik verhaftete, weigerte ich mich, die Uniform anzuziehen und Waffen zu tragen. Ich haßte die Gewalt und hatte mir geschworen, Gewalt eher zu leiden als zu tun. Durfte ich jetzt, da die Revolution angegriffen war, diesen Schwur brechen? Ich mußte es tun. Die Arbeiter hatten mir Vertrauen geschenkt, hatten mir Führung und Verantwortung übertragen. Täuschte ich nicht ihr Vertrauen, wenn ich mich jetzt weigerte, sie zu verteidigen, oder gar sie aufrief, der Gewalt zu ent­ sagen? […]

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Wer heute auf der Ebene der Politik, im Miteinander ökonomischer und menschli­ cher Interessen, kämpfen will, muß klar wissen, daß Gesetz und Folgen seines Kampfes von anderen Mächten bestimmt werden als seinen guten Absichten, daß ihm oft Art der Wehr und Gegenwehr aufgezwungen werden […]” (GW 4, 138 f.).

As fighting between the revolutionaries (“the Reds”) and the counterrevolu­ tionary troops (“the Whites”) intensified, Toller was elected a Red Army sec­ tion commander, a position he accepted with great reluctance. He soon received an order to execute five captured White Army officers. He defied it: “Ich zerreiße den Befehl, Großmut gegenüber dem besiegten Gegner ist die Tugend der Revolution, glaube ich. […] Mögen die Gesetze des Bürgerkriegs noch so brutal sein, ich weiß, die Konterrevolution hat in Berlin rote Gefangene ohne Schonung gemordet, wir kämpfen für eine gerechtere Welt, wir fordern Menschlichkeit, wir müssen mensch­ lich sein.” (GW 4, 147)

Soon Toller knew that the revolutionary effort was outmatched. Its comman­ ders had avoided the iron discipline of German militarism, and the soldiers seemed lost without it. The revolution’s political leaders, still divided amongst themselves, were unprepared to accomplish anything tangible. Munich was surrounded by counterrevolutionary troops. Ultimately Toller decided that the workers of Bavaria were fighting a battle they had no hope of winning, and that he could not be among those asking them to fight it: He resigned from his position as commander. The divisions among the revolu­ tionary councils only deepened in the following days. The November Revolution came to a bitter end when Munich was con­ quered by Freikorps and imperial troops on 1 May 1919. Toller was instru­ mental in the decision to liberate, rather than execute, many of the Red Army’s prisoners. For others he was too late: they had already been shot. Looking at their bodies, Toller thought back to the front, “an die zahllos Hin­ gemordeten Europas. Wann werden die Menschen aufhören, einander zu jagen, zu quälen, zu martern, zu morden?” (GW 4, 158) In the weeks following the revolution, Toller went into hiding with a price of 10,000 Marks on his head. After changing his hiding place repeatedly, he was found and arrested during the first week of June. From the prison where he was held, Toller learned that the German government was preparing to sign the Treaty of Versailles. He was convinced that this would be disas­ trous, though for different reasons than most: he considered it an institutio­ nalized perpetuation of the exploitations of capitalism (GW 1, 50). A letter to the Neue Zeitung shows Toller continuing to place the blame for the war not only with the old imperial government and military, but also with Eur­ opean capitalism itself: “Die deutsche Republik darf nicht die Verantwortung für diesen ungerechten Frieden […] übernehmen. Täte sie es, wird man am Ende vergessen, daß die kaiserliche Regie­

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rung und die deutschen Generäle dafür verantwortlich sind und wird die Republik mit den Folgen der Niederlage und dieses Friedens belasten. Diese Belastung wird die Republik auf die Dauer nicht aushalten. […] So sehr wir von der schweren Schuld der deutschen Regierung am unmittelbaren Ausbruch des Krieges überzeugt sind, dürfen wir nie vergessen, daß die tiefere Schuld des Krieges im Kapitalismus, im Imperialis­ mus, also auch bei den Regierungen der Ententeländer liegt.” (GW 5, 18 f.)

Even many years later, Toller would continue to criticize the Entente powers for failing to realize their responsibility to Europe, which should have led them to encourage the German peace movement and restrict punitive mea­ sures to Germany’s ruling political and military class (GW 1, 205). In an essay written shortly before he was sentenced, addressed “To the Youth of all Nations” (GW 1, 46–49), Toller summarized young Germans’ experience of the war years: the initial fervor to defend their homeland against putative attack; the realization that the nation had duped them into this “defensive” stance and was in fact guilty of war crimes; the horrifying revelation that poison gas was being used in battle; the turn away from all militarism. It was the further turn away from capitalism, and toward the principles of socialism, that Toller and his comrades had not yet been able to realize in Germany, as the failed revolution was demonstrating. But these writings from prison were indications that the effort would continue. In July, Toller was sentenced to five years’ imprisonment for high treason. His autobiography considers the irony of the charge: “Die Richter des Standgerichts nennen, was ich getan, Hochverrat, sie weisen mit dem Finger auf das kaiserliche Gesetzbuch, nach dem sie richten, […] sie verachten den gesunden Menschenverstand, der begreift, daß der Hochverratsparagraph dieses Gesetzbuchs die Monarchie schützen sollte, und die Monarchie längst entthront ist. Mit der Anklage, ich hätte die Verfassung gestürzt, ist es auch so eine Sache, die alte Verfassung haben jene Minister gestürzt, die mich heute vor Gericht stellen, und eine neue gibt es noch nicht.” (GW 4, 184)

In his statement to the court, Toller rejected the notion that there was any psychopathic or hysterical motivation for his revolutionary actions (a charge he faced largely because of his bourgeois rather than working-class back­ ground). He accepted the sentence – firm in the belief that it could not quell the coming chaos of the socialist revolution – as an exercise of the court’s power, but not of justice (GW 1, 149–51). Other revolutionaries suffered far worse fates, as Toller knew. So many of them were executed, he writes in his autobiography, that the morgues overflowed. Though the war had ended, he could still not escape mass casualty inflicted by his nation on itself: “Mas­ sengräber wurden geschaufelt wie im Krieg” (GW 4, 192).

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Imprisonment: The Nest in the Cell Das Schwalbenbuch. The prisoner’s days are monotony, his strength out­ matched by that of the steel bars. Fellow prisoners die. Perhaps he should, too. But a pair of swallows has built a nest in the barred window of his cell. They have come to spend the spring in Germany. “Wo soll ich Euch eine Stätte bereiten, Vögel der Freiheit? Ich bin ein Gefangener, und mein Wille ist nicht mein Wille. Sing ich ein Lied der Freiheit, meldet der Wächter: Der Gefangene sang ein revolutionäres Lied. Das dulden die Paragraphen nicht. Mächtige Herren sind die Paragraphen, die die Menschen über sich setzen, weil sie den Sinn verloren. Ruten tragen sie in Händen. Die Menschen sagen: Ruten der Gerechtigkeit. Dieses Hauses Ruten heißen: Einzelhaft … Bettentzug … Kostentzug … Hofver­ bot … Schreibverbot … Sprechverbot … Singverbot … Leseverbot … Lichtverbot … Zwangsjacke. Ihr, meine Schwalben, wißt nichts von Ungerechtigkeit. Darum wißt Ihr auch nichts von Paragraphen und von Ruten …” (GW 2, 329 f.)

The swallows tend to their nest in the prisoner’s cell. He hides it from the warden, who has already declared war on any birds that approach the prison. “O im vorigen Sommer der Kriegszug auf junges Getier! Gegen Dachrinnen, Firste marschierte man Sturm. Als ich zum Hof ging, Ging ich über ein Schlachtfeld. Hilflos kreisend die klagenden Mütter. Paragraph X: Es widerspricht dem Strafvollzug, Vögel zu dulden im Hause der Buße.” (GW 2, 333)

Let others marvel at Europe’s mighty airplanes – the prisoner is charmed by the sacred flight of the swallows. Five eggs appear in the nest. The swallow chicks hatch, are fed, and are cleaned, according to some secret law of nat­ ure. The parents teach their clumsy chicks to fly, to discover the world as they leave the nest. For the prisoner the swallows become symbols of holi­ ness and of humanity. “Der Mensch Mitte des Weltalls? Warum nicht die Schwalbe! Erhebet doch, erhebet doch Die Schwalbe Auf den Thron des siebenten Tages.

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Um des Menschen willen Habt Ihr Menschen gemordet, Um der Schwalbe willen, Vielleicht, daß Ihr den Menschen findet. Und mehr als den Menschen.” (GW 2, 346 f.)

A second brood hatches. Four of the hatchlings are blind, hungry. The frost takes them, and the prisoner shares in the parents’ grief; his cell becomes a place of mourning. As autumn turns to winter and the swallows leave, the prisoner thinks of their return in the spring. Perhaps it is the animals, he thinks, who can lead humans to recover the humanity in their nature: “Bevor nicht die Menschen wiederfinden den Grund ihrer Tierheit, Bevor sie nicht sind Sind Wird ihr Kampf nur wert sein Neuen Kampfes, Und noch ihre heiligste Wandlung Wird wert sein neuer Wandlung.” (GW 2, 350)

Toller was sent to prison in Eichstätt in September 1919, the same month that Die Wandlung debuted in Berlin. He was soon transferred to Nie­ derschönenfeld prison, where all of the soviet revolutionaries were housed and where he served out his sentence. Whenever news from outside reached him, it confirmed his disappointment in the new republic – one that granted amnesty to the murderers of Liebknecht, Luxemburg, and Landauer, but per­ secuted and locked up revolutionaries like himself. The luster of the Golden Twenties could not blind the political prisoner Toller to the indications that Europe and Germany were in for more dark days, and for reasons that clearly stemmed from the war and its legacy. He wrote in 1921: “Die historische Aufgabe der deutschen Regierung wäre die entschiedene Abkehr von der militaristischen Vergangenheit und das Bekenntnis zur Idee des Friedens in der Politik […]. Aber die zahllosen Proteste und die Tendenz, alle Sünden der Vergangen­ heit als deutsche Tugenden zu verteidigen, wecken nur den nationalistischen Taumel im Land und rufen die Gegner der Republik auf den Plan. Man wird sich wundern eines Tages, die Geister, die man rief, wird man nicht wieder los. […] Ich habe manchmal das Gefühl, als ob ich aufschreien müßte wider diese Zeit, nur um mich von den leben­ digen Nachtmahren zu befreien, die in ungeheuerlichem Gewimmel der Brutalität, der Haßorgien, der völligen Nichtachtung des Lebens, der Seelenlosigkeit mich umschwir­ ren. Die Katastrophe scheint unaufhaltsam.” (GW 5, 69 f.)11

11 See also especially prescient letters written from prison in January 1920 (GW 5, 35), December 1921 (ibid., 85), February 1922 (ibid., 94), December 1922 (ibid., 134), and January 1924 (ibid., 172–174).

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Toller did cry out, throughout his imprisonment, in letters addressed to friends and newspaper editors, and in essays he managed to have published. He chastised German politicians for continuing to deceive their constituents, just as they had during the war, when the German people believed their mili­ tary was winning battle after battle, blissfully unaware even of the defeat at the Marne. He urged those his writings could reach – particularly the youth of Germany – not to forget the devastating human toll the war had taken (by 1922 newspapers were reporting as many as twelve million German casual­ ties; 1,8 million of them fallen soldiers, forty-six for each hour of the war), all the more as new and more lethal chemical weapons were being developed (GW 1, 62). Much of Toller’s prison correspondence was confiscated. At times he suf­ fered solitary confinement as a punishment for what he had written and tried to communicate to the outside world. He was on hunger strike (GW 1, 102– 106) the night that Masse – Mensch had its first public performance in Berlin 1921. That same year, Toller wrote his next play, Die Maschinenstürmer (The Machine-Wreckers), and was elected to replace the murdered USPD minority leader Karl Gareis in the Bavarian parliament; naturally he was never able to serve. 1921 also saw the appearance of Gedichte der Gefan­ genen (Prisoners’ Poems), a collection that Toller had been composing in various prison cells since 1918 and now dedicated to those who had died during the revolution. In 1922, a pair of swallows built a nest in Toller’s prison cell. The spring and summer in which they kept him company turned into Das Schwalben­ buch (The Swallow-Book), a 26-page poem he wrote down in the first half of 1923. The manuscript was confiscated; Toller lodged an official complaint with the Reichstag. When it went unanswered, he succeeded in smuggling a second copy out of the prison and to a publisher. As punishment he was moved to a different cell where no birds would nest, one that no longer faced east. When the swallows returned to the prison the following spring, their nests were destroyed again and again by the wardens. Even as these poems grew out of Toller’s imprisonment, his years in Nie­ derschönenfeld saw him transformed into one of Germany’s most celebrated playwrights. Toller was thirty years old when he was released from prison in July 1924. He was deported and banished from Bavaria, still considered a threat to its political stability.

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A Free Man – And Still Alive Hoppla, wir leben! Ten days have passed since they were sentenced to death. Six revolutionaries sit together in a cell, waiting, arguing amongst them­ selves: Eva Berg is a child who is too afraid to die; Wilhelm Kilman is a coward and an opportunist who only joined the cause once they were already in power; Karl Thomas is a son of the bourgeoisie with little understanding of the proletariat’s life. A lieutenant brings news: the president has granted a stay of execution. Karl suffers a mental breakdown and is taken to a mad­ house. Eva and the rest are moved to a detention camp – except for Wilhelm, who is released. The president believes his claim that he was implicated in the uprising against his will. Eight years pass. Wilhelm has made a career for himself, one promotion after another until he is a Social Democrat minister. Eva, released from detention, is causing him problems: She organizes women in the plants against the production of more poison gas for more war and writes pamph­ lets for the upcoming elections. Now Karl is also released, into the metropo­ lis of 1927: streetcars, automobiles, subways, airplanes. He looks to Wil­ helm and Eva for help and orientation in these strange new times, but too much has changed. He can’t understand his former friends; they find him naïve. Karl seems to come from a lost generation. He meets the next generation, two children with a dark curiosity about this man who spent so many years in the madhouse, who fought in the revolu­ tion, and before that in the war. Karl is curious, too. Do they know about the revolution, about the war? Of course, in school they must memorize the dates of major battles. In school they are taught that the poison gas the fac­ tories produce is there to defend them from an attack by their enemies – ene­ mies they cannot name. Karl tells them a story: “Während des Krieges lag ich irgendwo in Frankreich im Schützengraben. Plötzlich, nachts, hörten wir Schreie […]. Die ganze Nacht schrie ein Mensch. Den ganzen Tag schrie ein Mensch. […] Als es dunkel wurde, stiegen zwei Soldaten aus dem Graben und wollten den Menschen, der verwundet zwischen den Gräben lag, hereinholen. Kugeln knallten, und beide Soldaten wurden erschossen. […] Da kam der Befehl, es dürfe keiner mehr aus dem Graben. Wir mußten gehorchen. Aber der Mensch schrie weiter. Wir wußten nicht, war er Franzose, war er Deutscher, war er Engländer. […] Vier Tage und vier Nächte schrie er. […] Dann wurde es still. Ach, Kinder, vermöchte ich Phantasie in euer Herz zu pflanzen wie Korn in durchpflügte Erde. Könnt ihr euch vorstellen, was da geschah? […] Der Mensch schrie. In Frankreich und in Deutschland und in Rußland und in Japan und in Amerika und in England. […] Warum das alles? Wofür das alles? Würdet ihr auch so fragen?” (GW 3, 56)

All around him Karl sees a lack of the imagination that breeds empathy, a lack of resolve to question and revolt against existing conditions. He cannot accept the practical, patient methods of Eva and the other socialists he

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meets. Only a grand and radical act can awaken his compatriots: Karl plans to assassinate Wilhelm Kilman. He changes his mind, but is arrested when Kilman is in fact shot, by a student acting on behalf of a nationalist group: For the nationalists, Kilman is still a bolshevist revolutionary, selling Ger­ many off to Jewish business interests. The idea that he and the nationalists have a common enemy is enough to convince Karl that he has not been released from the madhouse – this republic is a madhouse. The world is a madhouse. Hoppla, wir leben! (Hoppla, We’re Alive!) is the first play that Toller wrote entirely outside of a prison. He worked on it, together with director and pro­ ducer Erwin Piscator, in the summer of 1927. When it premiered in Septem­ ber, Jhering saw a playwright ready to “leave ideological platitudes behind him and portray the conditions under which these people live and have become as they are.”12 Still, there were important commonalities with Tol­ ler’s early, fervently ideological work. Karl Thomas – imprisoned for his participation in the revolution and often reminded of his bourgeois roots – is heavily autobiographical as well. The war story that Karl tells the children is repeated in the chapter of Toller’s autobiography that deals with his time at the front. But Karl Thomas is not Ernst Toller to the same extent that Die Wandlung’s Friedrich was. In many cases, Toller was the one encouraging fellow socialists to engage in small, practical efforts until a more compre­ hensive revolution was imminent. He continued to believe in that revolution and to support its coming as best he could, in writings and speeches that plainly addressed both Germany’s recent and terrible past and its increas­ ingly frightening future. Toller was much sought-after following his release from prison in 1924, and very much afraid of disappointing audiences whose expectations might be too high (GW 4, 233). But he traveled extensively, making numerous public appearances. Just days after his release from prison, Toller marked the tenth anniversary of the beginning of the war, on 1 August, with an enthusiastically received speech in Leipzig. He encouraged his listeners to engage with the terrible memory of the front. He called on them to take full responsibility for the support of the war they had willingly given ten years earlier, for the failure of their entire generation to end the war more quickly. And he lambasted the hypocrisy of those suggesting that peace now reigned in Germany, particularly given that revolutionaries continued to rot in prison and the ruling class still waged its war on the proletariat. All of this was Tol­ ler’s call to real and lasting peace (GW 1, 157–159).13 12 Jhering, Von Reinhardt bis Brecht, 253. 13 See also GW 1, 68 f., where Toller remarks ruefully on the lack of progress toward peace even by the tenth anniversary, in 1928, of the end of hostilities.

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He continued to write and speak about the years of war and revolution, hoping to inspire his audience to draw the proper lessons from them. On 8 November 1925, he called on a crowd of Berlin laborers to mourn rather than celebrate the anniversary of the revolution, and publicly scrutinized its failings yet again so that the still living spirit of revolution might take hold (GW 1, 159–165). In 1926, he wrote a reflection on the erstwhile Bavarian Soviet Republic – compelled to do so, he thought, by the misinformation spreading in the media. He was particularly affronted by the charge that he himself had harmed the revolution by agitating against Germany’s commu­ nists and denigrating them as “Prussians” and “Jews.” Clearly eager to set the record straight, Toller asserted his own origins, being both Prussian and Jewish by birth (GW 1, 52 and 58). In the following years he published an account of the numerous miscarriages of justice that had taken place in Bavaria (GW 1, 91–107) and encouraged labor unions and the public theater to collaborate on a documentary film about the November Revolution (GW 1, 117–119). He hailed Erich Maria Remarque’s Im Westen nichts Neues (All Quiet on the Western Front), published in 1929, as a masterpiece of war literature that should become required reading, particularly for schoolchildren and pacifist organizations (GW 1, 119 f.). August 1930 saw the premiere of Toller’s play Feuer aus den Kesseln (Rake Out the Fires) in Berlin, an historical account of the naval mutiny that had helped to bring about the end of hostilities: Toller considered these sailors the pioneers of the revolution (GW 1, 109). But the years after his release from prison also saw the beginning of an expansion in Toller’s activism, onto a forward-looking and much broader stage. In 1926 he spent ten weeks in the Soviet Union (GW 1, 233–240), joined the Group of Revolutionary Pacifists, and began working with the German League for Human Rights. The following year he spoke at the Con­ gress of the League against Colonial Oppression in Brussels, calling for a permanent end to imperialist conflict (GW 1, 64–68). In the late 1920s and early 1930s, Toller helped to found an International Committee of Friends of Soviet Russia in Berlin, and traveled through the newly founded Spanish Republic. By this time Toller had developed a clear vision of the forces of fascism that were spreading across Europe, and of the dangers that would accom­ pany Hitler’s ascent to power (GW 1, 71). For people’s trust in fascist lea­ dership, he blamed the crisis of the war years – which had interrupted and eventually put an end to the progress of socialism in Western and Central Europe – as well as the failure of the revolution, for which he took partial responsibility (GW 1, 167 f.).

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After 1933: A German Exile Looks Back Eine Jugend in Deutschland, Blick 1933. The exiled writer once fought for the “official” Germany, in World War I – and then once again for the better, more just Germany he could envision. But in recent months, Germany has made him its enemy, one who will never return. From outside its borders, he sees the people incited once more to commit violence, to disable their empa­ thy and replace it with revenge, to give in to their baser instincts. He sees that speculators are earning billions on the tools of technical and chemical warfare. He listens to the silence pervading most of Europe, whose people should have learned from the first time their world was shattered, who seem to be renouncing their hard-earned inheritance from that experience. How can such a thing be understood? “Wer den Zusammenbruch von 1933 begreifen will, muß die Ereignisse der Jahre 1918 und 1919 in Deutschland kennen, von denen ich hier erzähle” (GW 4, 7). So the exiled writer looks back, for answers, to the war and the revolution. His autobiography considers the nation’s history alongside his own. He recalls the young boy’s pain at being called “Jew,” his pleas for for­ giveness beneath the crucifix. He recalls the letter he wrote from the front, asking that his name be removed from the list of members of the Jewish community. “War alles umsonst? Oder habe ich mich geirrt? Liebe ich nicht dieses Land […]? Die deutsche Sprache, ist die nicht meine Sprache, in der ich fühle und denke, spreche und handle, Teil meines Wesens, Heimat, die mich nährte, in der ich wuchs? Aber bin ich nicht auch Jude? Gehöre ich nicht zu jenem Volk, das seit Jahrtausenden verfolgt, gejagt, gemartert, gemordet wird, dessen Propheten den Ruf nach Gerechtig­ keit in die Welt schrien, den die Elenden und Bedrückten aufnahmen und weitertrugen für alle Zeiten, dessen Tapferste sich nicht beugten und eher starben, als sich untreu zu werden? Ich wollte meine Mutter verleugnen, ich schäme mich.” (GW 4, 227)

Toller᾿s conversions had not been conversions away from the Jewish faith or to the Christian one. The first one, in the trenches, had led him away from nationalist hatred to the ideal of human brotherhood. The second had been born of his conviction that conflict between nations was inseparable from class conflict, and that socialism was the solution to both. Now the only thing he saw was a growing hatred based on a nationalist, even racist pride. He refused to let it define him again: “Die Worte ‘Ich bin stolz, daß ich ein Deutscher bin’, oder ‘Ich bin stolz, daß ich ein Jude bin’, klingen mir so töricht, wie wenn ein Mensch sagte, ‘Ich bin stolz, daß ich braune Augen habe’. Soll ich dem Wahnwitz der Verfolger verfallen und statt des deutschen Dünkels den jüdischen annehmen? Stolz und Liebe sind nicht eines, und wenn mich einer fragte, wohin ich gehöre, ich würde antworten: eine jüdische Mutter hat mich geboren,

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Deutschland hat mich genährt, Europa mich gebildet, meine Heimat ist die Erde, die Welt mein Vaterland.” (GW 4, 227 f.)

When Toller’s autobiography Eine Jugend in Deutschland was published in Amsterdam at Querido publishing house in 1933, he was already in exile. On the night after the Reichstag fire that February, there had been an attempt to arrest Toller in Berlin, and his possessions were confiscated. He happened to be in Switzerland at the time, a random stroke of luck that he would come to consider a responsibility, as well, to those who could not escape Germany and were imprisoned there. In his speech on 1 April announcing the boycott of Jewish businesses Joseph Goebbels mentioned by name the “Jew Toller” (GW 1, 9). The night of 10 May saw Toller’s books burned on the Oper­ nplatz in Berlin; that same day he wrote a prologue for his autobiography and called it Blick 1933 (The View from 1933). Toller left Switzerland in 1934 and went to London, where he worked on a semi-autobiographical volume – an edition of his prison letters, many of which had been saved by a friend, who carried manuscripts from his apart­ ment into exile with her. The book is proof that Toller had not been surprised by the Nazis’ rise to power. As early as 1923 (months before Hitler’s Beer Hall Putsch), he had heard in the nationalist reactionaries’ calls for dictator­ ship echoes of the German war experience: “Erst lehrte man den Soldaten, nicht selbst zu denken, nicht selbst einen Entschluß zu fassen, am Ende war er damit zufrieden. Ein Führer trägt die Verantwortung, gibt die großen und kleinen Befehle, und alles geht seinen Gang. Es ist bequem, verantwor­ tungslos zu leben, ja sogar bequem, verantwortungslos zu sterben. […] Die Lage Deutschlands ist verfahren. […] Das A und O ist die alte verruchte Kriegspolitik. Wir gehen einer chaotischen Epoche entgegen. Es wird nicht ‘schön und bequem’ sein, in den nächsten fünfzig Jahren in Europa zu leben.” (GW 5, 156 and 160)

Many of the speeches Toller delivered throughout the mid-1930s repeated his warning that a constant glorification of war itself was allowing Germans to forget the horrors they had experienced, to delude themselves about the Nazi terror just as they had at both the beginning and the end of the so-called “war to end all wars” (GW 1, 189). In one such speech, he considered the nature of the pacifism that had sprung from his own experience as a soldier, making a distinction – one that helps to explain his second conversion – between the political pacifist and the revolutionary pacifist. The former seeks the realiza­ tion of world peace by changing the minds of the ruling class, arguing that war is not inevitable, and promoting solidarity among nation-states. The lat­ ter is concerned with methods towards peace that directly confront economic interests, aware that no good intentions can determine legal and political mat­ ters until there is a change in the basic societal structure that breeds new con­ flicts and thus new wars. In the later years of the war and even the postwar

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years, to harbor any kind of pacifism had been a punishable crime leading to alienation from the state and even one’s friends. As a result, young German pacifists had fallen victim to the self-deception of heroism, believing that the end of hostilities and the new period of “peace” (at least on the visible sur­ face) meant the full accomplishment of their ideals and that they could now safely turn away from political engagement. And yet many of Germany’s most prominent pacifists, Toller pointed out, had been assassinated in the putative peacetime of 1919: Liebknecht and Luxemburg, Landauer and Eis­ ner, to name just a few. Neither the end of the war nor the revolution had brought about real change with respect to pacifist ideas, which the ruling class was still able to disparage in the eyes of society as weak, feminine, and un-German. Postwar Germany had fallen far short of Toller’s revolutionary pacifism, according to which there can be no peace as long as such a great share of the population is hungry or unemployed. It was all too easy for peo­ ple struggling in this manner, Toller said, to find meaning in the uniform the nation asked them to put on (GW 1, 182–86). Toller wrote substantially less after sliding into psychological crisis in 1937. He worked as an activist for as long as he could, seeking, for example, to secure humanitarian aid for the starving Spanish people (GW 1, 209– 215). These efforts failed with Franco’s victory in March of 1939 – the same month the Nazis invaded Czechoslovakia. Two months later, Toller was in the United States for the PEN-Congress, a visit to the White House, and other public events. On 22 May, in his Mayflower Hotel room on Central Park in New York, he committed suicide. The German press celebrated deri­ sively: “Hoppla, ihr sterbt! Deutschland aber lebt!” (GW 1, 10). But the exile Toller had many fellows and admirers who attended memorials in New York and Hollywood.14 Despite all the divisions and conflicts that had shaped his life, in one of his final speeches he had been able to position him­ self as part of a worldwide community of pacifists fundamentally changed by World War I: “Wir alle, und besonders die, die die Schrecken des letzten Krieges sehenden Auges und mitfühlenden Herzens erlebt haben, verab­ scheuen den Krieg und lieben den Frieden.” (GW 1, 206 f.)

14 W. H. Auden even composed the poem In Memory of Ernst Toller: “[…] What was it, Ernst, that your shadow unwittingly said? / Did the small child see something horrid in the woodshed / Long ago? Or had the Europe which took refuge in your head // Already been too injured to get well? / For just how long, like the swallows in that other cell, / Had the bright little longings been flying in to tell // About the big and friendly death outside, / Where people do not occupy or hide; / No towns like Munich; no need to write? // Dear Ernst, lie shadowless at last among / The other war-horses who existed till they’d done / Something that was an example to the young. // We are lived by powers we pretend to understand: / They arrange our loves; it is they who direct at the end / The enemy bullet, the sickness, or even our hand.” (GW 1, 26 f.)

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Gelehrtenporträt

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Magnus Klaue

Mit doppeltem Blick: Max Horkheimers bürgerliche Gelehrsamkeit und wissenschaftliches Unternehmertum Charakteristisch für die Physiognomie des Gelehrten, wie sie sich in Deutschland im 19. Jahrhundert als Attribut eines spezifischen Sozialtypus herausbildete, ist weniger das von Goethe bezogene Ideal des gebildeten Individuums, das in der Vielfalt und zugleich Einheit seiner geistigen und praktischen Tätigkeiten die Bestimmung des Menschen als Natur- und Gesellschaftswesen exemplarisch verwirkliche, als das praktische Dementi dieses dennoch fortbestehenden Ideals. Der Typus des Gelehrten als von der gesellschaftlichen Praxis Ausgeschlossener, der ökonomisch nicht gebraucht wird, sich dank seines ererbten Privilegs aber über die Produktionssphäre erhaben wähnt, ist bereits Ergebnis des Zerfalls des »ganzen Menschen«1 der Goethezeit und bezeugt das Auseinandertreten von geistiger und prakti­ scher Tätigkeit, die in diesem noch als Einheit gedacht waren. Exemplarisch für das Ideal des allseitig gebildeten Individuums in der Epoche des aufstreb­ enden Bürgertums war nicht der Gelehrte, sondern der Handelsbürger und Unternehmer, der als Politiker am öffentlichen Leben und als mitunter selbst ästhetisch produktiver Kenner an den schönen Künsten partizipierte. In Deutschland, wo das ökonomisch aufstrebende, politisch weitgehend macht­ lose Bürgertum stärker als in den angloamerikanischen Staaten und im republikanischen Frankreich die Sphäre des Geistes als Kompensation realer Handlungsohnmacht fetischisierte,2 war dieser Bildungsbegriff schon immer idealistisch überformt. Die Figur des Gelehrten als Zerfallsprodukt dieses Idealismus zeigt an, was vom Begriff des gebildeten Individuums übrig blieb, nachdem die Spaltung menschlicher Produktivität in die von ökonomi­ scher Abhängigkeit bestimmte körperliche und die von der gesellschaftli­ chen Praxis abgeschnittene geistige Arbeit unwiderruflich geworden war. Die sich im frühen 20. Jahrhundert herausbildende, stark arbeitsteilige Organisation der Sozial- und Geisteswissenschaften in Fachdisziplinen und

1 2

Über die Geschichte des Terminus vgl. Hans-Jürgen Schings (Hg.), Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar 1994. Mit der Bedeutung politischer Handlungsohnmacht für den Geistes- und Bildungsbegriff des deutschen Bürgertums hat sich, auch im europäischen Vergleich, Wolf Lepenies befasst, zuerst und exemplarisch in: Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1969. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 437–460.

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Magnus Klaue

Forscherteams, die ihren Teil zur Entmachtung der Philosophie als Univer­ salwissenschaft beigetragen hat, zieht aus dieser Spaltung die praktische Konsequenz. Durch die wachsende Bedeutung von Expertenwissen, die expandierende akademische Verwaltung und die ökonomisch wie in der Sache begründete Notwendigkeit internationaler Kooperation zieht sich das Ideal bürgerlicher Gelehrsamkeit in die Gestalt des Privatgelehrten zurück, der per definitionem im wissenschaftlichen Betrieb randständig und ohne institutionellen Einfluss ist.3 Doch auch die lebendige Einheit praktischer, geistiger und politischer Tätigkeit vermag der arbeitsteilige Wissenschafts­ betrieb nicht zu verwirklichen, da er diese nur als voneinander abgespaltene, gegeneinander gleichgültige Funktionen kennt, seien diese auf verschiedene Funktionsträger oder auf verschiedene Rollen ein und derselben Person ver­ teilt.4 Dass der institutionelle und organisatorische Fortschritt nicht zugleich ein gesellschaftlicher war und die an der Geschichte der geistigen Diszipli­ nen, insbesondere der Philosophie, offenbar werdende Divergenz zwischen administrativer Modernisierung und gesellschaftlichem Rückschritt, wie er sich am Schwinden individueller Freiheit zeigt, den Begriff des Fortschritts problematisch werden ließ, ist ein bestimmendes Motiv nicht allein im Werk, sondern auch im Leben Max Horkheimers. Als zum Gelehrtendasein berufener, gleichwohl sich kritisch mit der Arbeiterbewegung solidarisierender Sohn eines Textilfabrikanten aus dem assimilierten jüdischen Bürgertum und als späterer Direktor des Instituts für Sozialforschung scheint Horkheimer das Erbe bürgerlicher Gelehrsamkeit in beispielhafter Weise mit den modernen Zügen des Wissenschaftsunterneh­ mers zu verbinden. Dass diese Verbindung nicht als Einheit, sondern als im Leben und Werk Horkheimers sich artikulierender Widerspruch zu begreifen ist, zeigt sich an der Insistenz, mit der Horkheimer den Zerfall bürgerlicher Gelehrsamkeit als Symptom der Dialektik des Fortschritts in seinen Schrif­ ten vor dem Hintergrund sich wandelnder historischer Erfahrung zum Gegenstand gemacht hat.

3

4

Zum Privatgelehrten siehe Magnus Klaue, Was vom Idealismus übrig blieb, in: Deutscher Hochschulverband (Hg.), Glanzlichter der Wissenschaft. Ein Almanach, Bonn 2011, 87– 89. Dass beides, die arbeitsteilige Delegierung partikularer Funktionen innerhalb des Arbeits­ prozesses und die Aufspaltung der Einzelsubjekte in unterschiedliche Funktionen, nicht nur in der modernen Arbeitsorganisation, sondern auch in der Freizeit zugeschlagenen Lebensbereichen immer stärker konvergiert, zeigt sich am soziologischen Rollenbegriff, insofern bereits »im Begriff der Rolle selbst, der ja vom Theater genommen ist, die Uni­ dentität der Menschen mit sich selbst verlängert wird«. (Theodor W. Adorno, Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a. M. 1970, 141)

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Lizenzierter Geist In Horkheimers in ihrer Mehrzahl nicht für die Veröffentlichung geschriebe­ nen Notizen, die sich als privater Modus beharrlicher Befragung der Bedin­ gungen des eigenen Arbeitens und Denkens verstehen lassen, begegnet das Sujet über Jahrzehnte hinweg immer wieder. Für die Doppeldeutigkeit des im Titel des Professors kodifizierten Privilegs findet er in einer Notiz aus der Zeit unmittelbar nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten nach Deutschland in ausdrücklicher Reflexion auf den Zivilisationsbruch der Schoah den nicht nur polemisch gemeinten Begriff vom »lizensierten Geist«: »Der Titel ›Professor‹, von der bürgerlichen Welt verliehen, zieht doch die Anerken­ nung des in ihr befangenen Geistes auf seinen Träger hin. Selbst die Revolutionäre ent­ schlagen sich [des Tributs] nicht ganz. Ja, wer einmal Professor war! Noch im Konzent­ rationslager helfen ihm die Genossen weiter als dem schwächlichen Kleiderhändler. Das Urteil der bürgerlichen Welt ist doch das einzige, an das man sich irgendwie halten kann, auch wenn man gegen sie kämpft. Dialektik der Wahrheit und Unwahrheit – das Leben wird selbst in der Gesellschaft von Mördern reproduziert, der lizensierte Geist ist doch Geist – ist er’s?«5

Diese Notiz, die nicht in die 1974, ein Jahr nach Horkheimers Tod, gemein­ sam mit Dämmerung erschienene Sammlung Notizen 1950–1960 aufgenom­ men wurde, aber aus den Notizheften der Zeit zwischen 1949 und 1952 stammt, lässt sich unschwer beziehen auf Horkheimers Rückkehr aus New York als Gastprofessor nach Frankfurt am Main 1948 und seine Wiederein­ setzung in sein ehemaliges Ordinariat als Professor für Philosophie und Soziologie an der Goethe-Universität im folgenden Jahr. Doch gerade in ihrem lebensgeschichtlichen Bezug kristallisieren sich Erfahrungen unter­ schiedlicher Zeiten, die mit Blick auf die seinerzeitige Gegenwart zu einer neuen Erfahrung zusammentreten. Die ersten beiden Sätze enthalten in sich die Erfahrung des Abkömmlings der assimilierten jüdischen Unternehmerfa­ milie, der mit der in den frühen Zwanzigerjahren vollzogenen Entscheidung für eine akademische Laufbahn dem Milieu seiner Herkunft in doppelter Weise widersprach: Die Wahl des Gelehrtendaseins, im glücklichen Fall von der »bürgerlichen Welt« durch Verleihung des Professorentitels gratifiziert, ist Kritik der beschränkten Sphäre des praktischen Lebens, in der der Bürger als Händler oder Unternehmer ökonomischen Erfolg und gesellschaftliches Renommee erreichen mag, aber auf die Partikularität seiner sozialen Rolle

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Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, hg. von Alfred Schmidt und Gunzelin Schmid Noerr, 19 Bde., Frankfurt a. M. 1985–1996, hier Bd. 14: Nachgelassene Schriften 1949– 1972, Frankfurt a. M. 1988, 36.

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zurückgeworfen und »in ihr befangen« bleibt. Der Anspruch, jenen »Geist«, dessen Sachwalter im arbeitsteiligen Wissenschaftsbetrieb der »Professor« darstellt und dem von den in der »bürgerlichen Welt« Befangenen unver­ dienter »Tribut« gezollt werde, über sich hinaus zu treiben, statt, selber in ihm befangen, ihn nur zu reproduzieren, kritisiert die Spaltung zwischen ökonomisch produktivem Bürgertum und Bildungsbürgertum und damit den Begriff bürgerlicher Gelehrsamkeit selbst. Die Diagnose, sogar »die Revolu­ tionäre« entschlügen sich des Tributs an den durch Titel lizenzierten Geist »nicht ganz«, nimmt in ihrer Einheit von Solidarität gegenüber der Arbeiter­ bewegung und Kritik ihres Bewusstseins wie ihrer politischen Praxis bereits Horkheimers sein Leben lang währende widersprüchliche Haltung zu Bür­ gertum wie Arbeiterschaft und zum Begriff der Revolution vorweg. Zusam­ mengefasst ist diese Widersprüchlichkeit, die nicht mit Unentschiedenheit verwechselt werden darf, in dem Satz: »Das Urteil der bürgerlichen Welt ist doch das einzige, an das man sich irgendwie halten kann, auch wenn man gegen sie kämpft.« In diesem Satz, der als Kritik am antibürgerlichen Impetus von »Revolu­ tionären« in revolutionsfernen Zeiten dem, wogegen man »kämpft«, einen unbedingt zu achtenden Wahrheitsgehalt zuspricht, klingt zugleich eine andere Erfahrung an, die im Mittelteil der Notiz benannt wird und auch gedanklich ihr Zentrum bildet. Dass »noch im Konzentrationslager« dem »Professor« von den »Genossen« eher geholfen werde als »dem schwächli­ chen Kleiderhändler«, wird von Horkheimer als Ausdruck einer negativen Erfahrung angeführt: der Diskreditierung der Identifikation der Arbeiter­ klasse mit dem revolutionären Subjekt angesichts dessen, dass die »Genos­ sen« dem »Urteil der bürgerlichen Welt« noch unter Verhältnissen verhaftet bleiben, in denen »das Leben […] selbst in der Gesellschaft von Mördern reproduziert« wird, und dass sie damit den bürgerlichen wie den proletari­ schen Fortschrittsoptimismus praktisch widerlegen. Ebendiese Erfahrung aber stellt auch das Vertrauen in das »Urteil der bürgerlichen Welt« infrage und lässt es, wie das Ende der Notiz nahelegt, zweifelhaft erscheinen, ob der durch den bürgerlichen Titel »lizensierte Geist« wirklich Geist ist: Mögen die »Genossen« dem »Professor« im Konzentrationslager auch tatsächlich mitunter eher geholfen haben als dem »schwächlichen Kleiderhändler«,6 die Vernichtungsdrohung der Nationalsozialisten richtete sich unterschiedslos gegen alle als »Juden« Bestimmten und hat den Klassenantagonismus prak­ tisch nivelliert. Indirekt klingen in dieser Passage also zwei wesentliche Ein­ 6

Inwiefern dieses Beispiel auf mitgeteilte Erfahrungen aus den Konzentrationslagern rekurriert, muss an dieser Stelle offen bleiben; es fänden sich vermutlich ebenso Belege für prinzipielle Gleichgültigkeit oder gezielte Benachteiligung von Menschen aus dem Bildungsbürgertum.

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wände der kritischen Theorie gegen das Festhalten an der »revolutionären« Bestimmung der Arbeiterschaft an: dass die von marxistischen Theoretikern erwartete Entwicklung eines gesellschaftlich richtigen Bewusstsein des Pro­ letariats nicht stattfand, die Arbeiterklasse vielmehr dem »Urteil der bürger­ lichen Welt« verhaftet blieb; und dass, einschneidender noch, der deutsche Faschismus in der Arbeiterschaft viele Anhänger fand, indem er den Klas­ senwiderspruch autoritär zu lösen versprach. Beide Einsichten waren prä­ gend für Horkheimers frühe Abwendung von der kommunistischen Partei­ politik, die gerade im Namen der durch das Scheitern der Räterevolution enttäuschten revolutionären Hoffnungen geschah, ebenso wie für seine skep­ tische bis pessimistische Haltung gegenüber den neuen sozialen Bewegun­ gen seit den Sechzigerjahren, insbesondere gegenüber den antikolonialen Befreiungsbewegungen und der Studentenbewegung. Die Rede vom »lizensierten Geist«, selbst aus dem Bereich von Handel und Unternehmertum in den geistiger Arbeit transportiert, bringt mithin die negative Aufhebung des Gegensatzes beider Sphären zum Ausdruck und zielt nicht nur auf das falsche Privileg, sondern zugleich auf die Gefahr, dass dessen Liquidation die Ohnmacht zu vollenden statt abzuschaffen droht. Als lizenziertem wurde dem Geist gewissermaßen ein Erlaubnisschein erteilt, der seine Tätigkeit schützt wie Lizenzen die Produktion und Zirkulation der Waren. Aus demselben Grund aber kann die Lizenz, die als gesellschaftliche Genehmigung stets eher mit der Beschränkung von Freiheit als mit ihrer Verwirklichung verbunden ist, jederzeit zurückgenommen, der Geist der Bedeutungslosigkeit überantwortet und der individuelle Mensch, in dem allein er lebendig ist, für vogelfrei erklärt werden. Der Rechtstitel der bür­ gerlichen Person ebenso wie der Produkte ihrer geistigen Arbeit ist ökono­ misch und politisch vermittelt. Die Lizenz, die in der unfreien arbeitsteiligen Organisation der Gesellschaft die Entstehungsbedingungen und die Erzeug­ nisse des Geistes schützt, vermag diesen ebenso von heute auf morgen preis­ zugeben: In dieser Einsicht kommt zum Ausdruck, wie die Schoah die geis­ tige Erfahrung des im Widerspruch doppelter Negation zwischen bürgerlicher Abkunft und Arbeitersolidarität verharrenden Horkheimer ver­ ändert hat. Wird sie rückbezogen auf den Zeitpunkt der Notiz, erweist sich diese als ein Urteil Horkheimers über sein Leben und seine Arbeit nach der Rückkehr nach Deutschland, die als lizenziert und daher jederzeit durch die äußeren Umstände widerrufbar erscheinen. In diesem Sinn, als Denken und Arbeiten auf Widerruf, das sich der widerrufbaren Umstände, denen es sich verdankt, stets bewusst zu bleiben hat, sich aber eben deshalb nicht selbst widerrufen darf, ist Horkheimers Stellung zwischen bürgerlicher Gelehrsam­ keit und praktischer Kritik, zwischen Aufklärungs- und Fortschrittsdenken einerseits und dem besonders an seinem späten Werk häufig gescholtenen (oder gelobten) Konservatismus, seinem Festhalten am Begriff ungeteilter

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Wahrheit und seiner Verteidigung der Metaphysik gegenüber einer nur prag­ matischen Zwecken dienenden Sozialwissenschaft andererseits, zu verste­ hen. Der Begriff der Treue, substanziell für Horkheimers Denken wie für seine praktische und institutionelle Arbeit, verdankt sich der Erfahrung der Widerrufbarkeit des scheinbar Unverlierbaren, wie sie sich in der Formel vom lizenzierten Geist zusammenfasst.

Vom Händler zum Fachmann Der Begriff des lizenzierten Geistes weist mit seiner aus der Sphäre von Ökonomie und Handel stammenden Metaphorik zurück und voraus zugleich: zurück auf das Milieu des bürgerlichen Unternehmertums, von dem Horkheimer sich mit seiner Entscheidung für eine akademische Kar­ riere abwandte und das in Horkheimers Beharren auf der praktischen und gesellschaftlichen Vermitteltheit allen Denkens doch stets gegenwärtig bleibt; voraus auf die zur Zeit der Notiz längst begonnene, seither drastisch fortgeschrittene Anähnelung der universitären Institutionen an einen unter­ nehmerischen Großbetrieb, dessen Funktionieren nur durch einen hohen Grad an Arbeitsteilung und bürokratischer Organisation gewährleistet wer­ den kann. Indessen bewahrt der Begriff auch den ungeschlichteten Wider­ spruch zwischen beidem, der von sozialwissenschaftlichen Modernisie­ rungstheorien meist verdeckt wird: Wie der Begriff des Geistes nicht der idealistischen Vorstellung entspricht, die im bildungsbürgerlichen Typus des Gelehrten ihren Ausdruck findet, sondern vielmehr etwas meint, das sich durch menschliche Praxis, Arbeit und Handel, hindurch konstituiert hat und sich mit dem Schwinden dieser Bedingungen auch selbst verändert, so ist die Anähnelung von Geist und Geschäft keine bloße Begleiterscheinung gesellschaftlichen Fortschritts, sondern erzwungen durch denselben Prozess, dem der Begriff des Geistes gerade widerspricht. Auf die Abkunft des Begriffs des Geistes aus den ökonomischen und poli­ tischen, aber auch ästhetischen Formen des Denkens und Handelns, wie sie in der Zeit des Handelsbürgertums entstanden, weist Horkheimer immer wieder hin. In einer Notiz aus der Zeit zwischen 1953 und 1955, in der er als Rektor der Frankfurter Universität und Gastprofessor der University of Chi­ cago zwischen der Bundesrepublik und den Vereinigten Staaten pendelte, tritt das Sujet zuerst in den Mittelpunkt: »Die ruhige, überzeugende Rede, der Logos, das antike Erbe […], beruht in der neuern Zeit auf der Existenz des Marktes. Geschäftsmann spricht zu Geschäftsmann als Sub­ jekt, das über etwas zu verfügen hat, Gold oder Ware, zum Subjekt. Überliefert ist sie durchs Studium Ciceros, des Anwalts, der dem Geschäftsmann unter den Berufen am

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nächsten verbunden ist. Cicero sprach auf dem Forum, dem Markt. Mit dem Schwinden des Marktes […] schwindet auch die Vernunft als Organ des Einzelnen.«7

Die idealistische Ansicht, wonach das Geschäft den Geist korrumpiere, wird abgewiesen mit Hinweis auf die ökonomischen und politischen Konstitu­ tionsbedingungen des Geistes. An diese gebunden, ist die Vernunft als »Organ des Einzelnen« abhängig von der sinnlichen und materiellen Konsti­ tution, über die sie hinausweist. Die »ruhige und überzeugende Rede, der Logos«, vertritt das Telos von Universalität und Objektivität nicht, weil sie der Praxis entrückt wäre, sondern weil sie ihr, als Vertretung der Interessen der Individuen, selber entstammt.8 Nicht unmittelbar als Mensch, sondern als Vertreter eigener Interessen in Konkurrenz mit anderen, denen es als Inhaber bürgerlicher Rechte und Pflichten gleichgestellt ist, ist das Indivi­ duum Träger des Logos. Markt, Handel, gesellschaftlicher Liberalismus und bürgerliches Recht bringen den Logos hervor, der als »Rede« an die Sphäre lebendigen Handelns und ökonomischen Tauschs gebunden bleibt, gegen die er zugleich Einspruch zu erheben vermag. Deshalb steht der »Anwalt« dem »Geschäftsmann« am nächsten, mit dem er die praktisch gewonnene Einsicht in die ökonomischen und politischen Entstehungsbedingungen des Logos gemeinsam hat. In diesem Sinne formuliert Horkheimer in einer Notiz aus den frühen Sechzigerjahren, dass »Ansprechbarkeit, Freundlich­ keit, die Lust, dem Anderen etwas zu bedeuten«, sich im »letzten Jahrhun­ dert dem wirtschaftlichen Vorteil« verdankt hätten, »der aus solcher Verhal­ tensweise entsprang«.9 Kalkül ist demnach nicht das Gegenteil von Empathie, »Ansprechbarkeit« des Einzelnen entsteht nicht durch bloßes Heraustreten aus der Sphäre instrumentellen Handelns, sondern aus Eigen­ nutz, aus der »Lust, dem Anderen etwas zu bedeuten«, um daraus wiederum »Vorteil« zu ziehen. Als »Lust« vermögen die dem Kalkül entsprungenen Impulse aber ihrer­ seits Autonomie zu gewinnen, die Bedingungen ihrer Entstehung infrage zu stellen und den Bann des »Vorteils« zu brechen. »Ansprechbarkeit« und »Freundlichkeit«, als Charakterzüge des Unternehmers oder Anwalts zunächst Formen bloßer Höflichkeit ohne notwendige Entsprechung in der Innerlichkeit des Subjekts, können als materiellen Bedingungen Entsprunge­ nes selbst Teil der sinnlichen Konstitution der Subjekte werden, nicht mehr Maske, sondern Organ der Erfahrungsfähigkeit des Individuums. Auf diesen 7 8

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Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 14, 55. In diesem Gedanken berührt sich Horkheimer, den historischen Rekurs auf das antike »Forum« als »Markt« des ökonomischen wie politischen und geistigen Austauschs inbe­ griffen, mit Hannah Arendts Theorie des Handelns. Vgl. Hannah Arendt, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1981, 213–317; dies., Das Urteilen. Texte zu Kants politi­ scher Philosophie, München 1985. Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 14, 116.

