Jacob Grimm über seine Entlassung

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JACOB GRIMM

ÜBER

SEINE ENTLASSUNG

Insel-Bücherei Nr. 806

Jacob Grimm

über seine Entlassung

Nachwort von Werner Vordtriede

IM INSEL-VERLAG

Insel-Verlag Frankfurt am Main 1964

Der Wetterstrahl, von dem mein stilles Haus getroffen wurde, bewegt die Herzen in weiten Kreisen. Ist es bloß menschliches Mitgefühl, oder hat sich der Schlag elektrisch fortverbreitet, und ist es zugleich Furcht, daß ein eigner Besitz gefährdet wer­ de? Nicht der Arm der Gerechtigkeit, die Gewalt nötigte mich, ein Land zu räumen, in das man mich berufen, wo ich acht Jahre in treuem, ehrenvollem Dienste zugebracht hatte. »Gib dem Herrn eine Hand, er ist ein Flüchtling«, sagte eine Groß­ mutter zu ihrem Enkel, als ich am 16. Dezember die Grenze überschritten hatte. Und wo ward ich so genannt? In meinem Geburtslande, das an dem Abend desselben Tages ungern mich wieder aufnahm, meine Gefährten sogar von sich stieß. Über eine Tat, deren Absicht offen, deren Beurteilung allen unerschwert war, die nicht mit sehenden Augen blind sein wollen,durfte sichdie allzu neue Aufwallung anfangsSchweigen gebieten; es ist mir von Freunden und Unbekannten liebevolle, ehrende Teilnahme, untermischt bei einzelnen mit scheuer Be­ klommenheit, an den Tag gelegt worden. Weder nach Beifall gelüstet hat mir, noch vor Tadel gebangt, als ich so handelte, wie ich mußte; aber es verlauten auch widerwärtige Stimmen, vornehme, die mir Klugheit, hoffärtige, die mir gesunden Men­ schenverstand absprechen, selbst höhnende, die im voraus ent­ schlossen sind, mir gemeine und unwürdige Beweggründe un­ terzulegen, wie die Krähe angeflogen kommt, dem, den sie für tot hält, die Augen auszuhacken. Ich bin keiner so weichlichen Gelassenheit, daß ich mein Recht unverteidigt preisgeben und von allen in das Kreuz oder die Quere laufenden Tagesmei­ nungen verdrehen lassen möchte: mein gutes Recht, das, wie

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unbedeutend es der Welt scheinen mag, für mich den Inbe­ griff edles dessen enthält, was ich errungen habe und ohne Makel, ungelästert hüten will. Nur die Wahrheit währt, und selbst Übelgesinnte oder Schwache, die sie nicht laut beken­ nen, fühlen sich insgeheim von ihr durchzuckt. Die Welt ist voll von Männern, die das Rechte denken und lehren, sobald sie aberhandeln sollen, von Zweifel und Kleinmut angefochten werden und zurückweichen. Ihr Zweifel gleicht dem Unkraut, das auf den Straßen durch das Pflaster bricht; manche rotten es aus, doch nicht lange, so hat es wieder ganze Stellen über­ zogen. Täuschungen und Entfärbungen darf sich die Kraft einer einfachen und schuldlosen Erzählung entgegenstellen: sie will glimpflich sein, aber frei und ungehemmt. Sie will keine Wunden vor der Zeit zuheilen lassen, sondern sich das Andenken an jeden Vorgang noch frisch erhalten; später wird alles schon verharschen. Niemand setzt die Feder gern für sich selbst an, sogar in gerechtem Abwehren; wer mag neugierigen Blicken die Türe seines Hauses öffnen, wo er, sähe er sich un­ angetastet, Heber in schirmender Zurückgezogenheit geblieben wäre? Mein Leben, insoweit seine Schicksale von meiner Gemütsart und Gesinnung abhängen, würde still und ungefährdet in un­ ablässigem Dienste der Wissenschaft verflossen sein. Nun ist schon zum drittenmal der Pfad, den ich mir bahnen konnte, verdomt und gesperrt worden durch äußere Verhältnisse, die weit über den Widerstand hinaus walteten, den ich ihnen ent­ gegenzusetzen hatte. Ich ziehe die Augen der Macht immer erst dann auf mich, wenn sie mich zwingt, das Feuer meines Herdes fortzutragen und auf einer neuen Stätte anzufachen. Nie, von frühauf bis jetzt, ist mir oder meinem Bruder von ir­ gendeiner Regierung Unterstützung oder Auszeichnung zuteil geworden: einigemal jener war ich dieser nie bedürftig. Diese Unabhängigkeit hat meine Seele gestählt, sie widersteht An­ mutungen, welche die Reinheit meines Bewußtseins beflecken wollen. Mein Bruder hat noch die Pflicht, eine solche Gesin6

nung seinen Kindern zu überliefern. Spräche er statt meiner, er würde sich in seiner Weise ausdrücken, aber seine Antwort auf jede ernste Frage würde nicht anders lauten, weil die Quel­ le, aus der ich sie schöpfe, auch ihn tränkt. Ich bin von unbemittelten, aber braven, mir früh entrissenen Eltern in Hessen geboren und fühle mich noch heftig allen Eigenheiten meiner Heimat zugewandt, selbst von ihren Män­ geln und Gebrechen berührt. Sie gewöhnten mir von Kindes­ beinen an, diese durch glänzende Mittel wenig hervorstechen­ de, durch angestammte Tüchtigkeit und Genügsamkeit aus­ gezeichnete Landschaft nur als einen wesentlichen Bestandteil des deutschen Vaterlandes anzusehen, dessen Ruhm und Größe auch sie bestrahlen, und was sie ihm zum Opfer darbringen könnte, liebend empfangen müßte. Meine Gedanken, sobald ich sie sammeln, meine Arbeiten, solange ich sie richten konnte, kehrten sich auf die Erforschung unscheinbarer, ja verschmäh­ ter Zustände und Eigentümlichkeiten Deutschlands, aus wel­ chen ich Haltpunkte zu gewinnen trachtete, stärkere, als uns oft die Beschäftigung mit dem Fremden zuwege bringt. Schon der Beginn dieser Studien war hart, aber trostreich. Mit herb­ stem Schmerz sah ich Deutschland in unwürdige Fesseln ge­ schlagen, mein Geburtsland bis zur Vernichtung seines Namens aufgelöst. Da schienen mir beinahe alle Hoffnungen gewichen und alle Sterne untergegangen; nur erst mühevoll und langsam geriet es mir, die Fäden des angelegten Werkes wieder zu knüp­ fen und dann wehmütig festzuhalten. Es war nicht umsonst, ich hatte mich heimlich emporgerichtet und meine Arbeiten gewannen Fortgang. NadoDeutschlands Befreiung undHessens Wiederherstellung sollten sie mir den großen Lohn tragen, daß für den Gegenstand ihrer Forschungen die ihnen vorher ab­ gewandte öffentliche Meinung empfänglich und günstig wur­ de. Jahrelang konnten wir, mein Bruder und ich, von jeher in entschiedener, unzertrennlicher und wechselseitig aushelfender Gemeinschaft der Studien und Schicksale mäßig und anspruchs­ los Zusammenarbeiten und Früchte gedeihen sehen, die auf

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den noch schmalen Beeten, aber unseres eigensten Bodens wuch­ sen. Als eine offenbare Ungerechtigkeit unsem treuen Dienst und erworbenen Anspruch auf damals oder nie in der Heimat zu erwartende Besserung unserer Lage, ohne welche unabhän­ gig und sorgenfrei fortzubestehen schwierig schien, mit einem­ mal abschnitt, kostete es wegzuziehen immer noch heiße Über­ windung. Wir folgten einem Rufe nach Göttingen, keine der Anstrengungen scheuend, welche der Übergang aus zurück­ gezogener, aber innerlich freier Wirksamkeit in eine öffent­ liche und gemessenere mit sich führt. Man behauptet mit Grund, die Bestimmung zur akademischen Laufbahn müsse von früh entschieden und durch lange Gewohnheit unterstützt werden. Das Lehramt auf Universitäten ist ein eigenes Element, das seine Freiheit, aber auch seinen Zwang hat und dessen Wahl oft erst durch Nebenumstände, die außer allem Anschlag lie­ gen, für viele gerechtfertigt erscheint. Seinen Anforderungen zu genügen, haben wir acht Jahre hindurch gestrebt, wenn nicht ohne Sehnsucht nach dem vorausgegangenen Stilleben, auch nicht ohne das frohe Bewußtsein unvorhergesehener, in der en­ geren Gemeinschaft mit trefflichen Menschen beruhender Ge­ winne. Aus diesen neuen Gewohnheiten des Daseins und Wir­ kens, die vielleicht tiefere Wurzel in uns, als wir selbst wis­ sen, gefaßt haben, sollen wir wiederum weichen, nicht einem Anträge folgend, dessen Vorteile und Nachteile sorgfältig ab­ gewogen werden dürfen, sondern auf einmal verschlagen in unabsehbare Feme, gerissen mitten aus angelegten und be­ gonnenen Arbeiten, ja was am innigsten versehrt, augenblick­ lich sogar persönlich voneinander getrennt. Was ist es denn für ein Ereignis, das an die abgelegene Kammer meiner einförmigen und harmlosen Beschäftigungen schlägt, eindringt und mich herauswirft? Wer, vor einem Jahre noch, hätte mir die Möglichkeit eingeredet, daß eine zurückgezogene, unbeleidigende Existenz beeinträchtigt, beleidigt und verletzt werden könnte? Der Grund ist, weil ich eine vom Land, in das ich aufgenommen worden war, ohne all mein Zutun, mir auf8

erlegte Pflicht nicht brechen wollte, und als die drohende An­ forderung an mich trat, das zu tun, was ich ohne Meineid nicht tun konnte, nicht zauderte, der Stimme meines Gewissens zu folgen. Mich hat das, was weder mein Herz noch die Gedan­ ken meinerSeele erfüllte, plötzlich mit unabwendbarerNotwendigkeit ergriffen und fortgezogen. Wie ein ruhig wandelnder Mann in ein Handgemenge gerät, aus dem ein Ruf erschallt, dem er auf der Stelle gehorchen muß, sehe ich mich in eine öffentliche Angelegenheit verflochten, der ich keinen Fußbreit ausweichen darf; nicht erst lange umblicken, was Hundert­ tausende tun oder nicht tun, die gleich mir zu ihrer Aufrecht­ haltung verbunden sind. Meine Vaterlandsliebe habe ich niemals hingeben mögen in die Bande, aus welchen sich zwei Parteien einander anfeinden. Ich habe gesehen, daß liebreiche Herzen in diesen Fesseln er­ starrten. Wer nicht eine von den paar Farben, welche die kurz­ sichtige Politik in Kurs bringt, aufsteckt, wer nicht die von Gott mit unergründlichen Gaben ausgestatteten Seelen der Menschen wie ein schwarz und weiß geteiltes Schachbrett an­ sieht, den haßt sie mehr als ihren Gegner, der nur ihre Livree anzuziehen braucht, um ihr zu gefallen. Hat nicht die Ge­ schichte unserer Zeit oft genug gezeigt, daß keine Regierung sich irgendeiner Partei hat lange ergeben können? Ich traue jedem dieser Gegensätze einen größeren oder kleineren Teil Wahrheit zu und halte für unmöglich, daß sie in voller Eini­ gung aufgehen. Wer fühlte nicht in gewissen Punkten zusam­ men mit dem Liberalen, mit dem Servilen, mit dem Konsti­ tutionellen und dem Legitimisten, Radikalen und Absoluten, sobald sie nur nicht unredlich oder Heuchler sind? Unsere Sprache besitzt zum Glück noch keine Ausdrücke, die das Ultrierte in allen diesen Begriffen wiedergäben; viel naturge­ mäßer scheint in einigen Ländern eine historische Bezeichnung der beiden Teile, wie durch Whigs und Torys, welche Namen dämm keinem jener abstrakten genau entsprechen und doch ihr geistiges Element in sich fassen. In dem Grunde solcher 9

Entgegensetzungen sehe ich oft wilde Pflanzen treiben, üppig in Stengel und Laub, ohne nährende Frucht. Unter den vielen wechselnden Verfassungen waren die glücklichsten die, wel­ chen es gelang, das allgemeine Los irdischer Tugenden und Unvollkommenheiten dergestalt zu beherrschen, daß sie, was Zeiten und Völker am eigensten hob, sich gewähren ließen und schirmten. In seiner noch größeren Einfachheit und Abschlie­ ßung hat das Altertum vollendetere Einrichtungen aufzuwei­ sen, deren Erfolge in der Geschichte verzeichnet stehen, dem menschlichen Geschlecht zu unverrinnender Erquickung, nicht zu imbesonnener Nachahmung, die blindlings das Sichere der eigenen Gegenwart fahren läßt und nach einem verschwun­ denen Zustande ringt. Noch jetzt aber, bei vielen Völkern, haf­ ten Grundpfeiler von Treue und Anhänglichkeit an herge­ brachte und angestammte Ordnung, unter deren Sonne und Schatten sie großgezogen worden sind. Auf ihr zu beharren, ohne sich der Macht des Neuen zu entschlagen, die Verfallenes und Verwittertes nach eigenen Mitteln herzustellen hat, das scheint die Aufgabe, bleibe nun der alte Stil vorherrschend oder werde er überstiegen von dem Neubau. Den heilsamsten Anlaß zu solcher, wie soll man sagen, Fortentwicklung oder Verjüngung? führt die Mitte herbei, nicht das Ende, aber jene Mitte des Lebens, des Herzens, nicht die künstlich gemachte, die Lüge mit Lüge abwägt. Die innere Mitte ist warm, die Extreme sind erkältet, um sie webt schnell die luftigste Theo­ rie, während jener Schoße die goldene Praxis entsteigt. Ich ha­ be, auch ganz zujüngst, Liberale augenblicklich, wo es daran lag, servil handeln, Servile, wo ihr Vorteil oder Schaden ins Spiel trat, ohne weiteres die liberalste Schonungslosigkeit in ihr Verfahren legen sehen. Ein paar Gleichnisse sollen ver­ suchen, den Eindruck darzustellen, den jene Gegensätze wohl bei mir hinterlassen. An Konstitutionellen mißbehagt mir ihr pedantisches Streben nach Ausgleichung und Gleichförmigkeit, Berggipfel möchten sie ebnen, stolze Wälder ausrotten, ihren Pflug in blumenreiche Wiesengründe die Furche des Ackers io

reißen lassen. Sie mühen sich, das Obere hinab-, das Niedere hinaufzurücken, ihr eigentliches Gefallen ist das Gewöhnliche, Nützliche. Wenn von ihnen alles mit Hast getrieben wird, ge­ hen die Absolutisten aus auf eine unnatürliche Stetigkeit aller Dinge; sie scheuen und suchen jede Erhebung des Geringen zu hintertreiben, ihre Mittel sind langsamer und geschmeidi­ ger. Sie unternehmen es wohl, wenn ihrer Ansicht der Vor­ dergrund unserer Zeit zu eintönig und abgeblichen erscheint, ihn mit grellen Farben aufzumalen und vor unseren Augen Fratzen hinzustellen, welche die Zukunft hohnlachend nieder­ reißen wird. Alle Gegenwart in der Zeit hat mit der Nähe im Raum gemein, daß sie den Zuständen und Gebräuchen sanftes und verschmelzendes Kolorit verleiht. Es gibt noch ein Kennzeichen für beide Parteien. Die Libera­ len verachten das Mittelalter und schreien wider Barbarei und Feudalismus; die Servilen tragen eine gewisse Sehnsucht da­ nach zur Schau. Ich darf hier ein Wort mitsprechen, der ich gerade mein Leben an die Untersuchung unseres Mittelalters setzte. Ich habe mit innerer Freude getrunken an seinen stil­ len Brunnen, die mir kein Sumpf schienen; in die rauhen Wäl­ der unserer Vorfahren suchte ich einzudringen, ihrer edlen Sprache und reinen Sage lauschend. Weder die alte Freiheit des Volkes blieb mir verborgen, noch daß es schon, bevor des Chri­ stentums Segen ihm nahte, sinnigen, herzlichen Glauben hegte. Ihr habt oft wenig gewußt von diesen Dingen, ihr konntet Waffen holen aus meinen Büchern, wenn ihr, nach euerm Zweck, die Gegenwart durch die Vergangenheit herabwürdi­ gen oder bestätigen, wenn ihr dem König, dem Volk, der Kir­ che bald geben, bald nehmen wolltet. Schriftsteller, die sich einem verlassenen Felde widmen, pflegen ihm Vorliebe zuzu­ wenden; ich hoffe, wer meine Arbeiten näher kennt, daß er mir keine Art Geringhaltung des großen Rechts, welches der waltenden Gegenwart über unsere Sprache, Poesie, Rechte und Einrichtungen gebührt, nachweisen könne. Denn selbst wo wir sonst besser waren, müssen wir heute so sein, wie wir sind.