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qualitativen Umschlag instrumenteller Verhaltensweisen zielt auch Horkhei­ mers Verteidigung der Reklame zur Zeit der Reklame- und Konsumkritik während der Studentenbewegung. Gerade weil »Werbung auf allen Stufen menschlicher Beziehungen, die nicht auf Gewaltandrohung, psychischer oder materieller, beruhen, unentbehrlich ist«, bewahre Reklame, so Horkhei­ mer, »ein Stück Freiheit«.10 Der Begriff der Werbung ist an dieser Stelle, als Bezeichnung eines Verhaltens, das alle nicht gewaltförmigen »Stufen menschlicher Beziehungen« betreffe, nicht zufällig eine Äquivokation. Er deckt gleichermaßen Formen erotischer Annäherung und konventioneller Höflichkeit, das Anpreisen von Waren auf dem Markt sowie die argumenta­ tive und rhetorische Werbung für das eigene Interesse und die eigene Mei­ nung in der öffentlichen Diskussion. In der Werbung als kapitalistischer Reklame finden sich somit, dem ökonomischen Zweck unterworfen und ver­ dinglicht, Verhaltensweisen wie das Sich-an-den-anderen-Anschmiegen, das Sich-selbst-gefällig-Machen, ebenso wie Formen der rhetorischen Überre­ dung und argumentativen Überzeugung wieder, die auch im übrigen sozialen Leben einer die Regeln von Markt, liberalem Handel und bürgerlichem Recht halbwegs achtenden Gesellschaft lebendig sind. Sterben ihre sozio­ ökonomischen Bedingungen ab, werden die am eigenen Interesse wie am Eingehen auf den anderen geprägten Verhaltensweisen starr und erhalten selbst einen gewaltförmigen Zug. Darauf zielt Horkheimers Diagnose, mit dem Schwinden des Marktes schwinde auch die Vernunft als »Organ des Einzelnen«: »Es bleiben vom autonomen Denken und Reden, die eins waren und zum individuellen Subjekt gehörten, nur übrig die getrennten, abstrak­ ten Momente: das Planen der Verwaltung und die Propaganda der Verwal­ tung; sie werden von Angestellten besorgt.«11 Die gestische Entsprechung zu dieser Verkümmerung des Freiheitspotentials der Werbung sieht Horkhei­ mer im »Lächeln der Diplomaten« und der »Grimasse des Ansagers im Fernsehen«, die ihre eigene »Routine« einbekennen.12 In ihnen haben die durch Liberalismus, Markt und Recht geschulten mimetischen Verhaltens­ weisen ihren Vermittlungscharakter verloren. Die Entfaltung des Begriffs des Geistes aus seinen materiellen Konstitu­ tionsbedingungen und die Zurückführung von vermeintlichen inneren Quali­ täten des Subjekts auf soziale Verkehrsformen, aus denen jene überhaupt erst resultieren, ähneln in ihrer Apologie des »außengesteuerten«, auf Kon­

10 Ebd., 538. Die Notiz »Verteidigung der Reklame« ist von Horkheimer auf den Januar 1970 datiert. 1971 erschien Wolfgang Fritz Haugs Kritik der Warenästhetik, die die Kon­ sum- und Reklamekritik der deutschen Neuen Linken in ihren wesentlichen Zügen zusammenfasste. 11 Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 14, 55. 12 Ebd., 116.

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vention und Scham statt auf Innerlichkeit und Gewissen beruhenden Cha­ rakters Adornos Verteidigung der amerikanischen »Oberflächlichkeit« als Ausdruck lebendiger Zivilisation.13 Auch den Blick für die Differenz zwi­ schen den Möglichkeiten dieser Verkehrsformen und ihrer dahinter zurück­ bleibenden Wirklichkeit teilt Horkheimer mit Adorno. Charakteristischer­ weise veranschaulicht Horkheimer die Konstitution des Logos durch Markt und Recht jedoch nicht nur vor dem Hintergrund der amerikanischen Erfah­ rung des nach Europa zurückgekehrten Emigranten, sondern auch anhand der Vergangenheit des westeuropäischen Bürgertums. So schreibt er, die Biografie intellektueller Leitfiguren mit seiner eigenen Lebensgeschichte verbindend: »Das bürgerliche Elternhaus vor und während des Liberalismus, […] nicht zuletzt, wie ich meine, das jüdische, vermochte seinen Kindern auf mimetische und begriffliche Weise eine Reihe positiver Eigenschaften des Charakters mit auf den Weg zu geben. Neben der Liebesfähigkeit, dem Gewissen […] denke ich an die bewußte und unbe­ wußte Tendenz, die eigenen geistigen Kräfte zu entfalten, mit den pragmatischen auch die zu jener Zeit von diesen nicht total rein getrennten denkerischen. Goethes Vater war ein Schneider, Kants Vater Sattler, auch Handwerker, Schopenhauers Vater ein Kauf­ mann.«14

Nicht nur die Anrufung der deutschen Geistesgeschichte und der Rekurs auf das assimilierte jüdische Bürgertum unterstreichen, dass hier eine zur Zeit der Niederschrift unwiderruflich vergangene, genuin westeuropäische bür­ gerliche Tradition angesprochen ist.15 Auch die Hervorhebung des Gewis­ sens deutet in diese Richtung. Über die Instanz des Gewissens schreibt Horkheimer an anderer Stelle, es gebe sie »nur in Europa«, aufgrund der »Tradition des deutschen Protestantismus« sogar »im Grunde vor allem in Deutschland«, während man in den Vereinigten Staaten als »law abiding citizen« handele,16 der keiner inneren Stimme, sondern als äußerlich wahrge­ nommenen, aber allgemein anerkannten Regeln gehorche. 13 Theodor W. Adorno, Wissenschaftliche Erfahrungen in Amerika, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann u. a., 20 Bde., hier Bd. 10/2: Kulturkritik und Gesell­ schaft II, Frankfurt a. M. 1997 (revidierte Taschenbuchausgabe), 702–738. Die Begriffe »Außenlenkung« und »Innenlenkung« prägte die US-amerikanische Rollensoziologie, insbesondere David Riesman. Über Widersprüche und Überschneidungen des angloame­ rikanischen und europäischen Habitus in der Zwischenkriegszeit unter diesem Aspekt vgl. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt a. M. 1994. 14 Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 14, 143. 15 In Späne, Friedrich Pollocks über zwei Jahrzehnte geführten Notizen über die Gespräche mit Horkheimer, sind unter der Überschrift »Geistiger Stammbaum« Kant, Schopenhauer und »Judentum« als Voraussetzungen von Horkheimers Denken genannt (Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 14, 391). 16 Ebd., 294.

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Dass Horkheimer den »Liberalismus« als Bedingung der Entfaltung der »eigenen geistigen Kräfte« hier statt auf die zeitgenössische US-amerikani­ sche Gesellschaft auf das »bürgerliche Elternhaus« aus der vergangenen Blütezeit des bürgerlichen Unternehmertums bezieht, in dem die »pragmati­ schen« und »denkerischen« Fähigkeiten »nicht total getrennt« gewesen seien, lässt sich unter Rückgriff auf einen Gedanken verstehen, den Adorno bereits früher – und deutlicher als in seinem Essay Wissenschaftliche Erfah­ rungen in Amerika – in einem Vortrag bei den Hessischen Hochschulwochen 1958 formuliert hat: dass die damalige amerikanische Gesellschaft in ihrem lebenspraktischen Alltag gleichsam bewusstlos Formen von Liberalismus und Zivilität am Leben erhalte, die in der europäischen Tradition gesell­ schaftlich unverwirklicht, aber denkend bewahrt worden seien. Westeuropa und die Vereinigten Staaten repräsentieren für Adorno unter diesem Aspekt die beiden auseinandergefallenen Hälften des Wahrheitsgehalts des Libera­ lismus. Was die zeitgenössische amerikanische Zivilisation in der alltägli­ chen Lebenspraxis lediglich begriffslos hat, aber nicht denken kann, ist in der europäischen Tradition nur gedacht, aber nicht verwirklicht worden; die amerikanische und die europäische Erfahrung werden negativ, als Kritik der Einseitigkeit und Borniertheit der jeweils anderen, aufeinander bezogen.17 In diesem Sinne ist es kein Widerspruch, dass Horkheimer die im damaligen Westeuropa noch wesentlich als Amerikanismus empfundene Reklame gegen die in der Neuen Linken vornehmlich antiamerikanisch grundierte Werbe- und Konsumkritik verteidigt, die Fähigkeit zur Entfaltung der »prag­ matischen« wie »denkerischen« Kräfte aber wiederum ontogenetisch in der Erfahrungswelt des europäischen Bürgertums begründet sieht. So wie dieses in seiner materiellen Konstitution mit der Genese des Gewissens die Entste­ hung einer nicht allein »außengesteuerten« sittlichen Kontrollinstanz ermög­ licht hat, so hat die »außengesteuerte« amerikanische Gesellschaft prakti­ sche Verkehrsformen hervorgebracht, die von jener Sittlichkeit gemeint, aber im Alltag nicht verwirklicht worden sind. Für Horkheimers Verteidi­ gung liberaler Züge des westeuropäischen Bürgertums wie auch der eigenen Familienerfahrung ist insgesamt entscheidend, dass es dabei um unabgegol­ tene Möglichkeiten einer vergangenen Epoche geht, während die Apologie von Momenten der zeitgenössischen US-amerikanischen Gesellschaft auf das Festhalten im Verschwinden begriffener Möglichkeiten der historischen Gegenwart zielt.

17 Theodor W. Adorno, Kultur und Culture, in: Vorträge – gehalten anlässlich der Hessi­ schen Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung, 29. Juni bis 9. Juli 1958 in Bad Wildungen, Bad Homburg u. a. 1959, 246–259. – Horkheimers Notiz über das bür­ gerliche Elternhaus stammt aus der zweiten Hälfte der Sechzigerjahre.

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Vor dem Hintergrund dieses wechselseitigen negativen Bezugs der ameri­ kanischen und europäischen Erfahrung ist auch die Wendung zu verstehen, die Horkheimers Begründung der Entstehung des Geistes aus den sozioöko­ nomischen Bedingungen des Handelsliberalismus in seinem späteren Werk nimmt. In diesem begegnet, als Bezeichnung einer neuen Form der Verfil­ zung von Geist und Herrschaft, der Typus des »Fachmanns«, der in enger Verbindung mit Horkheimers Theorie des »Racket« steht. Wie die Racket­ theorie ist die Typologie des »Fachmanns« von Horkheimer nicht detailliert ausgearbeitet worden. Einige ihrer Charakteristika lassen sich aber mit Blick auf Horkheimers Überlegungen zum bürgerlichen Liberalismus erläutern. In einer mit »Theorie des Intellektuellen« überschriebenen Notiz in Späne wird der gesellschaftliche Anachronismus des Intellektuellen als eine Vorausset­ zung für die Entstehung des Fachmanns benannt: »Der Intellektuelle ist ein Überrest des kritischen und kämpferischen Bürgertums des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts. […] Im neunzehnten Jahrhundert war der einfallsreiche und um seine Macht kämpfende Unternehmer noch typisch. Heute braucht man das Individuum im alten Sinn nicht mehr […]. Freiheit des Urteils, Ideale, Opposition sind heute abgesprengte bürgerliche Eigenschaften, die funktionslos gewor­ den sind.«18

Autonome Urteilsfähigkeit und die Fähigkeit, im Namen von als Korrektiv zur Realität dienenden Idealen gegen falsche Verhältnisse Widerstand zu leisten, sind keine unverlierbaren, der gesellschaftlichen Realität enthobenen Eigenschaften des Geistes, sondern entspringen dem Einfallsreichtum, den das Individuum in halbwegs freier Konkurrenz zu anderen entwickeln kann, in gewisser Weise also der Widersprüchlichkeit jener Verhältnisse selbst. Der Geist, der sich dem Einfallsreichtum verdankt – in der Wendung schwingt nicht zufällig die Gewitztheit des im Umgang mit Herausforderun­ gen Geschulten mit, die im idealistischen Begriff des Geistes verleugnet wird –, trägt somit selber die Spuren der arbeitsteiligen Organisation, der gesellschaftlichen Departementalisierung. Nicht in dieser Prägung, die im Gegenteil konstitutiv für den Begriff des Geistes ist, sieht Horkheimer das Problem, sondern in der Neutralisierung der Erfahrung des Widerspruchs im Zuge einer gesellschaftlichen Entwicklung, die den Intellektuellen als Statt­ halter des so verstandenen Geistes als »Überrest« kassiert und ihn »funk­ tionslos« werden lässt, indem sie vom Bürgertum nur die Vergesellschaf­ tungsform übrig lässt und den Widerspruch zum damit verbunden Wahrheits- und Freiheitsanspruch einebnet. Zum »Überrest« wird der Intel­ lektuelle also nicht schon, indem ihm eine spezifische Funktion im gesell­ schaftlichen Gefüge zukommt – eine solche pauschale Kritik am Instrumen­ 18 Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 14, 308.

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talismus bürgerlicher Vernunft bliebe dem Idealismus einer vermeintlich zweckfreien, übergesellschaftlichen Bedeutung des Geistes verhaftet –, son­ dern indem seine Funktion von der sie konstituierenden gesellschaftlichen Erfahrung abgelöst, die historisch vermittelte Verbindung zwischen dem spezifischen Subjekt und seinem Gegenstand zertrennt wird. Die Neutralisierung des Intellektuellen zum austauschbaren Funktionär, zum bloßen Agens des Vergesellschaftungsprozesses, bringt die von Hork­ heimer polemisch so genannten »Fachleute« hervor, deren charakteristische Organisationsform ihm zufolge das »Racket« ist: »Die Menschen werden heute zu ›Fachleuten‹ erzogen. […] Es kann aber auch gar nicht anders sein. Denn jedes Fachgebiet ist so umfangreich und in einem so rasenden Wachstum begriffen, daß für andere Gebiete oder gar für das Nachdenken über nicht­ fachliche Dinge weder Zeit noch Kraft bleibt. Der Fachmann hat auf seinem Gebiet mit seinen Kollegen ein Monopol. Er schließt sich mit ihnen zusammen und so entstehen überall Rackets aller Größenordnungen […]. Die mehr oder weniger raschen Zusam­ menschlüsse, Kompromisse und Streitigkeiten der Rackets bestimmen die politischen Maßnahmen. Der Einzelne ist […] völlig ohnmächtig, wenn er nicht in einem Racket eine besondere Stellung einnimmt.«19

Das Problematische am Typus des Fachmanns ist nicht so sehr sein durch Arbeitsteilung und Teamwork entstandenes Spezialistentum, das als Konse­ quenz des »rasenden Wachstum[s]« der Fachgebiete vielmehr Ergebnis des wissenschaftlichen Fortschritts und insofern notwendig ist. Es ist vielmehr die Entleerung der spezialisierten Fachgebiete zu bloßen Funktionen, die die Verbindung des Subjekts der Erkenntnis zu seinem spezifischen Gegen­ stand, den Zusammenhang zwischen Erkenntnis und Erfahrung, die immer individuelle und gesellschaftliche zugleich ist, durchschneidet. Dass für die Erkenntnis des besonderen, von der Fachdisziplin dem Subjekt zugewiese­ nen Gegenstands auch »das Nachdenken über nichtfachliche Dinge« not­ wendig, der Einzelne also schon der Treue zum Objekt wegen darauf ange­ wiesen ist, sein bloßes Fachgebiet zu überschreiten und mit anderen zusammenzuarbeiten, gerät dadurch in Vergessenheit, was wiederum die Erkenntnis sabotiert. An die Stelle der dem jeweiligen Objekt verpflichteten, in der Sache begründeten Kooperation tritt das »Racket«, das keiner Ord­ nung freier Konkurrenz, sondern einer Ordnung der Monopole entspricht, in der die Sachwalter der Teildisziplinen diese als »Fachleute« gegen andere »Rackets« verteidigen. Die Konkurrenz ist also nicht aufgehoben, sondern eingefroren: Sie folgt nicht dem von den Konkurrierenden geteilten Ziel der Erkenntnis unteilbarer Wahrheit, sondern einer bloßen Taktik der Pfründen­ sicherung und entmündigt dadurch den Einzelnen. Die Depotenzierung von

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Theorie zur bloßen Methode und von Wahrheitsansprüche implizierenden Urteilen zu Meinungen, deren Kritik gerade auch in der praxisbezogenen, empirisch-soziologischen Arbeit des Instituts für Sozialforschung große Bedeutung hat, folgt aus dieser Verwandlung der Intellektuellen in »Fach­ leute« fast notwendig. Als ein Beispiel für die negativen Folgen dieser Funktionalisierung und Entqualifizierung führt Horkheimer an anderer Stelle interessanterweise wiederum nicht den amerikanischen Wissenschaftsbetrieb an, sondern den Begriff »Geisteswissenschaft«, den es »nur im Deutschen« gebe: »Dieser Begriff ist ein Unbegriff und dient der Unwahrheit. Im Französischen gibt es la science im Gegensatz zu la philosophie, aber keine science de l’esprit.«20 Die Trennung zwischen »la science« und »la philosophie« hält fest, dass der Geist, dessen Statthalter innerhalb der akademischen Institution die Philoso­ phie ist, sich nie gänzlich in eine »Wissenschaft« sperren, nie vollständig den Fachdisziplinen subsumieren lässt. Indem »la philosophie« nicht als »science« gefasst ist, wird der arbeitsteiligen Organisation des akademischen Betriebs Recht gegeben und sie zugleich auf ihre Grenzen verwiesen: Der Verwandlung der Philosophie in eine Fachdisziplin ist nicht zu entgehen, sie ist von der zunehmenden Arbeitsteiligkeit des Betriebs selbst diktiert; doch als Fachdisziplin ist sie zugleich verantwortlich für das die Fachdisziplinen Übersteigende. Die Bezeichnung »Geisteswissenschaft« dagegen hyposta­ siert und rubriziert den »Geist« gleichermaßen. Indem er zum Gegenstand einer »Wissenschaft« gemacht wird, wird er um das beschnitten, was an ihm über wissenschaftliche Arbeitsteilung hinausweist. Als das idealistisch über­ höhte Andere der Naturwissenschaften – in diesem Sinne ist die Entgegen­ setzung von Wilhelm Dilthey eingeführt worden21 – hält er zugleich einen Gegensatz aufrecht, der so nie bestand, und wird um das gebracht, worin er an die gesellschaftliche Praxis erinnert, aus der Horkheimer den Begriff ent­ wickelt. Die im Angloamerikanischen gängige Bezeichnung Humanities als Sam­ melbegriff für Kulturwissenschaft, Sozialwissenschaft und Philosophie wie­ derum, die gegenüber der Naturwissenschaft weit weniger strikt abgegrenzt ist als der Begriff der Geisteswissenschaften, erinnert an den Zusammenhang zwischen den Phänomenen des Geistes und der menschlichen Praxis, den der Begriff »Geisteswissenschaft« ausblendet. Deshalb ist Letzterer weit eher beispielhaft für die universitäre Variante dessen, was Horkheimer »Racket« nennt, als der Begriff der Humanities oder »la philosophie« im Unterschied zu »la science«. Wie die französische Terminologie das in arbeitsteiliger 20 Ebd., 385. 21 Siehe die einleitenden Kapitel in Wilhelm Dilthey, Texte zur Kritik der historischen Ver­ nunft, hg. von Hans-Ulrich Lessing, Göttingen 1983.

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Organisation nicht aufgehende Moment des Geistes bewahrt, indem sie ihn gegen »la science« abgrenzt, so hält die angloamerikanische pragmatische Tradition dessen notwendige Abkunft von gesellschaftlicher Praxis fest. Nur die deutsche Bezeichnung besiegelt gleichsam die Verwandlung des gegen­ über der »Natur« fetischisierten Geistes in eine Sparte des akademischen Betriebs, in ihr kommen schlechter Idealismus und schlechter Pragmatismus zusammen. Die Verwandlung der mit geistiger Arbeit befassten, untereinan­ der kooperierenden wie miteinander konkurrierenden Einzelnen in »Fach­ leute« ist mit dem Idealismus des deutschen Bildungsbegriffs insofern durch­ aus vereinbar.

Institution und Geist: Theoretischer Fortschritt, verstellte Praxis Angesichts der Überlegungen Horkheimers über das widersprüchliche Ver­ hältnis zwischen Geist und Institution, europäischem bildungsbürgerlichen Erbe und arbeitsteiligem modernen Betrieb mutet es merkwürdig an, dass die Geschichte des Instituts für Sozialforschung stets in einer Weise erzählt wird, die diesen Widerspruch überspielt, statt ihn zum Ausgangspunkt der biografischen, institutionen- und werkgeschichtlichen Rekonstruktion zu machen. Im Personal des Instituts wird Horkheimer gegenüber dem als sin­ gulärer Philosoph und Kunsttheoretiker inaugurierten Adorno dabei stets eher die Rolle des taktisch, diplomatisch oder, wenn nötig, auch intrigant agierenden Organisators, Verwaltungsmanagers und gewieften Wissen­ schaftsunternehmers zugewiesen.22 Dies dürfte einer der Hauptgründe dafür sein, dass zu Horkheimers philosophischem Werk, unabhängig von der Insti­ tutsgeschichte und über sie hinaus, kaum einlässliche Studien existieren, während umgekehrt Adornos philosophische, soziologische und kunst-, ins­ besondere musiktheoretische Arbeiten, so fremd sein Denken in vielen Aspekten dem heutigen Wissenschaftsbetrieb ist, längst kanonisiert und en détail erforscht sind. Wichtige sachliche Unterschiede zwischen beiden – etwa das weitgehende Desinteresse Horkheimers an Fragen der Ästhetik, 22 Ein hervorragendes Beispiel dafür, wie es möglich ist, Adorno angesichts dieser Rollen­ verteilung zum Gegenstand einer lebensgeschichtlichen und intellektuellen Biografie zu machen, ohne ihn vorwiegend als Funktionsträger innerhalb des Instituts für Sozialfor­ schung wahrzunehmen, ist die Biografie von Detlev Claussen: ders., Theodor W. Adorno. Ein letztes Genie, Frankfurt a. M. 2003. Ihr Untertitel deutet die Widersprüchlichkeit des Vorhabens, Adorno als nicht nur exemplarischen, sondern letzten Exponenten bürgerli­ cher Philosophie im genuin bürgerlichen Genre der Gelehrtenbiografie zu würdigen, bereits an.

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sofern sie nicht die Gesellschaftstheorie und politische Ökonomie betreffen, seine im Vergleich zu Adorno intensive Beschäftigung mit der politischen und ökonomischen Theorie des frühen Bürgertums sowie mit der Logik der Naturwissenschaften, sein über die Begeisterung für die Räterevolution ver­ mittelter emphatischer Begriff der Arbeiterbewegung, der ihn in gewisser Weise Benjamin stärker als Adorno annähert – sind noch kaum benannt wor­ den. Andere wichtige Differenzen, wie Horkheimers wesentlich stärkeres Verhaftetsein in der Idiomatik des bürgerlichen Gelehrtendeutschs des spä­ ten 19. Jahrhunderts, dürften durch den vorwiegend auf die Geschichte der Institution gerichteten Blick ausgeblendet worden sein. Zumindest teilweise begründet sind die Unterschiede zwischen den bei­ den wichtigsten Gründungspersonen des Instituts für Sozialforschung in einer lebensgeschichtlichen Differenz, die nur marginal, für den Wider­ spruch zwischen bürgerlichem Bildungserbe und modernem Wissenschafts­ betrieb bei Horkheimer aber entscheidend ist. Horkheimer ist etwa achtein­ halb Jahre älter als Adorno, ein Unterschied, der keine Generationenkluft bezeichnet, sich aber in der Differenz der je spezifischen historisch-biografi­ schen Erfahrungen drastisch bemerkbar macht. Zu dieser Differenz gehört nicht nur, dass in den Erinnerungsfragmenten aus seiner Kindheit, die er in den Notizen Aus der Pubertät, der Sammlung Dämmerung und in verstreu­ ten Aufzeichnungen zum Thema macht, auf die er aber auch in seiner Vertei­ digung des bürgerlichen Liberalismus als Ermöglichungsbedingung des Logos immer wieder zu sprechen kommt, Erfahrungen aus einem Elternhaus des assimilierten jüdischen Handelsbürgertums, in dem dessen Verkehrsfor­ men, Bildung und Rituale noch lebendig waren, einen wichtigen Rang ein­ nehmen. Auch Horkheimers von anteilnehmender Begeisterung geprägte Wahrnehmung der Oktoberrevolution und der räterevolutionären Bewegung in Deutschland im Alter von 22 und 23 Jahren – Adorno war zur gleichen Zeit 14 beziehungsweise 15 Jahre alt – hat diese Erfahrungen für seine frü­ hen Lebensjahre wie für sein Werk in einer Unmittelbarkeit bedeutsam gemacht, wie dies für Adorno nicht in gleicher Weise zutrifft. Einige der angedeuteten Unterschiede – Horkheimers eindringlicher Rekurs auf ökono­ mische Praxis und seine Betonung der Bedeutung der Naturwissenschaften im Gegensatz zu der der Ästhetik bei Adorno – dürften, wenn sie sich auch nicht einfach aus der Altersdifferenz ableiten lassen, doch ohne ihre Berück­ sichtigung nicht zu verstehen sein. Insofern sind Horkheimer und Adorno ein Beispiel für die Werk und Leben je verschieden prägende Bedeutung his­ torischer im Gegensatz zu rein generationellen Zäsuren: Die Differenzen zwischen beiden erklären sich gerade nicht aus einem Bruch zwischen den Generationen, wie er sogenannte Lehrer-Schüler-Verhältnisse zu bestimmen pflegt, sondern aus einem in Jahren gemessen geringen, historisch aber epo­ chalen Unterschied.

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Der an der Institutionengeschichte geschulte Blick auf Horkheimer und Adorno sieht die wesentliche Differenz zwischen ihnen dagegen in ihren verschiedenen Funktionen innerhalb der akademischen Institution und reproduziert damit in der eigenen Denkform den formalen, qualitative Widersprüche neutralisierenden Prozess arbeitsteiliger Differenzierung, den Horkheimer am Typus des »Fachmanns« kritisiert.23 Zugleich führt ein sol­ cher Blick, dessen Erkenntnis leitendes Interesse die Rekonstruktion wissen­ schaftlicher und institutioneller Modernisierungsbewegungen ist, aus eige­ ner Notwendigkeit heraus dazu, Horkheimer im Wesentlichen als organisatorisch und administrativ bedeutsame Gestalt darzustellen und sein im Unterschied zu Adorno kaum rezipiertes Werk zu vernachlässigen.24 Dass zwischen dem Begriff des Geistes und des Denkens, wie Horkheimer ihn als verbindlich für die kritische Theorie konturiert, und der arbeitsteilig organisierten, von Aufträgen abhängigen und pragmatischen Zwecken ver­ pflichteten Institution, deren Existenz das Vorhaben einer kritischen Theorie ökonomisch und infrastrukturell allein zu garantieren vermag, ein beständi­ ger Widerspruch besteht, kommt aus der Perspektive einer solchen als Fort­ schrittsgeschichte konzipierten Modernisierungsgeschichte nicht in Be­ tracht. Indessen ist es die Reflexion dieses Widerspruchs, die nicht nur im programmatischen Selbstverständnis des Instituts, in dessen einzelnen For­ schungsvorhaben und in der an diesen geschulten Theoriebildung, sondern auch in Horkheimers die eigene Arbeit gleichsam inoffiziell begleitenden Notizen im Mittelpunkt steht. Entscheidend, um das widersprüchliche Verhältnis jenes bei Horkheimer entfalteten Begriffs des Geistes, dem das Institut für Sozialforschung von Beginn an verpflichtet war, zur gesellschaftlichen Praxis, auf deren Verände­ rung die Arbeit des Instituts gleichwohl zielte, zu verstehen, sind Horkhei­ 23 Dies gilt v. a. für die Geschichtsschreibung des Instituts durch Vertreter der Frankfurter Schule in der Tradition von Jürgen Habermas, die die Institutsgeschichte als Teil einer übergreifenden Fortschrittsgeschichte der Sozialwissenschaften meist bis in die Gegen­ wart verlängern. Vgl. Helmut Dubiel, Wissenschaftsorganisation und politische Erfah­ rung. Studien zur frühen Kritischen Theorie, Frankfurt a. M. 1974; ders., Kritische Theo­ rie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Arbeiten im HorkheimerKreis bis Habermas, München 1988; der Tendenz nach auch: Rolf Wiggershaus: Die Frankfurter Schule. Geschichte, theoretische Entwicklung, Politik, München 1997; Emil Walter-Besch, Geschichte der Frankfurter Schule. Kritische Theorie und Politik, Mün­ chen 2010. Am genauesten in der Herausarbeitung von Unterschieden zwischen Adorno, Horkheimer und den übrigen Institutsmitgliedern ist Martin Jay, Dialektische Phantasie. Die Geschichte des Instituts für Sozialforschung 1923–1950, Frankfurt a. M. 1976. 24 Monografien zu Horkheimer, sofern sie keine Kurzbiografien oder reinen Einführungs­ bände sind, fokussieren entweder seine institutionelle Arbeit, behandeln ihn als intellek­ tuellen Partner Adornos oder als Teil des Teams des Instituts für Sozialforschung. Vgl. etwa Barbara Löffler-Erxleben, Max Horkheimer zwischen Sozialphilosophie und empi­ rischer Sozialforschung, Wien u. a. 1999.

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mers Beiträge zu den ersten Nummern der Zeitschrift für Sozialforschung, zuvorderst der Artikel Bemerkungen über Wissenschaft und Krise aus der ersten Nummer sowie das Vorwort zum ersten Doppelheft des ersten Jahr­ gangs, beide 1932 publiziert. Insbesondere die Bemerkungen über Wissen­ schaft und Krise, in zehn Thesen abgefasst und nicht nur durch die Reminis­ zenz an Marx’ Thesen zu Feuerbach, sondern auch durch das noch stark der Kritik der politischen Ökonomie entstammende Vokabular auf jenen zurück­ verweisend, demonstrieren beispielhaft, wie Horkheimer den marxistischen, auf eingreifende Veränderung der Wirklichkeit und richtige Praxis zielenden Begriff von Wissenschaft in einer Weise umdeutet, die den Begriff der Pra­ xis und schließlich den Begriff der Wissenschaft selbst als Problem des Den­ kens zu bestimmen sucht. Die erste These geht vom seinerzeit schon kanoni­ sierten marxistischen Wissenschaftsbegriff aus: »Die Wissenschaft wird in der Marxschen Theorie der Gesellschaft zu den menschli­ chen Produktivkräften gezählt. Als Bedingung der durchschnittlichen Beweglichkeit des Denkens, die sich in den letzten Jahrhunderten mit ihr entwickelt hat, ferner in Gestalt der einfachen Erkenntnisse über Natur und Menschenwelt, die in den fortge­ schrittenen Ländern selbst den Angehörigen der unteren sozialen Schichten zuteil wer­ den, nicht zuletzt als Bestandteil des geistigen Vermögens der Forscher, deren Entde­ ckungen die Form des gesellschaftlichen Lebens entscheidend mitbestimmen, ermöglicht sie das moderne Industriesystem. Insofern sie […] in Produktionsmethoden formuliert vorliegt, stellt sie auch ein Produktionsmittel dar.«25

An der so gewonnenen Bestimmung der Wissenschaft ist dreierlei bemer­ kenswert: Sie respektiert, wie der durchgehend verwendete Singular unter­ streicht, nicht die Spaltung der akademischen Sphäre in die vermeintlich »praktisch« ausgerichteten Natur- und Sozialwissenschaften sowie die der Praxis scheinbar enthobene Geisteswissenschaft, sondern fasst alles in der Wissenschaft statthabende Denken, Beobachten, Experimentieren und Han­ deln als Teil und Konstituens menschlicher Praxis auf. Dass Horkheimer bei seiner Bestimmung des Begriffs des Logos und des Denkens auf Entwick­ lungstendenzen der Ökonomie, des bürgerlichen Handels, aber auch der Naturwissenschaft zurückgreift, reflektiert diese Grundbestimmung in der konkreten theoretischen Arbeit. Zudem weist seine Bestimmung der Wis­ senschaft aber auch die in weiten Teilen des Vulgärmarxismus schon zur Gründungszeit des Instituts für Sozialforschung übliche Zuordnung der Wis­ senschaft zum »Überbau«, ihre Depotenzierung zur bloßen Erscheinungs­ form von Ideologie, zurück, indem sie sie als Produktivkraft und Produk­ tionsmittel bestimmt. Schließlich gesteht sie der Wissenschaft insofern eine wesentliche Bedeutung in der Geschichte menschlichen Fortschritts zu, als 25 Max Horkheimer, Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3: Schriften 1931–1936, 40–47, hier 40.

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diese in den »fortgeschrittenen Ländern« mit zunehmender Naturbeherr­ schung auch »den Angehörigen der unteren sozialen Schichten« ihre Erkenntnisse und deren praktische Konsequenzen, als Verbesserung der Lebensbedingungen, habe zuteil werden lassen. Diese Diagnose deutet bereits an, dass für Horkheimer Solidarität mit den in ökonomischer Abhän­ gigkeit gehaltenen Klassen und Verteidigung der liberalen, demokratischen und egalitären Momente des Bürgertums nie unvereinbar waren. Bereits die zweite These verleiht diesem gewissermaßen auf die Höhe der Entwicklung bürgerlicher Gesellschaft gebrachten Marxschen Wissenschaftsbegriff aller­ dings eine völlig andere Wendung: »Daß die Wissenschaft als Produktivkraft und Produktionsmittel im Lebensprozeß der Gesellschaft mitwirkt, berechtigt keineswegs eine pragmatische Erkenntnistheorie. Soweit die Fruchtbarkeit einer Erkenntnis bei ihrem Wahrheitsanspruch eine Rolle spielt, ist darunter eine der Wissenschaft immanente Fruchtbarkeit und keine Überein­ stimmung mit äußeren Rücksichten zu verstehen. Die Prüfung der Wahrheit eines Urteils ist etwas anderes als die Prüfung seiner Lebenswichtigkeit. In keinem Fall haben gesellschaftliche Interessen über die Wahrheit zu entscheiden, sondern es gelten Kriterien, die sich im Zusammenhang mit dem theoretischen Fortschritt entwickelt haben. Zwar verändert sich die Wissenschaft selbst im geschichtlichen Prozeß, aber niemals kann der Hinweis darauf als Argument für die Anwendung anderer Wahrheits­ kriterien gelten als derjenigen, die dem Stand der Erkenntnis auf der erreichten Ent­ wicklungsstufe angemessen sind.«26

Die Bestimmung der Wissenschaft als Produktivkraft und Produktionsmittel ist ihrerseits eine theoretische und keine unmittelbar praktische, sie dient der ihrem Gegenstand verpflichteten Wahrheitserkenntnis und nicht als bloße Anweisung zur Praxis. Daher ist sie nicht als Legitimation pragmatischer Erkenntnistheorie geeignet. Die »Fruchtbarkeit einer Erkenntnis« in der Sphäre theoretischer Reflexion ist nur an deren eigenen Maßstäben, nicht an der »Übereinstimmung« der jeweiligen Erkenntnis mit »äußeren Rücksich­ ten« zu messen. Der Appell, dass »gesellschaftliche Interessen« nicht »über die Wahrheit zu entscheiden« haben, zielt indes nicht nur auf die Gefahr der ideologischen Indienstnahme theoretischer Erkenntnis durch die bürgerliche Gesellschaft, wie sie von der marxistischen Wissenschaftskritik seit jeher denunziert wird. Vielmehr richtet sie sich auch, in polemischer Wendung gegen die schon in Engels’ Wissenschaftsfetischismus angelegte, vor allem die sich selbst als marxistisch bezeichnenden Sozialwissenschaften durchge­ hend kennzeichnende Instrumentalisierung theoretischen Denkens zum Zweck einer als richtig und fortschrittlich dekretierten Praxis. Bürgerliches Zweckdenken und ideologiekritische Depotenzierung theoretischer Einsicht

26 Ebd., 40.

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zugunsten unmittelbaren Nutzens folgen beide demselben blinden Pragma­ tismus. Der Satz, die »Prüfung der Wahrheit eines Urteils« sei etwas anderes als »die Prüfung seiner Lebenswichtigkeit«, spitzt diese Einsicht noch zu: Ver­ bietet er doch nachgerade, den Begriff der Wahrheit aus der Relevanz des Erkannten für lebenspraktische Zwecke abzuleiten. Dies reflektiert die Ein­ sicht, dass unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen Leben und Wahrheit auseinandergetreten sind und im Widerspruch zueinander stehen, weil das Leben der Menschen selbst dem Begriff der Wahrheit nicht ent­ spricht. Deshalb nimmt Horkheimer mit der Formulierung »es gelten Krite­ rien, die sich im Zusammenhang mit dem theoretischen Fortschritt entwi­ ckelt haben« das genuin bürgerliche Ideal der Autonomie der Wissenschaft gegen vulgärmarxistische Kritik ebenso in Schutz wie gegen seine Funktio­ nalisierung durch die bestehende Gesellschaft. Dass die Wissenschaft selbst sich »im geschichtlichen Prozeß« verändert, weist ihre Erkenntnisse nicht per se als nur historisch und daher durch den geschichtlichen Prozess perma­ nent revidierbar aus: Die Geschichtlichkeit von Erkenntnis berechtigt nicht zur Relativierung des Wahrheitsbegriffs. Im Gegenteil kann gesellschaftli­ che Veränderung, die dem Begriff des Fortschritts als qualitativem, als Ent­ wicklung hin zu menschlicher Freiheit, nicht entspricht, unwahr und, als empirisch Gegebenes, trotzdem gültig sein, wie umgekehrt Erkenntnisse, die durch den historischen Prozess anachronistisch wurden, als Zeugnis gegen dessen Falschheit wahr sein können. Nicht nur Wahrheit und Leben, auch Fortschritt in der Theorie und Fortschritt in der Praxis sind auseinan­ dergetreten, weil die gesellschaftliche Wirklichkeit immer weniger den Begriffen menschlicher Vernunft entspricht, die die menschliche Gesell­ schaft selbst hervorgebracht hat. Dass sich diese Diagnose als Konsequenz nicht nur aus der Erfahrung des Ersten Weltkriegs und des Versagens der Arbeiterbewegung als »revolutionäre« Klasse, sondern als Antizipation der nationalsozialistischen Herrschaft verstehen lässt, deren Erfolg zum Zeit­ punkt der Niederschrift des Textes absehbar war, wird deutlich, wenn es in der dritten These heißt: »Die wissenschaftlichen Erkenntnisse teilen das Schicksal der Produktivkräfte und Pro­ duktionsmittel anderer Art: das Maß ihrer Anwendung steht in argem Mißverhältnis zu ihrer hohen Entwicklungsstufe und zu den wirklichen Bedürfnissen der Menschen […]. Wie der Verlauf früherer Krisen zeigt, wird sich das wirtschaftliche Gleichge­ wicht erst über die in beträchtlichem Umfang stattfindende Vernichtung menschlicher und sachlicher Werte wiederherstellen.«27

27 Ebd., 41.

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Was sich in der »Krise« zeigt, ist nicht nur die Ohnmacht des Denkens gegenüber den ökonomischen und politischen Bedingungen, die jede mar­ xistische Kritik am Idealismus des bürgerlichen Wissenschaftsbegriffs anprangert, sondern auch das Zurückbleiben der realen gesellschaftlichen Entwicklung hinter dem Begriff von Wahrheit, den diese Entwicklung als theoretische Bestimmung hervorgebracht hat: Die auf »Vernichtung menschlicher und sachlicher Werte« zusteuernde Wirklichkeit blamiert sich vor dem Begriff von Wahrheit, der selbst Produkt menschlicher Verhältnisse ist, ebenso wie das theoretische Denken sich vor einer Realität blamiert, angesichts derer sich seine Ohnmacht erweist. Dies führt Horkheimer zu einer Kritik der Wissenschaft selbst, die ihrer eigenen Bestimmung nur treu bleiben kann, wenn sie sich bei der Beurteilung ihrer Ergebnisse an die immanenten, im Prozess theoretischen Fortschritts gewonnenen Kriterien statt an die von der Gesellschaft an sie herangetragenen Erfordernisse hält. Zu diesem Zweck bedarf es einer Neubestimmung der Wissenschaft, die gerade die Autonomie der Theorie stärkt, statt sie als ideologischen Schein zu denunzieren. Diese müsste sich ihres von Horkheimer diagnostizierten doppelten Widerspruchs bewusst werden, um ihn zum Ausgangspunkt der eigenen Arbeit zu machen: »[I]n der Wissenschaft erscheint ein doppelter Widerspruch. Erstens gilt es als Prinzip, daß jeder ihrer Schritte einen Erkenntnisgrund habe, aber der wichtigste Schritt, näm­ lich die Aufgabenstellung selbst, entbehrt der theoretischen Begründung und scheint der Willkür preisgegeben. Zweitens ist es der Wissenschaft um die Erkenntnis umfas­ sender Zusammenhänge zu tun; den umfassenden Zusammenhang aber, von dem ihr eigenes Dasein und die Richtung ihrer eigenen Arbeit abhängt, nämlich die Gesell­ schaft, vermag sie in ihrem wirklichen Leben nicht zu begreifen.«28

Einerseits bleibt die Wissenschaft, da sie sich nicht in Rückgriff auf ihrer eigenen Arbeit abgewonnene Kriterien von Triftigkeit und Wahrheit legiti­ miert, ihre »Aufgabenstellung« also nicht theoretisch-immanent, sondern in Abhängigkeit von pragmatischen und voluntaristischen Zwecksetzungen begründet, der »Willkür« ausgeliefert und vermag den Wahrheitsanspruch, wie ihn noch der idealistische Begriff des Geistes in der deutschen Philoso­ phie verzerrt festhält, nicht einzulösen. Andererseits wird sie aber auch ihrem Anspruch einer geistigen Durchdringung und kritischen Bestimmung des Ganzen, des »Zusammenhangs« nicht gerecht, weil sie den »Zusammen­ hang«, von dem »ihr eigenes Dasein und die Richtung ihrer eigenen Arbeit abhängt«, nicht reflektiert. Ihr pragmatisches Funktionieren innerhalb der Zwecksetzungen der Gesellschaft und ihr praxisvergessener Idealismus, der

28 Ebd., 45.

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die materielle Konstitution des Begriffs des Geistes vergessen hat, harmo­ nieren miteinander, statt einander produktiv zu widersprechen. Dennoch gibt Horkheimer in seiner programmatischen Schrift letztlich den kritischen Momenten des Idealismus gerade im Namen des historischen Materialismus Recht: »Wenn aber der Idealismus […] in dem Bestreben gesehen wird, die geistigen Anlagen der Menschen wirklich zur Entfaltung zu bringen, dann entspricht die materialistische Theorie der Unselbständigkeit des Ideellen besser diesem Begriff der klassischen deut­ schen Philosophie als ein Großteil der modernen Metaphysik«.29

Die Rede von der »Entfaltung« der »geistigen Anlagen der Menschen« ist direkt dem Bildungsideal des Bürgertums entnommen, dessen idealistische Zerfallsform die Figur des Gelehrten und dessen pragmatistische die des »Fachmanns« ist. Beim Wort genommen, ist das Ideal der Entfaltung der geistigen Anlagen Horkheimer zufolge aber als Anweisung auf eine richtige Praxis zu verstehen, zu der sich einstweilen unmittelbar nichts theoretisch beitragen lässt, weil sie die Negation der herrschenden Praxis wäre – als Hinweis auf die realen Lebensbedingungen der Menschen also, die so einzu­ richten wären, dass, was der bürgerliche Idealismus als Sphäre des Geistes den niederen materiellen Bedingungen entgegensetzt, aus diesen selbst heraus allererst entstehen könnte. Liest man den kurzen Text, wie er durch seine Platzierung nur verstanden werden kann, als Programmschrift nicht nur der Zeitschrift für Sozialforschung, sondern auch der Forschungsarbeit des sie herausgebenden Instituts, ist damit bereits ausgesprochen, dass des­ sen Tätigkeit missverstanden ist, sofern man sie aufspaltet in die funktional zusammengehörigen, einander beeinflussenden, aber nur als gegenseitig ergänzend statt im lebendigen Widerspruch zueinander stehend gedachten Sphären der empirischen Studien und der praktischen Forschung auf der einen und der theoretischen Arbeit auf der anderen Seite. Vielmehr sind empirische und theoretische Erkenntnisse als widersprüchlich aufeinander verweisend zu verstehen, theoretische Texte und sozialhistorische Studien sind auch als implizite Kommentare zur gegenwärtigen theoretischen und praktischen Arbeit, die praktischen Zwecken dienenden Forschungen als Vorarbeiten für wiederum der Praxis widersprechende theoretische Erkennt­ nisse zu lesen. Daraus entsteht der doppelte Blick, der Horkheimers Denken ebenso wie sein institutionelles und forschungspraktisches Handeln prägt und der durch die ausschließliche Betrachtung Horkheimers als Forschungs­ organisator und Verwalter ebenso ausgeblendet wird wie durch seine Stili­ sierung zum Solitär, dessen eigentliche geistige Arbeit außerhalb der institu­ tionellen angesiedelt gewesen sei. 29 Ebd., 46.

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Konservatismus und Fortschritt Der von Horkheimer bezeichnete Unterschied zwischen theoretischer Wahr­ heit und der pragmatischen Relevanz theoretischer Erkenntnisse ist entschei­ dend für das Verständnis von Horkheimers in der Forschung – gerade auch gegen Adorno – immer wieder hervorgehobenem »Konservatismus«. Dieser wird, ob er nun positiv oder kritisch vermerkt wird,30 an verschiedenen Cha­ rakteristika seines Denkens festgemacht, die miteinander zusammenhängen, obwohl sie unterschiedliche Phasen und Aspekte seiner Arbeit betreffen: an der an vielen Stellen seines Werkes durchscheinenden Bewunderung des »kämpferischen« frühen Bürgertums; an seiner Verteidigung der bürgerli­ chen Familie als Ermöglichungsgrund kritischer Individualität; an seinen emphatischen Rekursen auf die von ihm materialistisch gedeutete Philoso­ phie Schopenhauers, die ihren Ursprung bereits in seiner Jugendzeit haben, aber erst im späten Werk theoretisch in den Mittelpunkt treten; schließlich an der mit der Neuorientierung an Schopenhauer im Spätwerk vollzogenen Hinwendung zur Theologie und der Verteidigung der Metaphysik gegenüber einer an Fragen der Wahrheit desinteressierten pragmatistischen Wissen­ schaft. Einige Aspekte dieses »Konservatismus« sind bereits einlässlich gedeutet und im Sinne kritischer Theorie entfaltet worden – zu Horkheimers Schopenhauer-Rezeption liegen Arbeiten von Alfred Schmidt vor, zur kriti­ schen Verteidigung des Wahrheitsbegriffs der Metaphysik die Studien von Karl Heinz Haag.31 Andere Aspekte, vor allem Horkheimers positive Ein­ schätzung des frühen Unternehmer- und Handelsbürgertums, gewinnen vor dem Hintergrund seiner sozioökonomischen Begründung des Begriffs des Geistes aus dem ökonomischen Liberalismus an Plausibilität. Um die Kon­ sequenzen anzudeuten, die eine Neueinschätzung der »konservativen« Ele­ mente des Werkes für die Beurteilung des Zusammenhangs von praktischer und theoretischer Arbeit des Instituts für Sozialforschung haben kann, sei hier nur noch auf Horkheimers positive Beurteilung der bürgerlichen Fami­ lie als Instanz der Individuation eingegangen.

30 Das jüngste Zeugnis einer dezidiert konservativen Rezeption Horkheimers, die dessen Verteidigung der Theologie positiv als Teil einer politisch begründeten Wiederentdeckung der Religion deutet – wobei der Unterschied zwischen Religion als Glaubenspraxis und Theologie als Versuch, diese auf den Begriff zu bringen, übersehen wird –, bietet Pascal Eitler, »Gott ist tot – Gott ist rot«. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968, Frankfurt a. M./New York 2009. 31 Siehe Alfred Schmidt, Drei Studien über Materialismus. Schopenhauer – Horkheimer – Glücksproblem, München/Wien 1977; ders., Die Wahrheit im Gewande der Lüge. Scho­ penhauers Religionsphilosophie, München/Zürich 1986; Karl Heinz Haag, Philosophi­ scher Idealismus, Frankfurt a. M. 1967; ders., Der Fortschritt in der Philosophie, Frank­ furt a. M. 1983.

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Das Bild der bürgerlichen Familie, wie Horkheimer es in seinen theoreti­ schen Schriften, insbesondere in der 1936 entstandenen Studie Autorität und Familie, zeichnet, widerspricht scheinbar drastisch der aus den Studien zum autoritären Charakter und den empirischen Forschungen zur sozialpsycholo­ gischen Genese des Nationalsozialismus bezogenen Diagnose, wonach die bürgerliche Familie autoritätshörige, heteronome und zugleich schwache Individuen hervorbringe. Der Widerspruch entsteht jedoch nur dadurch, dass die im Zuge der Studentenbewegung populär gewordene Rede von der bür­ gerlichen Familie als Keimzelle des autoritären Staates bereits die empiri­ schen Forschungsergebnisse, die das Institut für Sozialforschung in seinen Studien zur Autorität zusammengetragen hatte, stark vereinfacht. Entschei­ dend für den von Horkheimer in den Mittelpunkt gerückten Unterschied zwischen theoretischer Wahrheit und praktischer Relevanz ist ein anderer Aspekt, der allein hier an seiner umfangreichen und dichten Studie hervor­ gehoben werden soll: der qualitative Unterschied zwischen der bürgerlichen Familie als gesellschaftlicher Institution, der realen Familie, in der diese Institution sich verkörpert, jedoch nicht aufgeht, und dem theoretischen Begriff der bürgerlichen Familie, der sowohl der bürgerlichen Familienideo­ logie wie der Realität der Familie widerspricht. In diesem Sinne schreibt Horkheimer in Autorität und Familie zum Autoritätsbegriff: »Das bürgerliche Denken beginnt als Kampf gegen die Autorität der Tradition und stellt ihr die Vernunft in jedem Individuum als legitime Quelle von Recht und Wahrheit entgegen. Es endigt mit dem Verhimmeln der bloßen Autorität als solcher, die ebenso leer an bestimmtem Inhalt ist wie der Begriff der Vernunft, seitdem Gerechtigkeit, Glück und Freiheit für die Menschheit als historische Losungen ausgeschieden sind.«32

Zuvor wird der Doppelcharakter des Begriffs der Autorität selbst erläutert, wie er auch auf die Familie als Autoritätsinstanz zutrifft: »Autorität als bejahte Abhängigkeit kann […] sowohl fortschrittliche, den Interessen der Beteiligten entsprechende, der Entfaltung menschlicher Kräfte günstige Verhält­ nisse bedeuten als auch einen Inbegriff künstlich aufrecht erhaltener, längst unwahr gewordener gesellschaftlicher Verhältnisse, die den wirklichen Interessen der Allge­ meinheit zuwiderlaufen.«33

Die Kritik der bürgerlichen Familie als Autoritätsinstanz läuft demzufolge nur dann nicht leer oder schlägt gar ihrerseits um in die Apologie sich wider­ ständig gebender Autorität, wenn sie den Widerspruch zwischen der Familie als ideologischer Form, der Familie als gesellschaftlicher Realität und dem in theoretischer Reflexion gewonnenen Begriff familiärer Autorität bedenkt. 32 Max Horkheimer, Autorität und Familie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, 336– 417, hier 362. 33 Ebd., 360.

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In diesem Sinne sind Horkheimers emphatische Rekurse auf die bürgerliche Familie als Instanz der Ermöglichung von Individuation, die sich stets auf historisch überholte, verloren gegangene Möglichkeiten dieser Form der Familie beziehen – sei es im Eingedenken an seine eigenen biografischen Erfahrungen, sei es in Erinnerung an eine spezifische historische Ausprä­ gungsform des Bürgertums –, ebenso polemisch gegen die gesellschaftliche Realität der Familie gerichtet, in der diese allenfalls als »künstlich aufrecht erhaltene« Form, als erstarrte Autorität überlebt, wie sie sich gegen die Ideo­ logie der Familie wenden, deren Schein sie mit der epochalen Erfahrung konfrontiert, dass »Gerechtigkeit, Glück und Freiheit für die Menschheit als historische Losungen ausgeschieden sind«. Das Festhalten an den fortschrittlichen Möglichkeiten der bürgerlichen Familie im Denken, als Konstituens der Theorie, widerspricht also nur scheinbar der empirischen Diagnose, die das Urteil über die Familie als Agentur der heteronomen Gesellschaft fällt. Vielmehr ist auch dieses Urteil, wie es den empirischen Studien zu entnehmen ist, nur verständlich vor dem Hintergrund des theoretischen Begriffs, der nicht mit seinem empirischen gesellschaftlichen Korrelat deckungsgleich ist. Angesichts der Bedeutung, die das Lebendighalten dieses Widerspruchs zwischen theoretischer und praktischer Erkenntnis für Horkheimers theoretische und institutionelle Arbeit hat, wäre es naheliegend, sein Wirken als beständige Vermittlung zwischen empirisch gesättigter Erfahrung und theoretischem Begriff zu beschreiben, die es unmöglich macht, seine wissenschaftliche Praxis als bloße Anwendung theoretischer Erkenntnisse, die Theoriebildung als bloße Reflexion der verarbeiteten Erfahrung zu verstehen. Beide sind auf eigene, einander widersprechende Weise Antworten auf das, was Horkheimer in einem Fragment über Auschwitz den »Aufforderungscharakter der Wirk­ lichkeit«34 nennt – einer Wirklichkeit, die dem von ihr selbst hervorgebrach­ ten Begriff von Wahrheit nicht entspricht und die die Menschen dadurch nötigt, in ihrem Denken und Handeln auf diesen Widerspruch zu antworten. Insofern entspringt das Denken noch in einer geschichtlichen Konstellation, in der die »Freiheit« als »historische Losung« ausgeschieden ist, dem Han­ deln der Menschen und der gesellschaftlichen Praxis, die zu ihm nötigt.