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Ich fühle mich eingenommen für alles Bestehende, für Fürsten und Verfassungen. Wie gerne hätte ich in stiller Abgeschieden­ heit, zufrieden mit der Ehre, die mir die Wissenschaft gibt, mein Leben in dem Dienste eines von der Liebe und Ehrfurcht seines Volkes umgebenen Herrn zugebracht. Die Person des Fürsten bleibt uns geheiligt, während wir seine Maßregeln und Handlungen nach menschlicher Weise betrachten. Die Könige des Mittelalters zeigten sich dem Volke noch in ihrer Würde Zeichen, die Krone auf dem Haupt unter wallenden Locken, den Mantel um die Schultern; wenn die heutigen Könige dieses Glanzes sich entäußernd gleich Untertanen ein­ hergehen, wenn sie bei vielen Anlässen die Bequemlichkeit des Privatlebens der Bürde ihrer öffentlichen Stellung vorziehen, schwebt ihnen dann nicht das allgemeine Ziel aller mensch­ lichen Hinfälligkeit1 lebendiger vor Augen? Fühlen sie dann nicht, daß ihre Zeit auch Privattugenden von ihnen heischt? Der Majestät Strahl umgibt sie immer noch, je mehr sie im Licht der Gerechtigkeit wandeln, die ihre erste Eigenschaft ist. Hier kann ich zu den Hergängen übergehen, durch welche die bestandene Ruhe nicht allein des Königreichs Hannover, son­ dern des ganzen deutschen Vaterlandes auf das empfindlichste und zum Leidwesen der Redlichen, man darf hinzufügen von allen Parteien, unterbrochen worden ist. Es ist nicht vonnöten, den Inhalt beider Patente auszuheben, welche König Ernst August nach seiner Thronbesteigung er­ ließ; es wäre anzuführen überflüssig, wie durch diese Akte un­ milder Gewalt die Freude gedämpft wurde, daß ein wichtiger Landstrich aus der zwar ehrenvollen, oft ersprießlichen, aber das Nationalgefühl herabdrückenden Verbindung mit einem mächtigen fremden Reiche in das reine Verhältnis der anderen deutschen Bundesstaaten übergegangen war. Dumpfe Bestür­ zung verbreitete das erste Patent, heftigere und unverhaltbare das andere. i. wer kan den hdrren von dem knehte scheiden, swa er ir gebeine blözez fände ? Walther von der Vogelweide 22,12; vgl. Neocorus 1,489.

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Der Herzog von Cumberland, in dem freiesten, glücklichsten und blühendsten Reiche der Welt geboren, hatte von Kindheit auf die Luft britischer Verfassung eingesogen und mußte alle die Eindrücke wahrgenommen haben, welche aus einer lange bewährten großartigen Ordnung der englischen Macht auf je­ den Unbefangenen, wieviel mehr auf alle Landesgenossen hervorgehen. Dort wird nichts so lebhaft gefühlt, so augenblick­ lich vereitelt und gerächt als jeder Eingriff in die festgegrün­ deten Rechte beneidenswerter Institutionen. Unter Privatleuten gilt als edle Sitte, daß der Bruder, wenn er des Bruders Habe erbt, des Hingeschiedenen Ruhe nicht störe und alle Anstalten desselben aufrechterhalte. Während Wilhelm IV., als eines milden, gerechten Königs Andenken zahllose Untertanen segneten, als die Leichenfeier noch nicht verhallt ist, beginnt der Nachfolger seine Regierung damit an­ zutreten, daß er des königlichen Bruders und Vorfahren Werk, als sei es ein nichtiges und untaugliches, umstürzt. Dies Werk war das im Jahr r5jj,nach langer, von allen Teilen wohlgemeinter Beratung zwischen König Wilhelm und den Ständen auferrichtete Grundgesetz, welchem von da an bis auf jenen Machtschritt Regent, Land und Leute mit Treu und Glau­ ben angehangen hatten, gegen dessen völligen, unkränkbaren Rechtsbestand in dem Volke selbst nicht der leiseste Zweifel obwaltete. Jetzt plötzlich soll dieses Gesetz nicht mehr gelten. Also ein König, dessen angeborenes Wohlwollen aus allen sei­ nen Äußerungen hervorleuchtete, Minister, deren redliche Ab­ sicht zu bezweifeln keine Ursache war, haben dem Lande eine Verfassung gegeben, deren Nichtigkeit sie vor allen einsehen mußten? Sie haben einen Eid darauf abgelegt, von dem sie wußten, daß er auf Täuschung beruhe, und vier Jahre danach regiert? Kann der einfache gesunde Sinn das glauben? Der König findet seine agnatischen Rechte ungewahrt. Wer kann ihn tadeln, wenn er darauf hält? Das durfte ihn zu deren neuer Erörterung führen, nicht zu einseitiger Auflösung eines ihm als Regierungsnachfolger überlieferten Staatsgrundgeset­ 15

zes. Als Nachfolger tritt er aus der Reihe der Agnaten und ihnen gegenüber, er nimmt seines Vorgängers Gesichtspunkt an. Könnte jeder Nachfolger den Vertrag lösen, der mit dem Lande eingegangen war, so würde niemals Sicherheit, auch nicht während langer Regierungen entspringen, weil hinter jedem Thronerben ein Umwurf drohen würde. Nicht daß Ver­ fassungen ewige Dauer gebührt: sie sollen gleich allem Irdi­ schen vergänglich und zerbrechlich sein, nicht aber aus Will­ kür, sondern von beiden Teilen, zwischen welchen sie zustande gekommen waren, abgeändert oder zerbrochen werden. Es fällt mir weder ein, noch ist es meine Sache, eine ungewöhn­ liche Trefflichkeit des hannoverschen Gesetzes von 18}} zu be­ haupten; es wird dem einen demokratischen Stoffes zuviel, dem andern zuwenig enthalten und genug Mängel an sich tragen; aber es hat bisher bestanden und gegolten. Allen stän­ dischen Verfassungen in Deutschland kann der negative Nut­ zen schwerlich abgesprochen werden, den sie seit ihrer Dauer stifteten. Sie fördern nicht so offenbar, als sie wohltätig Miß­ bräuche hemmen; sie sind ein Damm, der eine Gegend noch nicht fruchtbar macht, aber den einbrechenden und versan­ denden Wellen wehrt. Der eigentliche Segen geht allerdings erst von der reinen Liebe des Fürsten zu seinem Lande aus. Rei Bekanntwerdung des ersten Patents fanden sich die Land­ stände gerade noch in Hannover versammelt, und ihr Präsi­ dent scheint schwere Verantwortung auf sich geladen zu haben dadurch, daß er ihren rechtmäßigen Einspruch, als es die höch­ ste Zeit war, ihn geltend zu machen, vereitelte. Alle späteren Schwierigkeiten hängen von diesem unberechenbaren Fehl­ griff ab, das Land ist der notwendigsten Form beraubt worden, an welche es seinen Widerstand binden durfte. Das einfachste Mittel war entrissen; aller Augen richteten sich auf die Minister hin, denen nun zunächst die Pflicht des Han­ delns oblag. In konstitutionellen Ländern sind sie ein Baro­ meter, sie dürfen über eine bestimmte Linie weder hinauf­ steigen noch herabsinken, ohne einen gefährlichen, ja uner­

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träglichen Stand der Dinge anzuzeigen. Ein begründeter Ruf der Rechtlichkeit und Unbescholtenheit umgab diese Männer, ihre Namen wären mit unvergänglicher Ehre in den Annalen des Landes eingeschrieben, wenn sie Mut und Takt gehabt hätten, jede falsche Stellung von sich abzulehnen. Eine solche war ganz deutlich die, welche sie nach dem ersten königlichen Erlaß noch einnahmen. Wer aber drückt das allgemeine Staunen aus, als sie sogar nach dem zweiten Patent in einem Amte zu verharren wagten, das für sie selbst persönlich um eine Stufe erniedrigt wurde? Aus treuen Freunden der Verfassung, deren oberste Hüter und Wächter sie gewesen waren, wandelten sie sich in erklärte Feinde derselben, die fortan notgedrungen waren, jeden Angriff auf sie zu erleichtern und zu beschönigen. Fühlten, auf so schlüpfrigem Boden, sie wenigstens nicht ein­ mal die Gefahr des gegebenen Beispiels? Der belastet sich zwiefach, der auch noch andere in den Fall mit sich fortreißt. Und sie hatten zuoberst den Eid auf die Verfassung geleistet, der so heilig ist als jeder andere Eid, der von allen Staatsdienem als wesentliche Ergänzung des Huldigungseides im Jahr 183} geschworen worden war und seitdem von jedem neu in den Staatsdienst Eintretenden geleistet werden mußte. Was nun den Eindruck des zweiten Patents mehr als alles steigerte, war eben die darin unumwunden ausgesprochene Loszählung aller Staatsdiener von dem auf die Konstitution geleisteten Schwur. Dem Gewissen, das keine irdische Macht, kein König entbinden kann, wird hier eine Erledigung angeboten, die zu immerwährender Belastung führt. Den Eid auf die Ver­ fassung konnte niemand lösen als entweder der König gemein­ schaftlich mit den nach dem Gesetz von 1833 berufenen Land­ ständen oder ein rechtlicher Ausspruch des Bundestages; einen dritten Weg gab es nicht. Beiden Entscheidungen würden wir uns in ehrerbietigem Gehorsam gefügt haben, aber ohne volle Überzeugung war keine Entlastung möglich, jeder Zweifel hätte einen unerträglichen Zustand der Seele mit sich geführt. Ich sehe das kalte Lächeln derer, die sich die Klugen nennen

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und hier bloß eine nicht ernsthaft gemeinte Ausflucht erblikken; habe ich doch selbst sagen hören, ein Eid in politischen Angelegenheiten bedeute nicht viel, oder auch, der aufgelegte Eid binde eben nicht, man erfülle ihn, soweit man Lust habe. Gut, denkt der eine, daß sich Veranlassung findet, eine liberale Verfassung umzuwerfen; wenn es gelingt, so heiligt der Zweck die Mittel; wir haben ein höheres Recht, das die Rechte des Machwerks nicht zu achten braucht. Was kümmert mich die Politik, meint der andere, wenn sie mich in meiner Behaglich­ keit oder in meinen gelehrten Arbeiten stört. Aber so sehr ist die Religiosität nicht verschwunden, daß nicht viele, die etwas Höheres als weltliche Klugheit kennen, die volle Schwere des Grundes mit mir in tiefstem Herzen empfinden. Es gibt noch Männer, die auch der Gewalt gegenüber ein Gewissen haben. — Späterhin wurde eine weitere Deutung aufgesucht: der Kö­ nig sei alleiniger Dienstherr, ihm allein, keinem anderen, sei der Eid geschworen, in seiner Macht stehe es, den Diener von dem Eide zu entbinden. Gewiß, der König ist der einzige Herr, gewiß, der Eid ist in die Hand seines Bevollmächtigten abge­ legt, dennoch steht es nicht in der Macht des Königs, den ein­ mal vor Gott ausgesprochenen zu lösen. Er ist auf die Aufrecht­ erhaltung des Grundgesetzes geleistet, und solange dies nicht rechtsgültig aufgehoben ist, muß er unverbrüchlich sein. Ich habe keine staatsrechtliche Theorie gemacht und keine zu ver­ fechten, ich muß mich an das halten, was mir von oben gege­ ben ist, aber nach der Basis, auf welcher das Grundgesetz ruht, kann man mit vollem Recht sagen, der Eid ist auch dem Lande geleistet. Und braucht man nach analogen Verhältnis­ sen weit zu suchen? Hat ein Oberappellationsgericht einen andern Herrn als den König? Und steht es in seiner Macht, die Mitglieder desselben von dem Eide, den sie auf die Ge­ richtsordnung geleistet haben, zu entbinden? — Würde sich vor einem Jahre jemand mit einer solchen Deutung vorgewagt haben? Und glaubt man, daß sophistische Wendungen dieser Art in ein ehrliches, einfach denkendes Gemüt eindringen?

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Indem ich mich nunmehr anschicke, von den Gesinnungen und Handlungen zu reden, welche sich in Göttingen seit den bei­ den Patenten kundgaben, gedenke ich zuvor noch des tra­ gischen Verhängnisses, das diese Unterbrechung der öffent­ lichen Ruhe unmittelbar in den Zeitpunkt fallen ließ, wo die Universität die größte Feier zu begehen hatte, die ihr seit ihrer Stiftung zuteil werden konnte. Alle Gemüter waren innig er­ regt und die Blicke von ganz Deutschland auf Göttingen ge­ richtet; das Schicksal hatte dem höchsten Glanz der Akademie schon eine Zutat von unruhigem Schmerz gegeben, der an den feierlichen Tagen sich noch in den Hintergrund ziehen durfte, weil damals die auf das erste Patent gefolgte zweifelnde, noch nicht verzweifelnde Beklemmung herrschte. Der noch reine Festhimmel war nur am Rande mit bedenklichen Wolken ge­ säumt. Die von den Scharen fremder Gäste und Zuschauer, wie nie vorher, belebten Straßen der Stadt waren wieder öde geworden und ein kurzer Feriengenuß eingetreten, als unmit­ telbar mit dem Beginn des neuen Semesters die gefürchtete Katastrophe eintrat und alle gehegten Besorgnisse auf einen Schlag weit überbot. Die unerwartete, bald aber bestätigte Botschaft von der Nachgiebigkeit der alten Minister vollendete die allgemeine Bestürzung. Kein anderer Bestandteil des ganzen Königreichs konnte von dieser Begebenheit lebhafter und tiefer ergriffen werden als die Universität. Die deutschen hohen Schulen, solange ihre be­ währte und treffliche Einrichtung stehenbleiben wird, sind nicht bloß der zu- und abströmenden Menge der Jünglinge, sondern auch der genau darauf berechneten Eigenheiten der Lehrer wegen, höchst reizbar und empfindlich für alles, was im Lan­ de Gutes oder Böses geschieht. Wäre dem anders, sie würden aufhören, ihren Zweck, so wie bisher, zu erfüllen. Der offene, unverdorbene Sinn der Jugend fordert, daß auch die Lehren­ den, bei aller Gelegenheit, jede Frage über wichtige Lebens­ und Staatsverhältnisse auf ihren reinsten und sittlichsten Ge­ halt zurückführen und mit redlicher Wahrheit beantworten. 17

Da gilt kein Heucheln, und so stark ist die Gewalt des Rechts und der Tugend auf das noch uneingenommene Gemüt der Zuhörer, daß sie sich ihm von selbst zuwenden und über jede Entstellung Widerwillen empfinden. Da kann auch nicht hinterm Berge gehalten werden mit freier, nur durch die innere Überzeugung gefesselter Lehre über das Wesen, die Bedin­ gungen und die Folgen einer beglückenden Regierung. Leh­ rer des öffentlichen Rechts und der Politik sind, kraft ihres Amtes, angewiesen, die Grundsätze des öffentlichen Lebens aus dem lautersten Quell ihrer Einsichten und Forschungen zu schöpfen; Lehrer der Geschichte können keinen Augenblick verschweigen, welchen Einfluß Verfassung und Regierung auf das Wohl oder Wehe der Völker übten; Lehrer der Philologie stoßen allerwärts auf ergreifende Stellen der Klassiker über die Regierungen des Altertums, oder sie haben den lebendigen Einfluß freier oder gestörter Volksentwicklung auf den Gang der Poesie und sogar den innersten Haushalt der Sprachen unmittelbar darzulegen. Alle diese Ergebnisse rühren anein­ ander und tragen sich wechselseitig. Es bedarf kaum gesagt zu werden, daß auch das ganze Gebiet der Theologie und selbst der Medizin, indem sie die Geheimnisse der Religion und Na­ tur zu enthüllen streben, dazu beitragen müssen, den Sinn und das Bedürfnis der Jugend für das Heilige, Einfache und Wahre zu stimmen und zu stärken. Wie allseitig muß also die Universität von der Kunde ergriffen werden, daß die Verfas­ sung des Landes dem Umsturz ausgesetzt sei. Eine Menge junger Leute nehmen Anteil an der veränderten Lage ihrer Eltern, Brüder, Freunde und Lehrer, an der Verrückung ihrer eigenen Stellung; alle bewegt ein allgemeines Gefühl der schwe­ benden Gewalttätigkeit, und es braucht nicht erst gesagt zu werden, auf welcher Seite sie stehen. Unter den Professoren taten sich bald verschiedenartige Grup­ pen hervor, die Charaktere, wie mein Bruder treffend bemerkte, fingen an, sich zu entblättern gleich den Bäumen des Herbstes bei einem Nachtfrost; da sah man viele in nackten Reisern, des 18

Laubes beraubt, womit sie sich in dem Umgang des gewöhn­ lichen Lebens verhüllten. Zwar, das muß zugegeben werden, daß alle und jede von dem Entschluß des Königs unangenehm berührt wurden und ihn lieber ungeschehen gewußt hätten. Die vom Alter Abgestumpften scheuten die Mühe und den Lärm der Neuerung, aus der für ihre letzten Bequemlichkei­ ten sich Störungen ergeben könnten; sie überlegten nicht, daß auch dem ablaufenden Leben Festigkeit zieme, sogar gefahr­ losere bereitet sei, daß noch die scheidende Sonne ein zu Ende neigendes ehrenvolles Wirken überglänzen könne. Ein anderer Teil, an sich gegen jede Verfassungsform völlig gleichgültig und nur eigene Vorteile ins Auge fassend, mochte dem Grund­ gesetz von 18} ] abgeneigt sein, weil es einzelne frühere Rechte undPrivilegienderUniversitätaufgehobenhatte. Dahin gehörte zumal die Vernichtung der dem Professorenstande so nötigen Einquartierungsfreiheit, worüber ärgerliche Reibungen und Verhandlungen mit den Bürgern entsprungen waren, die sich hier einmal als tüchtige Staatsbürger fühlten und begierig an dem Prinzip der gleichen Beitragspflichtigkeit zu allen Staats­ lasten festhingen, in Zeiten wahrer Not aber wenig Beruf in sich spüren, ihrer Staatsbürgerverpflichtung nachzukommen. Ich will dem Aufheben solcher Privilegien nicht das Wort reden, es wird an der allgemeinen Nivellierung aller Verhältnisse ein weniges dadurch gewonnen, aber der Verband der Korporation gelockert, an welchem viel mehr gelegen war. Solange nicht die Ausgleichung den Gipfel erlangt hat, daß sie den Bürger befähigt, abwechselnd mit dem akademischen Lehrer das Ka­ theder zu besteigen, diesen nötigt, abwechselnd mit dem Bürger zu backen und zu schlachten, brauchen noch keine Soldaten in die Auditorien eingelegt zu werden. Doch war hier weniger die Richtung der Konstitution von i8j) anzuklagen als der schon lange wirkende Zeitgeist, dem sie huldigte. Ältere Göt­ tinger Professoren erinnern sich auch einer sonst bestandenen Akzisefreiheit, deren Wohltaten schon geraume Zeit vorher, ehe jemand an ein Grundgesetz dachte, aufgehört hatten. 19

Man muß Verbesserungen im großen hinnehmen mitVerschlim­ merungen im kleinen, nicht umgekehrt ein ganzes Verderbnis entschuldigen aus einzelnen Vorteilen, die es bringen könnte. Es mag indessen nur sehr wenige Professoren geben, die sich von solchen Gründen hätten bewegen lassen, dem königlichen Patent ihren Beifall zu zollen, aus dessen Sinn durchaus nicht entnommen werden darf, daß mit der Vertilgung der Verfas­ sung jene Bevorrechtungen einzelner Stände wieder erwachen werden. Jede Regierungsart ist so klug, daß sie sich auch einige Folgerungen aus der ihr ganz entgegengesetzten gefallen läßt. Der größten Zahl der Professoren mußte einleuchten, daß das königliche Machtgebot die wichtigste Angelegenheit des Lan­ des betreffe und daß es nun auch der Universität gelte, sich ihm entweder mutlos zu ergeben oder ein gegründetes Recht des Widerspruchs auszuüben. Wiederum aber zerfielen die, welche es für ratsam hielten, unterwürfig zu schweigen, in zwei sehr verschiedene Parteien. Zur einen gehörten die Männer, welche, sonst vorlaut und stolz genug, vor aller Gewalt ver­ stummen und jede Ungnade in den Augen des Herrschers als das unerträglichste Unglück betrachten; sie waren, auf Kosten ihrer selbsteigenen Denkungsart, zur Nachgiebigkeit bereit und schnell erfinderisch, Scheingründe für ihre Abtrünnigkeit nicht bloß hervorzusuchen, sondern sie auch Andersgesinnten auf alle Weise anzuempfehlen. Andere, allerdings achtungs­ werter, bedauerten zwar den Untergang der beschworenen Ver­ fassung, hingen aber über alles an der Aufrechterhaltung der Universität, deren Gefahr, wenn sie den Unwillen des Königs auf sich ziehen sollte, ihrem Herzen weit näherlag als das Heil des ganzen Reichs, welcher daher die angelobte Pflicht unbe­ denklich aufgeopfert werden müsse. Verkennend, daß auch die edelsten und berühmtesten Einrichtungen darunter am meisten leiden, wenn die Gerechtigkeit von ihren Verwaltern versäumt wird, sind sie Beamten ähnlich, die aus mißverstandener Liebe zu ihrem Amt dessen ganze Würde in die Schanze schlagen und das ihnen rein vertraute Gut fleckig werden lassen, um

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ihren Nachfolgern wegen der zu ziehenden Diäten nichts zu vergeben. Die Wissenschaft bewahrt die edelsten Erwerbungen des Menschen, die höchsten irdischen Güter, aber was ist sie gegen die Grundlage des Daseins wert, ich meine gegen die ungebeugte Ehrfurcht vor göttlichen Geboten? Sie wird, von dieser abgetrennt, wie jene italienischen von Marmor täuschend nachgeahmten Früchte ein eitles Schaugericht, das niemand sättigt und nährt. Auf diesem Wege verstehe ich es nicht, den Glanz der Georgia Augusta zu erhalten, für den ich freudig und mit treuer Anhänglichkeit meine besten Kräfte hingege­ ben, keine Störung der liebsten Arbeiten gescheut habe. Hier mögen meine Kollegen, selbst die anders gehandelt haben, hier mag das Kuratorium Zeugnis ablegen. Mit Freuden bekenne ich, daß, diese die höhere Pflicht und jene alles Selbstgefühl Aufgebenden abgerechnet, unter der bedeutenderen Masse aller übrigen, in den ersten Wochen, die Meinung der vor Zorn und Scham Glühenden das Übergewicht hatte, welche ihren Eid zu wahren, nicht zu brechen gedach­ ten. Hätte man damals die Stimmen gesammelt, sie wären fast alle zugunsten der Wahrheit und des Rechts abgegeben worden, und selbst die Schwächeren fühlten sich durch die Rein­ heit des ersten Eindrucks, wie er sich bei solchen Gelegenheiten überall geltend macht, emporgehalten. An den Mitteln aber, welche man beratschlagte, taten sich bald Trennungen hervor, und den Nachgiebigeren oder Zagenden war es innerlich will­ kommen, ohne der anfangs geäußerten Gesinnung zu entsa­ gen, vorerst die Ablehnung festerer Maßregeln durch aufhal­ tende Bedingungen oder die Halbheit dazwischengeworfener vielfacher Vorschläge zu erreichen. Während den Gewissen, mit jener Anmutung sich des Eides zu entschlagen, eine sofor­ tige und laute Gegenerklärung geboten war, faßte bei vielen die leidige Ansicht Wurzel, der rechte Zeitpunkt, sich zu erklä­ ren, trete für die Universität erst dann ein, wenn sie die bevor­ stehende Aufforderung zur Wahl eines Deputierten in die vom König unberechtigt einberufene Ständeversammlung nach den 21

Grundsätzen von 1819 entschlossen beiseite zu weisen habe. War denn nicht der Eid auf die Konstitution von 18} 3 faktisch zu Boden getreten, und gab es Gründe, sein Sträuben dawider warten zu lassen? Bedurfte es erst noch eines anderen Fak­ tums, gegen welches Widerstand zu leisten sei? War nicht Ge­ fahr, daß durch die lange Erwartung dieses Faktums Erschlaf­ fung der Handelnden herbeigeführt werden würde? Der Er­ folg hat diese Besorgnisse vollkommen gerechtfertigt. Unter dem Vorwand, bei Einberufung der Wählenden einen allge­ meinen Protest der gesamten Universität zustande zu bringen (woran gleich damals billig zu zweifeln war), gab man die starke Eintracht der besseren Mehrheit auf und stellte die Ent­ schlossenen größerer Gefahr preis. Es hat sich gezeigt, daß die Stunde jener Wahl nicht vierzehn Tage (wie man vorschützte), sondern über acht volle Wochen nach dem Patent eintreten soll­ te, nachdem sich durch eine Reihe anderer Vorgänge undEinwirkungen die Gemüter hinlänglich abgelenkt1 haben können. Was auch nunmehr bei diesem Wahlakt vorgehen möge, es wird von wenigem Gewicht auf das Ganze sein. Die Regierung weiß nun­ mehr viel besser als damals, wie sie selbst eine völlige Verwerfung ihres Wahlvorschlags aufzunehmen und zu behandeln habe. In so peinlicher, vielberatener und hingehaltener Lage entschied sich endlich eine geringe Zahl Beherztgebliebener, das Eis des Schweigens zu brechen, dessen Rinde hart und schmählich das ganze Land überzogen hatte*. Unsere Erklärung an das Kura­ torium war den 17. November abends entworfen worden, noch wußten wir nicht, ob sie am folgenden Tage von fünf oder von l.Sed sit aliquis itabene moratus, utde eo divinum judicium pari ter humanumque consentiat; sed est animi viribus infirmus: cui si quid eveniat adversi, desinet colere forsitan innocentiam, per quam non potuit retiñere fortunam. Boethius de consol. 2. Wie bitter ist der Tadel darüber, den ein etwas höher gestellter Beamter in Hannover aussprach, ohne es in seiner Unschuld zu merken: Wir haben es nicht gewagt, dem Könige zu widersprechen, und sieben Professoren nehmen es sich heraus. 22

sieben oder von dreizehn unterschrieben abgehen sollte. Sieben Namen standen am Schluß der am 18. November entsandten Ausfertigung. Jeder war auf seinem Wegemit völligerUnabhängigkeit des Geistes zu der Überzeugung gelangt, welche die Pro­ testation aussprach. Es war also wenigstens eineBesiebnung, der das altdeutsche Recht entschiedene Kraft beimißt, vollführt. In diesem erlassenen Widerspruch gegen das Patent herrscht die einfache, aber starke Sprache unverstellter, unverschleier­ ter Wahrheit. Die der Würde des Königs gebührende Ehrfurcht wird nirgends verletzt; was zu sagen war, konnte nicht ver­ halten bleiben. Das Schreiben wurde an die Behörde einge­ reicht, welche der Universität zunächst vorgesetzt war und in deren Verpflichtung es lag, der Regierung ungesäumte Kunde dieses Hergangs zu hinterbringen. Er konnte und sollte nicht geheim gehalten werden. Nicht allein war die vorausgegangene Beratung und ihr Ziel unter der Mehrzahl der Professoren bekannt, sondern auch Entwurf und Reinschrift der Erklärung mehreren Kollegen, die nicht mit unterzeichneten, vorgelegt worden. Und wie hätte eine Vor­ stellung gegen das, was der König öffentlich an das ganze Land erlassen hatte, sich in die Schranken einer bloß an das Ministerium gerichteten, vielleicht ohne weitere Folge zu den Akten genommenen Antwort zwängen mögen? Diese Antwort bedurfte ebensosehr an das Licht der Welt zu treten als ihr Anlaß. Richtet der König sein Wort an seine Untertanen, so steht auch ihnen, offen zu antworten und sich zu verteidigen, frei. Was für ein Verbrechen wäre das Recht dieser Verteidi­ gung, die nichts verrät, nichts verdeckt, keinen Gehorsam auf­ kündigt, sondern nur gegen eine Gewaltmaßregel der Regie­ rung Einsprache tut? Ihr einziges Ziel, die Beruhigung der Gewissen, war der Anerkennung würdig. Wer verabscheut mehr als ich alles, was man politisches Treiben nennt? Es hat mich nie nur aus der Feme berührt. Steht es so mit uns, daß die Lehre des Christentums, den Strauchelnden durch Beispiel zu warnen, zu einem politischen Vergehen darf gestempelt

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werden? Ich halte jeden, der nicht mit voller unerkünstelter Überzeugung den Gründen des Patents vom 1. November nachgeben kann, auch den, der seine Gedanken aus Klugheit davon abwendend die Frage sich nicht beantworten will, noch heute für einen Eidbrüchigen. Die Geschichte zeigt uns edle und freie Männer, welche es wag­ ten, vor dem Angesicht der Könige die volle Wahrheit zu sagen; das Befugtsein gehört denen, die den Mut dazu haben. Oft hat ihr Bekenntnis gefruchtet, zuweilen hat es sie verderbt, nicht ihren Namen. Auch die Poesie, der Geschichte Widerschein, unterläßt es nicht, Handlungen der Fürsten nach der Gerech­ tigkeit zu wägen. Solche Beispiele lösen dem Untertanen seine Zunge da, wo die Not drängt, und trösten über j eden Ausgang. Niemand in Göttingen oder anderen Orten hat übersehen kön­ nen, wie verschieden die Entschlossenheit der einzelnen Fakul­ täten ausgefallen ist, das Recht der Universität auf Erhaltung des Grundgesetzes zu verteidigen. Als Korporation befugt und verpflichtet, ihren Deputierten den Ständen beizuordnen, ge­ kränkt durch die ausgesprochene Aufhebung der Verfassung, war sie einzuschreiten ermächtigt und aufgefordert. Einer aus gelehrten, kundigen, feiner fühlenden Männern zusammen­ gesetzten Gemeinheit gebührte dieser Beruf vor den übrigen im Lande: was als Laienwahrheit allen Herzen einleuchtete, sollte sie von der gelehrten Bank herab, nach göttlichen und menschlichen Satzungen, bestätigen und bestärken. Ein voll­ stimmiger Beschluß von Seiten der ganzen Universität hätte die bedeutendste Wirkung haben müssen; bald aber zeigte sich nicht nur die Unausführbarkeit einer solchen Vereinigung, sondern auch wie sehr die Kräfte der Mutigeren durch geson­ dertes, ungleichzeitig und in abweichenden Formen sich ent­ faltendes Auftreten zersplittern würden. Keiner der endlich ein­ geschlagenen Schritte vermochte die Mitglieder der theolo­ gischen noch der medizinischen Fakultät für sich zu bestim­ men. Die philosophische und juristische waren es, von welchen aller Entschluß und alle Anregung ausgingen, und das bleibt