34 Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 14, 343.

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Dubnowiana

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Grit Jilek

Jenseits von Territorium – Jüdische Nation und Diaspora bei Simon Dubnow Simon Dubnow gilt als Begründer der modernen jüdischen Geschichts­ schreibung. Seine Geschichtsinterpretation war als »Weltgeschichte«1 der Juden gefasst und als jüdische Nationalgeschichte konzipiert. Daran bemer­ kenswert ist nicht nur, dass Dubnow seine national-säkulare Interpretation lange Zeit vor der Gründung eines jüdischen Staates entwickelte, sondern vor allem, dass er seiner Historiografie die Diaspora als Existenzbedingung zugrunde legte. Er verstand die Juden als Volk in der Diaspora, als Subjekte ihrer eigenen Geschichte. Weit weniger Aufmerksamkeit als diesem Aspekt hat die Forschung bis­ lang seinem langjährigen politischen Engagement gewidmet, das mit seiner die Diaspora betonenden Sicht auf die Geschichte eng verbunden war. Dub­ nows politisches Handeln richtete sich zu einem großen Teil auf die Schaf­ fung einer jüdischen Vertretung, auf die planvolle Organisierung und Gestal­ tung der jüdischen Diaspora.2 Sein Engagement erstreckte sich dabei auf unterschiedliche politische Ebenen und berührte verschiedene zeitliche und räumliche Kontexte. Es ging Dubnow darum, eine Vertretung zu schaffen, die zum einen die jüdischen Kollektivrechte (später Minderheitenrechte genannt) nach außen vertreten und zum anderen Belange des jüdischen Lebens planvoll organisieren und entwickeln sollte. Betrachtet man Dubnows politisches Engagement, das etwa vier Jahr­ zehnte umfasste, lässt sich ein Bogen spannen, der von einer lokal begrenz­ ten Politik in Odessa über den russländischen Kontext bis hin zur schließlich maßgeblichen internationalen politischen Ebene führte. Seine politische Rolle während dieses Zeitraums war umfassend und facettenreich: er war Vordenker, Wegbereiter, Aktivist, Autor, Mahner, Rhetoriker, Kommentator und Analytiker, weniger Parteipolitiker. Dubnow verstand sich selbst als Volksvertreter im ursprünglichen Sinne.3 Im Lichte seines politischen Schaf­

1 2 3

Simon Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes. Von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart, 10 Bde., Berlin 1925–1929. Siehe hierzu Grit Jilek, Nation ohne Territorium. Über die Organisierung der jüdischen Diaspora bei Simon Dubnow, Baden-Baden 2013. Siehe dazu Dubnows Erinnerungen: ders., Buch des Lebens. Erinnerungen und Gedan­ ken. Materialien zur Geschichte meiner Zeit, hg. im Auftrag des Simon-Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur von Verena Dohrn, 3 Bde., Göttingen 2004/05 (zuerst JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 463–488.

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fens entsteht das Bild eines politischen Repräsentanten einer Nation in der Diaspora.

Autonomismus als Politik: Die Idee eines jüdischen Kongresses Der Ausgangspunkt für Dubnows politisches Engagement ist eng mit einer dramatischen Wende in der Geschichte der russländischen Judenheit ver­ knüpft: Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich die Lage der Juden in Russland drastisch verschlechtert. Nicht nur hatte die Zarenpolitik gegen­ über den Juden nach dem Mord an Alexander II. im Jahr 1881 eine überaus negative Wendung von Ansätzen einer reformerischen Emanzipations- hin zu einer diskriminierenden Ausgrenzungspolitik genommen. Auch in der Bevölkerung hatte sich die Stimmung nun gegen die Juden gewandt, was in der Folge zu Pogromen führte. Diese gesellschaftliche Entwicklung machte die bis dahin gehegten Hoffnungen der Juden in Russland auf Integration in die Gesellschaft zunichte. Vor diesem Hintergrund muss Simon Dubnows politischer Ansatz des Autonomismus, zu dem er sich erstmals 1901 in einer Reihe von Briefen öffentlich geäußert hatte, zunächst als direkte Antwort auf den politischen Schockzustand, in dem sich die russisch-jüdische Intelligenzija befand, bewertet werden.4 Dubnow reagierte auf die Orientierungslosigkeit der russ­ ländischen Juden, für die sich ihr Ziel, Emanzipation und Akkulturation nach westlichem Vorbild, jäh in Luft aufgelöst hatte. Die jüdischen Emanzi­ pationsbestrebungen in Russland waren gescheitert. Doch obwohl sein Fokus auf der Situation in Russland lag, nahm er die gesamte jüdische Dias­ pora in den Blick. Dubnow verfolgte den zunehmenden Antisemitismus in Mittel- und Westeuropa und teilte keineswegs die optimistische Sicht, dass es sich hierbei um vereinzelte Entgleisungen der modernen Gesellschaft handele. Auch aus diesem Grund hatte er sich von seinem Jugendideal, der jüdischen Aufklärung und der Emanzipation nach westlichem Vorbild, los­ gesagt. Eine Akkulturation, wie sie in Frankreich oder Deutschland für die Juden vollzogen worden war, lehnte er inzwischen ab, da sie für ihn die Auf­ lösung der jüdischen Nation und deren Übergang in die Umgebungsgesell­

4

in russ. Sprache: Kniga žizni. Vospominanija i razmyšlenija. Materialy dlja istorii moego vremeni, 3 Bde., Riga 1934). Siehe ders., Pis’ma o starom i novom evrejstve. Pis’mo 7-oe. Avtonomism, kak osnova nacional’noj programmy [Briefe vom Alten und Neuen Judentum. 7. Brief. Autonomis­ mus als Grundlage des nationalen Programms], in: Voschod [Der Osten] 10 (1901).

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schaften bedeutete. Eine globale Selbstorganisierung der Juden auf der Grundlage einer Autonomiestruktur mit einem jüdischen Kongress an der Spitze betrachtete er als Lösung des Problems.5 Dubnows Autonomismus umfasste eine alternative Politik und eine neue Zukunftsvision auf Basis der gegenwärtigen Lebensbedingungen der Juden: Anstatt weiter auf eine Emanzipation »von oben« zu hoffen, plädierte er dafür, in der eigenen Tradition Kraft und Halt zu suchen und sich auf die kollektive Stärke zu besinnen, die jahrhundertelang die diasporalen Gemein­ schaften nach außen geschützt und nach innen weiterentwickelt hatte – die jüdische Autonomie. Durch die nicht erfolgte Integration und Emanzipation der Juden im Zarenreich hatte die traditionelle jüdische Selbstverwaltung ihre Notwendigkeit nicht eingebüßt und konnte in reduzierter Form fortbe­ stehen. Mit ihr hatte sich dort auch die national-kulturelle Komponente im kollektiven Selbstverständnis der Juden bewahrt. Ziel des dubnowschen Autonomismus war es, die kulturell-historisch gewachsenen Autonomiestrukturen in Russland wiederzubeleben, zu moder­ nisieren, säkular und demokratisch zu reformieren und auf ihrer Grundlage eine zentrale Repräsentanz in Russland, einen gesamtjüdischen Kongress, zu schaffen. In den anderen Ländern der Diaspora sollte die Modernisierung der bestehenden Strukturen individuell auf Basis der dort herrschenden Bedingungen vollzogen werden. Die so agierenden jüdischen Ländervertre­ tungen sollten sodann in einem zentralen Kongress für die Diaspora zusam­ mengefasst werden, der als nationale Vertretung der Juden neben den Staats­ regierungen etabliert werden sollte. Dubnows Autonomismus erklärte die Juden zur »geistigen bzw. kulturellen Nation in der Diaspora«.6 Damit stellte er der Territorialität der anderen Nationen die Kultur der jüdischen Nation entgegen. Auf dieser strukturellen Grundlage sollten sowohl individuelle Bürgerrechte als auch kollektive Rechte als politische Einheit eingefordert werden – es ist der Komplex aus diesen beiden Forderungen, der den Auto­ nomismus auszeichnet. Anders als die zwei großen vorherrschenden politi­ schen Emanzipationsmodelle erhielt Dubnow damit die immanente Span­ nung zwischen den beiden Polen des jüdischen Selbstverständnisses – zwischen Individuum und Nation – aufrecht. Er löste sie weder, wie die westliche Akkulturation es anstrebte, in Richtung des Individuums, noch in Richtung einer Staatlichkeit auf, wie der Zionismus es einforderte. 5 6

Ebd. Simon Dubnov, Pis’ma o starom i novom evrejstve. Pis’mo 4-oe. Avtonomism, kak osnova nacional’noj programmy [Briefe über das Alte und Neue Judentum. 4. Brief. Autonomismus als Grundlage des nationalen Programms], in: Simon Dubnov (Hg.), Pis’ma o starom i novom evrejstve (1897–1907) [Briefe über das Alte und Neue Judentum (1897–1907)], St. Petersburg 1907 (nachfolgend zit. nach einer unveröff. Übersetzung von Alexej Dörre, 1–32, hier 20).

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Zugleich war der Autonomismus Dubnows integrativ angelegt. Als natio­ naljüdisches Sammelbecken sollte er allen Juden in der Diaspora zur Verfü­ gung stehen – gleich welcher politischer Strömung, ob säkular oder religiös. Den Juden im östlichen Europa, vor allem den in Russland ansässigen, maß Dubnow eine besondere Bedeutung bei. Nicht nur war die russländische Judenheit damals der bevölkerungsreichste Teil der jüdischen Diaspora. Durch die besonderen kulturell-historischen und politischen Bedingungen hatte sich dort in der kollektiven Zugehörigkeit zudem das national-kultur­ elle Element erhalten, während dieses bei den Juden in mittel- und westeuro­ päischen Staaten zu dem einer religiösen Gruppe zusammengeschrumpft war.7 An dieses national-kulturelle Element knüpfte der Autonomismus an.

Beginn der politischen Aktivitäten Dubnows: Das Komitee der Nationalisierung Das politische Programm des Autonomismus war im Besonderen das Ergeb­ nis der Auseinandersetzungen Simon Dubnows mit jüdischen Intellektuellen in Odessa. Im Jahr 1890 hatte er zusammen mit Achad Ha’am, Mendele Mojcher Sforim, Ben Ami, Schalom Alejchem und anderen den sogenann­ ten Literarischen Kreis gegründet.8 1897 begann Dubnow mit der sich über mehrere Jahre erstreckenden Veröffentlichung einer politischen Artikelserie Briefe vom Alten und Neuen Judentum. Sie ist als Fundament des Autono­ mismus zu betrachten.9 In diesen Artikeln entwickelte er seinen historisch inspirierten Diaspora-Nationalismus anhand zeitgenössischer jüdischer wie allgemeiner Diskussionen und Ereignisse. Der Autonomismus war als real­ politisches Gegenwartsprogramm angelegt. Er setzte an den realen Lebens­ 7

8

9

Siehe dazu Yfaat Weiss, »Wir Westjuden haben jüdisches Stammesbewußtsein, die Ostju­ den jüdisches Volksbewußtsein«. Der deutsch-jüdische Blick auf das polnische Judentum in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 37 (1997), 157–178; Eli Lederhendler, Did Russian Jewry Exist Prior to 1917?, in: Yaacov Ro’i (Hg.), Jews and Jewish Life in Russia and the Soviet Union, Ilford 1995, 15–27; Benjamin Nathans, On Russian-Jewish Historiography, in: Thomas Sanders (Hg.), Histo­ riography of Imperial Russia. The Profession and Writing of History in a Multinational State, Armonk, N. Y., 1999, 397–432; Yosef Hayim Yerushalmi, Zakhor. Jewish History and Jewish Memory, New York 1989 (zuerst 1982). Siehe Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, 271 f.; zum aufgeklärten und progressiven Klima des damaligen Odessa siehe Alexander Orbach, Jewish Intellectuals in Odessa in the Late Nineteenth Century. The Nationalist Theories of Ahad Ha’am and Simon Dubnov, in: Nationalities Papers 6 (1978), H. 2, 109–123. Vgl. Dubnow, Simon, Einleitung zu: ders., Pis’ma o starom i novom evrejstve [Briefe über das Alte und Neue Judentum], in: Voschod (November 1897) (nachfolgend zit. nach einer unveröff. Übersetzung von Alexej Dörre, 1–4, hier 1).

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bedingungen der Juden an, um von ihnen ausgehend deren Rechte in der Diaspora zu sichern. Da er sowohl von der Vergangenheit gespeist als auch auf die Zukunft gerichtet war, war er real fassbar und visionär zugleich. Im Jahr 1901, und damit vier Jahre nach zwei bedeutenden politischen jüdischen Großereignissen, dem Ersten Zionistenkongress in Basel und der Gründung der jüdischen Arbeitervereinigung in Osteuropa, kurz Bund, begann Simon Dubnow politisch aktiv zu werden. Sein Engagement zielte auf ein tagespolitisches, aber zugleich auch weitreichend nationaljüdisches Thema: auf die politische Ausrichtung der Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den Juden in Russland.10 Dubnow richtete sein Augenmerk auf sie, denn sie war die einzige vom Zaren anerkannte jüdische Vereinigung auf Reichsebene und hatte deshalb eine Hegemoniestellung inne. Sie war nicht nur die einzig legitimierte Öffentlichkeitsform, die den Diskussionen und Aktivitäten einzelner Gruppierungen innerhalb der jüdischen Intelli­ genzija einen gewissen Schutz vor den Autoritäten gab, sondern sie kontrol­ lierte, lenkte und unterband in ihrer Machtfülle notfalls auch innerjüdische Diskussionen. Gemeinsam mit Achad Ha’am trat Dubnow in harsche Oppo­ sition zur Führung der Gesellschaft für Aufklärung, da diese trotz der repres­ siven zarischen Politik und der antijüdischen Stimmung in der Bevölkerung unverändert die Akkulturation der russländischen Juden verfolgte. Dubnow erschien dies geradezu als grotesk. Gemeinsam mit seinen Gesinnungsge­ nossen verfolgte er im Gegensatz dazu eine nationaljüdische Zielsetzung respektive die Stärkung des eigenen kollektiven Bewusstseins mittels einer nationaljüdischen Schul- und Sprachenpolitik. Um ein Gegengewicht zur Führungselite der Gesellschaft für Aufklärung zu schaffen, gründeten sie das Komitee der Nationalisierung.11 Das Komitee war eine Plattform für jüdische Nationalisten, deren Plenum Simon Dubnow leitete. Schon hier kristallisiert sich sein politisches Marken­ zeichen heraus, das ihn bis in die späte Phase seiner politischen Aktivität kennzeichnen sollte: Er war in der Lage, zwischen zwei scheinbar unver­ söhnlichen politischen Positionen zu vermitteln und diese zu synthetisieren. Er sagte der Forderung der Nationalisten nach einer nationaljüdischen Aus­ richtung der Erziehung zum Beispiel seine volle Unterstützung zu, und gleichzeitig stimmte er dem Ruf der Gesellschaft für Aufklärung nach einer europäischen, modernen Schulbildung zu, denn er schätzte beides als not­ wendig für ein Überleben der jüdischen Diaspora in der Moderne ein. Das oppositionelle Komitee der Nationalisierung bildete den Keim einer neuen 10 Im Folgenden kurz Gesellschaft für Aufklärung. 11 Siehe zur Gesellschaft für Aufklärung Brian Horowitz, Jewish Philanthropy and Enligh­ tenment in Late-Tsarist Russia, Seattle, Wash./London 2009; zum Komitee der Nationali­ sierung siehe Jilek, Nation ohne Territorium, 198.

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Ausrichtung jüdischer Politik innerhalb einer alten Politikform: Sie war geprägt von einem kämpferischen nationaljüdischen Selbstbewusstsein, während die Gesellschaft für Aufklärung, wenngleich sie in der Intention ihrem Namen durchaus gerecht wurde, strukturell noch der Tradition der Stadlanuth verhaftet war.12 Der antijüdische Pogrom in Kischinjow im Jahr 1903 löste einen weiteren Nationalisierungsschub aus – nicht nur, aber vor allem innerhalb der russ­ ländischen Judenheit. Auch Dubnows jüdischer Nationalismus wurde durch dieses Ereignis radikalisiert. Die Ereignisse ließen ihn die Frage nach einer zentralen jüdischen Vertretung und nach möglichen Instrumentarien für eine jüdische Selbstermächtigung erneut aufgreifen. Im Komitee der Nationali­ sierung sprach Dubnow sich für eine unabhängige jüdische internationale Informationspolitik aus, die in der Folge auch umgesetzt wurde, und in Dub­ nows Freundeskreis in Odessa entstand ein öffentlicher Aufruf zu einer selbstbewussten nationalen Organisierung der Juden. Darunter verstand die Gruppe nicht nur den Aufbau einer jüdischen Selbstwehr, sondern auch die Abkehr von der Stadlanuth-Politik.13 Jene sollte durch die Handlungen eines zu gründenden »gesamtjüdischen Kongresses«, einer jüdischen Generalver­ sammlung in Russland, abgelöst werden. In dieser führenden Vertretung, der eine Schutzfunktion für das jüdische Kollektiv zugedacht wurde, sollten alle jüdischen Gemeinden repräsentiert sein. Dies ist als Rückgriff auf Dub­ nows Ruf nach Reformierung der Struktur, wie er sie zwei Jahre zuvor in seinem Brief zum Autonomismus dargelegt hatte, zu verstehen.14

Die nationaljüdische Sammlung Die Revolution von 1905 als Garant bürgerlicher Freiheiten änderte die poli­ tischen Rahmenbedingungen vollständig. Erstmals konnte sich eine freie jüdische Öffentlichkeit entfalten, wie auch die nationaljüdische Sammlung nunmehr möglich und gestattet war. Überzeugt davon, dass sein Autonomis­ mus-Programm nun realisiert werden könnte, engagierte sich Simon Dub­ now vehement für die Gründung einer nationalen Vertretung der Juden in Russland. Viele jüdisch-nationalistische Gruppierungen schlossen sich zu einem Verband zusammen, deren kleinster gemeinsamer Nenner das Streben 12 Siehe weiterführend Jilek, Nation ohne Territorium, 198–202. 13 Siehe Benjamin Nathans, The Other Modern Jewish Politics. Integration and Modernity in Fin de Siècle Russia, in: Zvi Gitelman (Hg.), The Emergence of Modern Jewish Poli­ tics. Bundism and Zionism in Eastern Europe, Pittsburgh, Pa., 2003, 20–34. 14 Siehe Dubnov, Pis’ma o starom i novom evrejstve. Pis’mo 7-oe.

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nach voller nationaler Gleichberechtigung war, zu dem Verband zur Erlan­ gung der Gleichberechtigung für das jüdische Volk in Russland.15 Simon Dubnow hatte das Gesicht und die Ausrichtung des Verbandes entscheidend mitgeprägt, seine Forderungen waren die individuelle wie auch die kollek­ tive Gleichberechtigung der Juden als Volk sowie der Ausbau autonomer Strukturen nach dem historischen Vorbild der traditionellen Autonomie, die insbesondere durch den Rat der vier Länder, den Waad ha-Arazot, symbo­ lisiert wurde.16 Dubnows politisches Ziel war es, den temporären strömungsübergreifen­ den Verband in eine nationaljüdische Gruppe in der Duma zu überführen. Damit wollte er ihn in das höchste Gremium der neuen Kultur-Autonomie, die zentrale Vertretung der Juden, umwandeln. Er engagierte sich in den fol­ genden zwei Jahren in diesem Kontext, um eine übergreifende nationaljüdi­ sche politische Organisierung in Russland voranzutreiben.17 Auch die Zionistische Organisation nahm 1906 Dubnows autonomistische Forderungen nach einer Diaspora-Organisierung zum Schutz der Juden in ihr Programm der sogenannten Gegenwartsarbeit auf.18 Diese Forderungen waren unter dem Druck von internen kritischen Diskussionen integriert wor­ den. Einige Mitglieder der Zionistischen Organisation kritisierten, die Orga­ nisation kümmere sich nicht um die gegenwärtige dramatische Lage der Juden – vor allem im östlichen Europa – und sei ein bloßes Zukunftsprojekt. Diese politische Veränderung brachte Dubnow, zuvor ausgesprochener Geg­ ner der zionistischen Idee, dem liberalen und kulturellen Flügel dieser Bewegung näher. Sie markiert den Beginn der allmählichen Befriedung des Widerspruchs Palästina – Diaspora in Dubnows politischen Ansichten.19

Die Jüdische Folkspartej Der Verband unterlag jedoch den Zerfallserscheinungen, die die neuen Parti­ zipationsmöglichkeiten für Juden im sich verzweifelt modernisierenden Zarenreich mit sich brachten: Nachdem die Zionisten sich wieder von ihm getrennt hatten, war seine Auflösung in unzählige Splittergruppen nicht mehr aufzuhalten. Wenngleich Dubnow diese Entwicklung als ausgespro­ 15 16 17 18

Im Weiteren kurz Verband. Siehe dazu ausführlich Jilek, Nation ohne Territorium, 215–229. Siehe ebd. Siehe Shmuel Almog, Zionism and History. The Rise of a New Jewish Consciousness, New York/Jerusalem 1987; Monty Noam Penkower, The Kishinev Pogrom of 1903. A Turning Point in Jewish History, in: Modern Judaism 24 (2004), H. 3, 187–225. 19 Siehe weiterführend Jilek, Nation ohne Territorium, 355.

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chen kontraproduktiv beurteilte, da die mühsam erreichte nationaljüdische Einheit über Nacht wieder zerfiel, reagierte er auf die veränderten Umstände flexibel: Er gründete 1906 eine eigene Partei, die Jüdische Folkspartej. Die von Dubnow als Nachfolgeorganisation des Verbandes verstandene Partei war autonomistisch ausgerichtet und sollte nunmehr die Plattform für alle national gesinnten Juden, gleich welcher Partei sie angehörten, darstellen. Zwar stieß die Folkspartej mit ihrem autonomistischen Programm in der Bevölkerung auf immer größere Zustimmung und ihre Forderungen fanden immer weitere Verbreitung – letztendlich scheiterte sie allerdings an der täg­ lichen Parteiarbeit. Sie vermochte es nicht, die Sympathie in der Bevölke­ rung in reale politische Kraft zu verwandeln. Obzwar sich der messbare Effekt der Partei, ihr realer Niederschlag in der Politik, eher in bescheidenen Grenzen hielt, war ihr ideeller Wert dennoch groß: Sie trug zur weiteren Ver­ breitung der autonomistischen Forderungen innerhalb Russlands und darüber hinaus bei und wandelte sie in eine allgemein akzeptierte Forderung nach Emanzipation um. Zudem nahmen die Autonomisten eine bedeutende Rolle bei der Vorbereitung des gesamtjüdischen Kongresses für Russland ein.20

Dubnow und die internationale Politik Zwei historische Großereignisse – der Erste Weltkrieg und die Oktoberrevo­ lution – die Dubnows Heimat auf unterschiedliche, jedoch beide Male fun­ damentale Weise erschütterten, lenkten nunmehr seinen Wirkungsradius weg von der partikularen Situation in Russland hin zu der der jüdischen Diaspora als Ganzes. Der Erste Weltkrieg, der die »jüdische Frage« interna­ tionalisiert hatte, führte Dubnow zu der Einsicht, dass eine Politik, die sich auf Staaten begrenzt, unmöglich die Lösung für das transnationale Existenz­ problem der Juden sein konnte. Da die Frage international gestellt wurde, war die Lösung in seinen Augen nur auf der internationalen Politikebene zu suchen. Das zweite Großereignis, die Oktoberrevolution, machte ihm dage­ gen schmerzlich bewusst, dass es in Russland angesichts des politischen Umbruchs und der massiven jüdischen Auswanderungswellen für das gewichtige »Diaspora-Zentrum« keine Zukunft mehr geben konnte. Hatte sich sein politisches Streben, die jüdische Autonomiestruktur zu modernisie­ ren und eine jüdische Vertretung in diesem Rahmen aufzubauen, bis dahin also auf Russland konzentriert und war er währenddessen durch mehrere Ereignisse gezwungen gewesen, die Form seiner Umsetzungsversuche den politischen Veränderungen in Russland anzupassen, vollzog sich nun ein 20 Siehe ebd., Kap. 3, 239–253.

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einschneidender Wechsel: Dubnow verließ seine partikulare Perspektive auf ein, wenngleich gewichtiges, Zentrum der jüdischen Diaspora und nahm nunmehr eine übergeordnete auf die Juden in aller Welt ein, die es zu organi­ sieren galt. Sein Fokus lag nun hauptsächlich auf der internationalen Politik und der Schaffung einer zentralen transnationalen jüdischen Vertretung als höchster politischer Repräsentanz der Diaspora-Nation.

Die Sammlung der nationaljüdischen Kräfte auf der Ebene der internationalen Politik Am nächsten kam Dubnows politischen Vorstellungen das neugegründete und in Paris ansässige Comité des Délégations Juives auprès de la Confé­ rence de la Paix.21 Dieser Zusammenschluss von Vertretern jüdischer Min­ derheiten aus den verschiedenen Diasporaländern, vornehmlich aus Osteu­ ropa, war 1919 eigens gegründet worden, um auf der Friedenskonferenz die jüdischen Kollektivrechte einzufordern und die Bestimmungen des Minder­ heitenschutzes mit vorzubereiten. Leo Motzkin, der Gründer des Comité des Délégations Juives, hatte bereits während des Weltkriegs durch seine Stel­ lung im Kopenhagener Büro der Zionistischen Organisation eine Schlüssel­ position bezüglich der Artikulierung und Vertretung der Interessen der Juden in Russland inne. Das Kopenhagener Büro war die einzige politische Vertre­ tung, die die Bedürfnisse der Juden Russlands entsprechend ihrer eigenen Vorstellungen wahrnahm und unterstützte. Zwar gab es auch andere jüdische Organisationen in Mittel- und Westeuropa, die sich für die bedrohte Juden­ heit im Osten Europas einsetzten, jedoch war diese Hilfe eher karitativer Natur.22 Simon Dubnow sah in der Existenz des Comité des Délégations Juives eine weitere Stufe auf dem Weg zu einer zentralen demokratischen Diaspo­ raorganisation, wie er sie sich vorstellte, verwirklicht. Schließlich waren die im Comité des Délégations Juives versammelten Delegierten Mitglieder der demokratisch gewählten Jüdischen Nationalräte in den osteuropäischen Diasporaländern. Sie forderten beinahe selbstverständlich nationale Rechte für Juden auf der Basis einer national-kulturellen Autonomie. Diese inhaltli­ che Affinität zwischen Dubnow und dem Comité des Délégations Juives war nicht zufällig: Nicht nur hatte Leo Motzkin, der aus Kiew stammende radikal-demokratische Zionist, den Autonomismus in die Zionistische Orga­ nisation eingeführt und geholfen, ihn im Programm der Gegenwartsarbeit 21 Nachfolgend Comité des Délégations Juives. 22 Siehe Jilek, Nation ohne Territorium, 356 und passim.

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zu verankern. Er hatte ferner die Grundgedanken des Autonomismus-Kon­ zepts von Dubnow aus dem Jahre 1901 übernommen und sie auf der Frie­ denskonferenz den neu entstandenen Staaten in Osteuropa als jüdische For­ derungen präsentiert. Auf diese Weise waren dessen Forderungen nach national-kultureller Autonomie auf die internationale Ebene gehoben und in die politische Leitlinie des Comité des Délégations Juives integriert wor­ den.23 War der Kontakt zwischen Simon Dubnow und Leo Motzkin, die sich aus der Zeit des Verbandes für Gleichberechtigung des jüdischen Volkes in Russland kannten, zunächst nur ein punktueller gewesen, intensivierte er sich aufgrund ähnlich gelagerter politischer Vorstellungen von einer moder­ nen zentralen Diasporaorganisation und von einem effektiven Minderheiten­ schutz. Beide betrachteten die Juden als ein Welt-Volk, als internationale Nation. Ihre politische Nähe äußerte sich auch in dem von Motzkin im Jahr 1920 an den American Jewish Congress herangetragenen Vorschlag, eine übergeordnete zentrale Diasporavertretung zu gründen, einen permanenten Waad ha-Arazot.24 Diese terminologische Anleihe kann sowohl als Reminis­ zenz an die osteuropäische jüdische Autonomiestruktur des Rates der vier Länder als auch an Dubnows Idee einer Wiederbelebung dieser historischen autonomen Ratsstruktur gewertet werden. Die frühe Zwischenkriegszeit brachte den Juden der neuen beziehungsweise erweiterten Staaten in Ostmit­ teleuropa durch die vom Völkerbund auferlegte obligatorische Unterzeich­ nung der Minderheitenschutzklauseln die juristisch fixierte Erfüllung ihrer Forderung nach kollektiven Rechten in Form von national-kultureller Auto­ nomie. Wie fragil dieser Sieg war, zeigte sich jedoch nach kurzer Zeit: Die Demontage und Aushöhlung des Minderheitenschutzes und damit der jüdi­ schen Autonomie setzte wirksam spätestens in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ein. Der Völkerbund erwies sich als zu schwach und halbher­ zig, die Verletzungen der internationalen Verträge zu ahnden und entspre­ chende Sanktionen einzuleiten. Angesichts dieser Situation kamen die bereits aktiven Verfechter der jüdischen Minderheitenrechte, Leo Motzkin und Stephen Wise, zu der Einsicht, dass man nunmehr die jüdischen politi­ schen Kräfte in einer durchsetzungsstarken und zentralen Diasporavertre­ tung bündeln müsse, um die faktische Schutzlosigkeit der Juden zu been­ den.25 Diesem schloss sich Simon Dubnow rückhaltlos an.

23 Siehe ebd., 280–301. 24 Siehe Unity in Dispersion. A History of the World Jewish Congress, hg. vom World Jewish Congress, New York 1948, 28; siehe ebenso Arbeitsbericht des Comité des Délé­ gations Juives für das Jahr 1920/1921, eingeleitet und annotiert von Philipp Graf, in: Jahr­ buch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 4 (2005), 175–208. 25 Siehe Jilek, Nation ohne Territorium, 358.

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Die Verbreitung autonomistischer Ideen in Europa und Amerika Simon Dubnow hatte in den 1920er Jahren dennoch drei persönliche politi­ sche Erfolge zu verzeichnen: Einerseits hatte die Etablierung des internatio­ nalen Minderheitenschutzes durch den Völkerbund dazu geführt, dass die nicht unwesentlich vom Comité des Délégations Juives geprägten Schutz­ klauseln in den ostmitteleuropäischen Staaten den Aufbau einer kulturellen Autonomie und der nationalen Repräsentanzen der Juden ermöglicht hatten. Neben dieser internationalen Anerkennung de facto hatte sich der Autono­ mismus nunmehr auch in anderen Ländern Europas und sogar jenseits des Atlantiks verbreitet: In Polen, Litauen und in der Weimarer Republik waren nach dem Vorbild der Folkspartej autonomistische Parteien entstanden. Ins­ besondere war die Tatsache, dass auf deutschem Boden, im Herzen der »Assimilation«, sich eine solche Partei hatte etablieren können, ein nicht zu unterschätzender Erfolg. Es bedeutete die – wenngleich lediglich punk­ tuelle – Aufweichung der Differenzen zwischen Ost- und Westjudentum.26 Es stand auch für eine Loslösung der Idee des Schutzes der kollektiven Rechte durch national-kulturelle Autonomie aus ihrem partikularen osteuro­ päischen Kontext. Des Weiteren war in den Vereinigten Staaten Dubnows Politikansatz rezipiert worden. So war zum Beispiel in New York in den Jah­ ren 1908 bis 1922 ein Projekt entstanden, das die Gemeindestrukturen ent­ sprechend zu reformieren versuchte. Wichtiger aber noch war, dass Dub­ nows autonomistische Schriften mittlerweile auch im neu entstandenen American Jewish Congress wahrgenommen worden waren.27

26 Dieses Begriffspaar wurde von Dubnow in spezifischer Weise geprägt und konnotiert: Er deutete den ursprünglich pejorativ gebrauchten Begriff »Ostjudentum« um und wendete die ihm anhängende Zuschreibung von Inferiorität positiv mit Verweis auf die in der kol­ lektiven Identität der Juden Osteuropas erhalten gebliebene nationaljüdische Komponente. Kontrastierend füllte er den Begriff »Westjudentum« mit neuem Inhalt und verband ihn mit individueller Emanzipation und dem Verlust der nationaljüdischen Komponente der Kollektividentität. Er verwies so auf den tiefen Bruch hinsichtlich der unterschiedlichen Erfahrungswelten zwischen Juden in Mittel- und Westeuropa einerseits und den Judenhei­ ten im Osten Europas andererseits, die in der Folge in der Frage nach einer politischen Lösung der Situation der jüdischen Minderheiten immer wieder aufeinanderprallten. 27 Siehe Simon Dubnow, The Demand of the Jews, 1–8, hier 3. Als Mikrofiche einsehbar in der Public Library New York City, Dorot Division, Collection Jewish History. A Collec­ tion of Pamphlets. Eine Druckversion in englischer Sprache mit Aufdruck »American Jewish Congress, 122 E, 42nd Street, N. Y.« war im Besitz des American Jewish Con­ gress, verbreitet von der Jewish Publication Society of America, Philadelphia.

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Der Züricher Rat zum Schutz der jüdischen Minderheitenrechte 1927 Die zunehmende Missachtung der Minderheitenschutzbestimmungen sowie autoritäre Staatsstreiche in Osteuropa gaben für Motzkin und Dubnow den Ausschlag, im Jahr 1927 eine permanente jüdische Vertretung ins Leben zu rufen. Zwar scheiterte auf der Gründungskonferenz in Zürich die Verwirkli­ chung des eigentlichen Zieles, die Etablierung einer permanenten transnatio­ nalen Organisation, am Fernbleiben der Vertreter des akkulturierten und politisch etablierten Westjudentums. Lucien Wolf, einer der führenden Ver­ treter der britischen Juden, kritisierte das Vorhaben als eine »unverantwortli­ che internationale Organisation«.28 Jedoch entstand mit dem gewählten Rat zum Schutz der jüdischen Minderheitenrechte ein erstes mediäres internatio­ nal agierendes Steuerungsorgan, das die zahlreichen parallel unternomme­ nen Aktivitäten für jüdische Minderheitenrechte auf verschiedenen politi­ schen Ebenen koordinierte. Dubnow nahm in diesem Rahmen eine Führungsrolle ein: Er wurde zusammen mit Nahum Sokolow, Stephen Wise, Leo Motzkin und anderen in das Präsidium des Rats gewählt. Ebenso gehörte er als Vizepräsident dem Exekutivkomitee an, das unter der Leitung von Sokolow stand. Äußerst aktiv griff Dubnow in den erneut aufgebroche­ nen Konflikt zwischen Ost- und Westjudentum um die Organisierungsfrage ein.29 Zentral für diesen Konflikt war die Auseinandersetzung um kollektive Rechte in Form von nationalen Rechten, die von den einen in weiten Teilen eingefordert, von den anderen abgelehnt wurden. Der Streitpunkt war kei­ neswegs neu, hatte es doch im Rahmen der Pariser Friedenskonferenz ähnli­ che Konflikte gegeben, die seitdem nicht befriedet worden waren.30 Auch der Rat zum Schutz der jüdischen Minderheitenrechte blieb ein tem­ porär begrenzter Zusammenschluss. Es war nicht gelungen, ihn zu einer star­ ken Dachorganisation zu entwickeln, da er am erbitterten Widerstand der mittel- und westeuropäischen Organisationen aus Frankreich, Deutschland und England scheiterte, die die Forderung nach nationalen Rechten boykot­ tierten und ihre politische Vormachtstellung infrage gestellt sahen. Er schei­ terte aber auch durch Unstimmigkeiten zwischen der europäischen und der amerikanischen Fraktion im Rat selbst. Dennoch stellt der Rat zum Schutz der jüdischen Minderheitenrechte einen bedeutenden Schritt sowohl auf dem Weg zu einer gemeinsamen Diasporapolitik als auch zur Demokratisierung

28 Lucien Wolf, Zurich Conference on Jewish Rights. New Council Formed. Dr. Stephen Wise Indignant, in: The Jewish Guardian, Nr. 413, 26. August 1927, 3 f.; siehe auch ders., The New Diplomacy, in: ebd. (1927), o. A. 29 Siehe Jilek, Nation ohne Territorium, z. B. 327 f. und passim. 30 Ausführlich werden diese immer wieder aufflammenden Konflikte dargestellt in ebd., z. B. 312–322 und passim.

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der jüdischen international agierenden Politik für Minderheitenrechte sowie im Prozess der Schaffung einer zentralen Diaspora-Repräsentanz dar. Zum einen wurde erstmals eine demokratisch gewählte, transnational agierende Repräsentanz geschaffen, die verschiedene Judenheiten direkt vertrat. Diese Vertretung wies eine mehrgliedrige Binnenstruktur auf. Des Weiteren war der Kreis der Akteure, die sich auf verschiedenen politischen Ebenen für jüdische Minderheitenrechte einsetzten, bereits durch sie erweitert worden. Der Rat vernetzte zugleich zwei der drei wesentlichen Gruppen jener Zeit auf internationaler Ebene: Einerseits waren dies die jüdischen Politiker, die in unterschiedlichen Rollen und Kontexten innerhalb ihrer Diasporaländer aktiv waren, andererseits waren da die Ländervertretungen, wie die osteuro­ päischen Jüdischen Nationalräte und der American Jewish Congress, die bereits im Comité des Délégations Juives vernetzt waren. Davon grenzte sich die dritte signifikante Größe der internationalen jüdischen Diasporapolitik nach wie vor strikt ab. Es waren die westlichen traditionellen jüdischen Organisationen Frankreichs, Englands, Deutschlands und Amerikas – eben­ jene, die Dubnow als »Westjudentum« und »Assimilatoren« bezeichnete: die Alliance Israélite Universelle, das Board of Deputies, der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und das American Jewish Com­ mittee –, für die die Forderung nach nationalen Rechten völlig inakzeptabel und überzogen war.31

Eine »Weltorganisation für ein Weltvolk« – Simon Dubnow und der Jüdische Weltkongress Für die weitere Zentralisierung und Schaffung einer permanenten jüdischen Vertretung stützte man sich zunächst auf das renommierte noch bestehende Comité des Délégations Juives, das sich durch die Teilnahme an der Pariser Friedenskonferenz einen Namen gemacht hatte und auch beim Völkerbund in Erscheinung getreten war. Doch bereits 1931 hatte der American Jewish Congress dem osteuropäisch dominierten Comité des Délégations Juives die Federführung bei der Vorbereitung einer solchen zentralen Vertretung, die der Weltkongress war, weitestgehend aus der Hand genommen. Es war ein provisorisches Vorbereitungskomitee für den Jüdischen Weltkongress ini­ tiiert worden. Damit gab der American Jewish Congress der Idee eines Welt­ kongresses sein letztes Gepräge.

31 Siehe dazu ebd.

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Wenig später wurde die Zusammenlegung des Comité des Délégations Juives und des Vorbereitungskomitees für den Jüdischen Weltkongress voll­ zogen. Es entstand das Comité des Délégations Juives et Comité Exécutif pour le Congrès Juif Mondial.32 Die Fusion dieser beiden modernen politi­ schen transterritorialen jüdischen Organe, die in der internationalen Politik für die vollen Rechte der Juden – sowohl individuelle Bürgerrechte als auch nationale Rechte – eintraten, war für die innere Stärkung der jüdischen Dias­ porapolitik wie auch für deren Außenwahrnehmung von Bedeutung. Denn bis dahin hatte es immer wieder Verwirrungen in der internationalen Politik gegeben, da jüdische Repräsentanten für unterschiedliche Organisationen aufgetreten waren. Zudem waren nun auch die betroffenen Judenheiten Ost­ europas wieder direkt vertreten.33 Dubnow hatte sich sehr engagiert an der inhaltlichen Vorbereitung zum Jüdischen Weltkongress und an der Arbeit in den ersten Jahren von dessen Existenz beteiligt. Schließlich bedeutete die Schaffung dieser Vertretung nichts weniger als die Erfüllung seines politischen Programmes: der Grün­ dung einer gesamtjüdischen Vertretung. Seine Beteiligung war vielgestaltig, so wirkte er etwa an internen Richtungsdiskussionen, an solchen über orga­ nisatorische Fragen, wie die der Wahlmodi für den Weltkongress oder des Umgangs mit der Gegnerschaft zu diesem, mit.34 Er bekleidete einen der Spitzenposten innerhalb des Weltkongresses, fungierte als dessen Berater und beteiligte sich an der inhaltlichen Erarbeitung von Eingaben zum Min­ derheitenschutz an den Völkerbund. Er griff dezidiert in die Mobilisierung der Öffentlichkeit und in die Öffentlichkeitsarbeit für den Jüdischen Welt­ kongress ein. Darüber hinaus arbeitete er für die Organisation politisch rele­ vante Themen wissenschaftlich auf. Damit manifestierte er zugleich seine nationaljüdische Interpretation in der Historiografie und in den Sozialwis­ senschaften. Simon Dubnow hatte im Januar 1932 für die in den Vereinigten Staaten erscheinende Encyclopedia of the Social Sciences einzelne Beiträge, unter anderem über die jüdische Autonomie, verfasst. In seinem Abriss über das Thema hatte er das Faktum hervorgehoben, dass es dem jüdischen Volk gelungen war, trotz Zerstreuung in viele Länder der Welt seit mehr als 25 Jahrhunderten ein größeres oder kleineres Maß an Autonomie zu erreichen, angepasst an die sozialen und politischen Bedingungen der verschiedenen Länder und Epochen.35 Er hatte darin seine Theorie über die Wanderung der Zentren innerhalb der jüdischen Diaspora erneut bekräftigt. In der Darstel­ 32 33 34 35

Nachfolgend Vorbereitungskomitee. Siehe Jilek, Nation ohne Territorium, 352–361. Weiterführend siehe ebd., Kap. 4. Siehe Simon Dubnov, Art. »Jewish Autonomy«, in: Encyclopedia of the Social Sciences, hg. von Edwin R. A. Seligman und Alvin Johnson, 15 Bde., New York 1930–1967, hier Bd. 8, New York 1932, 391–393.

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lung der historischen Formen jüdischer Autonomie ging er auch auf den Rat der vier Länder ein, den er nunmehr den Waad ha-Arazot nannte – eine abstraktere Bezeichnung, die Motzkin dem American Jewish Congress kurz nach der Friedenskonferenz für die Bildung einer zentralen länderübergreif­ enden Vertretung der jüdischen Diaspora vorgeschlagen hatte. Deutlicher als zuvor stellte Dubnow die Anlehnung der Autonomiestrukturen an die vorge­ fundenen gesellschaftlichen Strukturen des jeweiligen Diasporalandes in der jeweiligen Epoche heraus. Des Weiteren nahm er eine Bewertung der jüngs­ ten Entwicklungen in der Durchsetzung nationaler jüdischer Minderheiten­ rechte seit dem Aufkommen der jüdischen Nationalbewegung vor. Dabei hob er seine eigene Rolle als theoretischer Begründer dieser Bewegung her­ vor. Hier wird einmal mehr die Verwobenheit der politischen Ansichten Simon Dubnows mit seinen geschichtswissenschaftlichen Einschätzungen zu Fragen der jüdischen Autonomie deutlich. Doch der Umstand, dass in dem hier angeführten wissenschaftlichen Bei­ trag Dubnows seine eigene Person als Akteur und Schlüsselfigur von ihm selbst eingeführt wird, verdeutlicht, wie Politik und Geschichtsschreibung in seinem Schaffen miteinander verschlungen sind. Darüber hinaus weist dies auf eine grundsätzliche Problematik in der Wissenschaft hin: auf die der Trennung von Subjekt und Objekt sowie der Konstruktion von Geschichte. Ferner stand Dubnow in regem Austausch mit den führenden Diaspora-Poli­ tikern und mit dem Vorbereitungskomitee des Weltkongresses. Insbesondere traf das für Leo Motzkin zu, mit dem er nicht nur politische Ansichten bezüglich des Minderheitenschutzes und der Diaspora-Organisierung teilte – es hatte sich zwischen ihnen auch eine Freundschaft entwickelt. Dass die Vorbereitungen zum Weltkongress vom American Jewish Congress über­ nommen worden waren und Stephen Wise Nahum Goldmann für dessen Vorbereitung eingesetzt hatte, machte interne Differenzen nun strukturell sichtbar: Motzkin spielte mit dem Gedanken, sich an diesen Vorbereitungen nicht länger zu beteiligen. Dubnow forderte von Motzkin dennoch eine aktive Rolle bei der Initiierung der Vorbereitungskonferenz zum Jüdischen Weltkongress ein. Allerdings vertrat er die Idee, dies im institutionellen Kontext des Rates für jüdische Minderheitenrechte zu tun, sah der Historiker darin doch in einem zeitlich weiter gefassten Rahmen dessen historische Bedeutung als erste demokratische transnationale jüdische Vereinigung. Sie besaß eine weitaus größere symbolische Zugkraft als das Comité des Délé­ gations Juives. Zwar nahm Dubnow die faktische politische Schwäche des Rates wahr, dem es nicht gelungen war, seine Tätigkeit zu stabilisieren und seine Rolle zu etablieren. Dennoch sah er im Rat die nicht infrage zu stel­ lende, weil legitimierte Nachfolgeorganisation des Comité. Simon Dubnow hatte Motzkin Folgendes für das weitere strategische Vorgehen zu bedenken gegeben:

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»1. Bei der heutigen besonders schwierigen Situation des jüdischen Lebens ist der Auf­ ruf für die Konferenz zur Vorbereitung eines internationalen jüdischen Kongresses not­ wendig. Wir müssen deswegen zeigen, dass die Juden bereit sind, gegen die Barbarei zu kämpfen. 2. Für die vorbereitende Konferenz reicht es vollkommen aus, Vertreter jener gesell­ schaftlichen Organisationen und Parteien einzuladen, die bereits Anteilnahme für die Sache zugesagt haben oder von ihren Programmen her die Linie teilen. 3. Diese Konferenz muss die Frage klären, ob wir alle jüdischen Organisationen zu dem Kongress einladen oder nur jene, die bereits auf dem Boden des Kampfes für die Rechte der jüdischen Minderheiten in allen Ländern stehen. 4. Für den Aufruf zur Teilnahme am Kongress an Organisationen müssen wir die Mög­ lichkeit besprechen, wie wir hinsichtlich des Schutzes der Rechte nicht nur der nationa­ len, sondern auch der religiösen jüdischen Minderheiten stehen. Auf diese Frage haben wir noch keine Antwort gegeben, ob wir Juden als Nation oder nur als Religion verste­ hen. Auch diese Kreise könnten sich in dieser Sache mit uns verbinden. 5. Nachdem die Vertreter über den Plan konferiert haben, was der Kongress zukünftig machen will, muss die Konferenz sich an das gesamte Judentum wenden, um für die Realisierung Hilfe zu erhalten: Das zu gründende gesamtjüdische überparteiliche Organ, das den Schutz der Interessen des Volkes zur Aufgabe hat, muss die eigene Arbeit mit der Arbeit des Völkerbunds und mit der aller anderen Organisationen der nationalen Minderheiten koordinieren. 6. Bezüglich des Streites [mit Stephen Wise/dem American Jewish Congress] sollte unser Rat [der jüdischen Minderheitenrechte] in der Initiative des Einberufens der Kon­ ferenz wie der Amerikanische Jüdische Kongress teilnehmen, ich schlage vor, dass wir uns jetzt nicht aus der aktiven Teilnahme zurückziehen, denn nach dem gescheiterten Plan, nach der Züricher Konferenz 1927 zu einer zweiten Konferenz aufzurufen, müs­ sen wir in der neuen Organisation die Möglichkeiten der Verwirklichung unseres Pro­ gramms suchen.«36

Leo Motzkin nahm schließlich an der Vorbereitung des Jüdischen Welt­ kongresses teil, um die Chance, auf dessen Gestaltung Einfluss zu nehmen, nicht aus der Hand zu geben. Allerdings tat er dies als Vertreter des Comité des Délégations Juives und nicht des Rates der jüdischen Minderheiten­ rechte, der aus seiner praktisch-organisatorischen Sicht zu einem bloßen Papiertiger degradiert worden war.37 In diesen Vorschlägen Dubnows wie auch in seiner jahrzehntelangen poli­ tischen Arbeit für eine Organisierung der Diaspora in Russland zuvor lässt sich erkennen, dass die Überwindung von innerjüdischen Differenzen zwi­ schen den politischen Strömungen und zwischen säkularem und religiösem Judentum im Interesse einer weltweiten Vertretung für ihn Priorität besaß. Dafür sprach nicht nur sein integrativer Appell, den bisher außen vor gelas­

36 Central Zionist Archives Jerusalem (nachfolgend CZA), A 126/681, Brief Simon Dub­ nows an Leo Motzkin (Komitee des Rates der jüdischen nationalen Minderheiten, Paris), Berlin, 24. Juni 1932 (maschinenschriftlicher Brief, russ.). 37 Siehe Jilek, Nation ohne Territorium, 373.