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eine fast psychologische Merkwürdigkeit. Wenn man auch an­ schlagen muß, daß der Zahl nach die philosophische Fakultät auf allen Universitäten immer die bei weitem stärkste, die theo­ logische die schwächste ist, so wird doch die medizinische in dieser Beziehung der juristischen wenig weichen. Macht die alltägliche Gewohnheit vor Sterbebetten zu stehen und mit dem Messer in Leichen zu schneiden, Ärzte härter und unemp­ findlicher gegen die Not des Vaterlandes? Wird ihnen durch ihr Geschäft mehr Gleichgültigkeit für die Bedrängnisse des menschlichen Lebens, dem sie nur von der leiblichen Seite her zu Hilfe kommen, eingeflößt? Es gibt gleichwohl die edelsten Beispiele hebender Aufopferung für das Gemeinwesen auch unter Ärzten, und ihre regere Berührung mit allen Ständen pflegt ihnen sonst die Kunde der öffentlichen Dinge zu erleich­ tern, nicht zu verleiden. Von den Theologen hingegen, den Be­ wahrern des Glaubens und der Gewissen, wäre am allerersten zu erwarten gewesen, daß sie, eingedenk lutherischer Freimü­ tigkeit und Standhaftigkeit, ihre Zomschalen kräftig ausge­ schüttet und alle Blödigkeit des Zweifels dahingeworfen hät­ ten. Es fehlte nicht an Beistimmung, aber an der Entschlossen­ heit, sie öffentlich zu bekennen. Theologischer und juristischer Gelehrsamkeit stand hier allerdings die eigentliche Begrün­ dung der obschwebenden Fragen zu; wenn es die Unterzeich­ ner der Protestation schmerzlich empfanden, von ihren theolo­ gischen Kollegen verlassen zu sein, so durfte freilich die Teil­ nahmslosigkeit der medizinischen Fakultät minder schwer auffallen, doch die Einstimmung streng juristischer Ansichten mit denen, die aus der freieren philosophischen Klasse hervorgin­ gen, vollkommen beruhigen. Es ist außerdem, selbst öffentlich von der Regierung, hervor­ gehoben worden, daß an dem Widerstand, welchen sie zu er­ fahren hatte, hauptsächlich sogenannte Ausländer, d. h. keine geborenen Hannoveraner beteiligt seien. Ein tief kränkender, undankbarer Vorwurf, der, wenn er gelten könnte, überhaupt nur den Sinn haben würde, daß unter deutschen Gelehrten, “5

zwischen welchen von jeher Freizügigkeit und Gefühl deutscher Nationaleinheit waltete, die Abgrenzung einzelner Bundes­ gebiete Spaltungen erzeugen sollte. Oder hören die, welch fünf, zehn, zwanzig Jahre im hannoverschen Lande gelebt und gewirkt haben, noch nicht Auswärtige zu heißen auf? Will der König seine hohe Schule mit lauter eingebürtigen Professoren besetzen, nur für eingeborene Studenten öffnen? Man schlage Göttingens Jahrbücher auf und zähle nach, wie­ viel Gelehrte ihm die engere Heimat, wieviel das übrigeDeutsc/iland zugeführt hat; von welchen unter diesen der größte Glanz über es gekommen, die festeste Treue ihm bewiesen worden ist. Nach dem damaligen Bestände des Personals der Univer­ sitätbilden die eigentlichen Hannoveraner nicht einmal dessen vierten Teil, und so schwerlich die Würde der ganzen Anstalt mit bloßen Hannoveranern aufrechterhalten werden könnte, ebensowenig Lust bezeigen möchten die auf anderen deutschen Universitäten zerstreuten, nirgends als Ausländer betrachte­ ten hannoverschen Gelehrten jetzt nach Göttingen abzugehen. Haben die außerhalb geborenen Unterzeichner der Protesta­ tion (welchen sich, wie jedermann weiß, auch ein geborener Göttinger rühmlich zugesellte) keine Liebe zu dem Lande verraten, dessen Grundverfassung sie auf Gefahr ihrer Stel­ lung hin zu hegen unternehmen? Liegt der hier berührten Erscheinung etwas Wahres zugrunde, so dreht sie sich um in den wirklichen Vorwurf, daß die eingeborenen Landeskinder, denen keine geringere, sondern eine noch mächtigere Verpflich­ tung zu der Konstitution oblag, saumselig und furchtsam ihr nicht nachgekommen sind. Ihre Lässigkeit kann das gewissen­ hafte Betragen der übrigen nicht zum Laster stempeln. Man hat, im Gefühl, es gebreche sonst an Ursachen, uns zu verdammen, die schnelle Veröffentlichung jener Erklärung als etwas Strafbares aufzufassen gestrebt. Wissen doch Regierun­ gen selbst, wie schwer es heutzutage ist, sogar ihre verborgen­ sten Handlungen der Öffentlichkeit zu entziehen, die als wohl­ tätige zugleich und gefährliche, aber unausrottbar gewordene 26

Macht ihren Schritten zur Seite steht. Und wie verboteneFrüchte süßer scheinen, kehrt sich auch der Vorteil augenblicklicher Hemmung bald hernach wider die, welche sie verursachen, wenn sich die geschehenen Dinge mit desto stärkerem Schwung Luft machen und das Gerücht ihnen erhöhten Reiz leiht. Des Ver­ bots, der Zensur blödsichtiges Auge vermag doch bloß in un­ mittelbarer Nähe und Gegenwart zu sichern, die drohenderen Übel der Zukunft gewahrt es nicht. Hätten wir mit Angst und Sorge jede Mitteilung unserer Worte gemieden, sie wären, ein­ mal entsandt, doch auf mehr als einem Wege frei geworden. Wir wollten sie nicht zuerst verbreiten, erwarteten nie, daß sie geheim bleiben würden. Sind wir daran schuld, wenn ein uns völlig unbekannter Korrespondent einer englischen, oder fran­ zösischen Zeitung von unserer Absicht hörte und davon mel­ dete? Was konnten wir mit einer solchen kahlen Notiz bezwekken? Wir, die wir nichts verheimlichen wollten, die wir offen und mit allen Gründen uns zu erklären vorhatten. Endlich, was hätte selbst eine solche Nachricht Strafwürdiges in sich? Ich für mein Teil habe ohne Bedenken, was ich getan und niemand daß es geschehen würde vorher wußte, was ich noch jetzt für völlig schuldlos halte, ausgesagt, daß ich den vierten Tag nach der Entsendung, zu einer Zeit, wo bereits zahllose Abschriften umgingen und benachbarte öffentliche Blätter Aus­ züge lieferten, einem auswärtigen Freunde, gar nicht zur Be­ kanntmachung, bloß zur Kenntnisnahme, eine vollständige Kopie mitgeteilt habe1. Ähnliches, soviel ich weiß, dürfen mei-

1. Meine Aussage muß in dem akademischen Protokoll enthalten sein, und das nennt die Hannöverische Zeitung vom 17. Dezember unumwunden eingestehen, zur Verbreitung der Protestation beige­ tragen zu haben, was den Umständen nach völlig unerheblich ist, deshalb wird mir auferlegt, Haus und Hof zu räumen, die Meini­ gen und meine Habe im Stich zu lassen! Welche Barbarei will Mit­ teilungen anFreunde untersagen? Durch mich ist die Urkunde sicher in kein öffentliches Blatt gelangt und jedes konnte sie bereits an­ derswoher entlehnen. 27

ne Kollegen behaupten. Keiner hat den andern gefragt, was er tun wollte; vier haben gar keine Veranlassung zur Mittei­ lung gehabt. Und hätten wir wirklich zu gestehen gehabt, die alsbaldige Veröffentlichung sei unmittelbar von uns ausge­ gangen, stand darauf Landesverweisung, überhaupt nur auf der Mitteilung einer Erklärung an die Behörde irgendeine Strafe? War das Ausgesprochene in Recht und Wahrheit ge­ gründet, so durfte es vor die Welt hintreten wie vor den König selbst. Indem wir es weder an seine eigene Person richteten noch unmittelbar öffentlich machten, folgten wir der Scheu natürlicher Ehrerbietung. Ich habe nunmehr ein Ereignis zu berühren, das künftige Ge­ schichtsschreiber der Universität Göttingen aus ihren Jahrbü­ chern tilgen zu können wünschen werden, die berüchtigte Rothenkircher Deputation. Die innere Wahrheit unserer Protestation mußte in Hannover wider Willen gefühlt worden sein, denn man schwieg so lan­ ge, bis der Versuch gemacht wäre, die übrige Universität von aller zu besorgenden Nachfolge abzuschrecken. Einem Gerücht zufolge wollte der König selbst nach Göttingen kommen, um über die Protestanten das volle Maß seiner Ungnade auszu­ schütten; er begab sich in das etwa vier Meilen ferne Jagd­ schloß Rothenkirchen. Gegen Ende November ließ der Prorektor dem Senat eröffnen, daß der König zu Rothenkirchen eine Bekomplimentierung von Seiten der Universität erwarte. Diese Förmlichkeit schien über­ flüssig, da die Dankgefühle der Universität bereits zur Zeit des Jubiläums ihren reichlichen Erguß genommen hatten. Man wähnte indessen, dem Prorektor sei eine offizielle Einladung des Ministeriums oder Kuratoriums zugegangen, der sich nicht ausweichen lasse. Es hat später verlautet, daß dies nicht der Fall gewesen sei, vielmehr eine dritte Mittelsperson die Hand im Spiel gehabt habe. Gegen eine Bezeugung der Ehrfurcht war vom Senate, wie sich von selbst versteht, nichts einzuwen­ den. Neben dem Prorektor, der selbst zugleich Substitut des 28

Regienmgsbevollmächtigten und Dekan der Juristenfakultät war, wurden deren Exdekan und die Dekane der drei übrigen Fakultäten zur Reise bestimmt. Einige Senatsglieder mögen sogar gemeint haben, das aufsteigende Unwetter könne durch eine offene und freie Sprache der Abgeordneten beschworen werden. Man wird es seltsam, ja unbegreiflich finden, daß die­ sen keine bestimmte Instruktion entworfen wurde; sie hatten einen oder zwei Tage lang Zeit dazu, alle obwaltenden Verhält­ nisse zu überlegen, reisten aberunvorbereite tund in voller Selbst­ genügsamkeit am 30. November ab. Zu Rothenkirchen ange­ langt, wurde die Deputation alsbald befragt, ob sie eine Adresse der Universität bringe, auf verneinende Antwort aber bedeutet, daß sie ohne eine solche nicht vorgelassen werden könne. Hier war nun ein einfacher, durch die Umstände sogar gebotener Ausweg, eben dieses Mangels wegen umzukehren und heimzurcisen. Der Prorektor entschloß sich lieber, in dem Vorzim­ mer des Palastes eine solche Schrift abzufassen und sich so den Weg zur Audienz zu bahnen. Er soll anfänglich eine allge­ meine, d. h. nichtssagende aufgesetzt und übergeben haben. Diese wurde jedoch nicht angenommen, sondern mit dem Be­ deuten zurückgestellt, es müsse darin eine Mißbilligung der Protestation ausgedrückt sein. Die Deputierten sahen sich nun in dem schwierigen und peinlichen Fall, etwas aussprechen zu müssen, was sie selbst in Wahrheit nicht fühlten und wozu sie wenigstens durchaus nicht von der sie absendenden Senats­ behörde bevollmächtigt waren. Rechtlichen Männern, hier ge­ drungen, über einen Schritt ihrer Kollegen abzuurteilen, blieb das einleuchtende Mittel, eben diesen Abgang an aller Voll­ macht geltend zu machen. Die Deputation dachte aber auf Umwegen durchzuschlüpfen, und eine neue Adresse ward aus­ geklügelt, deren gewundene Phrasen wahrscheinlich einen viel­ leicht beschönigenden Tadel, nicht der Sache und Meinung selbst, sondern der schnellen Verbreitung der Protestation aus­ zudrücken suchten. Diese Adresse, deren wörtlicher geschweige buchstäblicher Inhalt bisher noch auf keine Weise hat bekannt­ 29

werden wollen, genügte und wurde von dem König, nach be­ willigtem Gehör, dergestalt beantwortet, daß nun seine Un­ gnade allein auf die Unterzeichner der Erklärung fallen, die übrige Universität aber ihrer bewiesenen loyalen Gesinnung halber gerühmt werden konnte. Der Prorektor wurde außer­ dem zu einer besonderen und geheimen Audienz gelassen, in welcher es ihm freistand, von seiner Privatansicht so viel als er mit sich selbst zu verantworten glaubte, zu äußern. Klar aber ist, daß weder er noch die Dekane, als Abgeordnete ihrer Kollegen, im Namen der Universität, der Fakultäten und des Senats nicht das gelindeste von dem auszusprechen befugt waren, was sie zu Rothenkirchen von sich gegeben haben sol­ len. Was sie aber auch dort verhandelt und ausgerichtet haben moch­ ten, ihre unerläßliche Pflicht war, ungesäumt nach der Heim­ kehr dem kommittierenden Senate nicht allein, sondern in ei­ ner so wichtigen Angelegenheit auch dem gesammelten Cor­ pus der Professoren Rechenschaft abzustatten. Sollte man es glauben, daß vom 1. bis zum 14. Dezember, an welchem Tage mein bisheriges Verhältnis zur Akademie gelöst wurde, mithin in zwei vollen Wochen, keine Silbe über diese Hergänge vonsei­ ten des Prorektors an mich gelangt ist? Was sich im Senat zu­ getragen hat, mögen andere genau berichten; man weiß, daß auch da der Prorektor nur allgemeine, ganz unverfängliche Dinge gesagt zu haben bekannte, jeder genaueren Erklärung und schlichter Erzählung ausweichend. Nicht weniger als ihrem Oberhaupt lag aber auch den übrigen Abgeordneten, seit sie übelverrichteter Dinge zurückgekehrt waren, die stärkste recht­ liche und sittliche Pflicht ob, auf die Erstattung dieser Rechen­ schaft zu dringen. In Privatäußerungen schienen einige von ihnen freimütiger, ohne jedoch irgend etwas einzuräumen, was den noch wurzelnden Glauben beeinträchtigen konnte, sie hätten bei dieser Veranlassung, wie es sonst immer üblich ist, ihren Genossen die Farbe gehalten. Daß sie nicht recht klaren Wein einschenkten, fühlte man wohl, war aber weit entfernt, 30

eine solche Verleugnung ihnen aufzubürden, als sie deren einige Tage später öffentlich geziehen werden sollten. Hegten die Mitglieder der Deputation insgeheim den Wunsch, daß die königliche Ungnade sich entladen würde, ohne sie in die Entwicklung einzumischen, so sind sie mit allem Recht ge­ täuscht worden. Ihre unmannhafte Haltung, die sittliche Matt­ herzigkeit ihrer zu Rothenkirchen geführten Sprache ist es offenbar, was unser Verderben, wenn auch nicht bereitet, doch vollendet hat. Das muß frei und laut gesagt werden. Ihnen lag die moralische Pflicht ob, der Anklage ihrer Kollegen gegen­ über, auf die Sache selbst einzugehen und bescheiden und ehr­ erbietig, aber furchtlos ihre Überzeugung auszusprechen. Das wird niemand, wo sie selbst es nicht etwa tun, leugnen. Aus ihren Träumen oder Hoffnungen sahen sie sich plötzlich ge­ weckt durch einen offiziellen Artikel der Hannöverischen Zei­ tung vom [6.] Dezember, dem es nicht genügt, jener mißbilli­ genden Adresse Meldung zu tun, der vielmehr wörtlich und ausführlich die ganze Rede mitteilt, welche, in Gegenwart der Dekane, der Vorstand der Deputation gesprochen haben soll und worin sich die Universität überhaupt, in deren Namen unbefugterweise aufgetreten wird, nicht bloß von aller Ge­ meinschaft mit den sieben Protestierenden lossagt, sondern ihre Gesinnung öffentlich schmäht. Lange noch wird der Verfasser dieses Artikels, wer er auch sei, mit heimlicher Schamröte über­ gossen werden müssen, wenn ihm der gehässige Eindruck vor­ schweben kann, den dieses Machwerk bis in die weiteste Feme hervorgerufen hat. »Das sind Fabeln«, sagte mir einer der De­ putierten ins Gesicht, auf die gedruckten Worte weisend; es war ein übertreibendes Zerrbild ihrer ganzen Handlung. Man soll glimpflich urteilen von Kollegen, die unbedachterweise in eine gelegte Falle geraten waren. Mir schien es jederzeit, daß die Ehre ihnen das unabweisliche Gebot stellte, von nun an, und sei es auf Kosten ihres Amtes, sich alles Lugs und Trugs zu überheben. Nichts in der Welt durfte ihnen das Recht ab­ schneiden, das, was zu Rothenkirchen aus ihrer Feder oder aus 3i