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senen religiösen Standpunkt in das Lager für eine zentrale jüdische Diaspo­ raorganisation zu integrieren und eine Vermittlung mit den sich bisher ableh­ nend verhaltenden Organisationen der akkulturierten Juden in Mittel- und Westeuropa zu suchen. Seine diplomatische, ausgleichende Position betraf auch die Unstimmigkeiten im eigenen Lager der Kongressanhänger, vor­ nehmlich zwischen dem eher osteuropäisch geprägten Comité des Déléga­ tions Juives und dem American Jewish Congress. Mit der Flucht Simon Dubnows vor den Nationalsozialisten aus Berlin nach Riga im Jahr 1933 änderte sich auch die Art seines Zugangs zu den internen Diskussionen im Vorbereitungskomitee zum Weltkongress. Hatte er während der Vorbereitungsphase zum Weltkongress über Motzkin eine unmittelbare persönliche Verbindung zum Vorbereitungskomitee pflegen können, war fortan nur noch die schriftliche Korrespondenz möglich, was den inhaltlichen Austausch erschwerte und die Kommunikation verlang­ samte. Trotzdem wurde Dubnow weiter mit internen Protokollen, Berichten und anderen Materialien des Weltkongresses versorgt. Aus der Korrespon­ denz zwischen ihm und dem Vorbereitungskomitee lässt sich erkennen, dass es eine stabile Verbindung und einen regelmäßigen Austausch in inhaltli­ chen Fragen gab.38 Für die 1932 stattfindende Vorbereitungskonferenz hatte Dubnow eine Einladung erhalten, konnte allerdings die Teilnahme nicht realisieren. Seine Grußworte wurden während der Konferenz von Nahum Goldmann verlesen. Sie ernteten großen Beifall und sollen hier angeführt werden: »Brüder und Schwestern! Mit ganzer Seele weile ich jetzt bei Euch, die Ihr in der Stadt, die zum Sinnbild der Völkerversöhnung werden soll, zusammengekommen seid, um den Kampf wider den nationalen Haß zu organisieren. Ihr tagt gerade in der Zeit, als in einem der kulturell am höchsten stehenden Zentren Europas der Aufruf der neuen Kreuzfahrer, der Träger des Hakenkreuzes, zur Ausrottung der Juden erschallt, als sich in den Straßen neue ›Judenschläger‹, würdige Nachkommen ihrer mittelalterlichen Vorfahren, breit gemacht haben. Ihr werdet Hilferufe auch aus anderen Ländern vernehmen, aus Län­ dern, wo unter dem Deckmantel liberaler Verfassungen das alte System der Unterdrü­ ckung der jüdischen Minderheit fortbesteht. In der Residenz des Völkerbundes werdet Ihr es vor aller Welt bezeugen, daß das von diesem Bund sanktionierte Prinzip der Gleichberechtigung der nationalen Minoritäten in vielen Ländern, insbesondere hin­ sichtlich der jüdischen Minorität, mit Füßen getreten wird. Nach dem Zeitalter der Emanzipation haben sich dunkle Mächte zum Ziele gesetzt, ein Zeitalter der Gegen­ emanzipation heraufzubeschwören. Diesen Mächten der Finsternis muß die geeinte Weltjudenheit entschlossen Widerstand leisten. Das Fünfzehnmillionenvolk, der Erbe der ältesten Kultur, besitzt geistige Kräfte genug, um die neue Epidemie des Antisemi­ tismus, die die ganze Welt zu verseuchen droht, erfolgreich bekämpfen zu können. Die 38 Siehe dazu die Quellenlage in ebd., passim.

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Stärke des jüdischen Volkes beruht darauf, daß seine Selbstverteidigung zugleich der Verteidigung der Sache der Menschheit, der ethischen Kultur gilt, die infolge des jüngs­ ten Völkergemetzels eine so schwere Erschütterung erfahren hat. Noch seid Ihr schwach an Zahl auf dieser vorbereitenden Konferenz, doch hege ich die Hoffnung, daß sich bald um das von Euch aufgepflanzte Banner alle lebendigen Kräfte des Judentums versammeln werden. Ihr seid dazu berufen, den Weg für eine Weltorganisation, für einen ständigen Jüdischen Kongress zu ebenen, der uns im Rate der Nationen vertreten und in dem internationalen Areopag, dem Völkerbund, unsere Interessen wahrnehmen soll.«39

Nach der Gründung des Jüdischen Weltkongresses 1936 war Simon Dubnow auf Vorschlag von Nahum Goldmann in dessen Administrativkomitee gewählt worden und gehörte ferner als Berater zu historischen Fragen des Minderheitenschutzes und der jüdischen Diaspora zu seinem inneren Kreis.40 In Dubnows Privatarchiv finden sich interne Dokumente und Zirku­ lare des Administrativkomitees aus den Jahren 1936 bis 1938. Unklar bleibt, ob er an Sitzungen teilgenommen hat, jedoch zeugen die Quellen von einer regen Korrespondenz.41 Auch mit den Präsidenten des Weltkongresses, Ste­ phen Wise und Julian Mack, pflegte er einen von Sympathie getragenen Kontakt. Er schätzte vor allem deren Leistung, die ideologischen Unter­ schiede der verschiedenen nationaljüdischen Strömungen – des Zionismus und des Diaspora-Nationalismus – versöhnt zu haben, während sie in ihm, dem in Lettland nunmehr räumlich isolierten, »einen der Freunde in der Ferne« sahen.42 Dubnows politische Nähe zu den führenden Persönlichkei­ ten des Jüdischen Weltkongresses lässt sich in wenigen Zeilen veranschauli­ chen, die er an Wise und Mack im Mai 1937 schrieb. Er hatte den beiden fol­ gende bemerkenswerte Grußnote anlässlich eines festlichen Banketts zum Jubiläum des American Jewish Congress zugesandt: »Den unermüdlichen Kämpfern für die große Synthese Golus [Galuth] und Zion, den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses Dr. Stephen Wise und Richter Julian Mack, sendet herzliche Jubiläumsbegrüßungen ihr ideologischer Combattant Simon Dubnow.«43 Dass Dubnow seinen internationalen Bekanntheitsgrad ein­ 39 Protokoll der Jüdischen Welt-Konferenz, Genf, 14. bis 17. August 1932, hg. vom Exeku­ tivkomitee für die Vorbereitung des Jüdischen Welt-Kongresses, Berlin o. J. [1932], 20. 40 CZA, C3/1700/3, 1er Congrès Juif Mondial Genève, Schlusssitzung, Sonnabend, den 15. August 1936, 23 Uhr 30, Präsident: Dr. N. Goldmann (Protokoll und Reden auf Deutsch); weiterführend siehe Jilek, Nation ohne Territorium, 4. Kap. 41 Weiterführend ebd. 42 Siehe Brief von Stephen Samuel Wise an Simon Dubnow vom 24. Mai 1937, in: ders., Stephen S. Wise. Servant of the People. Selected Letters, hg. von Carl Hermann Voss und mit einem Vorwort von Justine Wise Polier und James Waterman Wise, Philadelphia, Pa., 1969, o. A. 43 Central Archive for the History of the Jewish People Jerusalem (nachfolgend CAHJP), P1/17, Simon Dubnow, Den Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses (handgeschriebe­ ner Entwurf).

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setzte, um in der Öffentlichkeit für die Organisierung der jüdischen Dias­ pora und für den Jüdischen Weltkongress zu werben, hatte sich in Russland und mehr noch während seiner Berliner Exilzeit bis 1933 sowie in Riga als ausgesprochen förderlich erwiesen, hatte er auf diese Weise doch Einfluss auf die jüdische Presse und deren Leserschaft in russischer, hebräischer, englischer und deutscher Sprache genommen. Er hatte sich diesbezüglich mit politischen Statements zur Diaspora-Organisierung unter anderem in Zeitungen wie der Jüdischen Rundschau in Berlin, der Evreiskaja Tribuna in Paris, den New Yorker Zeitungen Forverts und Tog und in den Bulletins der Jüdischen Telegraphen Agentur zu Wort gemeldet.44 Außerdem konnte er dies trotz seiner räumlichen Distanz zum Jüdischen Weltkongress und dem Zentrum der internationalen Politik in Genf neben seiner wissenschaft­ lichen Arbeit in Riga leisten: So warb er 1934 für die Dritte Vorbereitende Jüdische Weltkonferenz.45 In seinem Aufruf appellierte Dubnow an alle jüdi­ schen »ehrlichen Parteien«, jenseits der Parteizugehörigkeit ihren Mitglie­ dern die Freiheit zu geben, sich an jenem »überparteilichen Kongress« zu beteiligen.46 »Der Kongress wird beweisen, wie viel Lebensenergie im ältes­ ten Kulturvolk der Welt noch geblieben ist, das alle stürmischen Zeiten der Weltgeschichte überstanden hat.« Parallel zur Einreichung eines Memoran­ dums beim Völkerbund angesichts der Bedrohungen für die Juden in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, hatte er 1935 angesichts der systematischen Ausgrenzung der Juden aus der deutschen Gesellschaft einen Aufruf verfasst, der die Bedeutung und Notwendigkeit einer Weltorganisa­ tion für das jüdische Diasporavolk in dieser Situation verdeutlichte. Dubnow ging auf die zugespitzte Lage in Deutschland ein, »einem Kulturland in Europa«, wo den Juden durch die Nürnberger Gesetze seit September des Jahres »alle Menschen- und Bürgerrechte« genommen waren.47 Er sah »eine halbe Million Juden in eine niedere fremde Rasse oder eine Paria-Kaste ver­ wandelt, ausgestoßen aus der […] Gesellschaft«. Der Historiker bezeichnete dies als eines der größten Verbrechen in der Weltgeschichte. Wenige Monate vor der Gründung des Weltkongresses im Jahr 1936 warb er in der Zeitschrift Di Tsukunft noch einmal wirkungsvoll für den zentralen Diaspora-Kongress.

44 Siehe Jilek, Nation ohne Territorium, passim. 45 CAHJP, P1/(P)17, Simon Dubnow, Zu wos a jidischer weltkongresn? [Wozu ein jüdischer Weltkongress?]. 46 Für dieses und das folgende Zitat: CAHJP, P1/P17, Dubnow, Zu wos a jidischer weltkon­ gresn, Riga, Februar 1934 (maschinenschriftlich, jiddisch). Abgedruckt im selben Jahr in: Der jidischer weltkongres 1–2 (1934). 47 Für dieses und die folgenden Zitate: YIVO Institute for Jewish Research, New York (YIVO), RG 87, fol. 77044–77058, Simon Dubnow, A welt-organisazie far a welt-folk [Eine Weltorganisation für ein Weltvolk], November 1935 (handschriftliches Manuskript, jidd.), Bl. 77044–77058.

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Das Manuskript war zeitlich so platziert worden, dass es den größten politi­ schen Effekt erzielte. Dubnow war in seinem Aufruf Eine Weltorganisation für ein Weltvolk neben Deutschland auch auf andere Länder eingegangen, »die Staaten von kleinem Maßstab, die ihre Zusagen in den Jahren 1919– 1920 ganz und gar vergessen haben und meinen, ein Faschistenregime [gemeint sind etwa Lettland und Litauen] befreit sie von ihren internationa­ len Verpflichtungen. Auch diesen Aktionen soll man weiter Widerstand des Völkerbunds entgegensetzen.«48 Er forderte dringlich die Einberufung des Jüdischen Weltkongresses für den Sommer: »[W]ir haben schon 15 Jahre für die Organisierung einer jüdischen Repräsentanz beim Völkerbund verlo­ ren. Wir hätten sie bereits 1920 schaffen sollen, parallel zur Gründung des Völkerbunds«, denn nun sei Gefahr in Verzug – »periculum in mora«.49 Des­ halb sei mittlerweile nicht mehr wichtig, welche Organisationen sich noch weigerten, den Jüdischen Weltkongress mit zu gründen – »sollen sie doch außerhalb des Lagers Israel bleiben.«50 Der Aufruf Dubnows zum Weltkon­ gress wurde auch in anderen jüdischen Zeitschriften nachgedruckt.51 In einem Artikel für die Wiener Zeitung Die Stimme hatte er des Weiteren im Frühjahr 1937 den Schutz der jüdischen Minderheiten zum Thema gemacht. Dubnow hatte in diesem Zusammenhang auf das vom Weltkongress erarbei­ tete und dem Völkerbund übermittelte Memorandum des Vorjahrs rekurriert, bei dem es sich um eine Zusammenstellung von Verstößen gegen die Min­ derheitenschutzregelungen in den europäischen Ländern handelte. Er unter­ strich hier die Forderung, dass der Minderheitenschutz für alle gegenwärti­ gen und zukünftigen Mitglieder des Völkerbunds obligatorisch sein müsse.52 Während seines langjährigen Engagements für eine Diaspora-Organisie­ rung hatte Dubnow sich immer wieder öffentlich zu den Gegnern dieser Idee geäußert.53 Dieser innerjüdische Konflikt schwelte seit der Pariser Friedens­ konferenz und brach in Abständen aus. Zu den Gegnern des Weltkongresses zählte auch der Jüdische Arbeiterbund, ein langjähriger politischer Widersa­ cher des jüdischen Nationalismus aus Prinzip: Für den Bund war der Klas­ 48 49 50 51

Ebd., Bl. 77056. Ebd., Bl. 77057 (Hervorhebung im Original). Ebd. Dubnow, A welt-organisazie far a welt-folk, z. B. nachgedruckt in: Di tsukunft (Januar 1936), 28–30. 52 Siehe ders., Der Schutz der jüdischen Minderheiten, in: Die Stimme, 2. März 1937 (19. Adar 5697), 1 f. 53 Etwa in markanter Weise anlässlich der Züricher Konferenz, siehe in: YIVO NYC, Simon Dubnow Collection, Jewish Telegraphic Agency (JTA) Berlin, Bl. 76279, Simon Dubnow, Über die Bedeutung und die Resultate der Züricher Konferenz, JTA-Nachrichten 6, Nr. 200, 31. August 1927 (Agenturmeldung); siehe ebd., Bl. 76251–76253, Simon Dub­ now, Vegn der bedeitung un di resultatn fun der rechtschuz-konferenz in zurich [Zur Bedeutung und den Ergebnissen der Rechtsschutz-Konferenz in Zürich], 30. August 1927.

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senstandpunkt bindend und die Nation spielte keine übergeordnete Rolle. Dubnow erneuerte seinen Vorwurf aus der Zeit in Russland, die Organisa­ tion isoliere sich durch ihre politische Ablehnung der nationaljüdischen Ein­ heit, insbesondere durch die Absage an nationaljüdische Diasporavertretun­ gen wie den Weltkongress, sowie der Wiederbesiedlung Palästinas, in der er zu diesem Zeitpunkt »das größte Wunder der jüdischen Geschichte« sah. Gerade angesichts des wachsenden Antisemitismus und der weltweiten Reaktion sei die nationaljüdische Einheit nötiger denn je.54 Simon Dubnow hatte im Jahr 1938 unter anderem an einem Memorandum des Jüdischen Weltkongresses für den Völkerbund zum Schutz der Juden in Polen mitgearbeitet. Dabei war es zwischen ihm und Nahum Goldmann zum engen Kontakt gekommen.55 Angesichts des aufziehenden Zweiten Weltkriegs und der Beistandsabkommen einiger europäischer Nationen hatte er 1939 erneut die Initiative ergriffen. Er sah, dass das jüdische Volk beson­ ders bedroht war, weil es als nicht staatsförmige Nation von derartigen Bei­ standsabkommen per se ausgeschlossen war. Er forderte daher das Exekutiv­ komitee des Jüdischen Weltkongresses in Paris und den American Jewish Congress sowie auch die jüdische Öffentlichkeit auf, eine Internationale Liga gegen die Aggression gegen das jüdische Volk zu gründen.56 Die Tatsa­ che, dass Dubnow diesen Appell nicht nur an den Weltkongress, sondern zugleich an die amerikanische Vertretung gerichtet hatte, zeigt, dass er den Weltkongress als zentrale Vertretung noch nicht vollständig etabliert sah. Dies illustriert auch seine scharfe Kritik am Leitungsgremium der Organisa­ tion, das trotz eines vorliegenden Beschlusses und in Anbetracht der drama­ tischen Notlage in der Diaspora die Arbeit zum Schutz der Juden seiner Mei­ nung nach nur ungenügend intensiviert hatte.57 Mit dem Jahr 1939 verliert 54 Simon Dubnow, Vegn der izolatsie fun »bund« un der tsiyonistisher folksbavegung (a briv tsu a bundistishn fraynd) [Über die Isolation des »Bunds« und über die zionistische Volks­ bewegung (ein Brief an einen bundistischen Freund)], in: Di tsukunft (Juni 1938), 329; siehe ebenso Sophie Dubnov-Erlich, The Life and Work of S. M. Dubnov. Diaspora, Nationalism and Jewish History, Bloomington, Ind., 1991, 229. 55 Siehe die folgenden Briefe von 1938 zwischen Dubnow und dem Jüdischen Weltkongress in CAHJP, P1/16, Goldmann, Nahum, Brief an Simon Dubnow (mit einem Bericht N. Goldmanns über die Sitzung der Juridisch-Politischen Kommission der Union der Völker­ bundsligen in London, Paris, 22. Februar 1938), 23. Februar 1938, Paris (dt., 4 Seiten); ebd., P1/16, Nahum Goldmann and Comité Exécutif pour le Congrès Juif Mondial Paris, an Professeur Simon Doubnov, Riga, 23. Mai 1938, Paris; ebd., P1/16, Gourfinkel, Nina und Congrès Juif Mondial Paris, Cher Simon Marcovitch … Brief an Simon Dubnow, Riga, Meza Parks, 68 Meza Prospekt, 23. Mai 1938. 56 Simon Dubnow, Internazionale lige kegn agresie oifn idischn folk (oifruf) [Internationale Liga gegen die Aggression gegen das jüdische Volk (Aufruf)], in: Der tog, 13. Mai 1939. 57 AJACO (American Jewish Archives, Cincinnati, Ohio), World Jewish Congress Collec­ tion, Series A, Box 3, file 1, Simon Dubnow, Brief an das Exekutivkomitee des Jüdischen Weltkongresses Paris, 14. Mai 1939, Riga (deutsche Übersetzung vom Exekutivkomitee).

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sich anscheinend der Kontakt zwischen Dubnow in Riga und dem Weltkon­ gress. Als Mitglied des Administrativkomitees des Weltkongresses hatte Dubnow um die Jahreswende 1938/39 die Einladung für die kommende Sit­ zung kurz nach Jahresbeginn erhalten.58 Er teilte Goldmann im Pariser Büro des Exekutivkomitees des Weltkongresses mit, dass er »keine Möglichkeit [haben werde], zur Sitzung unseres Administrativkomitees [zu kommen]«.59 Bei diesem Brief handelt es sich um eines der letzten aufgefundenen Schrift­ stücke in Dubnows Materialien in Verbindung mit dem Weltkongress. Ob er auch in seinen letzten beiden Lebensjahren, die von der sowjetischen und der für die Juden schicksalhaften deutschen Besatzung Lettlands geprägt waren, den Kontakt zum Jüdischen Weltkongress halten konnte, bleibt unge­ klärt, ist aber unwahrscheinlich.

Schlussbemerkungen: Zur Bedeutung der politischen Tätigkeit Simon Dubnows Dubnow kann als politischer Historiker wie auch als historisch argumentie­ rende politische Persönlichkeit betrachtet werden. Sein politisches Pro­ gramm des Autonomismus und seine Geschichtsinterpretation im Sinne des Diaspora-Nationalismus bildeten einen eng ineinander verwobenen und sich gegenseitig beeinflussenden Zusammenhang auf der Basis von Motivation und Inspiration. Dubnows Blick auf die jüdische Gegenwart und Zukunft war somit ein Plädoyer für eine Anknüpfung an die vormoderne Autono­ mietradition in moderner, säkularisierter und demokratischer Form. Heraus­ zuheben ist die zentrale Rolle, die dabei vor allem die mehrstufige Autono­ miestruktur Polen-Litauens mit dem Waad ha-arazot an der Spitze für ihn spielte. Die im Einzelnen disparat erscheinenden politischen Aktivitäten des His­ torikers im Verband zur Erlangung der Gleichberechtigung für das jüdische Volk in Russland, in der Folkspartej, dem Rat zum Schutz der jüdischen Minderheitenrechte und später im Jüdischen Weltkongress ergeben unter dem Aspekt der Diaspora-Organisierung ein durchaus kohärentes Bild sei­ ner politischen Ziele. Vergleicht man die Programmatik des Jüdischen Weltkongresses nach sei­ ner Gründung 1936 mit den Vorstellungen von einer »jüdischen Organisie­ 58 CAHJP, P1/16, Nahum Goldmann and Comité Exécutif pour le Congrès Juif Mondial Paris, Invitation aux membres du Comité Administratif du Congrès Juif Mondial, 14. Dezember 1938 Paris (offizielle Einladung). 59 Ebd., Brief Simon Dubnows an Nahum Goldmann vom 10. Januar 1939 Riga (jidd.).

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rung«, die Dubnow 1901 in seinem Brief zum Autonomismus dargelegt hatte, entspricht sie – bis auf die Brüche angesichts des Nationalsozialismus und der mit der Balfour-Erklärung realistischeren Aussicht auf einen jüdi­ schen Staat in Palästina – in wesentlichen Punkten Dubnows politischem Programm. Der Weltkongress nannte neun Schwerpunkte: 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.

Schaffung einer legitimen und permanenten Repräsentanz für das jüdischeVolk Verteidigung der nationalen und bürgerlichen Gleichberechtigung der Juden Wiederherstellung der Gleichberechtigung der deutschen Juden Kampf gegen Antisemitismus Schaffung der Grundlagen einer jüdisch-ökonomischen Politik Rationalisierung und Demokratisierung der jüdischen Hilfsarbeit Schaffung der Grundlagen einer jüdischen Emigrations- und Kolonisationspolitik Schaffung eines Volksfonds zur Finanzierung der genannten Aufgaben und Beteiligung am Aufbau Palästinas60

Sieht man von dem dritten und neunten Programmpunkt ab, die sich aus der veränderten politischen Situation in Deutschland sowie in Palästina ergaben, kann auf die erstaunliche Übereinstimmung des Programms des Jüdischen Weltkongresses mit Dubnows Forderungen hingewiesen werden, die er im Autonomismus-Konzept nach und nach herausgearbeitet hatte und für die er sich auf seinem politischen Lebensweg in den verschiedenen, meist von ihm mit initiierten und inhaltlich maßgeblich mitgeprägten jüdischen Vereinigun­ gen, Parteien und ersten jüdischen Zusammenschlüssen internationaler Art eingesetzt hatte – vom Komitee der Nationalisierung im zarischen Imperium über die nach der Revolution von 1905 etablierte Folkspartej bis hin zum Rat zum Schutz der jüdischen Minderheitenrechte 1927 und schließlich den Jüdischen Weltkongress. Zentrale Ziele waren für Dubnow über Jahrzehnte hinweg die Schaffung einer gesamtjüdischen Organisation für die Diaspora und die nationale und bürgerliche Gleichberechtigung der Juden. Ebenso hatte er bereits in Russland angesichts der Pogrome die selbstbewusste Organisierung von jüdischem Selbstschutz gegen antisemitische Angriffe und Diskriminierung gefordert und sich für die Umsetzung engagiert. Dazu zählten auch die Dokumentation antisemitischer Vorfälle sowie die Bereit­ stellung dieser Materialien für die internationale Berichterstattung.61 Die zu schaffende jüdische Gesamtorganisation sollte sich laut Dubnow allen Bereichen des jüdischen Lebens – also auch wirtschaftlichen, kulturellen,

60 Siehe CZA, A 127/148, Comité des Délégations Juives et Comité Exécutif pour le Cong­ rès Juif Mondial (Paris), Protokoll der Plenarsitzung des Exekutivkomitees, 22. Februar 1936, 4 (vertrauliches Protokoll, dt.). 61 Diese ereigneten sich z. B. in der Folge des Pogroms in Kischinjow 1903 während seiner Zeit im Komitee der Nationalisierung; siehe hierzu Jilek, Nation ohne Territorium, 197– 205; sowie Dubnow, Buch des Lebens, Bd. 1, Kap. 40.

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politischen, finanziellen und institutionellen Aspekten – zuwenden und sie strukturieren. Dubnows Perspektive auf Palästina hatte sich im Lauf der Jahre stark ver­ ändert: Waren die Zionisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts in seinen Augen noch Utopisten, die die jüdische Nationalbewegung in eine falsche Richtung lenkten, weil sie die in der Gegenwart zur Durchsetzung und zum Schutz der kollektiven Rechte nötigen Kräfte für ein reines Zukunftsprojekt abzogen, akzeptierte und schätzte Dubnow später mehr und mehr die Orga­ nisationsfähigkeit und die Ergebnisse dieser Bewegung. Sie hatte sich schließlich weltweite Geltung verschafft, eine Weltorganisation hervorge­ bracht und die Balfour-Erklärung für eine jüdische Heimstätte in Palästina durchgesetzt. So hatte er den zunächst offenen politischen Widerspruch zwi­ schen Zion und Galuth, der sich auch in seinem Denkmodell geäußert hatte, durch das Zugehen auf die Zionisten, durch eine Synthetisierung in seinem Modell harmonisiert. Palästina war für Dubnow von jeher ein unbestritten wichtiger – wenngleich nicht der wichtigste – nationale Referenzpunkt gewesen. Er betrachtete das Land als ein wertvolles geistiges Zentrum für die Erneuerung der jüdischen Kultur der gesamten Diaspora. Vor allem seit dem Anwachsen des europäischen Antisemitismus und dem Scheitern des Minderheitenschutzes in Europa in den 1920er und 1930er Jahren begann Dubnow, die Perspektive Palästina aufzuwerten.62 Ebenso hatte Dubnow angesichts der einsetzenden Massenemigration nach den Pogromwellen vornehmlich im Süden Russlands frühzeitig ein zentrales jüdisches Planungs- und Koordinationsorgan vorgeschlagen, um den Exodus in die richtigen Bahnen zu leiten. Auch bei der Organisierung und Koordinie­ rung der Hilfsmaßnahmen für jüdische Flüchtlinge innerhalb des Ansied­ lungsrayons während des Ersten Weltkriegs hatte er sich engagiert.63 Spätestens seit dem Tod Leo Motzkins und der Übernahme der formellen Positionen durch Nahum Goldmann im Jahr 1933 löste, so ließe sich sagen, die westliche, vornehmlich amerikanische Diaspora den Autonomismus aus seiner osteuropäischen Verankerung und seinem osteuropäischen Ursprungs­ kontext und gab der Organisierungsidee eines gesamtjüdischen Kongresses ihr letztes Gepräge – das einer modernen transnationalen jüdischen Vertre­ tung. Gleichwohl liegen die ideellen Wurzeln des Autonomismus in jenen frühen osteuropäischen Konzepten, die sich aufgrund der dort erhalten gebliebenen national-kollektiven jüdischen Identität gebildet hatten. Dies

62 Siehe dazu vor allem Dubnows Korrespondenz aus seinen letzten Lebensjahren; vgl. Grit Jilek, »Alle Wege sind mir versperrt«. Simon Dubnows Brief aus Riga, März 1941, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 6 (2007), 339– 359. 63 Weiterführend dazu siehe dies., Nation ohne Territorium, 259 und passim.

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bedeutet nicht zwangsläufig die Zurückführung auf Dubnow. Wohl aber hat Simon Dubnow im Prozess der Ausbreitung autonomistischer Ideen in der Diaspora, die sich seit der Jahrhundertwende ausgehend von Osteuropa in Richtung Westen vollzog, eine zentrale Rolle gespielt. Sein Konzept, das, wie ausführlich beschrieben, die Ausbildung einer national-kulturellen Autonomie in den Diasporaländern ebenso wie die Bil­ dung einer transnationalen Vertretung vorsah, stieß aufgrund der Tatsache, dass es in hohem Maße vom guten Willen der einzelnen Staaten abhing, schnell an Grenzen. Damit ursächlich verbunden ist auch die schwache Aus­ prägung der einzig potenziell sanktionierenden supranationalen Institution – des Völkerbunds. Der Jüdische Weltkongress wurde zu einer wichtigen strukturgebenden Vertretung der Juden, wenngleich ihm die von Dubnow und Motzkin zugedachte formelle Gleichstellung mit staatsförmigen Natio­ nen auf internationaler politischer Ebene nie zugestanden wurde. Ursache dafür war die Ausrichtung der internationalen Politik auf souveräne Staaten. Trotzdem kann in Zeiten der nationalstaatlichen Weltordnung die transnatio­ nale Organisierung als ein adäquates, jedoch begrenztes Mittel einer nicht­ staatlich verfassten Gruppe betrachtet werden, ihre kollektiven Rechte zu schützen. Diese Begrenztheit wurde durch die spätere Gründung des jüdi­ schen Staates wettgemacht. Simon Dubnow, der als Schöpfer der Autonomismus-Bewegung gilt, kann dennoch für sich beanspruchen, den modernen Minderheitenschutz entschei­ dend beeinflusst zu haben. Denn mit den Minderheitenschutzverträgen wurde im Zuge der Pariser Friedenskonferenz im Wesentlichen ein zunächst partikular osteuropäisch-jüdisches Politikkonzept universalisiert und völker­ rechtlich fixiert. Die neu geschaffenen beziehungsweise territorial veränder­ ten Staaten Osteuropas realisierten damit die nunmehr zum Allgemeinplatz gewordenen autonomistischen Vorstellungen, ohne freilich selbst deren Ursprung immer zu kennen. Erst der Blick auf die jüdische Minderheiten­ diplomatie in Paris, die mit dem Comité des Délégations Juives und dessen Vorsitzendem Leo Motzkin verbunden ist, legt schließlich den Zusammen­ hang mit Dubnows Ideen einer umfänglichen Diaspora-Organisierung frei. Sowohl das Comité des Délégations Juives als auch der Rat zum Schutz der jüdischen Minderheitenrechte besaßen mit ihren im russländischen Kontext geprägten Führungspersönlichkeiten – Nahum Sokolow, Leo Motzkin, Simon Dubnow und anderen – osteuropäische Botschafter eines kollektiven, nationaljüdischen Emanzipationsmodells, die Ideen aus dem Osten im Wes­ ten darstellten und so für die gesamte Diaspora diskutabel machten. Wenngleich spätestens mit den frühen 1930er Jahren der Minderheiten­ schutz in Osteuropa als vorerst gescheitert galt, konnte doch die autono­ mistische Bewegung zumindest auf die völkerrechtliche Verankerung ihrer Kollektivforderungen zurückblicken. Sie entfaltete darüber hinaus ihre

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Grit Jilek

Wirksamkeit in einem weiteren Bereich der politischen Vertretung der jüdi­ schen Diaspora: Sie hatte wesentlich den Boden für den Aufbau einer zent­ ralen transterritorialen Diasporarepräsentanz mit vorbereitet und ihr zum Durchbruch verholfen. Die Schaffung des Jüdischen Weltkongresses bedeu­ tete die faktische Umsetzung einer weiteren zentralen Forderung des dub­ nowschen Autonomismus – die Etablierung eines gesamtjüdischen Kongres­ ses. Der Jüdische Weltkongress war mit seiner Gründung an mehreren Orten zugleich präsent und verfügte mit seinen Büros in New York, Paris und Genf über Vertretungen auf dem europäischen und amerikanischen Kontinent. Das dem Diasporaphänomen innewohnende Element der räumlichen Paral­ lelität lässt ihn in gewisser Weise und trotz seiner nationalen Ausrichtung als Vorläufer der internationalen Organisationen erscheinen, da seine trans­ territoriale Struktur doch eher diesen als den zeitgenössischen staatsförmi­ gen nationalen Repräsentationen gleicht. Der Autonomismus Dubnows ist heute aktueller denn je, bietet er in der Zeit der Globalisierung und Diasporisierung doch zahlreiche Anknüpfungs­ punkte für andere globale Diasporagesellschaften, etwa die afrikanische Diaspora, die nicht unerheblich durch den Sklavenhandel entstanden ist.64

64 Siehe ebd., 467–476.

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Aus der Forschung

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Profil einer Renegatin: Ruth Fischers exemplarische Biografie Um 1900 wurde in Europa eine Generation geboren, die der Erste Weltkrieg aus dem »goldene[n] Zeitalter der Sicherheit« reißen sollte.1 Der Bruch mit festgefügten Traditionen, die hieraus erwachsende »Brüchigkeit«2 aller Erfahrung überhaupt und das Gefühl »als schwebe [die Welt] zusammen­ hanglos im Nichts«3 wurden zu prägenden Kriterien jener Zeit. Hannah Arendt hat dies am Beispiel Bertolt Brechts eindrucksvoll beschrieben. Auf der Suche nach Orientierung gewannen die ideologischen Ordnungssysteme des frühen 20. Jahrhunderts für viele Angehörige dieser »verlorenen Gene­ ration« an Attraktivität und nicht wenige suchten ihr Bedürfnis nach Zuge­ hörigkeit und Sicherheit in der kommunistischen Bewegung. Wenngleich einige ihrer Protagonisten später mit dieser Bewegung brachen, so war die kommunistische Prägung gerade aus den genannten Gründen von nachhalti­ ger Wirksamkeit für ihr Denken und Handeln. Es ist die Geschichte dieser »Renegaten«, »Abtrünnigen« und »Überläufer« im »Jahrhundert der Ext­ reme« (Eric Jonathan Hobsbawm), der dieser Text sich am Beispiel der Vita Ruth Fischers annähern will. Als Renegaten wurden jene Personen denunziert, die den Kurs der Partei­ führung nicht in vollem Umfang mittrugen und von ihrem Glauben an die kommunistische Bewegung abgekommen zu sein schienen.4 Dabei ist zu fra­ gen, von wem diese Stigmatisierung ausging. Dies ist wesentlich bedeutsa­ mer als »ideengeschichtliche oder philologische Ableitungen«.5 Die Suche nach einer Antwort führt in nahezu allen Fällen nach Moskau in die Zentrale der russischen KP. Größtenteils waren es die Kritik an der Person Stalins und die Proteste gegen den als »Stalinisierung« bezeichneten Prozess der Unterordnung der Internationalen Sektionen der Kommunistischen Interna­ tionale, der Komintern, die einen Kommunisten zum »Renegaten« machten. 1 2 3 4 5

Stefan Zweig, Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt a. M. 2 2011, 15 (zuerst 1944). Hannah Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, München 2012, 272. Ebd., 289. Michael Rohrwasser, Der Stalinismus und die Renegaten. Die Literatur der Exkommunis­ ten, Stuttgart 1991, 27. Oskar Negt/Alexander Kluge, Bürgerliche und Proletarische Öffentlichkeit, in: Marcus S. Kleiner (Hg.), Grundlagentexte zur sozialwissenschaftlichen Medienkritik, Wiesbaden 2010, 207–228, hier 210. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 491–521.

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Die Hochphase dieses Konflikts und die aus ihm resultierende Abkehr vom sowjetischen Kommunismus lagen zwischen 1928 und 1939, dem Jahr des Beginns des Zweiten Weltkriegs. Sie setzte ein mit der weitgehend erfolg­ reich durchgesetzten Stalinisierung der Komintern und ihrer Sektionen in der zweiten Hälfte der Zwanzigerjahre, erstreckte sich über die Dreißiger­ jahre – wobei der Spanische Bürgerkrieg und die Moskauer Schauprozesse zwei Wegmarken darstellten – und erreichte ihren Zenit in dem Moment, als die kommunistische Führung in Moskau mit dem nationalsozialistischen Deutschland einen Pakt schloss, der in den Reihen der Kommunisten die Zweifel am eingeschlagenen Kurs wie kein zweites Ereignis nährte. Viele, die in dieser Zeit mit der Bewegung brachen, nahmen im Anschluss den Kampf gegen den Stalinismus auf, wobei die Motive unterschiedlicher Natur waren. Nicht wenige wurden überzeugte Antikommunisten, andere verstan­ den sich weiterhin als Kommunisten und suchten lediglich eine Alternative zur stalinistischen Linie. Nahezu alle Abtrünnigen, ob aus eigenem Antrieb oder wider Willen, wurden von Stalin und seinem Apparat verfolgt. Aus manchen Verfolgten wiederum wurden Verfolger, so auch aus Ruth Fischer. Auf ihre Biografie trifft die oben gegebene Charakterisierung der »verlo­ renen Generation« eindrücklich zu, weswegen sie sich für eine Annäherung an die Figur des »Renegaten« besonders eignet.

Kommunismus als Weltanschauung Ruth Fischers Entwicklung ist untrennbar verbunden mit dem jüdischen Milieu Wiens, in das sie als Kind zusammen mit ihrer Familie aus Leipzig übersiedelte. Die Donaumetropole war die Heimatstadt ihres Vaters Rudolf Eisler, der einer gut situierten jüdischen Familie mit Prager Wurzeln ent­ stammte. Dessen Vater, Ferdinand Eisler, war wohlhabender Besitzer einer Textilmanufaktur in Böhmen6 und heiratete Mitte des 19. Jahrhunderts Rosa Meyer, deren Familie ebenfalls aus Prag stammte, jedoch abwechselnd auch in Wien und Paris lebte. Neben Rudolf, der am 7. Januar 1873 in Wien gebo­ ren wurde, hatten Ferdinand und Rosa Eisler zwei weitere Söhne, Gaston und Armand. Der materielle Wohlstand der Familie Eisler ermöglichte es Rudolf Eisler, zuerst in Prag und dann in Leipzig bei dem Philosophen und Psychologen Wilhelm Wundt Philosophie zu studieren.7 Während seines 6

Ruth Fischer, Autobiographical Notes. Summary (1944), in: dies./Arkadij Maslow, Ab­ trünnig wider Willen. Aus Briefen und Manuskripten des Exils, hg. von Peter Lübbe, München 1990, 442–477, hier 443. 17 Ruth Fischer Memoirs by Her Son Gerard Friedländer. Unveröffentlichtes Manuskript,

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Profil einer Renegatin

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Studiums in Leipzig hatte er ein Zimmer im Hause der Fischers gemietet, wo er auch Ruth Fischers spätere Mutter Maria Ida kennenlernte.8 Deren Vater Carl Alexander Fischer war der Sohn von Margarethe Räpple und der Adoptivsohn ihres späteren Ehemanns Anton Fischer, der in einem Dorf nahe dem pfälzischen Ludwigshafen einen prosperierenden landwirtschaftli­ chen Betrieb führte.9 Nach einer Lehre als Fleischer ging Carl Alexander Fischer nach Leipzig, wo er eine Anstellung in einer Schlachterei fand.10 Die Fischers waren nichtjüdisch und gehörten der Arbeiterklasse an, was in erheblichem Kontrast zur bürgerlichen Lebenswelt der Eislers stand.11 Der Haushalt, in dem Ida Maria Fischer aufgewachsen war und in dem Rudolf Eisler während seines Studiums unterkam, kann als dezidiert sozialdemo­ kratisch beschrieben werden.12 Die unterschiedliche soziale Herkunft prägte das Verhältnis zwischen Rudolf Eisler und Maria Ida Fischer, ihre Bezie­ hung musste gegen den Widerstand von Rudolfs Elternhaus durchgesetzt werden. Ferdinand Eisler sprach sich entschieden gegen eine Ehe mit einer Frau aus der Arbeiterklasse aus, und einmal mehr, weil sie nichtjüdischer Herkunft war.13 Diese Vorbehalte gegenüber Maria Ida Fischer nahmen auch nach der Hochzeit am 27. Juli 1896 nicht ab. So blieb es ihr noch Jahre spä­ ter versagt, an den Besuchen der Kinder bei den Großeltern väterlicherseits teilzunehmen.14 Diese Ablehnung spürte auch Ruth Fischer in besonderer Weise. Noch Jahre später reflektierte sie diese frühesten Erfahrungen mit sozial bedingter Diskriminierung.15 In Wien, wohin die Eltern mit der Tochter und den beiden Brüdern Ger­ hart und Hanns Eisler 1901 übergesiedelt waren, traten die Ruth Fischer prä­ genden Unterschiede zwischen der Herkunft des Vaters und der der Mutter deutlich zutage. Die sozialdemokratische Gesinnung der Mutter bewirkte später ihre Identifikation mit der noch jungen und reformwilligen Arbeiter­ bewegung sowie das gesteigerte Interesse an technischen Neuerungen.16 Das »Element des sozialen Radikalismus« hingegen, das Zeitgenossen bei der jüdischen Gemeinde, die zu dieser Zeit die größte der Welt war, glaubten

18 19 10 11 12 13 14 15 16

1995, in: International Institute of Social History (IISH), Ruth Fischer Papers, 3 (nachfol­ gend Ruth Fischer Memoirs). Fischer, Autobiographical Notes, 443. Ruth Fischer Memoirs, 3. Mario Keßler, Ruth Fischer. Ein Leben mit und gegen Kommunisten (1895–1961), Köln/ Weimar/Wien 2013, 24. Friederike Wißmann, Hanns Eisler. Komponist, Weltbürger, Revolutionär, München 2012, 29. Keßler, Ruth Fischer, 24. Ruth Fischer Memoirs, 4. Fischer, Autobiographical Notes, 443. Ebd. Keßler, Ruth Fischer, 24.

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feststellen zu können und das zumindest auf Rudolf Eisler zuzutreffen schien, übernahm sie von diesem.17 Die junge Familie bezog ihre Wohnung im Stuwerviertel, in dem sowohl die ärmere Bourgeoisie als auch die Arbei­ terschaft lebte.18 Das großelterliche Familienunternehmen war kurz zuvor bankrottgegangen und die wirtschaftliche Situation von Rudolf und Ida Maria Eisler hatte sich dramatisch verschlechtert. Und während der größte Teil der Wiener jüdischen Gemeinde dem Bürgertum angehörte und gewis­ sermaßen als Reflex der Bemühungen um Assimilation tendenziell konser­ vativ eingestellt war, offenbarten die ärmeren, der Arbeiterschicht angehö­ renden Juden eine geistige Nähe zu Kommunismus und sozialistischem Zionismus.19 Der Vater war zwar kein Anhänger einer politischen Organisation, jedoch begeisterte er sich für die verschiedensten »progressiven Bewegungen«.20 Er sei es auch gewesen, so berichtet Ruth Fischer später, der bei ihr ein erstes politisches Interesse für den utopischen Sozialismus geweckt habe.21 Er ver­ sorgte seine Kinder regelmäßig mit Büchern und Pamphleten, die seinem eigenen Hauptanliegen, der »Verbesserung des Schicksals der Menschheit«, Ausdruck verliehen.22 Bereits in ihrer Jugend mögen sich die Kinder daher ebenfalls mit diesem Anliegen identifiziert haben. Welche Bedeutung die Erziehung der Eltern für den weiteren Werdegang der Kinder gewinnen sollte, zeigt besonders deutlich der Blick auf die Akti­ vitäten der Geschwister in der Jugendbewegung, die von »Geistigkeit, Lebensdrang, Erotik, Sehnsucht und unendlich verschlossener Einsamkeit« geprägt war.23 Ihr zentrales Ziel war es, den Jugendlichen einen Raum zu geben, in dem sie vor dem Zugriff der Elterngeneration, vor deren Weltsicht und Wertevorstellung geschützt wären.24 Als Ruth Fischer 1912 in die Jugendbewegung eintrat, war ihr Verhältnis zum Sozialismus noch vage.25 Dies sollte sich rasch ändern. Mit ihren beiden jüngeren Brüdern, die der Jugendbewegung kurz darauf ebenfalls beitraten, und einigen Freunden gründete sie eine Art Debattierklub, in dem die Beteiligten unter Anleitung von Siegfried Bernfeld die Schriften von Marx und Engels diskutierten.26 Bernfeld, ein jüdischer Psychoanalytiker, war damals der führende Kopf der 17 18 19 20 21 22 23

Ebd., 25. Wißmann, Hanns Eisler, 35. Keßler, Ruth Fischer, 26. Zit. nach Fischer, Autobiographical Notes, 442 (Übersetzung des Verfassers). Ebd., 443. Zit. nach ebd. (Übersetzung des Verfassers). Robert Wohl, The Generation of 1914, Cambridge, Mass., 1979, Kap.: Germany. The Mission of the Young Generation, 42–84, hier 42. 24 Ebd., 43. 25 Fischer, Autobiographical Notes, 442. 26 Keßler, Ruth Fischer, 32.

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Wiener Jugendbewegung. Als Bernfeld sich 1914 aus der Bewegung zurück­ zog, um sein Studium in Freiburg im Breisgau fortzusetzen, trat Ruth Fischer seine Nachfolge an.27 Das erklärte Ziel der Gruppe war die radikale Veränderung der Welt.28 Ruth Fischer teilte mit ihren in der Jugendbewe­ gung organisierten Altersgenossen die Idee, »daß diese Welt nicht bleiben kann, wie sie ist«.29 Alle waren sie davon überzeugt, »daß sie ganz anders, besser werden kann und daß sie es werden wird«.30 Manès Sperber, der ebenfalls Mitglied einer Gruppe dieser Jugendbewegung war und diese Zei­ len in seiner für diese Generation emblematischen Autobiografie schrieb, betonte die immense Bedeutung dieser Überzeugung: »Es mag sein, daß ich, seit ich denken kann, keiner Idee begegnet bin, die mich so überwältigt und meinen Weg so stetig bestimmt hat wie die[se] Idee«.31 Ein anderes Bedürf­ nis, das für Sperber und vermutlich auch für die Eislers in dieser Zeit im Vordergrund stand, war das nach Gemeinschaftlichkeit. Sperber erinnert sich, dass er in der Jugendbewegung jenes »Wir« fand, mittels dessen er die­ ses Bedürfnis befriedigen konnte.32 Für die Zeitgenossen jüdischer Herkunft scheint die Suche nach einem »Wir« dabei von besonderer Bedeutung gewe­ sen zu sein: Während sich für alle Mitglieder der Jugendbewegung der Wunsch nach Abgrenzung gegenüber der Elterngeneration konstatieren lässt, sahen jüdische Jungen und Mädchen in ihr überdies eine Möglichkeit zur Flucht aus gesellschaftlicher Isolation. Im Unterschied zu den Eltern empfanden die meisten aus der jüngeren Generation den Antisemitismus im Österreich des Fin de Siècle als unerträglich. Gelang es den Eltern vor allem im Licht des eigenen sozialen Aufstiegs, antisemitische Tendenzen weitest­ gehend zu ignorieren, erschien den Jugendbewegten eine solche Haltung als regressiv.33 Eine ähnliche Konstellation charakterisiert das Verhältnis der Geschwister Eisler zum Vater. Rudolf Eisler, dem die Universität Wien als konfessionslosem Juden eine Professur versagt hatte, schien die politischen Hintergründe dieser Entscheidung zu verdrängen und lehnte vergleichbare Angebote aus dem Ausland ab. Für Ruth Fischer hingegen war diese Epi­ sode im Leben des Vaters – wie auch die Ablehnung der Mutter durch die

27 Sabine Hering/Kurt Schilde, Kampfname Ruth Fischer. Wandlungen einer deutschen Kommunistin, Frankfurt a. M. 1995, 24. 28 Fischer, Autobiographical Notes, 443. 29 Manès Sperber, All das Vergangene, 3 Bde., Wien 1974–1977, hier Bd. 1: Die Wasserträ­ ger Gottes, Wien 1974, 23. 30 Ebd. 31 Ebd. 32 Ebd., 159. 33 Helga Embacher, Lenin oder Jabotinsky? Jüdische Identitätssuche in Salzburg nach dem Ersten Weltkrieg, in: Yotam Hotam (Hg.), Deutsch-Jüdische Jugendliche im »Zeitalter der Jugend«, Göttingen 2009, 181–192, hier 184.

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Großeltern väterlicherseits – eine sensibilisierende Erfahrung, die das Be­ dürfnis, ihrer Herkunft zu entkommen, gestärkt haben mag.34 Viele jüdische Familien Wiens hatten – wie die Eislers auch – einen län­ geren Prozess der Säkularisierung durchlaufen und begingen, wenn über­ haupt, allenfalls die hohen Feiertage. Es liegt daher nahe zu vermuten, dass die Kinder dieser Familien ihre jüdische Herkunft wie Ballast empfanden, den es loszuwerden galt.35 Die demonstrative Entscheidung der Jugendbe­ wegten für eine neue Weltsicht diente daher auch dem Zweck, sich von jener der Eltern abzugrenzen. Der Konflikt mit den Eltern lagerte sich folglich im politischen Programm der Jugendbewegung ab, die die Religion als ein zu überwindendes Element der alten Gesellschaft betrachtete. 1913 begann Ruth Fischer an der Universität Wien Nationalökonomie und Philosophie zu studieren.36 Von Anfang an engagierte sie sich in ver­ schiedenen Hochschulgruppen und Studentenvereinigungen und übernahm auch führende Positionen.37 Sie hielt Vorträge, nahm an Diskussionen teil, schrieb Artikel. Auf diese Weise machte sie sich einen Namen als begabte Rednerin, die sich durch ihre unverblümte Art, die Dinge beim Namen zu nennen, und eine besonders zielstrebige Haltung auszeichnete.38 Diese Fähig­ keiten hatte Fischer während ihrer Zeit in der Jugendbewegung erworben, wo wortgewaltige Disputationen üblich waren39 und eine träumerische Welt­ sicht vorherrschte, in der ein Weltkrieg wie der bevorstehende undenkbar war.40 Auch weite Teile der Wiener Bevölkerung empfanden ihr Leben als Teil einer »wohlberechneten Ordnung«.41 Diesem »Zeitalter der Vernunft« schien alles »Gewaltsame« zu widersprechen.42 Erst rückblickend, nach der Zerstörung, so konstatiert Fischers Zeitgenosse Stefan Zweig, erschien diese Wahrnehmung als »Traumschloß«.43 Zwar kennzeichnete die Jugendbewe­ gung, der Ruth Fischer entwachsen war, eine oppositionelle Haltung gegen­ über ihrem sozialen, politischen und kulturellen Umfeld. Aber wenngleich sie davon träumte, die Welt von den Füßen auf den Kopf zu stellen, galt ihr diese althergebrachte Welt doch als Fixpunkt. Der Erste Weltkrieg sollte diese Welt »wie ein Donnerschlag« erschüttern und die Jugendlichen, die 34 35 36 37 38 39

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Fischer, Autobiographical Notes, 443. Embacher, Lenin oder Jabotinsky?, 187. Wißmann, Hanns Eisler, 33. Fischer, Autobiographical Notes, 444. Ebd. Stefanie Schüler-Springorum, »Dazugehören«. Junge jüdische Kommunisten in der Wei­ marer Republik, in: Hotam (Hg.), Deutsch-Jüdische Jugendliche im »Zeitalter der Jugend«, 167–180, hier 180. Fischer, Autobiographical Notes, 444. Zweig, Die Welt von Gestern, 16. Ebd. Ebd., 19.

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gerade im Begriff waren, erwachsen zu werden, »aus aller Normalität« heraustreiben.44 Die Zerstörungsgewalt des Ersten Weltkriegs war so funda­ mental, dass eine Rückkehr in die »Normalität« für viele nicht mehr möglich war.45 Die Erfahrung, die Ruth Fischer und ihre Altersgenossen machten, lässt sich auf den Terminus »Traditionsbruch« zuspitzen – ein Bruch, der »als vollendete Tatsache im Politischen, Gesellschaftlichen und der Kultur« zu begreifen ist.46 Die im Krieg zu Erwachsenen Gewordenen suchten in der Nachkriegszeit das Gemeinschaftserlebnis, das sie vor seinem Beginn in der Jugendbewegung schon einmal gefunden hatten. Der Krieg hatte sie gelehrt, dass ein Einzelner nichts bedeutet.47 Auf der Suche nach Zugehörigkeit und Gemeinschaft fanden sie Zuflucht in den verschiedenen ideologisch aufgela­ denen Bewegungen, denen sie sich restlos verschreiben konnten. Sie hatten sich, wie Arendt es formulierte, selbst verloren. »Die Menschen haben ihr Gewicht verloren«, schrieb sie weiter, »schwerelos […] treiben sie durch eine verlorene Welt, die sie nicht mehr behaust.« Was blieb, war der Kampf um eine neue, eine andere Welt. Ihre politische Heimat fanden sie in den »überzeugenden und sie ausfüllenden Identitäten in den simplen totalitären Doktrinen von Rasse, Klasse oder Nation«.48 Ruth Fischer entschied sich für die Klasse und für den Kommunismus. Fischer war im Jahr 1913 Vorsitzende der führenden sozialistischen Stu­ dentenvereinigung Österreichs, der Freien Vereinigung Sozialistischer Stu­ denten.49 In dieser Funktion lernte sie führende Köpfe der linksradikalen Bewegung wie Franz Koritschoner kennen, der als Redner auf den regelmä­ ßig stattfindenden Diskussionsabenden auftrat. Zudem knüpfte sie Kontakte mit neu erstarkenden Gruppen, die sich in Wien in großer Zahl herausbilde­ ten, und stellte erste Verbindungen zu sozialistisch gesinnten Arbeitern her.50 Diese Kontakte zur Arbeiterklasse, die für die Intellektuelle aus bürger­ lichem Hause weitgehend neu gewesen sein dürften, waren wegweisend für alles, was kommen sollte.51 Die Zusammenarbeit mit Arbeitervertretern in verschiedenen Fabriken, vor allem in Wien, öffneten ihr den Blick für die Lebensbedingungen des Proletariats, dessen Besserstellung von nun an ihr

44 Hans Schwab-Felisch, Leben aus Politik. Ruth Fischer, in: Radiotexte, hg. von Marianne Lienau und Wolf Dieter Ruppel, 3 Bde., hier Bd. 3: Frauen, Köln/Frankfurt a. M. 1978, 81–87, hier 82. 45 Arendt, Menschen in finsteren Zeiten, 272. 46 Ebd., 289. 47 Ebd., 274. 48 Erik H. Erikson, Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a. M. 1966, 111. 49 Fischer, Autobiographical Notes, 444. 50 Hans Hautmann, Die Anfänge der linksradikalen Bewegung und der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs, 1916–1919, Wien 1970, 33. 51 Hering/Schilde, Kampfname Ruth Fischer, 25.