ihrem Munde gegangen war, wörtlich bekanntzumachen und jeder Fälschung frei, ich meine mit der Unterschrift ihres Na­ mens, zu widersprechen. Sie zauderten und zauderten, noch bis heute ist ihr Schweigen nicht gebrochen. Welcher diplomati­ sche Kodex wird es zuerst wagen, die echte Urkunde herzu­ stellen? Während durch die Rothenkircher Vorgänge die Teilung der Gemüter zunahm und die Spannung unter den Professoren eine vorher unglaubliche Höhe in wenigen Tagen erreichte, während bei einigen unserer Gesinnung nahestehenden edlen Freunden der Entschluß zur Nachfolge um so schneller reifte, als die Gefahr wuchs, nahte die Entscheidung nunmehr in raschen Zügen und doch überraschend. Der Regierung stand es zu, Lehrer, deren offen dargelegte Grundsätze ihr nicht ge­ fielen, vom Amte zu suspendieren: darauf gefaßt sein mußte man. Es gab jedoch eine doppelte Art und Weise, die Suspen­ sion bis zu dem Augenblick, wo die Ungewißheit über die Ver­ fassung durch den Zusammentritt einer Ständeversammlung nach dem Gesetz von 1819 entschieden sein würde, aufzuschie­ ben oder alsogleich zu verhängen. Selbst der zweite, härtere Weg schien noch allzu gelind. Der König verfügte, nachdem ein kurzes inquisitorisches Verfahren über die Verbreitung (wo­ bei ich das erstemal in meinem Lebenvor irgendeinem Gericht erschien) vorausgegangen war, unterm 11. Dezember nicht Suspension, sondern förmliche Entlassung der sieben Profes­ soren aus seinem Dienst. Dreien darunter, welche Exemplare des Protestes anderwärts mitgeteilt hatten, wurde binnen drei Tagen Frist das Land zu räumen auferlegt, widrigenfalls sie gefänglich eingezogen werden sollten1. Wer möchte aber schuld­ los im Kerker schmachten! 1. Es wird ihnen geboten, das Land in drei Tagen zu verlassen, und wenn sie sich dem nicht freiwillig fügen sollten, wird die Unter­ suchung gegen sie mit aller Strenge fortgesetzt werden und sie zu dem Ende an einen andern Ort im Königreich gebracht werden. 52

Mahnte den Prorektor nicht sein Gewissen, als er dies ohne Zuziehung einer Behörde gefällte, nur von dem Kabinetts­ minister kontrasignierte Urteil Männern publizierte, denen er im Herzen selbst nichts vorzuwerfen hatte? Zeigte ihm die Ehre nicht den Weg, den er gehen mußte? Durch diesen ohne Urteil und Recht, selbst mit Verletzung der in des Königs eigenen Patenten vorgeschriebenen Formen aus­ gesprochenen Entsetzungsakt erachte ich mich meines wohl­ erworbenen Rechtes auf mein Amt und das damit verbundene Gehalt noch nicht beraubt und gedenke alle mir dagegen zu Gebote stehenden Mittel gerichtlich zu verfolgen. Der Gewalt zu weichen war ich gezwungen. Die unmittelbarste Behörde der Universität, ihr eigenes Kura­ torium, wurde bei einem für das Wohl und Wehe der Anstalt folgenreichen Gewaltschritt so wenig von dem alles lenkenden Kabinettsminister gefragt oder gehört, daß es erst von Göttin­ gen aus am 17. oder 18. Dezember durch die kriegerisch voll­ zogene Maßregel Kunde des Geschehenen empfing. Die Regierung erhielt mit der Nachricht von der Ausführung ihrer Befehle gegen die sieben Professoren zugleich die Bot­ schaft, daß sechs andere nicht ihr selbst, sondern alsogleich in öffentlichen Blättern erklärt hätten, keineswegs die Rothenkircher Schmach teilen zu wollen. Diese zweite Protestation zugunsten der bedrohten Konstitution vonrSjj, ihrer Fassung nach schwächer als die erste, stärker hingegen, weil sie nach der schon ausgesprochenen Ungnade des Königs jener sich anzuschließen wagt, ist unsere schönste Ehrenrettung und ein herrliches Zeugnis für den Geist der Universität. War unsere Verurteilung unverdient und schonungslos, so gedachten sicher die nachprotestierenden Männer keine durch die Finger blikkende Schonung sich abzuverdienen. Aber die Regierung, die Konsequenz ihrer Gerechtigkeit aufgebend, schien selbst über den Riß zu stutzen, den ihr Verfahren in dem edelsten Gebäu­ de des Landes hervorbrachte. Ein ausgestoßener Stein zieht dann den andern nach sich und ganze Wände lockern sich zum 35

Sturz. Wo dieses einhalten werde, läßt sich nicht einmal be­ rechnen. Es war vorauszusehen und ist allgemein bekannt, welche be­ wegten und schmerzhaften Eindrücke unsere Entsetzung im Lande, unter allen Mitgliedern der Universität, die ein Gefühl von Recht hatten, vorzüglich aber unter der studierenden Ju­ gend erzeugen mußte. Ich verzichte hier darauf, sie zu be­ schreiben: sie bleiben in meine Brust gegraben. Schwerer fällt es, die weit in ganz Deutschland gefühlte und noch lange nachhaltendeWirkung des Ereignisses aufzufassen. Aber ich, der ich bloß von dem, was mich persönlich berührt, reden wollte, enthalte mich des Versuchs und überlasse diePflicht, dies zu erwägen, denen, welchen sie von ihrer Stellung unabweislich auferlegt wird. Nun liegen meine Gedanken, Entschlüsse, Handlungen offen und ohne Rückhalt vor der Welt. Obes mir fruchte oder schade, daß ich sie anfgedeckt habe, herechne ich nicht; gelangen diese Blätter auf ein kommendes Geschlecht, so lese es in meinem längst schon stillgestandenen Herzen. Solange ich aber den Atem ziehe, will ich froh sein, getan zu haben, was ich tat, und das fühle ich getrost, was von meinen Arbeiten mich selbst überdauern kann, daß es dadurch nicht verlieren, sondern ge­ winnen werde.

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ANHANG

WILHELM GRIMM AN JACOB GRIMM. 22. 2. 1838

Lieber Jacob, der Gesichtspunkt, den Du bei Deiner Schrift genom­ men, ist ganz der, welchen ich gewünscht habe, und Du hast nicht weniges schön und ergreifend ausgedrückt. Ich finde es natürlich, daß Du als der Verbannte allein redest; ich habe nur ein paar Worte zugefügt, damit auch ich öffentlich an der Gesinnung teilnehme. Mit meinen Zusätzen glaube ich den Eindruck verstärkt zu haben, wenn mir einiges als Milderung erscheint, so geht das aus der Überzeu­ gung hervor, daß wo der Gedanke scharf und treffend ist, der Aus­ druck nicht bis auf die letzte Linie vorrücken, sondern es dem über­ lassen bleiben muß, noch etwas mit der Phantasie auszufüllen, die Angst vor Überarbeitung mischt sich sonst bei ihm ein, und auch die Rede muß einen gewissen Hintergrund haben, wo sich die Far­ ben verschmelzen. Einigemal habe ich durch einen Zusatz eine mög­ liche Mißdeutung abwenden wollen, ein andermal ein paar Worte geändert, die mehr in den Konversationsstil als zu der würdigen zuversichtlichen Haltung passen, oder die, an sich untadelhaft, so oft in unserer Zeit gebraucht worden sind, daß sie erst einige Zeit ruhen müssen. Wo ich auf die Gesinnung der Menschen hindeute, bezieht es sich auf wirkliche Äußerungen, die ich vernommen habe... Ein paar Stellen waren nicht klar genug, ich habe eine andere Fas­ sung versucht, gleich der Eingang schien mir nicht ganz glatt. Ur­ teile selbst, ich habe alles mit Bleistift beigeschrieben und es läßt sich leicht auslöschen, oder überlaß Dahlmann die Entscheidung. Inständig bitte ich Dich aber, was ich... durchgestrichen habe, ganz auszulassen. Du gehst da von dem Einen Gegenstand, der das Inter­ esse immer festhält und an sich ergreifend genug ist, zu allgemeinen Betrachtungen über, die den Eindruck des Besonderen und Eigen­ tümlichen nach meinem Gefühle schwächen. Was Du sagst ist von allen wohlmeinenden Menschen längst gefühlt und auch schon ge­ sagt, und muß nach ein paar Jahren praktisch schon wieder anders

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gestellt werden. Deine Schrift ist ein historisches Dokument für alle Zeiten von gleicher Wahrheit. Diese immer nur allgemeine Berüh­ rung aller häckeligen Fragen ist Mißdeutungen aller Art ausgesetzt. Übelwollende können ohne Mühe etwas herausfinden und zu unse­ rem Nachteile daran drehen, und es sind endlose Erörterungen nötig. Mag auch hier Dahlmann seine Meinung abgeben. Die Schrift, zu­ mal in dieser eindringlichen Weise abgefaßt, wird großes Aufsehen machen, mehr als Du vielleicht denkst... [Grimm-Nachlaß. (Preuß. Staatsbibi. Berlin.) Von W. Schoof in Zs. Hessenland 1938 abgedruckt.]

JACOB ANTWORTETE AM 28. FEBRUAR

Lieber Wilhelm, ich danke Dir für Deinen letzten Brief, und für die Zusätze und Berichtigungen meines Aufsatzes, mit denen ich voll­ kommen einverstanden bin. Dir steht oft ein milderer und ruhiger Ausdruck zu Gebot. Ich habe nun alles gleich nach Leipzig gehen lassen, und wir wollen das Weitere abwarten. Du hast auch darin recht, daß die politischen Betrachtungen lieber wegbleiben. Ein paar Dinge hätte ich noch geändert und zugefügt, wäre ich nicht durch Ranke’s Anwesenheit gehindert worden, denn ich wollte und durfte nicht länger damit zaudern.

KÖNIGLICHES PATENT VOM 1. NOVEMBER 1837

Emst August, von Gottes Gnaden, König von Hannover u. s. w.

Wir haben durch Unser Regierungs-Antritts-Patent vom 5. Julius d. J. Unsem getreuen Untertanen Unsem Königlichen Willen dahin zu erkennen gegeben, daß Wir der Frage: ob und in wie fern Abände­ rungen des Staatsgrundgesetzes vom 26 September 1833 würden eintreten müssen, oder ob die Verfassung auf die vor dem gedachten Jahre bestandene zurückzuführen sei? die sorgfältigste Untersu­ chung und Prüfung würden widmen lassen. Unsere getreuen Untertanen können sich davon überzeugt halten, daß Wir die Erfüllung einer heiligen, Unserm landesväterlichen Herzen teuem, Pflicht darin gesucht haben, bei dieser Prüfung alle in Betracht zu ziehenden Verhältnisse auf das sorgfältigste zu be38

rücksichtigen, und daß Unsere Wünsche dahei stets auf das Glück und die Zufriedenheit Unsere treuen Volkes gerichtet gewesen sind. Nach Vollendung jener Prüfung beeilen Wir uns, Unsem getreuen Untertanen Unsere Entschließungen zu eröffnen. Das Staatsgrundgesetz vom 26 September 1833 können Wir als ein Uns verbindendes Gesetz nicht betrachten, da es auf eine völlig un­ gültige Weise errichtet worden ist. Die allgemeine, durch das Patent vom 7 Dezember 1819 entstan­ dene, Ständeversammlung sprach, wie sie in ihrem Schreiben vom 30 April 1831 an das Kabinettsministerium die Errichtung eines Staatsgrundgesetzes beantragte, den Grundsatz aus: daß ein solches hochwichtiges Werk nur durch einhelliges Zusammenwirken des Königs und der Stände zu Stande gebracht werden könne. Die Regierung nahm diesen Grundsatz an, und mithin war nicht von einer, dem Lande vom Könige zu gebenden, sondern von einer, vertragsmäßig zwischen dem Regenten und seinen Ständen zu er­ richtenden, Verfassung die Rede. Allein, der Grundsatz der vertragsmäßigen Errichtung ist auf mehr­ fache Weise verletzt worden. Denn, mehrere der von der allgemei­ nen Ständeversammlung in Beziehung auf das neue Staatsgrund­ gesetz gemachten Anträge erhielten nicht die Genehmigung der Königlichen Regierung, sondern es wurde dasselbe mit den, von dieser für notwendig oder nützlich gehaltenen Abänderungen am 26 September 1833 vom Könige verkündigt, ohne daß diese zuvor den allgemeinen Ständen mitgeteilt und von ihnen wären geneh­ migt worden. Offenbar fehlt es also an dem einhelligen Zusammenwirken des Regenten und seiner Stände, in Hinsicht der, in dem Staatsgrund­ gesetze enthaltenen, Bestimmungen, wodurch die, bis dahin in an­ erkannter Wirksamkeit gestandene Verfassung vom Jahre 1819, aufgehoben werden sollte. Offenbar enthält diese Errichtungsart des Staatsgrundgesetzes eine wirkliche Verletzung der bestimmten Vorschrift des Artikels 56 der Wiener Schluß-Akte vom Jahre 1820. Allein, nicht nur ungültig und folglich für Uns unverbindlich ist überhaupt das Staatsgrundgesetz, wenn man dessen Entstehung be­ trachtet, sondern es enthält dasselbe auch mehrere Vorschriften und Bestimmungen, welche sich als vollkommen ungültig und für Uns unverbindlich aus dem Grunde daretellen, weil sie Unsere agna39

tischen Rechte tief kränken und selbst Unsere Regierungs-Rechte wesentlich verletzen. Der dem Staatsgrundgesetze anklebende Fehler der Ungültigkeit ist aber auch durch eine, von Unserer Seite erfolgte, Anerkennung nicht gehoben worden. Denn, Wir haben offen Unsem Widerspruch wider das Staatsgrund­ gesetz zu erkennen gegeben und Unsere Unterschrift zu wieder­ holten Malen verweigert. Da Wir nun das Staatsgrundgesetz als gültig und für Uns verbind­ lich nicht betrachten, so können Wir auch mit den, durch dieses Ge­ setz hervorgerufenen, Ständen über eine, von Neuem zu errichtende Verfassungs-Urkunde auf keine Weise unterhandeln. Unter diesen Umständen haben Wir Uns am 30 Oktober d. J. ver­ pflichtet gehalten: die von Uns unterm 29 Junius d. J. vertagte allgemeine Ständeversammlung aufzulösen und erklären nunmehr hiermit: daß die verbindliche Kraft des Staatsgrundgesetzes vom 26 September 1833 von jetzt an erloschen sei. Von dem Aufhören des gedachten Staatsgrundgesetzes ist eine na­ türliche Folge, daß die, bis zu dessen Verkündigung gegoltene, Landes- und landständische Verfassung wieder in Wirksamkeit trete. Um indessen allen, daraus auf irgend eine Weise entstehenden nach­ teiligen Folgen vorzubeugen, finden Wir Uns, aus Liebe zu Unsern getreuen Untertanen bewogen, hiermit zu erklären: Daß die Aufhebung des Staatsgrundgesetzes ohne allen Einfluß auf die Rechtsbeständigkeit der, seit dessen Publikation verkündigten, Gesetze und erlassenen Verordnungen sein soll, daß vielmehr diese Gesetze und Verordnungen bis dahin, daß deren Aufhebung auf gesetzlichem Wege erfolgen möchte, in voller Kraft und Gültigkeit verbleiben. Nicht weniger soll der bisherige Gang der Landesverwaltung bis dahin völlig unverändert bleiben, daß Wir darin Abänderungen für notwendig oder zweckmäßig erachten werden. Ist nun das bisherige Staatsgrundgesetz von Uns für aufgehoben erklärt, so ergibt sich daraus von selbst, daß die sämtlichen König­ lichen Diener, von welchen Wir übrigens die pünktlichste Befol­ gung Unserer Befehle mit völliger Zuversicht erwarten, ihrer auf 40

das Staatsgrundgesetz ausgedehnten, eidlichen Verpflichtung voll­ kommen enthoben sind. Gleichwohl erklären Wir noch ausdrücklich, daß Wir dieselben von diesemTeileihresgeleistetenDiensteideshiermitentbundenhabenwollen. Wenn nun gleich Wir das Staatsgrundgesetz vom Jahre 1835 nicht anerkennen können, so sind Wir doch gern geneigt, durch neue Be­ stimmungen die, bis zum Jahre 1833 bestandene, Verfassung in verschiedenen Punkten zu ergänzen und genauer festzustellen. Um aber diesen wichtigen, Unserm Herzen so teuem, Zweck auf gültige Weise zu erreichen, haben Wir beschlossen: die in dem Königlichen Patente vom 7 Dezember 1819 angeordneten, allgemeinen Stände, welche bis zur Entstehung des, von Uns jetzt aufgehobenen Staatsgrundgesetzes in voller Wirksamkeit waren, unverzüglich zusammen zu berufen und ihnen Unsere Anträge mit­ teilen zu lassen. Von dem lebhaftesten Wunsche beseelt, so viel als möglich alle Zweifel schon gegenwärtig zu beseitigen, welche desfalls entstehen könnten, wollen Wir Unsem getreuen Untertanen nur einige Züge aus diesen, den allgemeinen Ständen von 1819 unmittelbar nach ihrer Zusammenberufung zur Beratung und Annahme vorzulegen­ den, Anträgen mitteilen: 1) Aus den Einkünften Unserer Domänen, deren rechtliches Verhält­ nis durch Hausgesetze und Herkommen fest begründet ist, wollen Wir nach den demnächst zu treffenden Anordnungen solche Zu­ schüsse zu den Staatsbedürfnissen leisten, welche Unserm getreuen Volke die Überzeugung gewähren sollen, daß Wir, wie dieses ohne­ hin der von Uns beabsichtigte Steuererlaß auf die unzweideutigste Weise bekundet, nicht gemeint sind, die Lasten Unserer geliebten Untertanen zu vermehren. Wir werden Unsere weitem desfallsigen Entschließungen Unsern zu berufenden getreuen Ständen eröffnen. 2) Um die jährlichen, durch die Länge ihrer Dauer die Regierung in der Tat lähmenden Versammlungen der allgemeinen Stände zu vermeiden, werden Wir darauf antragen, daß sie nur alle drei Jahre zusammen berufen werden, und daß alsdann deren Sitzungen, der Regel nach, nicht über drei Monate dauern. Indes hängt es von Unserm Ermessen ab, auch während des dreij ährigen Zeitraumes eine außerordentliche Zusammenberufung der allgemeinen Stände anzuordnen.

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3) Den Provinzial-Ständen sollen, nach Unserer jedesmaligen Be­ stimmung, die geeigneten Gegenstände in größerer Masse, als dieses bisher der Fall war, vorgelegt werden. Indes gehören Gesetze, welche Steuern und Abgaben des König­ reiches, oder solche Gegenstände betreffen, die, in Gemäßheit Un­ serer Entscheidung, allgemeiner gesetzlicher Bestimmungen bedür­ fen, und der provinziellen Gesetzgebung nicht überlassen werden können, zum Wirkungskreise der allgemeinen Ständeversammlung. Dieses wird zur Abkürzung der Sitzungen der allgemeinen Stände gleichfalls wesentlich beitragen, und dadurch das wahre Wohl Un­ serer getreuen Untertanen befördert werden. Wir überlassen Uns der Hoffnung, daß Unsere getreuen Untertanen schon in diesen wenigen ausgehobenen Grundzügen der künftigen Staatsverfassung Unser ernstliches Bestreben entdecken werden, alle Hemmungen möglichst zu entfernen, welche durch das Staatsgrund­ gesetz vom 26 September 1833 für die Regierung und Verwaltung entstanden sind und notwendig entstehen mußten. Werden in der neuen Verfassung die Rechte des Königs und der Stände auf eine angemessene Weise festgesetzt, und wird auf diese Art die Grundlage der echten deutschen monarchischen Verfassung befestigt, so muß dadurch die Wohlfahrt Unserer getreuen Unter­ tanen notwendig befördert werden. Da Unserm väterlichen Herzen nichts so wohl tut, als die Lasten Unserer geliebten Untertanen möglichst zu vermindern, so gewährt es Uns eine ganz besondere Freude, daß der Zustand der Finanzen des Königreichs es gestatten will, schon mit dem nächsten Jahre eine Verminderung der Steuerlast eintreten zu lassen. Wir eröffnen daher Unsem getreuen Untertanen, daß Wir beschlos­ sen haben: ihnen, vom 1 Julius 18j 8 an zu rechnen, jährlich die Summe von Hunderttausend Talern an der Personen- und Gewerbe­ steuer zu erlassen. Das Weitere werden Wir darüber unseren getreuen Ständen mit­ teilen. Da Wir auf die Liebe, das Vertrauen und die Ergebenheit Unserer geliebten Untertanen einen sehr hohen Wert legen, so haben die vielfachen Beweise, welche Wir davon seit Unserer Thronbesteigung erhielten, Uns mit lebhafter Freude erfüllt, und Wir bezeugen gern dafür Unserm treuen Volke Unsem vollen Dank. 42

In allen Teilen Unsers Königreichs, die Wir bisher zu berühren Ge­ legenheit hatten, erhielten Wir Beweise von Biedersinn und Zunei­ gung und fanden diejenige Untertanentreue, welche seit unvordenk­ licher Zeit die Hannoveraner ihren Regenten erhalten und die sie, während der französischen Okkupation, in so hohem Grade bewährt haben. Dieses hat auf Unser Gemüt einen tiefen Eindruck gemacht, der nie daraus verschwinden wird, und Unsere treuen Untertanen mögen dagegen versichert sein, daß Unsere Gefühle für sie die eines Vaters für seine Kinder sind, und daß Wir den unwandelbaren Entschluß gefaßt haben, Alles zu tun, was die Landesverfassung auf eine solche Art begründen kann, daß das ursprünglidie Zutrauen zwi­ schen dem Regenten und Seinem Volke bewahrt und immer mehr befestigt werde, welches Übelgesinnte in den letzten Jahren ver­ sucht haben, zu vernichten: aber Wir haben, Dank dem Allmächti­ gen, aus den Gesinnungen, die Uns seit Unserm Regierungs-An­ tritte dargelegt worden, die Überzeugung gewonnen, daß Wir das Zutrauen Unserer Untertanen besitzen, welche glücklich zu machen, Unser stets eifrigstes Bestreben sein wird. Hoffentlich werden Übelgesinnte, welche nur selbstsüchtige Zwecke verfolgen, ohne das wahre Beste des Volkes zu berücksichtigen, durch ihre Handlungen Uns nie in die traurige Notwendigkeit set­ zen, die ganze Strenge des Gesetzes wider sie zur Anwendung brin­ gen zu lassen. Gegeben in Unserer Residenzstadt Hannover, den Ersten November des Achtzehnhundert Sieben und Dreißigsten Jahres, Unseres Reiches im Ersten. ERNST AUGUST.

Gesehen: g. von schele. GALIGNIANl’S MESSENGER. AFTERNOON EDITION

SATURDAY, NOVEMBER 18, 1837

»Letters from Gottingen« says the Courier Français »state that seven professors in the university of that city refuse to take the oath of fidelity to the new King, and that should the university send a deputy to the States it will be merely to protest This courageous determination is likely to exercise considerable influence on the public feeling. The universities of Germany are not only institutions 43

for study, but are also political centres which give an impulse to the rest of the countiy. On the other side of the Rhine professors are regarded in some sort, as populär magistrates, commissioned to defend the rights of the people as well as the principles of reason.«

DIE PROTESTATION DER SIEBEN PROFESSOREN VOM 18. NOVEMBER 1837

[Abgedruckt nach dem in den Akten des Königlichen Kabinetts (Staatsarchiv zu Hannover) befindlichen Original.]

An Hohes Königliches Universitäts-Kuratorium. Göttingen, den 18. November 1857. Untertänigste Vorstellung einiger Mit­ glieder der Landes-Universität, das König­ liche Patent vom 1. Nov. d. J. betreffend. Die untertänigst Unterzeichneten fühlen sich in ihrem Gewissen gedrungen, über den Inhalt des Königl. Patents vom 1. d. M. ihre ehrerbietige Erklärung vor dem hohen Universitäts-Kuratorium niederzulegen. Die Unterzeichneten können sich bei aller schuldigen Ehrfurcht vor dem Königlichen Wort in ihrem Gewissen nicht davon überzeugen, daß das Staatsgrundgesetz um deshalb rechtswidrig errichtet, mit­ hin ungültig sei, weil der Höchstselige König nicht den ganzen In­ halt desselben auf Vertrag gegründet, sondern bei seiner Verkündi­ gung einige Anträge der allgemeinen Ständeversammlung unge­ nehmigt gelassen und einige Abänderungen hinzugefügt hat, ohne daß diese zuvor den allgemeinen Ständen mitgeteilt und von ihnen genehmigt wären. Denn dieser Vorwurf der Ungültigkeit würde nach der anerkannten Rechtsregel, daß das Gültige nicht durch das Un­ gültige vernichtet wird, denn doch immer nur diese einzelnen Punkte, die nach ihrem Inhalte durchaus nicht das Ganze bedingen, treffen, keineswegs das ganze Staatsgrundgesetz. Derselbe Fall aber würde eintreten, wenn im Staatsgrundgesetze Rechte der Agnaten verletzt wären; denn der Grundsatz, daß eine jede Veränderung in der Staatsverfassung der agnatischen Einwilligung unterworfen sei, wür­ de nicht ohne die größte Gefährdung der Königlichen Rechte auf­ gestellt werden können. Was endlich die dem Staatsgrundgesetze 44

zur Last gelegte Verletzung wesentlicher Rechte angeht, so bleibt den untertänigst Unterzeichneten in bezug auf diese schwerste, aber gänzlich unentwickelt gebliebene Anklage nichts anderes übrig, als daran zu erinnern, daß das Königliche Publikationspatent vom 26. September 1833 sich gerade die Sicherstellung der landesherrlichen Rechte ausdrücklich zum Ziele nimmt, daß die deutsche Bundes­ versammlung, welche gleichzeitig mit den ständischen Verhandlun­ gen über das Staatsgrundgesetz eine Kommission gerade zu dem­ selben Ziele aufstellte, keine Rüge derArtjemals ausgesprochen hat, daß vielmehr das Staatsgrundgesetz dieses Königreichs in ganz Deutschland das Lob weiser Mäßigung und Umsicht gefunden hat. Wenn daher die untertänigst Unterzeichneten sich nach ernster Er­ wägung der Wichtigkeit des Falles nicht anders überzeugen können, als daß das Staatsgrundgesetz seiner Errichtung und seinem Inhalte nach gültig sei, so können sie auch, ohne ihr Gewissen zu verletzen, es nicht stillschweigend geschehen lassen, daß dasselbe ohne weitere Untersuchung und Verteidigung von Seiten der Berechtigten, allein auf dem Wege der Macht zugrunde gehe. Ihre unabweisliche Pflicht vielmehr bleibt, wie sie hiermit tun, offen zu erklären, daß sie sich durch ihren auf das Staatsgrundgesetz geleisteten Eid fortwährend verpflichtet halten müssen und daher weder an der Wahl eines Depu­ tierten zu einer auf andern Grundlagen als denen des Staatsgrund­ gesetzes berufenen allgemeinen Ständeversammlung teilnehmen, noch dieWahl annehmen, noch endlich eine Ständeversammlung, die im Widerspruche mit den Bestimmungen des Staatsgrundgesetzes Zusammentritt, als rechtmäßig bestehend anerkennen dürfen. Wenn die ehrerbietigst unterzeichneten Mitglieder der Landesuni­ versität hier als Einzelne auftreten, so geschieht es nicht, weil sie an der Gleichmäßigkeit der Überzeugung ihrer Kollegen zweifeln, sondern weil sic so früh als möglich sich vor den Konflikten sicherzusteilen wünschen, welche jede nächste Stunde bringen kann. Sie sind sich bewußt, bei treuer Wahrung ihres amtlichen Berufs die studierende Jugend stets vor politischen Extremen gewarnt und, so viel an ihnen lag, in der Anhänglichkeit an ihre Landesregierung befestigt zu haben. Allein das ganze Gelingen ihrer Wirksamkeit beruht nicht sicherer auf dem wissenschaftlichen Werte ihrer Leh­ ren als auf ihrer persönlichen Unbescholtenheit. Sobald sie vor der studierenden Jugend als Männer erscheinen, die mit ihren Eiden ein leichtfertiges Spiel treiben, cbensobald ist der Segen ihrer Wirk­ 45

samkeit dahin. Und was würde Sr. Majestät dem Könige der Eid unse­ rer Treue und Huldigung bedeuten, wenn er von solchen ausginge, F. C. DAHLMANN.

E. ALBRECHT.

G. GERVINUS.

JACOB GRIMM.

H. EWALD.

WILHELM GRIMM.

WILHELM WEBER.

4. PROTOKOLL DER VERNEHMUNG DER SIEBEN PROFESSOREN VOR DEM UNIVERSITÄTSGERICHT, 4. DEZEMBER 1857.

[Abgedruckt nach dem in den Akten des Königlichen Kabinetts (Staatsarchiv zu Hannover) befindlichen Original.]