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zentrales Anliegen werden sollte. Ruth Fischers Politisierung, die zu der Zeit, als sie den Vorsitz der sozialistischen Studentenvereinigung führte, bereits weit fortgeschritten war und die sich in ihrer kriegskritischen Aus­ richtung von der Mehrheit der Gesellschaft abhob, bekam in dieser Phase eine völlig neue Dynamik. Mit den Kontakten zur Arbeiterschaft Wiens ver­ schoben sich gleichsam ihre politischen Vorstellungen hin zu denen von einem proletarischen Kampf, der den gesamtgesellschaftlichen Wandel her­ beiführen würde. Spätestens hier wurde die Arbeiterschaft für Ruth Fischer zum Hoffnungsträger und Subjekt der politischen Praxis. Mit Beginn ihres Studiums im Jahr 1913 trat Ruth Fischer der Sozialde­ mokratischen Arbeiterpartei Österreichs (SDAPÖ) bei. Aufgrund ihrer kriti­ schen Haltung zum Krieg fand sie sich in der Partei schon bald im linken und schließlich im linksradikalen Flügel wieder.52 Politisch aktiv wurde sie nunmehr fast ausschließlich in der linksradikalen Bewegung Wiens. Als am 21. Oktober 1916 Friedrich Adler, der wie Fischer der innerparteilichen Opposition angehörte, den k. k. Ministerpräsidenten Karl Graf Stürgkh erschoss, um ein Zeichen gegen die Politik seiner Partei zu setzen, beschleu­ nigte sich der Prozess der Radikalisierung des linken Flügels immens. Wenige Monate später verhandelte ein Ausnahmegericht den Fall Adler und bot ihm auf diese Weise ein Podium, auf dem er seine Tat erklären konnte. Manès Sperber erinnerte sich, dass Adlers Aussage, es käme ihm »nicht auf die Dauer, sondern auf den Inhalt seines Lebens an« und dass der Krieg sinnlos sei und jeder das Recht auf Freiheit und Wahrheit habe, auf »Zehn­ tausende junger Menschen eine tiefe, dauernde Wirkung ausgeübt« habe.53 Wie bedeutend das Ereignis auch für Ruth Fischer gewesen sein muss, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass sie ihrem Sohn, der am 24. Dezember 1917 geboren wurde, die Vornamen Friedrich Gerhard gab.54 In der Folgezeit nahm die Repression durch die Wiener Polizeibehörden drastisch zu. Wiederholt wurden führende Köpfe der einzelnen linksradika­ len Gruppen, so auch Ruth Fischer, festgenommen.55 Nach der Februarrevo­ lution in Russland 1917 sah Fischer die Zeit gekommen, sich endgültig von der Sozialdemokratie zu trennen und eine österreichische kommunistische Partei zu gründen. Allerdings stand sie mit dieser Meinung innerhalb ihres Netzwerks zunächst noch auf verlorenem Posten, denn die Mehrheit stimmte unverändert für einen Verbleib in der SDAPÖ, um aus der Partei­ 52 Ruth Fischer, Der Vater der KPÖ – ein Russe. Die Erinnerungen Ruth Fischers über die Entstehung der Kommunistischen Partei Österreichs, in: Heute. Die österreichische Wochenzeitung, 25. März 1961, 4. 53 Sperber, Die Wasserträger Gottes, 146 f. 54 Ruth Fischer Memoirs, 8. 55 Hautmann, Die Anfänge der linksradikalen Bewegung und der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs, 32.

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mitte heraus auf die Politik einwirken zu können. Erst vor dem Hintergrund der Oktoberrevolution 1917 wendete sich das Blatt. Ruth Fischer und die Linksradikalen wurden zu überzeugten Anhängern der russischen Bewe­ gung. Die Bolschewiki hatten, nachdem sie an die Macht gelangt waren, ein Dekret über den Frieden herausgegeben, das den erklärten Kriegsgegnern in Wien als Hoffnungsschimmer erschien. Und tatsächlich war es diese Erklä­ rung, auf deren Basis die Mittelmächte mit Russland die Friedensverhand­ lungen von Brest-Litowsk aufnahmen. Das politische Programm der kom­ munistischen Revolutionäre war in den Kreisen, in denen Ruth Fischer sich bewegte, kaum bekannt. Zwar hatte man sich mit den Schriften von Marx und Engels beschäftigt, die Positionen Lenins und anderer führender Bol­ schewiki, so beschrieb es Fischer rückblickend, waren aber erst jetzt von Interesse.56 Doch die wenigen Dinge, die bekannt wurden, trafen den Nerv der Zeit. Bereits wenige Wochen nach der erfolgreichen Revolution, die das Zarenreich gestürzt und die Herrschaft der Bolschewiki etabliert hatte, schienen auch die Verhältnisse in Wien auf eine bevorstehende Revolution hinzudeuten. Anfang des Jahres 1918 zeitigten die Verhandlungen von Brest-Litowsk immer noch kein Ergebnis. Zudem belastete der Krieg die Donaumonarchie auch in wirtschaftlicher Hinsicht erheblich. So kam es etwa zu einer erneuten Teuerung bei Lebensmitteln und zum bisher größten Streik, den Österreich-Ungarn seit Beginn des Krieges erlebt hatte. Die Arbeiter und mit ihnen die Linksradikalen stellten die Niederlegung der Arbeit unter die alle Streikenden einende Forderung nach Frieden. Der Janu­ arstreik wurde zur Feuertaufe für die verschiedenen kommunistischen Grup­ pierungen, denen es zu einem bedeutenden Anteil zu verdanken war, dass der Streik sich über Wien hinaus auf weite Teile Österreich-Ungarns auswei­ tete.57 Obwohl sich der »Jännerstreik« nicht zu einer Revolution auswuchs, vertrat Ruth Fischer zunehmend die Überzeugung, dass die Revolution unmittelbar bevorstehe. In einem postum veröffentlichten Zeitungsartikel über die Entstehung der Kommunistischen Partei Österreichs schrieb sie, dass sie und ihre Mitstreiter »von den Ereignissen betäubt« waren. Betäubt »im Sinne eines glückhaften Rausches, der [sie] vor allem deshalb ergriff, weil [sie] überzeugt waren, die Stunde der sozialistischen Revolution sei gekommen«.58 So sehr sich die linksradikalen Gruppen auch mit den Arbei­ tern solidarisierten und sich ihrer Sache verbunden fühlten, handelte es sich doch mehrheitlich um bürgerlich-intellektuelle Studentenzirkel. Schon bald stellte sich heraus, dass die Kommunisten in Österreich, selbst nachdem sie 56 Siehe Fischer, Der Vater der KPÖ – ein Russe. 57 Hautmann, Die Anfänge der linksradikalen Bewegung und der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs, 22. 58 Siehe Fischer, Der Vater der KPÖ – ein Russe.

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am 3. November 1918, knapp ein Jahr nach der Oktoberrevolution in Russ­ land, die KPDÖ gegründet hatten, kaum Einfluss auf die Arbeitermassen nehmen und vor allem niemals gegen die hegemoniale Stellung der Sozial­ demokratie ankommen konnten. Doch den Parteimitgliedern, allen voran Ruth Fischer, blieb im Rausch der sich überschlagenden Ereignisse ihre Marginalität zunächst verborgen. Ein weiteres Jahr später erst stellte die Genossin mit der Parteibuchnummer eins resigniert fest, dass die Chance zur Revolution verpasst war.59 Für das Scheitern wurden Fischer und Teile des um sie versammelten Gründungszirkels von der Leitung der KPDÖ, der sie mittlerweile nicht mehr angehörten, verantwortlich gemacht.60 Die Ein­ sicht, dass die Zeit nicht reif war und ihre Analyse und daraus abgeleitete Agitation falsch gewesen sein könnten, kam weder für Ruth Fischer noch für die Parteileitung infrage. In Fischers Augen waren es offenbar die Mit­ streiter, die nicht kompromisslos genug gehandelt hatten. Im Herbst 1919 beschloss sie, Wien den Rücken zu kehren und nach Berlin zu ziehen, wo die Revolution noch in greifbarer Nähe schien – nach Deutschland, »dem Zentrum der Weltrevolution«, wie es Ruth Fischer damals erschien.61 Die Widerstände gegen ihre Vorschläge, die offene Anschuldigung, für die Misere verantwortlich zu sein, und vor allem die aussichtslose Situation selbst hatten diese Entscheidung ausgelöst. Ruth Fischer fühlte sich nicht länger als die »beliebte, berühmte und vielversprechende Agitatorin, son­ dern als heftig attackierte Politikerin«.62 Möglicherweise war die Übersiede­ lung nach Deutschland schon länger eine Option gewesen, denn bereits als Kind war sie, vermittelt über ihre Eltern, mit der deutschen Arbeiterbewe­ gung in Berührung gekommen. Eigene Kontakte hatte sie erstmals in der Zeit der Jugendbewegung geknüpft und später, während des Ersten Welt­ kriegs intensivieren können. Wie optimistisch die Ereignisse in Deutschland selbst die führenden Köpfe der russischen Bolschewiki gestimmt hatten, bezeugen Aussagen von Zeitgenossen aus der ersten Hälfte des Jahres 1919. »In einem Jahr«, schrieb beispielsweise Grigori Sinowjew, der damalige Vorsitzende der Komintern, »werden wir zu vergessen beginnen, daß es in Europa einen Kampf um den Kommunismus gab, weil in einem Jahr ganz Europa kommunistisch sein wird«.63 Solche Reden waren es unter anderem, 59 Elfriede Friedländer (Ruth Fischer), Rede der Genossin Elfriede Friedländer, in: Ist Deutsch-Österreich reif zur Räterepublik? Reden von Karl Tomann und Elfriede Friedlän­ der auf der 2. Reichskonferenz der Arbeiterräte Deutsch-Österreichs am 30. Juni 1919, Wien 1919, 31–47. 60 Exemplarisch siehe Franz Koritschoner, Zur Krise der KPDÖ, in: Die Rote Fahne, Nr. 157, 20. November 1919. 61 Ruth Fischer Memoirs, 40. 62 Fischer, Autobiographical Notes, 444. 63 Grigori Sinowjew, Perspektiven der proletarischen Revolution, in: Die Kommunistische Internationale, Nr. 1 (1919), 41.

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die jene jungen Kommunisten motivierten, die aus der soeben niederge­ schlagenen ungarischen Räterepublik auf dem Weg zurück nach Deutsch­ land waren und mit denen Fischer in Wien zusammentraf.64 Unter ihnen war Willi Münzenberg, einer der führenden Spartakisten, der sie einlud, der klei­ nen Gruppe nach Berlin zu folgen.65

Konversion und Bruch Der Weg nach Deutschland führte Ruth Fischer zuerst nach Stuttgart, wo sie von Clara Zetkin empfangen wurde. Fischer hatte Zetkin einige Zeit zuvor in Wien kennengelernt. Von Zetkin mit Empfehlungen und Kontakten ausge­ stattet, fuhr sie weiter nach Berlin und traf sich mit Paul Levi.66 Levi gehörte, wie Münzenberg, zu den führenden Köpfen des Spartakusbundes. Nach der Ermordung Rosa Luxemburgs, Karl Liebknechts und Leo Jogiches’ hatte er die Leitung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) übernommen. Er vermittelte Ruth Fischer eine Beschäftigung in der Frauenabteilung der KP. Gleich in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft erfuhr sie, dass Karl Radek in einem Gefängnis in Berlin Moabit einsaß und sie zu sehen wünschte.67 Ruth Fischer hatte ein nicht unerhebliches Interesse, Radek ken­ nenzulernen, hatte er doch zum Zeitpunkt, als ihr seitens der KPDÖ die Schuld an deren Scheitern gegeben wurde, in der Debatte interveniert und die Politik des ungarischen kommunistischen Funktionärs Ernst Bettelheim verurteilt.68 Aufgrund dieser Parteinahme sah Fischer in Radek eine Autori­ tät, die ihr gewogen war. Am 31. Oktober 1885 als Karol Sobelsohn im galizischen Lemberg gebo­ ren, hatte Radek vor dem Ersten Weltkrieg für die kommunistische Bewe­ gung sowohl in den polnischen Gebieten als auch in Deutschland gearbeitet, bevor er ein führender Kopf der kommunistischen Revolution von 1917 wurde. Im Dezember 1918 kehrte er als Repräsentant der Kommunistischen Partei Russlands nach Deutschland zurück und wurde im darauffolgenden Frühjahr verhaftet. Radeks Unterbringung im Gefängnis Moabit gestaltete sich aufgrund seiner strategischen Bedeutung für die deutsch-sowjetischen Beziehungen bedeutend komfortabler, als dies üblich war. Die Sowjetunion 64 Ruth Fischer Memoirs, 40. 65 Fischer, Autobiographical Notes, 449. 66 Ruth Fischer, Biographie Arkadij Maslow. Arbeitsexemplar (1960/61), in: Fischer/Mas­ low, Abtrünnig wider Willen, 541–574, hier 554. 67 Dies., Autobiographical Notes, 450. 68 Hautmann, Die Anfänge der linksradikalen Bewegung und der Kommunistischen Partei Deutschösterreichs, 138 f.

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und das Deutsche Reich verbanden zwar keinerlei ideologische Gemeinsam­ keiten, jedoch das Bewusstsein, seit Ende des Ersten Weltkriegs von den anderen europäischen Großmächten isoliert zu sein.69 Radek stand es frei, sich Gäste in das Gefängnis einzuladen, und es ist überliefert, dass er sich eine Art »politischen Salon« einrichtete.70 Er interessierte sich wohl vor allem deshalb für Ruth Fischer, weil sie aus dem zerfallenden österrei­ chisch-ungarischen Vielvölkerreich kam und ihm als ehemaliges führendes Mitglied der KPDÖ persönlich über alle Vorgänge in Wien berichten konnte, die er selbst nur aus der Zeitung kannte.71 Radek und Fischer teilten jedoch noch eine weitere Erfahrung, die zum Fundament ihrer gemeinsamen Arbeit werden sollte. Auch Radek war, wie Ruth Fischer, bedingt durch seine Herkunft in besonderem Maße an der Nationalitätenfrage interessiert. Seine Geburtsstadt Lemberg war als Teil Galiziens im Zuge der ersten Teilung Polens 1772 der Habsburgermonarchie zugeschlagen worden. Dementsprechend ging es bei dem ersten Zusammen­ treffen mit Ruth Fischer in Berlin-Moabit vorrangig um ihre Sicht auf die Lage des im Zerfall begriffenen imperialen Vielvölkerreichs.72 Die Bedeu­ tung der geteilten Erfahrung des Heimatverlustes entfaltete ihr volles Aus­ maß, wie Fischer schreibt, angesichts des Untergangs der Doppelmonarchie und des europäischen Status quo. Die Frage »des Zusammenlebens der neuen Nationen« könne sich einzig und allein »mit und durch die Moskauer Genossen gestalten«, schrieb sie später.73 Gerade diese Einsicht hätte sie »für die Lehrlingszeit […] in Radeks Moabiter Zelle in bestimmtem Sinne vorbereitet«.74 Nach dem ersten Besuch bei Radek wurde Fischer zum Dauergast, sie wohnte vielen der von ihm anberaumten Zusammenkünfte bei und erledigte für ihn verschiedene organisatorische Aufgaben.75 Da sie fließend Englisch und Französisch sprach, besorgte Radek ihr Arbeit im neu gebildeten West­ europasekretariat der Komintern. Dort erhielt sie die Aufgabe, die interna­ tionale, vor allem die englisch- und französischsprachige Presse zu lesen, zu analysieren und über Relevantes zu berichten. Die Beziehung zu Radek wei­ tete sich mit der Zeit zu einem Lehrer-Schülerinnen-Verhältnis aus. So exa­

69 Dan Diner, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, Frankfurt a. M. 2000, 106. 70 Wolf-Dietrich Gutjahr, Revolution muss sein. Karl Radek. Die Biographie, Köln/Weimar/ Wien 2012, 386. 71 Ruth Fischer, Karl Radeks Schulungskurs im Moabiter Gefängnis, in: Hering/Schilde, Kampfname Ruth Fischer, 109–112, hier 111. 72 Dies., Biographie Arkadij Maslow, 557. 73 Ebd. 74 Ebd. 75 Dies., Karl Radeks Schulungskurs im Moabiter Gefängnis, 111.

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minierte Radek sie hin und wieder zur Bedeutung bestimmter Berichte oder Ereignisse und legte ihr seine eigene Sicht als Korrektiv dar. Hierdurch erhielt sie wichtige Einblicke in die internationalen Prozesse der kommunis­ tischen Bewegung. Radek, so brachte sie es später zum Ausdruck, bot ihr einen »intensiven Lehrkurs über internationale kommunistische Politik«.76 »Die Gefängniszelle«, schrieb sie an anderer Stelle, »wurde […] eine Art Schulklasse, in der ich an einem Kursus in fortgeschrittenem Kommunismus teilnahm.«77 Ihre Arbeit führte Fischer in viele Regionen Deutschlands und so lernte sie die dortige Parteiarbeit kennen. Im Zuge ihrer Reisen knüpfte sie auch Kontakte zu der zu diesem Zeitpunkt noch in der Illegalität arbeitenden klei­ nen Pressestelle der KPD. Bei einem geheimen Treffen mit den Leitern der Pressestelle, August Thalheimer und Paul Frölich, lernte sie Ende 1919 den in der Ukraine geborenen, seit seiner Jugend in Deutschland lebenden Isaak Jefimowitsch Tschemerinski kennen, der später unter dem Decknamen Arkadi Maslow bekannt wurde.78 Arkadi Maslow wurde am 21. März 1891 in Jelisawetgrad in der Ukraine geboren als Kind von Ljuba Mexin, der Tochter einer vermögenden jüdischen Familie, und Jefim Isaakowitsch Tschemerinski, einem mittellosen jüdischen Gelehrten aus dem polnischukrainischen Grenzgebiet.79 Kurz vor der Jahrhundertwende schickte ihn sein Großvater zusammen mit seiner Mutter und seiner jüngeren Schwester nach Deutschland, um die Familie vor den Pogromen zu schützen.80 1919 warb ihn Jakob Reich, der Leiter des westeuropäischen Sekretariats der Komintern, für die Übersetzung von aus Russland eingehenden Berichten an.81 Maslow schloss sich der gerade im Entstehen begriffenen Organisation sofort an, er avancierte zu einem engen Vertrauten Jakob Reichs und wurde ein ergebenes Mitglied der Partei.82 Fischer und Maslow verstanden sich von Beginn an, sie verliebten sich ineinander und lebten fortan zusammen, bis Maslow 1941 in Havanna unter ungeklärten Umständen zu Tode kam. In den Zwanzigerjahren machten sie gemeinsam, Arkadi Maslow als »Theore­ tiker« und Ruth Fischer als »leidenschaftliche Propagandistin« eines radika­ len Kurses, in der KPD Karriere.83

76 Dies., Biographie Arkadij Maslow, 557. 77 Dies., Stalin und der deutsche Kommunismus, 2 Bde., hier Bd. 1: Von der Entstehung des deutschen Kommunismus bis 1924, Berlin 1991, 251 f. 78 Dies., Biographie Arkadij Maslow, 547. 79 Peter Lübbe, Einführung, in: Fischer/Maslow, Abtrünnig wider Willen, 1–48, hier 3. 80 Ebd. 81 Fischer, Biographie Arkadij Maslow, 559. 82 Ebd. 83 Klaus Kinner, Vorbemerkungen, in: Fischer, Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 2: Die Bolschewisierung des deutschen Kommunismus, 9–14, hier 11.

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Auf einer ihrer Reisen kam Ruth Fischer im März 1920 nach Leipzig, wo sie vom Kapp-Putsch überrascht wurde. Gemeinsam mit den Gewerkschaf­ ten rief die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) zum General­ streik gegen diese Erhebung der Reichswehr und ehemaliger Angehöriger der alten kaiserlichen Armee auf. Der Streik brachte den lokalen und teil­ weise auch den überregionalen Verkehr zum Erliegen. Nachdem die Arbei­ terschaft den Putschversuch vereitelt hatte, unternahm sie den Versuch, den Generalstreik zu einer Revolution auszuweiten.84 Die Parteiführung der KPD in Berlin und die des Bezirks Leipzig vertraten dabei jedoch entgegen­ gesetzte Positionen. In Berlin verstand man den Generalstreik, zu dem auch die SPD-Fraktion aufgerufen hatte, als Kampf der »konterrevolutionären« Regierung gegen die ebenfalls »konterrevolutionären« Militärs und rief immer wieder dazu auf, sich nicht an dem Streik zu beteiligen. In Sachsen, insbesondere in Leipzig und Chemnitz, versuchte die KPD hingegen gemeinsam mit anderen sozialistischen und kommunistischen Organisatio­ nen, zuvorderst der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutsch­ lands (USPD), den Streik und damit den Kampf um die Regierungsgewalt voranzutreiben.85 Ruth Fischer fand sich auf der Seite der Streikenden in Leipzig wieder und versuchte mittels ihres Netzwerks, deutschlandweit Ver­ bindungen zu weiteren streikbereiten Kräften herzustellen. Doch der Streik scheiterte schließlich, die Revolution blieb aus und Fischer kehrte nach Ber­ lin zurück. Es ist gut möglich, dass Fischer sich auf den Straßen Leipzigs an die Wie­ ner Streiks erinnert fühlte und ihr der ausbleibende Erfolg wie eine Wieder­ holung des Scheiterns erschien. Dabei war sie nach Berlin gegangen, um hier die Revolution voranzutreiben und jene Chance zu nutzen, die die Kom­ munisten in Wien vertan hatten. Von der Haltung der Berliner Zentrale ent­ täuscht, beschloss sie, gegen die Politik der Parteiführung unter Paul Levi in die innerparteiliche Opposition zu gehen.86 Doch nicht nur parteipolitisch, sondern auch in Fragen der politischen Praxis waren die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Kapp-Putsch für Ruth Fischer weichenstellend. Das Scheitern des Generalstreiks, das neben den innerparteilichen Unstim­ migkeiten auch auf der Niederlage der Arbeiterkampfverbände gegenüber den Freikorps beruhte, hatte Teile der kommunistischen Bewegung radikali­ siert. Das Gros der Kommunisten teilte die Überzeugung, dass es eine »Organisation [braucht], die fähig ist, es mit den ausgezeichnet organisierten

84 Erwin Könnemann/Hans-Joachim Krusch, März 1920. Arbeiterklasse vereitelt KappPutsch, Berlin 1981, 73. 85 Fischer, Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 2, 168. 86 Dies., Autobiographical Notes, 452.

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Freikorps und ihren Verbündeten […] aufzunehmen«.87 So strebte Fischer spätestens seit dem Kapp-Putsch danach, die KPD in »eine ›echte‹ leninisti­ sche revolutionäre Kampfpartei« zu verwandeln.88 In Fischers Reaktion auf den ausgebliebenen Aufstand im Anschluss an den Kapp-Putsch deutet sich noch eine andere Entwicklung an, die unter der Oberfläche der parteiinternen Konflikte verborgen lag. Ihre Entscheidung zum Angriff auf die Parteiführung kann als Bruch mit ebenjener Generation verstanden werden, die ihr den Weg in die Reihen der KPD bereitet hatte. »Ein für allemal«, schrieb sie, hatte sie ihr »ganzes bürgerliches Umfeld und [ihre] Aufstiegschancen eingebüßt«.89 Doch entgegen ihrer Erwartung öff­ nete sich ihr der Aufstieg an die Spitze der deutschen KP. Ihre renitente Hal­ tung entsprach der Stimmung in weiten Teilen der Partei. In der Gründungs­ konstellation der KPD lag nämlich ein fraktioneller und darunter ein generationeller Spalt zwischen »den Alten«, die aus der sozialdemokrati­ schen Tradition kamen, und den Jungen, die vor dem Hintergrund des Welt­ kriegs und der Oktoberrevolution zur kommunistischen Bewegung gefunden hatten. Erstere, zu denen auch Paul Levi und Clara Zetkin zählten, standen innerhalb der Partei »rechts« und betonten die Bedeutung demokratischer Prozesse. Auch nach außen vertraten sie die Forschung, jedes Mittel zur Gewinnung »der Massen« zu nutzen, selbst wenn das bedeutete, in den Strukturen der Weimarer Ordnung agieren zu müssen. Im Unterschied zum »rechten« war der »linke« Flügel in besonderem Maße von den Bolschewiki in Russland fasziniert, deren Politik er auch in Deutschland umsetzen wollte. Die »Rechten« hielten die »Linken« für utopistisch und beschrieben sie in Abgrenzung von sich selbst als »ultralinke« Radikale, während die »Lin­ ken« den »Rechten« die Anpassung an den demokratischen Parlamentaris­ mus und den Verrat an der sozialistischen Revolution vorwarfen.90 Zumin­ dest für die Zeit zwischen 1920 und 1924 lässt sich konstatieren, dass die Konflikte zwischen »rechts« und »links« immer auch Konflikte zwischen den Generationen waren. Dabei vollzog sich der Wechsel von »rechts« und »alt« zu »links« und »jung« zweimal: 1921, als Paul Levi aus der Partei aus­ schied und August Thalheimer und Heinrich Brandler die Führung übernah­ men, sowie 1923 und 1924, als diese Führung durch Arkadi Maslow, Ruth 87 Dies., Stalin und der deutsche Kommunismus, Bd. 2, 177. 88 Annelie Schalm, Ruth Fischer. Eine Frau im Umbruch des internationalen Kommunismus 1920–1927, in: Biographisches Handbuch zur Geschichte der Kommunistischen Interna­ tionale, hg. von Michael Buckmiller und Klaus Meschkat, Berlin 2007, 129–147, hier 147. 89 Zit. nach Keßler, Ruth Fischer, 93. 90 Hermann Weber/Andreas Herbst, Einleitung, in: dies., Deutsche Kommunisten. Biogra­ phisches Handbuch. 1918 bis 1945, 2., überarbeitete und stark erweiterte Aufl. Berlin 2008, 13–47, hier 22.

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Fischer und Ernst Thälmann abgelöst wurde.91 Thalheimer und Brandler waren, anders als Levi, erst kurz vor Kriegsausbruch in die SPD eingetreten; Fischer dagegen stand für eine Generation, die mit dem Krieg zur Parteipoli­ tik gekommen war. Anders als die »Alten« blickten Thalheimer und Brand­ ler nicht auf eine lange Zeit in der Sozialdemokratie zurück, in der sie sich die Methoden politischer Arbeit hätten aneignen können. Ebenso war Fischer ein parlamentarischer Neuling gewesen, als sie, als Anhängerin der russischen Bolschewiki, in Wien die KPDÖ mitgegründet hatte. Der jewei­ lige Zeitpunkt und die Gründe der Politisierung der führenden Köpfe der KPD verursachten jenen Generationenkonflikt zwischen den ehemaligen Sozialisten und den an Moskau orientierten Bolschewisten, der die Entwick­ lung der Partei fortan prägte. Die junge Generation von Kommunisten in der deutschen Partei war beseelt von einer alles bestimmenden »Naherwartung des Kommunismus«.92 Die Politik Ruth Fischers, die als führend innerhalb dieser Fraktion galt, beruhte auf der Überzeugung, dass die Revolution unmittelbar bevorstehe und man sich in einer »objektiv revolutionäre[n] Situation« befinde.93 Doch 1921 war die um August Thalheimer und Heinrich Brandler sich versam­ melnde »Rechte« noch die stärkste Fraktion in der Partei. Sie folgte einem Kurs, der maßgeblich durch die Vorgaben der Kominternführung bestimmt wurde und der besagte, dass eine Einheitsfront mit anderen Vertretern der Arbeiterschaft, mit Gewerkschaften und sozialdemokratischen Gruppierun­ gen, zu suchen sei. Ruth Fischer als Galionsfigur der Opposition vertrat einen Kurs, der als »Offensivtheorie« bezeichnet wird. Die innerparteilichen Konflikte um die Frage, wie die Arbeiterregierung zu errichten sei, schwel­ ten jedoch noch drei weitere Jahre. Erst nachdem im Oktober 1923 ein noch­ maliger Versuch, die Revolution zu organisieren, fehlgeschlagen war, erreichte Fischer ihr Ziel und übernahm die Führung in der KPD. Wie kompromisslos Ruth Fischer auf die Durchsetzung ihrer Prinzipien bedacht war, verdeutlicht ihr Auftreten in den innerparteilichen Konflikten. Disziplin, Geschlossenheit und die Organisation kampfbereiter Strukturen waren ihre zentralen Forderungen, die sie zum Beispiel auf dem VII. Partei­ tag im August 1921 erhob.94 Es sei alles daranzusetzen, eine disziplinierte 91 Schalm, Ruth Fischer, 132 f. 92 Michael Buckmiller/Pascal Nafe, Naherwartung des Kommunismus – Werner Scholem, in: Michael Buckmiller/Dietrich Heimann/Joachim Perels (Hgg.), Judentum und politi­ sche Existenz. Siebzehn Portraits deutsch-jüdischer Intellektueller, Hannover 2000, 61– 81. 93 Buckmiller/Nafe, Naherwartung des Kommunismus – Werner Scholem, 67. 94 Bundesarchiv, RY 1/I 1/1/10, Protokoll des VII. Parteitags der KPD vom 22. bis 26. August 1921. Ruth Fischer sprach hier unter dem Decknamen Genossin Wagener, da sie sich seit ihrer am 15. August 1921 erfolgten Ausweisung illegal in Preußen aufhielt.

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revolutionäre Armee aufzubauen, die bereit für den Kampf sei. Die Partei müsse so geformt werden, dass sie Gemeinschaft und Einigkeit bedeute und der Verwirrung ein Ende bereite.95 Im Januar 1923 verlagerte sich das machtpolitische Gefälle zwischen Führung und Opposition. Kurz zuvor hatte sich aufgrund der belgisch-französischen Ruhrbesetzung die politische Situation im Deutschen Reich zugespitzt. In dieser entscheidenden Phase forderten die Wortführer der linken Fraktion ihre Aufnahme in die Zentrale der Kommunistischen Partei Deutschlands, was die Führung um Brandler und Thalheimer wegen der zur Disposition stehenden Personen Fischer und Maslow ablehnte. Als der Konflikt die Partei zu spalten drohte, schaltete sich die Kominternführung ein und beorderte die Beteiligten zu einer Konfe­ renz nach Moskau. Es wurde beschlossen, Ruth Fischer, Ernst Thälmann und zwei weitere Vertreter der Opposition in die Zentrale aufzunehmen.96 Damit waren die parteiinternen Konflikte jedoch mitnichten gelöst. Zwar forderte die Verhandlungskommission des Exekutivkomitees der Komintern von der neu zusammengesetzten Zentrale Einigkeit, doch verstand die »linke« Opposition die Entscheidung auf der »Verständigungskonferenz« als Sieg über die Zentrale und fühlte sich in ihrem Kurs bestärkt.97 Wie sehr auch Ruth Fischer darüber die Realität der gesellschaftlichen Verhältnisse – im ökonomischen wie im politischen Sinne – aus den Augen verlor, zeigt sich in ihrem retrospektiv als tragisch zu bewertenden Auftritt vor Studenten im Jahr 1923. Die sich in den ersten sechs Monaten des Jahres verschärfenden wirtschaftlichen und sozialen Missstände ergriffen und poli­ tisierten über die Arbeiterschaft hinaus nun auch die kleinbürgerlichen Angehörigen der Mittelschicht. Die KPD musste sich daher vermehrt auch um diese Kreise kümmern, wollte sie ihr Abdriften in das »Lager der Kon­ terrevolution« verhindern.98 Die Folge war, dass die Partei einen Kurs der »›nationalen‹ Propaganda« einschlug. Die Mitglieder wurden aufgefordert, »zu den Massen in einer Sprache [zu] reden, die sie verstehen«.99 Im Zuge dieser sogenannten »nationalen Einheitsfronttaktik«100 warb auch Ruth Fischer auf öffentlichen Veranstaltungen um die nationalistisch gesinnten Kräfte. Am 25. Juli 1923 trat sie in der Aula des Dorotheenstädtischen Real­

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Eric J. Hobsbawm, Revolutionaries. Contemporary Essays, London 1994, 47 f. Harald Jentsch, Die KPD und der »Deutsche Oktober« 1923, Rostock 2005, 88. Ebd., 89. Ebd., 115. Thomas Haury, Antisemitismus von links. Kommunistische Ideologie, Nationalismus und Antizionismus in der frühen DDR, Hamburg 2002, 266. 100 Otto Wenzel, Der geplante »Deutsche Oktober« im Herbst 1923. Die Niederlage der kom­ munistischen Weltrevolution in Deutschland. Vorgeschichte und Verlauf des von der Komintern geplanten Aufstandes, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat 10 (2001), 3–36, hier 10.

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gymnasiums vor Studenten auf. In dieser Rede, so ist durch einen Bericht Franz Pfemferts, des Herausgebers der expressionistischen – und parteikriti­ schen – Zeitschrift Die Aktion, überliefert, soll Ruth Fischer ihre Zuhörer aufgefordert haben, »die Judenkapitalisten nieder[zutreten]«.101 »Wer gegen das Judenkapital aufruft«, sei bereits »Klassenkämpfer«, so ihre weitere Argumentation.102 Dass Fischer überzeugte Antisemitin war beziehungs­ weise ein geschlossenes antisemitisches Weltbild hatte, ist zwar zu bezwei­ feln, doch ist die Aussage in anderer Hinsicht aufschlussreich. Der Inhalt wie überhaupt die Bereitschaft, eine derartige Rede zu halten, spiegeln ihren Weg von Wien nach Berlin wider – ihren Werdegang insgesamt. Fischers Aussage ist Ausdruck dessen, was es bedeutet, wenn eine Tochter aus säku­ lar-jüdischem, intellektuellem Wiener Elternhaus eine überzeugte Klassen­ kämpferin, ein vollkommen der kommunistischen Sache ergebener Kader der Partei wird. Statt den Antisemitismus der völkischen Studenten zu kriti­ sieren, griff sie ihn als agitatorisches Mittel zum Zweck auf. Dass der Auf­ tritt schon damals als strategisches Moment wahrgenommen wurde, das überhaupt nur auf der Grundlage einer verstellten Erkenntnis der Verhält­ nisse nachzuvollziehen ist, zeigt eine Kritik Rudolf Rockers. Rocker, führ­ ender Kopf der anarchosyndikalistischen Bewegung, schrieb noch im selben Jahr: »[D]aß aber eine der gefeiertsten kommunistischen Führerinnen, Ruth Fischer – selbst eine Jüdin – […] ausrufen konnte: ›Tretet die Judenkapita­ listen nieder‹« zeige, dass hier »der Antisemitismus […] nur den Interessen einer Partei dienen« sollte.103 Dass Ruth Fischer persönliche Erfahrungen mit Antisemitismus gemacht hatte, wurde eingangs gezeigt. Dass diese Erfahrungen in nicht unerheb­ lichem Maße zu ihrer Hinwendung zum Kommunismus beigetragen hatten, ebenfalls. Anders als in Berlin, wo sie die Rede hielt und politisch ihre neue Heimat gefunden hatte, hatte sie in Wien bis zuletzt die Nationalitätenfrage nicht aus den Augen verloren.104 Da Berlin Hauptstadt eines ethnisch homo­ genen Reiches war, war der Bürgerkrieg hier nicht von der Nationalitäten­ frage, sondern fast ausschließlich der Ordnungskategorie »Klasse« geprägt. Wien und Berlin waren demnach Orte, die sich in ihren aus dem Ersten Weltkrieg resultierenden Ordnungen fundamental unterschieden: Wien war Hauptstadt eines jungen Nationalstaates, dessen Konfliktlinien entlang neu gezogener Grenzen verliefen, Berlin Zentrum einer erhofften Weltrevolu­ 101 Franz Pfemfert, Die schwarzweißrote Pest im ehemaligen Spartakusbund, in: Die Aktion, Nr. 27/28, 31. Juli 1923, 373 f., hier 374. 102 Ebd. 103 Rudolf Rocker, Antisemitismus und Judenpogrome, in: Der Syndikalist 47 (1923), 1. 104 Elfriede Friedländer (Ruth Fischer), Einleitung, in: Ist Deutsch-Österreich reif zur Rätere­ publik? Reden von Karl Tomann und Elfriede Friedländer auf der 2. Reichskonferenz der Arbeiterräte Deutsch-Österreichs am 30. Juni 1919, 3–13, hier 4.

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tion, in dem sich die Kämpfe zwischen den Klassen der Gesellschaft auf den Barrikaden abspielten.105 Die »auratische Sprache der Klasse«, die spätes­ tens mit der Revolution von 1848/49 von der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts aufgegriffen worden war, hatte in der Semantik des deut­ schen Marxismus eine alles beherrschende Stellung eingenommen.106 Die KPD positionierte sich zur nationalen Frage vor allem aus strategischen Gründen, um die Sympathien der Massen zu gewinnen. Antisemitismus wurde als immanentes Moment des Kapitalismus verkannt und konnte in den Augen vieler Kommunisten als Nebenwiderspruch, als »der Sozialismus der dummen Kerls« vernachlässigt werden.107 Obwohl von ihr selbst keine Stellungnahme zu der Rede im Dorotheen­ städtischen Realgymnasium überliefert ist, lassen sich Fischers Aussagen samt ihrer auffallend gewaltsamen Rhetorik doch vor dem Hintergrund ihrer Abnabelung vom Elternhaus verstehen. Ähnliches ließe sich bei anderen jüdischen Kommunisten zeigen.108 Die Abkehr von der eigenen Herkunft ist als ein Prozess der Konversion zu begreifen, der im Fall jüdischer Intellek­ tueller, die Kommunisten wurden, einer fundamentalen Verwandlung gleich­ kam. Es ist augenfällig, dass es insbesondere diese Konvertiten waren, die ihren Wandel gegen die Zweifel der Partei unter Beweis stellen mussten. Im Sommer 1923 war die Mehrzahl der Mitglieder der Kommunistischen Partei der Überzeugung, die Revolution stehe unmittelbar bevor. Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise und der andauernden Ruhrkrise machte sich erheblicher Unmut in der Bevölkerung breit, den die KPD für ihre Ziele zu nutzen suchte. Einem Vorschlag Ruth Fischers folgend, rief sie zum Generalstreik auf, dessen zentrale Forderung der Rücktritt des Reichskanz­ lers Wilhelm Cuno war.109 Noch am ersten Tag des Streiks erklärte die Regierung ihren Rücktritt, was der KPD-Führung als großer Erfolg erschien; die Ereignisse des Jahres 1923 entwickelten eine beflügelnde Dynamik. Ent­ sprechend begann die Komintern, die die Hoffnung auf eine Ausweitung der 105 Diner, Das Jahrhundert verstehen, 28. 106 Ders., Paradigmenwechsel, in: ders., Zeitenschwelle. Gegenwartsfragen an die Geschichte, München 2010, 151–168, hier 155. 107 Ders., Linke und Antisemitismus. Überlegungen zur Geschichte und Aktualität, in: Karl­ heinz Schneider/Nikolaus Simon (Hgg.), Solidarität und deutsche Geschichte. Die Linke zwischen Antisemitismus und Israelkritik, Berlin 1987, 61–80, hier 69. Für diesen August Bebel in den Mund gelegten Ausspruch gibt es keinen eindeutigen Beleg. Unabhängig davon ist die Formulierung jedoch emblematisch für das Verständnis, das die Sozialisten und Kommunisten von dem Phänomen hatten. 108 Siehe Buckmiller/Nafe, Naherwartung des Kommunismus – Werner Scholem; siehe auch Mirjam Zadoff, Unter Brüdern – Gershom und Werner Scholem. Von den Utopien der Jugend zum jüdischen Alltag zwischen den Kriegen, in: Münchner Beiträge zur jüdischen Geschichte und Kultur 1 (2007), H. 2, 56–66. 109 Bundesarchiv, RY 1/I 2/3/3, Sitzung des Politbüros vom 10. August 1923, 227–233.

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Revolution auf Deutschland auch aus wirtschaftlichen Gründen nicht aufge­ geben hatte, in den folgenden Wochen mit der Planung einer reichsweiten Erhebung.110 Binnen kurzer Zeit erarbeitete das Moskauer Politbüro einen Aktionsplan und gab Anfang Oktober sogar ein konkretes Datum für den geplanten Aufstand aus, den 9. November 1923.111 Die Wahl dieses Datums verdeutlicht, wie stark sich die Erfahrung des wiederholten Scheiterns der deutschen Revolutionsversuche und die Hoffnung auf ein erfolgreiches Ende in die Wahrnehmung der Situation eingeschrieben hatten. Offenbar glaubte man, die Revolution quasi wie ein Theaterstück inszenieren zu können. Doch der »Deutsche Oktober« scheiterte und die Kommunistische Partei wurde kurz darauf, im November 1923, von der Reichsregierung verboten. Ruth Fischer verstand es, die Misere in den innerparteilichen Machtkämpfen für ihre eigene Politik zu instrumentalisieren. Wiederholt klagte sie die rechte Führung um Thalheimer und Brandler an, die Schuld für das Ausblei­ ben der Revolution zu tragen. Im Sommer 1924, nach Ende des Verbots, wurde sie zur Vorsitzenden des politischen Sekretariats der KPD ernannt. Mittels dieser Funktion betrieb sie die umfassende Bolschewisierung der Partei, die Umformung der KPD zur »Partei neuen Typus« mit dem Ziel, die Revolution durchzuführen.112 Die KPD wurde zentralistisch umstrukturiert; die Mitglieder wurden angehalten, sich den Vorgaben der Zentrale zu unter­ werfen, und diese wiederum hatte denen der Komintern, also der KP-Füh­ rung in Moskau zu folgen. Rigoros rächte sich Fischer an ihren Gegnern aus der Zeit der Fraktionskämpfe. Mit aller Härte ging sie gegen die Opposition vor, die sich nun gegen sie formierte. Es kam zu einer Reihe von Parteiaus­ schlüssen. Die Bolschewisierung brachte den endgültigen Bruch mit der Generation der Spartakisten mit sich. Mit dieser Politik, so fasste es Mario Keßler zusammen, »trug Ruth Fischer zur geistigen Entwaffnung ihrer Anhängerschaft bei, die sich fortan weitgehend unfähig zeigte, die eigene Politik kritisch zu reflektieren«.113 Die Absage an jedwede demokratische Tradition wurde insbesondere im Reichstag sichtbar. In den Zwanzigerjahren setzte sich ein Verständnis durch, einen Kampf zu führen, »in dem man nur für den Preis einer völligen Umwandlung der Gesellschaft überleben könnte.«114 Der Erste Weltkrieg hatte die Arbeiter und die Intellektuellen von der bürgerlichen Sphäre ent­ fremdet, womit Misstrauen und Gegnerschaft gegenüber dem Parlamentaris­

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Wenzel, Der geplante »Deutsche Oktober« im Herbst 1923, 16. Ebd., 17. Keßler, Ruth Fischer, 179. Ebd., 204. Enzo Traverso, Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg, 1914–1945, München 2008, 231 f.

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mus einhergingen.115 Ruth Fischer, die 1924 als Abgeordnete der KPD in den Reichstag einzog, trat mit ihrer Fraktion dementsprechend destruktiv im Parlament auf. Bei der Eröffnung des Reichstages der 2. Wahlperiode am 27. Mai 1924 wurde die Agenda der KPD deutlich: Die Fraktion protestierte lautstark gegen den Reichstagsvorsitzenden Wilhelm Marx und die Anwe­ senden der anderen Parteien.116 In der 4. Sitzung des Reichstages am 2. Juni desselben Jahres hielt Ruth Fischer ihre Antrittsrede. Es war die kürzeste, aber auch die verheerendste ihrer Reden; mit ihr stilisierte sie sich zum »Enfant terrible« des deutschen Reichstages.117 Sie eröffnete ihre Rede mit einer polemischen »Danksagung« dafür, dass der Reichstag sich selbst »ent­ larve«, dass die Abgeordneten »nichts anderes [seien] als Masken, die Ham­ pelmänner der Kapitalisten«.118 Das Parlament sei ein »Schattentheater« und die gewählten Abgeordneten aller Fraktionen mit Ausnahme derjenigen der KPD seien »Traumgestalten«.119 Die etablierten Parteien würden nur noch eine Reaktion kennen, nämlich all jenen, die ihnen widersprechen, mit Repressionen zu begegnen: »Wir Kommunisten sind alle Hochverräter! Ver­ haften Sie unsere Leute, […] machen Sie den Reichstag kommunistenfrei: um so stärker werden die Kommunisten für das Proletariat kämpfen und mit ihnen wird siegen die deutsche und die Weltrevolution«.120 Ihren Auftritt inszenierte Fischer unter Zuhilfenahme einer Kindertrompete, mit der sie auch nach ihrer Rede den Verlauf der Sitzung wiederholt störte, und die spä­ ter ihr Markenzeichen werden sollte. Dieser »Klamauk«, so begründete sie ihr Verhalten in der Roten Fahne, »hat demonstrativen Charakter. Er will die unversöhnliche Opposition der kommunistischen Abgeordneten gegen den bürgerlichen Klassenstaat zeigen«.121 Isaac Deutscher schrieb 1959 über die Wirkung Ruth Fischers, dass »die junge Frau, die wie mit Posaunen sprach, aber keinerlei revolutionäre Erfahrung oder Verdienste hatte, […] von den Kommunisten in Berlin vergöttert« wurde.122

115 Wohl, The Generation of 1914, 48 und 71 f. 116 Protokoll der 1. Sitzung des Reichstags vom 27. Mai 1924, in: Verhandlungen des Reichs­ tages, Stenographische Berichte, 2. Wahlperiode 1924, hier Bd. 381: Von der 1. Sitzung am 27. Mai 1924 bis zur 29. Sitzung am 30. August 1924, Berlin 1924, 1–6, hier 1. 117 Sabine Hering/Kurt Schilde, »Verehrtes Marionettentheater«. Ruth Fischer im Deutschen Reichstag (1924–1928), in: Udo Arnold/Peter Meyers/Uta C. Schmidt (Hgg.), Stationen einer Hochschullaufbahn. Festschrift für Annette Kuhn zum 65. Geburtstag, Dortmund 1999, 347–374, hier 351. 118 Protokoll der 4. Sitzung des Reichstags vom 2. Juni 1924, in: Verhandlungen des Reichs­ tages, Bd. 381, 29–53, hier 44. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 Zit. nach Keßler, Ruth Fischer, 185. 122 Zit. nach ebd., 189.

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1925 stand Ruth Fischer im Zenit ihrer Macht. Sie galt als unangefochtene Autorität in der Kommunistischen Partei, deren Bolschewisierung sie maß­ geblich betrieben hatte. Unter ihrer Führung gab sich die KPD auf dem X. Parteitag im Juli 1925 ein neues Statut, das den Umstrukturierungspro­ zess entsprechend der Vorgaben aus Moskau vollendete.123 Tatsächlich hatte sich die KPD nun in eine »Partei neuen Typus« verwandelt. Sie war weites­ tgehend von den Weisungen der Komintern abhängig und hatte ihre intellek­ tuelle Schlagkraft, den Konflikt mit Moskau zu suchen, verloren. Dies wurde Ruth Fischer in den Kämpfen um die Macht in der Komintern, die zu dieser Zeit in Moskau stattfanden, zum Verhängnis.124 Mit dem wiederholten Scheitern der Revolution in Deutschland und der Konsolidierung der Wei­ marer Republik nach der Krise von 1923 war die Zeit der verbalradikalen Führungsfiguren in den kommunistischen Parteien vorbei. Im Zuge des Kurswechsels der Kommunistischen Partei Russlands hin zum »Aufbau des Sozialismus in einem Land« (Stalin) sollten sich auch die Sektionen der aus Moskau geführten Komintern von einem revolutionären Kurs verabschieden. Es lag auf der Hand, dass unter diesen veränderten Vorzeichen der von der Revolutionsrhetorik lebende Führungsstil Fischers plötzlich unzeitgemäß erscheinen musste, und an der Basis der KPD wurde Unmut laut.125 In die­ sem Moment der nun einsetzenden Stalinisierung machte Ruth Fischer die Erfahrung, dass die Loyalität aus Moskau weniger von konkreten Einzelent­ scheidungen, dafür aber umso mehr von ihrer persönlichen Herkunft abhing. Wenngleich sie nur wenige Jahre zuvor für alle sichtbar mit dem intellek­ tuellen Milieu gebrochen hatte, stand ihr doch ihre weiterhin als elitär wahr­ genommene Haltung gegenüber dem Proletariat im Weg. 1926 wurde Ruth Fischer schließlich durch den direkten Eingriff der Komintern abgesetzt, denn fortan ging es der Führung in Moskau nur noch um die Wahl ergebens­ ter Führer für die jeweilige Sektion. An die Stelle Fischers trat Ernst Thäl­ mann, ein erklärter Gefolgsmann Stalins.126 Thälmann, der wie drei Viertel der Parteimitglieder der Zwanzigerjahre keine höhere Schulbildung genos­ sen hatte und als Arbeiter den sogenannten Massen näherstand, hatte kaum Schwierigkeiten, sich auf die lebensweltlichen Probleme der KPD-Basis einzulassen.127 Dagegen erschien Ruth Fischers Auftreten künstlich und inszeniert. Sie wollte ihre bürgerliche Herkunft wie ein Gewand ablegen und es gegen die Kleidung des Proletariats tauschen. Dies war jedoch keine rein taktische Entscheidung, denn einige »neue« Gewohnheiten pflegte sie bis an 123 Mario Keßler, Sektierer, Lernender und Märtyrer. Arkadij Maslow (1891–1941), Berlin 2013, 15. 124 Hobsbawm, Revolutionaries, 48. 125 Keßler, Ruth Fischer, 237. 126 Ebd. 127 Ebd., 239.