Geschehen Göttingen, 4. Dez. 1857 Gegenwärtig d. H. Prorektor Hofrat Bergmann d. H. Universitätsrat Oesterley und ich der Universitätsrat Kreuzhage. In Gemäßheit des aus dem Kabinett Sr. Majestät des Königs erlas­ senen höchsten Reskripts vom 29 November waren die Professoren Dahlmann, Albrecht, Wilhelm und Jacob Grimm, Ewald, Gervinus und Weber zu ihrer Vernehmung auf heute vorgeladen, erschienen, und deponierten wie folgt: 1. Der Hofrat Dahlmann. Die Unterschrift seines Namens unter die betreffende Vorstellung an Königl. Kuratorium rühre von ihm her. Eine Veröffentlichung der Vorstellung vor deren Absendung an Kö­ nigl. Kuratorium habe seinerseits nicht stattgefunden, so wie ihm auch nicht bekannt sei, daß überhaupt eine solche Veröffentlichung vor Absendung der Vorstellung geschehen sei. Wenn er nun vernom­ men, daß in französischen und englischen Zeitungen bereits früher Nachrichten über diesen Schritt enthalten gewesen, so sei ihm dies durchaus unerklärlich, da jene Nachrichten von einer Zeit herrühren sollten, wo jene Vorstellung noch nicht einmal entworfen worden. Er bemerkte noch ausdrücklich, daß er niemals, weder mittelbar noch unmittelbar, an französischen und englischen Zeitungen als Mitarbeiter teilgenommen habe. Davon, daß die Vorstellung auch vor deren Einsendung schon in Osnabrück und Hannover bekannt­ gewesen wäre, wisse er nichts und habe, wenn solches stattgefunden, 46

was aber nicht möglich sein könne, nichts dazu beigetragen. Auch hier habe vor der Absendung niemand eine Abschrift der Vorstel­ lung erhalten, wie er denn mich nachher keinem eine solche Abschrift gegeben habe als einigen der T Interz.eiebner. Für diese habe er durch den Kopisten Sünne einige Abschriften nehmen lassen. Dieser Kopist habe ihm ausdrücklich versprochen, keinen Gebrauch davon zu ma­ chen. Erst später habe er seinem Schwager, dem Justizrat Hegewisch zu Kiel, eine Abschrift, aber bloß für diesen selbst mitgeteilt, ohne die geringste Aufforderung, davon Nachricht in den Zeitungen zu geben, wie er denn auch moralisch überzeugt sei, daß von ihm eine solche nicht herrühre. Solchen seiner Kollegen, welche gewünscht, den In­ halt der Vorstellung kennenzulemen, habe er deren Einsicht übrigens nicht verweigert. Schließlich bemerkte er noch, daß die Vorstellung nicht vor dem 17. November entworfen worden sei, und daß damals die Zahl derer, welche sie unterschreiben würden, noch nicht bestimmt gewesen sei, indem erst am folgenden Tage die siebenUnterzeichner sich zusammen gefunden hätten. Einem Auswärtigen habe er vorEinsendung derVorstellung überhaupt keine N achricht davon gegeben. Vorgelesen, genehmigt. 2. Hofrat Jacob Grimm. Derselbe erkannte seine Unterschrift unter die erwähnte Vorstel­ lung als von ihm herrührend an. Von einer Veröffentlichung der Vorstellung vor deren Einsendung sei ihm nichts bekannt. Er habe vorher keinem Auswärtigen davon Kenntnis gegeben und weder in Zeitungen noch in Osnabrück oder Hannover oder sonst davon Nachrichten mitgeteilt. Auch nach der Einsendung habe er keine Abschriften von der Vorstellung gegeben, außer daß er vierTage nachher einem außerhalb des Königreichs woh­ nenden Freunde eine Abschrift zugeschickt habe, und zwar nicht etwa zu irgendeinerVeröffentlichung, sondern um seine Ansichten demsel­ ben mitzuteilen. Hier in Göttingen habe er keine Abschriften gegeben. Vorgelesen, genehmigt. 3. Professor Wilhelm Grimm. Die ihm vorgelegte Namensunterschrift unter die betreffende Vor­ stellung rühre von ihm her. Er habe die erwähnte Vorstellung weder vor deren Einsendung noch nachher, weder auswärts noch hier ir­ gend jemand mitgeteilt und mithin anderen Veröffentlichung nicht den geringsten Anteil gehabt. Vorgelesen, genehmigt.

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4- Professor Ewald. Derselbe rekognoszierte die Unterschrift seines Namens unter die fragliche Vorstellung und gab an: Er habe vor Einsendung der Vor­ stellung niemand, weder hier noch auswärts, irgendeine Kunde da­ von gegeben, habe dieselbe auch erst am Sonnabend, dem 18. No­ vember, unterschrieben. Eine Abschrift davon habe er selbst erst erhalten, als die Vorstellung bereits in der Kasseler Zeitung erschie­ nen sei. Er habe auch nach der Einsendung hier keine Abschriften verbreitet, und es sei ihm nicht bekannt, wer die Sache hier ver­ öffentlicht habe. Vorgelesen, genehmigt. 5. Professor Weber. Seine Namensunterschrift unter die fragliche Vorstellung erkenne er an. Er habe vor Einsendung der erwähnten Vorstellung niemand, weder hier noch auswärts, Kenntnis davon gegeben. Auch nach der Einsendung habe er zu deren Veröffentlichung nichts beigetragen, habe weder auswärts noch hier Abschriften davon gegeben, und selbst erst 8 Tage nach der Absendung, als die Vorstellung schon in den Zeitungen gestanden, eine Abschrift davon durch den Professor Gervinus erhalten, die er dem Professor Ewald mitgetcilt habe. Vorgelesen, genehmigt. 6. Professor Gervinus. Die Unterschrift seines Namens unter die ihm vorgelegte Vorstel­ lung an Königl. Kuratorium rühre von ihm her. Er habe vor Einsendung der Vorstellung niemand davon Kennt­ nis gegeben und vermöge nicht zu erklären, wie darüber früher hätten Nachrichten verbreitet werden können, da erst am letzten Tage vor der Absendung die Zahl der Unterzeichner bestimmt worden sei, wie denn auch er erst am Mittwoch oder Donnerstag vorher daran teilgenommen habe. Nach der Einsendung habe er zwei Abschriften besessen. Die eine habe ihm der Hofrat Dahlmann gegeben, die andere habe er selbst genommen. Eine derselben habe ein damals bei ihm zum Besuch anwesender Architekt namens Gladbach aus Darmstadt, welcher seitdem nach Berlin gereist sei, zu sich genom­ men. Daß dieser die Abschrift hier in Göttingen jemand mitgeteilt habe, sei ihm nicht bekannt. Die andere Abschrift habe er dem Pro­ fessor Weber gegeben. Übrigens seien in den ersten Tagen nach der Absendung mehrere bei ihm gewesen, teils jüngere Kollegen, teils Doktoren und auch wohl einige Studierende, denen er es nicht ver48

wehrt habe, die Vorstellung zu lesen, da zu deren Geheimhaltung kein Grund vorhanden gewesen sei, es vielmehr besser habe erschei­ nen müssen, daß durch Kenntnis des Inhalts der Vorstellung alle lügenhafte Gerüchte darüber beseitigt würden. Keiner habe übrigens die Vorstellung bei ihm etwa abgeschrieben, noch auch sie zum Ab­ schreiben mitgenommen. Die Abschrift, welche er vom Hofrat Dahl­ mann bekommen, sei übrigens von einem Kopisten geschrieben ge­ wesen. Diese Abschrift habe Gladbach zu sich genommen. Vorgelesen, genehmigt. 7. Hofrat AIbrecht. Die Unterschrift seines Namens unter die betreffende Vorstellung wurde von ihm anerkannt. Er habe zuerst vor Einsendung der Vorstellung als auch in den ersten Tagen nachher die Sache geheim gehalten und habe erst dann, als solche bereits bekanntgeworden sei, und jeder mit ihm davon ge­ redet habe, dem nicht weiter widersprochen. Wie vorher in auswär­ tigen Zeitungen, wie er vernehme, englischen oder französischen, eine bestimmte Nachricht habe enthalten oder wie sonst irgendwo auswärts davon etwas habe bekannt sein können, sei ihm imbegreif­ lich, da erst am Sonnabend, den 18. November, der Entschluß, die Vorstellung einzusenden, definitiv gefaßt sei und die Zahl der Un­ terzeichner sich zusammengefunden habe, so daß es sich von selbst als unmöglich darstelle, daß einer von ihnen vorher irgendeine Mit­ teilung darüber an auswärtige Zeitungen oder sonst irgendwo habe machen können, zumal eine solche, worin die Zahl der Unterzeich­ ner angegeben sei. Hier habe er keine Abschriften von der Vorstel­ lung gegeben, ja er besitze selbst bis jetzt noch keine. Auch auswärts habe er niemand irgend Nachrichten davon gegeben. Vorgelesen, genehmigt. in fidem KREUZHAGE

Continuatem eodem. Der Kopist Jacob Christoph Sünne von hier war vorgeladen, erschie­ nen, und erwiderte auf Befragen: Er habe die fragliche Vorstellung am Sonntag, den 19. November, für denHnfratDahlmann dreimal abgeschrieben.Derselhehabe ihm da­ bei empfohlen, dieSache nicht weiterzubringen. Er habe sich auch hier­ an gehalten und habe für sich davon keine Abschrift genommen. Vorgelesen, genehmigt. in fidem KBEUZHAGE

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DIE SIEBEN PROFESSOREN AN DAS KURATORIUM

11. DEZEMBER 1857

[Abgedruckt nach dem in den Akten des Königlichen Kabinetts (Staatsarchiv zu Hannover) befindlichen Original.]

An Hohes Königliches Universitäts-Kuratorium. Göttingen, den 11. Dezember 1857. Untertänigste Vorstellung einiger Professoren, die Verbreitung ihrer Vorstellung vom 18. November d. J. betreffend. Die verschiedenartigen Äußerungen, welche über die Verbreitung der Vorstellung der sieben untertänigst unterzeichneten Professoren vom 18. November gefallen sind, die selbst in dieser Hinsicht angestellte Untersuchung gaben uns die Überzeugung, daß eine offene und ge­ wissenhaft wahreErklärung von unserer Seite über diesen Gegenstand an das hohe Kuratorium noch immer nicht überflüssig sein dürfte. Was nun den Hauptpunkt betrifft, die Verbreitung in französischen Blättern, worin die Vorstellung sogar vor der Einreichung an das hohe Kuratorium gelesen sein soll, so ist das schon darum eine völlige Unmöglichkeit, weil die Vorstellung erst am 17. November abends verfaßt und hierauf am 18. an das hohe Kuratorium gesandt ist, wozu kommt, daß noch einige Stunden vor der Absendung niemand von uns wußte, ob fünf, ob sieben, ob neun oder mehr Kollegen sie unterzeichnen würden. Wir haben dieser Tage mit vieler Mühe einen Artikel in Galigniani’s Messenger vom 18. November gefun­ den, der von sieben hiesigen Professoren in bezug auf das König­ liche Patent Erwähnung tut. Dieser reine Zufall der zusammen­ treffenden Zahl hat zur Basis jener zum Nachteile unseres Rufes gereichenden falschen Voraussetzung gedient. Die Tendenzen der französischen Revolution sind die unsem nicht. Das ist auch kein französischer Liberalismus, daß wir dem drohen­ den Gewissenszwange, der von vielen unserer Kollegen, der von Un­ zähligen hier im Lande, die zu schüchtern sind, es auszusprechen, gefürchtet und bereits gefühlt wird, durch eine offene Darstellung gewissenhafter und nicht an der Oberfläche geschöpfter Überzeu­ gung vorzubeugen gesucht haben. Auch das nicht, daß wir unsem Schritt nicht in Dunkel gehüllt, sondern Verwandten, Freunden und



Kollegen die Überzeugung verschafft haben, daß der einzige Schritt, der uns übrigblieb, in gesetzlicher Weise von uns getan ist. Das aber würde ein verwerfliches und strafbares Tun gewesen sein, hätten wir die Studierenden, denen das Geschehene der Natur der Sache nach nicht lange verborgen bleiben konnte, statt sie zu beruhi­ gen und auf das, was in jedem Falle die Pflicht gebietet, hinzuwei­ sen, durch aufregende Verbreitungen betört oder gar zu Unordnun­ gen verleitet. Das ist aber so wenig der Fall, daß, wenn auch alle Zeugnisse unsers frühem Lebens auf einmal verloschen sein sollten, mehrere von uns mit Wahrheit versichern dürfen, daß sie die Ge­ legenheit gehabt und benutzt haben, den an sich zwar nicht sträf­ lichen, doch unstatthaft scheinenden Bezeigungen der Gesinnung der Studierenden mit Erfolg entgegenzuwirken. F. C. DAHLMANN.

E. ALBRECHT.

G. GERVINUS.

JACOB GRIMM.

H. EWALD.

WILHELM GRIMM.

WILHELM WEBER.

DAS ENTLASSUNGS-RESKRIPT VOM 11.12. 1857

[Abgedruckt nach den in den Akten des Königlichen Kabinetts (Staatsarchiv zu Hannover) und des Königlichen Kuratoriums (Uni­ versitätsarchiv zu Göttingen) befindlichen Abschriften. Erstdr.: Hannoversche Zeitung] Ernst August, von Gottes Gnaden König von Hannover, Königlicher Prinz von Großbritannien und Irland, Herzog von Cumberland, Herzog zu Braunschweig und Lüneburg usw.

Die bei dem Curatorio der Unserm Herzen so teuem Universität Göttingen von sieben bei derselben angestellten Professoren, Dahl­ mann, Albrecht, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Gervinus, Ewald und Weber, gegen das von Uns unterm 1. November d. J. erlassene Patent eingereichte Protestationsschrift vom 18. November ist Uns vorgelegt worden. Wenn nun gleich die außerordentlich schnelle Verbreitung dieser Schrift in allen Teilen Unseres Königreichs sowohl als im Auslande Uns mit Recht veranlassen könnte, deshalb eine gerichtliche Unter­ suchung anstellen zu lassen, um die Urheber der Veröffentlichung in völlig rechtliche Gewißheit zu setzen und sie sodann die auf Hand51

lungen dieser Art in den Gesetzen angeordnete Strafe erleiden zu lassen, so wollen Wir dennoch davon vorerst abstehen. Allein die Grundsätze, welche die genannten Verfasser der Prote­ stationsschrift in derselben offen ausgesprochen haben, sind leider! von der Beschaffenheit, daß Uns dadurch die heilige Verpflichtung aufgelegt wird, gegen die Verfasser der Schrift unverzüglich nach­ drückliche Maßregeln zu ergreifen, um ferneren höchst schädlichen und nachteiligen Folgen vorzubeugen. Die Verfasser der Protestationsschrift haben in derselben den Uns als ihrem rechtmäßigen Landes- und Dienstherm schuldigen Gehorsam aufgekündigt, da sie in dem Wahne stehen, die Untertanentreue nur in dem Falle Uns eidlich angeloben zu können, wenn das von Uns in Unserm Patente vom 1. November d. J. aufgehobene Staats­ grundgesetz vom 26. September 1853 fortdauernd Gültigkeit und verbindliche Kraft hätte. Die Verfasser der Protestationsschrift haben darin erklärt, daß sie ihr T^hramt auf der Universität Göttingen nur alsdann mit wah­ rem Nutzen für die studierende Jugend ferner würden zu verwalten imstande sein, wenn sie ihrem früheren auf das Staatsgrundgesetz von 1833 geleisteten Eid getreu blieben, da ihre Wirksamkeit als öffentliche Lehrer notwendig ohne allen Segen sein müsse, wenn sie in den Augen der studierenden Jugend als Männer erschienen, die mit ihrem Eide ein leichtsinniges Spiel trieben. Die gedachten Professoren haben durch Erklärungen solcher Art, bei denen sie gänzlich verkannt zu haben scheinen, daß Wir ihr alleiniger Dienstherr sind, daß auch der Diensteid einzig und allein Uns geleistet werde, somit auch Wir nur allein das Recht haben, denselben ganz oder zum Teil zu erlassen — das Dienstverhältnis, worin sie bisher gegen Uns standen, völlig aufgelöst, wovon dann deren Entlassung von dem ihnen anvertrauten öffentlichen Lehr­ amte auf der Universität Göttingen nur als eine notwendige Folge betrachtet werden kann. Nach den heiligen von der göttlichen Vorsehung Uns aufgelegten Pflichten können Wir Männern, welche von solchen Grundsätzen beseelt sind, die Verwaltung des ihnen verliehenen höchst einfluß­ reichen Lehramtes unmöglich länger gestatten, indem Wir sonst mit Recht besorgen müßten, daß dadurch die Grundlagen der Staaten nach und nach gänzlich untergraben würden, und die künftige Die­ nerschaft nicht nur in Unserm Königreiche, sondern auch in andern 52

Ländern eine solche Bildung erhielte, wodurch sie für Staat und Kirche auf gleiche Weise nachteilig werden müßte. Aus allen diesen Gründen befinden Wir Uns in der höchst traurigen Notwendigkeit, den Hofrat und Professor Dr. ph. Fr. C. Dahlmann von dem ihm in der philosophischen Fakultät Unserer Universität Göttingen verliehenen öffentlichen Lehramte hiermit zu entlassen. Hannover, den 11. Dezember 1837. ERNST AUGUST

G. VON SCHELE.

ERNST AUGUST AN DEN PROREKTOR BERGMANN, 12. 12. 1837

[Abgedruckt nach den in den Akten des Königlichen Kabinetts (Staatsarchiv zu Hannover) und des Königlichen Kuratoriums (Uni­ versitätsarchiv zu Göttingen) befindlichen Abschriften.] Emst August....