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ihr Lebensende weiter. Keßler zitiert Hermann Weber, der sie in den Fünfzi­ gerjahren in Paris traf und sich später erinnerte, dass ihre Tischmanieren betont schlecht gewesen seien: »[H]ätte er sich als Kind ›zu Hause am prole­ tarischen Esstisch so hingeflegelt‹, wäre er von seinem Vater ›zusammenge­ staucht worden‹«.128 Ruth Fischer hatte ihren Dienst an der Partei getan, sie hatte jegliches demokratische Element aus der Partei entfernt. Schließlich hatte Moskau sie aus der Partei ausgeschlossen. Mit Thälmann gab Stalin, dem es nun haupt­ sächlich um die Verwaltung einer Situation gehen musste, der Partei ein neues, »zeitgemäßes« Gesicht. Ruth Fischer versuchte noch einige Male vergebens, wieder in die deutsche Partei zurückzukehren; gleichzeitig avancierte sie zu einer Kritikerin von Stalins Kurs. Wiederholt trat sie öffent­ lich auf, noch immer besaß sie ein Mandat für den Reichstag. Zusammen mit anderen aus der Partei ausgeschlossenen Kommunisten versuchte sie, eine linke Opposition zur KPD zu organisieren. Ihre Versuche, wieder in die KPD-Führung und das Exekutivkomitee der Komintern aufgenommen zu werden, blieben erfolglos. Als sie 1928 bei der Reichstagswahl schließlich auch noch ihr Mandat verlor und klar war, dass sie auf parteinahen Veran­ staltungen nicht mehr als Rednerin zugelassen sein würde, gab sie sich geschlagen und zog sich ins Private zurück. Für eine andere Partei politisch aktiv zu werden – beispielsweise zur SPD zurückzukehren, wie viele andere es versuchten –, kam für Ruth Fischer nicht infrage. Sie blieb, wie Mario Keßler es auf den Punkt gebracht hat, »an die Denkwelt und letztlich auch an die Lebenswirklichkeit des Kommunismus gebunden. Ein Leben mit und, wie sich zeigen sollte, gegen Kommunisten war für Ruth Fischer denkbar, ein Leben ohne Kommunisten war es nicht.«129

Ex-Kommunisten und Renegaten Seit 1928 lebte Ruth Fischer, die sich aus der Politik zurückgezogen hatte, mit Arkadi Maslow und mit ihrem Sohn in Berlin, wo sie als Sozialfürsorge­ rin arbeitete. Dies änderte sich erst 1933, als nach der Machtübertragung auf Hitler und dem Reichstagsbrand der Terror gegen die Kommunisten und Sozialdemokraten begann. Ruth Fischer, als Kommunistin und Jüdin unmit­ telbar in Gefahr, war gezwungen, Deutschland zu verlassen. Zusammen mit Maslow floh sie nach Paris, wo die beiden bald den Kontakt zu politischen Kreisen, unter anderem auch zu Leo Trotzki, suchten. 1935 erreichte Trotzki, wenngleich gegen den Widerstand eines großen Teils der Mitglie­ 128 Ebd., 240. 129 Ebd., 269.

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der, Fischers Aufnahme in das Sekretariat der Internationalen Kommunisten Deutschlands (IKD). Diese deutsche Sektion der trotzkistischen internatio­ nalen linken Opposition zur Komintern hatte von einem Reformkurs Ab­ stand genommen und zielte nun auf die Bildung einer alternativen Partei­ struktur: Im Jahr 1938 wurde die Vierte Internationale gegründet. Nach wiederholten, teils gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Kommu­ nisten, die aus Deutschland emigriert waren, zog Fischer sich schon nach kurzer Zeit wieder aus dem Kreis der IKD zurück. 1937 brach sie offiziell mit ihm. Maßgeblich dazu beigetragen hatten wiederholte Vorwürfe, Fischer und Maslow unterminierten die Arbeit der IKD und arbeiteten damit dem Moskauer Regime zu.130 Dieser Vorwurf entbehrt nicht einer gewissen Iro­ nie, denn erst kurz zuvor war Fischer im ersten großen Moskauer Schaupro­ zess »gegen das trotzkistisch-sinowjewistische terroristische Zentrum« in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. In Paris nahm Fischer ihre schon einmal ausgeübte Tätigkeit als Sozialar­ beiterin wieder auf. Mit dieser Arbeit war sie ausgelastet, weshalb sie sich erneut vollständig von der politischen Bühne zurückzog. Als im Sommer 1940 der deutsche Einmarsch in Paris bevorstand, waren Fischer und Mas­ low erneut gezwungen zu fliehen. Auf der Flucht in Richtung Lissabon, von wo aus sie Europa verlassen wollten, erfuhren sie vom Mord an Trotzki in Mexiko, womit ihnen offenbar klar wurde, dass sie vor Hitler und vor allem vor Stalin nur noch in den Vereinigten Staaten von Amerika sicher wären.131 Doch während Ruth Fischer am 7. Februar 1941 die Einreisepapiere erhielt, wurde Maslow das Visum verweigert, und so war er gezwungen, nach Ha­ vanna auszuweichen. Fischer, kaum in Amerika angekommen, setzte alles daran, für Maslow ebenfalls eine Einreisegenehmigung zu bekommen. An dem Tag, als ihr dies endlich gelungen war, rief sie in Maslows Hotel an und wurde darüber in Kenntnis gesetzt, dass man Arkadi Maslow am Vorabend tot aufgefunden habe.132 Ruth Fischer brauchte einige Zeit, um sich – auch gesundheitlich war sie stark angegriffen – zu erholen. Erst 1943 begann sie wieder zu veröffentli­ chen. Im Zentrum ihrer Arbeit stand die Warnung vor dem, was Europa durch Moskaus Politik bevorstünde, sobald Hitler besiegt wäre. Seit Anfang 1944 gab sie ein Bulletin heraus, das unter dem Slogan Information About Stalinist Organizations and Organizational Forms die führenden Kommu­ nisten zu entlarven suchte.133 1947 widmete sie eine gesamte Ausgabe ihrem Bruder Gerhart Eisler. Nicht zuletzt in diesem persönlichen Angriff auf den 130 131 132 133

Ebd., 331. Ebd., 363. Ebd., 385. Lübbe, Einführung, 26.

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eigenen Bruder zeigt sich die Kompromisslosigkeit Fischers, mit der sie gegen die kommunistische Bewegung vorging. Drei Jahre zuvor, im April 1944, hatte sie ihren beiden Brüdern Hanns und Gerhart geschrieben, dass sie nun wisse, dass Maslow starb, weil sie »alles, jede Einzelheit über Mas­ lows Visumsangelegenheit, seinen Aufenthalt in Havanna, seine Lebens­ weise an den Apparat berichtet« hätten.134 Sie fühle sich bedroht und habe sich darauf vorbereitet, gründlich gegen ihre Brüder und damit gegen Mos­ kau vorzugehen. Der Brief ist der Schlüssel zur Antwort auf die Frage, wie aus der Bolschewistin der Zwanzigerjahre eine so namhafte Kritikerin des Stalinismus werden konnte. Hatte sie seit ihrem Ausschluss vor allem vor der aus Moskau drohenden Gefahr für die deutsche Demokratie gewarnt, ging sie 1944 dazu über, gezielt einzelne Personen zu denunzieren. Der Kampf gegen die Bewegung, der seinen dramatischsten Ausdruck im Kon­ flikt zwischen den Geschwistern findet, kulminierte in Fischers Aussage gegen ihren Bruder Gerhart vor dem House Committee on Un-American Activities (HUAC). Im selben Monat, in dem die Gerhart Eisler gewidmete Ausgabe des Bulletins erschien, wurde dieser von den amerikanischen Behörden festgenommen und in Washington verhört. Kurz darauf trat Ruth Fischer in den Zeugenstand und beschrieb ihren Bruder als Terroristen und Gefahr für das amerikanische und deutsche Volk.135 Sie trug auf diese Weise unmittelbar dazu bei, dass Gerhart Eisler gezwungen war, Amerika zu ver­ lassen. Eine Aussage Fischers vor dem HUAC verrät ihren Standpunkt gegenüber der kommunistischen Bewegung. Auf die Frage des Komiteemitglieds Richard Nixon, ob sie tatsächlich mit dem Kommunismus gebrochen habe, oder ob sie noch immer eine Anhängerin des Marxismus sei, die lediglich Stalins Methoden kritisiere, antwortete sie ausweichend. Sie verwies auf die Bedrohung vieler Länder durch den Stalinismus, die es ihr auferlege, alles in ihrer Macht Stehende zu unternehmen, dem Einhalt zu gebieten.136 Diese Reaktion Fischers legt die Annahme nahe, dass sie sich auch nach der Ermordung Maslows nicht von ihrer Weltanschauung gelöst hatte. Die anti­ kommunistische Gesinnung, die ihr immer wieder zugeschrieben wurde, erwies sich also als ein dezidierter Antistalinismus. Insbesondere ihre in die­ ser Zeit erarbeitete umfangreiche Untersuchung der Geschichte der KPD in der Weimarer Republik, deren Ziel es war, die Umstände zu erörtern, unter denen die Stalinisierung vollzogen werden konnte, spricht dafür, dass Fischer sich nicht vollkommen von der Bewegung losgesagt hatte. Vielmehr 134 Brief Ruth Fischers an Gerhart, Hanns und Lou Eisler, New York, vom 27. April 1944, zit. nach Fischer/Maslow, Abtrünnig wider Willen, 160. 135 Hering/Schilde, Kampfname Ruth Fischer, 267. 136 Ebd.

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wollte sie einerseits die eigene Politik im Nachhinein legitimieren und ande­ rerseits die weltweite Stalinisierung des Kommunismus verhindern, Letzt­ eres vor allem hinsichtlich der Parteien in den postkolonialen Staaten, die im antikolonialen Kampf an Bedeutung gewannen. Antistalinismus und Antiko­ lonialismus waren für Fischer fortan »zwei Seiten einer Medaille«.137 Weitere Aussagen Fischers aus der Zeit des amerikanischen Exils legen eine instrumentelle Haltung zum Antikommunismus nahe. 1945 hatte sie einem Freund geschrieben, dass die Regierung der Vereinigten Staaten »effektiv Angst« habe »vor den Kommunisten«, und betont, dass die Regie­ rung, ihrer »Meinung nach mit Unrecht, annimmt, daß sie [die Kommunis­ ten] imstande wären, unter russischer Anleitung Sabotage und Widerstands­ bewegung großen Stils zu organisieren«.138 Zu diesem Zeitpunkt hatte sie den öffentlichen Feldzug gegen Kommunisten wie ihren Bruder Gerhart, die sie als Bedrohung für Amerika und die freie Welt stilisierte, allerdings bereits begonnen. Verständlich wird diese Strategie vor dem Hintergrund von Maslows Tod. Das Gefühl der Bedrohung durch den Moskauer Apparat hatte an dem Tag im November 1941, da sie von Maslows Tod erfuhr, eine völlig neue Dimension erlangt. Die Beziehung zu Arkadi Maslow war nach ihrem Bruch mit der Kommunistischen Partei für lange Zeit der einzige Rückzugsort gewesen, an dem sie ihren politischen Vorstellungen gemäß, frei von gesellschaftlichen Zwängen, leben konnte. Diesem »Interieur« stand das »Exterieur«139 gegenüber, in dem sie gezwungen war, ihre utopischen Hoffnungen zu vergessen und sich den Dingen zu widmen, die das Überle­ ben sicherten, jedoch das eigentlich Bedeutsame außer Acht ließen. Der Mord an Maslow hatte diese Rückzugsmöglichkeit zerstört und Ruth Fischer regelrecht hinaus in das »Exterieur« getrieben. Die Beschädigung ihres Lebens und die andauernde Bedrohung ließen ihr die radikalen Mittel, zu denen sie griff, offenbar legitim erscheinen. Unter anderem arbeitete sie mit diversen Geheimdiensten zusammen und lieferte bereitwillig Informationen.140 Den eingeschlagenen Weg sollte sie 137 Keßler, Ruth Fischer, 573. 138 Brief Fischers an Étienne Balázs, New York, 13. September 1945, zit. nach Fischer/Mas­ low, Abtrünnig wider Willen, 171–178, hier 173. 139 Zu den Kategorien »Interieur« und »Exterieur« siehe die von Max Horkheimer vorge­ nommene Unterscheidung von Lebensbereichen in Clemens Albrecht, »Das Allerwich­ tigste ist, daß man die Jugend für sich gewinnt«. Die kultur- und bildungspolitischen Pläne des Horkheimer-Kreises bei der Remigration, in: ders. u. a. (Hgg.), Die intellek­ tuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M./New York 1999, 97–131, hier 129. 140 Siehe hierzu ein Dokument des Office of Strategic Services, in: FOIA-CIA Electronic Reading Room, Ruth Fischer Comment on Council for Democratic Germany, (17. Juni 2014).

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erst hinterfragen, als sie 1951 erfuhr, dass Eberhard Taubert, ein prominenter Vertreter des Volksbundes für Frieden und Freiheit e. V. – einer antikommu­ nistischen Organisation in der Bundesrepublik –, dem Fischer im Zuge ihrer Kooperation mit dem amerikanischen Geheimdienst zuarbeitete, jener SSMann war, der ihren Sohn 1933 verhört und gefoltert hatte.141 Nach dieser Erfahrung kehrte sie Schritt für Schritt den Institutionen des amerikanischen Antikommunismus den Rücken. Damit einher ging eine erneute Hinwen­ dung zur kommunistischen Bewegung, von deren Idealen sie sich nie gänz­ lich hatte lösen können. Dieser Prozess wurde 1953 durch den Tod Stalins und ganz besonders durch den Aufstand am 17. Juni in der Deutschen Demokratischen Republik beschleunigt. Mit diesem Aufstand, so verstand es Ruth Fischer, begann der »eiserne Vorhang« aufzubrechen.142 Mitte der 1950er Jahre kehrte sie nach Europa zurück, bezog eine Wohnung in Paris und versuchte von hier aus intensiv, die damaligen Entwicklungen im Welt­ kommunismus aufzuarbeiten. Es sei das, so schrieb sie 1955 einem Freund, »was ich mit meinen unzulänglichen Mitteln probiere«.143 In ihrer heute nur wenigen bekannten letzten größeren Schrift Von Lenin zu Mao. Kommunismus in der Bandung-Ära spiegelt sich die Entwicklung ihres politischen Denkens wider.144 Hier findet Fischer zurück zu der Hal­ tung, die sie bereits Mitte der 1920er Jahre als Vorsitzende der KPD vertre­ ten hatte.145 Sie forderte die Vorherrschaft einer kommunistischen Partei im Sowjetstaat, die aber auf den stalinistischen Anspruch auf Dominanz über andere nationale Parteien innerhalb eines multinationalen Gefüges sozialisti­ scher Staaten verzichtete. Mit dieser Haltung verfolgte sie die Entwicklun­ gen der kommunistischen Bewegungen, bis sie am 12. März 1961 in Paris verstarb. Am Tag ihres Todes traf sie sich mit einem damals führenden Akteur der Westberliner Gruppe des wenige Jahre zuvor gegründeten Sozia­ listischen Deutschen Studentenbundes (SDS), dem jungen Klaus Meschkat. Im Gespräch, so erinnert sich Meschkat, gab sie ihm eine Erkenntnis mit auf den Weg und einen Ratschlag, der geradezu paradigmatisch auch für ihr eigenes Leben stehen könnte. Sie sagte, »[e]s sei in der Geschichte immer auf den Grad der Bewußtheit kleiner Minderheiten angekommen. Wir soll­ ten uns nicht verrückt machen lassen, daß wir im Augenblick scheinbar auf verlorenem Posten kämpfen«.146 Niemals hat Fischer sich von der Erfahrung 141 Keßler, Ruth Fischer, 519. 142 Ebd., 540. 143 Ruth Fischer an Hans Sahl, Paris, 24. November 1955, in: Fischer/Maslow, Abtrünnig wider Willen, 315 f., hier 315. 144 Ruth Fischer, Von Lenin zu Mao. Kommunismus in der Bandung-Ära, Düsseldorf/Köln 1956. 145 Keßler, Ruth Fischer, 573. 146 Klaus Meschkat, Das letzte Gespräch Ruth Fischers, in: Fischer/Maslow, Abtrünnig wider Willen, 590–597, hier 590.

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verunsichern lassen, marginalisiert zu sein, wenngleich ihr dies angesichts der Permanenz ihres Scheiterns wieder und wieder vor Augen geführt wurde. Unablässig glaubte sie an das Bewusstsein einer kleinen Gruppe, der sie es zutraute, den Lauf der Geschichte zu verändern. Diese letzten Ermun­ terungen ermöglichen die Freilegung zweier biografischer Schwellen im Leben von Ruth Fischer: zum einen die erbauende Erfahrung der Revolution von 1917, in der die »kleine Gruppe« – und Ruth Fischer mit ihr – endlich einzulösen schien, was Marx in seinem 18. Brumaire des Louis Bonaparte prognostiziert hatte und was zum leitenden Motiv des Marxismus geworden war: »Die Menschen machen ihre eigene Geschichte«;147 und zum anderen der Ausschluss aus der Kommunistischen Partei Deutschlands, der zwar ihrer Mitgliedschaft, nicht jedoch ihrem »kommunistischen Begehren« ein Ende bereitete.148

Schluss Es ist dieses kommunistische Begehren, das sich in einer Reihe von Biogra­ fien aufweisen lässt, deren Verständnis einen bisher wenig beachteten Aspekt in der Historiografie des Kommunismus darstellt. Die Betrachtung dieser Lebenswege, und der von Ruth Fischer ist ein solcher, kann darüber hinaus zum Verständnis jener Kommunisten beitragen, die wegen ihrer Bedenken gegenüber der gesamten Bewegung gezwungen waren, mit der Partei zu brechen, der kommunistischen Weltanschauung aber dennoch ver­ bunden blieben. Ruth Fischer steht beispielhaft für die Erfahrung des Bruchs, die, so Oliver Schrupp, in den historischen Narrativen nach 1945 einem »Prozess des sukzessiven Vergessens« anheimfiel und eine Lücke in der bisherigen Kommunismusforschung darstellt.149 Weder erscheinen diese Erfahrungen in den Darstellungen, die sich auf das Narrativ vom Kommu­ nismus als »säkularisierter Religion mit Heilsversprechen« konzentrieren, noch in jenen, die sich mit der »repressiven, gewaltförmigen und totalitären Kehrseite« beschäftigen.150 Wird die Geschichte der Renegaten nur als eine 147 Karl Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx-Engels-Werke, 43 Bde., Ber­ lin 1956–1990, hier Bd. 8, Berlin 1960, 111–207, hier 115. 148 Oliver Schrupp, Der Verlust kommunistischen Begehrens. Entwurf einer geschichtsphilo­ sophisch informierten und gedächtnistheoretisch begründeten Deutung der Brucherfah­ rung von ehemaligen Kommunist_innen in der Weimarer Republik, in: Marcus Hawel (Hg.), Work in Progress, Work on Progress. Doktorand_innen-Jahrbuch der Rosa-Luxem­ burg-Stiftung 1 (2011), 135–146, hier 142. 149 Ebd., 138. 150 Ebd., 140.

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Geschichte von Abtrünnigen oder Überläufern erzählt, bleiben sie als Indivi­ duen unsichtbar. Weil die Biografie Ruth Fischers diese Erfahrung eines Bruchs offenlegt, fördert sie das Verständnis des Kommunismus in seiner identitätsstiftenden und handlungsleitenden Funktion im »Jahrhundert der Extreme«.151 Alle, die der KP den Rücken kehrten, reagierten auf die Erkenntnis, dass der Kommunismus, für den Stalin und seine Anhänger standen, nicht der eigenen Vorstellung entsprach und wohl auch nie entsprechen könnte. Den­ noch blieben viele der Idee des Kommunismus an sich treu. Anhand der Betrachtung ausgewählter Lebensstationen von Ruth Fischer möchte der vorliegende Beitrag eine mögliche Antwort auf die Frage geben, warum jene Kommunistinnen und Kommunisten nach den erfahrenen Enttäuschungen nicht gänzlich »vom Glauben« abfielen. Fischer, die, wenn auch nur für kurze Zeit, Vorsitzende der KPD – der deutschen Sektion der Komintern, der zweitgrößten nach der russischen – war, hatte eine äußerst einflussreiche Position innerhalb der Partei inne. Sie war unmittelbar am Aufbau der KPD beteiligt und gehörte zu den führenden Köpfen der kommunistischen Be­ wegung in Europa. Doch um zu verstehen, warum Ruth Fischer mit dem Kommunismus stalinscher Prägung brach, sich selbst jedoch anhaltend als Kommunistin verstand, war es vor allem wichtig zu klären, warum sie Kom­ munistin geworden war. In dem hier beleuchteten Lebensweg Ruth Fischers verknüpfen sich zwei für das Verständnis der gesamten kommunistischen Bewegung bedeutsame Erfahrungen des Bruchs. Diese ließen sich in der Figur eines »doppelten Verrats« verbinden. Wie zum Beispiel André Gorz, der mit seiner Hinwen­ dung zum Nationalsozialismus versuchte, seiner jüdischen Herkunft zu ent­ kommen, so beging auch Ruth Fischer mit ihrer bedingungslosen Hinwen­ dung zur kommunistischen Bewegung »Verrat« an ihrer jüdischbürgerlichen Herkunft.152 Und so, wie Gorz die Erfahrung machte, dass es sich bei der Hoffnung, im nationalsozialistischen Wir die verloren geglaubte Gemeinschaft wiederfinden zu können, um eine folgenschwere Illusion han­ delte, realisierte auch Ruth Fischer, dass ihr Glaube an das sowjetisch-kom­ munistische Projekt naiv gewesen war. Doch anders als Gorz, dem seine Eltern und insbesondere sein jüdischer Vater zeitlebens fremd blieben, lässt sich bei Ruth Fischer eine Selbstfindung beobachten, die mit einem zweiten »Verrat«, nämlich jenem an der Kommunistischen Partei, einhergeht. Ob ihr selbst diese Entwicklung in vollem Umfang bewusst war und ob ihr die jüdi­ sche Herkunft zu diesem Zeitpunkt mehr bedeutete als zuvor, ist ungewiss. Doch die Tatsache, dass ihr die eigene Weltanschauung, die sie nach dem 151 Ebd. 152 André Gorz, Der Verräter, [Zürich] 2008, 101.

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Bruch mit der Partei nicht ablegte, weiterhin ein Stück Heimat versprach, ein »schön eingerichtete[s] ›Gehäuse‹«153, zeugt von Fischers unbedingtem Glauben, die Welt grundlegend verändern zu können. Den Glauben des Vaters an die bürgerliche Gesellschaft als universalistisches Konzept, der wie eine messianisch geprägte Hoffnung wirken musste, lehnte sie fortwäh­ rend ab. Von ihrem Glauben an die kommunistische Gesellschaft und der Überzeugung, diese könne als nächsthöhere Stufe der väterlichen politi­ schen Utopie betrachtet werden, ließ sie sich indes zeitlebens nicht abbrin­ gen. So ist Ruth Fischers Bruch vor allem vor dem Hintergrund der nationa­ listischen Kurswende unter Stalin zu sehen, die ihr – wie vielen anderen jüdischen Kommunisten auch – klargemacht haben mag, dass sie ihrer jüdi­ schen Herkunft mithilfe Moskaus nicht würde entkommen können.154 Mit ihrem Ausschluss aus der Partei 1926 wurde sie als Renegatin stigma­ tisiert und später auch verfolgt. Vor dem Hintergrund ihrer antistalinisti­ schen Agitation im amerikanischen Exil und ihrer Zusammenarbeit mit den Behörden der Vereinigten Staaten scheint dieses Verdikt mehr als zutreffend, allerdings passt es nicht so recht zu ihrem Engagement in den 1930er und 1950er Jahren. Ein ums andere Mal betonte sie, »nichts wäre [ihr] erwünsch­ ter, als wieder mit der lebendigen Bewegung in Kontakt zu kommen«.155 Doch die Rückkehr war der »Abtrünnigen wider Willen« versperrt.156 Diese spätere Phase ihres Lebens wurde zumeist als im Zeichen des Kampfes gegen den Kommunismus stehend gedeutet. Der Bruch mit dem Parteikom­ munismus musste allerdings nicht notwendig die Abkehr »vom Glauben« bedeuten, deren die jeweiligen Abweichler von Stalin und seinen Anhängern bezichtigt wurden. Anders als es die Denunziation als Renegat impliziert, herrschte bei vielen Abtrünnigen weltanschauliche Kontinuität vor. Der »Verrat« war also vielmehr Ausdruck der »Treue zum eigenen kritischen Denken«.157 Nicht selten handelte es sich bei den Dissidenten um Intellek­ tuelle, in deren Existenz allein, so scheint es, der Bruch bereits angelegt war.158 Ruth Fischer war, wie viele von ihnen, freiwillig in die Partei einge­ treten, weil sie die bürgerlichen Verhältnisse missbilligte. In diesem freiheit­

153 Hannah Arendt, Die verborgene Tradition. Essays, Frankfurt a. M. 2000, 8. 154 Dan Diner/Jonathan Frankel, Introduction. Jews and Communism. The Utopian Tempta­ tion, in: Jonathan Frankel (Hg.), Dark Times, Dire Decisions. Jews and Communism, New York 2004, 3–12, hier 4. 155 Brief Fischers an Jakob Moneta vom 11. Oktober 1953, in: Fischer/Maslow, Abtrünnig wider Willen, 298–300, hier 300. 156 Sebastian Haffner zit. nach Keßler, Ruth Fischer, 607. 157 Michael Rohrwasser, Kommunist, Exkommunist, Antikommunist, in: Wilhelm Heme­ cker/Mirjana Stancic (Hgg.), Ein treuer Ketzer. Manès Sperber – der Schriftsteller als Ideologe, Wien 2000, 58–71, hier 58. 158 Ders., Der Stalinismus und die Renegaten, 29.

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lichen Moment steckte ebenjenes Potenzial, dass ihr den Bruch mit der Par­ tei ermöglichte, ohne den Abfall »vom Glauben« zwangsläufig nach sich zu ziehen.159 Während die Renegaten sich vom Kommunismus abwandten und sich spätestens mit Ende des Zweiten Weltkriegs beziehungsweise unter dem Einfluss des Kalten Krieges zu überzeugten Ex-Kommunisten entwi­ ckelten, besann sich Ruth Fischer gewissermaßen auf ihr intellektuelles Ver­ mögen zurück.160 Hannah Arendt unterschied 1953 in einem Artikel im Aufbau zwischen Ex- und ehemaligen Kommunisten. Erstere hätten im weltgeschichtlichen Rollenspiel lediglich die Seiten getauscht, letztere hingegen hätten einen Rückzug ins Private vollzogen, der allein als Beleg für ihre Abkehr vom Kommunismus gelten könne.161 Die Anwendung von Arendts Schlussfolge­ rung auf den Fall Ruth Fischer bereitet jedoch einige Schwierigkeiten, da Fischer in der zweiten Hälfte ihres Lebens zwischen den Kategorien chan­ gierte. Noch weniger lässt sich mithilfe von Arendts Unterscheidung Fischers kommunistische Persönlichkeit begreifen. Die spezifische Erfah­ rung der Diskrepanz in dem Moment, da die revolutionäre Bewegung in die totalitäre Herrschaft Stalins umschlug, bliebe verstellt – und damit eine Ent­ täuschung, die nur von den wenigsten zum Anlass genommen wurde, dem »kommunistischen Begehren« abzuschwören.162 Dieses »kommunistische Begehren«, das Fischers gesamtes Leben bestimmte, war das zentrale Moment, das als Schlüssel für ihr Leben und auch für das weiterer kommu­ nistischer Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts gelten kann. Es erwuchs aus der bedingungslosen Abkehr von einer Welt, aus der sie und mit ihr eine ganze »verlorene Generation« durch die Katastrophe des Ersten Weltkriegs vertrieben worden war. In fundamentaler Gegnerschaft zum Krieg und zu den gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihn hervorgebracht hatten, ver­ schrieben sich diese heimatlos gewordenen Jugendlichen rückhaltlos einer zur Ideologie deprivierten Utopie. In einem Prozess der Reduktion von Komplexität fanden sie auf der Suche nach Sicherheit und Eindeutigkeit im Ideal des Berufsrevolutionärs eine politische Antwort, eine von der eigenen Herkunft losgelöste, scheinbar stabile Zugehörigkeit, die sich als trügerisch erweisen musste. Der Weg, den Ruth Fischer eingeschlagen hatte, war früh zum Irrweg geworden.

159 Ebd., 30. 160 Ders., Kommunist, Exkommunist, Antikommunist, 61. 161 Hannah Arendt, Gestern waren sie noch Kommunisten, in: dies., Übungen im politischen Denken, hg. von Ursula Ludz, 2 Bde., hier Bd. 2: In der Gegenwart, München 2012, 228– 237, hier 229 f. 162 Schrupp, Der Verlust kommunistischen Begehrens, 142.

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Literaturbericht

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David Kowalski

Polnische Politik und jüdische Zugehörigkeit: Die frühe Oppositionsbewegung und das Jahr 1968 Im Dezember 2007 fand in Warschau eine zweitägige internationale Konfe­ renz unter dem Titel »Społeczność żydowska w PRL przed kampanią anty­ semicką lat 1967–1968 i po niej« (Die jüdische Gemeinde in der Volksre­ publik Polen vor der antisemitischen Kampagne von 1967–1968 und in der Zeit danach) statt. Sie bildete den Auftakt einer Reihe von wissenschaftli­ chen Tagungen, die sich der 40. Wiederkehr jener Geschehnisse widmeten. Die hochkarätig besetzte Konferenz wurde vom Instytut Pamięci Narodowej (Institut des nationalen Gedenkens; IPN) ausgetragen, nahezu alle Beiträge fanden 2009 Eingang in den vom IPN herausgegebenen Konferenzband.1 Die Aufsätze nehmen verschiedene Aspekte des jüdischen Lebens in Augen­ schein. Sowohl die Situation der Judenheiten bis 1968 als auch der von staat­ licher Seite initiierte Antisemitismus werden ausführlich behandelt. Antony Polonsky beispielsweise betrachtet die polnisch-jüdischen Traditionen und die Nachwirkungen des Holocaust, der seiner These zufolge den Schluss­ punkt jener Lebenswelten markierte. Die massenhafte Emigration infolge der sogenannten Märzereignisse von 1968 bezeichnet er als »traurigen Epi­ log« der Geschichte der polnischen Judenheiten.2 Jaff Schatz und Karen Auerbach behandeln das jüdisch-kommunistische Milieu der Zwischen- und Nachkriegszeit, während Leszek Olejnik und Janusz Mieckowski regionale jüdische Gemeinden mit Blick auf das Jahr 1968 untersuchten. Eine bemer­ kenswerte Zahl von Aufsätzen – darunter jene von Witold Mędykowski und Dariusz Stola – widmen sich den verschiedenen Facetten der antisemitischen Kampagne und der Rolle, die das Ministerium für Innere Sicherheit in ihr gespielt hat. Das Thema Jüdisches Leben in Polen um 1968 wird also umfassend behandelt und aus vielen verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Ein Aspekt fehlt jedoch vollständig: die Oppositionsbewegung. Dies ist aus verschiede­ 1

2

Instytut Pamięci Narodowej (Hg.), Społeczność żydowska w PRL przed kampanią antyse­ micką lat 1967–1968 i po niej [Die jüdische Gemeinde in der Volksrepublik Polen vor der antisemitischen Kampagne von 1967–1968 und in der Zeit danach], bearb. von Grzegorz Berendt, Warschau 2009. Antony Polonsky, Tradycje polskich Żydów i wpływ Holokaustu na ich zmianę [Die Tra­ ditionen der polnischen Juden und die Auswirkungen des Holocaust auf ihren Wechsel], in: Instytut Pamięci Narodowej (Hg.), Społeczność żydowska w PRL przed kampanią antysemicką lat 1967–1968 i po niej, 27–42, hier 42. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 525–548.

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nen Gründen erstaunlich, bildeten die Studentenproteste doch eine Art Kata­ lysator für die antisemitische Kampagne von 1968. Zwar hatte es bereits vorher »Säuberungen« innerhalb der Partei gegeben, aber erst als Reaktion auf die Unruhen vom 8. März waren in den Medien und auf Parteiveranstal­ tungen Personen öffentlich aufgrund ihrer jüdischen Herkunft diffamiert und zur Emigration aufgefordert worden. Die Kampagne hob unter anderem darauf ab, die politische Opposition zu diskreditieren und eine breite gesell­ schaftliche Unterstützung zu verhindern.3 Auch in den darauffolgenden Jah­ ren spielten die Oppositionellen von 1968 eine bedeutende Rolle, engagier­ ten sie sich doch maßgeblich beim Aufbau der Gewerkschaft Solidarność. Mit Jacek Kuroń und Adam Michnik waren zwei Protagonisten von 1968 Teilnehmer der Gespräche am sogenannten Runden Tisch und damit unmit­ telbar am epochalen Umbruch von 1989/1990 beteiligt.4 Auch viele Opposi­ tionelle, die im Zuge der Ereignisse des Jahres 1968 Polen verlassen hatten, beeinflussten das polnische Zeitgeschehen weiterhin in erheblichem Maße. So gründeten etwa Aleksander und Eugeniusz Smolar 1973 die zunächst in Schweden, anschließend in England herausgegebene Vierteljahresschrift Aneks (Anhang), die mit der Pariser Kultura (Kultur) zu den wichtigsten pol­ nischen Exilzeitschriften zählte.5 Jan Tomasz Gross wiederum trug mit sei­ nen Publikationen über das polnisch-jüdische Verhältnis maßgeblich zur Geschichtsaufarbeitung in Polen bei und löste eine breite gesellschaftspoliti­ sche Debatte über das nationale Selbstverständnis aus, die bis heute andauert.6 Dass die Protestbewegung von 1968, die sowohl für den Kontext der anti­ semitischen Kampagne als auch für den weiteren Verlauf der polnischen Geschichte Relevanz besitzt, auf der Konferenz 2007 in Warschau keinerlei Beachtung fand, ist umso bemerkenswerter, vergegenwärtigt man sich das Herkunftsmilieu der Oppositionellen. Denn zumindest für die Warschauer Akteure, von denen die landesweiten Proteste ausgingen, lässt sich konsta­ tieren, dass eine Vielzahl von ihnen jüdischer Herkunft war und sie dement­ sprechend für die Historisierung des jüdischen Lebens in Polen von Bedeu­ tung sind. 3

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Siehe Dariusz Stola, The Hate Campaign of March 1968. How Did it Become AntiJewish?, in: Leszek W. Głuchowski/Antony Polonsky (Hgg.), 1968. Forty Years After, Oxford/Portland, Oreg., 2009, 16–36, bes. 24 und 34. Zur Geschichte des Runden Tisches siehe Andrzej Garlicki, Rycerze Okrągłego Stołu [Die Ritter des Runden Tisches], Warschau 2004. Zur Zeitschrift Aneks siehe Agnes Arndt, Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsge­ schichte linker Dissidenz in Polen (1956–1976), Göttingen 2013, 184–188. Zur Debatte um Jan T. Gross’ Publikationen siehe Antony Polonsky/Joanna B. Michlic (Hgg.), The Neighbors Respond. The Controversy over the Jedwabne Massacre in Poland, Princeton, N. J., 2004; Barbara Engelking/Helga Hirsch (Hgg.), Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden, Frankfurt a. M. 2008.

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Die Vernachlässigung der frühen Oppositionsbewegung im Kontext der Forschungen zur jüdischen Geschichte war jedoch nicht nur auf der Kon­ ferenz in Warschau zu beobachten, vielmehr kann diese als allgemeine Leerstelle in der Historisierung des Jahres 1968 gelten. Daraus ergeben sich Fragen zur Rezeptionsgeschichte: Wie wurden jene Ereignisse zu unter­ schiedlichen Zeiten historisiert? Worauf ist die fehlende Bezugnahme auf die Oppositionsbewegung zurückzuführen? Welche Erkenntnisse können aus der Betrachtung der partikularen Aspekte der Oppositionsbewegung für die allgemeine polnische Geschichtsschreibung gewonnen werden? – Der vorliegende Artikel will einen Überblick über die Historisierung des polni­ schen Jahres 1968 geben und dabei aufzeigen, inwiefern die Berücksichti­ gung von Fragen der Herkunft die Perspektive auf die Ereignisse produktiv zu erweitern vermag. Die Oppositionsbewegung fungiert dabei gleichsam als Scharnier zwischen jüdischer und polnischer Geschichte.

Die frühe Rezeption In Ermangelung eines freien Publikationswesens war in Polen bis in die Achtzigerjahre hinein eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Ereignissen von 1968 nicht möglich. Auch in der Opposition und innerhalb ihres Milieus bezog man sich zunächst kaum auf die Studentenproteste. Vielmehr versperrte deren Erfolglosigkeit eine positive Rezeption der Geschehnisse.7 Während für die Arbeiterunruhen von 1956 und 1970 trotz gewaltsamer Niederschlagung durch Polizei und Militär konstatiert werden kann, dass sie jeweils in der Absetzung der Parteiführung mündeten,8 führ­ ten die Demonstrationen 1968 nicht zur Destabilisierung des Systems – und dies obwohl es sich um die größten Studentenproteste der polnischen Nach­ kriegsgeschichte handelte.9 Als Folge einer antisemitisch eingefärbten Par­ teipolitik mussten insgesamt 15 000 bis 20 000 Menschen jüdischer Her­

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Zur Rezeptionsgeschichte von 1968 im oppositionellen Milieu siehe Andrea Genest, Reminiszenz und Erkenntnis. Zur Wahrnehmung der antisemitischen Kampagne in Polen nach ’68, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 9 (2010), 207–229; dies., From Oblivion to Memory. Poland, the Democratic Opposition and 1968, in: Cuadernos de historia contemporánea 31 (2009), 89–106. Zu den Arbeiterunruhen von 1956 und 1970 vgl. Anthony Kemp-Welch, Poland under Communism. A Cold-War History, Cambridge/New York 2008. Eine ausführliche deutschsprachige Überblicksdarstellung zur antisemitischen Kampagne und den Studentenprotesten bietet Hans-Christian Dahlmann, Antisemitismus in Polen 1968. Interaktion zwischen Partei und Gesellschaft, Osnabrück 2013.

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kunft Polen verlassen, unter ihnen ein erheblicher Teil der oppositionellen Bewegung sowie der kulturellen und intellektuellen Elite des Landes.10 Der Oppositionsbewegung von 1968 misslang es, grundlegende Verände­ rungen durchzusetzen; die Gomułka-Ära wird von Historikern häufig trotz der versuchten studentischen Erhebung sogar als Phase der »kleinen Stabili­ sierung« wahrgenommen.11 Die Ziele der Oppositionellen wurden verfehlt und die Bewegung hat sich infolge der starken Repressionen aufgelöst. Adam Michnik, Jacek Kuroń oder Karol Modzelewski wurden zu mehreren Jahren Haft verurteilt, andere Oppositionelle wie Jan Tomasz Gross oder Aleksander Smolar verließen das Land, direkt nachdem sie aus der Untersu­ chungshaft entlassen worden waren.12 Innerhalb des oppositionellen Perso­ nenkreises wurde das Jahr 1968 darum als Niederlage verstanden und für die Bewegung zu einem, wie es Andrea Genest in ihrer Rezeptionsge­ schichte der antisemitischen Kampagne formuliert, »Erinnerungsort des Scheiterns«.13 Einer Aufarbeitung der Ereignisse nahmen sich die Protago­ nisten erst Mitte der Siebzigerjahre an. Die ersten Veröffentlichungen zu den sogenannten Märzereignissen er­ schienen darum im westlichen Ausland. Zunächst waren es polnische Zeit­ zeugen, die sich im Exil dem Gegenstand widmeten – zum einen, weil ihnen das Thema nahestand, und zum anderen, weil Archivmaterial für eine unab­ hängige Forschung noch nicht zugänglich war. Ein Zentrum der wissen­ schaftlichen Auseinandersetzung lag dabei in Paris. Die von dem polnischen Juristen und Publizisten Jerzy Giedroyc herausgegebene polnischsprachige Exilzeitschrift Kultura machte es sich zur Aufgabe, das unmittelbare Zeitge­ schehen zu dokumentieren und zu analysieren. Die Zeitschrift war Teil des von Giedroyc gegründeten Pariser Verlages Instytut Literacki (Literaturinsti­ tut), dessen Zielsetzung eine dezidiert politische war. Über die Publikationen des Hauses sollte der Kontakt zu in Polen ansässigen intellektuellen Kreisen aufrechterhalten und die polnische öffentliche Meinung in Richtung einer 10 Die Emigrationszahlen lassen sich nicht präzise erfassen, doch in der Wissenschaft besteht Einigkeit darüber, dass sie sich in diesem Rahmen bewegt haben. Siehe dazu Jerzy Eisler, 1968. Jews, Antisemitism, Emigration, in: Głuchowski/Polonsky (Hgg.), 1968, 37–61, hier 55 f. 11 Siehe z. B. Andrzej Friszke, Anatomia buntu. Kuroń, Modzelewski i komandosi [Die Anatomie des Widerstands. Kuroń, Modzelewski und die Komandosi], Kraków 2010, 61. Siehe auch Włodzimierz Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, München 2010. Borodziej diskutiert ausführlich, inwiefern die Beschreibung als »kleine Stabilisie­ rung« zutreffend ist. Die Bilanz der Gomułka-Ära bezeichnet er als »katastrophal« (ebd., 318), gleichzeitig spricht er der Charakterisierung als »Stabilsierung« explizit nicht die Berechtigung ab (ebd., 340). 12 Zu den Gerichtsprozessen und den Repressionen gegen die Oppositionellen siehe Friszke, Anatomia buntu, 597–884. 13 Genest, Reminiszenz und Erkenntnis, 208.

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freiheitlich-demokratischen Ordnung gelenkt werden.14 Hierzu standen dem Verlag neben der Kultura die historische Fachzeitschrift Zeszyty Historyczne (Historische Hefte) sowie die Buchreihe »Biblioteka Kultury« (Bibliothek der Kultura) zur Verfügung.15 In der »Biblioteka Kultury« erschien 1969 auch die erste Dokumentensammlung zu den Ereignissen in Polen 1968. Das Konvolut mit dem Titel Wydarzenia Marcowe 1968. Z Przedmową Prof. Zygmunta Baumana (Die Märzereignisse 1968. Mit einem Vorwort von Prof. Zygmunt Bauman) dokumentiert die öffentlichen Verlautbarungen der Studenten – Flugblätter, Petitionen und Reden – von Januar bis April 1968.16 Die Quellensammlung erreichte im Westen aufgrund der Sprachbar­ riere nur eine geringe Verbreitung, trotzdem wurde sie später die zentrale Referenzquelle verschiedener Monografien über das Jahr 1968.17 Vor allem Zygmunt Baumans Analyse der Geschehnisse bestimmte das weitere Narrativ der antisemitischen Kampagne. Erstmalig hatte er im Dezember 1968 in einem Kommentar in der Kultura seine Deutung der Ereignisse gegeben.18 Bauman, der selbst im Zuge der Kampagne aus Polen emigrieren musste, verstand den Antisemitismus als politisches Instrument der Parteiführung gegen die Liberalisierungsbestrebungen im Land. Es sei dabei nicht allein um die studentischen Oppositionellen gegangen, sondern auch um den innerparteilichen Machtkampf zwischen den zwei konkurrier­ enden Fraktionen Puławy und Natolin. Erstere war um eine Reform des Sozialismus in Polen bemüht und unterstützte die Liberalisierungstendenzen von 1956. Letztere sperrte sich gegen weitreichende Veränderungen und war von einem ethnisch argumentierenden und stark exkludierenden Nationalis­ mus gekennzeichnet.19 Der polnische Innenminister, Mieczysław Moczar, war die führende Kraft der Natolin. Die Ereignisse des Sechstagekrieges, bei denen sich die Staaten des »Ostblocks« mit den arabischen Staaten soli­ darisierten und den Zionismus als neues Feindbild inszenierten, boten ihm

14 Siehe den Redaktionsbericht zum 25-jährigen Bestehen der Kultura in Józef Czapski, Dwadzieścia pięć lat [Fünfundzwanzig Jahre], in: Kultura 299 (1972), 2–12. 15 Zum Instytut Literacki siehe Arndt, Rote Bürger, 182–185. 16 Zygmunt Bauman, Wydarzenia Marcowe 1968 [Die Märzereignisse 1968], hg. vom Insty­ tut Literacki, Paris 1969 (Bd. 167 der Biblioteka Kultury). 17 Richard Hammers Monografie Bürger zweiter Klasse. Antisemitismus in der Volksrepub­ lik Polen und der UdSSR, Hamburg 1974, beispielsweise bezieht sich maßgeblich auf diese Dokumentensammlung. 18 Zygmunt Bauman, O frustracji i kuglarzach [Von Frustration und Gauklern], in: Kultura 255 (1968), 5–21. 19 Siehe dazu Ingo Loose, 1968. Antisemitische Feindbilder und Krisenbewusstsein in Polen, in: Silke Satjukow/Rainer Gries (Hgg.), Unsere Feinde. Konstruktion des Anderen im Sozialismus, Leipzig 2004, 481–502, hier 483.

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Anlass, die Politiker der Puławy, von denen viele jüdischer Herkunft waren, zu attackieren.20 Auf diesen innerparteilichen Machtkampf zielten Zygmunt Baumans erste Erklärungen der Ereignisse von 1968. In der sogenannten antizionistischen Kampagne sah er ein erfolgreiches politisches Instrument, sich politischer Kontrahenten zu entledigen. Dieser Deutung folgten auch spätere Publika­ tionen zum Thema. Um 1970 erschienen in der Kultura eine ganze Reihe von Artikeln, die das politische System in Polen vor der Folie der antisemiti­ schen Kampagne zu analysieren versuchten.21 Auf dieselbe Weise wurde das polnische Zeitgeschehen auch im deutschsprachigen Raum interpretiert. In der Bundesrepublik widmete sich insbesondere das Journal Osteuropa. Zeit­ schrift für Gegenwartsfragen des Ostens dem Thema.22 Trotz dieser Anstrengungen fanden die antisemitische Kampagne und die polnischen Studentenproteste im Westen jedoch weiterhin lediglich bei einem Fachpub­ likum Beachtung. In der öffentlichen Wahrnehmung wurden sie von den Ereignissen in der Tschechoslowakei überlagert. Die Umwälzungen in Prag und ihre militärische Niederschlagung durch Armeen des Warschauer Pakts waren für die Rezeption des Jahres ’68 in Mittel- und Osteuropa bestim­ mend – und sind es bis heute geblieben.23 In der Niederschlagung des »Pra­ ger Frühlings« liegt wohl auch ein Grund für die Fokussierung auf die Ana­ lyse des politischen Systems. Denn der Sozialismus erschien im östlichen Europa nach 1968 als gefestigt, sodass die Publizistik sich zunächst darauf konzentrierte, seine Funktionsweisen zu verstehen. Es ging vorrangig darum, nachvollziehbar zu machen, wie es zu den Ereignissen in Polen und der Tschechoslowakei kommen konnte.24

20 Zum Vorgehen von Moczar und dem von ihm geführten Ministerium für Innere Sicherheit gegenüber Polen jüdischer Herkunft siehe Jerzy Eisler, Marzec 1968. Geneza, przebieg, konsekwencje [März 1968. Genese, Verlauf, Konsequenzen], Warschau 1991; Włodzimi­ erz Rozenbaum, The March Events. Targeting the Jews, in: Głuchowski/Polonsky (Hgg.), 1968, 62–92. 21 Im Folgenden eine unvollständige Liste der Artikel in der Kultura: January Grzędziński, Zwierzęta patrzą na nas [Die Tiere gucken auf uns], in: ebd. 248 (1968), 79–87; Apolinar Kamiński, Gomułka i Moczar [Gomułka und Moczar], in: ebd. 264 (1969), 74–78; Jan Drewnowski, Socjalizm w Polsce [Der Sozialismus in Polen], in: ebd. 276 (1970), 25–39. 22 Harald Laeuen, Die Märzunruhen in Polen und ihre Folgen (in zwei Teilen), in: Osteu­ ropa 1/2 (1969), 1–17 und 110–124; ders., Der intellektuelle Aderlass, in: ebd. 3 (1969), 198–204; Georg Waldemar Strobel, Die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei. Mitglieder­ bestand, Soziale Zusammensetzung, Säuberungen, in: ebd. 5/6 (1969), 353–359. 23 Beispiele hierzu bieten einige Überblicksdarstellungen zu 1968, in denen jeweils der »Prager Frühling«, nicht aber der »polnische März« Beachtung findet. Siehe Jens Kast­ ner/David Mayer (Hgg.), Weltwende 1968? Ein Jahr aus globalgeschichtlicher Perspek­ tive, Wien 2008; Chris Harman, 1968. Eine Welt in Aufruhr, Frankfurt a. M. 2008. 24 Siehe zu dieser These auch Genest, Reminiszenz und Erkenntnis, 213.

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Die ersten Monografien zu 1968 folgten einem ähnlich gelagerten Er­ kenntnisinteresse. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang an erster Stelle Paul Lendvais Werk Antisemitism without Jews. Communist Eastern Europe, das 1971 auf Englisch und ein Jahr später auch auf Deutsch erschien.25 Die Veröffentlichung machte die Ereignisse in Polen in kurzer Zeit einem breiten Publikum weltweit zugänglich. Auch diese Studie avancierte rasch zu einer zentralen Referenzquelle für die Ereignisse. Der Titel des Buches steht in­ zwischen emblematisch für Antisemitismus nach dem Holocaust.26 Detail­ liert beschrieb Lendvai die antisemitische Politik in Polen und kontrastierte sie anschließend mit der antizionistischen Politik Ungarns, Rumäniens und der Tschechoslowakei. Dabei stützte er sich auf eigene Erfahrungen – Lend­ vai hatte bis 1957 in Ungarn gelebt und floh anschließend nach Wien27 – sowie auf über fünfzig Zeitzeugengespräche.28 Wie zuvor Bauman kam auch er zu dem Ergebnis, dass der Antisemitismus zuvorderst ein politisches Instrument darstellte und von der Parteispitze intentional eingesetzt wurde. In seiner Argumentation stützte er sich auf die »Sündenbock-Theorie«, wonach verschiedene Gesellschaftsgruppen letztendlich zufällig Opfer eines anders gelagerten Konflikts wurden. Die von der Kampagne Betroffenen fungierten bei Lendvai lediglich als »Blitzableiter« für den innerparteilichen Machtkampf.29 Auch wenn sein Buch Antisemitismus ohne Juden der Oppo­ sitionsbewegung und ihren Aktivitäten erstmalig größere Beachtung schenkte, fungierte die Bewegung bei ihm doch lediglich als arbiträres Objekt der staatlichen Kampagne, womit Lendvai ihr im Grunde eine geringe Bedeutung beimaß. Ähnlich argumentierte auch die zweite Monografie zu den Ereignissen in Polen. Sie erschien 1974 unter dem Titel Bürger zweiter Klasse. Antisemitis­ mus in der Volksrepublik Polen und der UdSSR. Der Autor, der unter dem 25 Paul Lendvai, Anti-Semitism without Jews. Communist Eastern Europe, Garden City, N. Y., 1971 (dt.: ders., Antisemitismus ohne Juden, Entwicklungen und Tendenzen in Ost­ europa, Wien 1972). 26 Siehe für ähnliche Titel Robert Wistrich, Once Again, Anti-Semitism without Jews, in: Commentary 94 (1992), 45–50; Michael Shafir, Anti-Semitism without Jews in Romania, in: Jan Hančil/Michael Chase (Hgg.), Anti-Semitism in Post-Totalitarian Europe. Collec­ ted Proceedings from the International Seminar on Anti-Semitism in Post-Totalitarian Europe Held in Prague, May 22–24, 1992, Prag 1993, 204–226; Monika Rodzoń, Antise­ mitismus ohne Juden. Spezifik eines Vorurteils am Beispiel Polens, Frankfurt a. M. 1996; Manfred Böcker, Antisemitismus ohne Juden. Die Zweite Republik, die antirepublikani­ sche Rechte und die Juden. Spanien 1931 bis 1936, Frankfurt a. M. u. a. 2000; Egon Peli­ kan, Antisemitismus ohne Juden in Slowenien, in: Jahrbuch für Antisemitismusfor­ schung 15, hg. von Wolfgang Benz, Berlin 2006, 185–199. 27 Zum Leben Paul Lendvais siehe ders., Leben eines Grenzgängers. Erinnerungen. Aufge­ zeichnet im Gespräch mit Zsófia Mihancsik, Wien 2013. 28 Ders., Antisemitismus ohne Juden, 10. 29 Ebd., 218.

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Pseudonym Richard Hammer veröffentlichte, musste selbst im Zuge der antisemitischen Kampagne Polen verlassen.30 Das Buch bietet detaillierte Einblicke in die Hintergründe der staatlichen Politik und zeugt von einer profunden Kenntnis der Begebenheiten. Leider zitiert Hammer ganze Abschnitte aus der oben erwähnten Dokumentensammlung Wydarzenia Marcowe 1968. Z Przedmową Prof. Zygmunta Baumana, ohne dies jedoch zu kennzeichnen. Neben der These, dass der Antisemitismus in Polen einem politischen Instrument gleichkam, stellte der Autor die Rolle heraus, die die Sowjetunion bei all dem spielte. Wie vor ihm Paul Lendvai sah auch Richard Hammer die Sowjetunion als »Exportland« des Antisemitismus.31 Beide betonten jedoch die Handlungsspielräume der polnischen Parteispitze, ging es ihnen doch darum, durch die Analyse des Antisemitismus Erkenntnisse über die allgemeine Konstitution des polnischen Sozialismus zu gewinnen. In den Folgejahren nahm das wissenschaftliche Interesse an den Ereignis­ sen von 1968 ab. Dies war sicherlich den Entwicklungen in Polen selbst geschuldet. Mit der Gründung des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter (Komitet Obrony Robotników; KOR) verschob sich das Augenmerk der Zeitgenossen vom Jahr 1968, das mit Scheitern konnotiert war, hin zur neu formierten Oppositionsbewegung.32 Ähnlich wie Jacek Kuroń, Adam Mich­ nik, Józef Dajczgewand oder auch Barbara Toruńczyk engagierten sich eine Vielzahl der Aktivisten von 1968 – und somit die für die Rezeption des Jah­ res prägenden Personen – in dem neu geschaffenen zivilgesellschaftlichen Zusammenschluss. Der Initiative zur Selbstverwaltung ging ein konzeptio­ neller Wandel im oppositionellen Selbstverständnis voraus, den Leszek Koła­ kowski mit seinem Text Tezy o nadziei i beznadziejności (Thesen über die Hoffnung und die Hoffnungslosigkeit) eingeleitet hatte. In dem Artikel, der 1971 in der Kultura erschien, plädierte er dafür, aus 1968 die Lehren zu zie­ hen und auf Reformappelle an die Partei zu verzichten. Stattdessen solle sich das oppositionelle Engagement auf den zivilgesellschaftlichen Bereich kon­ zentrieren, um auf diesem Weg langfristig die Strukturen für einen gesell­ schaftlichen Wandel von unten voranzutreiben.33 30 Die Informationen zum Autor entstammen dem Klappentext des Buches. Aufgrund des Fehlens der Autorenmappe im Archiv des Verlags Hoffmann und Campe konnte der Name des Autors leider nicht ermittelt werden. 31 Siehe bei Paul Lendvai dazu das Kap. »Moskau – Zentrum und Exporteur des Antisemi­ tismus«, in: ders., Antisemitismus ohne Juden, 21–30; Bei Hammer siehe dazu das Kap. »Exportland UdSSR«, in: ders., Bürger zweiter Klasse, 226–264. 32 Zur allgemeinen Geschichte des KOR siehe Jan Józef Lipski, KOR. Komitet Obrony Robotników – Komitet Samoobrony Społecznej [KOR. Komitee zur Verteidigung der Arbeiter – Komitee zur gesellschaftlichen Selbstverteidigung], Warschau 22006. 33 Leszek Kołakowski, Tezy o nadziei i beznadziejności, in: Kultura 285 (1971), 3–12. In einer englischen Übersetzung erschien der Text unter dem Titel Hope and Hopelessness in: Survey 3 (1971), 37–52.

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Durch die Gründung des KOR verschob sich auch die Perspektive, mit der auf 1968 geblickt wurde. Innerhalb des oppositionellen Milieus begann man, das Jahr nicht mehr nur als Niederlage zu empfinden, sondern die Gründe für das Scheitern zu analysieren. Adam Michnik und Jacek Kuroń publizierten in der Londoner Aneks und der Pariser Kultura Artikel, die die verfehlten Proteste von 1968 reflektierten und das Ziel hatten, die hieraus gewonnenen Erkenntnisse für das weitere Engagement zu nutzen.34 In ihrer Ausrichtung folgten sie dabei Leszek Kołakowskis Ausführungen von 1971. Durch diese produktive Wendung der Deutung kam den damaligen Protesten nun eine positive Rolle zu: Sie boten wichtige Einsichten in das Räderwerk des polnischen Sozialismus, zeigten, dass er nicht reformierbar war, und leg­ ten somit den Grundstein für die neue Organisationsform der Opposition.35 Diese Verschiebung spiegelte sich in der wissenschaftlichen Auseinander­ setzung wider. Es entstanden zunehmend Werke, die der studentischen Oppositionsbewegung nun eine höhere Bedeutung beimaßen und in ihr einen Grundstein der späteren Umwälzungen sahen. 1978 erschien mit Peter Rainas Political Opposition in Poland 1954–1977 die erste Monografie, die sich ausschließlich der polnischen Oppositionsbewegung widmete. Rainas Buch basiert allerdings maßgeblich auf Beobachtungen, die er lediglich bei einem längeren Aufenthalt in Polen gesammelt hatte. Seine Annahmen sind nicht immer nachvollziehbar und wenig belegt, seine Schlussfolgerungen häufig tendenziös.36 Davon abgesehen zeugt das Buch von einem Trend, den Protesten von 1968 einen vorbereitenden Charakter für die Gründung des KOR beizumessen. Dieser Linie folgt auch Jan Józef Lipski in seiner Studie zur Geschichte des KOR von 1983.37 Lipski war selbst Teil des oppositionel­ len Umfelds. Er gehörte zu den Mitbegründern des Komitees und war bereits vorher eine Art Mentor der studentischen Oppositionsbewegung. Bis 1959 war er zudem Vorsitzender des Klubs des Krummen Kreises (Klub Krzy­ wego Koła) gewesen, eines liberalen Diskussionskreises Warschauer Intel­ 34 Jacek Kuroń, Polityczna opozycja w Polsce [Politische Opposition in Polen], in: Kul­ tura 326 (1974), 2–21; Adam Michnik, Nowy ewolucjonizm [Der neue Evolutionismus], in: Aneks 13/14 (1977), 33–48. 35 Siehe dazu auch Genest, Reminiszenz und Erkenntnis, 213. 36 Einige Erklärungsansätze von Peter Raina sind dezidiert zurückzuweisen. So schreibt er beispielsweise in Bezug auf die hohe Präsenz von Kommunisten jüdischer Herkunft innerhalb der Parteispitze: »Partly the close contact among Jews, that is, the feeling of belonging together, explains why, when some of them acquired powerful and privileged positions, they arranged to help other members of the Jewish community.« Diese Feststel­ lung entbehrt jeglicher historischer Faktizität und verkehrt die Zusammenhänge von jüdi­ scher Herkunft und kommunistischem Engagement. Das Zitat findet sich in ders., Politi­ cal Opposition in Poland, 1954–1977, London 1978, 111. 37 Jan Józef Lipski, KOR. Komitet Obrony Robotników – Komitet Samoobrony Społecznej, London 1983, 12.

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lektueller, den auch Adam Michnik, Jan Tomasz Gross und Jacek Kuroń besuchten.38 1964 hatte Lipski zusammen mit Antoni Słonimski den Brief der 34 initiiert, in dem 34 Intellektuelle sich öffentlich für eine stärkere Wahrung der Meinungs- und Pressefreiheit einsetzten.39 Wie die ersten Werke zu ’68, so ist auch Lipskis Monografie von eigenen Erfahrungen und dem oppositionellen Narrativ geprägt. Erst in den 1990er Jahren begannen Außenstehende sich mit der frühen Oppositionsbewegung zu befassen. Bis dahin waren es, wie beschrieben, vor allem Exilanten und ehemalige Prota­ gonisten der Protestbewegung, die sich des Phänomens annahmen. Es passt ins Bild, dass Lipskis Werk bei Aneks erschien, jenem Verlag, der von ehe­ maligen Oppositionellen und Opfern der antisemitischen Kampagne – namentlich Aleksander und Eugeniusz Smolar – 1974 in Schweden gegrün­ det worden war.40 Die englische Übersetzung gab wiederum Jan T. Gross zwei Jahre später zusammen mit seiner ebenfalls emigrierten Frau Irena Grudzińska-Gross in der University of California Press heraus.41 Aber selbst diejenigen Studien, die nicht von ehemaligen Aktivisten oder Betroffenen verfasst wurden, waren auf die Erzählungen und Erfahrungsberichte der Oppositionellen angewiesen, da Archive nicht einsehbar waren und freie Forschung in Polen von Staats wegen kaum betrieben werden konnte. In diesem von den Zeitzeugen geprägten Narrativ der frühen Oppositions­ bewegung spielten jüdische Aspekte keine Rolle. Dies ist umso bemerkens­ werter, vergegenwärtigt man sich, dass Zygmunt Bauman, Richard Hammer, Adam Michnik, Aleksander und Eugeniusz Smolar, Irena Grudzińska-Gross und Jan T. Gross – für die frühe Rezeptionsgeschichte wichtige Personen – selbst jüdischer Herkunft waren. Ihre Deutung der Ereignisse prägte auch die Geschichtsschreibung im demokratisch verfassten Polen.

Die polnische Geschichtsschreibung im demokratischen Polen Der epochale Umbruch von 1989/1990 hatte weitreichende Folgen auch für die Historiografie. Erstmals war es in Polen nun möglich, Arbeiten zu publi­ zieren, die sich der Geschichte der Volksrepublik auf kritische Weise annah­ men. Der Auswertung der Achtzigerjahre und der Solidarność-Aktivitäten 38 Eine erste Monografie zum Warschauer Diskussionsklub bietet Witold Jedlicki, Klub Krzywego Koła [Klub des krummen Kreises], Paris 1963. 39 Eine detaillierte Darstellung der Geschehnisse um den Brief der 34 findet sich bei Jerzy Eisler, List 34 [Brief der 34], Warschau 1993. 40 Siehe Mikołaj Tyrchan, “Aneks” – Post-March Émigré Quarterly, in: Studia Medioz­ nawcze/Media Studies 37 (2009), H. 2, 104–120, hier 104. 41 Jan Józef Lipski, KOR. A History of the Workers’ Defense Committee in Poland, 1976– 1981, Berkeley/Los Angeles, Calif./London 1985.

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wurde dabei zunächst die größte Aufmerksamkeit zuteil.42 Doch auch den Ereignissen von 1968 widmete man sich innerhalb der Forschung. Bereits 1991 legte Jerzy Eisler mit Marzec 1968 die erste im postsozialistischen Polen publizierte Monografie zum Thema vor.43 Das Werk behandelt sowohl die antisemitische Kampagne als auch die oppositionellen Aktivitäten, wobei gesagt werden muss, dass Eisler noch nicht auf die Archivbestände des Sicherheitsapparats zurückgreifen konnte. Diese wurden erst im Jahr 2001 für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht.44 Die Deutung der antisemi­ tischen Kampagne folgt darum weitestgehend zuvor publizierten Werken. Jedoch gelingt es Eisler zu zeigen, dass das Jahr 1968 für die Opposition eine politische Zäsur darstellte, die den Charakter der Bewegung entschei­ dend veränderte. Bis ’68 verstanden sich die Aktivisten weitestgehend als Kommunisten. Ihr Engagement zielte auf eine Reform des Sozialismus. Erst aufgrund der antisemitischen Kampagne, durch die die Partei sich grundle­ gend desavouiert hatte, gewannen sie die Einsicht, dass das System im Gan­ zen abzulehnen sei. In der Wissenschaft hat sich diese Deutung inzwischen weitestgehend durchgesetzt.45 Als die Ereignisse von 1968 sich zum dreißigsten Mal jährten, fanden mehrere Konferenzen zum Thema statt. Am Berliner Zentrum für Antisemi­ tismusforschung zum Beispiel wurde unter dem Titel »Die Vertreibung der Juden aus Polen 1968. Antisemitismus und politisches Kalkül« eine interna­ tionale Tagung veranstaltet, aus der der erste deutschsprachige Sammelband zur antisemitischen Kampagne hervorging; zusätzlich enthielt dieser kontex­ tualisierende Aufsätze über die Situation in der Sowjetunion und der Tsche­ choslowakei. Er trägt den Titel der Konferenz und wurde im Jahr 2000 von Beate Kosmala herausgegeben. Die Konferenzen verfolgten unter anderem das Ziel, dem polnischen Jahr ’68 zu einer größeren Präsenz in der allgemei­ nen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit zu verhelfen, denn die polnische Oppositionsbewegung fand, verglichen mit dem »Prager Frühling« und den westlichen 68er-Bewegungen, immer noch wenig Beachtung.46 42 Siehe Jerzy Holzer/Krzysztof Leski, Solidarność w podziemiu [Die Solidarność im Unter­ grund], Łódź 1990; Jerzy Holzer, Solidarność 1980–1981. Geneza i historia [Die Solidar­ ność 1980–1981. Genese und Geschichte], Warschau 1990; Timothy Garton Ash, Polska rewolucja. Solidarność 1980–1981 [Polnische Revolution. Die Solidarność 1980–1981], Warschau 1990 (engl.: The Polish Revolution. Solidarity, New York 1984); Jan Skórzyń­ ski, Ugoda i rewolucja. Władza i opozycja 1985–1989 [Einigung und Revolution. Die Führung und die Opposition 1985–1989], Warschau 1996. 43 Eisler, Marzec 1968. 1995 publizierte Eisler schließlich eine weitere Monografie hierzu. Siehe ders., Marzec ’68, Warschau 1995. 44 Hendryk Zihang, Die Aufarbeitung der kommunistischen Staatssicherheitsdienste in Deutschland und Polen, Hamburg 2013, 98. 45 Zuletzt folgte Agnes Arndt dieser Argumentation. Siehe dies., Rote Bürger, 17. 46 Siehe dazu den Beitrag von Beate Kosmala in dies. (Hg.), Die Vertreibung der Juden aus Polen 1968. Antisemitismus und politisches Kalkül, Berlin 2000, 7–12, hier 8.

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Eine weitere hochkarätig besetzte Konferenz aus demselben Anlass fand 1998 an der Universität Warschau statt. Die Vorträge, die noch im gleichen Jahr in einem umfassenden Band publiziert wurden, behandelten die Reak­ tionen auf die antisemitische Kampagne in der Presse und innerhalb der pol­ nischen Gesellschaft, das Agieren der internationalen Diplomatie, die Rolle der Intellektuellen sowie die Nachwirkungen der Kampagne.47 Das Bestreben, den Geschehnissen in Polen größere Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, zeigte schon bald erste Erfolge. Seit der Jahrtausend­ wende ist ein Zuwachs an Publikationen zum Thema zu verzeichnen, wobei dieser Anstieg das Ergebnis unterschiedlicher Ereignisse war, die zeitlich zusammenfielen. Zum einen eröffnete das ab 2001 einsehbare Archiv des polnischen Sicherheitsministeriums die Möglichkeit, die Rolle der Geheim­ polizei und des Parteiapparats in Bezug auf die antisemitische Kampagne neu zu bewerten. Zum anderen beflügelte das bevorstehende runde »Jubi­ läum« 2008 das Publikationswesen. Darüber hinaus hatte die 2001 aufge­ kommene Diskussion um die Pogrome in Jedwabne und Kielce Auswirkun­ gen auf die Forschung zur antisemitischen Kampagne von 1968. Mit den Veröffentlichungen Neighbors. The Destruction of the Jewish Community in Jedwabne (2001) und Fear. Anti-Semitism in Poland after Auschwitz (2006) löste Jan Tomasz Gross eine breite Debatte über die Rolle des Antisemitis­ mus in der polnischen Gesellschaft aus, in der auch Fragen nach der Qualität des Antisemitismus von 1968 aufgeworfen wurden.48 Die bis dahin gängige Erklärung, er sei lediglich Produkt der Parteiführung gewesen und habe kaum einen gesamtgesellschaftlichen Rückhalt erfahren, wurde zunehmend hinterfragt. Inzwischen gibt es eine Reihe von Untersuchungen, die sich mit der Unterstützung der Kampagne innerhalb der Bevölkerung und der Rolle der unteren Parteischichten befassen. So versuchte der polnische Historiker Marcin Zaremba 2006 in seinem Aufsatz Polska 1956–1976. W poszukiwa­ niu paradygmatu (Polen 1956–1976. Auf der Suche nach einem Paradigma), die in Polen verbreitete Vorstellung vom kommunistischen Regime auf der einen Seite und einer antikommunistischen Gesellschaft auf der anderen auf­ zubrechen und ihre Interaktion, gerade auch in Bezug auf den Antisemitis­ mus, näher zu beleuchten.49 Jüngst ist zu diesem Problemfeld auch eine deutschsprachige Monografie erschienen: Antisemitismus in Polen 1968. Interaktion zwischen Partei und Gesellschaft. Der Autor Hans-Christian 47 Marcin Kula/Piotr Osęka/Marcin Zaremba (Hgg.), Marzec 1968. Trzydzieści lat później [Der März 1968. 30 Jahre danach], Warschau 1998. 48 Siehe hierzu den zusammenfassenden Überblick der Debatte in Engelking/Hirsch (Hgg.), Unbequeme Wahrheiten. 49 Marcin Zaremba, Polska 1956–1976. W poszukiwaniu paradygmatu [Polen 1956–1976. Auf der Suche nach einem Paradigma], in: Pamięć i Sprawiedliwość [Erinnern und Gerechtigkeit] 2 (2006), 25–37.

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Dahlmann arbeitet heraus, dass anders als in der gängigen Forschungslitera­ tur angenommen die antisemitische Kampagne nicht von der Parteiführung, sondern maßgeblich von den mittleren und unteren Parteiebenen vorange­ trieben wurde.50 Des Weiteren gehört zu den wichtigsten Publikationen der 2000er Jahre neben Marzec ᾿68 von Piotr Osęka,51 der explizit ein breites Publikum an­ sprechen will und wissenschaftlich nur wenige neue Erkenntnisse beisteuert, Jerzy Eislers dritte, knapp 800 Seiten umfassende Monografie zu 1968. In der allgemeinen Argumentation folgt Eisler seiner Untersuchung von 1991, aller­ dings kann er seine Thesen nun auf ein breites Quellenkorpus stützen und mit einem großen Fundus vorher unzugänglichen Archivmaterials absichern.52 Wie im Titel des Werkes – Das polnische Jahr 1968 – bereits anklingt, geht es dem Autor darum, die unterschiedlichen Ereignisse und Ebenen von 1968 zusammenzuführen und die gesamtgesellschaftliche Bedeutung für Polen herauszuarbeiten. Neben den Aktivitäten der Opposition und dem innerpar­ teilichen Machtkampf beleuchtet er die Rolle der katholischen Kirche und der internationalen Diplomatie. Wie Eisler an anderer Stelle schreibt, überlager­ ten sich verschiedene, stark abweichende Narrative – jenes der Studenten, der Parteimitglieder, der Kirche und der polnischen Mehrheitsgesellschaft –, sodass man eigentlich von einem »März« im Plural sprechen müsse.53 Über die gestiegene Beachtung des polnischen ’68 geben überdies die zahlreichen Überblicksdarstellungen aus dem Jahr 2008 Aufschluss. Neben den 68er-Bewegungen in Amerika, Deutschland, Frankreich und Tschechien finden in diesen nun häufig auch die polnischen Ereignisse Erwähnung.54 50 Dahlmann, Antisemitismus in Polen 1968, 378–380. Des Weiteren wurde an der Stanford University 2009 eine Dissertation eingereicht, die dem Antisemitismus im Jahr 1968 ebenfalls eine größere Bedeutung beimisst: Anat Plocker, “Zionists to Dayan.” The AntiZionist Campaign in Poland, 1967–1968 (unveröffentlichte Diss., Stanford University, 2009). Auch Jerzy Eisler behandelt die Interaktion zwischen Partei und Gesellschaft. Siehe beispielsweise ders., Rok 1968 w Polsce – Kryzys władzy, kryzys społeczeństwa, początek przemian? [Das Jahr 1968 in Polen – Krise der Führung, Krise der Gesellschaft, Beginn eines Wandels?], in: Rocznik Polsko-Niemiecki [Deutsch-Polnisches Jahrbuch] 18 (2010), 24–41. 51 Piotr Osęka, Marzec ’68 [März ’68], Kraków 2008. Zuvor hatte Osęka bereits ein Buch zu 1968 verfasst, dass vor allem die staatliche Propaganda in Augenschein nahm. Siehe ders., Syjoniści, inspiratorzy, wichrzyciele. Obraz wroga w propagandzie Marca 1968 [Zionisten, Anstifter, Unruhestifter. Das Feinbild der Märzpropaganda 1968], Warschau 1998. 52 Jerzy Eisler, Polski rok 1968 [Das polnische Jahr 1968], Warschau 2006. 53 Eisler, 1968. Jews, Antisemitism, Emigration, 37. 54 Siehe Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008; Oliver Rathkolb/Friedrich Stadler (Hgg.), Das Jahr 1968. Ereignis, Symbol, Chiffre, Wien 2010; Philipp Gassert/Martin Klimke (Hgg.), 1968. Memories and Legacies of a Global Revolt, Washington, D. C., 2009. Es gibt allerdings immer noch zahlreiche Beispiele dafür, dass dem »polnischen Fall« vergleichsweise wenig Beachtung geschenkt wird und dass er in

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Zwar weisen diese kurzen Abrisse keinen großen erkenntnistheoretischen Wert auf, doch sie zeugen von einer stärkeren internationalen Wahrnehmung des »polnischen Falls«. Eine andere bedeutende Monografie, die im Zuge des Gedenkjahrs von 2008 entstand, ist Andrzej Friszkes Anatomia buntu (Die Anatomie des Widerstands), erschienen 2010.55 Das Buch behandelt aus ereignisgeschicht­ licher Perspektive die frühe Oppositionsbewegung und die Reaktionen der Sicherheitsbehörden. Die knapp 900-seitige Abhandlung besticht durch akribische Quellenarbeit und sorgfältige Auswertung der Archivalien der Sicherheitsbehörden. Anhand von Überwachungs- und Verhörprotokollen gelingt es Friszke, die Tätigkeiten der Oppositionellen bis ins Detail zu rekonstruieren – die Beschreibung einzelner Tage umfasst zuweilen bis zu 16 Seiten. Allerdings reduziert der Autor die Wiedergabe der Ereignisse auf das Faktografische, eine historische oder biografische Einordnung sucht man vergebens. Anders verhält es sich mit der jüngst erschienenen Studie Rote Bürger. Eine Milieu- und Beziehungsgeschichte linker Dissidenz in Polen (1956– 1976) von Agnes Arndt. Die Autorin behandelt den gleichen Gegenstand wie Andrzej Friszke – die Anfänge der Oppositionsbewegung in Polen –, doch ordnet sie das Material thematisch und nicht chronologisch an, wodurch andere Zusammenhänge beleuchtet und neue Erkenntnisse erschlossen werden. Der Fokus der Analyse liegt einerseits auf dem linken Selbstverständnis der Oppositionellen, andererseits auf ihren transnationalen Verflechtungen. Das Verdienst der Studie ist es, herausgearbeitet zu haben, wie das vormals kommunistische Milieu um Adam Michnik und Leszek Kołakowski sich zu einer oppositionellen Trägerschicht transformieren konnte, wie also Kommunisten eine »Vorreiterrolle« im Systemwandel Ost­ mitteleuropas einzunehmen vermochten.56 Die Autorin sieht die Ursache hierfür in den humanistischen Idealen und Werten der Oppositionellen, die Ausgangspunkt ihrer Tätigkeiten waren und blieben. Was sich hingegen änderte, war die Einschätzung des Systems, das für die Oppositionellen durch die antisemitische Kampagne seine Legitimität verloren hatte.

verschiedenen Überblicksdarstellungen keinerlei Erwähnung findet. Vgl. Ingrid GilcherHoltey, 1968. Eine Zeitreise, Frankfurt a. M. 2008; Kastner/Mayer (Hgg.), Weltwende 1968?; Harman, 1968. Eine Welt in Aufruhr. 55 Das ist bereits die zweite Monografie des Autors zur Oppositionsbewegung. Siehe auch ders., Opozycja polityczna w PRL 1945–1990 [Politische Opposition in der Volksrepublik Polen 1945–1990], London 1994. Auch publizierte er ein einschlägiges biografisches Wörterbuch: ders., Opozycja w PRL. Słownik biograficzny 1956–1989 [Opposition in der Volksrepublik Polen. Biografisches Wörterbuch 1956–1989], 2 Bde., Warschau 2000– 2002. 56 Arndt, Rote Bürger, 13.

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Doch auch Arndts Monografie vernachlässigt einen wesentlichen Aspekt der Oppositionsbewegung: Der jüdischen Herkunft und ihrer Bedeutung für das oppositionelle Milieu wird kaum Beachtung geschenkt. Obgleich Agnes Arndt die hohe Präsenz von Oppositionellen jüdischer Herkunft betont, macht diese Konstellation nicht das Erkenntnisinteresse ihrer Studie aus. In dem kurzen, sieben Seiten umfassenden Abschnitt »Zu den Grenzen jüdi­ scher Assimilierung« wird vor allem der Antisemitismus in Polen behandelt. Fragen nach der Bedeutung der jüdischen Zugehörigkeit für das Milieu, nach den Erfahrungen des Holocaust und deren Nachwirken sowie nach der engen Verflechtung von Herkunft, kommunistischer Hoffnung und der Ent­ täuschung von 1968 bleiben weitestgehend unbeantwortet. Ähnlich verhält es sich bei Andrzej Friszke und Jerzy Eisler, den wohl wichtigsten polni­ schen Historikern der Oppositionsbewegung. Auch bei ihnen findet die geteilte Herkunft vieler Oppositioneller Erwähnung, doch Erklärungsan­ sätze für diese Konstellation bieten die beiden Historiker nicht. Dies mag methodologische Ursachen haben, denn Eisler und Friszke folgen einem klassisch ereignisgeschichtlichen Zugang; mit diesem ist es aber kaum mög­ lich, Fragen der Zugehörigkeit hinreichend zu behandeln, verschaffen sie sich doch häufig nur in einer gewissen Latenz Ausdruck. Darüber hinaus scheint die Leerstelle auch daraus zu resultieren, dass die Autoren dem Nar­ rativ der Oppositionellen selbst folgen, wie dies in der frühen Rezeption geschah. Im Selbstverständnis der Aktivisten ist die spätere Rezeption der Bewegung also bereits angelegt. Die studentischen Oppositionellen von ’68 kannten sich häufig bereits seit ihrer frühen Jugend. Sie wohnten im Warschauer Zentrum, besuchten diesel­ ben Schulen und ihre Eltern teilten einen gemeinsamen Bekanntenkreis. Eine Ursache dieses Umstands liegt in der politischen Überzeugung der Eltern, denn viele von ihnen verband das Engagement in der Kommunisti­ schen Partei Polens der Zwischenkriegszeit. Innerhalb dieser Partei waren, gemessen an der Gesamtbevölkerung, ethnische Minderheiten stark überre­ präsentiert. Die Situation der Minderheiten und insbesondere der Judenhei­ ten in den Zwanziger- und Dreißigerjahren war von großen ökonomischen Unsicherheiten und permanenter antisemitischer Diskriminierung geprägt.57 Der Kommunismus versprach eine radikale und grundlegende Lösung dieser Probleme und strahlte dadurch gerade auch für Juden eine gewisse Attrakti­ vität aus. In den Dreißigerjahren stellten sie 35 Prozent, in den urbanen

57 Ein Überblick über die Situation der polnischen Judenheiten findet sich bei Ezra Mendel­ sohn, The Jews of East Central Europe between the World Wars, Bloomington, Ind., 1987, 11–85.

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Zentren sogar 65 Prozent der Parteimitglieder.58 Nach dem Krieg beteiligten sich viele von ihnen am Aufbau des sozialistischen Systems und besetzten hohe Positionen im Partei- und Staatsapparat. Der Sozialismus weckte aber auch die Hoffnungen vieler zurückgekehrter Holocaustüberlebender, die vordem der Kommunistischen Partei nicht ange­ hört oder nahegestanden hatten. Das neue System versprach immerhin eine universalistische, auf humanistischen Idealen basierende Gesellschaftsform frei von struktureller Diskriminierung. Juden waren rechtlich völlig gleich­ gestellt und hatten die Chance eines sozialen Aufstiegs, wie er im Vorkriegs­ polen kaum möglich gewesen wäre.59 Dass sie sich dafür häufig vollständig vom Judentum trennen mussten – die neue politische Führung wollte sich als genuin polnisch inszenieren –, machte diese Alternative umso attraktiver. Die Loslösung von der jüdischen Lebenswelt gelobte die Herkunft unbedeu­ tend zu machen und so ein Ende des Antisemitismus einzuleiten. Bereitwil­ lig legten sie sich polnisch klingende Namen zu, streiften jegliche Embleme der Zugehörigkeit ab und nahmen Abstand von etwaigen jüdischen Tradi­ tionsbeständen.60 Und so fehlte zahlreichen Oppositionellen von 1968 jeder Bezug zur eige­ nen jüdischen Herkunft. Nicht das Judentum, sondern der Marxismus war das Theoriegerüst, das für sie bestimmend war.61 Anders als die polnische Mehrheitsgesellschaft assoziierten sie mit Kommunismus nicht Fremdherr­ schaft und Repressionen, sondern eine freiheitliche und gerechte Gesell­ schaftsform, in der wider jede Differenz Menschen gleichberechtigt leben könnten.

58 Jaff Schatz, The Generation. The Rise and Fall of the Jewish Communists of Poland, Ber­ keley, Calif., u. a. 1991, 96 f. 59 Ebd., 212. 60 Siehe Joanna Wiszniewicz, Jewish Children and Youth in Downtown Warsaw Schools of the 1960s, in: Głuchowski/Polonsky (Hgg.), 1968. Forty Years After, 204–229. Zu den Namensänderungen nach dem Krieg vgl. Irena Hurwic-Nowakowska, Analiza więzi spo­ łecznej ludności żydowskiej w Polsce powojennej [Eine Analyse sozialer Beziehungen der Juden im Nachkriegspolen], Warschau 1965, 171. Inwiefern das Engagement für den Kommunismus mit dem Abstreifen jeglicher jüdischer Embleme verbunden war, beschreiben Jaff Schatz und Yuri Slezkine ausführlich. Schatz, The Generation; Yuri Slez­ kine, Das Jüdische Jahrhundert, Göttingen 2007, bes. 121–208, hier 160. 61 Adam Michnik konstatiert beispielsweise in einem Gespräch mit Daniel Cohn-Bendit, dass er zum »Kommunisten« und »Internationalisten« erzogen wurde. Über seinen Vater, der in der Zwischenkriegszeit Mitglied der Kommunistischen Partei war, sich nach dem Krieg aber aus der Politik heraushielt, sagte Michnik: »[S]eine ganze geistige Kultur war die des Marxismus und Kommunismus. Selbst wenn er extrem antikommunistische oder antisowjetische Standpunkte vertrat, drückte er seine Meinung in der Sprache des Marxis­ mus aus, der Sprache, die er in der kommunistischen Partei gelernt hatte.« Das Gespräch in: Daniel Cohn-Bendit, Wir haben sie so geliebt, die Revolution, Frankfurt a. M. 1987, 184.

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Zusätzlich spielte die polnische Zugehörigkeit eine bedeutende Rolle. Polnisch war die Sprache, mit und in der die Oppositionellen aufgewachsen waren und mit der sie sich identifizierten. Sie bezeichneten sich als Patrio­ ten, ihre Helden waren Mickiewicz und Słowacki.62 Als die Aufführung des Dramas Dziady (Die Ahnenfeier) im Januar 1968 verboten wurde, war dies nicht nur eine politische Zäsur, es war zugleich ein Angriff auf ebendieses kulturell geprägte Selbstverständnis der Oppositionellen. So ist es kein Zufall, dass der Konflikt sich ausgerechnet an einem Text von Adam Mic­ kiewicz entzündete, jenem Dichter, über den Karl Dedecius 1999 schrieb: »Mickiewicz ist wie ein Brennglas, in dem sich alles Polnische sammelt, zu einer Stichflamme bündelt.«63 Mickiewiczs Werk ist geprägt vom Drang nach Freiheit und nationaler Unabhängigkeit. Das Bild von Polen, das er zeichnet, ist inspiriert von Pluralismus und Toleranz, die Zugehörigkeit zu Polen zeigt sich ihm im Streben nach gleichen Idealen und gründet nicht in der Abstammung.64 In Mickiewiczs Œuvre fanden die Oppositionellen ein Bild von Polen vor, das es ihnen erlaubte, sich als Patrioten zu verstehen – nicht trotz, sondern aufgrund ihrer Differenz. Die Abwesenheit jüdischer Aspekte in der Rezeption der Oppositionsbe­ wegung lässt sich auf dieses patriotische Selbstverständnis zurückführen. Die Oppositionellen verstanden sich vorrangig als Polen und nicht als Juden, und das Narrativ, das maßgeblich von ihren eigenen Überlieferungen geprägt wurde, spiegelte diesen Sachverhalt wider. Zwar verschiebt sich die Bewertung des Antisemitismus in der jüngeren Sekundärliteratur, doch Fra­ gen der Zugehörigkeit bleiben in der historischen Forschung zur polnischen oppositionellen Bewegung weiterhin ausgespart. Es ist daher zu fragen, ob beziehungsweise wie diese Bewegung und das Jahr 1968 innerhalb der dezi­ diert jüdischen Geschichtsschreibung rezipiert werden.

Die Historisierung des Jahres 1968 innerhalb der polnisch-jüdischen Geschichtsschreibung Die Bedeutung von 1968 für die Geschichte der Juden in Polen nach dem Holocaust ist unbestritten. In den Überblicksdarstellungen zu dieser Thema­ tik finden sich stets Kapitel und Verweise auf die antisemitische Kampagne 62 Ebd., 63. 63 Karl Dedecius, Adam Mickiewicz. Idol und Idee einer Nation, in: Rolf-Dieter Kluge (Hg.), Von Polen, Poesie und Politik. Adam Mickiewicz 1798–1998, Tübingen 1999, 7. 64 Vgl. hierzu ebd.; außerdem Irena Grudzińska-Gross, Adam Mickiewicz. A European from Nowogródek, in: East European Politics and Societies 9 (1995), 295–316.

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und ihre Folgen für die polnischen Juden. Zu nennen sind hier etwa Heiko Haumanns Geschichte der Ostjuden, die einführenden Charakter besitzt, oder auch Antony Polonskys umfassendes Werk The Jews in Poland and Russia.65 Dabei stehen sich mit Blick auf die Periodisierung der polnischjüdischen Geschichte verschiedene Positionen gegenüber, die sich auf die Historisierung jenes Jahres auswirken. Einerseits betrachten Historiker den Holocaust und die große Emigrationswelle in der unmittelbaren Nachkriegs­ zeit als das Ende jüdischer Traditionen in Polen. Das Jahr 1968 fungiert hier als Epilog, es markiert das endgültige Ende der polnisch-jüdischen Geschichte. Dem stehen Positionen entgegen, die hervorheben, dass bis heute eine wenn auch kleine, aber dennoch wachsende und durchaus virul­ ente jüdische Gemeinde in Polen existiert. Für diejenige Periodisierung, die im Holocaust den Schlusspunkt jüdi­ scher Geschichte in Polen sieht, ist der eingangs zitierte Vortrag von Antony Polonsky exemplarisch. Auch Celia S. Hellers On the Edge of Destruction steht für eine solche Perspektive. In ihrer Monografie zeichnet sie verschie­ dene Facetten jüdischen Lebens der Zwischenkriegszeit nach, doch – wie der Titel bereits erkennen lässt – ist ihr Blick von der bevorstehenden Kata­ strophe geprägt. Die jüdische Geschichte der Nachkriegszeit verhandelt sie lediglich im Epilog.66 Gar keine Erwähnung findet die Nachkriegszeit in der von Sławomir Kapralski 1999 herausgegebenen zweibändigen Sammlung The Jews in Poland.67 Werke, die einer solchen Periodisierung des jüdischen Lebens in Polen folgen, beziehen sich zumeist auf die großen Traditionen, die sich auf dem polnischen Hoheitsgebiet herausgebildet hatten und die Geschichte der Judenheiten nachhaltig prägten. Zu nennen wären hier der Chassidismus – vor allem auch in seiner kabbalistischen Tradition –, der Zionismus, der allein schon aufgrund der beträchtlichen Zahl an Unterstützern eine große Bedeutung erlangte, oder auch der Bundismus, für den Polen nach der Revo­ lution in Russland das Zentrum seiner Aktivitäten darstellte.68 All diese Tra­ ditionen, die gerade in ihrer Diversität und ihrem grundlegend unterschiedli­

65 Heiko Haumann, Geschichte der Ostjuden, München 1990; Antony Polonsky, The Jews in Poland and Russia, 3 Bde., hier Bd. 3: 1914–2008, Oxford/Portland, Oreg., 2012. 66 Celia S. Heller, On the Edge of Destruction. Jews of Poland between the Two World Wars, New York 1977. 67 Sławomir Kapralski (Hg.), The Jews in Poland, 2 Bde., Kraków 1999. 68 Siehe zum Bund Gertrud Pickhan, »Gegen den Strom«. Der Allgemeine Jüdische Arbei­ terbund »Bund« in Polen 1918–1939, Stuttgart/München 2001. Zum Zionismus in Polen siehe Ezra Mendelsohn, Zionism in Poland. The Formative Years, 1915–1926, New Haven, Conn./London 1982. Zum Chassidismus siehe Yeshayahu Balog/Matthias Mor­ genstern, Hasidism. A Mystical Movement within Eastern European Judaism, Mainz 2010.

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chen und zum Teil gegensätzlichen Verständnis von jüdischer Zugehörigkeit die Gesamtheit der polnischen Judenheiten konstituierten, wurden im Holo­ caust vernichtet. Nach dem Krieg emigrierten darüber hinaus die meisten der repatriierten Juden aufgrund des polnischen Antisemitismus und des sich anbahnenden sozialistischen Systems nach Israel oder Amerika, sodass in den Sechzigerjahren nur noch etwa 30 000 Menschen jüdischer Herkunft in Polen lebten.69 Das noch existierende jüdische Kulturleben wurde in der Soziokulturellen Gesellschaft der Juden in Polen (Towarzystwo Społeczno-Kulturalne Żydów w Polsce; TSKŻ), also unter sozialistischer Schirmherrschaft organisiert. Eine umfangreiche Studie zur polnisch-jüdischen Jugend innerhalb des TSKŻ mit dem Titel Na rozdrożu. Młodzież żydowska w PRL 1956–1968 (Am Scheideweg. Junge Juden in der Volksrepublik Polen 1956–1968) ist 2013 von Piotr Pęziński publiziert worden. Daneben bestand zwar seit 1949 mit dem Religionsverband Mosaischer Konfession (Związek Religijny Wyz­ nania Mojżeszowego) eine Dachorganisation für das religiöse Leben in Polen, diese hatte allerdings eine geringe Mitgliederzahl und trat im öffentli­ chen Leben kaum in Erscheinung. August Grabski widmet sich in der 1997 in Warschau erschienenen Monografie Współczesne życie religijne Żydów w Polsce. Studia z dziejów i kultury Żydów w Polsce po 1945 roku (Das gegen­ wärtige religiöse Leben der Juden in Polen. Studien zur Geschichte und Kul­ tur der Juden in Polen nach 1945) den Relikten der einst weit ausgreifenden liturgischen Praxis in Polen. Verglichen mit der Vielfältigkeit des jüdischen Lebens vor dem Krieg ist also tatsächlich kaum von einer Kontinuität zu sprechen. Es lebten zwar weiterhin Juden in Polen, doch die großen Traditio­ nen hörten durch den Holocaust und die Emigrationswellen der Nachkriegs­ zeit auf zu existieren.70 Eine Reihe jüngerer Forschungsarbeiten widersprechen einem solchen Narrativ und richten ihren Fokus dezidiert auf die Judenheiten im Nach­ kriegspolen. Das erste umfassende Werk in diesem Sinne, Studia z historii Żydów w Polsce po 1945 roku (Studien zur Geschichte der Juden in Polen nach 1945), wurde 2000 von Grzegorz Berendt zusammen mit August Grab­ ski und Albert Stankowski herausgegeben. Aufgrund der einseitig faktogra­ fischen Ausrichtung und der Sprachbarriere wurde die Studie jedoch ledig­ lich innerhalb eines Fachpublikums rezipiert. Anders verhielt sich dies mit zwei englischsprachigen Monografien, die beide auf persönlichen Erinne­ rungen basieren, aber dennoch eine wissenschaftliche Grundierung nicht 69 Siehe dazu Polonsky, The Jews in Poland and Russia, Bd. 3, 607; Juliane Wetzel, Der Pogrom in Kielce und der jüdische Massenexodus aus Polen, in: Kosmala, Die Vertrei­ bung der Juden aus Polen 1968, 43–48. 70 So argumentiert beispielsweise Heller, On the Edge of Destruction, 297 f.

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missen lassen: Stanisław Krajewskis 2005 publiziertes Poland and the Jews. Reflections of a Polish Jew sowie das drei Jahre später erschienene Living in the Land of Ashes von Konstanty Gebert. Die Autoren streiten dabei die ver­ heerenden Auswirkungen des Holocaust und der Emigrationswelle von 1968 keinesfalls ab, betonen aber gleichzeitig den Fortbestand und das Wie­ deraufleben jüdischen Lebens in Polen nach 1968. Beide gehörten einem Personenkreis an, der erst durch die antisemitische Kampagne auf seine jüdische Herkunft aufmerksam gemacht worden war und anschließend begann, diese positiv zu deuten und sich mit seiner Familiengeschichte und mit jüdischen Traditionen zu befassen. Ein Teil dieser Wiederbelebung jüdi­ scher Kultur hatte explizit zum Ziel, aus dem Schatten des Holocaust und der Vertreibung von ’68 herauszutreten: »Wir wollten nicht nur Geister sein« erinnert sich Konstanty Gebert.71 Heute existiert in Polen wieder eine jüdi­ sche Gemeinde, ihre Mitgliederzahl ist zwar gering – einer Erhebung des American Jewish Committee zufolge lebten 2005 nur 3 300 sich selbst als Juden bezeichnende Personen in Polen –, doch ihre religiösen wie auch kul­ turellen Aktivitäten sind im öffentlichen Leben überaus präsent.72 In diesem Narrativ des Fortbestehens jüdischen Lebens in Polen kommt dem Jahr 1968 häufig die Funktion eines Neubeginns zu und bildet den Ausgangspunkt des Wiederauflebens der polnisch-jüdischen Kultur.73 Auch Antony Polonsky, der noch 2007 auf der Warschauer Konferenz dem jüdischen Leben im Nachkriegspolen wenig Bedeutung beimaß, betont inzwischen das Fortbe­ stehen einer jüdischen Lebenswelt in Polen. Zumindest widmet er sich die­ sem Feld in seinem Opus magnum The Jews in Poland and Russia in zwei eigenen Kapiteln.74 Die beiden unterschiedlichen Periodisierungen der polnisch-jüdischen Geschichte wurden selbst bereits zum Gegenstand wissenschaftlicher Debat­ ten. In dem Artikel Who, What, When, Where, and Why Is Polish Jewry? Envisioning, Constructing, and Possessing Polish Jewry betrachtet der His­ toriker Scott Ury ihre Ursachen. Beide Narrationen drückten auf je unter­ schiedliche Weise ein politisches Interesse aus: Während Ersteres häufig bei

71 Konstanty Gebert, Living in the Land of Ashes, Kraków/Budapest 2008, 5. 72 Vgl. zur Mitgliederzahl und den Aktivitäten der jüdischen Gemeinden in Polen Polonsky, The Jews in Poland and Russia, Bd. 3, 813–820. 73 Neben Gebert und Krajewski betont auch Rachel Rothstein in ihrem an der University of Florida angesiedelten Dissertationsvorhaben »A Relationship of Equals?« Polish and American Jews and the Creation of a New Polish Jewishness since 1968 die Bedeutung des Jahres 1968 für das Wiederaufleben jüdischen Lebens in Polen. Ebenso unterstreicht auch Polonsky in seinem Werk The Jews in Poland and Russia die Existenz gegenwärti­ gen polnisch-jüdischen Lebens, allerdings vermeidet er es, den Eindruck einer Kontinuität jüdischer Traditionen zu vermitteln. 74 Polonsky, The Jews in Poland and Russia, Bd. 3, 591–830.

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israelischen und amerikanischen Historikern vorzufinden ist und eine spezi­ fisch zionistische Perspektive auf die Geschichte der Diaspora widerspie­ gelt, wird Letzteres zumeist von polnisch und polnisch-jüdischen Wissen­ schaftlern und Journalisten betont. Es zielt darauf ab, dem Bild von Polen als Ort der Vernichtung und durch den polnischen Antisemitismus kontami­ niertes Land entgegenzuwirken.75 Es ist jedoch noch eine weitere Lesart des Jahres 1968 zu verzeichnen, die maßgeblich von der 1991 veröffentlichten Monografie The Generation. The Rise and Fall of the Jewish Communists of Poland geprägt wird. Der Autor, Jaff Schatz, sieht das Ende der polnisch-jüdischen Geschichte weder im Holocaust, noch versteht er das zeitgenössische jüdische Leben als Fortbe­ stand der Vorkriegsjudenheiten. Bei Schatz markieren das Jahr 1968 und vor allem die antisemitische Kampagne den Schlusspunkt hinter ein letztes Relikt jüdischer Kontinuität aus der Zwischenkriegszeit. Gemeint ist die Hoffnung, die Juden in einen utopischen Kommunismus gesetzt hatten und die nach dem Krieg erst ihren Höhepunkt erreichte. Ähnlich argumentiert auch Marci Shore in ihrer 2006 erschienenen Studie Caviar and Ashes. A Warsaw Generation’s Life and Death in Marxism, 1918–1968.76 Während Jaff Schatz die Lebenswege von Kommunisten nachzeichnet, behandelt Marci Shore das Schicksal einiger Schriftsteller, die, mehrheitlich jüdischer Abstammung, sich in den Kreisen der polnischen Futuristen und der Dich­ tergruppe Skamander bewegten und sich für den Marxismus begeisterten. Beide Bücher haben ihren Ausgangspunkt in der polnischen Zwischen­ kriegszeit, die von schwelenden Minderheitenkonflikten, ökonomischer Zensur und einem grassierenden Antisemitismus geprägt war.77 Die Lebens­ situation der Judenheiten, gleich welches Selbstverständnis sie teilten, spitzte sich in den Dreißigerjahren dramatisch zu. Bewegungen, die radikale Lösungen für die Probleme der polnischen Judenheiten aufzuzeigen ver­ mochten, erfuhren dementsprechend großen Zulauf. Die Zionisten, gleich ob revisionistischer oder sozialistischer Prägung, gewannen enorm an Gewicht und der Bund konnte in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre seine 75 Scott Ury, Who, What, When, Where, and Why Is Polish Jewry? Envisioning, Construc­ ting, and Possessing Polish Jewry, in: Jewish Social Studies 3 (2000), 205–228, hier 211– 219. 76 Marci Shore, Caviar and Ashes. A Warsaw Generation’s Life and Death in Marxism, 1918–1968, New Haven, Conn./London 2006. 77 Zur Minderheitenfrage und den Wirtschaftskrisen siehe Borodziej, Geschichte Polens im 20. Jahrhundert, 164–181. Zum Antisemitismus siehe Heller, On the Edge of Destruction, 77–114. Allgemein zur Lebenssituation der Juden in der Zwischenkriegszeit siehe Ema­ nuel Melzer, No Way Out. The Politics of Polish Jewry, 1935–1939, Cincinnati, Oh., 1997; Zur wirtschaftlichen Situation siehe Jerzy Tomaszewski, The Role of Jews in Polish Commerce, 1918–1939, in: Yisrael Gutman u. a. (Hgg.), The Jews of Poland between Two World Wars, Waltham, Mass., 141–157.

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Mitgliederzahl nahezu verdoppeln.78 Eine dritte Weltanschauung, die vor allem für junge Juden eine gewisse Anziehungskraft besaß, war der Kommu­ nismus. Er versprach keine jüdische Lösung für die Probleme der Juden, son­ dern eine universalistische für die Probleme der Menschheit. Er weckte die Hoffnung auf eine grundlegend andere Gesellschaftsform, in der das Denken in Klassen das Denken in Ethnien ersetzen sollte. Dieser Generation junger Juden, die sich von ihrer Herkunft zu lösen versuchten und ihr Leben der kommunistischen Idee hingaben – in der Partei oder in ihren schriftstelleri­ schen Werken – widmen sich die Studien von Jaff Schatz und Marci Shore. Die Hoffnungen, die einige unter ihnen bereits in der Zwischenkriegszeit in den Kommunismus gesetzt hatten, kulminierten im Nachkriegspolen. In ihrer 2013 erschienenen Studie The House at Ujazdowskie 16. Jewish Families in Warsaw after the Holocaust nimmt sich auch Karen Auerbach dieses Kreises von Kommunisten jüdischer Herkunft an.79 Anhand der Mik­ rostudie eines einzelnen Wohnhauses im Warschauer Zentrum zeigt die Autorin auf, wie sich in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ein spezifisch jüdisch-kommunistisches Milieu herausbildete. Obwohl sich die Mitglieder dieses Milieus nicht als Juden begriffen, sich keiner jüdischen Tradition ver­ pflichtet fühlten und ganz und gar säkular, ja geradezu antireligiös waren, umgaben sie sich größtenteils mit Personen, die eine ähnliche Herkunftsge­ schichte teilten. Sie waren verbunden durch eine Passion für die polnische Kultur und sie suchten sich dem Polnischen gänzlich anzugleichen. Den­ noch waren sie als Gruppe schließlich weitestgehend isoliert. Denn in der Loslösung von ihrer jüdischen Lebenswelt beschritten sie einen Weg, der sich von der mehrheitlich antikommunistischen und katholisch imprägnier­ ten polnischen Gesellschaft unterschied. Eine kurze Episode aus Karen Auerbachs Buch veranschaulicht diese Konstellation eindrucksvoll: »Born in 1951, Włodek [Paszyński] was the youngest of his generation among the Jew­ ish families at 16 Ujazdowskie Avenue. He first became vaguely aware of difference from his non-Jewish peers when he was the only boy at a retreat who did not know the morning prayers. When the other boys teased him, he began joining in. Instead of pray­ ing, however, Włodek recited to himself the beginning of Pan Tadeusz, Adam Mickie­ wicz’s epic poem, which his grandmother Barbara taught him.«80

Neben Karen Auerbach, Jaff Schatz und Marci Shore befasste sich auch Joanna Wiszniewicz mit diesem Milieu. Die viel zu früh verstorbene Histori­

78 Bezüglich des Bundes siehe Pickhan, »Gegen den Strom«, 128 f. Für die zionistischen Parteien siehe Mendelsohn, The Jews of East Central Europe between the World Wars, 76–79. 79 Siehe Karen Auerbach, The House at Ujazdowskie 16. Jewish Families in Warsaw after the Holocaust, Bloomington/Indianapolis, Ind., 2013, 16. 80 Ebd., 116.