Durch Unseren Staats- und Kabinettsminister erhaltet Ihr die von Uns vollzogenen Dienstentlassungsurkunden für die sieben Professo­ ren Dahlmann, Albrecht, Jacob Grimm, Wilhelm Grimm, Gervinus, Ewald und Weber, und Ihr werdet daraus entnehmen, daß Wir die gerichtliche Untersuchung wegen Verbreitung der von gedachten Professoren gegen Unser Patent vom 1. November d. J. bei dem C uratorio Unserer Universität Göttingen eingereichten Protestations­ schrift vom 18. November d. J. vorerst nicht weiter fortzusetzen ge­ willt sind. Indessen haben drei von den gedachten sieben Professoren, von wel­ chen anerkanntermaßen jene Protestationsschrift herrührt, nämlich der Hofrat und Professor Dahlmann, der Hofrat und Professor Jacob Grimm und der Professor Gervinus, in dem am 4. Dezember d. J. vor dem akademischen Gerichte auf­ genommenen Protokolle unumwunden eingestanden, daß sie die Protestationsschrift anderen mitgeteilt haben, indem der Hofrat Dahlmann eingesteht, dieselbe nach deren Absendung an das Uni­ versitätskuratorium in Hannover seinem Schwager, dem Justizrat Hegewisch in Kiel, mitgeteilt zu haben; der Hofrat und Professor Jacob Grimm einräumt, eine Abschrift der gedachten Schrift vier Tage nach deren Absendung nach Hannover einem außerhalb des 53

Königreichs wohnenden Freunde zugeschickt zu haben, und der Pro­ fessor Gervinus seine Aussagen dahin abgegeben hat, daß er eine Abschrift der erwähnten Protestationsschrift einem damals zum Be­ suche bei ihm anwesenden Architekten namens Gladbach aus Darm­ stadt, welcher nach Berlin gereist sei, gegeben, auch daß er in den ersten Tagen nach der Absendung der fraglichen Schrift an das Uni­ versitätskuratorium jüngeren bei ihm gewesenen Kollegen, Dokto­ ren, auch wohl einigen Studierenden, es nicht verwehrt habe, die­ selbe zu lesen. Diese von den genannten drei Professoren abgelegten deutlichen Geständnisse haben Uns bewogen, Euch, dem Prorektor, hiermit aufzugeben, jedem derselben bei Behändigung der Dienstentlas­ sungsurkunde anzukündigen, daß er drei Tage nachher nicht nur die Universität, sondern auch Unser Königreich zu verlassen habe, und daß, falls er aus freiem Antriebe dieses nicht tun würde, die gericht­ liche Untersuchung wegen Verbreitung der Protestationsschrift nach aller Strenge wider ihn fortgesetzt werden solle, zu welchem Ende er sodann an einen bestimmten Ort im Königreiche würde gebracht werden. Was dagegen die vier anderen Professoren Albrecht, Wilhelm Grimm, Ewald und Weber anbetrifft, so habt Ihr jedem derselben bei Einhändigung der Ent­ lassungsurkunde zu eröffnen, daß ihm zwar verstattet werde, ferner in Göttingen zu bleiben, vorausgesetzt, daß er sich völlig ruhig ver­ halten würde, er aber in dem Falle, wenn er Aufregungen auf ir­ gendeine Weise zu bewirken versuchen sollte, sofort würde genötigt werden, nicht nur die Universität Göttingen, sondern auch Unser Königreich zu verlassen. Über die pünktliche Vollziehung dieser Unserer Willensmeinung habt Ihr unverzüglich Euren Bericht an Unser Kabinett zu erstatten. Hannover, den 12. Dezember 1837. ERNST AUGUST G. VON SCHELE.

An den Prorektor der Universität in Göttingen.

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NACHWORT Sieben ist zwar eine heilige, aber doch auch eine niedrige Zahl. Es hätten zweiunddreißig sein müssen. Aber es soll daran er­ innert werden, daß noch sechs weitere Professoren, auch sie alle aus der philosophisch-juristischen Fakultät, keiner aus der naturwissenschaftlichen und theologischen, sich öffentlich, in einer Zeitung des Freistaats Hamburg, gegen die unbefugte Rothenkirchner Kommission erhoben und erklärten, nie die Gesinnungen der sieben Professoren getadelt zu haben. So fällt doch ein großer Glanz auf diese provinzielle Generalprobe, dem bei der nationalen Premiere, hundert Jahre später, eine große Dunkelheit entspricht. Die transatlantische Reprise in Kalifornien zeigte, wieder etwa zwanzig Jahre später, daß das Stück noch lange nicht abgesetzt ist. Noch immer können sich die Charaktere »entblättern«, nach Wilhelm Grimms Wort, oder sich der »sittlichen Mattherzigkeit« entziehen. Emst August war der starrsinnigste und unbegabteste Sohn König Georgs III., Königin Victorias unbeliebtester Onkel. Seine erste Handlung beim Regierungsantritt, nach dem Tode Wilhelms IV., war am 5. Juli 1837 die Ankündigung, daß das Grundgesetz von 1833 einer »sorgfältigen Prüfung« unterzo­ gen und dann suspendiert werde. Das ist das von Jacob Grimm genannte »erste Patent«. Am 30. Oktober löste der König die Ständeversammlung und am 31. das Kabinettsministerium auf. Nachdem nun die Rechtsinstrumente zerbrochen waren, konnte er am Tage darauf mit dem zweiten Patent das Grundgesetz aufheben. Im Jahre 1840 wurde dann zum Schein ein neues Grundgesetz erlassen, das aber 1848, um die Revolution zu verhüten, einer echteren Verfassung weichen mußte. Aber auch 55

dann noch erkannte der König von Hannover die Reichsverfas­ sung nicht an. In all seinen Erlassen zeigt Emst August sich als ein Meister und einer der ersten Erfinder jener Doppelsprache, in der die hohen Worte, die eine neue Zeit verlangt, in ihrem Gegensinn benutzt werden. >Treu< ist, wer rasch umschwenkt; die Ver­ fassung wird aufgehoben >zur Förderung des öffentlichen Wohls« und um »Glück und Wohlfahrt der Untertanen« zu ge­ währleisten; nicht Eigennutz, sondern die ihm »auferlegten Pflichten« veranlassen den König zu dieser Handlung; »revo­ lutionär und hochverräterisch« ist, wer seinem dem Staat ge­ leisteten Eid treu bleibt. Die Sprachforscher Grimm standen einer ihnen unbekannten Sprache gegenüber. Jacob Grimm war zweiundfünfzig Jahre alt, als er sich ent­ schließen mußte, ohne Sicherung seiner wissenschaftlichen Arbeiten und des Lebensunterhalts, das Land Hannover bin­ nen dreier Tage zu verlassen. Wilhelm war ein Jahr jünger. Keiner mehr im schwärmerischen Alter, beide keiner Partei­ ideologie verpflichtet. Sie wollten, so einfach-arglos stellt es sich dar, Denken und Handeln in Einklang bringen. Ihr Den­ ken aber war bestimmt von der Dichtung, die sie als erste wissenschaftlich untersuchten und aus den Handschriften ans Licht brachten. Ihre Tat war also im genauesten Sinn eine dichterische Tat. Dichtung und Sprache spielen in dieser An­ gelegenheit eine große Rolle. Die Brüder Grimm machten Emst mit dem, was sie wissenschaftlich vertraten. Lehren und Tun klafften bei ihnen nicht auseinander. Ein nicht alltägliches Schauspiel unter Gelehrten. Die Sprachwissenschaft, die Jacob zusammen mit dem geliebten Bruder begründete, kam zunächst von der Dichtung her. 1806 beginnt er nach dem juristischen Studium auf Anregung seines Lehrers Savigny, die altdeutsche Poesie zu untersuchen. Dabei kommt er zu Ergebnissen, die ihm Sprache und Volksdichtung als Erscheinungsformen einer Sehnsucht nach dem Rechten erscheinen lassen. Auch die Sa­ gen galten ihm als sichtbar gewordene Geschichte des Volkes 56

und schienen ihm aus >Heimweh< entstanden zu sein. Jacob Grimm machte denn auch 1850 das Heimweh zum Thema seiner Antrittsvorlesung in Göttingen. Wissenschaft war ihm das Nachspüren eines geheimen Ethos in den Erscheinungen. So sagt er einmal von den verschiedenen unter sich verwand­ ten Wörtern und Mythen, >daß sich die meisten scheinbaren Verschiedenheiten zurücksehnen nach einer ursprünglichen Einfachheit (wie wir zu Gott)teutschdaß es Sache des einzelnen Staatsdieners und Untertans sei, die in dieser Beziehung dem Landesherm zustehenden Befugnisse irgend-

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einer Diskussion zu unterziehen«. Der Untertan dürfe nur >in ruhiger Ergebung die Entscheide von Oben abwarten«. Diesem wohlbekannten Ruf zur völligen Unterwerfung ist Grimm nicht gefolgt. Dennoch hat er, in einem ganz andern Sinn, diese Forderungen pünktlich befolgt. Eine »Diskussion« über die Unrechtlichkeit der königlichen Handlung gab es für ihn nicht. Nachdem er seine Entscheidung getroffen hatte, wartete er auch in »ruhiger Ergebung« in die Notwendigkeiten des Ge­ wissens die Entscheide von Oben ab. Es war eine unpathetische Tat, die ihn ganz gegen seinen Willen zum politischen Mär­ tyrer und innerdeutschen Emigranten machte. »Bei unserem Schritte lag bloß die religiöse Überzeugung zu Grunde, daß wir so handeln müßten, wenn wir unser Gewissen rein halten wollten. ... Mit dem Parteiwesen hat die Sache nichts zu schaf­ fen, und wir müssen die albernen Lobeserhebungen der Libe­ ralen ebenso ertragen wie die hoffärtigen Verhöhnungen von der andern Seite«, schreibt Wilhelm darüber. Dieses »bloß« im ersten Satz ist eines der ruhmreichsten Adverbien in der Spra­ che des deutschen akademischen Geistes. Aus dieser ruhigen Selbstverständlichkeit schöpfte der so un­ weltmännische Grimm, der Stubengelehrte und Schreibtisch­ gebannte, die erstaunliche politische Weisheit, die ihn sagen ließ, man dürfe nicht »ein ganzes Verderbnis entschuldigen aus einzelnen Vorteilen, die es bringen könnte«. Er spricht nicht von guten Straßen, sondern von der vom König als Lockspeise angebotenen Akzisefreiheit. Jacob Grimms Schrift wirkte sehr stark. Die zu Beginn des zweiten Absatzes von Wilhelm Grimm eingefügte Bemerkung über die verschiedenen Gesinnungen der Freunde bezieht sich wohl vor allem auf Bettina von Arnim undSavigny. Dieser bot zwar den Brüdern sofort Geld an, als sie ohne Gehalt entlas­ sen worden waren, als leibliche Brüder wolle er sie nun betrach­ ten, aber ihrem Entschluß wollte er, vorsichtig-juristisch, nicht jubelnd beistimmen, ohne die rechtlichen Verhältnisse in Han­ nover genauer zu kennen. Nie allerdings zweifelte er daran, 58

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Faksimile vom Titelblatt der Erstausgabe. Auf der Rückseite befindet sich der Vermerk beschrieben 12—16 Jan. 1858.«

daß der König von Hannover das Recht verletzt habe. Die Ent­ lassungsschrift erregte ihm Bedenken, vor allem deshalb, weil in ihr diejenigen getadelt wurden, die sich den Sieben nicht angeschlossen hatten. Dieses leise Zögern Savignys nützte nun Bettina mit unglaublicher Tatkraft aus, um in enthusiastischer Bereitwilligkeit die Sache der Brüder Grimm zu ihrer eigenen zu machen. Sie bestürmte Savigny, preußische Minister, Freun­ de und vermeintliche Feinde in langen scharfen Briefen und hat schließlich, bei bestem Willen, der Sache durch Übereifer eher geschadet als genützt; vor allem, da sie in die arglosen Herzen der Brüder ein nie mehr ganz zu tilgendes Mißtrauen gegen Savigny und Lachmann säte. »Ich habe hier das Un­ mögliche zu tun, allen bösen Leumund, der diese keusche Ehren­ krone eines reinen Gewissens ansprützt, wieder anzuspeien«, schreibt sie 1839 an Philipp Nathusius. Ihren anderen jungen Freund, Julius Döring, versuchte sie in der Bewunderung für die Grimms zu erziehen. Sie hat uns ein freundliches Bildnis Jacob Grimms aus dieser Zeit aufgezeichnet: »Er hatte seinen feinwolligen Flausrock an, sein Haar ist grau und lockt sich schön, er ist schön geworden durch den Ausdruck seines Ge­ sichts, durch die Ruhe, durch das Gefühl des Scharfsinns zu­ gleich mit der Unschuld, die sonst nicht vereint sind. ... Seine Stimme ist ganz melodisch. Seine Bewegungen sind anmutig und bequem.« Man darf aber bei diesem allzu biedermeierlichen Bild nicht übersehen, daß Bettina hier eine bestimmte Ab­ sicht verfolgte. Sie unterstreicht recht geflissentlich das Weiche, Anmutige ihrem Schwager Savigny gegenüber, der Jacob allzu große S tarre bei den späteren Erwägungen vorgeworfen hatte. Gleich nach der Entlassung der sieben Professoren hatte der Kronprinz von Preußen beim Kultusminister Altenstein an­ geregt, die Gelehrten für Berlin zu gewinnen. Im Dezember 1839 setzte sich Savigny dann noch besonders beim Kronprin­ zen für sic ein. Bettina schickte ihm im April 1840 Abschriften ihrer wichtigsten Briefe in dieser Angelegenheit. Aber erst nach dem Tod des Königs im Juni 1840 hatte der Kronprinz, nun als

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neuer König Friedrich Wilhelm IV., die Macht, die Grimms nach Berlin zu berufen. Im November dieses Jahres lag die Berufung vor. Das letzte große Werk der Brüder Grimm, das »Deutsche Wör­ terbuch«, ist als unmittelbare Folge der Göttinger Ereignisse entstanden. Der Plan dazu war erdacht worden, um den ent­ lassenen Gelehrten Tätigkeit und Unterstützung zu verschaf­ fen. Die Gemeinschaftsarbeit kam dann nicht zustande. Die Brüder Grimm machten sich allein an das riesige Werk. Als erste versehen sie jedes Wort mit vielen Belegen aus den großen Dichtem. So wie sie die nur noch mündlich lebendigen Mär­ chen im letzten Augenblick vorm Vergessen retteten, so woll­ ten sie auch dem Sprachverfall, der Gedächtnis- und Treu­ losigkeit dem alten Sprachgut gegenüber entgegenwirken. Je gefährdeter ein Wort war, desto mehr war es ihnen ans Herz gewachsen. Ohne Lehrmeisteranspruch hat Jacob Grimm in seiner eigenen Sprache, die er von Barockblähungen ebenso wie von verar­ menden Flachheiten säuberte, ein Vorbild gegeben. Gesinnung ist stilbildend. Werner Vordtriede

Insel-Verlag Frankfurt am Main Druck: Otto Wendorff, Frankfurt am Main Papier: Peter Temming AG, Glückstadt/Elbe Printed in Germany 1964