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kerin legte 2008 mit Życie przecięte (Zerschnittenes Leben) eine umfangrei­ che Sammlung von Interviews vor, aus denen sich viele Lebenswege der 1968 Emigrierten nachzeichnen lassen. In dem 2009 erschienenen Schwer­ punkt der von Antony Polonsky herausgegebenen Reihe Polin präsentierte sie ihre Ergebnisse in Bezug auf die Jugend des jüdisch-kommunistischen Milieus in Warschau und arbeitete dabei insbesondere die Nachwirkungen des Holocaust heraus.81 Die Oppositionellen jüdischer Herkunft, die in den Sechzigerjahren in Er­ scheinung traten, entstammten ebenjenem jüdisch-kommunistischen Milieu. Sie sind die Nachkommen der von Jaff Schatz beschriebenen Generation. In den Publikationen von Auerbach, Wiszniewicz, Schatz und Shore wird die­ ser Zusammenhang zwar jeweils benannt, jedoch nicht weiter verfolgt. Dies ist bedauerlich, könnte doch das Herkunftsmilieu der Protagonisten weitrei­ chende Erkenntnisse liefern. Ein erstes Beispiel hierfür bietet der 2010 im Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts erschienene Artikel Kommunistische Dissidenz und antisemitische Stimmung. Kuroń, Modzelewski und die Vorge­ schichte des polnischen März ’68 von Lutz Fiedler.82 Die Jugendlichen aus diesem Milieu verstanden sich als Kommunisten und als polnische Patrioten. Als solche sahen sie sich in der Verantwortung, die Entwicklungen des Sozialismus in Polen zu kritisieren. Sie gründeten 1962 ihren eigenen Diskussionsklub, den Klub der Widerspruchsuchenden (Klub Poszukiwaczy Sprzeczności), und legten die Mängel des Systems aus marxistischer Perspektive offen.83 Ihre Kritik zielte auf die mangelnde Mei­ nungsfreiheit und das Fehlen demokratischer Partizipationsmöglichkeiten. Der Sozialismus wurde dabei nicht fundamental infrage gestellt, vielmehr waren sie bestrebt, ihn zu optimieren. Sie versuchten, das System in Polen ihren Vorstellungen vom Kommunismus anzugleichen – Vorstellungen, die ihre Eltern ihnen vermittelt hatten. Zugespitzt lässt sich sagen, dass die zweite Generation das kommunistische Projekt ihrer Eltern, die inzwischen selbst Repräsentanten des Systems geworden waren, zu verwirklichen ver­ suchte. 1968 stellte den finalen und tragischen Höhepunkt dieser Bestrebun­ gen dar. Die gewaltsame Niederschlagung der Studentenproteste, die Ver­ weigerung politischer Reformen und vor allem die antisemitisch eingefärbte 81 Wiszniewicz, Jewish Children and Youth in Downtown Warsaw Schools of the 1960s. 82 Lutz Fiedler, Kommunistische Dissidenz und antisemitische Stimmung. Kuroń, Modze­ lewski und die Vorgeschichte des polnischen März ’68, in: Jahrbuch des Simon-DubnowInstituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 9 (2010), 165–185. Der Artikel resultierte aus dem internationalen Workshop »The Jewish Escape from Poland – 1968. Nationalism and Communism within the People’s Republic« am Simon-Dubnow-Institut vom 5. bis 6. Mai 2008. 83 Zum Klub Poszukiwaczy Sprzeczności siehe Friszke, Anatomia buntu, 359–274; Arndt, Rote Bürger, 80–86.

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Parteipolitik kompromittierte das System und beendete jegliche Hoffnun­ gen, die sie in den Sozialismus gesetzt hatten. Das Jahr 1968 stand insofern nicht nur für eine Transformation der Ziele der Oppositionsbewegung, es markierte zugleich das Ende einer spezifi­ schen jüdischen Hoffnung in den Kommunismus, die in der Zwischenkriegs­ zeit ihren Ausgang genommen hatte und im Nachkriegspolen zu einem Höhepunkt gelangt war. Gleich welches Selbstverständnis sie teilten, im Angesicht der staatlichen Kampagne wurden auch Kommunisten jüdischer Herkunft auf ihre Abstammung zurückgeworfen. Während die großen jüdischen Traditionen Polens im Holocaust und der unmittelbaren Nachkriegszeit ihr trauriges Ende fanden, stellte das Jahr 1968 den Schlusspunkt der jüdisch-kommunistischen Hoffnungen dar. In diesem Sinne sind auch die Untertitel von Marci Shore und Jaff Schatz zu verstehen: A Warsaw Generation’s Life and Death in Marxism, 1918–1968 und The Rise and Fall of the Jewish Communists of Poland. So ist auch die große Bedeu­ tung von 1968 für die Oppositionsbewegung erklärbar: Es handelte sich nicht bloß um die Niederschlagung studentischer Proteste, sondern um die grundsätzliche Infragestellung eines kommunistischen Selbstverständnisses. Die Ereignisse lösten ein Umdenken bei den Oppositionellen aus, das für den späteren demokratischen Umbruch entscheidend werden sollte. Durch den Blick auf die partikularen Elemente der Oppositionsbewegung offenba­ ren sich weitreichende Erkenntnisse bezüglich der allgemeinen polnischen Geschichtsschreibung. Wie eingangs beschrieben, spielte die oppositionelle Bewegung auf der Konferenz in Warschau 2007 keine Rolle. Dies mag, wie ebenfalls gezeigt, an dem bis heute einflussreichen Narrativ der Oppositionellen selbst gelegen haben, in dem ihre jüdische Herkunft keinerlei Bedeutung besitzt. Vor allem aber ist diese Leerstelle Ausdruck einer mangelnden Verschmelzung jüdi­ scher und polnischer Geschichtsschreibung. Denn erst in der Verknüpfung der verschiedenen Perspektiven ist die Tragweite der Oppositionsbewegung von 1968 in Gänze zu erkennen.

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Abstracts Glenda Abramson The Return of the Soldier: S. Y. Agnon’s Novels of the First World War In October 1912, Agnon left his home in Jaffa for Berlin, then the centre of Jewish life in Germany, and remained there during World War I. His stay in Germany resulted in two novels: Ad hena (To this Day; 1952) and Ba-hanuto shel Mar Lublin (In Mr Lublin’s Store), published posthumously in 1974. Ad Hena depicts the difficulties of life in a metropolis during wartime, and explores the nature of redemption. The second novel tells of the protago­ nist’s sojourn in Leipzig during the same period. Agnon lovingly recreates Jewish life in Galicia as he writes a final valediction not only to his birth­ place but to the pre-war European Jewish world, in which, according to the novel, Jews and Germans lived in harmony until ripped apart. In both his works Agnon describes, with historical precision, the effects of the war on the home front, on society and the individual, certainly based on his own experience of living in Germany at that time. Lisa Marie Anderson “Sehenden Auges und mitfühlenden Herzens:” Ernst Toller’s Witness to the First World War This essay traces the impact of World War I on the life and work of the Ger­ man writer and revolutionary activist Ernst Toller. It considers a wide range of Toller’s writings – the plays that made him famous, the poems he wrote in prison, his autobiography, his extensive correspondence, as well as a number of essays and speeches – through the lens of his experience of the seemingly endless war and the all too fleeting November Revolution, two historical events that Toller shows can never justly be disentangled. Toller left a wealth of fictional and non-fictional material which, when read in juxtaposition and with thematic focus, reveals the lingering personal and political devastation wreaked by this world-changing event. Maya Barzilai Witnessing Dying in the Tongue of Revival: Shaul Tchernikhovsky’s World War I Poetry During World War I, the poet Shaul Tchernikhovsky served as a chief medi­ cal registrar at a hospital in Minsk, treating wounded soldiers both on the JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 549–558.

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home front and in war zones. These experiences led Tchernikhovsky to grapple in his writings with the paradoxes of witnessing. He was at once a privileged observer, painfully aware of his inability to fully comprehend or avert the brutality of death on the battlefield, and an artist striving to mold his experiences into a poetic form. Referring to a number of Tchernikhovs­ ky’s explicit war poems, this essay considers how far the notion of witnes­ sing can be brought to bear on Hebrew writing of World War I. It shows that Tchernikhovsky forged Modern Hebrew into a new instrument for convey­ ing the morally ambiguous position of his speaker-witnesses, who, albeit plagued by doubt, find problematic solace in a pagan divinity that manifests itself through earthly violence. To transform the futility of death on the bat­ tlefield into an aesthetic, even revelatory experience, Tchernikhovsky drew on intricate and historically resonant poetic forms as well as the archaic reg­ isters of the Hebrew language. His corona cycle bears testimony to the rebirth of an ancient language out of the mass violence wrought by twenti­ eth-century war technologies, a rebirth that sees artillery explosions trans­ formed into biblical battle-trumpets, into the modern “voice of [Hebrew] prayer.”

Eglė Bendikaitė One Man’s Struggle: The Politics of Shimshon Rosenbaum (1859–1934) This article analyzes the approach of the Litvak Zionist leader Shimshon Rosenbaum to resist anti-Semitism – which he had personally experienced, both in its blunt and more sophisticated forms – by relentlessly invoking the primacy of the rule of law and its refinement by engaging international law. Rosenbaum’s endeavors to counter anti-Semitism were predicated on his principal concurrence with Theodor Herzl’s conviction that the difference between the Zionist movement then and in the past was marked by the Zio­ nists’ preference for law over toleration. Herzl and Rosenbaum held the truth that in the beginning there was law; this law is originally reflected through a legal covenant which endorses difference in equality as conceptual image looming in the background of the secular consciousness of international law. Unlike Herzl, Rosenbaum considered it indispensable to contemplate Jewish statehood with a clear understanding of the element of sovereignty. In his 1932 treatise entitled Der Souveränitätsbegriff. Ein Versuch seiner Revision (The Notion of Sovereignty. An Attempt at its Revision), Rosenbaum not only advocated a novel concept of sovereignty in international law and rela­ tions guided by limitation of the scope of powers States should lawfully have. He also envisioned a future state of international law with a sovereign

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Jewish nation among civilized nations as approach to prevent anti-Semitism more effectively, or, in a broader understanding, the initial nucleus of the sta­ tus in international law of a future State of Israel as grand blueprint for a sus­ tainable solution of the problem of anti-Semitism. Ruth von Bernuth Zu Gast bei Nikolaus Selnecker: Der jüdische Konvertit Paulus von Prag in Leipzig At the same time as Protestant reformer and hymnodist Nikolaus Selnecker was engaged in preparing a new edition of Martin Luther’s late anti-Jewish works in 1577, he was also entertaining Paulus of Prague, a Jewish convert, as a long-term houseguest in his home in Leipzig. This article focuses on Selnecker’s attitude towards Jews and Judaism in the light of Paulus of Pra­ gue’s published and unpublished writings. These writings portray Paulus as a self-fashioned professional convert – not only attaching himself to various circles of theologians interested in acquiring Hebrew but even involving himself in the heated intra-Protestant debates of the time. Yet once he leaves Leipzig he is never heard of again. No sooner has he vanished than a convert named Elchanon Paulus, boasting an ostensibly different backstory, makes his first appearance and begins immediately to publish, first in Protestant Helmstedt, from where he makes a rapid exit, then in Catholic Vienna. The essay argues that Paulus of Prague and Elchanon Paulus are one and the same complex personality. Judith Große Patriotismus und Kosmopolitismus: Magnus Hirschfeld und der Erste Weltkrieg This article examines the impact of the Great War on the political stance and global outlook of sexologist and gay-rights activist Magnus Hirschfeld, a German of Jewish descent. Comparing Hirschfeld’s Kriegsschriften with a selection of his post-war writings, his transformation from a liberal patriot to a fierce advocate of socialism, pacifism and cosmopolitism through the devastating wartime experience becomes manifest. This reading suggests that his early war pamphlet was more than just a strategic gesture of loyalty from someone whose sexual orientation, religious background and reputa­ tion as progressive sex reformer had pushed him to the margins of Wilhel­ mine German society. In later years, his vision of a world without borders, national or otherwise, had Hirschfeld actively committed to pacifist goals and pursuing the creation of a transnational network in his field of research, ultimately culminating in the World League for Sexual Reform, while focus­

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ing his work on the exploration of human common traits and differences. Hirschfeld’s critique of racism, which he elaborated after his escape from the Nazi regime in the 1930s, can in its basic outline be traced back to the period immediately following World War I. Grit Jilek Jenseits von Territorium – Jüdische Nation und Diaspora bei Simon Dubnow Simon Dubnow’s political activities surrounding the organization of the Jewish diaspora are at the center of this essay. At first, his political concept of “Autonomism,” designed to secure a Jewish Diaspora Nation without a state, shall be outlined. Dubnow suggested a reconnection with both premodern and existing diasporic structures of autonomy in countries of Jewish settlement as well as their modernization, secularization and democratiza­ tion. The centerpiece of his concept was the establishment of an all-Jewish congress as the highest national representation of worldwide Jewry. The arti­ cle highlights several political landmarks Dubnow set up over a period of four decades to accomplish this – the creation of the Committee of Nationa­ lization, the Jüdische Folkspartej, the Zurich Council for Jewish Minority Rights and, finally, the World Jewish Congress. It suggests that reflecting on the Jewish experience of organizing a World Diaspora could prove useful in solving political problems faced by global minorities today. Elena Keidošiūtė Converting to Catholicism: Jews in Lithuanian Bishoprics in the Late Russian Empire For most Jews of the Russian Empire who were willing to convert to Chris­ tianity, Eastern Orthodoxy constituted the most obvious and beneficial con­ fessional option, as it was immediately associated with loyalty to the Tsar and the Empire. Catholicism, on the other hand, had the stigma of so-called “Polonism” attached to it, for it remained the predominant confession in the Kingdom of Poland, and was thought to foster separatist tendencies. Exam­ ining trends of Jewish conversion in the second half of the nineteenth cen­ tury in the Lithuanian guberniyas nevertheless reveals that Jews often chose Catholicism over Orthodoxy. To assess the complexity of this phenomenon, this essay considers a body of previously underexplored Jewish baptism files, whereby the sociocultural preconditions of a confessional choice, and the role lay Catholics played in the conversion process and transitional per­ iod of a catechumen will be foregrounded.

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Magnus Klaue Mit doppeltem Blick: Max Horkheimers bürgerliche Gelehrsamkeit und wissenschaftliches Unter­ nehmertum In a close reading of programmatic essays and private notes by German phi­ losopher and sociologist Max Horkheimer, the article analyzes Horkhei­ mer’s specific position in his field of research, linking the German bourgeois practices of intellectual learning with the approaches of modern scientific institutions, and intellectual individualism with teamwork and cooperation. Horkheimer adored the bourgeois traditions of liberalism and trade as, according to him, they constituted ideal conditions for the genesis of free thinking. As a result of this admiration, he developed a strikingly apologetic attitude towards bourgeois society, whose declining order he came to see as the epitome of lost opportunities for freedom to thrive. This theme, which is characteristic of the “conservative” element of Horkheimer’s social critique, will be explored in this essay. Sabine Koller Jiddische Literatur im Krieg: Moyshe Kulbak und Yisroel Rabon The anonymous, impersonal and mechanized nature of the violence during World War I finds radical expression in two outstanding examples of Yid­ dish literature. Moyshe Kulbak’s 1925 novel Montik (Monday; 1926) depicts the collapse of the traditional Jewish world brought about by war and revolu­ tion, while its main protagonist is on a messianic mission in order to save it, which is doomed to failure. In Yisroel Rabon’s novel Di gas (The Street; 1928), the hero, a former soldier, aimlessly wanders the streets of Lodzh, haunted by hallucinations and painful memories of death and destruction. In a surreal and phantasmagorical poetics, both authors describe the unfolding breakdown of a theological system, which leaves men, dehumanized by war, spiritually and emotionally orphaned. Elke-Vera Kotowski Den Ersten Weltkrieg denken: Theodor Lessings »Philosophie der Not« While many of his contemporaries joined World War I as fervent patriots, the philosopher Theodor Lessing, immediately after the war’s outbreak, warned against the misery and distress that this “intoxication with flame” would bring on both sides of the front. His later experiences as a field doctor only

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painfully confirmed his early predictions. Between 1914 and 1918, he com­ posed his main philosophical works (Europa und Asien, 1918; Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, 1919), which were based on the topos of “Not” (distress, misery). According to their central premise, “Not” had determined the course of history since the “human spirit first burst forth upon the scene.” Albeit sceptical as to the nature of this spirit, he did not categorically negate it, because he argued that only through “Geist” was a “turnabout in dis­ tress,” in Lessing’s formulation a “Not-Wende,” within humankind possible. Lessing’s appeals against the war as it waged went largely unheard; his writ­ ings were banned by the military censor and could only be published after the war’s end. David Kowalski Polnische Politik und jüdische Zugehörigkeit: Die frühe Oppositionsbewegung und das Jahr 1968 The paper examines the historiography of the 1968 student protests in Poland. A considerable proportion of the protest movement was of Jewish descent, a fact which was exploited by the state propaganda of that year, but remained largely disregarded in early research on the event. The article argues that due to the restrictions imposed on the freedom of research in Poland, early historiography of the movement was dependent on oral trans­ mission and therefore strongly shaped by the narrative of the student prota­ gonists. Since most of them shared a Polish and not so much a Jewish selfimage, they would not emphasize their Jewish descent. Only later, after 1989 international and Polish research projects started to explore the reasons for the high visibility of people with Jewish family background within the student movement. The article discusses different approaches of incorporat­ ing 1968 into Polish and Jewish history. Ilse Josepha Lazaroms Borderlands – Joseph Roth’s Dystopian Imagination This essay offers a new interpretation of Joseph Roth’s early fiction by ana­ lyzing it in the context of the uprooted life-worlds of Eastern European Jews and Jewish writers displaced in postwar Vienna and Berlin. It argues that in the aftermath of World War I, Roth’s emerging literary consciousness expressed itself in the recognition that there existed an insurmountable break between the past, the present, and the future. This idea took on meaning by the formulation of a sense of nostalgia that demanded to be perpetually sus­ tained in order for the existential logic of Roth’s fiction as such to work.

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Read together, his early novels are a testament to a timely sense of the mod­ ern world in which nostalgia functions as an active tool of acute and often biting criticism of the present. This approach to literature placed Roth, as well as his characters and his œuvre, at the borderlands of belonging, often teetering on the brink of dystopia, a place he occupies to this day. Daniel Münzner A Twisted Road to Pacifism: Kurt Hiller and the First World War This article explores the life of Kurt Hiller during World War I, placing parti­ cular emphasis on his ideological development. Hiller, who during the 1920s became famous for his elitist theory of the rule of intellectuals, as contributor for the journal Die Weltbühne, and as radical pacifist, developed many of his ideas as a direct result of his wartime experience. He underwent a remark­ able conversion, turning from an apolitical, Expressionist poet who initially supported the war into a socialist pacifist writer and public intellectual. Nevertheless, he maintained a lifelong admiration for military culture and discipline, which drove him to reconcile ideas of violence and peace, a com­ promise that found its expression in the theory of revolutionary pacifism. Felix Pankonin Profil einer Renegatin: Ruth Fischers exemplarische Biografie Ruth Fischer (1895–1961), born in Leipzig and raised in Vienna, was a pro­ minent leader of the Communist Party of Germany in the mid-twenties. After being ousted from the party, she became a strong and vocal critic of Stalinism. Especially after 1941, when her partner Arkadi Maslow was mur­ dered, she vehemently denounced communists who wouldn’t dissociate themselves from Stalin. However, as so many other so-called “renegades,” Fischer seems to have never given up the ideals which once drew her towards communism. Focusing on crucial moments in Fischer’s life, the arti­ cle argues that this continuity can be illuminated with reference to her social background, revealing a specific desire which stayed with Fischer through­ out her life. Eugenia Prokop-Janiec Writing World War I: The Case of Polish-Jewish Literature Touching upon a variety of genres – from lyric poetry to journalistic writing, from popular mainstream to experimental novels – this essay explores the

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different representations of World War I in Polish-Jewish literature pub­ lished between 1918 and 1939 against the background of the concept of experience as defined in Polish culture. In Polish literary studies and criti­ cism the term “Polish-Jewish literature” has a much narrower meaning than in the Western European-Jewish tradition. Literary scholars place this litera­ ture within the polysystem of tri-lingual modern Jewish culture, consisting of the Yiddish, Hebrew, and Polish language systems. Thus, from both the interwar and contemporary perspectives, authors such as Julian Tuwim, Bolesław Leśmian, Józef Wittlin, and Bruno Schulz, who sought to establish themselves throughout the wider literary scene and address the general Pol­ ish public, cannot be considered Polish-Jewish authors sensu stricto. Only those whose declared objective it was to communicate first and foremost with the Jewish reader, and who cooperated with the Jewish press published in Polish were recognized as Polish-Jewish authors. Sigurd Paul Scheichl Karl Kraus’ Weltgericht – Eine Bilanz Karl Kraus’ Weltgericht of 1919 is a collection of essays and satires pub­ lished during World War I in Kraus’ review Die Fackel. Kraus, who was opposed to the war from the very beginning, wrote less about the sufferings of the soldiers but rather concentrated on the appalling continuity between peace and war. While the soldiers died, the war profiteers went to the theatre as they had done before August 1914; the ascent of unscrupulous business­ men corresponded to the loss of influence of the social groups representing traditional values; conservatism became a mere facade which covered over economic interests, became an empty “phrase,” an ornament, a lie; the tradi­ tional heroic vocabulary that was used in texts about the war was such a lie, since technical warfare had nothing to do with the heroism of the past. Kraus welcomed the end of the Habsburg monarchy and the establishment of the republic, hoping that this political chance would spell the end of these lies. Christoph Schmidt Die Analogie und ihr Missbrauch in der Historie – Über Albert I. Baumgartens Biografie zu Elias Bickermann This review of Albert Baumgarten’s monography on the great historian of Hellenistic Judaism, Elias Bickermann, is meant both as a general survey and a response to Baumgarten’s critique of the author’s own essay on Bick­ ermann. It sets out to demonstrate the problem of a central historical analogy Bickermann draws between classical Greek culture and its impact on the

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Jewish reform in antiquity on the one hand and the German-Jewish Reform movement of the nineteenth century on the other. The purpose of this inves­ tigation is to situate Bickermann’s historical work within the discourse of Jewish political theology of the 1920s (Baeck, Baer, Buber, Strauss) in order to offer an alternative interpretation to Baumgarten’s monography which is reducing the work of the historian to his biography. Andreas Stuhlmann Vom »Schlafwandler« zum Kriegsgegner: Die Wandlungen des Maximilian Harden Maximilian Harden was without a doubt the most prominent journalist in Wilhelmine Germany. As a Bismarck partisan, he used his reputation in numerous attacks on the advocates of the “New Course,” criticizing their lack of true leadership and dubious moral values, which made him the target of anti-Semitic hostility. Yet, in 1914, Harden joined the almost unanimous enthusiasm for the war, only to denounce it strongly in 1917. This new course damaged his reputation beyond repair. The article highlights Hard­ en’s struggle to reconcile his political and journalistic ambitions with his Jewish roots, and shows how vulnerable even an extremely renowned figure such as Harden was to anti-Semitic slur and violence. Peter Tietze »Zeitwende«: Richard Koebner und die Historische Semantik der Moderne Richard Koebner (1885–1958) was one of the most intriguing and innova­ tive historians to have reflected on the method and theory of historical semantics and who applied them to the study of modernity. Today, however, his semantic approach is almost completely forgotten, an unfortunate devel­ opment this article seeks to redeem by introducing Koebner’s historical semantics and outlining the development of its theoretical, methodological and culture-critical dimensions. Deeply influenced by the debate about “His­ toricism” in Weimar culture, Koebner developed a theory of “historical con­ sciousness,” which, during his time in Jerusalem, would become the basis for his semantic method and his self-reflexive cultural critique. Finding him­ self confronted with totalitarian ideologies, he believed that the “idea of Zeitwende,” the ruling principle of the modern historical consciousness, must be criticized by historians as constituting the main reason for the mysti­ fication of the past and instrumentalization of language for politics.

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Jay Winter Jüdische Erinnerung und Erster Weltkrieg – Zwischen Geschichte und Gedächtnis Yosef Haim Yerushalmi’s celebrated adage that Jews had memory but not history ceased to operate after 1914. The Great War thus constitutes a revo­ lution in Jewish cultural history, arising from three sources which are at the center of this essay. The first was through military mobilization and the mili­ tary service of Jews, throughout the world. The second was the misery inflicted on Jewish communities in Eastern Europe, creating a material crisis for millions of Jews who lived in or near the theatre of military operations, and who were subjected to deportation, pogroms, and the vagaries of life as refugees. In response to this disaster, an American-led philanthropic cam­ paign emerged which fed and clothed Jews from Lithuania and housed them to Palestine. The third was the unstable peace, in which Jews were subjected to further violence in Poland, revolutionary Russia, and the Baltic states, as well as in the Middle East.

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Contributors Glenda Abramson received her PhD from the University of the Witwaters­ rand, Johannesburg. She is a former Cowley Lecturer in Post-Biblical Hebrew at the University of Oxford and holds the titles of Professor of Hebrew and Jewish Studies, and Emeritus Fellow of St Cross College and of the Oxford Centre for Hebrew and Jewish Studies. She is editor-in-chief of The Journal of Modern Jewish Studies. Publications: David Vogel. Mar­ ried Life 1929, in: Hasia R. Diner/Gennady Estraikh (eds.), 1929. Mapping the Jewish World, New York 2013, 185–200; Soldiers’ Tales. Two Palesti­ nian Jewish Soldiers in the Ottoman Army during the First World War, Lon­ don 2013; Haim Nahmias and the Labour Battalions. A Diary of Two Years in the First World War, in: Jewish Culture and History 14 (2013), no. 1, 18– 32; Hebrew Writing of the First World War, London 2008; Religious Per­ spectives in Modern Muslim and Jewish Literatures, London 2006 (together with Hilary Kilpatrick); Drama and Ideology in Modern Israel, New York 1998. Lisa Marie Anderson studied German language and literature at the Univer­ sity of Pennsylvania, where she received her PhD in 2004. She then taught at Lock Haven University and Duke University. Since 2006 she has been teaching in the Department of German at Hunter College, City University of New York, where she is now an Associate Professor. Her research focuses on the intersections between literature, philosophy, and religion in German culture of the eighteenth through twentieth centuries. She is currently the field editor for German and Scandinavian languages and literature for the Eighteenth Century Current Bibliography. Publications: The “Meisterin des deutenden Essais.” Margarete Susman (1872–1966) on the First World War and the November Revolution, in: Christa Spreizer (ed.), Discovering Women’s History. German-Speaking Journalists (1900–1950), Pieterlen 2014, 93–122; Hamann and the Tradition, Evanston, Ill., 2012; German Expressionism and the Messianism of a Generation, Amsterdam/New York 2011; Of Theory, Aesthetics, and Politics. Configuring the Messianic in Early Twentieth-Century Europe, in: Postscripts. The Journal of Sacred Texts and Contemporary Worlds 3 (2007), no. 2–3, 223–237; Adam’s Return to the Garden. The Political Messianic in German Expressionism and Acti­ vism, in: Thomas Crombez/Katrien Vloeberghs (eds.), On the Outlook. Fig­ ures of the Messianic, Newcastle 2007, 71–81; Redemption and the Aes­ thetic Imagination. The Messianism of German Expressionism, in: Wayne Cristaudo/Wendy Baker (eds.), Messianism, Apocalypse and Redemption in 20th Century German Thought, Adelaide 2006, 127–137. JBDI / DIYB • Simon Dubnow Institute Yearbook 13 (2014), 559–568.

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Maya Barzilai is Assistant Professor of Modern Hebrew Literature and Jew­ ish Culture at the University of Michigan. From 2007 to 2008 she was a fel­ low at the Berlin Program for Advanced German and European Studies and received her PhD in comparative literature from the University of California, Berkeley, in 2009. In 2012 and 2013 she was a fellow at the Frankel Institute for Advanced Judaic Studies. Her research concerns twentieth-century Ger­ man, Hebrew, and Yiddish post-war literature, film, and popular culture, as well as theory and practice of German-Hebrew translation. Publications: The Golem Condition. Jewish Creation in an Age of Destruction, New York (forthcoming); Translation on the Margins. Hebrew-German-Yiddish Multi­ lingualism in Avraham Ben Yitzhak and Yoel Hoffmann, in: Journal of Jew­ ish Identities 7 (2014), no. 1, 109–128; S. Y. Agnon’s German Consecration and the “Miracle” of Hebrew Letters, in: Prooftexts 33 (2013), no. 1, 48–75; A Poetics of Statelessness. Avraham Ben Yitzhak after World War I, in: Naharaim. Zeitschrift für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte/ Journal of German-Jewish Literature and Cultural History 7 (2013), no. 1/2, 111–130; Reading “Camera Lucida” in Gaza. Ronit Matalon’s Photographic Travels, in: Comparative Literature 65 (2013), no. 2, 200–219; Melancholia as World History. W. G. Sebald’s Rewriting of Hegel in “Die Ringe des Saturn,” in: Anne Fuchs/J. J. Long (eds.), W. G. Sebald and the Writing of History, Würzburg 2007, 73–90. Eglė Bendikaitė studied history and Yiddish and received her PhD in history from Vytautas Magnus University of Kaunas (Lithuania). She has been a researcher at the Lithuanian Institute of History in Vilnius since 2002, where she teaches modern Jewish history at university. As research fellow she worked at the YIVO Institute for Jewish Research in New York in 2002, as well as at the Max Planck Institute for History in Göttingen in 2005, and from 2012 to 2014 at the Global and European Studies Institute at the Uni­ versity of Leipzig. She was project director and coordinator of the interna­ tional symposium on “The Life, Times and Work of Jokūbas Robinzonas – Jacob Robinson” in 2007, and conducted the research project “The Life, Times, and Work of Shimshon Rosenbaum. The Political Biography of a Preeminent Leader in the Zionist Movement” from 2012 to 2014. Publica­ tions: Walking a Thin Line. The Successes and Failures of Socialist Zionism in Lithuania, in: Šarūnas Liekis/Antony Polonsky/ChaeRan Freeze (eds.), Jews in the Former Grand Duchy of Lithuania since 1772, Oxford/Portland, Oreg., 2013, 207–227; The Ideology which Reshaped the Pyramid of Power of the Lithuanian Jewish Community, in: Kari Alenius (ed.), Itämeren itälai­ dalla [On the Eastern Edge of the Baltic Sea], 3 vols., 2006–2012, here vol. 3: Vallankäyttö Suomen ja Baltian historiassa [Exercise of Power in the History of Finland and the Baltic Countries], Rovaniemi 2012, 195–211

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(Fin.); The Zionist Priorities in the Struggle for Lite, 1916–1918, in: Vladas Sirutavičius/Darius Staliūnas (eds.), A Pragmatic Alliance. Jewish-Lithua­ nian Political Cooperation at the Beginning of the 20th Century, Budapest/ New York 2011, 159–180; The Lithuanian Zionist Conference, Vilnius, 5–8 December 1918. A Source Publication, in: ibid., 257–270; »Hier und jetzt«. Über Bedingungen und Wirkungsspielräume der zionistischen Bewegung in Litauen 1906–1940, in: Forschungen zur Baltischen Geschichte 5 (2010), 143–167; Sionistinis sąjūdis Lietuvoje [The Zionist Movement in Lithua­ nia], Vilnius 2006 (Lith., with summaries in German, English, and Hebrew). Ruth von Bernuth studied German literature and special education at the uni­ versities of Rostock and Dortmund and at the Humboldt University of Ber­ lin. There, she received her PhD in medieval and early modern German lit­ erature in 2005. Since 2008, she has taught in the Department of Germanic and Slavic Languages and Literatures of the University of North Carolina at Chapel Hill, where she is also the director of the Carolina Center for Jewish Studies. For a research project on Yiddish literature she was awarded a visit­ ing fellowship in Jewish Studies from Yad Hanadiv and Beracha Foundation in Israel. In 2013 she was a junior fellow at Alfried Krupp Wissenschaftskol­ leg Greifswald. Publications: Baron Jakob Paul von Gundling et le Collège du Tabac, in: Katja Gvozdeva/Alexandre Stroev/Louise Millon (eds.), Savoirs ludiques. Pratiques de divertissement et émergence d’institutions doctrines et disciplines dans l’Europe moderne, Paris 2014, 177–204; Zwi­ schen Kreuzrittern und Sarazenen. Der jüdische Held in Elia Levitas »Bovo d’Antona«, in: Susanne Friede/Dorothea Kullmann (eds.), Das Potenzial des Epos. Die altfranzösische Chanson de geste im europäischen Kontext, Hei­ delberg 2012, 411–432; Shalom bar Abraham’s Book of Judith in Yiddish, in: Kevin R. Brine/Elena Ciletti/Henrike Lähnemann (eds.), The Sword of Judith. Judith Studies across the Disciplines, Cambridge 2010, 127–150 (together with Michael Terry); Wunder, Spott und Prophetie. Natürliche Narrheit in den »Historien von Claus Narren«, Tübingen 2009; »Wer jm gůtz thett dem rödet er vbel«. Natürliche Narren im Gebetbuch des Matthäus Schwarz, in: Cordula Nolte (ed.), Homo debilis. Behinderte – Kranke – Ver­ sehrte in der Gesellschaft des Mittelalters, Korb 2009, 411–430. Judith Große has been a doctoral student in the Department of History (Chair for the History of the Modern World) at the Swiss Federal Institute of Technology in Zurich since September 2012. She holds a BA degree in his­ tory and German literature from the Humboldt University in Berlin and an MA degree in History and Philosophy of Knowledge from the Swiss Federal Institute of Technology. Her current research project, with the preliminary title “The Crisis of ‘Occidental’ Marriage. Marriage Reform, Sexual Science

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and Imperial Knowledge of the World (c. 1890–1935),” concerns the mar­ riage reform debates in early twentieth century Germany from a global-his­ torical perspective. Publications: Biopolitik und Sittlichkeitsreform. Kam­ pagnen gegen Alkohol, Drogen und Prostitution 1880–1950, Frankfurt a. M. 2014 (ed. together with Francesco Spöring and Jana Tschurenev). Grit Jilek received degrees in psychology and German as foreign language at the University of Jena, and a Diploma in social work at the University for Applied Science Leipzig. She holds an MA degree in European studies, and received the Günter Reimann Award for Academic Excellence by the RosaLuxemburg-Foundation in 2007. She taught at the Evangelical University of Applied Sciences for Social Work Dresden. She finished her PhD in political science at the Free University Berlin in 2010. Main areas of current research include minority questions, especially holistic concepts for equal participa­ tion in society, as well as social movements, such as the movement to reduce gun violence in the United States, and the movement for reparations for slav­ ery. Publications: Nation ohne Territorium. Über die Organisierung der jüdi­ schen Diaspora bei Simon Dubnow, Baden-Baden 2013; Zukunft Diaspora. Simon Dubnows Vision von einer a-staatlichen jüdischen Moderne, in: Miriam Rürup (ed.), Praktiken der Differenz. Diasporakulturen in der Zeit­ geschichte, Göttingen 2009, 62–95; Von Honig und Hochschulen. Dreizehn gesellschaftskritische Interventionen. Zehntes Doktorandinnenseminar der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Berlin 2007 (ed. together with Stefan Kalmring and Stefan Müller); »Alle Wege sind mir versperrt«. Simon Dubnows Brief aus Riga, März 1941, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dub­ now Institute Yearbook 6 (2007), 339–359; Akzeptierende Jugendarbeit. Eine kritische Betrachtung, in: Der rechte Rand 67 (2000), 6 f. Elena Keidošiūtė studied Jewish history and culture at the University of Southampton and currently is a last year doctoral candidate in History at Vil­ nius University. In the academic year of 2011/12 she was a research fellow at the Bucerius Institute for Research of Contemporary German History and Society at the University of Haifa. Her dissertation focuses on Jewish con­ versions to Catholicism in Lithuanian territory throughout the nineteenth and the first half of the twentieth centuries. Publications: What Should a Catholic Know? Shifting Trends in the Preparation of a Jewish Catechumen for Baptism in 18–20-Century Lithuania, in: Arūnas Streikus (ed.), Krikšči­ onys ir nekrikščionys kiti [The Christian and the Non-Christian Other], Vil­ nius 2013, 115–132, and 246 f. (Lith.); Katalikų Bažnyčia permąsto žydų konversijas [Catholic Church Rethinks Jewish Conversions. Mission Strate­ gies and Effectiveness in Interwar Vilnius], in: Lietuvos Istorijos Studijos [Lithuanian Historical Studies] 31 (2013), 79–97 (Lith.); Missionary Activ­

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ity of “Mariae Vitae” Congregation, in: Pardes. Zeitschrift der Vereinigung für Jüdische Studien e. V. 16 (2010), 57–72. Magnus Klaue studied German literature, philosophy, as well as film and theatre studies in Berlin. He received his PhD in 2001. His dissertation on Else Lasker-Schüler was published in 2011. From 2003 to 2008 he was a teaching fellow in the Department of German Literature at the Freie Univer­ sität Berlin. Since then, he has been working in the editorial staff of a Ger­ man weekly newspaper in Berlin. His research interests include modern Ger­ man and Austrian literature, especially the history and poetics of GermanJewish literature, and the early Frankfurt School. His publications include articles about Fritz Mauthner, Thomas Bernhard, and Theodor W. Adorno. He is currently working on a study about Max Horkheimer. Publications: Vom Geschmack zur Idiosynkrasie. Zum Wandel von Geschmacksurteil und ästhetischer Erfahrung in der Kulturindustrie, in: Dirk Braunstein/Sebastian Dittmann/Isabelle Klasen (eds.), Alles falsch. Auf verlorenem Posten gegen die Kulturindustrie, Berlin 2012, 111–166; Poetischer Enthusiasmus. Else Lasker-Schülers Ästhetik der Kolportage, Cologne/Weimar/Vienna 2011; Unterwegs. Zur Poetik des Vagabundentums im 20. Jahrhundert, Cologne/ Weimar/Vienna 2008 (together with Hans Richard Brittnacher). Sabine Koller studied Romance and Slavic philology at the universities of Regensburg and Grenoble and at the St. Petersburg State Theatre Arts Acad­ emy. She received her PhD from the University of Regensburg in 2002 and was awarded the e-on Culture Award of Eastern Bavaria (Kulturpreis Ost­ bayern) for outstanding achievements in science. Between 2005 and 2012 she was Dilthey fellow of the Volkswagen Foundation with a research pro­ ject on Marc Chagall. Between 2007 and 2012 she was a member of the Ger­ man Young Academy (Die Junge Akademie). Since 2013 she has been Pro­ fessor of Slavic-Jewish Studies at the University of Regensburg. Her current research focuses on the aesthetic evolution of Yiddish modernist poets dur­ ing the Soviet period. Publications: Das »Schwarze Quadrat« und die jüdi­ sche Kunst. Chagall, Lisickij und Malevič in Vitebsk, in: Aschkenas. Zeit­ schrift für Geschichte und Kultur der Juden 24 (2014), no. 1, 5–31; Die Seelenwanderung einer Melodie. Julian Stryjkowskis Tanz der Chassiden um Yitskhok Leybush Perets, in: Wolf Gerhard Schmidt (ed.), Faszinosum »Klang«. Anthropologie – Medialität – kulturelle Praxis, Berlin/New York 2014, 347–362; Joseph Opatoshu. A Yiddish Writer between Europe and America, London 2013 (ed. together with Gennady Estraikh and Mikhail Krutikov); Marc Chagall. Grenzgänge zwischen Literatur und Malerei, Köln/Weimar/Wien 2012; On (Un)translatability. Sholem Aleichem’s “Ayznban-geshikhtes” (“Railroad Stories”) in German Translation, in: Gen­

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nady Estraikh et al. (eds.), Translating Sholem Aleichem. History, Politics and Art, London 2012, 134–149; Ein Tag im jüdischen Regensburg mit Joseph Opatoshu und Marc Chagall, Passau 2009 (ed.). Elke-Vera Kotowski studied political science, literature, philosophy and cul­ tural studies in Duisburg and Berlin. In 2000 she earned a doctorate in Jew­ ish studies at the University of Potsdam. There, from 1994 to 2000, she worked as an assistant in the section Contemporary History II (German-Jew­ ish history), and was involved in developing the study program in Jewish studies. Since 2000 she has been teaching and doing research at the Moses Mendelssohn Center for European Jewish Studies, Potsdam, and she is a Lecturer at the University of Potsdam (history, Jewish studies, culture and media studies), and at the Center for Jewish Studies Berlin-Brandenburg. Her area of expertise is European Jewish cultural and social history, in con­ nection with this she is also active as a curator of exhibitions. Since 2009 she has been the scientific coordinator of the Walther Rathenau Graduate Research Group. Currently she is directing the project “Kultur und Identität. Deutsch-jüdisches Kulturerbe im In- und Ausland” (Culture and Identity. The German-Jewish Cultural Heritage in Germany and Abroad). Publica­ tions: Kultur und Identität. Deutsch-jüdisches Kulturerbe im In- und Aus­ land. Ein Handbuch, Berlin (forthcoming) (ed.); Geliebter Feind, gehasster Freund. Philosemitismus und Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart, Berlin 2009 (ed. together with Irene A. Diekmann); Die »Judenfrage« und ihre europäische Antwort, in: Europa ethnica. Zeitschrift für Minderheiten­ fragen 3/4 (2011), 66–72; Art. »Jüdischer Selbsthass«, in: Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, 6 vols., 2009–2013, here vol. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, ed. by Wolfgang Benz, Berlin 2010, 168 f.; Art. »Theodor Lessing«, in: Killy Literaturlexi­ kon. Autoren und Werke des deutschsprachigen Kulturraums, 12 vols., 2008–2011, here vol. 7, ed. by Wilhelm Kühlmann, 2nd revised edition, Ber­ lin 2010, 370 f.; Art. »Theodor Lessing«, in: Handbuch des Antisemitismus, vol. 2: Personen, ed. by Wolfgang Benz, Berlin 2009, 475–477. David Kowalski studied sociology and economics at the Philipps-University Marburg, and at the Tischner European University in Cracow (2008–2009). He received his Diploma in 2010 with a thesis about Jewish experiences in Poland 1968. After his studies he worked as a research associate, and since 2011 he has been a doctoral candidate at the Simon Dubnow Institute. From 2011 till 2014 he held an Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk doctoral scho­ larship working on Jewish dissidents in Warsaw in the 1960s. Ilse Josepha Lazaroms received her PhD in 2010 from the Department of History and Civilization at the European University Institute in Florence,

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Italy, where she specialized in modern European history, Jewish studies, and Central European literature. She is currently a Prins Foundation fellow at the Center for Jewish History in New York. Previously, she held postdoctoral fellowships at the Hebrew University in Jerusalem, the Imre Kertész Kolleg in Jena, and the Central European University in Budapest. Her current research focuses on responses to catastrophe and narratives of anti-Jewish violence in early twentieth-century Central Europe and Hungary, in particu­ lar. Publications: The Politics of Contested Narratives. Biographical Approaches to Modern European History, London (forthcoming; together with Emily R. Gioielli); “Unwelcome Guests.” The Legacy of Violence in the Work of Hungarian Jewish Writers, in: Yearbook for European Jewish Literature Studies 1 (2014), 236–251; Marked by Violence. Hungarian Jew­ ish Histories in the Wake of the White Terror, 1919–1922, in: Zutot. Per­ spectives on Jewish Culture 11 (2014), 1–10; The Grace of Misery. Joseph Roth and the Politics of Exile, 1919–1939, Leiden/Boston, Mass., 2013; “In the Beginning was the Garden.” Arthur Schnitzler and the Politicization of Jewish Identities in Fin-de-Siècle Central Europe, in: Leo Baeck Institute Year Book 58 (2013), no. 1, 219–231. Daniel Münzner studied history, mathematics and drama education at the University of Rostock and Monash University, Australia. He completed his PhD in 2014 at the University of Rostock. His research centers on intellec­ tual history as a form of microhistory or, more precisely, everyday history (Alltagsgeschichte), and he is currently working on a project about “Espio­ nage, State Secrecy and Public Sphere between Nation State and Globaliza­ tion” (together with Robert Radu and Lisa Medrow). Publications: The Sur­ veillance of Friends. MI5 and Friendly Aliens during the Second World War, in: Journal of Intelligence History 13 (2014), no. 2, 131–143; Juden wider Willen. Zuschreibungen des Jüdischen bei Kurt Hiller, Egon Erwin Kisch und Kurt Tucholsky, 1 July 2013, (23 July 2014). Felix Pankonin studied medieval and modern history and philosophy at the University of Leipzig, and received his MA degree in October 2013. During his studies he worked as a student assistant at the Simon Dubnow Institute from 2010 to 2013. In 2013 he became an academic assistant and doctoral candidate at the institute working on the biography of Richard Löwenthal in exile and in Western Germany. Eugenia Prokop-Janiec is Professor at the Jagiellonian University of Cra­ cow. She teaches Polish literature, comparative literature and ethnology at the Faculty of Polish Studies. She is specialized in the history of modern lit­

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erature, literary criticism, literary ethnology, Polish-Jewish literature as well as Polish-Jewish cultural and literary contacts in the nineteenth and twenti­ eth centuries. Publications: Pogranicze polsko-żydowskie. Topografie i teksty [Polish-Jewish Frontier. Topographies and Texts], Kraków 2013; Lit­ eratura polsko-żydowska. Studia i szkice [Polish-Jewish Literature. Studies and Sketches], Kraków 2011 (ed.); Literatura i nacjonalizm. Twórczość kry­ tyczna Zygmunta Wasilewskiego [Literature and Nationalism. The Critical Works of Zygmunt Wasilewski], Kraków 2004; Polish-Jewish Literature in the Interwar Years, Syracuse, N. Y., 2003 (first publ. 1992: Międzywojenna literatura polsko-żydowska jako zjawisko kulturowe i artystyczne [The Interwar Polish-Jewish Literature as a Cultural and Artistic Phenomenon]); Międzywojenna poezja polsko-żydowska. Antologia [Interwar Polish-Jew­ ish Poetry. An Antology], Kraków 1996 (ed.); Teatr żydowski w Krakowie [Jewish Theater in Cracow], Kraków 1995 (ed. together with Jan Michalik). Sigurd Paul Scheichl studied German and English languages and literatures in Innsbruck, Vienna, and at the University of Kansas. From 1971 until 2014 he taught at the Institute of German Philology at the University of Innsbruck where he was Professor of Austrian Literary History and Literary Theory from 1992 until 2010. He is a member of the Grazer Autorenversammlung (an Austrian writer’s association) and has been president of the Vienna Lit­ eraturhaus since 2012. He has published numerous articles about Franz Grillparzer, Johann Nestroy, Karl Kraus and Austrian literature of the nine­ teenth and twentieth centuries. Publications: Zur Aktualität von Karl Kraus’ »Letzten Tagen der Menschheit«. Ein Vortrag, Weitra 2012; Große Literatur­ kritiker, Innsbruck/Vienna/Bozen 2010 (ed.); Sprachkurs. Beispiele neuerer österreichischer Wortartistik 1978–2000, Innsbruck 2001 (ed. together with Petra Nachbaur); Von Qualtinger bis Bernhard. Satire und Satiriker in Öster­ reich seit 1945, Innsbruck/Vienna 1998 (ed.); Zeitungen im Wiener Fin de siècle. Eine Tagung der Arbeitsgemeinschaft »Wien um 1900«, Vienna/ Munich 1997 (ed. together with Wolfgang Duchkowitsch); Karl Kraus in neuer Sicht. Londoner Kraus-Symposium, Munich 1986 (ed. together with Edward Timms); Kraus-Hefte, Munich 1977–1994 (ed. together with Chris­ tian Wagenknecht). Christoph Schmidt is Associate Professor at the School of Philosophy and Religions at the Hebrew University of Jerusalem. He has published numer­ ous books and articles in the field of political theology and critical theory. He is presently engaged in writing a book on the dialogue between Martin Buber and Hans Urs von Balthasar about the tension between the eschatolo­ gical and dialogical dimensions in Jewish and Christian theology. Publica­ tions: Till the End of Love. Eros und Zeit in der Konstitution moderner Sub­

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525369432 — ISBN E-Book: 9783647369433

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jektivität, in: Julia Matveev/Ashraf Noor (eds.), Die Gegenwärtigkeit deutsch-jüdischen Denkens. Festschrift für Paul Mendes-Flohr, Paderborn 2011, 131–154; Canon, Gnosis and Modernity. Hans Blumenberg’s Legiti­ macy of the Modern Age, in: Menahem Ben-Sasson et al. (eds.), Uncovering the Canon. Studies in Canonicity and Genizah, Jerusalem 2010, 463–480 (Heb.); Die theopolitische Stunde. Zwölf Perspektiven auf das eschatolo­ gische Problem der Moderne, Paderborn/Munich 2009; God Will Not Stand Still. Jewish Modernity and Political Theology, Tel Aviv 2009 (ed. together with Eli Schonfeld; Heb.); Die Apokalypse des Subjekts. Ästhetische Sub­ jektivität und politische Theologie bei Hugo Ball, Bielefeld 2003; Der häre­ tische Imperativ. Überlegungen zur theologischen Dialektik der Kulturwis­ senschaft in Deutschland, Tübingen 2000. Andreas Stuhlmann is DAAD Visiting Associate Professor of German at the University of Alberta, Edmonton, Canada. Previously, he has taught modern German literature and media studies at the University of Hamburg and Uni­ versity College Cork, Ireland. He received his MA degree from the Univer­ sity of Pennsylvania and his PhD from the University of Hamburg where he also completed his habilitation. Among his main research interests is the intersection of arts and politics, as well as questions that touch on the notion of exile, polemics, censorship, and intellectual property. His teaching includes German cultural, i. e. intellectual, media and literary history, with an emphasis on German-Jewish cultural relations. Publications: »Sie sehen: ich bin wütend.« Hannah Arendt und Gershom Scholem streiten über Judentum im Exil, in: Juliane Sucker/Lea Wohl von Haselberg (eds.), Bilder des Jüdi­ schen. Selbst- und Fremdzuschreibungen im 20. und 21. Jahrhundert, Berlin/ Boston, Mass., 2013, 179–204; »Dank! Dank! Dank! Dank! Dank!« Vier Postkarten und ein Brief Else Lasker-Schülers an Monty Jacobs und Arthur Michel, in: Text. Kritische Beiträge 13 (2012), 61–97 (together with Mirko Nottscheid); »Die Literatur – das sind wir und unsere Feinde«. Literarische Polemik bei Heinrich Heine und Karl Kraus, Würzburg 2010; Die Germanis­ tin Agathe Lasch (1879–1942). Aufsätze zu Leben, Werk und Wirkung, Nordhausen 2009 (together with Christine M. Kaiser and Mirko Nottscheid). Peter Tietze, MA, studied modern history, philosophy and Spanish literature at the universities of Leipzig, Salamanca, and Tübingen. Currently, he holds a fellowship at the Franz Rosenzweig Minerva Research Center of the Hebrew University Jerusalem. His PhD project at the University of Tübin­ gen focuses on the development of historical semantics and “Begriffsge­ schichte” (conceptual history) in German-speaking historiography.

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Jay Winter, Charles J. Stille Professor of History at Yale, is an historian of twentieth century Europe, focusing in particular on the First World War. He received his PhD and DLitt degrees from the University of Cambridge, where he taught as a fellow of Pembroke College from 1979 to 2001. He won an Emmy award as co-producer of the BBC/PBS eight-hour television series The Great War and the Shaping of the Twentieth Century (1996). He is a founder of the Historial de la Grande Guerre, the international museum of the war in Péronne, France. Publications: The Cambridge History of the First World War, 3 vols., Cambridge 2014 (ed.); Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge/New York 2014 (2nd edition, first 1995); René Cassin et les drois de l’homme. Le projet d’une génération, Paris 2011 (together with Antoine Prost); Dreams of Peace and Freedom. Utopian Moments in the Twentieth Century, New Haven, Conn., 2006; Remembering War. The Great War between Memory and History in the Twentieth Century, New Haven, Conn., 2006; Capital Cities at War. Paris, London, Berlin 1914–1919, Cambridge 1996 (ed. together with Jean-Louis Robert); 1914–18. The Great War and the Shaping of the 20th Century, London 1996 (ed. together with Blaine Baggett); The Experience of World War I, New York 1989.

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